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German Pages 246 [256] Year 1913
E. von Cyon
Gott und Wissenschaft Zweiter Band
Neue Grundlagen einer wissenschaftlichen Psychologie Autorisierte deutsche Ausgabe Mit zwei anatomischen Tafeln
Leipzig :: Verlag von Veit & Comp. :: 1912
Ankündigung. Der ZWEITE BAND des Werkes „Gott und Wissenschaft" von Prof. Dr. E. von Cyon ist dem Aufbau n e u e r G r u n d l a g e n e i n e r w i s s e n s c h a f t l i c h e n P s y c h o l o g i e gewidmet. Schon der Begründer der Psychologie erklärte den Gehörsinn für den intellektuellsten aller Sinne. Es bedurfte jedoch vieler Jahrhunderte physiologischer Experimentalforschungen, bis im O h r l a b y r i n t h zwei Sinnesorgane: ein g e o m e t r i s c h e s für die Erzeugung der Empfindungen des dreidimensionalen R a u m e s und ein a r i t h m e t i s c h e s für die Kenntnis von Z e i t und Z a h l , entdeckt wurden, durch deren Vorhandensein A r i s t o t e l e s ' geniale Intuition bestätigt und in ihrer ganzen Tragweite erkannt wurde. Im e r s t e n T e i l dieses Bandes gibt E. von Cyon, der diese Entdeckung vor vielen Jahrzehnten gemacht hat, eine auch dem gebildeten Laien zugängliche klare Darlegung der Funktionen und der Bedeutung der beiden Sinnesorgane für die Philosophie und die Mathematik. Der zweite T e i l des Bandes ist dem Studium der Differenzierung der psychischen Funktionen gewidmet, zu deren Entwicklung E. von Cyon, erst nach der endgültig festgestellten Lösung des Raum- und Zeitproblems übergegangen ist. „ L e i b , S e e l e u n d G e i s t " betitelt von Cyon diesen zweiten Teil, in welchem er auf Grund seiner bereits im Jahre 1908 unter gleichem Titel erschienenen ersten Untersuchung die Grundlagen einer wissenschaftlichen Entscheidung der wichtigsten Fragen der Psychologie des Menschen liefert: der Ursprung der psychischen Energie, das Herz und seine Bestimmung als Gemütsorgan, die Bildung unseres Bewußtseins, die funktionellen Beziehungen zwischen Geist und Seele, der Mechanismus unserer Empfindungen und Wahrnehmungen, die Grenzen der sinnlichen Erkenntnis usw. Der Verfasser, welcher seine Anschauungen in dem Satze „ D e r S c h ö p f e r h e r r s c h t und sein G e i s t r e g i e r t " formuliert, gelangt zugleich zu dem Ergebnis, daß das Ohrlabyrinth auch das Organ der religiösen Empfindungen sei. In seiner Schlußbetrachtung „ D i e R ü c k k e h r z u G o t t d u r c h d i e W i s s e n s c h a f t " bezeugt der Verfasser den Sieg des wissenschaftlichen Dualismus in der Psychologie über den materialistischen Monismus und kann diesen Dualismus nicht besser kennzeichnen als durch den von ihm modifizierten Leibnizschea. Ausspruch: N i c h t s ist in u n s e r e m V e r s t ä n d e , was n i c h t z u v o r in d e n S i n n e n oder im Geiste sich b e f a n d .
Leipzig.
Die Verlagsbuchhandlung
Veit % Comp.
Gott und Wissenschaft Zweiter Band
E. von Cyon
Gott und Wissenschaft Zweiter Band
Neue Grundlagen einer wissenschaftlichen Psychologie
Autorisierte deutsche Ausgabe Mit zwei a n a t o m i s c h e n
Tafeln
Leipzig V e r l a g v o n Veit & C o m p .
1912
Druck von Metzger & Wittig in Leipzig.
Inhalt. V o r r e d e . Ein Jahrhundert p h y s i o l o g i s c h e r Untersuchungen über die Lösung d e s Raum- und Zeitproblems E i n l e i t u n g . Der Niedergang der Metaphysik und die Wiedergeburt der w i s s e n s c h a f t l i c h e n Philosophie Erster
Seite
1 13
Teil.
Zeit und Raum. E r s t e s K a p i t e l . Der g e o m e t r i s c h e Sinn und die physiologischen Grundlagen der Euklidischen Geometrie § 1.
§ 2. § 3.
Der Raumsinn u n d die Richtungsempfindungen. Die vermeintlichen Innervationsempfindungen. Die Augenstellungen u n d ihre Abhängigkeit von den Bogengängen . Der bisherige Stand des Raumproblems Der physiologische U r s p r u n g der Axiome Euklids . . .
Zweites Kapitel.
Der arithmetische Sinn.
Zeit und Zahl . . .
Die Elemente des Zeitsinns. Die Generalsinne E. H. W e b e r s und K a r l V i e r o r d t s § 2. Die Zeitfolge u n d die zeitliche A u s d e h n u n g § 3. Die Messungen der Zeitdauer u n d der anderen Zeitwerte . § 4. Das Ohrlabyrinth als Sinnesorgan der Zeitwahrnehmungen, des Rhythmus u n d der Zahl § 5. Die T o n e m p f i n d u n g e n und der arithmetische Sinn. Schlußwort N a c h t r a g . Die D e s c a r t e s s c h e logarithmische Spirale und die Schnecke als arithmetisches Organ. Von D o n i s e l l i .
39
40 54 61 80
§ 1.
Zweiter
80 84 87 91 98 111
Teil.
Leib, Seele und Geist. D r i t t e s K a p i t e l . Versuch einer p s y c h o l o g i s c h e n Differenzierung der p s y c h i s c h e n Funktionen § 1.
Einleitung
117 117
VI
Inhalt §
2.
Der Muskeltonus und die hemmenden und regulatorischen Verrichtungen des Ohrlabyrinths. Die Quellen der psychischen Energie § 3. Das Herz als Gemütsorgan § 4. Das Ohrlabyrinth und das Geistesleben. Die Grenzen zwischen seelischen Funktionen und geistigen Leistungen . § 5. Die Entstehung unserer Vorstellung des rechtwinkligen Koordinatensystems von D e s c a r t e s . Die Umkehr der Netzhautbilder § 6. Die Bildung des Ichbewußtseins beim Menschen und des Sichempfindens bei Tieren. Die Verdoppelung der Persönlichkeit § 7. Die Abgrenzung der Gebiete der Physiologie und Philosophie im Raum- und Zeitproblem. Terminologisches. . . . § 8. Die wahren Laboratorien für die experimentelle Psychologie des Menschen § 9. Der Geist und die schöpferische Intuition bei wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen § 10. Die Beziehungen zwischen Leib, Seele und Geist; Hypophyse und Zirbeldrüse. Der Schlaf und das Unbewußte . . § 11. Die Grenzen des menschlichen Verstandes. — Der Mechanismus der Empfindungen und Wahrnehmungen . . . A n h a n g z u m d r i t t e n K a p i t e l . Die seelischen Verirrungen . § 1. § 2. § 3.
Spiritismus und Wissenschaft Spiritismus und Religion Eine hypnotische Sitzung in Moskau
Schlußbetrachtungen. schaft Nachtrag.
Seite
123 128' 145
147
150 155 161 163 174 191 206 206 218 223
Die Rückkehr zu Gott durch die Wissen-
Der neueste Stand der Abstammungslehre desMenschen .
228 234
Nachwort
238
Verzeichnis sämtlicher Schriften des Verfassers über das Ohrlabyrinth
239
Erklärung der Tafeln
241
Berichtigung der Druckfehler
242
Vorrede. Ein Jahrhundert physiologischer Untersuchungen über die Lösung des Raum- und Zeitproblems. Mehr als e i n e s Jahrhunderts der Experimentalforschung, reich an aufsehenerregenden Entdeckungen, hat es b e d u r f t , um zu einer wissenschaftlichen Lösung des Problems von Raum u n d Zeit zu gelangen. Der W i d e r s p r u c h , den diese Lösung anfangs g e f u n d e n hat, rührte großenteils von den Philosophen und Metaphysikern her, die sich seit Jahrtausenden vergeblich bemühten, dieses G r u n d problem der Psychologie zu lösen. Den ersten Versuch, mit Hilfe des Experiments eine physiologische Erklärung des Raumproblems zu finden, unternahm am Ende des 18. Jahrhunderts der berühmte Physiker V e n t u r i in Bologna, dessen Forschungen über den R a u m s i n n in den «Indagini fisiche sui colori" erschienen. Der Titel lautete: »Riflessioni sulla conoscenza dello Spazio che noi possiamo ricevere dell' audito". V e n t u r i s Experimente beruhten auf der Bestimmung der Schallrichtung. „Wie kommt es, daß das O h r uns diese Richt u n g a n g i b t ? " fragt V e n t u r i . » U n d welche Beziehungen bestehen zwischen dem Hörsinn und der Kenntnis der räumlichen Entf e r n u n g e n ? G r o ß e Genies haben das gleiche Problem f ü r den Gesichtssinn behandelt; es auch f ü r den Hörsinn zu lösen, hieße der Analyse der E m p f i n d u n g e n und der Kenntnis von uns selbst einen Schritt näher kommen." Z u r selben Zeit, am 12. Januar 1794, machte Prof. V a s s a l l i der Akademie von Turin die Mitteilung von der „Scoperta fatta dall' abate Spallanzani e da lui medesimo verificata che i pipistrelli, privati della facoltà visiva, conservano tuttavia la potenza di evitare gli ostacoli proposti a lor cammino, non meno che se fossero veggenti." Aus diesen Feststellungen schloß S p a l l a n z a n i , daß die Fledermäuse im O h r e einen s e c h s t e n S i n n besäßen, den OrienE. v. C y o n ,
Qott und Wissenschaft.
Bd. 2.
1
2
Vorrede
tierungssinn, »welcher uns fehlt, und von dem wir keirie Vorstellung haben können."
Diese Entdeckung erregte, wie wir sogleich sehen
werden, großes Aufsehen
und erfuhr von mehreren Seiten Wider-
spruch, insbesondere durch den großen Q .
Cuvier.
Wenige Jahre später veröffentlichte der Physiologe A u t h e n r i e t h in
„Reils
Archiv
der
Anatomie
und Physiologie"
Experimental-
forschungen über die Schallrichtung, die das gleiche Resultat hatten, daß die
das in
Ohr
den
und
drei
besonders
Dimensionen
tungsempfindungen
die
drei
des
Raumes
in u n s a u s l ö s e n ,
Bogengangpaare, liegen,
Rich-
kraft deren wir uns im
Raum orientieren. Doch
der
perimente
eigentliche Bahnbrecher
über
der
unmittelbaren
Ex-
die Bogengänge des Ohrlabyrinths war der be-
rühmte F l o u r e n s .
Die Lösung des Raumproblems
lag in
nuce
bereits in der schönen Entdeckung, „daß die Durchschneidung der Bogengänge
heftige Bewegungen
der Tiere in der
jedes durchschnittenen Kanals hervorruft."
Flächenrichtung
Da die drei Bogengänge
senkrecht zueinander liegen, so müssen die Bewegungen der Tiere, die durch sie geleitet werden,
notwendig in den drei Dimensionen
des Raumes erfolgen! Vierzig Jahre später lieferten F l o u r e n s ' Anregung
zu
meinen
eigenen
Hilfe des Raumsinnes, habe
und
die
Studien
Experimente mir die
über die Orientierung
mit
Studien, die ich Jahrzehnte lang fortgesetzt
schließlich
zum
definitiven Nachweis der
zweier genau bestimmbarer Sinnesorgane
Existenz
im Ohrlabyrinth
geführt
und des arithmetischen
Sinnes,
welchen beiden Sinnen wir einerseits die Fähigkeit danken,
uns in
haben, nämlich Raum
und
Zeit
des geometrischen zurechtzufinden,
unserer Vorstellungen in Form
und
andrerseits
von Raum, Zeit und Zahl.
den
Das W e r k ,
einer Monographie alle meine Untersuchungen
so verschiedenartigen
Funktionen
dieser
Ursprung das
über die
beiden allgemeinen Sinne
enthält, erschien genau hundert Jahre nach den ersten Studien von Venturi!1
Ein glücklicher Zufall wollte es, daß der hervorragende
Physiologe von Bologna,
Pietro Albertoni,
als einer der ersten
eine eingehende kritische Analyse dieses Werkes veröffentlicht und mit seltenem Verständnis seine ganze physiologische und psycholo-
1
E. v o n C y o n ,
„Das Ohrlabyrinth
Sinne für Raum und Zeit".
als Organ
Berlin, Julius Springer,
der
1908.
mathematischen
Vorrede
3
gische Tragweite erkannt hat. Auch hat er es durch einige bemerkenswerte pathologische Beobachtungen bereichert, die die Richtigkeit mehrerer wichtiger Angaben meines Buches erhärten. Die Geschichte der wissenschaftlichen Entdeckungen, die ihrem Wesen nach nicht zu unmittelbarer praktischer A n w e n d u n g bestimmt sind, ist von hohem Interesse f ü r die Psychologie der Wissenschaft, oder vielmehr f ü r die der Forscher, die f ü r irgend ein Stadium ihrer Entstehung oder Weiterentwicklung ausschlaggebend waren. Zugleich wirft sie ein scharfes Schlaglicht auf die Psychologie der G e g n e r aller großen Entdeckungen. Sie machen ihnen systematisch Opposition und versperren den neuen Theorien den W e g , selbst wenn sie auf unabstreitbaren, experimentellen Beweisen beruhen, und hemmen so das siegreiche Vordringen der Wissenschaft zur Wahrheit. Wie wir festgestellt h a b e n , beruht die endgültige Lösung des Problems von Raum u n d Zeit auf zwei sehr verschiedenen Fragen: die eine ist rein physiologisch — die Frage der Orientierung in den drei Dimensionen des Raumes —•; die andere ist von f u n d a mentaler Bedeutung f ü r die Philosophie und Mathematik; sie enthüllt uns den U r s p r u n g unsrer Raum- u n d Zeitvorstellungen sowie unsrer geometrischen u n d arithmetischen Kenntnisse. Die Entdeckung der beiden mathematischen Sinne im O h r hat gezeigt, durch welche engen funktionellen Beziehungen sie an die einzige Lösung des G r u n d p r o b l e m s der menschlichen Erkenntnis geknüpft sind. Sieht man sich die Entdeckungen der berühmten Gelehrten näher an, die sich um die W e n d e des 18. und 19. Jahrhunderts mit der Orientierung im Raum und der Lokalisierung unsrer Empfind u n g e n der Außenwelt experimentell beschäftigt h a b e n , so erkennt man leicht, daß diese Entdeckungen schon recht deutliche Hinweise auf die wirkliche Lösung des Raumproblems enthielten. Man ist also erstaunt, daß keiner dieser großen Naturforscher es versucht hat, seine experimentellen Forschungen nach der psychologischen Seite des Problems zu richten. V e n t u r i hat freilich das W o r t R a u m s i n n gebraucht, ja versucht, ihn auf das G e h ö r o r g a n zu lokalisieren; aber ihm war das wunderbare System der drei Bogengänge des Ohrlabyrinths, die senkrecht zueinander in den drei Dimensionen des Raumes liegen, noch unbekannt; und so fehlte ihm die G r u n d l a g e zur philosophischen Erfassung des Problems. 1*
4
Vorrede
S p a l l a n z a n i fand sogar Widerspruch gegen di^ Existenz des sechsten Sinnes im O h r und hielt sich f ü r verpflichtet, auf seine Entdeckung zu verzichten. In der Tat versuchte der große C u v i e r S p a l l a n z a n i s Beobachtungen auch ohne die Hypothese eines sechsten Sinnes zu erklären. Die blinden Fledermäuse orientieren sich — nach ihm — mit Hilfe der außerordentlich entwickelten Tastorgane in den Flügeln und den äußeren O h r e n dieser Tiere. Dank dieser Organe sollten sie die Temperaturunterschiede, die Bewegungen und den Widerstand der Luft sowie die leiseste B e r ü h r u n g mit fremden Gegenständen w a h r n e h m e n . 1 . . . Ein G e n f e r Naturforscher, J u r i n e , der S p a l l a n z a n i s Experimente wiederholte, kam gleichfalls zu dem Schlüsse, daß das G e h ö r organ zur Orientierung dient, doch leugnete er das Dasein eines sechsten Sinnes. Auch er wußte nichts von den halbzirkelförmigen Kanälen, die trotzdem, wie ich festgestellt habe, bei den Fledermäusen stark entwickelt sind. Nach J u r i n e s Veröffentlichung hat S p a l l a n z a n i leider auf seinen sechsten Sinn verzichtet und seine Forschungen nicht fortgesetzt. Selbst F l o u r e n s , der doch die funktionelle Bedeutung der halbzirkelförmigen Kanäle f ü r die Orientierung erkannt hatte, war, genau wie seine Vorgänger, der philosophischen Seite des Problems nicht näher getreten. U n d doch war F l o u r e n s ein tiefer Denker von durchdringendem philosophischen Verstände u n d hat manche P r o b e n davon abgelegt, besonders in seinen prachtvollen akademischen Gedächtnisreden. Wie ist eine solche Zurückhaltung bei ihm also zu erklären? Es ist leichter, die W i r k u n g dieses merkwürdigen Stillschweigens anzugeben, als seine wahren Ursachen zu ergründen. Diese W i r kung bestand leider darin, daß die Entdeckungen dieser vier Forscher in völlige Vergessenheit geraten waren, obwohl mindestens zwei von ihnen, F l o u r e n s und der Abate S p a l l a n z a n i , zu den r u h m vollsten Vertretern der Naturwissenschaft zählen. Bei eingehendem Studium der Schriften dieser Gelehrten indessen erscheint als wahre Ursache von A u t h e n r i e t h s und F l o u r e n s ' Zurückhaltung gegenüber den philosophischen Folgerungen ihrer Entdeckungen der Einfluß K a n t s u n d seines A p r i o r i s m u s der Raum- und Zeitvorstellungen, der sich schon am Ende 1 Angelo Mosso, Torino," 1899.
„I Manoscritti di Lazzaro Spallanzani esistenti in
Vorrede
5
des 18. Jahrhunderts geltend machte. Eine Theorie, die alles zu erklären scheint, ohne Beweise zu heischen und ohne Studien oder Forschungen nötig zu machen, ist stets bestechend. So sieht man selbst V e n t u r i , der doch die Bedeutung des O h r e s als Organ des Raumsinnes erkannt hatte, in dem oben genannten Werke f ü r K a n t s Ideen eintreten!. Er leugnet ausdrücklich jede Möglichkeit einer Beziehung zwischen unsrer Sinneserfahrung u n d unsrer Raumvorstellung und spottet über L o c k e s Einwendungen gegen das Dasein eingeborener Vorstellungen. Erst während einer Demonstration der Funktionen der Herznerven, die ich im anatomischen Hörsaal der medizinischen Fakultät zu Paris auf Einladung L o n g e t s v o r n a h m , lenkte V u l p i a n meine Aufmerksamkeit auf die rätselhaften, von F l o u r e n s entdeckten Erscheinungen. Meine Neugier wurde durch die eigenartigen Experimente des berühmten Physiologen angestachelt; nachdem ich am nächsten Tage mehrere von ihnen wiederholt und ihre Resultate bestätigt hatte, entschloß ich mich, meine Untersuchungen weiter zu treiben, in der H o f f n u n g , endlich das Rätsel der Funktionen des Ohrlabyrinths zu lösen. Aus den oben erwähnten Experimenten meiner Vorgänger ging bereits deutlich hervor, daß die wahre physiologische Bestimmung des Systems der drei Bogengänge in unsrer Orientierung im Räume u n d in der Lokalisierung der uns umgebenden äußeren Gegenstände zu suchen sei. U n d so richtete sich denn seit dem Anfang des Jahres 1872 mein Hauptbestreben auf das Experimentalstudium der etwaigen funktionellen Beziehungen zwischen dem Gesichtsorgan und dem Ohrlabyrinth. Ich berichte an andrer Stelle (Kap. III § 9), durch welch glückliches Zusammentreffen von Umständen ich während meines Aufenthaltes im Seebad im S o m m e r 1873 die wirklichen Beziehungen zwischen den Bogengängen des Ohrlabyrinths und dem Raumproblem intuitiv erkannte. Einige Wochen später sandte ich an P f l ü g e r s Archiv meine erste Mitteilung über die physiologische Bes t i m m u n g des Ohrlabyrinths, worin ich diese Beziehungen präzisierte. Nachdem ich so den Grundstein meiner künftigen Theorie vom Raumsinn gelegt hatte, ging ich mit Feuereifer an die E r g r ü n d u n g des inneren Mechanismus, der zwischen Gesichtssinn und Gehörsinn oder mit andren Worten zwischen dem okulomotorischen System und dem Ohrlabyrinth besteht. Von 1874 an begann ich in meinem Laboratorium in St. Petersburg mit den Experimentalforschungen in
6
Vorrede
dieser Richtung und setzte sie 1 8 7 5 — 7 6 in L u d w i g s ' L a b o r a t o r i u m in Leipzig fort. Im August 1876 machte C l a u d e B e r n a r d der Pariser Akademie der Wissenschaften in meinem Namen eine erste Mitteilung über das Funktionieren dieses komplizierten Mechanismus, durch den der Gehörnerv alle Bewegungen der Augäpfel regelt. Meine Nachforschungen über das neue Sinnesorgan fanden ihren Fortgang in Paris im Laboratorium von C l a u d e B e r n a r d (dem einstigen von F l o u r e n s ) u n d ihren Abschluß in meinem Privatlaboratorium. Am 31. Dezember 1877 übergab ich C l a u d e B e r n a r d meine definitive Mitteilung f ü r die Akademie der Wissenschaften, worin ich die Hauptzüge der Theorie von den Funktionen des Bogengangapparates als des peripherischen O r g a n s des Raumsinnes zusammengefaßt hatte. Die erste sehr ausführliche Darlegung aller meiner Experimentalforschungen über das Ohrlabyrinth, auf die ich meine Theorie von der Entstehung unsres Raumsinnes stützte, erschienen im Jahre 1878 in der „Bibliothèque de l'Ecole des Hautes Etudes, section des Sciences naturelles," Band XVIII, und gleichzeitig als Doktorthese der medizinischen Fakultät unter dem Titel „Recherches expérimentales sur les fonctions des canaux semi-circulaires et sur leur rôle dans la formation de la notion de l'Espace"; Paris 1878. — Ein Teil dieses Werkes war der W i d e r l e g u n g mehrerer falscher Hypothesen von G o l t z , M a c h , B r e u e r u. a. gewidmet, die seit einigen Jahren besonders in der medizinischen Welt Wurzel zu schlagen begannen, trotz ihrer offenkundigen wissenschaftlichen Unzulänglichkeit. Als ich im Jahre 1896 meine Experimentalforschungen über den Raumsinn wieder aufnahm, mußte ich vier Jahre emsiger Arbeit und aufsehenerregender Polemiken auf die B e k ä m p f u n g der zahlreichen eingebürgerten Irrtümer verwenden. In dem vorliegenden Werke, das ausschließlich den psychologischen Schlußfolgerungen aus meinen langjährigen physiologischen Experimenten gewidmet ist, brauche ich auf diese Polemiken, sowie auf die W i d e r l e g u n g der längst erledigten Theorien vom Rotationssinn und anderem Unsinn nicht weiter einzugehen und begnüge mich nur auf mein ausführliches Werk „Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne f ü r Raum und Zeit" (Berlin 1908, Verlag von Julius Springer) zu verweisen. „Die Irrtümer sind ansteckend wie die Krankheiten. Sie pflanzen sich wie falsche Nachrichten blitzschnell fort und sind schwer zu zerstreuen. Die Gesundheit ist nicht ansteckend, u n d die
Vorrede
7
W a h r h e i t k o m m t erst nach langem K ä m p f e n zu E h r e n , " schrieb ich v o r einigen Jahren
in betreff d e r
verhängnisvollen m y o g e n e n Ver-
i r r u n g e n , welch letztere nichts hinterlassen haben als die E r i n n e r u n g an zahlreiche H e r z k r a n k e — die O p f e r unseliger V e r i r r u n g e n . 1 Nach A b s c h l u ß m e i n e r ersten U n t e r s u c h u n g e n
ü b e r das O h r -
labyrinth als O r g a n d e s R a u m s i n n s z o g ich drei S c h l u ß f o l g e r u n g e n a u s d e r T h e o r i e seiner F u n k t i o n e n , die ich d e d u k t i v auf den Resultaten
zahlloser
Nachforschungen
später e x p e r i m e n t e l l von
logischen
Schlußfolgerungen
Resultate z u r G e w i ß h e i t . 1. W e n n
die
aufgebaut
beweisen wollte.
hatte
und
Eine derartige
e r h e b t die induktiv
die
gewonnenen
Meine drei S c h l u ß f o l g e r u n g e n
drei B o g e n g a n g p a a r e z u r
ich
Bestätigung lauteten:
Orientierung
in
den
drei D i m e n s i o n e n des R a u m e s dienen, so k ö n n e n die Tiere, die n u r zwei
Paare von B o g e n g ä n g e n besitzen, z. B. die N e u n a u g e n ,
n u r in zwei R i c h t u n g e n orientieren. Folgerung
konnte
ich
noch
in
E x p e r i m e n t e an den N e u n a u g e n
sich
Die absolute Richtigkeit dieser
meinem
W e r k e von
1878
durch
erweisen.
2. D i e W i r b e l l o s e n , die ü b e r h a u p t keine B o g e n g ä n g e besitzen, müssen sich mit Hilfe ihrer Otocysten orientieren.
Auf G r u n d dieser
B e h a u p t u n g hat Y v e s D e l a g e eine g r o ß e Zahl von U n t e r s u c h u n g e n ü b e r das O r i e n t i e r u n g s v e r m ö g e n F o l g e r u n g d u r c h a u s bestätigten.
der
Krebse
Hensen
gemacht,
die
meine
u n d a n d r e Gelehrte sind
auf experimentellem W e g e z u m gleichen E r g e b n i s gelangt. 3. D i e T a u b s t u m m e n kennen w e d e r Schwindel noch heit, sofern ihr B o g e n g a n g a p p a r a t
nicht funktioniert.
Seekrank-
Diese
letzte
S c h l u ß f o l g e r u n g ist seitdem d u r c h die B e o b a c h t u n g e n von W . J a m e s , S t r e h l , B r u c k u. a. bestätigt w o r d e n . U n t e r d e n experimentellen Bestätigungen
meiner Theorie
ich v o r allem die s c h ö n e E n t d e c k u n g von B. R a w i t z
muß
hervorheben,
w o n a c h der wirkliche anatomische G r u n d f ü r die tollen B e w e g u n g e n der
japanischen T a n z m ä u s e
liegt.
in
der
Entartung
ihres
Ohrlabyrinths
R a w i t z erkannte sofort die g r o ß e Tragweite seiner E n t d e c k u n g
u n d hat diese seltsamen T a n z b e w e g u n g e n , die so lange unerklärlich geblieben
sind,
richtig
als
Orientierungsstörungen
erklärt.
Diese
E n t d e c k u n g v o n R a w i t z w a r eine g l ä n z e n d e R e c h t f e r t i g u n g m e i n e r ersten S c h l u ß f o l g e r u n g .
O h n e irgendwelche Experimente, auf G r u n d
einfacher B e o b a c h t u n g ,
kann
1
Siehe Kap. III, § 9.
m a n sich ü b e r z e u g e n ,
d a ß die Tiere,
8
die n u r ein oder zwei oder zwei Dimensionen eignen Untersuchungen mehr Klarheit über den
Vorrede
Bogengangpaare besitzen, sicli n u r in ein des Raumes zu orientieren vermögen. Meine über die japanischen Tanzmäuse haben noch Funktionsmodus des Ohrlabyrinths gebracht.
Ganz vor kurzem ist dem berühmten Professor E h r l i c h die künstliche H e r v o r b r i n g u n g von Tanzmäusen gelungen, indem er den Mäusen eine Arsenlösung, das Arsacetin, einspritzte. Auf seine Veranlassung hat P a u l R ö t h i g in E d i n g e r s Laboratorium den Zustand ihres Zentralnervensystems untersucht u n d dabei mit Hilfe der M a r c h i s c h e n Methode eine starke Entartung des Nervus vestibularis und des Sehnervenstranges entdeckt. Hier sei nur seine hauptsächlichste Schlußfolgerung wiedergegeben: «Will man die in den Zickzack- u n d Drehbewegungen sich ä u ß e r n d e Orientierungsstörung der künstlichen Tanzmäuse und die damit in Z u s a m m e n hang stehende Degeneration des Nervus vestibularis erklären, so erscheint mir dies n u r möglich mit Hilfe der v. C y o n s c h e n Theorie über die Funktionen des Labyrinthes. W i e bekannt, hat v. C y o n seit langem durch eine g r o ß e Reihe planvoller Experimente gezeigt, daß «die Bogengänge als die ausschließlichen peripheren O r g a n e des Richtungssinnes betrachtet werden müssen, und daß von ihnen die Orientierung der Tiere im Raum abhängt. . . . Meine Untersuchungen erwiesen weiter die von v. C y o n vermuteten Veränderungen in den Fasern der Vestibularnerven und geben seiner Ansicht eine weitere Stütze, wonach die Kenntnis der geraden Linie bedingt ist durch das harmonische Zusammenwirken des Ohrlabyrinths mit dem G e sichtssinn". 1 Die wissenschaftliche Lösung des Problems der Orientierung im Räume habe ich noch vor der W e n d e des letzten Jahrhunderts gebracht. 2 In einer Schrift, die in erster Linie dem Problem der Orientierung galt, mußte ich mich darauf beschränken, die mathematische und philosophische Lösung des Raum- und Zeitproblems, soweit ich sie im Laufe der Zeit erarbeitet hatte, in großen Zügen anzudeuten. Schon in meinem Buche von 1 8 7 8 3 hatte ich die 1 Dr. P a u l R ö t h i g , Untersuchungen am Zentralnervensystem usw. Frankfurter Zeitschrift für Pathologie. 3. Band. Wiesbaden 1909. 2 „Ohrlabyrinth, Raumsinn und Orientierung." P f 1 ü g e r s Archiv, Bd. 79, 1900. 3 Recherches expérimentales sur les fonctions des Canaux semi-circulaires etc. Paris 1878.
Vorrede Ü b e r z e u g u n g ausgedrückt, daß die E u k l i d i s c h e Geometrie auf den Sinneswahrnehmungen des Ohrlabyrinths beruhte. Das damalige A u f k o m m e n der nichteuklidischen Geometrie hat mich gegen meinen Willen verhindert, diese innere Ü b e r z e u g u n g ausführlicher zu vertreten. Nachdem ich Jahre des Studiums darauf verwandt hatte, die Hauptgrundlagen der neuen imaginären Geometrie zu erforschen, gelang es mir nachzuweisen, daß sie nicht imstande sind, meine Auffassung von der sinnlichen Herkunft der E u k l i d i s c h e n Geometrie zu erschüttern. Erst dann unternahm ich den streng wissenschaftlichen Nachweis, daß allein die Definitionen und Axiome der letzteren auf physiologischen Grundlagen beruhen und realen Verhältnissen entsprechen. Die Experimente, welche diesem Nachweis z u g r u n d e lagen, konnten nur an Menschen gemacht werden. Die Ergebnisse meiner ersten Untersuchungen erschienen gleichzeitig in T h . R i b o t s »Revue Philosophique« 1501 und in P f l u g c r s v Archiv f ü r die Physiologie" (Bd. 85) unter dem Titel: »Die physiologischen Grundlagen der E u k l i d i s c h e n Geometrie".1 Der Nachweis, daß die Lehrsätze E u k l i d s auf Sinneseindrücken beruhen, mußte K a n t s aprioristische Lehre von unsren R a u m - und Zeitvorstellungen und von den geometrischen Axiomen ins Wanken bringen. Ich habe danach die wirklichen Beziehungen zwischen den nichteuklidischen Raumformen und den euklidischen festgestellt, insbesondere auch den Nachweis geführt, daß die ersteren rein imaginär sind und keinerlei Anspruch auf Realität besitzen, weswegen sie denn auch unsrer sinnlichen W a h r n e h m u n g verschlossen sind. Der experimentelle Teil jener Schrift, der diesem Problem galt, bezog sich ebensosehr auf das berühmte Parallelenaxiom, dieses n o l i m e t a n g e r e der E u k l i d i s c h e n Geometrie. Hinzugefügt sei noch, daß sämtliche Ergebnisse der an Menschen gemachten Experimente, ü b e r die im Kapitel V dieses Buches berichtet wird, f ü r die beiden oben erwähnten Teile des Problems ebenfalls von großer Wichtigkeit sind. Diese Experimente haben unmittelbar und endgültig erwiesen, daß der U r s p r u n g unsrer Richtungs- u n d Raumempfindungen in der E r r e g u n g der E n d u n g e n des Nervus vestibularis durch Schallwellen zu suchen ist. Der unwiderlegliche Nachweis dieser Tatsache hat den funktionellen Z u s a m m e n h a n g der 1
Siehe Kap. I, § 3.
10
Vorrede
b e i d e n Teile des O h r l a b y r i n t h s , des B o g e n g a n g a p p a r i t e s mit seinen A m p u l l e n u n d der Schnecke mit d e m C o r t i sehen O r g a n , e n d g ü l t i g festgestellt.
D e r Anlaß zu
Erregungen
sind L u f t s c h w i n g u n g e n u n d
beider ist d e r gleiche:
es
Schallwellen.
Bei dieser Gelegenheit h a b e ich das P r o b l e m d e r Zeit in d e n Bereich
meiner
gezogen.
Experimentalstudien
über
den
Raumsinn
hinein-
Auf den so vereinigten G e b i e t e n hatte ich zwei b e r ü h m t e
Physiologen,
E. H . W e b e r
und K a r l V i e r o r d t ,
zu V o r g ä n g e r n .
Ihre E x p e r i m e n t a l f o r s c h u n g e n f a n d e n ziemlich zu gleicher Zeit statt. Webers
Untersuchungen
galten
V i e r o r d t s d e m Zeitsinn.
vorzugsweise
dem
Beide kamen zu d e r gleichen A u f f a s s u n g
dieser S i n n e ; sie e r k a n n t e n sie als m a t h e m a t i s c h e dazu
bestimmt,
Raumsinn,
die E m p f i n d u n g e n
und
Generalsinne
Perzeptionen
der
andren
fünf Sinne zu messen u n d zu leiten.
Diese A u f f a s s u n g diente m i r
als Leuchte w ä h r e n d
meines W e r k e s :
der
Beendigung
«Das
Ohr-
labyrinth als O r g a n d e r mathematischen Sinne f ü r R a u m u n d Z e i t . " 1 In einer a u s f ü h r l i c h e n u n d e i n d r i n g e n d e n Studie, die d e r h o c h a n g e s e h e n e thomistische P h i l o s o p h E r n s t C o m m e r 2 m e i n e r physiologischen L ö s u n g d e s R a u m - u n d Z e i t p r o b l e m s g e w i d m e t hat, f a n d ich die mir s e h r wertvolle Bestätigung, d a ß m e i n e A u f f a s s u n g dieses P r o b l e m s sich im allgemeinen mit d e r j e n i g e n d e r g r o ß e n P h i l o s o p h e n Aristoteles
und
Thomas
von
Aquino
deckt.
a n d e r m a l auf die
zahlreichen B e r ü h r u n g s p u n k t e
gebnissen
Experimentalforschungen
meiner
R a u m - u n d Zeitsinnes u n d
den
über
rein intuitiven
Ich h o f f e ,
ein
zwischen d e n
Er-
die
Organe
genialen
des
Ansichten
dieser beiden g r o ß e n D e n k e r z u r ü c k z u k o m m e n . Die Ü b e r e i n s t i m m u n g ist in diesem Falle u m so wertvoller, als es sich hier u m
Aristo-
t e l e s , den B e g r ü n d e r d e r Psychologie, u n d seinen geistesgewaltigsten Nachfolger, T h o m a s v o n A q u i n o ,
handelt.
Z u Beginn dieser Vorrede, als ich von d e n ersten F o r s c h u n g e n Venturis
sprach,
sophische
Nutzanwendung
Kants.
e r w ä h n t e ich als H a u p t h i n d e r n i s f ü r die philoseiner
Beobachtungen
den
Apriorismus
K a n t s P h i l o s o p h i e hat auch in d e r Folgezeit jeden Versuch
einer wissenschaftlichen Scheitern gebracht.
L ö s u n g des R a u m - u n d Z e i t p r o b l e m s z u m
Das gilt sowohl f ü r die Versuche d e r
Philo-
sophen ( B e n e c k e , U e b e r w e g u . a . m.), wie f ü r die der Mathematiker 1
Siehe Kap. VII, § 2. Professor Dr. E r n s t C o m m e r , Jahrbuch für Philosophie und spekulative Theologie. Bd. XXV, 1. Juli 1910, Paderborn. 8
Vorrede
11
( G a u s s ) und der Physiologen ( H e l m h o l t z ) . Übrigens hat H e l m h o l tz, wie ich andrenorts nachgewiesen habe, seine Theorie von den Innervationsgefühlen und dem »Muskelsinn", auf G r u n d deren er seine Raumauffassung mit der K a n t s c h e n zu versöhnen hoffte, aufgeben müssen. H e l m h o l t z ließ sich gleichermaßen zu der sonderbaren Ansicht K a n t s v e r f ü h r e n , daß unsre E m p f i n d u n g e n und W a h r n e h m u n g e n von Z e i c h e n oder S y m b o l e n , anstatt von w i r k l i c h e n B i l d e r n der Objekte der Außenwelt herrührten. In Kapitel III, § 11, wird der Nachweis geführt, daß eine derartige Herkunft unsrer Empfindungen völlig unmöglich sei. Die gelehrten Herausgeber der 3. Auflage der »Physiologischen Optik" von H e l m h o l t z haben denn auch die Notwendigkeit eingesehen, diese Theorie als unhaltbar fortzulassen. Die E m p f i n d u n g e n f ü r bloße »Zeichen" der äußeren Objekte anzusehen, bedeutet f ü r einen Naturforscher in der Tat die Negierung der Realität dieser Objekte. Sir O l i v e r L o d g e bezeichnet diese Idee K a n t s , welche die Realität auf bloße Empfindungen reduzieren will, als einfach grotesk. „ W e n n die Götter," so fährt er fort, „ H u m o r besitzen, so müssen sie lachen, wenn sie ihr Geschöpf, den Menschen, gerade den Werkzeugen mißtrauen sehen, die ihn zu dem machen, was er ist." Bei der völligen Ü b e r e i n s t i m m u n g meiner Theorie der Raum- und Zeitvorstellungen mit den Anschauungen hervorragender Naturforscher und der größten Philosophen der Menschheit kann man den definitiven Z u s a m m e n b r u c h einer lediglich auf der „Kritik der reinen Vernunft/' beruhenden Erkenntnistheorie ruhig abwarten. (Siehe die Einleitung.) Die Fruchtbarkeit der wissenschaftlichen Entdeckungen und der aus ihnen resultierenden philosophischen Theorien ist f ü r den gelehrten Entdecker oft ein wertvoller Prüfstein f ü r ihren wahren Wert. „ W e n n die Wissenschaft jemals eine positive Antwort auf die Frage von der Herkunft unsres Zeitempfindens finden sollte, so w ü r d e sie uns zur Erkenntnis der Natur u n d des Wesens der Seele f ü h r e n , " erklärte V i e r o r d t . U n d so bin ich denn, nach Vollendung meines Werkes über die mathematischen Sinne f ü r Raum und Zeit, an die wissenschaftliche Differenzierung der psychischen Funktionen gegangen. In meiner Studie „Leib, Seele und G e i s t " 1 habe ich die 1
Siehe P f l ü g e r s Archiv, Bd. 127, 1909.
12
Vorrede
neuen Grundlagen einer physiologischen Psychologie 'zu schaffen versucht. Die alte, die von W u n d t , hatte just deshalb Schiffbruch erlitten, weil keine wissenschaftliche Psychologie ohne vorherige, endgültige Lösung des Raum- und Zeitproblems möglich ist. Das Kapitel III ist der weiteren B e g r ü n d u n g u n d Entwickelung dieser Studie u n d dem A u f b a u der neuen Psychologie gewidmet. Alle großen Denker von A r i s t o t e l e s und T h o m a s von A q u i n o bis zu H e l m h o l t z haben den Gehörsinn als den geistigsten und mächtigsten von allen Sinnen angesehen. Ein Jahrhundert physiologischer Experimentalforschungen war nötig, um dies endgültig festzustellen. Der hervorragendste Vorzug des Gehörsinns vor allen übrigen Sinnen beruht darauf, daß der geistige Mensch ihm W o r t , S p r a c h e u n d M u s i k verdankt. „ I m A n f a n g w a r d a s W o r t , u n d d a s W o r t w a r b e i G o t t , u n d G o t t w a r d a s W o r t " , so beginnt das Evangelium des J o h a n n e s . D e r G e h ö r s i n n ist d a h e r das v o r z ü g l i c h s t e O r g a n f ü r die religiösen E m p f i n d u n g e n ; das Herz kommt erst in zweiter Linie. „Tibi se cor meum totum subjicit, Quia te contemplans totum deficit. V i s u s , t a c t u s , g u s t u s in te f a l l i t u r , Sed auditu solo tuto creditur. C r e d o quidquid dixit Dei Filius: Nil hoc verbo veritatis verius." 1 Das Schlußkapitel dieses zweiten Bandes „Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft", wird diese Funktionen des Ohrlabyrinths näher demonstrieren u n d auch die W e g e und Mittel zu dieser Rückkehr vorzeichnen. 1
Dir ergibt mein ganzes Herze sich, Das in Nichts versinkt, erschaut es Dich. Fühlen, Schmecken, Sehn sind ohne Sinn, N u r das H ö r e n führt zum G l a u b e n hin. Gottes Sohn gab mir die Wahrheit kund: Nichts ist wahrer als der Wahrheit Mund. Thomas von Aquino,
Abendmahlshymne.
Einleitung. Der Niedergang der Metaphysik und die Wiedergeburt der wissenschaftlichen Philosophie. Nach Abschluß eines größeren Werkes, das Ergebnisse und Errungenschaften jahrelanger Arbeit wiedergibt, welche neue Lösungen aller wissenschaftlicher G r u n d p r o b l e m e geliefert hat, m u ß ein gewissenhafter Forscher meistens das Bekenntnis ablegen, daß er den U m f a n g seines Werkes leicht verdoppeln könnte, wollte er gleichzeitig die bei den erzielten Lösungen neu aufgetauchten Fragen und die noch der Aufklärung bedürftigen Rätsel erörtern. Jede neue, auf experimentellem W e g e gewonnene Erkenntnis erschließt unsrem Geiste neue Forschungsgebiete und offenbart ihm neue Methoden zur Ausfüllung der unvermeidlichen Lücken seiner bisherigen Resultate. U n d so läßt uns denn jede Erweiterung unsres Wissens die Unendlichkeit Dessen ermessen, was uns noch zu lernen bleibt. Dieses Entdecken neuer Probleme und neuer Methoden, die zu deren Lösung f ü h r e n , setzt den Wert der gemachten Errungenschaften und der erreichten Lösungen keineswegs herab; vielmehr ist es eine G e w ä h r f ü r die Fruchtbarkeit der geleisteten Arbeit. N u r unfruchtbare Naturforscher oder Denker, die den exakten Wissenschaften fern stehen, können hierin einen Beweis f ü r die R e l a t i v i t ä t unsrer wissenschaftlichen Erkenntnis sehen und deren endgültig bestimmte Gesetze anzweifeln. Der Relativismus führt in den Wissenschaften zum Skeptizismus oder zur Metaphysik des unfruchtbaren K a n t sehen Kritizismus und zu dem Satze H e r a k l - i t s vom Fluß aller Dinge. Der Naturforscher, dessen Lebenszweck die Enthüllung der geheimnisvollen Schöpfungsgesetze ist, läßt sich durch neue Schwierigkeiten und Hindernisse, die sich vor ihm e r h e b e n , nicht entmutigen. Im Gegenteil sind sie ihm eine M a h n u n g an das W o r t : »Die Wissenschaft ist ewig in ihrem
14
Einleitung
Quell, nicht begrenzt in Zeit u n d Raum, unermeßlich in ihrem U m f a n g , endlos in ihrem Aufgabe, unerreichbar in ihrem Ziele" (K. E. v. B a e r ) . U n d das ist ein Glück, d e n n sonst wäre die Erreichung des Endzieles der Todesstoß f ü r die Naturforschung. Die Arbeitsmethoden u n d Anschauungen der Metaphysiker sind völlig entgegengesetzte. In der Ü b e r z e u g u n g , die schwierigsten Probleme durch bloße Denkvorgänge lösen zu können, ist der Metaphysiker mit seinem Werke erst dann zufrieden, wenn er ein lückenloses System konstruiert hat, das die Lösung aller Probleme, welche je den Menschengeist bewegten, zu bringen u n d alle Welträtsel zu entschleiern scheint. Er fragt wenig danach, daß sein System jeder G r u n d l a g e ermangelt, daß die Vorstellungen u n d Definitionen, von denen seine Spekulation ausgeht, willkürlich u n d die angeblichen Lösungen n u r das Produkt einer m e h r oder minder sophistischen und gewollt dunklen Dialektik sind. Er wähnt, in das Wesen u n d in die Natur aller sichtbaren oder unsichtbaren Dinge eingedrungen zu sein, und hält sein Werk f ü r glücklich vollendet. N u r unbestimmt ahnt er, daß die Zeit seine Lösungen und Erklärungen fortschwemmen und daß sein System von seinen Nachfolgern in der Metaphysik f r ü h e r oder später umgestürzt werden wird. Doch er tröstet sich in dem Gedanken, daß es ihren Systemen ebenso ergehen wird. Dieser Trost entgeht den Metaphysikern, wenn eines ihrer P r o b l e m e auf G r u n d untrüglicher experimenteller Methoden eine rein wissenschaftliche und somit e n d g ü l t i g e Lösung erfährt. Der Fortschritt der Wissenschaften erscheint ihnen als eine Beleidigung ihrer Ohnmacht. D e r wahre Naturforscher, der sich mit der Erforschung der Gesetze begnügt, welche die Erscheinungen der physikalischen, unsren Sinnen allein zugänglichen Welt beherrschen, erscheint ihnen als O u t s i d e r , als Eindringling in die imaginären Welten, die ihre Phantasie erschaffen hat und die sie seit Jahrtausenden erforschen — mit welchem Resultat, ist bekannt. Ich rede hier von den reinen Metaphysikern und nicht von den Philosophen, denn diese verhalten sich zu ihnen •— nach dem glücklichen Worte von H e l m h o l t z — wie die Astronomen zu den Astrologen. Die Unterschiede zwischen beiden sind freilich nicht immer so scharf, wie der Vorteil der wahren Philosophie es erforderte. Immerhin unterscheidet sich der Philosoph vom Metaphysiker durch seine Stellung gegenüber dem Siegeszug der Natur-
Einleitung
15
Wissenschaften. W e n n er sich auch nicht darüber freut, so erkennt er doch wenigstens ihre große Bedeutung f ü r die menschliche Erkenntnis u n d gibt f ü r die Philosophie die Notwendigkeit zu, sich diese Fortschritte nutzbar zu machen. Er sucht Wissenschaft und Philosophie zu verknüpfen u n d hofft dieser wieder zu dem Rang zu verhelfen, der ihr in der menschlichen Kulturentwicklung zukommt. Der Metaphysiker hingegen, voller Eifersucht auf seine stolze Mißachtung der Realitäten dieser W e l t , schließt bei jeder neuen Errungenschaft der exakten Wissenschaften die A u g e n , verstopft sich die O h r e n und klammert sich mit verdoppeltem Eigensinn an die morschen Systeme seiner Vorgänger ( K a n t , F i c h t e , H e g e l u. a.), in der W a h n h o f f n u n g , so der steigenden Flut der exakten Wissenschaften zu entgehen, welche die spekulative Philosophie hinweg zu schwemmen droht. Kaum ahnt er, daß der B e r k e l e y i s m u s notwendig zur Verneinung der Existenz der Außenwelt wie der eigenen Existenz führen muß. Ein hervorragendes Beispiel dieser Siege der exakten Wissenschaft über die ewig unfruchtbare Metaphysik ist die Entdeckung der beiden mathematischen Sinne des O h r l a b y r i n t h s 1 : des geometrischen Sinnes, mit dessen Hilfe wir uns unsre dreidimensionale Raumvorstellung bilden, und des arithmetischen Sinnes, dem wir die Entstehung unsres Zahlensinns und unsrer Zeitvorstellung verdanken. Diese Entdeckung hat der Physiologie nach hundertjähriger Experimentalforschung die Lösung von Problemen gestattet, an denen die Anstrengungen der Metaphysiker seit Jahrtausenden gescheitert waren. Zugleich erschließt sie dem Philosophen wie dem Naturforscher einen breiten W e g zur E r g r ü n d u n g der Geheimnisse des Seelenlebens. Die Einleitung zu diesem Bande meines Werkes soll den Philosophen die einzige Möglichkeit zeigen, wie die Philosophie mit den Naturwissenschaften zu verknüpfen ist. D e n n hierin liegt nach der einstimmigen Meinung der Meister der modernen Philosophie, selbst der deutschen Neukantianer wie A. R i e h l , die einzige Rettung aus der schweren Krisis, die sie seit hundert Jahren durchzumachen hat. K a n t s Apriorismus war das Haupthindernis einer solchen Ver1 E. v. C y o n , „ D a s O h r l a b y r i n t h als O r g a n der m a t h e m a t i s c h e n Sinne f ü r R a u m u n d Zeit", Berlin 1908, Jul. S p r i n g e r . Französisch. Paris 1912, Felix A l c a n .
16
Einleitung
k n ü p f u n g . Dieses Hindernis ist wissenschaftlich widerlegt und ein f ü r allemal beiseite geräumt durch den Nachweis des sinnlichen U r s p r u n g s der Raum-, Zeit- u n d Zahlenvorstellungen. Die Naturforscher u n d Mathematiker, die K a n t s Theorie bisher widersprachen, waren außerstande zu einer auch nur vermutungsweisen Bezeichnung desjenigen Sinnesorgans, aus dessen W a h r n e h m u n g e n wir vermittelst Abstraktion unsre Raum- und Zeitvorstellungen gewinnen. U n d so waren denn alle Bemühungen, der aprioristischen Lehre K a n t s eine brauchbare empirische Theorie von der Herkunft dieser Vorstellungen entgegenzusetzen, am Unmöglichen gescheitert. Übrigens n a h m K a n t seine Zuflucht zum Apriorismus erst nach jahrelangen vergeblichen Versuchen, unsre Raum- u n d Zeitvorstellungen auf unsre fünf Sinne zurückzuführen. »Vermittelst des äußeren Sinnes (einer Eigenschaft unsres Gemüts) stellen wir u n s Gegenstände als außer uns und diese insgesamt im Räume vor. Darinnen ist ihre Gestalt, G r ö ß e und Verhältnis gegeneinander bestimmt oder bestimmbar." Mit diesen Worten beginnt K a n t den Teil seines Werkes, der „von dem R ä u m e " handelt. Weiterhin, unter den „Schlüssen aus obigen Begriffen", sagt er: „ D e r Raum ist nichts anderes als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d. i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein unsre äußere Anschauung möglich ist. Weil nun die Rezeptivität des Subjekts, d. h. die Eigenschaft, von Gegenständen affiziert zu werden, notwendigerweise vor a l l e n Anschauungen dieser Objekte vorhergeht, so läßt sich verstehen, wie die F o r m aller Erscheinungen vor allen wirklichen W a h r n e h m u n g e n , mithin a priori im G e m ü t gegeben sein könne." Jede dieser Behauptungen beweist deutlich, daß K a n t an einen äußeren Sinn als Ursache unsrer Raumvorstellung dachte. Diesen Sinn faßte er scheinbar als allgemeinen Sinn auf, zu dem alle W a h r n e h m u n g e n der andren Sinne in Beziehung stehen ( W e b e r u n d V i e r o r d t ) . Doch infolge der U n kenntnis, die zu jener Zeit über die Funktionen der Sinnesorgane und die wahren Beziehungen zwischen Reiz, E m p f i n d u n g u n d W a h r n e h m u n g herrschte, faßte er diesen äußeren Sinn als „Erscheinung unsres G e m ü t s " auf u n d klammerte sich an die, übrigens n u r bedingungsweise aufgestellte A n n a h m e , daß „die Formen aller Erscheinungen im G e m ü t e a p r i o r i g e g e b e n " seien. Ebenso ist die Zeit f ü r K a n t „nichts andres als die Form des inneren Sinnes, d. i. des Anschauens unsres Selbst und unsres inneren Zustandes".
Einleitung
17
Auch hier die gleiche Unkenntnis der physiologischen Bedeutung der Sinnesfunktionen! Wie kann denn von einer inneren Vorstellung der Zeit die Rede sein, wo wir die Schnelligkeit der Bewegungen s e h e n u n d die Dauer und den Rhythmus der Töne h ö r e n ? Übrigens hat K a n t die grundlegende Bedeutung der E r f a h r u n g nie offen abgestritten. „ D a ß alle unsre Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel," so lautet der Anfang seiner „Kritik der reinen V e r n u n f t " . „ D e r Zeit nach geht keine Erkenntnis in uns vor der E r f a h r u n g vorher, und mit dieser fängt alle an," so endigt der erste Absatz. „ U n s r e Behauptungen," heißt es weiterhin, „lehren demnach e m p i r i s c h e R e a l i t ä t der Zeit, d. i. objektive Gültigkeit in A n s e h u n g aller Gegenstände, die jemals unsren Sinnen gegeben werden mögen. U n d da unsre Anschauung jederzeit sinnlich ist, so kann uns in der E r f a h r u n g niemals ein Gegenstand gegeben w e r d e n , der nicht unter die B e d i n g u n g der Zeit gehörte." In seiner » Erläuterung" erklärt e r w Diese Realität des Raumes und der Zeit läßt übrigens die Sicherheit der Erfahrungserkenntnis unangetastet." In diesen Zeilen näherte sich K a n t der Auffassung des A r i s t o t e l e s u n d des Hl. T h o m a s v o n A q u i n o , um nicht zu sagen: er trat ihr bei. Die vorstehenden Zitate sollen an die von den Kantianern geflissentlich ignorierte Tatsache erinnern, daß K a n t selbst seine Hypothese vom Apriorismus nur als ein unerläßliches Hilfsmittel ansah. Die Sinnesphysiologie war damals noch in ihren Anfängen u n d konnte ihm keine brauchbare Hypothese f ü r Raum und Zeit liefern. „Wenngleich alle unsre Erkenntnis mit der E r f a h r u n g anhebt, so entspringt sie d a r u m doch nicht eben allseitig aus der Erfahrung. D e n n es könnte wohl sein, daß selbst unsre Erfahrungserkenntnis ein Zusammengesetztes aus D e m sei, was wir durch Eindrücke e m p f a n g e n , und D e m , was unser eigenes Erkenntnisvermögen (durch sinnliche Eindrücke bloß veranlaßt) aus sich selbst hergibt, welchen Zusatz wir von jenem G r u n d s t o f f e nicht eher unterscheiden, als bis lange Ü b u n g uns darauf aufmerksam u n d zur A b s o n d e r u n g desselben geschickt gemacht hat." K a n t selbst hat vor dem Erscheinen der „Kritik der reinen V e r n u n f t " erklärt, daß alle Erkenntnis der Gegenstände, die allein von der reinen Vernunft oder dem reinen Verstände herrührt, nichts als leerer Schein ist; ist in der E r f a h r u n g allein liegt die Wahrheit. Es ist daher erklärlich, daß K a n t E. V. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
in dieser K r i t i k aus den 2
18
Einleitung
Widersprüchen nicht herauskommt, wenn er die Bildung der Raumund Zeitvorstellungen zu formulieren sucht: »Der Raum wird als eine unendliche g e g e b e n e G r ö ß e vorgestellt. N u n m u ß man zwar einen jeden Begriff als eine Vorstellung denken, die in einer unendlichen Menge von verschiedenen möglichen Vorstellungen (als ihr gemeinschaftliches Merkmal) enthalten ist, mithin diese u n t e r s i c h enthält; aber kein Begriff, als ein solcher, kann so gedacht werden, als o b er eine unendliche Menge von Vorstellungen i n s i c h enthielte. Gleichwohl wird der Raum so gedacht (denn alle Teile des Raumes ins Unendliche sind zugleich). Also ist die ursprüngliche Vorstellung vom Räume Anschauung a priori und nicht Begriff." Die Unlogik dieser ganzen Erörterung, insbesondere des Schlusses, springt in die Augen. Das folgende Zitat, gleichfalls aus der „Kritik der reinen V e r n u n f t " , zeigt noch deutlicher, zu welchem Chaos Vorstellungen o h n e jede greifbare positive G r u n d l a g e f ü h r e n können. »Ein großer Teil, und vielleicht der g r ö ß t e , von dem Geschäfte unsrer Vernunft besteht in Zergliederungen der Begriffe, die wir schon von Gegenständen haben. Dieses liefert uns eine Menge von Erkenntnissen, die, ob sie gleich nichts weiter als Aufklärungen oder Erläuterungen desjenigen sind, was in unseren Begriffen (wiewohl noch auf verworrene Art) schon gedacht w o r d e n , doch wenigstens der F o r m nach neuen Einsichten gleich geschätzt w e r d e n , wiewohl sie der Materie oder dem Inhalte nach die Begriffe, die wir haben, nicht erweitern, sondern n u r auseinandersetzen. Da dieses Verfahren nun eine wirkliche Erkenntnis a priori gibt, die einen sicheren und nützlichen Fortgang hat, so erschleicht die Vernunft, ohne es selbst zu merken, unter dieser Vorspiegelung Behauptungen von ganz andrer Art, wo die Vernunft zu gegebenen Begriffen ganz fremde, und zwar a priori hinzutut, ohne daß man weiß, wie sie dazu gelange, und ohne sich eine solche Frage auch n u r in die Gedanken kommen zu lassen." 1 Wie ganz anders steht jetzt die Raumvorstellung da, nicht m e h r auf „erschlichenen Behauptungen" beruhend, die „zu gegebenen Begriffen ganz fremde, u n d zwar a priori, hinzutun", sondern auf sinnlicher Erfahrung und auf deutlichen Vorstellungen b e g r ü n d e t ! W i e gekünstelt, wirr, ja wenig ehrlich sind alle diese „Erläuterungen", 1
Immanuel
1818, S. 7.
Kant,
„Kritik
der reinen Vernunft",
6. Aufl.
Leipzig
Einleitung
19
mit denen K a n t sich b e m ü h t , seine Hypothese auf Treibsand zu bauen, dessen Unhaltbarkeit keiner besser erkennen mußte als der Logiker K a n t . S c h o p e n h a u e r sprach sogar von K a n t s Heuchelei. Das ist ein zu hartes Urteil. Immerhin sah K a n t , der nach langem Hin- und Herschwanken zwischen H o b b e s und H u m e und nach kurzem Verweilen bei S w e d e n b o r g schließlich im Idealismus B e r k e l e y s geendet war, sich nicht selten auf dialektische Kunstgriffe angewiesen, um seine W a n d l u n g e n zu verschleiern. Man kann auf völlige Ehrlichkeit der Überzeugungen keinen Anspruch e r h e b e n , wenn man in ein und demselben Werke zuerst die Allmacht Gottes preist und danach stolz erklärt: »Gebet mir Stoff und ich will Euch zeigen, wie eine Welt entsteht." 1 Der Mangel an Aufrichtigkeit bei der Konstruktion seiner Raum- und Zeitvorstellungen springt bereits in die A u g e n , wenn man die Vorreden zur 1. u n d 2. Auflage der „Kritik der reinen V e r n u n f t " vergleicht. Die kühle A u f n a h m e der 1. Auflage, besonders durch die absprechenden Urteile über die Metaphysiker verursacht, hatte K a n t stutzig gemacht und veranlaßte ihn, f ü r die folgenden Auflagen eine neue Vorrede zu schreiben. In dieser stehen Sätze Man versuche es einmal, ob wir nicht in den Aufgaben der Metaphysik damit besser f o r t k o m m e n , daß wir a n n e h m e n , die Gegenstände müssen sich nach unserer Erkenntnis richten." O d e r : »Ich nehme a n , die Gegenstände, o d e r , welches einerlei ist, die E r f a h r u n g , in welcher sie allein (als gegebene Gegenstände) erkannt werden, richte sich nach den Begriffen." . . . Also die wirklichen Objekte in der objektiven Welt sollen sich nach den Begriffen richten, die ein Metaphysiker ausheckt! Das erinnert an die berühmten W o r t e von H e g e l : »Das stimmt nicht zu den Tatsachen? U m so schlimmer f ü r die Tatsachen!" Welche tolle Welt, welche schnurrigen Objekte würden aus den eben zitierten Anschauungen K a n t s entstehen! Z u d e m ist K a n t s Apriorismus so alt wie die Philosophie. Er ist im G r u n d e nicht weit entfernt von D e m , was die Scholastiker mit u n i v e r s a l i a a n t e r e m zu bezeichnen pflegten, in dem Sinne, wie es Aristoteles von Plato meint. N u r bezogen sich diese u n i v e r s a l i a auf ungleich zahlreichere allgemeine Begriffe als bei K a n t , 1 »Ich denke viele D i n g e mit sehr klarer Ü b e r z e u g u n g u n d hätte doch nie den M u t , sie öffentlich auszusprechen; aber ich werde nie etwas sagen, was ich nicht denke," schrieb K a n t im Jahre 1766, kurz vor der ersten Verö f f e n t l i c h u n g seiner tt Kritik" an Moses M e n d e l s s o h n .
2*
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Einleitung
der sie seinerseits nur auf die Begriffe der Zeit, des Raums und der Kausalität anwandte. Dem Vorbild seines Landsmanns, des Scholastikers D u n s S c o t u s 1 folgend, hatte auch K a n t sich bemüht, den Apriorismus mit den u n i v e r s a l i a p o s t r e m , d. h. dem Empirismus, zu versöhnen. Die zitierten Stellen zeigen, mit welchem Erfolge! Man zerstört nur das, was man ersetzen kann. Das trifft f ü r die philosophischen Systeme ebenso zu, wie f ü r die Religionen und Institutionen. Der Nachweis der physiologischen Bedeutung des Ohrlabyrinths als Organ der beiden mathematischen Sinne, denen wir unsre Raum-, Zeit- u n d Zahlenvorstellungen danken, zerstört endgültig die Grundlagen der »Kritik der reinen Vernunft". W a s bleibt unter diesen Umständen von K a n t s Hauptwerk und von seiner ganzen Erkenntnistheorie bestehen? Hierauf kann der Forscher wie der Philosoph, der mit den Fortschritten der Wissenschaft mitgeht, antworten: nichts als die E r i n n e r u n g an die Anarchie des menschlichen Denkens, die seine » Kritik der reinen V e r n u n f t " hervorgerufen hat. Die Versuche der Neukantianer, Wissenschaft und Philosophie auf der Basis der »Kritik der reinen V e r n u n f t " zu versöhnen, haben fortan jede Daseinsberechtigung verloren. Sie hätten viel besser getan, sich die wissenschaftliche W i d e r l e g u n g von K a n t s Apriorismus zunutze zu machen und f ü r alle Zeiten mit der Metaphysik zu brechen, welche der Philosophie so verhängnisvoll geworden ist, da sie die größten Naturforscher u n d Mathematiker des letzten Jahrhunderts zwang, gegen sie Stellung zu nehmen u n d eine Lehre zu bekämpfen, die ihrem Wesen nach jeden Fortschritt der positiven Wissenschaften unmöglich machte. In der Tat hat K a n t die Hauptfrage seiner » Kritik": »sind synthetische Urteile a p r i o r i möglich?" bejahend beantwortet. Indem er seine Beweisf ü h r u n g auf die angebliche apodiktische Gewißheit der Axiome E u k l i d s stützte, g i n g er so weit, die Möglichkeit synthetischer Urteile a p r i o r i , nicht allein in der M e t a p h y s i k , sondern auch in den N a t u r w i s s e n s c h a f t e n zu behaupten. Andrerseits verneinte er die Möglichkeit von analytischen Urteilen, die nicht a p r i o r i gegeben sind, in der noch verkehrteren A n n a h m e , daß allgemeine Ideen aus der E r f a h r u n g nicht ableitbar seien. Die Urteile a p o s t e -
1
K a n t war bekanntlich der Sohn eines in Königsberg lebenden Schotten namens C a n t .
Einleitung
21
r i o r i besaßen f ü r ihn keinen Wert. Damit legte er alle exakte positive Wissenschaft lahm. Auf diese Weise beruhte seine in der »Kritik der reinen V e r n u n f t " entwickelte Erkenntnistheorie auf zwei falschen G r u n d l a g e n , deren gleichgroße Unhaltbarkeit gegenwärtig erwiesen ist. Die wenigen obigen Zitate haben zur G e n ü g e gezeigt, wie wenig ehrlich K a n t bei der Verfechtung seiner Behauptung von der Unmöglichkeit der Urteile a p o s t e r i o r i vorging. Die g r o ß e , von K o p e r n i k u s , G a l i l e i und N e w t o n heraufgeführte Entwicklung der exakten Wissenschaften war ihm zu wohlbekannt, als daß er an der völligen Realität der Naturerscheinungen und der entscheidenden Bedeutung der Beobachtung und des Experiments — sowohl in der Astronomie wie in der Physik und in den Naturwissenschaften — ernstlich gezweifelt hätte. Die Ersetzung der Realität der realen O b j e k t e durch das L o c k e s c h e „ D i n g an sich" war nur ein dialektischer Kunstgriff, um seine anscheinend sehr bündige und strenge Beweisführung — in der freilich blendende Sophismen an Stelle der Vernunftschlüsse stehen — noch zwingender zu machen. Seine berühmten Antinomien sind in der Tat wahre Meisterstücke dieser Art von Dialektik. Als Sophist reicht K a n t fast an Z e n o n heran. Er zitiert zwar P i a t o s abfälliges Urteil über diesen gewandten Dialektiker: „Ein verwegner Sophist, der, um seine Kunst zu erweisen, eine Behaupt u n g durch dialektische Kniffe beweist, um sie hernach mit ebenso entscheidenden G r ü n d e n zu widerlegen"; — aber er zaudert doch nicht, ihn in seinen Antinomien nachzuahmen. (Übrigens schwankte ja auch P 1 a t o oft zwischen dem Respekt vor der mathematischen Exaktheit des P y t h a g o r a s und der B e w u n d e r u n g des S o k r a t e s . ) Allerdings steht K a n t in der Kunst, These und Antithese mit gleicher Meisterschaft zu verfechten, weit hinter Z e n o n zurück. Die Biegsamkeit, Präzision und Feinheit der Sprache, überhaupt die Kunst zu schreiben, ging ihm völlig ab. In seinen geschraubten, oft absichtlich dunklen Sätzen, die durch sein gewundenes, unscharfes Denken gelähmt w u r d e n , vermied er sorgfältig alle Worte, die seine Hintergedanken verraten konnten. Dem Z e n o n , wie der Mehrzahl der griechischen Denker, lag wenig an der Erforschung der Wahrheit. Für ihn war die Philosophie vielmehr ein geschicktes Spiel mit Sophismen, das gleich virtuose Verfechten von Für und W i d e r durch einen skeptischen
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Einleitung
Geist, dem die letzten Schlußfolgerungen gleichgültig sind, weil er im voraus weiß, daß er f ü r ihre Richtigkeit nicht einstehen kann. K a n t s geistige Beschaffenheit war eine ganz andre. Von dem glühenden W u n s c h e verzehrt, die absolute Wahrheit zu erfassen, schwankte er, wie ich schon weiter oben andeutete, zwischen H o b b e s und B e r k e l e y , und sein einziger Führer war die V e r n u n f t ! Nun aber ist die Vernunft allein ein trügerischer Führer beim Suchen nach Wahrheit, geeigneter, den Denker auf das Ziel seiner vorgefaßten Ideen, seiner G e f ü h l e , ja selbst seiner Gelüste und Neigungen einzustellen, als ihn zu den unerreichbaren Gipfeln zu führen, auf denen die verschleierte Wahrheit thront. Vernunft u n d U n v e r n u n f t sind oft nur durch eine d ü n n e Scheidewand getrennt, und ein V e r n u n f t s c h l u ß ist nicht immer identisch mit r i c h t i g e m D e n k e n . Die Vernunftschlüsse enden leicht in dialektischem Wortgefecht, wenn die Diskussion keine reale, greifbare und beweisbare Unterlage hat. Der Metamathematiker wie der Metaphysiker gelangen, wenn sie von einer falschen Prämisse ausgehen, notwendig zu absurden Resultaten, und zwar um so sicherer, je logischer ihre Schlußfolgerungen sind. Beim Verfechten von These und Antithese durch bloße Vernunftschlüsse vergißt man nur zu leicht, daß alle beide in Wirklichkeit falsch sein können. Das aber ist bei den Antinomien K a n t s sehr oft der Fall. Nie sah er eine dritte Möglichkeit, die trotzdem die Wahrheit darstellte, wie z. B. bei der Behauptung der absoluten Gültigkeit der Axiome E u k l i d s . K a n t war mehr ein V e r n u n f t p h i l o s o p h als ein V e r s t a n d e s philosoph. Aber der V e r s t a n d allein ist rein geistig. W ä h r e n d die Vernunft sich in ihren Urteilen durch G e f ü h l e , W ü n s c h e und Leidenschaften bestimmen läßt und sich nur zu oft an dialektischen Spitzfindigkeiten inspiriert, geht der Verstand lediglich von Prämissen aus, die wirklich bewiesen, durch wirkliche Tatsachen beweisbar oder auf G r u n d von Experimenten durch Induktionsschluß gewonnen sind. In der Tat ist die Unstimmigkeit zwischen Vernunft und Verstand die wirkliche Veranlassung der K a n t s c h e n Antinomien und keineswegs, wie er behauptet, ein Kampf der Vernunft gegen sich selbst. W e n n er in den meisten Fällen die Partei der Vernunft nimmt, so ist dies reine Willkür. Im Kampfe zwischen Vernunft und Verstand aber sollte der Sieg im Prinzip stets dem Verstände zufallen. Die Handlungen
der vom Instinkt geleiteten Tiere
sind
fast
Einleitung
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stets vernünftig, selbst wenn sie nicht bloße Reflexbewegungen, sondern die Folge einer Entscheidung sind. W a s den Tieren fehlt, ist der Verstand, welcher ein reingeistiges Vermögen ist, und nicht die Fähigkeit zu Vernunftschlüssen. Ein Köhler kann oft vernünftiger handeln als ein Professor der Metaphysik; ja in manchen Fragen des praktischen Lebens kann er gegen ihn Recht behalten. D a r u m hat K a n t wohl getan, die »Kritik der p r a k t i s c h e n V e r n u n f t " zu schreiben; aber die Kritik der r e i n e n Vernunft, die es in Wirklichkeit nicht gibt, hätte heißen müssen: » Kritik des reinen Verstandes". Die Wahrheit entspringt weder aus dem Kampfe zwischen Vernunft und Verstand, noch aus den Antinomien der Vernunft. N u r die Ü b e r e i n s t i m m u n g von Verstand und Vernunft führt zur Erkenntnis der Wahrheit, weil diese Übereinstimmung das notwendige Ergebnis der Herrschaft des Verstandes über die Affekte und des Sieges der Logik über die Sophistik ist. Z u r Erklärung oder besser zur Entschuldigung f ü r die Anarchie der zahllosen, sich widersprechenden Systeme der neueren Philosophie — eine Anarchie, die der Achtung vor der Philosophie und ihrem rechtmäßigen Einfluß auf die Entwicklung des menschlichen Denkens so schädlich ist — versuchen die heutigen Philosophen seit einiger Zeit, die Schöpfer dieser Systeme je nach der Verschiedenheit ihrer Fähigkeiten oder Charaktere zu klassifizieren. Die neueste dieser Einteilungen stammt von W i l l i a m J a m e s . Dieser Pragmatiker — oder richtiger gesagt, dieser pluralistische Materialist 1 — teilt die Philosophen in zwei Kategorien (man möchte fast sagen in zwei T r u s t s ) : die weichen Geister (tender-minded) und die harten Geister (tough-minded). Diese Einteilung mptiviert er mit den verschiedenen Temperamenten der Philosophen. Es war ein recht kühnes Unterfangen, die Bedeutung der großen Begründer der philosophischen Schulen, die seit Jahrhunderten das Geistesleben der Menschen tief beeinflußt haben, lediglich nach den physiologischen o d e r ' pathologischen Eigenschaften ihres Nervensystems zu beurteilen, die in ihrer Gesamtheit das Temperament ausmachen.
1 Übrigens starb er als gewöhnlicher Spiritist, wie eine andre Berühmtheit, L o m b r o s o . Alle beide haben ihren Freunden versprochen, ihnen zu einer bestimmten Zeit nach ihrem Tode zu erscheinen.
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Einleitung
Ungleich sinnreicher wäre die Einteilung nach ihren geistigen Qualitäten in V e r s t a n d e s p h i l o s o p h e n und V e r n u n f t p h i l o sophen. A r i s t o t e l e s , T h o m a s von Aquino, Albertus M a g n u s , L o c k e , D e s c a r t e s und L e i b n i z sind die glänzendsten Vertreter der ersten Kategorie. Ihre Systeme erkennen die Realität der Welt und den Wert der E r f a h r u n g f ü r unsere Erkenntnis a n ; ihre Lehren lassen sich mit den neuesten Errungenschaften der Naturwissenschaft mehr oder weniger in Einklang bringen. Als Rationalisten oder Vernunftphilosophen kann man P l a t o , D u n s S c o t u s , B e r k e l e y ' P a s c a l und K a n t nennen. Ihre Systeme beruhen auf eingeborenen oder a p r i o r i gegebenen Ideen u n d nähern sich anscheinend den u n i v e r s a l i a a n t e r e m der Scholastiker. Sie verkennen den Wert der sinnlichen E r f a h r u n g und leugnen die Realität der äußeren, uns umgebenden Objekte, ja oft die ihrer eignen Persönlichkeit. Ihre Lehren sind fast stets unvereinbar mit den Tatsachen der Wissenschaft; jeder Fortschritt derselben reißt die Kartenhäuser ihrer rein spekulativ konstruierten Systeme um. Dies ist fortan auch das unvermeidliche Schicksal der K a n t s c h e n Philosophie und des Neukantianismus. Die Philosophie und nicht die Wissenschaft hat heute eine gefährliche Krisis durchzumachen. Das Bestreben der Philosophen nach Anschluß an die Naturwissenschaft ist berechtigt, aber n u r d u r c h f ü h r b a r bei völligem Bruch mit dem K a n t s c h e n Apriorismus und mit seinem Relativismus, der die Naturforschung im voraus zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Es ist Sache der siegreichen Physiologie, die den Nachweis der Hinfälligkeit dieses Apriorismus erbracht hat, den ersten Schritt zu einer A n n ä h e r u n g mit d e r Philosophie zu tun; ihr steht ferner die Wahl des Gebietes zu, auf dem diese Vers ö h n u n g zwischen den beiden höchsten Kundgebungen des menschlichen Bewußtseins stattfinden soll. In Deutschland beginnen die hervorragendsten Vertreter der modernen Philosophie einzusehen, daß der Boden von den letzten Spuren der K a n t s c h e n Lehre gesäubert werden muß. N u r einige verstockte Neukantianer u n d metaphysische Dilettanten leisten noch Widerstand, ja sie beanspruchen noch das höchste Richteramt über alle Wissenschaften, das ihnen als Erkenntnistheoretikern von K a n t s Gnaden zustände! U n d so brüsten sie sich denn ganz zu Unrecht mit ihrem angeblichen Siege über den Physiologen v. H e l m h o l t z in der Polemik über den U r s p r u n g der e u k l i d i s c h e n Geometrie.
Einleitung Iche hab schon
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an a n d r e r S t e l l e 1 b e t o n t , d a ß es in d i e s e r
Polemik
n i c h t d e r P h y s i o l o g e , s o n d e r n d e r M a t h e m a t i k e r v. H e l m h o l t z der für die nichteuklidische
Geometrie
f ü r die e u k l i d i s c h e verteidigte.
den
gleichen
war,
Ursprung
wie
E r b e f a n d sich m i t d i e s e r V e r t e i d i g u n g
in d e r s c h i e f e n L a g e , d a ß e r einerseits d e n A x i o m e n
des E u k l i d
die
a p o d i k t i s c h e G e w i ß h e i t abstritt, a n d r e r s e i t s a b e r d e n e m p i r i s c h e n
Ur-
sprung unsrer dreidimensionalen Raumvorstellung vermochte.
In
d i e s e m Streit
und der imaginären gleich
Unrecht.
zwischen
nichteuklidischen
Der
Nachweis
der
n i c h t zu
Kantschen
Geometrie
des
hatten
sinnlichen
beweisen
Metaphysik beide
Teile
Ursprungs
dieser
A x i o m e s c h l i e ß t — wie w i r in d e m f o l g e n d e n Kapitel s e h e n w e r d e n die D e b a t t e ein f ü r allemal z u g u n s t e n
der
Ü b r i g e n s w a r e n die M a t h e m a t i k e r u n d N a t u r f o r s c h e r d e s letzten J a h r h u n d e r t s Ende gegen
—
Physiologie. im L a u f e
n i c h t d i e e i n z i g e n , die v o n A n f a n g bis zu
die K a n t s c h e n I r r t ü m e r e n e r g i s c h g e k ä m p f t h a b e n ,
son-
d e r n a u c h z a h l r e i c h e P h i l o s o p h e n n a h m e n d a r a n teil, s o
Herbarth,
Schopenhauer,
auf
Beneke
und vor
allem
Ueberweg,
dessen
allgemeinen Versuch einer synthetischen Konstruktion der euklidischen G e o m e t r i e auf G r u n d
d e r B e w e g u n g d e r festen K ö r p e r w i r w e i t e r h i n
(Kap. I, § 3) zurückkommen
werden.
Erst vor wenigen Jahren
der Nestor der deutschen Philosophie,
Professor J u l i u s
in G ö t t i n g e n ,
die v ö l l i g e W i d e r l e g u n g
in
seinem
Hauptlehren K a n t s , des
» Anti-Kant"
die d e r b e r ü h m t e T i e d e m a n n
18. Jahrhunderts
in
seinem
hatte, fast restlos w i e d e r h o l t , sie d u r c h
wendungen
verstärkt u n d m i t den n e u e n
und
der
morsche
Naturwissenschaften Bau
Kants
ist a l s o
in
genaue Analyse
wissermaßen
noch
Riehls
d e r in D e u t s c h l a n d v o n Z e i t zu Z e i t n o c h schwachen
durch
meiner Theorie vom
erweitert.8
vor-
seine eignen
Ein-
der Mathematik
gebracht.
für Stein
d i n g s hat B a u m ä n n s e i n e n n A n t i - K a n t " sehr
Handbuche
Tatsachen
Einklang
Stein
Neuer-
eine eingehende und „Zurück
zu
ge-
Kant",
erschallt, f i n d e t n u r
noch
Widerhall.
1 Siehe die Vorrede meines Werkes „Das Ohrlabyrinth": des K a n t s c h e n Apriorismus". 2
ganze
Der
abgetragen.2
R a u m - und Zeitsinn
Ruf
der
schon am Ende
physiologischen
genommen
hat
Baumann
„Das Ende
J u l i u s B a u m 3. n n . » Anti-Kant", Gotha 1905.
Derselbe, „Von C y o n s neuere Grundlegung der Mathematik" in den Annalen der Naturphilosophie, hrsg. von O s t w a l d , Bd. VII, 1908. 3
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Einleitung
Doch die K a n t s c h e Lehre ist nicht n u r mit der m o d e r n e n Wissenschaft unvereinbar. Indem K a n t die Vernunft zum untrüglichen Kriterium der modernen Erkenntnis e r h o b und den synthetischen Urteilen a p r i o r i entscheidende Bedeutung bei der Lösung der schwierigsten Probleme des menschlichen Denkens zuschrieb, brachte er der Religion einen schweren Schlag bei. »Im Interesse der Gesittung und der Religion," erklärte K a n t , »würde ich z. B. meinen Wahrheitsdrang o p f e r n . " 1 Durch diese Worte aber schuf er e i n e n G e g e n s a t z z w i s c h e n s e i n e r Philosophie und der O f f e n b a r u n g s r e l i g i o n , die er mit d e r W a h r h e i t in W i d e r s p r u c h s e t z t e . Im übrigen hat K a n t durch seine zahllosen, widerspruchsvollen Definitionen der W o r t e »Gott" u n d »Religion", durch seine gewundenen Vernunftschlüsse, durch die absichtlich dunklen und spitzfindigen Rechtfertigungsversuche seiner Definitionen dem zeitgenössischen Spiritualismus seine G r u n d l a g e n g e n o m m e n . Ihrer beiden Grundpfeiler, G o t t u n d W i s s e n s c h a f t , beraubt, ist die Philosophie des 19. Jahrhunderts vergeblich zwischen den T r ü m m e r n der seit Jahrtausenden von den höchsten Geistern aller Völker errichteten Systeme herumgeirrt. Umsonst versuchte K a n t die Moral nachträglich aus seinem Zerstörungswerk auszuscheiden, indem er die biblischen Gebote umtaufte und ihnen den barbarischen Namen »kategorischer Imperativ" gab. 2 Doch die dunkle, weitschweifige und unfruchtbare Sprache, in die er seine Beweisführung hineingeheimniste, konnte die Autorität der Gottesgebote, die er im Namen der angeblichen Vernunft zu zerstören u n t e r n a h m , nicht ersetzen. An diese abstrakten, folglich ideellen Formeln den Beweis ihres realen Daseins knüpfen zu wollen, ist, wie T a i n e sagte, so viel wie seinen H u t an einen Nagel hängen wollen, der an die W a n d gemalt ist. Der Kardinal D. M e r c i e r zitiert diese Worte T a i n e s mit dem Zusatz: »Zudem beging K a n t den Fehler, die Tatsache der moralischen 1
Siehe die Fußnote, S. XIV meiner Vorrede zum » O h r l a b y r i n t h " . S c h o p e n h a u e r hat in seiner b e r ü h m t e n Preisschrift über die Moral, die er der Akademie zu K o p e n h a g e n einreichte, diese V e r m u m m u n g des mosaischen Gesetzes in Fetzen zerrissen u n d die ganze H o h l h e i t der d u n k l e n Phraseologie, in die der kategorische Imperativ eingewickelt ist, mit seiner erbarmungslosen Logik offenbart. W e s h a l b denn auch die A k a d e m i e S c h o p e n h a u e r n den verdienten Preis flugs versagte, wegen m a n g e l n d e r Ehrerbietung gegen K a n t ! 2
Einleitung
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Pflicht mit einer abstrakten Darlegung der Moralgesetze zu verwechseln". In Frankreich langen die philosophischen Bewegungen des Auslandes immer erst mit einer Verspätung von etwa vierzig Jahren an. Auch die K a n t s c h e Philosophie begann auf das französische Denken erst dann Einfluß zu erlangen, als in Deutschland ihr Niedergang begann. Übrigens war der Boden f ü r diese Invasion ausgezeichnet vorbereitet. Das französische Denken hatte ü b e r g e n u g an dem Rosenwasser der süßlichen Philosophie, wie es V i c t o r C o u s i n und die anderen Eklektiker ihm seit so viel Jahren kredenzten; es lechzte nach Abwechslung und nach kräftigerer N a h r u n g . So erschien die »Kritik der reinen V e r n u n f t " schon durch ihren Titel als das Manna, das zur rechten Zeit vom Himmel gefallen war. K a n t sprach von Gott, von Moral u n d Religion und pries zugleich die Wissenschaft — alles in zweideutigen, dunklen Ausdrücken, die Oedankentiefe vortäuschten; u n d schließlich verherrlichte er die Vernunft, indem er sich auf ihre Kritik stützte. Die Dialektik dieses Werkes war zwar etwas struppig und zu nebelhaft f ü r den klaren und deutlichen französischen Geist. - Aber es war eben ein exotisches Gericht, dessen gepfefferte Sauce über die disparaten und schon etwas anrüchigen Bestandteile hinwegtäuschte. K a n t s Lehre w u r d e in Frankreich durch den angesehenen Philosophen L a c h e l i e r vor mehr als vierzig Jahren eingeführt. Doch vor allem waren es die prächtigen, lichtvollen Vorlesungen von B o u t r o u x , welche den französischen Philosophen die »Kritik der reinen V e r n u n f t " zugänglich machten, indem sie die Dunkelheiten und Härten des rauhen K a n t sehen Deutsch mit dem Reiz des Französischen umkleideten. Nach und nach hat die K a n t s c h e Ansteckung das Denken der französischen Philosophen, ja selbst der Gelehrten aus den verschiedensten, einander heftig befehdenden Schulen ergriffen. Die Vieldeutigkeit der K a n t s c h e n Lehren, die wir weiter oben berührt haben, war ihrer Verbreitung nur förderlich. Die Spiritualisten fanden in K a n t den Idealismus von B e r k e l e y wieder. Die Phänomenologen, wie R e n o u v i e r , hielten sich an die »Kritik der praktischen V e r n u n f t " und suchten darin die G r u n d lagen einer sehr hohen Moral zu f i n d e n ; wogegen die Materialisten u n d Antiklerikalen, besonders die Verherrlichung der Materie (in Sätzen wie der auf S. 19 zitierte) sowie die Ü b e r e i n s t i m m u n g von K a n t s Kosmologie mit der berühmten Hypothese von L a p l a c e
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Einleitung
begrüßten. Gewisse katholische Philosophen ließen sich durch K a n t s Beweihräucherung der Religion bestechen; sie wußten nicht, daß er trotz seiner untadligen L e b e n s f ü h r u n g und dem hohen Flug seiner Gedanken von der protestantischen Kirche nicht zu den Ihren gerechnet wurde und daß seine sterblichen Reste nur außerhalb der Kirche, unter den Säulen der Vorhalle ihre Ruhestatt fanden. Umsonst haben T a i n e und andere Positivisten (seine Schüler) gegen die Verheerungen angekämpft, welche die K a n t s c h e Lehre selbst in den Reihen der französischen Naturforscher angerichtet hat. So war ein professioneller Atheist wie B e r t h e l o t f ü r K a n t s Apriorismus begeistert. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, als ich ihm im Jahre 1899 meine Denkschrift über den Raumsinn f ü r die Berichte der Pariser Akademie der Wissenschaften überreichte. Doch mußte ich selbst an diesem persönlich gewonnenen Eindruck zweifeln, da er in schroffstem Widerspruch zu den sonstigen, so ostentativ vertretenen Anschauungen B e r t h e l o t s stand. Erst bei der Lektüre des vierten Bandes von T a i n e s Leben und Briefwechsel fand ich in einem Briefe von 1876 die Bestätigung meines Eindrucks. In diesem Briefe richtete T a i n e an R e n a n die dringliche Bitte: »Suchen Sie B e r t h e l o t , 1 wenn er seine Retorten vom Feuer n i m m t , zu bestimmen, daß er uns sein D e n a t u r a r e r u m , seine ideale Wissenschaft, wie er es nennt, die S u m m e seiner M u t m a ß u n g e n über die physikalische Welt zu geben; aber er soll um Himmelswillen seinen K a n t beiseite lassen, einen überschätzten Philosphen, von dem heute nicht eine Theorie mehr gültig ist und den H e r b e r t S p e n c e r , S t u a r t M i l l und die ganze positivistische Philosophie in den Hintergrund hinter H u m e , C o n d i l l a c , ja selbst hinter S p i n o z a verwiesen haben." Sich auf S p e n c e r oder M i l l berufen, um K a n t zu bekämpfen, hieß sich zum Mißerfolg verurteilen. Zwar waren beide hochbedeutende Philosophen, aber das Beiwort p o s i t i v i s t i s c h , mit dem T a i n e ihre Geistesrichtung kennzeichnet, macht diese nicht wissenschaftlicher als seine eigne. . . Die W o r t e positiv und positivistisch, 2 die man nach A u g u s t e C o m t e s Vorbild gewissen philosophischen 1
Die Vorrede von R e n a n s „Dialogues et Fragments philosophiques" ist M a r c e l i n B e r t h e l o t gewidmet. 8 Siehe über die positivistischen Philosophen den letzten Paragraphen des Kapitels III im ersten Band von „Gott und Wissenschaft".
Einleitung
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Schulen beilegt, nehmen ihnen keineswegs das Gepräge reiner Spekulation. U n d wenn man schon Spekulation gegen Spekulation ins Feld f ü h r t , so stehen spekulative Denker wie H u m e , S p i n o z a , C o n d i l l a c u n d K a n t doch noch erheblich höher als S p e n c e r , M i l l und vor allem T a i n . e , der selbst ein unbewußter Aprioristiker war. Jene hatten wenigstens die Entschuldigung, daß sie ihre Zuflucht zur reinen Spekulation n a h m e n , weil die Sinnesphysiologie zu ihrer Zeit noch in den Windeln lag. Nicht so steht es mit S p e n c e r , M i l l und T a i n e , die nach einem J o h a n n e s M ü l l e r lebten u n d Zeitgenossen von H e l m h o l t z , D o n d e r s , H e r i n g u n d H e n s e n waren. N u r die von W u n d t begründete physiologische Psychologie, die in Frankreich durch T h . R i b o t und dessen Schüler Eingang f a n d , wäre geeignet, den Apriorismus K a n t s zu widerlegen, d. h. experimentelle Beweise f ü r den empirischen U r s p r u n g unsrer Zeitund Raumvorstellungen beizubringen. Aber leider sind alle Versuche W u n d t s in dieser Richtung gescheitert, wie man im Verlauf der beiden folgenden Kapitel sehen wird. Der G r u n d d a f ü r ist einfach d e r , daß die Verschmelzung zweier, in Methode wie Ziel so verschiedener Wissenschaften wie Physiologie und Philosophie noch verfrüht war. Wie andre Bastardierungen war auch diese von Anfang an zur Unfruchtbarkeit verurteilt. Die Schuld an diesem Mißerfolg der physiologischen Psychologie liegt nicht an der Physiologie selbst. Die Lösung des Raumund Zeitproblems ist ein schlagender Beweis dafür, daß die Methoden der reinen Physiologie zur Aufklärung der schwierigsten Probleme der Philosophie u n d Psychologie mit Erfolg angewandt werden können. Man wird in den nachstehenden Kapiteln eine Darstellung der parallelen Arbeitsmethoden der Physiologie und Philosophie unter deutlicher A b g r e n z u n g der beiderseitigen Forschungsgebiete finden. Da die K a n t s c h e Lehre angesichts der modernen Entwicklung der exakten Wissenschaften nicht m e h r zu halten ist, so m u ß man sich f ü r das philosophische System entscheiden, das der V e r k n ü p f u n g der Philosophie mit den exakten Naturwissenschaften, insbesondere der Physiologie, am förderlichsten ist. Diese Wahl kann n u r auf ein intellektualistisches System fallen, und sie trifft von selbst das größte u n d modernste unter ihnen: das von L e i b n i z . Die F o r d e r u n g :
»Zurück zu L e i b n i z ! "
wurde zum
ersten
30
Einleitung
Male von L u d w i g S t e i n erhoben, einem der modernen Philosophen, welcher die neue Entwicklung der Naturwissenschaften in ihrer ganzen Tragweite zu ermessen sucht. Auch unter einem andren Gesichtspunkte wird die Rückkehr zu L e i b n i z f ü r die Philosophie ersprießlich sein: sie wird den endgültigen Bruch mit K a n t s Metaphysik, auf wissenschaftlichem wie auf religiösem Gebiete, besiegeln. Mit seiner Verherrlichung der Vernunft als eines unfehlbaren Kriteriums der menschlichen Erkenntnis und mit seinen synthetischen Urteilen a priori hat K a n t zwischen Philosophie und Wissenschaften einerseits u n d der Offenbarungsreligion andrerseits einen A b g r u n d aufgerissen. Die philosophischen Systeme des 19. Jahrhunderts, derart ihrer G r u n d l a g e n beraubt, hängen samt und sonders in der Luft. U n d so sieht man denn zu Beginn des 20. Jahrhunderts das philosophische Denken auf den T r ü m m e r n der alten Systeme umherirren und vergebens nach einem Anhaltspunkt suchen. Ja es ist nicht einmal m e h r von S y s t e m e n die Rede, sondern bloß noch von philosophischen S t r ö m u n g e n . Dies zeigen auch die beiden philosophischen Hauptwerke der letzten Zeit schon durch ihre Titel a n : R u d o l f E u c k e n s »Geistige S t r ö m u n g e n " und L u d w i g S t e i n s »Philosophische S t r ö m u n g e n " . Die Rückkehr zu L e i b n i z wird der Philosophie gestatten, ihre beiden verlorenen G r u n d l a g e n wiederzufinden und die Vormachtstellung wiederzuerringen, die ihr in der geistigen Entwicklung der Menschheit zukommt. Die Mathematiker und Naturforscher haben die V e r b i n d u n g mit L e i b n i z nie verloren; die ersteren nicht wegen der Differentialrechnung, die er erfunden hat, u n d die Physiologen u n d Physiker nicht wegen seiner genialen Intuitionen auf ihren speziellen Arbeitsgebieten, die von der Experimentalforschung nach u n d nach glänzend bestätigt worden sind. Ich möchte hier nur auf die drei hauptsächlichsten Bindeglieder zwischen L e i b n i z e n s Philosophie und der modernen Wissenschaft hinweisen. Seine „prästabilierte Harmonie" hat den A r i s t o t e l i s c h e n Entelechien von neuem den Ehrenplatz bei der Erforschung der physikalischen Welt zugewiesen. Die Teleologie oder „Zielstrebigkeit", von K. E. v o n B a e r so genannt, hat sich als mächtiges Stimulans in der Biologie und besonders in der Physiologie erwiesen. Die Entdeckung der Tier- u n d Pflanzenzelle als selbständiges Element der lebenden Organismen schien anfangs den Anschluß an L e i b n i z e n s Monadenlehre zu gestatten,
Einleitung
31
und die Entdeckungen der Bakteriologie mußten diesen Anschluß noch näher legen. Jedoch die Monadenlehre ist zu kompliziert, um f ü r das wissenschaftliche Studium der u n e n d l i c h k l e i n e n G r ö ß e n , wie die m o d e r n e Wissenschaft sie versteht, von Nutzen zu sein. Hingegen verdankt die m o d e r n e Energetik L e i b n i z den Begriff der Energie, der die bisherigen Grundlagen der physikalischchemischen Wissenschaft umstürzt und der auf das Hauptgebiet der Biologie überzugreifen beginnt. Doch vor allem ist es das religiöse Gebiet, auf dem die exakten Wissenschaften sich mit L e i b n i z e n s Philosophie begegnen können und müssen. L e i b n i z war däs Universalgenie unter den Philosophen des 18. Jahrhunderts u n d zugleich ein schöpferischer Forscher von umfassendem Geiste, der sich auf den meisten Gebieten der Physik und der Naturwissenschaften erfolgreich betätigt hat. Seine physikalischen Leistungen standen weit über denen von D e s c a r t e s ; denn obwohl L e i b n i z den bedeutenden Anteil des intuitiven Denkens an der menschlichen Erkenntnis zugab, erkannte er doch auch die absolute Notwendigkeit der Sinneserfahrung bei der W e r t b e s t i m m u n g solcher Intuitionen. »Ein L e u v e n h o e k , der mir sagt, was er weiß, ist mir lieber als ein C a r t h e s i a n e r , der mir sagt, was er denkt," sagte er. 1 Andrerseits stand L e i b n i z als Denker beträchtlich über L o c k e . Seine ausgebreiteten physikalischen u n d kosmologischen Kenntnisse erlaubten i h m , den wahren W e r t der Sinneserfahrung erheblich zu steigern und zu präzisieren, indem er das Eperiment zu Hilfe nahm. Sein universelles Wissen in Philosophie und Theologie, in den exakten Wissenschaften wie in der Mathematik sicherte ihm beträchtliche Vorteile in seinen berühmten Kontroversen mit D e s c a r t e s wie mit L o c k e und mit berühmten T h e o l o g e n , in erster Linie mit Bossuet. Von klein auf besaß er tiefe Kenntnisse in der griechischen Philosophie, aber er studierte mit gleichem Eifer die großen Scholastiker, vor allem T h o m a s v o n A q u i n o , dessen Werke er oft zitierte und dessen philosophische und religiöse Ansichten er vielfach teilte. Wie alle großen Denker u n d Gelehrten, welche die Wiedergeburt der exakten Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert herbeigeführt haben, war L e i b n i z ein f r o m m e r Christ u n d stellte, obwohl Protestant, 1
Gebhardt,
L e i b n i z e n s mathematische Werke, Bd. II, S. 85.
32
die Es der als
Einleitung
katholische Kirche an die Spitze der christlichen Konfessionen. ist bekannt, mit welchem Eifer er sein Lebenlang f ü r die Einheit Kirche und f ü r die Bildung einer Weltkirche mit dem Papst O b e r h a u p t kämpfte.
L l e i b n i z war der schöpferische Gelehrte und der tief Gläubige im höchsten Sinne des Wortes. Er meinte, daß die wissenschaftlichen Entdeckungen „auf einer religiöse'n G r u n d l a g e erwachsen m ü ß t e n , welche wohlverstanden die Frucht einer Wissenschaft u n d alles andere als ihr Gegenteil wäre". Je besser man die Natur u n d die unwandelbaren Wahrheiten der echten Wissenschaft kennt, um so fähiger ist man, Gott wirklich zu lieben. „Ein Geist, der gewohnt ist, die G ü t e r dieser Welt und die wunderbaren Werke Gottes n u r als Mittel zu betrachten, um Gott zu erkennen und zu lieben und danach zu streben, daß er von andren geliebt und erkannt werde, braucht seine Zuflucht nicht zur völligen Abkehr von den Verf ü h r u n g e n der Außenwelt zu n e h m e n . " 1 U n d auch hier bewies er die Wahrheit seiner Behauptungen mit der gleichen Strenge, wie in seinen hervorragenden physikalischen und mathematischen Werken. Die Biologie ist L e i b n i z zu besonderem Danke verpflichtet, weil er neben A r i s t o t e l e s und T h o m a s v o n A q u i n o das Prinzip der Finalität (Zweckmäßigkeit) in den Wissenschaften sehr hoch stellte. „Die Finalität erklärt den Mechanismus." N u n aber hat keine Wissenschaft so oft Anlaß, komplizierte Mechanismen zu erklären, wie die Biologie, insbesondere die Physiologie, deren Aufgabe es ist, das w u n d e r b a r e Funktionieren der O r g a n e der Lebewesen zu ergründen. Von allen biologischen Wissenschaften ist die Experimentalphysiologie die exakteste; sie allein hat bisher die höhere Analysis mit Vorteil verwendet; daher ist sie am geeignetsten f ü r ein Z u sammenwirken mit der Philosophie auf dem Gebiete von L e i b n i z e n s Weltauffassung. Trotz der Teilung ihres Arbeitsfeldes, auf die ich in Kapitel III näher eingehen werde, wird diese Arbeit f ü r das Hauptziel, nämlich die Schaffung einer wissenschaftlichen Philosophie, zweifellos von Nutzen sein. — Philosophie in dem Sinne gebraucht, den N e w t o n ihr in seinen » Philosophiae naturalis principia mathematica" f ü r die physikalischen Wissenschaften u n d K. E. v. B a e r 1
Sämtlich zitiert aus J e a n B a r u z i , „ L e i b n i z " , Paris 1909, Bloud et Cie.
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Einleitung
für die Biologie gab. Trotz der heftigen Polemiken zwischen N e w t o n und L e i b n i z über die Priorität der E r f i n d u n g der Differentialrechnung stimmen ihre Weltauffassungen in den Hauptzügen völlig überein. 1 Bei dem Streben, eine wissenschaftliche Philosophie zu schaffen, m u ß der Physiologie des Menschen der Vorrang bleiben. Für diesen Anspruch sollen im Verlaufe dieses Buches zahlreiche Beweise erbracht werden. Die G r u n d p r o b l e m e einer Weltanschauung können nur mit Hilfe der menschlichen Erkenntnis gelöst w e r d e n , deren Elemente uns die Erfahrungen unsrer Sinnesorgane liefern. » W e n n man eine Wissenschaft von dem Tage datieren könnte, wo der Mensch die Erscheinungen, die in ihr Gebiet fallen, zuerst in E r f a h r u n g gebracht hat, so könnte die Physiologie unbedenklich den Anspruch erheben, die älteste Wissenschaft zu sein. U r s p r ü n g lich erregten nur die nächstliegenden Erscheinungen die menschliche Wißbegier: der S o n n e n a u f g a n g u n d U n t e r g a n g , der Wechsel von Tag und Nacht, die Bezeichnung der Sterne usw. Er m u ß sich zuerst nach dem G r u n d e des schmerzhaften H u n g e r - und Durstgefühls u n d nach den Mitteln zu deren Beseitigung gefragt haben. Die erste Frage also, die der Mensch sich stellte, das erste Problem, das er löste, war rein physiologisch. Auf die gleichen Fragen suchen auch die modernen Physiologen eine Antwort." Dieses Zitat stammt aus einer akademischen Rede »Herz und H i r n " , 2 die ich im Jahre 1873 hielt und worin ich den Entwick1 Ich kann der Versuchung nicht widerstehen, aus dem obigen Hauptwerke N e w t o n s zum Beweis für seine genialen Intuitionen die Auffassung vom unendlichen Räume wiederzugeben. N e w t o n betrachtet ihn als S e n s o r i u m , durch welches Oott die Wesen in ihrer tiefen innersten Realität erfaßt. Man braucht für Gott nur Geist zu setzen, um in dem System der halbkreisförmigen Kanäle das S e n s o r i u m zu erkennen, dessen Rolle bei der Aperzeption der realen Objekte im unendlichen Räume ich vor mehr als 30 Jahren experimentell nachgewiesen habe. Die Banausen warfen N e w t o n wegen der obigen Äußerung Mystizismus vor — als ob es dem wahren Naturforscher, der in die Mysterien der realen Welt einzudringen sucht, möglich wäre, kein Mystiker zu sein! 2
Diese Rede, „Le Coeur et le Cerveau", erschien 1873 in der „Revue scientifique", wurde von H. d e P a r v i l l e im „Journal des Débats" fast ganz wiedergegeben und von P a p i l l o n in der „Revue des deux Mondes" ausführlich besprochen. Sie hatte in Frankreich großen Erfolg. Umgekehrt erging es ihr in Rußland. Der philosophische Geist, der aus ihr. spricht, wurde von der revolutionären Presse mit wütenden Angriffen bedacht, die im Jahre 1874 mit der ersten Straßenrevolte der höheren Schulen endeten. E. v. C y o n ,
Gott lind Wissenschaft.
Bd. 2.
3
34
Einleitung
lungsgang der Wissenschaften darstellte. Die prächtigen Untersuchungen des leider verstorbenen P a u l T a n n e r y haben meine Auffassung neuerdings vollständig bestätigt. H e r r Professor Z e u t h e n faßt diese Untersuchungen folgendermaßen z u s a m m e n ; Bis auf P l a t o waren die griechischen Denker keine Philosophen im heutigen Sinne des Wortes, sondern Physiologen, wie man es nannte, d. h. Forscher. Trotz aller Irrtümer und haltlosen Hypothesen, durch welche der W e g von der Unwissenheit zur Wahrheit führt, war der Kern aller Systeme der antiken Physiologen nie eine metaphysische Idee; n u r von ihren konkreten Anschauungen konnten sie sich zu noch ungewohnten Abstraktionen erheben. Erst dann nahmen diese Anschauungen einen metaphysischen Charakter a n . " 1 Man sieht, in wie hohem Maße die Geschichte der Wissenschaften den Vorrang der Physiologie im Zusammenwirken mit der Philosophie rechtfertigt. Das zu erreichende Ziel läuft nicht auf metaphysische Anschauungen, sondern auf Anschauungen der wissenschaftlichen Philosophie heraus. W e n n die sog. Naturphilosophie von S c h e l l i n g , O k e n und O e r s t e d t so kläglichen Schiffbruch erlitten hat, so geschah dies, weil sowohl die Naturforscher wie die Philosophen, die an der Spitze dieser Bewegung standen, von Anfang an eigentlich nichts andres waren als Metaphysiken Anstatt zuvörderst die Forschungsgebiete u n d die Methoden abzugrenzen, die zu ersprießlicher Arbeit die geeignetesten sind, ließen Naturforscher wie Philosophen sich zu zügelloser, voraussetzungsloser metaphysischer Spekulation fortreißen. Das so begonnene Werk mußte notwendig scheitern u n d die Naturphilosophie in Mißkredit bringen. U m also jedes Mißverständnis zu vermeiden, tut man besser, an Stelle der Bezeichnung »Naturphilosophie« w i s s e n s c h a f t l i c h e Philosophie zu setzen. Zu Ehren der exakten Physiologie, die von J o h a n n e s M ü l l e r begründet wurde, m u ß jedoch gesagt werden, daß sie dieser Bewegung völlig fern geblieben ist. Mehrere seiner Schüler, wie V i r c h o w , H e l m h o l t z , d u B o i s - R e y m o n d u. v. a. haben das Eindringen der biologischen Metaphysik in die Naturwissenschaften rücksichtslos bekämpft. So blieb denn die m o d e r n e Physiologie u n b e r ü h r t von den phantastischen Übertreibungen gewisser Naturforscher, die an der geistigen Anarchie der Halbgelehrten und der metaphysischen 1
Rivista di Scienza. Vol. 5, Bologna, p. 23.
Einleitung
Dilettanten rohung
die Mitschuld
der
Massen
tragen,
einer
so gewaltig
dieser Leute, wie B ü c h n e r ,
35
Anarchie,
beigetragen
Moleschott
die zu der Ver-
hat.
Wenn
u. a., die von
mehrere
Physiologie
keine A h n u n g hatten, in ihrem N a m e n zu sprechen wagten, so war dies ein g r o b e r
Mißbrauch.
Zwei G r ü n d e aus
ihrer
Asche
haben
es verhindert,
auferstand,
trotzdem
P h i l o s o p h i e wie der W i s s e n s c h a f t es waren zu viele Metaphysiker darunter.
daß
die
Naturphilosophie
h e r v o r r a g e n d e Vertreter
ihre Kräfte daran
und zu wenige
gesetzt
wahre
der
haben:
Physiologen
S o entstand von A n f a n g an eine S p a l t u n g zwischen
den
F ü h r e r n der philosophischen B e w e g u n g wegen ihrer gegensätzlichen Auffassung des E r k e n n t n i s p r o b l e m s , experimentelle
Physiologie
das
in
der Tat nur durch
Sinnesorgane
zu
lösen
ist.
den W e r t
der deduktiven Methoden
und
nach
ideellen
Ergebnissen
trachten.
Der
berühmte
und
erkennt
er nur für die Naturwissenschaften an, wofern diese nach Wilhelm Ostwald
die
S o ist
noch jetzt A n h ä n g e r des A p r i o r i s m u s
der Kantianer T h . L i p p s des » D i n g s an s i c h " ;
der
Exaktheit Chemiker
läßt als Q u e l l e unsrer E r k e n n t n i s n u r induktiv
g e w o n n e n e F o r s c h u n g s e r g e b n i s s e gelten und spricht ihnen auch nur relativen W e r t Gegensatz
zu.
der
Es
ist
schwer
zu bestimmen,
Gujndvorstellungen
mehr
idealistische P h i l o s o p h oder der Naturforscher In W a h r h e i t hat die wissenschaftliche
wer
bei
Metaphysiker
diesem ist:
der
...
E r f a h r u n g , selbst in der
Experimentalphysiologie, oft g e n u g den B e w e i s erbracht, daß zwischen der deduktiven und der induktiven M e t h o d e kein
unüberbrückbarer
G e g e n s a t z besteht. B e i d e k ö n n e n zu gleich gültigen Resultaten f ü h r e n . Bei allen U n t e r s u c h u n g e n , die eine N a c h p r ü f u n g durch das E x p e r i m e n t gestatten, wonnenen
können
beide
einander
ergänzen
und
Resultate bis zur völligen G e w i ß h e i t
den W e r t steigern.
induktivem W e g e durch E x p e r i m e n t e von unstreitiger gewonnenen Naturforscher
Resultate,"
schrieb ich an
die G e w ä h r
für
den
seiner
auf
Zuverlässigkeit
andrer Stelle,1
Wert
der ge„Die
»geben
Hypothesen
dem oder
T h e o r i e n ; a b e r dieser W e r t erhöht sich beträchtlich, wenn die G r u n d lagen dieser T h e o r i e n von neuem auf deduktivem W e g e , durch rechnung
o d e r durch nachträgliche E x p e r i m e n t e ,
Be-
bestätigt w e r d e n . "
S o fanden drei D e d u k t i o n e n m e i n e r T h e o r i e des Raumsinnes, die ich mit induktiver M e t h o d e experimentell g e w o n n e n
1
hatte, in der F o l g e
S i e h e „ D a s O h r l a b y r i n t h " , K a p i t e l IV, § I, S . 1 6 7 . 3*
36
Einleitung
ihre vollkommene Bestätigung, 1 sowohl durch meine eignen Unters u c h u n g e n wie durch die anderen Experimentalforscher. Somit glaube ich mich berechtigt, die G r u n d l a g e n meiner Theorie als völlig gesichert zu bezeichnen. Ich betone die W o r t e E x p e r i m e n t u n d e x p e r i m e n t a l , um einem Irrtum v o r z u b e u g e n , der bei englischen und französischen Philosophen nur zu häufig vorkommt, da die Worte E r f a h r u n g und E r l e b n i s in ihren Sprachen ebenso mit e x p é r i e n c e ausgedrückt werden wie E x p e r i m e n t oder V e r s u c h . Unter Experiment verstehe ich eine von einem Experimentator u n t e r v e r ä n d e r t e n B e d i n g u n g e n willkürlich herbeigeführte Erfahrung. Die Differenzierung der psychischen Funktionen, wie sie im III. Kapitel erfolgt, wird hoffentlich auch den idealistischen Philosophen, welche sich die Mühe geben, die G r u n d l a g e n meiner Theorie von Raum und Zeit ernstlich zu studieren, die Augen darüber öffnen, daß sie in Z u k u n f t nicht m e h r auf den Apriorismus K a n t s u n d das » D i n g an sich" angewiesen sind, welche beide endgültig abgetan sind, und daß sie die R e a l i t ä t d e r O b j e k t e anerkennen können, ohne im geringsten gegen die Idealität des Geistes zu verstoßen. »Die Vorstellung von einem existierenden Objekt schließt die Gewißheit ein, daß ich unter analogen Umständen der Beobachtung stets die gleichen Sinneseindrücke empfangen werde," sagte H e i m h o l tz mit Recht. „Diese Gewißheit ist um so größer, wenn es sich nicht um eine bloße Beobachtung, sondern um experimentell erwiesene Tatsachen handelt. Gelingt es dem Forscher, die Naturerscheinungen so weit zu beherrschen, daß er auf G r u n d bereits erkannter Gesetze " E r s t e D e d u k t i o n : Die t a u b s t u m m G e b o r e n e n kennen kein S c h w i n d e l g e f ü h l , weder bei der D r e h u n g ihres Körpers u m seine vertikale Achse (wie beim Walzer) n o c h bei Seekrankheit. Bestätigt d u r c h die Experimente von W i l l i a m J a m e s , S t r e h l u. v. a. — Z w e i t e D e d u k t i o n : W e n n die Tiere, die drei Paare von halbkreisförmigen Kanälen besitzen, sich in den drei Richtungen des R a u m e s frei bewegen, so d ü r f t e n die Tiere mit n u r zwei K a n a l p a a r e n sich n u r in zwei D i m e n s i o n e n bewegen. Bewiesen an den N e u n a u g e n d u r c h mich u n d an gewissen Arten von T a n z m ä u s e n d u r c h Professor R a w i t z , mich u. a. Die Tiere, die n u r ein P a a r Kanäle besitzen, bewegen sich n u r in einer Richtung. Bewiesen d u r c h Prof. R a w i t z u n d durch mich an T a n z m ä u s e n , die n u r ein P a a r intakter Kanäle besaßen, u n d von E d i n g e r an den Myxinen. — D r i t t e D e d u k t i o n : Bei den W i r b e l l o s e n , die keine halbkreisförmigen Kanäle besitzen, besorgen die Otocysten die O r i e n t i e r u n g im Räume. Experimentell nachgewiesen d u r c h Y v e s D e l a g e , V i k t o r H e n s e n u. a. m.
Einleitung
37
die Ergebnisse neuer Experimente mit Bestimmtheit voraussagen kann, so hat er das Recht, seine Forschung als definitiv beendet anzusehen." 1 In einer Epoche, wo die Philosophie eine gefährliche Krisis durchlebt und in der A n n ä h e r u n g an die Naturwissenschaften einen Ausgang aus dem herrschenden W i r r w a r r der widerspruchsvollen Lehren zu finden hofft, m u ß der P h y s i o l o g e m i t Demut gestehen, daß unter den vielen Zweigen der exakten F o r s c h u n g , auf d e r e n f e s t e m B o d e n die Philosophen Z u f l u c h t s u c h e n , s e i n e W i s s e n s c h a f t n o c h k a u m in B e tracht gezogen wird. Die Philosophen sind bestrebt, aus der Physik, der Chemie, ja sogar aus den rein beschreibenden Naturwissenschaften, wie Zoologie und Botanik, neue Elemente f ü r die Wiedergeburt ihrer Wissenschaft zu gewinnen. An die Physiologie denkt kaum jemand unter den geistigen Urhebern dieser Rettungsversuche; u u d wenn es sich um Lebensvorgänge handelt, deren Ergebnisse f ü r den Psychologen doch von entscheidender Bedeutung sind, so wird die allgemeine B i o l o g i e , aber nicht ihr exaktester und f ü r die Erkenntnis der seelischen Vorgänge unentbehrlichster Zweig, die Physiologie, zu Rate gezogen. Dennoch vermag weder die Philosophie noch die Psychologie ohne genaue Bekanntschaft mit der Physiologie des Menschen auch n u r einen F u ß breit auf dem sicheren Boden der exakten Naturwissenschaft zu gewinnen. Der Naturforscher hat ferner das Recht, Kontroversen mit Philosophen u n d Mathematikern als belanglos anzusehen; denn ihre Hypothesen und Einwendungen gegen die Resultate der Wissenschaft beruhen nur auf den traditionellen Lehren früherer Metaphysiker, welche längst widerlegt sind, oder auf ihrer inneren Erfahrung, die rein subjektiv ist. N u r das Experiment gibt objektive Resultate, die auf absolute Gewißheit Anspruch erheben können. Philosophen und Naturforscher täten gut, das prachtvolle W e r k des Kardinals M e r c i c r » Critérologie générale ou Théorie de la Certitude" zu studieren. Dort werden sie die wahren G r ü n d e finden, aus denen die theologische Metaphysik sich so gut mit den exakten Wissenschaften verträgt, wogegen die Metaphysik der modernen Philosophen zu wirklichen Fortschritten ohnmächtig ist und immer 1
holtz,
Zitiert nach L e o K o e n i g s b e r g e r s Biographie von H e r r n , v. H e l m Band II.
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Einleitung
mehr in Anarchie versinkt. Das Heil f ü r die Philosophie liegt vor allem in der A n e r k e n n u n g der R e a l i t ä t d e r A u ß e n - u n d I n n e n w e l t und der g r o ß e n , wirklichen Bedeutung der exakten wissenschaftlichen Methoden f ü r die menschliche Erkenntnis. Das 19. Jahrhundert war das Zeitalter des Niedergangs der Metaphysik und der Wiedergeburt der Erfahrungswissenschaften. Bricht die christliche Kultur nicht unter den Schlägen der äußeren und inneren Barbaren z u s a m m e n , so wird das 20. Jahrhundert die Wiedergeburt einer streng wissenschaftlichen Philosophie erleben. Die transzendentalen Geister aber, die an der Erforschung der Sinneswelt kein G e n ü g e n finden, sondern in die Mysterien des Weltalls, ja sogar rein imaginärer Welten durchaus eindringen wollen, brauchen sich n u r an die religiöse Metaphysik zu halten, die einzige, die noch aufrecht geblieben ist, die auf O f f e n b a r u n g beruht und deren Fruchtbarkeit durch die Erfahrung von Jahrtausenden bewiesen ist.
Erster Teil.
Zeit und Raum. E r s t e s Kapitel.
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen der Euklidischen Geometrie. 1 Plato
hat
philosophischen
der und
dies mit Recht.
Mathematik der
eine
sinnlichen
Mittelstellung Erkenntnis
zwischen
angewiesen.
der Und
D e r P h i l o s o p h postuliert, der Mathematiker d e d u -
ziert, d e r N a t u r f o r s c h e r entscheidet mit Hilfe d e r sinnlichen Erkenntnis, o b u n d welche Postulate, also auch welche a u s ihnen Sätze auf
realer W a h r h e i t
beruhen.
unserer Sinnesorgane durch
abgeleiteten
Seitdem die Leistungsfähigkeit
E r f i n d u n g der T e l e s k o p e ,
Mikroskope
und vollkommener Meß- und Wägeinstrumente bedeutend wurde und
die N a t u r f o r s c h u n g , i m m e r m e h r von
gesteigert
mathematischem
D e n k e n d u r c h d r u n g e n , gelernt hat, die h ö h e r e Analysis a n z u w e n d e n , u m die weitesten K o n s e q u e n z e n a u s ihren E r f a h r u n g s s ä t z e n zu ziehen, hat sie eine Reihe b e d e u t e n d e r Erfolge bei d e r L ö s u n g von physikalischen P r o b l e m e n gezeitigt, die den menschlichen Geist von jeher beschäftigt haben. 1
Zuerst erschienen in P f l ü g e r s Archiv, Bd. 85 (1900) und darauf ausführlich entwickelt in meinem Werke «Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit", Berlin 1908, Julius Springer. — Hier gebe ich nur eine dem großen gebildeten Publikum zugängliche Darstellung der Grundlagen meiner Lehre. Spezialisten, wie Philosophen und Psychologen, denen die höhere Mathematik nicht fremd ist, verweise ich auf mein ausführlicheres Werk „Das Ohrlabyrinth". Dort finden sie auch die ausführliche Darlegung der experimentellen Untersuchungen, durch welche das Vorhandensein dieser mathematischen Sinnesorgane festgestellt wurde.
40
Zeit u n d R a u m
Das entscheidende W o r t gehört jedenfalls dem ' Naturforscher, und zwar vorzugsweise demjenigen, der sich mit der bloßen Beobachtung der Erscheinungen - nicht b e g n ü g t , sondern ausgerüstet mit allen Vorrichtungen, welche die Leistungsfähigkeit seiner Sinnesorgane erweitern, zum Experiment greift und durch künstlich erzeugte Bedingungen nach Belieben neue Erscheinungen hervorruft, die ihm gestatten, die Gesetze ihres Geschehens zu erkennen. Gelingt es ihm d a n n , die Naturerscheinungen so vollständig zu beherrschen, daß er an der H a n d der gewonnenen Gesetze mit Sicherheit die Erfolge neuer Versuche vorauszusehen vermag, so kann er seine Aufgabe als definitiv gelöst betrachten. „Das Gesetz der Erscheinungen finden heißt sie begreifen", hat mit Recht H e l m h o l t z gesagt. Der Naturforscher ist dann berechtigt, Streitfragen mit Philosophen u n d Mathematikern, die ihre Hypothesen nur auf dem W e g e reiner Geistesoperationen aufbauen und ihre etwaigen Einwände gegen die Errungenschaften der Naturforschung bloß auf traditionell gewordene, wenn auch längst widerlegte Lehren älterer Metaphysiker begründen, einfach zu übergehen.
§ 1. Der Raumsinn und die Richtungsempfindungen. Die vermeintlichen Innervationsempfindungen. Die Augenstellungen und ihre Abhängigkeit von den Bogengängen. Die drei wichtigsten Sätze der Lehre von den Verrichtungen des Ohrlabyrinths, so wie sie aus meinen mehr als vierzigjährigen Untersuchungen definitiv festgestellt wurden, lauten folgendermaßen: 1. D i e d u r c h d i e E r r e g u n g d e r B o g e n g ä n g e d e s O h r labyrinths erzeugten E m p f i n d u n g e n sind die Richtungse m p f i n d u n g e n . Sie g e l a n g e n z u r b e w u ß t e n W a h r n e h m u n g n u r b e i a u f s i e g e r i c h t e t e r A u f m e r k s a m k e i t . Auf G r u n d der W a h r n e h m u n g e n der drei G r u n d r i c h t u n g e n bilden wir uns unsere Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes. Wir erhalten auf diese Weise die unmittelbare Anschauung eines Systems von drei zu einander senkrechten Koordinaten, auf das wir unsere von der äußeren Welt erhaltenen E m p f i n d u n g e n der übrigen Sinnesorgane projizieren. Dabei wird das negative Netzhautbild in ein positives umgewandelt. Unser Bewußtsein entspricht dem Nullpunkte dieses rechtwinkligen Koordinatensystems. Tiere mit nur zwei Bogengangpaaren (z. B.
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
41
P e t r o m y z o n fluviatilis) erhalten E m p f i n d u n g e n von
n u r zwei Rich-
tungen
zu
und
vermögen
sich
daher
nur
in
diesen
orientieren. 1
Tiere mit n u r einem B o g e n g a n g p a a r (gewisse japanische T a n z m ä u s e und
wahrscheinlich
Myxine)
haben
E m p f i n d u n g e n von
nur
einer
R i c h t u n g ; sie orientieren sich n u r in d i e s e r . 2 2.
Die eigentliche O r i e n t i e r u n g in den drei R a u m d i m e n s i o n e n ,
d. h. die W a h l d e r Richtungen, in d e n e n u n s e r e B e w e g u n g e n stattfinden sollen, sowie die K o o r d i n i e r u n g der f ü r das Einschlagen
und
Einhalten dieser R i c h t u n g e n n o t w e n d i g e n N e r v e n z e n t r e n b e r u h e n fast ausschließlich
auf
den
Funktionen
des
Bogengangapparates.
Bei
wirbellosen Tieren g e n ü g t f ü r die O r i e n t i e r u n g des K ö r p e r s in d e m umgebenden
Räume
die
alleinige
Funktion
d e r Otozysten
(Yves
Delage). 3.
D i e bei d e r O r i e n t i e r u n g erforderliche R e g u l i e r u n g u n d Ab-
stufung der Innervationen, nach, sowohl
ihrer Intensität,
in d e n N e r v e n z e n t r e n ,
Dauer und
Reihenfolge
welche das Gleichgewicht er-
halten, als in d e n e n , welche die sonstigen zweckmäßigen B e w e g u n g e n beherrschen, geschehen in erster Linie d u r c h V e r m i t t l u n g des O h r labyrinths.
Bei seinem Ausfall kann diese Regulierung, w e n n auch
in w e n i g e r v o l l k o m m e n e r W e i s e , d u r c h
die a n d e r e n
Sinnesorgane
(Auge, T a s t o r g a n e usw.) ersetzt w e r d e n . Diese drei Sätze g e b e n einfach die tatsächlichen Ergebnisse d e r zahlreichen Versuche u n d B e o b a c h t u n g e n wieder. für den unten,
Ursprung
unserer
Raumvorstellungen
nachdem durch Darlegung
Ihre V e r w e r t u n g erfolgt
erst
s o p h e n u n d Mathematiker z u m R a u m p r o b l e m zuerst die zu Aufgaben
näher
präzisiert
weiter
der jetzigen Stellung d e r P h i l o -
sein w e r d e n .
Hier
lösenden
soll n u r der
erste
Satz, die R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n b e t r e f f e n d , n ä h e r erörtert w e r d e n , die f ü r d a s R a u m p r o b l e m hauptsächlich in Betracht k o m m e n . W i e bei allen ä u ß e r e n
Sinnesorganen
verlegen
wir
auch
U r s a c h e n d e r E m p f i n d u n g e n d e r A m p u l l e n n e r v e n nach a u ß e n .
die Wir
e r k e n n e n d a n k diesen R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n die drei A u s d e h n u n g e n des Raumes und Höhe
und
Breite.
die drei A b m e s s u n g e n Wenn
wir
d e r festen K ö r p e r , Tiefe,
jede R i c h t u n g s e m p f i n d u n g
zerlegen, z. B. die vertikale in oben u n d
in
zwei
u n t e n , so soll dies n u r
die B e z e i c h n u n g d e r betreffenden R i c h t u n g d e s ä u ß e r e n R a u m e s zu 1
Siehe Kap. IV, § 1 des „Ohrlabyrinths". » Ebenda, § 2—5.
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Zeit und Raum
unserem bewußten I c h bezeichnen. Unser Bewußtsein entspricht in diesem Falle dem Nullpunkte des rechtwinkligen Koordinatensystems. In i h m w e c h s e l n d i e G r u n d r i c h t u n g e n i h r V o r zeichen. Die drei G r u n d r i c h t u n g e n O b e n - U n t e n , V o r n - H i n t e n , Rechts-Links wechseln ihr V o r z e i c h e n in diesem Nullpunkte. Oben, Rechts und Vorn bezeichnete ich als die p o s i t i v e n vertikalen, transversalen und sagittalen Richtungen; U n t e n , Links und Hinten als die negativen. W e n n vom S i n n e einer Richtung gesprochen wird, so bezieht sich dies nur auf das V o r z e i c h e n einer der drei spezifischen Richtungsempfindungen. Eines der wichtigsten Gesetze, das aus den zahlreichen Versuchen über die Täuschungen in der W a h r n e h m u n g der Richtungsempfindungen abgeleitet ist, lautet: Sämtliche hierher gehörigen Täuschungen beziehen sich n u r auf den S i n n der Richtung, also n u r auf dieses Vorzeichen. Wir täuschen uns z. B. beim Eisenbahnfahren n u r darüber, ob wir vorwärts oder rückwärts f a h r e n , nie aber verwechseln wir die sagittale mit der transversalen Richtung. Bei der Ballonfahrt können wir die E m p f i n d u n g des Aufsteigens verwechseln mit der des Absteigens, nie aber mit der seitlichen Bewegung. Auch beim Untertauchen unter Wasser mit geschlossenen Augen und verstopften O h r e n , wobei die vollständigste Verwirrung der Richtungsempfindungen stattfindet, irren wir u n s n u r über den S i n n der Richtungen. 1 Der U r s p r u n g unserer Richtungsempfindungen w u r d e bisher dem Gesichtssinn oder den sogenannten Bewegungsempfindungen zugeschrieben. Auf die Rolle des Gesichtssinns werde ich unten zurückkommen. Zuerst sollen die Bewegungsempfindungen, denen besonders die Nichtphysiologen eine so große Bedeutung zuschreiben, berücksichtigt werden. D e r Physiologe kennt streng g e n o m m e n n u r eine Art regelmäßiger Wirkungen von zentripetalen Muskelnerven: das sind die reflektorischen Änderungen im Herzschlag u n d Blutdruck, welche durch die Herz- und Gefäßnerven vermittelt werden. Diese Empfind u n g e n sind hauptsächlich dazu bestimmt, die Blutmengen in der 1 Auch Kinder im zartesten Alter kennen die Richtungen und täuschen sich nur über deren Sinn. Sie wissen sehr gut links von rechts zu unterscheiden und irren meistens nur in der Bezeichnung des einen oder des anderen Sinnes. Intelligente Kinder wählen häufig irgend ein Abzeichen auf der rechten Hand, um rechts zu erkennen; anderen werden künstliche Zeichen gemacht, wie z. B. ein farbiges Bändchen um den rechten Arm.
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
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Muskelsubstanz in den verschiedenen Phasen ihrer Tätigkeit und Ruhe zu regulieren. Z e i t w e i s e erhalten wir von den Muskeln G e f ü h l e der E r m ü d u n g , der Steifheit oder der Spannung, besonders nach deren Ü b e r a n s t r e n g u n g und wenn ihren Zusammenziehungen sich größere Widerstände entgegenstellen. Vom Muskelschmerz als pathologischer Erscheinung kann hier abgesehen werden. Es steht jetzt fest, daß sämtliche Erregungen der zentripetalen Muskelnerven bei deren Zusammenziehungen durch die hinteren Wurzeln zu den Hirn- und Rückenmarkszentren gelangen, um dort als Reizkräfte aufgespeichert zu werden und zur Erhaltung des Muskeltonus mitzuwirken. 1 Tatsächliche Kontraktionsempfindungen, die man gewöhnlich als Muskelgefühle bezeichnet, erhalten wir keinesfalls. Fachkundige Physiologen haben daher auch nie versucht, diese problematischen Empfindungen zur Erklärung der räumlichen Netzhautbilder heranzuziehen. Die Hypothesen, welche empiristische Philosophen, wie z. B. A. B a i n , mit Hilfe solcher Bewegungsempfindungen aufgestellt h a b e n , können von dem Physiologen schon d a r u m nicht ernst g e n o m m e n werden, weil ja die Sehphänomene bei elektrischen Funken schon beweisen, daß auch bei unbeweglichem Auge räumliche W a h r n e h m u n g e n stattfinden können. Schon E. H. W e b e r hat die B a i n s c h e Theorie durch die Tatsache widerlegt, daß wir ohne alle eigene Bewegung bei r u h i g hingelegter Hand A u s d e h n u n g und Figur w a h r n e h m e n , wenn wir u n s vorher über die relative Lage der einzelnen Tastnerven Rechenschaft gegeben haben, was leicht durch die Bewegung des Objektes über die Hand hin geschehen kann. „Auch von der B e w e g u n g unserer Glieder, die wir durch u n s e r e n W i l l e n h e r v o r b r i n g e n " , schrieb E . H . W e b e r , u w i s s e n w i r u r s p r ü n g l i c h n i c h t s . W i r nehmen die Bewegungen unserer Muskeln durch das ihnen innewohnende Empfindungsvermögen gar nicht w a h r , sondern erhalten n u r dann eine Kenntnis davon, wenn sie durch andere Sinne w a h r g e n o m m e n werden können. W e n n ein Muskel Bewegungen ausführt, ohne sichtbare, hörbare oder fühlbare Veränderungen zu bewirken, so werden wir uns, wie gesagt, durch das ihm selbst z u k o m m e n d e Empfindungsvermögen seiner Bewegung nicht bewußt." Man sieht das sehr deutlich an den Bewegungen des Zwerchfells. »Die S p a n n u n g der Haut des Bauches fühlen wir, 1
Siehe weiter unten, Kap. III, § 2.
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Zeit und Raum
aber den D r u c k , den wir mit dem Zwerchfelle auf iiie Leber u n d auf die übrigen gesamten Teile a u s ü b e n , fühlen wir weder im Zwerchfell, noch in jenen gedrückten T e i l e n . " 1 U n d wie sollte die isolierte E m p f i n d u n g eines sich kontrahierenden Muskels zur W a h r n e h m u n g einer Richtung oder gar einer A u s d e h n u n g f ü h r e n ? Das ist ebenso unmöglich, wie die Annahme, daß die E m p f i n d u n g von Bitter eine W a h r n e h m u n g von Rot erzeugen könnte. Ein so überzeugter Empirist wie W u n d t mußte die Möglichkeit, Muskelgefühle des Auges als Lokalzeichen zu verwenden, aufgeben. Die Kenntnis der Richtung m u ß der Bewegung vorausgehen, letztere kann also nicht erst über die Richtung Kundschaft geben. Man griff daher, um den Muskelkontraktionen die gewünschte Rolle zu erhalten, zu den sogenannten I n n e r v a t i o n s e m p f i n d u n g e n . Nicht die Kontraktion selbst, sondern die Innervation der Muskeln soll zu unserem Bewußtsein gelangen. So verlockend auch eine solche Hypothese erscheinen mag, einer näheren P r ü f u n g kann sie kaum standhalten. W a s zuerst die Innervationen der Kopf-, R u m p f - u n d Gliedermuskeln anlangt, so könnten solche Innervationse m p f i n d u n g e n , a u c h w e n n s i e e x i s t i e r t e n , uns von keinerlei Nutzen bei der Bestimmung von Richtungen sein, u n d zwar aus folgendem G r u n d e . Bei jeder auch noch so einfachen Bewegung kontrahiert sich a u ß e r denjenigen Muskeln, welche direkt die gewünschte Bewegung herbeiführen sollen, noch eine g r o ß e Anzahl anderer Muskeln, nämlich ihre Antagonisten, um ein Überschnappen der Bewegung zu verhindern, sodann diejenigen Hilfsmuskeln, welche die Glieder oder den Rumpf zu fixieren haben usw. Z w e i B e wegungen, deren Endziel und Richtung ganz verschieden sind, k ö n n e n durch die Innervation derselben Muskeln ausgeführt werden. W i e sollen u n s unter diesen Umständen etwaige Innervationsempfindungen über das Ziel oder die Richtung einer Bewegung unterrichten? Aber auch bei den Augenmuskeln stellt sich dieselbe Schwierigkeit einer Verwertung der Innervationsempfindungen f ü r das Erkennen der Richtungen entgegen; die antagonistischen Muskeln spielen auch bei den Änderungen der Augenstellung eine unentbehr1
S. 123.
»Über den Raumsinn", Berichte der sächs. Akad. d. Wissensch. 1852,
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
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liehe Rolle, gleichgültig, ob durch E r r e g u n g oder H e m m u n g ihrer Bewegungen. In seiner Rede von 1878 zeigte H e l m h o l tz selbst kein großes Zutrauen mehr zu den Innervationsempfindungen. „Der Impuls zur Bewegung aber, den wir durch Innervation unserer motorischen Nerven geben, ist e t w a s u n m i t t e l b a r W a h r n e h m b a r e s . D a ß wir etwas tun, indem wir einen solchen Impuls geben, fühlen wir. Was wir tun, wissen wir nicht unmittelbar. Daß wir die motorischen Nerven in Erregungszustand versetzen o d e r i n n e r v i e r e n , daß deren Reizung auf die Muskeln übergeleitet wird, diese sich infolgedessen zusammenziehen und die Glieder bewegen, l e h r t u n s e r s t d i e P h y s i o l o g i e . " Die von uns unterstrichenen Stellen lassen die Widersprüche und die Unsicherheit der Argumente leicht erkennen. W a s wir n nicht unmittelbar wissen", kann nicht »unmittelbar W a h r n e h m b a r e s " sein. Trotzdem die Physiologie uns lehrt, daß I n n e r v a t i o n e n stattfinden, gelangen sie doch nicht zu unserer W a h r n e h m u n g . In der letzten Ausgabe seiner «Tatsachen der W a h r n e h m u n g " hat H e l m h o l t z ausdrücklich auf die Innervationsempfindungen verzichtet. Aber mehr n o c h : es ist eine unbestreitbare, jetzt von allen Physiologen anerkannte Tatsache, daß die Bogengänge sowohl bei willkürlichen als bei reflektorischen Bewegungen die D a u e r und die Intensität der Innervationen regulieren und abmessen. 1 Mit anderen W o r t e n : sie beherrschen vollkommen die Auslösung der Bewegungen. W i e sollten also die vermeintlichen Innervationsempfindungen ihrerseits zu W a h r n e h m u n g e n der Richtungs- oder gar Raumempfindungen d i e n e n ? Kein Vorgang kann gleichzeitig W i r k u n g und U r s a c h e dieser W i r k u n g sein! E. H e r i n g war wohl der einzige Physiologe, der die A n n a h m e solch unwahrscheinlicher Vorrichtungen zu umgehen suchte, indem er den Nervenenden der Netzhaut die Fähigkeit zuschrieb, die Breite, H ö h e u n d Tiefe direkt wahrzunehmen. Dadurch hat H e r i n g gleichzeitig das Raumproblem auf den für den Naturforscher allein zulässigen Boden gestellt: o h n e d i e E x i s t e n z s p e z i e l l e r S i n n e s v o r r i c h t u n g e n für die Erkenntnis der drei Richtungen d e s R a u m e s i s t in d e r T a t e i n e b e f r i e d i g e n d e L ö s u n g d e s Raumproblems unmöglich. 1 Siehe »Das Ohrlabyrinth als Organ der mathematischen Sinne für Raum und Zeit", Kap. III, §§ 7 u. 8.
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Zeit u n d Raum
Die verschiedenen Einwände, welche die Vertreter der e m p i r i s t i s c h e n u n d der n a t i v i s t i s c h e n Anschauungen gegen die Hypothesen von H e r i n g u n d H e l m h o l t z vorgebracht haben, sind bekannt und brauchen hier nicht erörtert zu werden. Diese Einwände waren gewichtig genug, um die Entscheidung zwischen beiden Hypothesen unmöglich zu machen. Die H e r i n g s c h e Hypothese besaß den Vorzug der größeren Einfachheit. Sie schien keiner weiteren Hilfshypothesen rein spekulativer Natur zu bedürfen und beschränkte ihre Erfahrungen zwar auf den Sehraum, vermochte diese aber viel u n g e z w u n g e n e r f ü r den wirklichen Raum zu verwerten. Trotz ihrer größeren Wahrscheinlichkeit hat sie wegen ihres Mangels an direkten Beweisen wenig Anhänger gefunden. W u n d t hat in seinen Studien »Zur Theorie der räumlichen G e s i c h t s w a h r n e h m u n g e n " sowohl die H e r i n g s c h e nativistische als die H e l m h o l t z s c h e Lehre einer scharfen Kritik unterzogen und auch vom rein psychologischen Standpunkte aus deren Unhaltbarkeit zu erweisen gesucht. U m die räumlichen W a h r n e h m u n g e n der Netzhaut erklären zu können, sind beide Lehren g e z w u n g e n , zu Hilfshypothesen rein philosophischer Natur zu greifen, die entweder an sich höchst unwahrscheinlich sind ( H e r i n g ) oder gar auf rein aprioristische Begriffe gestützt werden ( H e l m h o l t z , der das Prinzip der Kausalität als aprioristischen U r s p r u n g s erklärte). W a r u m also nicht einfach die aprioristische Lehre ganz beibehalten? Auch die Rolle der Innervationsgefühle weist W u n d t mit Recht znrück. Leider ist es mit der empiristischen Hypothese von W u n d t , die auf komplexen Lokalzeichen beruht, nicht besser bestellt als mit den anderen derartigen Lehren. U m sich davon zu überzeugen, genügt es, die Einwände, die W u n d t gegen seine eigene Lehre vorbringt, näher zu prüfen. U m der Alternative der beiden gegnerischen Theorien zu entgehen, — die räumlichen Gesichtswahrnehmungen seien angeboren oder sie entständen aus der E r f a h r u n g — greift W u n d t zu einer dritten Möglichkeit: »die Möglichkeit nämlich einer Entwicklung unserer W a h r n e h m u n g e n , die der eigentlichen E r f a h r u n g vorausgeht". Er bezeichnet seine Theorie als eine g e n e t i s c h e oder richtiger als „die Theorie der komplexen Lokalzeichen". Die Vorzüge dieser Hypothese vor den früheren empiristischen sind mehr als problematisch, weil W u n d t eben keine neuen Elemente w e d e r in d i e W a h r n e h m u n g e n n o c h in d i e E r f a h r u n g e i n zuführen vermochte. Er erhebt selbst gegen seine Hypothese
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
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den wichtigsten Einwand, der die früheren empiristischen Lehren zum Scheitern brachte: »Läßt es sich irgendwie verständlich machen, daß aus einer V e r b i n d u n g verschiedenartiger Empfindungselemente eine Vorstellung hervorgeht, die in jedem der Elemente, so lange es isoliert bleibt, noch nicht enthalten ist?" Diesen besonders scharf von L o t z e erhobenen Einwand zu entkräften ist W u n d t nicht gelungen. . . . „ Ü b r i g e n s handelt es sich auch gar nicht d a r u m " , fährt er fort, „ d e n R a u m a u s d e m N i c h t s h e r v o r g e h e n z u l a s s e n , sondern einzig und allein d a r u m , ob in dem Z u s a m m e n wirken von inneren Tastempfindungen des Auges u n d Lokalzeichen der Netzhaut Motive einer extensiven O r d n u n g erhalten sind, die in jedem dieser Elemente f ü r sich noch nicht v o r k o m m e n . " D a ß dies unmöglich ist, hat aber W u n d t selbst in den vorhergehenden Kapiteln seiner Studie auf das Evidenteste erwiesen, als er den nämlichen Einwand gegen die Theorie von H e l m h o l t z wie überhaupt gegen alle empiristischen Theorien entwickelte. Wie gesagt, hat schon L o t z e in seiner letzten S c h r i f t 1 in viel schärferer und geradezu unwiderleglicher Weise denselben Einwand den empiristischen Theorien entgegengestellt, aus denen wir im Kap. III, § 2 des „Ohrlabyrinths" mehrere Auszüge wiedergegeben haben. Auch W u n d t gibt die g r o ß e entscheidende Bedeutung dieser L o t z e s c h e n Schrift zu. Der einzige Vorwurf der vielen Druckfehler, den er dieser in französischer Sprache erschienenen Schrift macht, ist wohl nicht ernst zu nehmen, übrigens auch nicht berechtigt. Nur die W a h r n e h m u n g der drei Richtungen durch die spezifischen E m p f i n d u n g e n der A m p u l l e n n e r v e n , deren Existenz durch langjährige experimentelle U n t e r s u c h u n g erwiesen wurde, vermag den empiristischen Lehren des binokularen Sehens die ihnen m a n g e l n d e Quelle des Ext e n s i o n s b e g r i f f s z u l i e f e r n . Wäre W u n d t , als er seine hier besprochene Studie geschrieben hat, mit meinen Untersuchungen näher bekannt gewesen, so brauchte er n u r die W a h r n e h m u n g der drei Richtungen durch ein spezielles Sinnesorgan des Ohrlabyrinths in seine Theorie einzuführen, um sie auf unerschütterlicher G r u n d lage weiterentwickeln zu können. Weder 1
die
Heringsche
noch
die
Helmholtz-Wundtsche
„Sur la formation de la notion de l'espace", 1877, Nr. 10.
Revue
philosophique.
48
Zeit u n d R a u m
Hypothese kann gegen die festgestellte Tatsache alifkommen, d a ß Blindgeborene genaue Richtungs- und Raum Vorstellungen besitzen! Vermochte ja der blindgeborene S a u n d e r s o n sogar eine Geometrie zu schreiben; er lehrte Optik und reine Mathematik. Das Beispiel des erblindeten E u l e r , der die Gesetze der Dioptrik u n d das Schleifen der Objektive lehrte, ist nicht minder entscheidend. Die Annahme, bei Blindgeborenen vermögen die Empfindungen der Tastorgane diejenigen des Gesichtssinns zu ersetzen, ist kaum ernsthaft zu nehmen. Das Auge unterrichtet uns über die Lage u n d Bewegungen äußerer Gegenstände im w e i t e n S e h r a u m e ; die Tastorgane n u r über die u n m i t t e l b a r berührten Gegenstände im winzigen Tastraum. W a s E . H . W e b e r als R a u m s i n n der Haut bezeichnete, ist meistens n u r O r t s s i n n gewesen. Blindgeborene f ü h r e n , wie D o n d e r s gezeigt hat, ganz regelmäßige Augenbewegungen aus. Dies deutet schon darauf hin, daß diese Bewegungen nicht durch unsere Gesichtseindrücke ausgelöst zu werden brauchen. W i e verworren müßten auch bei solchen Blindgeborenen die Begriffe der Richtungen sein, wenn die «Innervationen" ihrer Augenmuskeln mit Richtungsempfindungen verbunden wären! Der U r s p r u n g dieser Begriffe mußte also notwendigerweise anderswo gesucht werden als in den Gesichts- und Tastorganen; dies war schon v o r meinen Untersuchungen über das Ohrlabyrinth klar (siehe auch den Fall von D e l b o e u f im § 2 des Kap. III). Das Auge ist auch aus mehreren G r ü n d e n viel weniger dazu angepaßt, als Organ f ü r Richtungs- u n d R a u m e m p f i n d u n g e n zu dienen, als das G e h ö r o r g a n . 1. Der anatomische Bau u n d die Lage des Bogengangsapparates sowie die bekannte Lagerung der Nervenendigungen in den Ampullen und Otozysten in drei senkrecht zueinander gestellten Ebenen sind, wie schon mehrfach auseinandergesetzt w u r d e , ganz besonders f ü r die Rolle eines O r g a n s f ü r den Raumsinn geeignet. 2. Der sogenannte N. acusticus besteht aus zwei ihrem U r s p r ü n g e , ihrer Struktur und ihrer zentralen Verbreitung nach ganz verschiedenen Nervenstämmen, dem N. vestibularis, den ich als N. spatialis bezeichnet habe, und dem N. cochlearis, d e m eigentlichen Gehörnerven. Auch entwicklungsgeschichtlich unterscheiden sich diese beiden Nerven ganz gewaltig. W ä h r e n d das Ohrlabyrinth am frühesten bei den niederen Tieren aufzutreten pflegt, sollen nach F l e c h s i g beim Menschen die zentralen Verläufe des rein
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
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akustischen Nerven sich erst später, u n d zwar erst nach der G e b u r t entwickeln. Der V o r w u r f , welcher der H e r i n g s c h e n Theorie gemacht worden ist, es sei unzulässig, denselben Nervenfasern gleichzeitig zwei verschiedene Empfindungsweisen (Gesichts- und Richtungsempfindungen) zuzuschreiben, kann eben die Lehre vom Sitze des Richtungssinnes im Ohrlabyrinth n i c h t treffen. 3. Die Fähigkeit der Netzhaut, von der äußeren Welt Empfindungen zu erhalten, ist r ä u m l i c h n u r auf das v o r ihr liegende Sehfeld beschränkt, während das G e h ö r o r g a n d a n k d e r K o p f l e i t u n g imstande ist, g l e i c h z e i t i g und bei unveränderter S t e l l u n g im R ä u m e Erregungen von allen Richtungen des Raumes zu erhalten. U m in den verschiedenen Richtungen liegende äußere Gegenstände auf die empfindlichen Stellen der Netzhaut einwirken zu lassen, müssen dagegen die Stellungen der Augen und eventuell die des Kopfes und des ganzen Körpers gewechselt werden. Der Vorzug des H ö r r a u m s vor dem Sehraum ist in dieser Beziehung ganz eklatant. 4. .Endlich gibt es in der Funktionsweise des Gesichtsorgans, wie auch der meisten übrigen bekannten Sinne eine Eigentümlichkeit, von welcher das G e h ö r o r g a n frei ist. Bei Erregungen der Netzhaut, der Haut oder der Z u n g e wird gleichzeitig mit der Q u a l i t ä t der Erregung auch die L a g e des Erregers e m p f u n d e n . Dank der in 3. angegebenen besonderen Fähigkeit des G e h ö r o r g a n s , von allen Richtungen des Raumes h e r k o m m e n d e Erregungen g l e i c h z e i t i g e m p f i n d e n z u k ö n n e n , m u ß notwendigerweise die L a g e des Erregers oder richtiger die R i c h t u n g , in d e r e r g e l e g e n i s t , gesondert von der Q u a l i t ä t der Erregung e m p f u n d e n werden. Wir nehmen den T o n sogleich wahr; von dem Orte, wo der Ton erzeugt w u r d e , erkennen wir zuerst nur die R i c h t u n g . 1 Die Ursache der E r r e g u n g sowie deren g e n a u e Lage können wir erst nach g e n a u e r e r P r ä z i s i e r u n g dieser R i c h t u n g feststellen, und zwar mit Z u h i l f e n a h m e der anderen Sinneso r g a n e , in e r s t e r L i n i e d e s G e s i c h t s s i n n e s . 2 1 Das Riechorgan bietet in dieser Beziehung eine Analogie mit dem Gehörorgan; darauf beruht vielleicht seine Fähigkeit, bei niederen Tieren gleichfalls für die Orientierung zu dienen (siehe « D a s O h r l a b y r i n t h Kap. IV, § 8). 2 Über die Vorzüge des Ohrlabyrinths vor dem Auge als Maß- und Zahlvorrichtung siehe weiter unten, Kap. II, § 5.
E. v. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
4
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Zeit u n d R a u m
Der sich dabei abspielende physiologische Vorgang ist etwa folgender: Wir richten unseren Blick in die empfundene Richtung, um die Lage und das Wesen der Erregung, d. h. des ton- oder geräuscherzeugenden Objekts zu erkennen; d i e " E r r e g u n g d e r N e r v e n e n d e n der A m p u l l e n löst zu d i e s e m Z w e c k e Bew e g u n g e n d e r A u g ä p f e l und eventuell des Kopfes und des Rumpfes aus. In d i e s e r N o t w e n d i g k e i t f ü r d a s O h r l a b y r i n t h , d i e M u s k e l n d i e s e r O r g a n e in T ä t i g k e i t zu v e r s e t z e n , l i e g t d e r g e n e t i s c h e G r u n d für die B e h e r r s c h u n g der N e r v e n z e n t r e n dieser m o t o r i s c h e n A p p a r a t e d u r c h die A m p u l l e n n e r v e n . Seitdem diese gesetzmäßige Beherrschung in den siebziger Jahren festgestellt und beschrieben wurde, ist sie auch in den Vordergrund der meisten Beobachtungen am Bogengangapparat getreten. Niemand wollte sich aber der mühevollen Aufgabe unterziehen, meine Versuche zu wiederholen bzw. zu ergänzen, um eine genauere Deutung dieser Abhängigkeit der Augenbewegungen von den Bogengängen des Ohrlabyrinths zu ermöglichen. Man zog es vor, meinen Behauptungen vollen Glauben zu schenken und diese Gesetzmäßigkeit, natürlich mit Verschweigung meines Namens, als eine neu entdeckte Tatsache mitzuteilen, wobei die Deutung durch nichtssagende Bezeichnungen, wie z. B. die des Tonuslabyrinths, ersetzt wurde, die nur Verwirrung der Begriffe erzeugten. Um zu einer richtigen Deutung dieser Abhängigkeit zu gelangen, gibt es nur den einen sicheren Weg, nämlich nach dem eventuellen Zweck der Erscheinung zu forschen. Die absolute Gesetzmäßigkeit sämtlicher Naturerscheinungen bedingt gleichzeitig deren Zweckmäßigkeit. Die mit Unrecht verschmähte Teleologie wird daher immer ein wichtiges Hilfsmittel für unseren Geist sein, um zum Verständnis verwickelter Naturerscheinungen zu gelangen. Welchen Zweck kann nun die Einrichtung haben, daß jede künstliche Erregung eines Bogengangpaares regelmäßige Bewegungen der Augäpfel, des Kopfes und des Rumpfes in der Ebene dieses Bogenganges auslöst? Bei verschiedenen Tieren sind die Bewegungen des einen oder des anderen dieser Körperteile vorherrschend. Aber wie ich gezeigt habe, kann man jedes Tier zwingen, indem man die Bewegungen seines Körpers und Kopfes unmöglich macht, bei den erwähnten Erregungen n u r Augenbewegungen auszuführen. Die V e r s t e l l u n g d e r B l i c k l i n i e ist also d e r e r s t e Zweck
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
51
aller dieser vom B o g e n g a n g ausgelösten Bewegungen. Daraus folgt: D i e R i c h t u n g d e r B l i c k l i n i e h ä n g t in g e s e t z mäßiger Weise von der Qualität der R i c h t u n g s e m p f i n d u n g ab, w e l c h e die E r r e g u n g der b e t r o f f e n e n A m p u l l e n n e r v e n e r z e u g t . Darin allein liegt der ganze Sinn der gesetzmäßigen Abhängigkeit des okulomotorischen Apparates vom Ohrlabyrinth. 1 Für Tiere sowie f ü r den Naturmenschen ist es ein gebieterisches Erfordernis, die U r s a c h e und den A b s t a n d des geräuscheerregenden Objektes zu erkennen, u n d zwar sowohl f ü r die Verteidigung als f ü r den Angriff. Sobald sie dessen Richtung wahrgenommen haben, suchen sie mit Hilfe des Sehorgans dieser Ursache nachzuspähen. Dabei lernen sie allmählich, die zur Erreichung ihres Zweckes erforderlichen Muskelbewegungen auszuführen. So bildeten sich im Laufe von Jahrhunderten die reflektorischen Beziehungen zwischen den Ampullennerven und den motorischen Nerven aus, die in dem Mechanismus der Beherrschung der letzteren durch die ersteren ihren vollkommensten Ausdruck gefunden haben. Die Verteilung der Innervationsstärken zwischen die in Tätigkeit zu versetzenden Muskeln, die A u f h e b u n g der H e m m u n g e n bei den Antagonisten, mit einem W o r t e , das ganze Spiel dieses wunderbaren Mechanismus 2 geschieht durch Ausschaltung von Widerständen, etwa wie die Verteilung elektrischer Kräfte zwischen zahlreichen Leitern. Dem Zwecke der Selbsterhaltung entsprechend, funktioniert zuletzt dieser Mechanismus in a u t o m a t i s c h e r Weise: durch E r r e g u n g der Ampullennerven werden die erforderlichen Bewegungen eventuell auch auf rein reflektorischem Wege, ohne Beteiligung des Bewußtseins, ausgelöst. Die z e i t l i c h e R e i h e n f o l g e der sich dabei abspielenden Vorgänge zeigt, wie verfehlt es war, das Ohrlabyrinth als ein S i n n e s o r g a n f ü r die Stellungen des Kopfes oder f ü r die Erhaltung des Gleichgewichts zu betrachten. Es wäre dies auch eine ganz absonderliche Funktion. Die Erregungen der sensiblen Nerven der Muskeln, der Haut, der Gelenke, der Sehnen usw. sollten, statt direkt zum Bewußtsein zu gelangen, dies erst auf dem Umwege eines anderen p e r i p h e r e n Sinnesorgans t u n ! . 1 Die Irrlehre von der s o g e n a n n t e n kompensatorischen N a t u r gewisser A u g e n b e w e g u n g e n verzögerte am längsten das klare Verständnis des ganzen Vorganges. 2 Siehe Kap. IV, § 10 des „ O h r l a b y r i n t h s " . 4*
52
Zeit u n d R a u m
Wie schon oben gezeigt w u r d e , ist es nicht weniger widersinnig, die Bewegungen, welche erst durch die Richtungsempfindungen hervorgerufen werden, als die Quelle unserer Richtungswahrnehm u n g e n zu betrachten. Schon E. H. W e b e r hat darauf bestanden, daß die feine Beweglichkeit erst dann zu gebrauchen ist, wenn wir sie willkürlich auf bestimmte Punkte lenken können, was den Raumsinn schon voraussetzt. In Wirklichkeit bestimmen wir die Lage u n s e r e r K ö r p e r t e i l e i m R ä u m e mit Hilfe der Empfindungen des Ohrlabyrinths in derselben Weise, wie wir dies f ü r die Lage der ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e tun. Diese Empfindungen geben uns n u r die drei Richtungen, die drei Koordinaten des Raumes a n , die f ü r die Bestimmung der Lage erforderlich sind. Diese b e w u ß t e V e r w e n d u n g der Richtungsempfindungen des Bogengangsapparates zur Orientierung im Räume bedarf nicht notwendig der Beihilfe des Gesichtssinnes. Die E m p f i n d u n g e n der anderen sensiblen Gebilde des Körpers können genügen. Daher vermögen B l i n d g e b o r e n e sich zu orientieren, sowohl über die Verschiebungen ihrer einzelnen Körperteile als auch über die Bewegungen ihres ganzen Körpers im äußerem Räume. Im Gegenteil ist bei erhaltenem Gesichtssinn und mangelnden oder gestörten Funktionen des Ohrlabyrinths eine vollkommene Orientierung in den drei Richtungen des Raumes unmöglich. Andererseits aber bezeugt die genaue Analyse der hier stattfindenden Vorgänge, daß diese Orientierung wenigstens bei Wirbeltieren n u r mit Hilfe der zur W a h r n e h m u n g gelangenden Richtungsempfindungen möglich ist. Indem fast sämtliche Physiologen sich meiner Lehre von der Rolle des Bogengangapparates bei der Orientierung angeschlossen haben, mußten sie gleichzeitig das Vorhandensein solcher E m p f i n d u n g e n anerkennen. Die Orientierung im Räume beruht eben, wenigstens zu Anfang, auf bewußten und überlegten Handlungen. Das Gegenteil behaupten zu wollen wäre ebenso unsinnig wie die Annahme, daß das bloße V o r h a n d e n s e i n eines Steuerruders oder eines Kompasses auf einem Schiffe schon genüge, damit das Schiff seinen W e g finde. Eine vollkommene Regulierung der I n n e r v a t i o n s s t ä r k e n der Augen- bzw. Kopf- oder Körpermuskeln durch das Ohrlabyrinth m u ß sowohl bei der Lokalisierung der äußeren Gegenstände im Sehraum als auch bei der Orientierung unseres eigenen Körpers stattfinden.
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
53
Die bloße W a h r n e h m u n g dieser Innervationsstärken, wenn sie auch möglich wäre, w ü r d e sogar f ü r das Augenmaß kaum von großem Nutzen sein. Wie in »Ohrlabyrinth", Kap. III, § § 7 und 8 auseinandergesetzt wurde, sind die Abmessungen der Innervationen, ihrer Stärke und D a u e r nach, eine der wichtigsten Verrichtungen des Ohrlabyrinths und seiner zentralen Qanglienapparate. Diese Abmessungen müssen selbstverständlich von einer ganz besonderen Präzision sein, wenn es sich um die Auslösung von Bewegungen der Augenmuskeln handelt. Die geringste Verschiebung der Augenachsen gegen die Achsen der Bogengänge spielt bei Abschätzungen des Augenmaßes natürlich eine g r o ß e Rolle, eine viel größere jedenfalls als etwaige E m p f i n d u n g e n , die durch Zerrungen der Muskeln, Sehnen oder durch Veränderungen des Binnendruckes in der Augenhöhle erzeugt werden können. Die drei Hauptebenen, welche die physiologische Optik als die des w i r k l i c h e n Raumes annimmt, sind willkürlich gewählt worden. Bei unserem jetzigen Wissen der gesetzmäßigen Abhängigkeit der Augenbewegungen von den Bogengängen dürften die drei Ebenen der Bogengänge a l l e i n als die Hauptebenen des wirklichen Raumes gelten. Die D r e h a c h s e n d e r A u g ä p f e l m ü s s e n also auf das System der drei rechtwinkligen Koordinaten des Bogeng a n g a p p a r a t e s b e z o g e n w e r d e n . »Denkt man sich", sagt H e r i n g , „daß der jeweilige Ort der Aufmerksamkeit bedingt ist durch einen psychophysischen P r o z e ß , so kann man diesen P r o z e ß zugleich als das physische Moment gelten lassen, welche die entsprechende Innervation auslöst". D e r psychophysische Prozeß, der unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, ist die durch die Erregung der Ampullen erzeugte W a h r n e h m u n g einer bestimmten Richtung; diese Erregung gibt also, wie man jetzt behaupten kann, das physische Moment ab, welches die Augenstellung verändert. Die gesetzmäßige Abhängigkeit des okulomotorischen Apparates von dem Erregungszustande der Ampullennerven zeugt gegen die Annahme von H e l m h o l t z , „daß die Verbindung, welche zwischen den Bewegungen beider Augen besteht, nicht durch einen anatomischen Mechanismus erzwungen, sondern vielmehr durch den bloßen Einfluß unseres Willens veränderlich ist". (Phys. Optik, 2. Auflage, S. 633.) W e n n jede E r r e g u n g eines Bogenganges gesetzmäßige Bewegungen der beiden Augen hervorruft, so beweist dies allein schon
54 das Vorhandensein anatomischer Verbindungen zwischen den Bewegungsnerven der beiden Augäpfel. Noch überzeugender ist der Erfolg der Durchschneidung des anderseitigen Acusticus auf den Augennystagmus, erzeugt durch die T r e n n u n g des einen G e h ö r nerven. Der Wille beherrscht die Bewegungen der Augäpfel meistens n u r d a d u r c h , daß er die Nerven der Bogengänge beeinflußt. Der Widerspruch zwischen H e l m h o l t z und Hering über die Realität der bekannten Beobachtung von Doppelbildern erklärt sich jetzt sehr leicht. E. H e r i n g hatte in dieser Streitfrage H e l m h o l t z gegenüber vollständig recht (siehe H e r i n g s Beiträge zur Physiologie, Heft 4, S. 274). Z u r genaueren Feststellung des Mechanismus, durch welchen die Verschiebung der Augenachsen auf das Koordinatensystem des Bogengangapparates uns in den Stand setzt, den Ort des fixierten Objektes und den A b s t a n d zwischen den gesehenen Objekten durch das Augenmaß zu bestimmen, ist vorerst eine Revision der Gesetze erforderlich, welche die Bewegungen der Augäpfel in ihrer Abhängigkeit von den Bogengängen beherrschen. U n d zwar m u ß diese Revision aus einleuchtenden G r ü n d e n mit Hilfe von Versuchen an Affen gemacht werden, die ich in meiner Arbeit von 1900 angegeben habe. Es bedarf wohl keiner besonderen Erörterung, um darzutun, daß die angeborenen Einrichtungen, auf welchen die Assoziation der Augenbewegungen beruht, in den Hirnzentren zu suchen sind, welche die Vestibularnerven mit den optischen und okulomotorischen Nerven verbinden. Die psychologischen Beziehungen zwischen den Begriffen der R i c h t u n g und des A b s t a n d e s werden durch die nämlichen Hirnzentren vermittelt, da diese beiden Begriffe in den Empfindungen des Raumsinns und des Gesichtssinns ihren U r s p r u n g haben. Die Begriffe der R i c h t u n g und des A b s t a n d e s wurden seit Jahrtausenden als Grundlagen zum Aufbau der Geometrie benutzt. In § 2 soll gezeigt werden, daß dies auch mit Recht geschah. § 2. Der bisherige Stand des Raumproblems. A. Hat der Raum eine selbständige reelle Existenz, u n a b h ä n g i g von der sich in ihm bewegenden Materie, oder ist er mit der Materie bzw. mit deren Bewegung identisch?
Der geometrische Sinn und die phhsiologischen Grundlagen usw. B. W a s zwingt d e n
menschlichen Geist, den R a u m
dimensional zu betrachten, die E m p f i n d u n g e n
und
worauf
u n s e r e r Sinne
geometrischen F o r m zu
in
55
als drei-
b e r u h t die Unmöglichkeit,
einer a n d e r e n
als
in
dieser
ordnen?
C. W e l c h e s ist d e r U r s p r u n g d e r geometrischen A x i o m e E u k l i d s u n d worauf b e r u h t ihre apodiktische Gewißheit, da ihre Richtigkeit nie direkt bewiesen w e r d e n In diesen
drei
Fragen
konnte? ist das g a n z e
Raumproblem
enthalten,
welches auch sonst seine b e s o n d e r e n G e s t a l t u n g e n im Laufe der Jahrh u n d e r t e waren. P h i l o s o p h e n , Mathematiker u n d N a t u r f o r s c h e r suchten vorzugsweise die eine o d e r a n d e r e dieser Fragen zu lösen, je nach d e m näheren Zweck i h r e r
Forschungen.
In der Einleitung zu diesem Kapitel w u r d e die Frage A schon erörtert, welche w ä h r e n d J a h r t a u s e n d e n ausschließlich die P h i l o s o p h e n beschäftigt hat, o h n e je eine b e f r i e d i g e n d e L ö s u n g zu finden. den N a t u r f o r s c h e r , d e r sich n u r mit F r a g e n , lichen
P r ü f u n g o d e r Erkenntnis zugänglich
Für
die d e r wissenschaft-
s i n d , a b g i b t , bieten B
u n d C allein ein h e r v o r r a g e n d e s Interesse. W e n n eine exakte L ö s u n g dieser beiden F r a g e n indirekt auch f ü r die B e a n t w o r t u n g d e r ersten, rein metaphysischen Frage v e r w e n d b a r ist, indem sie diese wenigstens auf
ihre
wirkliche B e d e u t u n g
zurückführt,
weitere Entwicklung seiner wissenschaftlichen Z u k u n f t überlassen.
so kann er r u h i g
die
Errungenschaften
der
F r ü h e r o d e r später wird d e r P h i l o s o p h , welcher
f ü r das Wirkliche u n d Tatsächliche nicht die M i ß a c h t u n g des Metaphysikers
teilt,
schon die richtige A u s n ü t z u n g seiner wissenschaft-
lichen E r g e b n i s s e f i n d e n . T r o t z d e r u n e n d l i c h e n Zahl d e r vorgeschlagenen L ö s u n g e n
des
R a u m p r o b l e m s kann man a b e r in den B e a n t w o r t u n g e n dieser F r a g e n zwei streng g e s o n d e r t e Kategorien unterscheiden, die e m p i r i s t i s c h e und die n a t i v i s t i s c h e .
L o c k e , d e r darauf verzichtete, eine Defini-
tion des R a u m e s u n d d e r A u s d e h n u n g zu geben, n a h m die Existenz eines reellen bewegt.
leeren
R a u m e s a n , in welchem die Materie sich frei
U n s e r e Kenntnisse v o n diesem R ä u m e sollen auf den
Er-
f a h r u n g e n u n s e r e r Sinnesorgane, b e s o n d e r s d e r Gesichts- u n d Tastorgane beruhen. Ein entschiedener G e g n e r a n g e b o r e n e r Ideen, kann L o c k e als der S c h ö p f e r der e m p i r i s t i s c h e n
R a u m t h e o r i e gelten.
Berkeley
verwarf den Begriff eines absoluten R a u m e s u n d behauptete, u n s e r e Raumvorstellungen
würden
von
den
Erfahrungen
über
die
Be-
56
Zeit und Raum
w e g u n g abgeleitet. »Ist es möglich, daß wir die Idee der Ausd e h n u n g h a b e n , ehe wir B e w e g u n g e n a u s f ü h r e n ? Mit anderen Worten, kann ein Mensch, der niemals Bewegungen ausgeführt hat, sich Gegenstände vorstellen, die sich in einer Entfernung voneinander b e f i n d e n ? " In der F o r m u l i e r u n g dieser beiden Fragen sind in n u c e so ziemlich die sämtlichen Lösungen des P r o b l e m s enthalten, denen die modernen Vertreter der empiristischen Anschauungen, sowohl Philosophen als Mathematiker und Physiologen, huldigen, mit dem Unterschiede a b e r , daß die letzteren meistens die Realität des absoluten Raumes anerkennen. Ein gewaltiger Fortschritt in der Behandlung des R a u m p r o b l e m s w u r d e gemacht, als K a n t seine berühmte aprioristische Theorie der Raumvorstellungen formulierte. Zu dieser F o r m u l i e r u n g ist er erst in den späteren Jahren seines Wirkens gekommen. F r ü h e r war K a n t ein eifriger Verfechter des selbständigen Vorhandenseins eines absoluten Raumes, der eine von der Materie ganz unabhängige Existenz besitzt. Ja, die Existenz des objektiven Raumes betrachtete K a n t in seiner im Jahre 1768 erschienenen Schrift «Von dem ersten G r u n d e des Unterschiedes der Gegenden im R ä u m e " als eine notwendige V o r b e d i n g u n g f ü r das Wesen der Materie. Aber schon im Jahre 1770 entwickelte K a n t seine ganz entgegengesetzte Lehre, die ihre endgültige Gestalt in der »Kritik der reinen V e r n u n f t " (1781) erhalten hat. Diese Lehre beherrscht auch jetzt f ü r die meisten Metaphysiker noch das ganze R a u m p r o b l e m ; sie soll hier mit den eigenen Worten ihres Schöpfers wiedergegeben werden. »1. Der Raum ist kein empirischer Begriff, der von äußeren Erfahrungen abgezogen worden. Denn damit gewisse E m p f i n d u n g e n auf etwas außer mir bezogen werden (d. i. auf etwas in einem anderen Orte des Raumes, als darinnen ich mich befinde), imgleichen, damit ich sie als außer- und nebeneinander, mithin nicht bloß verschieden, sondern als in verschiedenen Orten vorstellen könne, dazu m u ß die Vorstellung des Raumes schon zum G r u n d e liegen . . . »2. Der Raum ist eine notwendige Vorstellung a priori, die allen äußeren Anschauungen zum G r u n d e liegt. Man kann sich niemals eine Vorstellung davon machen, daß kein Raum sei, ob man sich gleich ganz wohl denken kann, daß keine Gegenstände darin angetroffen werden. . . . »3. Der Raum ist kein . . . allgemeiner B e g r i f f von Verhältnissen der Dinge überhaupt, sondern eine reine A n s c h a u u n g . "
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
57
Als Hauptargument zugunsten der apriorischen Natur unserer Raumvorstellungen f ü h r t K a n t die Apodiktizität der geometrischen Axiome an, die als absolut sicher gelten, ohne daß ihre Richtigkeit je bewiesen werden konnte. . . . »Denn die geometrischen Sätze sind insgesamt apodiktisch, d. i. mit dem Bewußtsein ihrer Notwendigkeit v e r b u n d e n ; z. B. der Raum hat n u r drei Abmessungen; dergleichen Sätze aber können nicht empirische oder Erfahrungssätze sein, noch aus ihnen abgeleitet werden.« Der Vorteil der K a n t s c h e n Lehre bestand darin, daß sie das ganze Raumproblem zu lösen schien. D i e d r e i i m A n f a n g d i e s e s Kapitels f o r m u l i e r t e n F r a g e n w e r d e n mit e i n e m Mal bea n t w o r t e t . Ihre Hauptschwäche lag darin, daß sie erstens nur eine V o r a u s s e t z u n g , ein P o s t u l a t ist, dessen Richtigkeit nicht bewiesen war, u n d daß sie außerdem im G r u n d e n i c h t s erklärt. 1 Ein Postulat kann f ü r den Philosophen und den Mathematiker f ü r weitere Deduktionen und A u s f ü h r u n g e n von großem Werte sein. Der Naturforscher, der den Mechanismus der Erscheinungen zu erklären sucht, m u ß Beweise f ü r die B e g r ü n d u n g des Postulats verlangen und wird der Entstehung und den organischen Ursachen der apriorischen Anschauungen nachforschen. Die vermeintliche positive Stütze der K a n t s c h e n Lehre, die Apodiktizität der Axiome, kann bestritten werden und w u r d e , wie hier gezeigt werden soll, auch gegen Mitte des vorigen Jahrhunderts sowohl von Philosophen als von Mathematikern und Naturforschern energisch und mit Erfolg bekämpft. Diese Apodiktizität hat ihren G r u n d anderswo als in einer aprioristischen Anschauung unseres Geistes. Die der K a n t s c h e n entgegengesetzte Lösung des Raumproblems hat im vorigen Jahrhundert ihre systematische Entwicklung besonders durch J. S t u a r t M i l l erhalten. Mit Recht bestreitet M i l l , daß den mathematischen Wissenschaften eine größere Gewißheit als den experimentellen zukomme. Die rein mathematisch entwickelten Theorien würden erst durch die Erfahrung bestätigt und zur Gewißheit erhoben. 2 1 Nicht ganz mit U n r e c h t verglich sie N i e t z s c h e mit der Virtus dormitiva, d u r c h welche die Moliereschen Ärzte die W i r k u n g e n des O p i u m s zu erklären meinten. 2 Die Identität der Licht- u n d Elektrizitätswellen ist erst d u r c h die genialen Experimente von H e r t z mit Sicherheit festgestellt worden. Die elektrodynamische Theorie von M a x w e l l hat n u r auf die Möglichkeit einer
58
Zeit und Raum
Den Definitionen der Geometrie soll nur eine relative Richtigkeit
zukommen.
Die Axiome besäßen zwar volle Gültigkeit,
das
gleiche sei aber auch für viele Wahrheiten der rein experimentellen Wissenschaften
der
Fall.
Verallgemeinerungen
Die
Definitionen
gewisser
sind
Wahrnehmungen
der Punkt nur das «minimum visibile";
nach
Mill
äußerer
nur
Objekte:
die eindimensionale Linie
nur die Abstraktion eines Kreidestrichs oder eines gespannten Fadens; der
vollkommene
fläche
eines
Kreis —
Baumes.
die Erinnerung
Die
Definitionen
an die
der
Durchschnitts-
Geometrie
könnten
daher nur eine a p p r o x i m a t i v e Gültigkeit beanspruchen. Das Gewagte Hand.
dieser
Millschen
Argumentation
liegt
auf
der
Die Definitionen der E u k l i d i s c h e n Geometrie beziehen sich
auf einen i d e a l e n ausdehnungslosen Punkt, auf eine Linie, die eine Länge ohne Breite ist, auf eine ideale Gerade, die ins Unendliche verDie r e a l e n Linien, Punkte, Geraden usw.,
längert werden kann usw.
an denen unsere Erfahrungen gemacht werden, besitzen diese Eigenschaften
nicht.
Wie könnten denn aus der Idealisierung so
roher
Erfahrungen abgeleitete Schlüsse zu absolut richtigen Axiomen führen? S t u a r t M i l l greift, um diesem Einwände zu entgehen, assoziation
zwischen
stellungen.
Er muß aber zugeben, daß es sehr schwierig ist, Vor-
stellungen
zu
immer
trennen,
und
wenn
die
ausnahmslos
zur Ideen-
verbundenen
entsprechenden
Vor-
Empfindungen
niemals gesondert dem menschlichen Geist dargeboten werden. Die
Möglichkeit,
ständen gemachten Geometrie
durch
Idealisierung
Erfahrungen
abzuleiten,
ist
von
der
an reellen
die Definitionen Philosophen
und
der
Mathematikern,
welche den e m p i r i s c h e n Ursprung dieser Wissenschaften wollten, vielfach
Gegen-
und Axiome
beweisen
erörtert und immer bejahend beantwortet worden.
Bei dem Fehlen eines S i n n e s o r g a n s ,
welches
uns
die
B e g r i f f e v o n i d e a l e n L i n i e n , P u n k t e n , W i n k e l n , K r e i s e n usw. geben könnte,
war auch die A n n a h m e e i n e r s o l c h e n
l i c h k e i t f ü r die E m p i r i k e r von u n u m g ä n g l i c h e r keit.
Die Berechtigung einer solchen Annahme, wenn es sich darum
handelt,
den Ursprung der Axiome zu erklären,
zweifelhaft.
solchen
Mög-
Notwendig-
„Stammen
ist aber mehr als
die Axiome aus der Erfahrung?"
Identität hingewiesen,
dieser Theorie, B o l t z m a n n ,
der
größte
und kompetenteste
schreibt
Bewunderer
hat in einem seiner wissenschaftlichen Vorträge
fast mit denselben Worten dies zugeben müssen.
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
59
F. K l e i n. >/ H e l m h o l t z ist hierfür bekanntlich in nachdrücklicher Weise eingetreten. Aber seine ,Darlegungen erscheinen nach bestimmter Richtung unvollständig. Man wird, wenn man sie überdenkt, zwar gerne z u g e b e n , daß die E r f a h r u n g an dem Zustandekommen der Axiome einen großen Anteil hat, man wird aber bemerken, daß gerade der Punkt bei H e l m h o l t z unerörtert bleibt, der dem Mathematiker vor anderen interessant ist. Es handelt sich um einen Prozeß, den wir in genau derselben Weise bei der theoretischen Behandlung irgend w e l c h e r e m p i r i s c h e r D a t e n n u n m e h r v o l l ziehen, und der ebendarum dem Naturforscher völlig s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e r s c h e i n e n mag." W ü r d e n die eminentesten Mathematiker aller Zeiten so viel Zeit verwendet haben, um Beweise f ü r das elfte Axiom von E u k l i d zu sammeln, wenn die bloße Idealisierung roher Erfahrungen zur Beg r ü n d u n g von Axiomen genügt hätte? Mit Hilfe einiger Kreidestriche hätten sie sich ja das viele Kopfzerbrechen ersparen können. Es soll bald näher auseinandergesetzt werden, daß die psychischen Vorgänge, mit deren Hilfe der synthetische Aufbau der Geometrie ausden Definitionen u n d Axiomen E u k l i d s stattgefunden hat, der »Idealisierung" gerade entgegengesetzt waren; an r e a l e n geometrischen Figuren w u r d e n nur die Sätze bestätigt, welche von vorher w a h r g e n o m m e n e n i d e a l e n G r ö ß e n abgeleitet wurden. Es hat nicht an Versuchen gefehlt, die zwischen den beiden, sich gegenüberstehenden Theorien vorhandene Kluft durch vermittelnde Lehren zu überbrücken. Ein Philosoph aber hat im vorigen Jahrhundert zuerst versucht, die empiristische Raumtheorie mit Hilfe der Analyse der Bewegungen fester Körper direkt zu begründen, indem er von einer solchen Analyse den U r s p r u n g der geometrischen Axiome ableitete: das war U e b e r w e g , ein Anhänger B e n e k e s , der ein hervorragender G e g n e r der K a n t s c h e n aprioristischen Lehre war. Die volle Lösung des Problems hat er freilich nicht geben können, weil sie ohne Zuhilfenahme der Funktionen eines speziellen Sinnesorgans überhaupt unmöglich ist. Dagegen hat U e b e r w e g mehrere gewichtige Beiträge zu einer solchen Lösung geliefert, die einen bedeutenden Fortschritt ausmachen. Kaum 22 Jahre alt, hat er eine kleine Schrift verfaßt: »Die Prinzipien der Geometrie wissenschaftlich dargestellt" 1 , 1
Diese w u r d e 3—4 Jahre später im Archiv f ü r Philologie u n d P ä d a gogik, Bd. 17 (1851) veröffentlicht.
60
Zeit u n d
Raum
in der er die G r u n d f o r m e n der E u k l i d i s c h e n Geometrie und auch einige Eigenschaften des Raumes mit außerordentlicher Schärfe und wahrhaft genialer Intuition abzuleiten vermochte. U m seinen gewonnenen Sätzen »absolute Genauigkeit" beilegen zu können, war er natürlich auch gezwungen, zu deren Idealisierung seine Zuflucht zu nehmen. An sich selbst sind aber diese Sätze f ü r die Bewegungen fester Körper vollkommen gültig u n d haben, wie gleich gezeigt wird, auch glänzende Bestätigungen erfahren. Der Ausgangspunkt U e b e r w e g s bei wegungen fester Körper war folgender:
der
Analyse
der
Be-
»Ein materieller, fester Körper kann nach dem Zeugnis der Sinne 1), wenn er unbefestigt ist, überallhin gelangen, wo sich nicht schon ein anderer fester Körper befindet; 2) derselbe, an einer einzelnen Stelle festgehalten, kann sich nicht mehr unbeschränkt überallhin bewegen, ist aber doch nicht aller Bewegungen beraubt; 3) außerdem noch an einer zweiten Stelle festgehalten, kann derselbe an keiner Stelle mehr alle bei 2 möglichen Bewegungen machen, aber doch immer noch bewegt werden; 4) wird aber eine dritte Stelle des Körpers befestigt, die bei 3 noch bewegt werden konnte, so wird alle Bewegung derselben überhaupt unmöglich." Wie W . K i l l i n g in der » E i n f ü h r u n g in die G r u n d l a g e n der G e o m e t r i e " zuerst hervorgehoben hat, sind diese Ausgangspunkte U e b e r w e g s mit den drei A n n a h m e n ziemlich identisch, welche H e l m h o l t z i m J a h r e 1867 b e i s e i n e n b e r ü h m t e n Unters u c h u n g e n über die R i e m a n n s c h e n R a u m f o r m e n benutzte. U n t e r s u c h u n g e n , die später S o p h u s L i e in seiner Theorie der Transformationsgruppen weiter entwickelt hat. Auch die Resultate, zu denen U e b e r w e g bei jener Analyse gelangt ist, decken sich so ziemlich mit denen von H e l m h o l t z und S o p h u s L i e . So vermochte auch U e b e r w e g aus den Bewegungen fester Körper die drei Eigenschaften des Raumes, Gleichmäßigkeit, Kontinuität und Unendlichkeit, abzuleiten. Auch die Bedeutung der G r u p p e n , die er als R e i h e n bezeichnete, erkannte U e b e r w e g ganz richtig. Selbstverständlich sind die Methoden u n d die Beweisführungen von H e l m h o l t z u n d S o p h u s L i e viel strenger und präziser entwickelt, als dies bei U e b e r w e g der Fall ist. Manches hat er n u r geahnt, was seine Nachfolger streng bewiesen haben; seine U n t e r s u c h u n g ist aber deshalb um so bewunderungswürdiger.
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
61
§ 3. Der physiologische Ursprung der Axiome E u k l i d s . Die Frage nach dem U r s p r ü n g e der Axiome E u k l i d s beschäftigte hauptsächlich die Mathematiker; und zwar waren ihre Bemühungen meistens darauf gerichtet, Beweise f ü r das elfte Axiom, das Parallelenaxiom, zu finden. »In der Theorie der Parallellinien", schrieb G a u s s (S. 166), »sind wir jetzt noch nicht weiter als E u k l i d war. Dies ist die p a r t i e h o n t e u s e der Mathematik, die f r ü h oder spät eine ganz andere Gestalt bekommen m u ß " . Das elfte Axiom oder die fünfte F o r d e r u n g , wie man jetzt mit Vorliebe sagt, lautet bei E u k l i d : „ W e r d e n z w e i g e r a d e L i n i e n v o n e i n e r d r i t t e n so g e s c h n i t t e n , d a ß die b e i d e n i n n e r e n , an e i n e r l e i Seite der schneidenden L i n i e liegenden Winkel zusammen k l e i n e r als zwei R e c h t e s i n d , so t r e f f e n d i e s e b e i d e n L i n i e n g e n u g s a m v e r l ä n g e r t an e b e n d e r S e i t e z u s a m m e n « . 1 Die Notwendigkeit dieses Grundsatzes ist bei weitem nicht so selbstverständlich, wie die der übrigen Axiome E u k l i d s , die er als allgemeine Begriffe (notions communes) hingestellt hat. Sie bedarf also des Beweises. A u s d e n v e r g e b l i c h e n B e m ü h u n g e n d e r M a t h e m a t i k e r , e i n e n s o l c h e n B e w e i s z u f i n d e n , ist die Geometrie der Nicht-Euklidischen R a u m f o r m e n entstanden. An der Unmöglichkeit, die reale Existenz dieser Raumformen ernsthaft zu beweisen, mußten sie scheitern. Durch den Nachweis des physiologischen U r s p r u n g s der Axiome E u k l i d s ist die Unhaltbarkeit dieser Nicht-Euklidischen Raumformen direkt erwiesen. Auf die Geschichte ihres Entstehens und Vergehens soll hier nicht näher eingegangen werden. Ich verweise auf Kap. VI meines» Ohrlabyrinths", wo auch das Wesen und die Lücken dieser imaginären Geometrie klargelegt wurden. Die Entwicklung meiner Lehre vom sinnlichen U r s p r u n g der E u k l i d i s c h e n Geometrie, wie er durch meine beinahe vierzigjährigen experimentellen Untersuchungen erwiesen wurde, hat eben zur Entdeckung des geometrischen Sinnesorgans im O h r labyrinth geführt. Verfolgt man die während der letzten Jahrhunderte sich wieder1
W o nicht das Gegenteil gesagt wird, sind die Zitate aus E u k l i d der Ü b e r s e t z u n g von J. F r . L o r e n z (1781) e n t n o m m e n . Dieselbe ist genau nach dem griechischen Text angefertigt u n d w u r d e später (1808—1824) von M o l l w e i d e verbessert.
62
Zeit u n d R a u m
holenden B e m ü h u n g e n , mathematische Beweise f ü r die Axiome E u k l i d s oder f ü r deren Abhängigkeit voneinander zu finden, so begegnet man dem Begriffe der R i c h t u n g als Leitmotiv bei den meisten der vorgeschlagenen Lösungen. Bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts beherrschte dieser scheinbar so klare Begriff die Bestrebungen der Mathematiker und Philosophen. Sogar L o b a t s c h e w s k y , der erste Erfinder der neuen Geometrie, machte noch den Versuch, mit Hilfe der R i c h t u n g das elfte Axiom zu beweisen, indem er die Parallellinien als Linien gleicher Richtung definierte. 1 Im Nachlaß und Briefwechsel von G a u s s taucht der Begriff der Richtung sehr häufig bei den Versuchen auf, eine Theorie der Parallellinien zu entwickeln. In den berühmten Aufsätzen von S i r J o h n H e r s c h e l , erschienen im Q u a r t e r l y R e v i e w , in denen er zugunsten S t u a r t M i l l s gegen W h e w e l l in der Streitfrage über den U r s p r u n g unserer Raumbegriffe Stellung g e n o m m e n hatte, wird manchmal die Entscheidung in dem Begriffe der Richtung gesucht: „ N u n ist die einzige klare Vorstellung, die wir uns von d e r G e r a d heit der Linie machen können, Gleichförmigkeit der Richt u n g , d e n n d e r R a u m i s t in d e r l e t z t e n A n a l y s e n i c h t s a l s eine Menge von E n t f e r n u n g e n und Richtungen." Auch U e b e r w e g hat in seiner schon zitierten Arbeit beim synthetischen Aufbau der Geometrie mit Erfolg die „Richtung" als G r u n d l a g e benutzt. In neuester Zeit hat R i e h l einen bemerkenswerten Versuch gemacht, mit Hilfe von R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n das ganze R a u m p r o b l e m zu lösen. Leider hat er die Richtungse m p f i n d u n g e n von den problematischen Bewegungsempfindungen abzuleiten gesucht und daran scheiterte sein Versuch. Den sonst ganz richtigen Gedanken R i e h l s hat unlängst (1890) H e y m a n s von neuem aufgenommen. Meine Untersuchungen über die Existenz eines besonderen Sinnesorgans f ü r die Richtungsempfindungen waren ihm aber unbekannt. Mit den Bewegungsempfindungen allein vermochte er daher ebensowenig vorwärts zu kommen, wie sein Vorgänger. W e n n die V e r w e n d u n g des Begriffs der Richtung nicht imstande war, einen entscheidenden Erfolg in der Geometrie zu erlangen, so lag dies an der Schwierigkeit, eine genaue Definition 1
S w i n d e n im Jahre 1700 u n d C. F. J a c o b i die gleiche A u f f a s s u n g vertreten.
im Jahre 1824 haben
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
63
der „Richtung" zu geben. Die Mathematiker legten aber merkwürdigerweise gerade auf diese D e f i n i t i o n ein besonderes Gewicht. G a u s s suchte gegen diese Tendenz zu reagieren, aber vergebens. Dies ist um so mehr zu bedauern, als, wie aus dem folgenden Zitate klar hervorgeht, G a u s s d e n p h y s i o l o g i s c h e n U r s p r u n g d e s Begriffes der R i c h t u n g sicherlich g e a h n t hat . . . „Der U n t e r s c h i e d zwischen Rechts und Links läßt sich aber n i c h t d e f i n i e r e n , s o n d e r n n u r v o r z e i g e n , so d a ß es d a m i t eine ä h n l i c h e B e w a n d t n i s hat, wie mit Süß und Bitter. O m n e simile claudicat aber; das letztere gilt n u r f ü r W e s e n , d i e G e s c h m a c k s o r g a n e h a b e n , das erstere f ü r a l l e G e i s t e r , d e n e n d i e m a t e r i e l l e W e l t a p p r e h e n s i b e l ist. Zwei solche Geister aber können sich über Rechts u n d Links nicht anders unmittelbar verständigen, als indem ein und dasselbe materielle, individuelle D i n g eine Brücke zwischen ihnen schlägt, ich sage unmittelbar: da auch A sich mit Z verständigen kann, indem zwischen A und B eine materielle Brücke, zwischen B und C eine andere usw. geschlagen werden oder worden sein kann. Welche Geltung diese Sache in der Metaphysik hat, und daß ich darin die schlagende W i d e r l e g u n g von K a n t s Einbildung finde, der Raum sei b l o ß die F o r m unserer äußeren Anschauung, habe ich succinct in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen 1831, S. 6 3 5 ausgesprochen." (Brief an Schumacher vom 8. Februar 1846, S. 247). Diese W o r t e des bedeutendsten Mathematikers des vorigen Jahrhunderts könnten als Motto dieses Paragraphen gelten; sie enthalten die wesentliche G r u n d l a g e der hier gegebenen Lösung des Raumproblems. Die drei G r u n d r i c h t u n g e n : sagittal, transversal u n d vertikal sind G r u n d e m p f i n d u n g e n wie S ü ß und B i t t e r oder wie R o t , G r ü n u n d V i o l e t t . Die Brücken, welche erforderlich sind, um eine Verständigung zwischen den verschiedenen Geistern zu ermöglichen — die erste V o r b e d i n g u n g f ü r die wissenschaftliche Behandlung einer Frage — , diese Brücken sind durch die Untersuchungen errichtet w o r d e n , welche die Existenz eines besonderen Sinnesorgans festgestellt haben, das dazu bestimmt ist, uns drei verschiedene Richtungsempfindungen zu geben. Die Unmöglichkeit einer Verständigung über den Begriff der R i c h t u n g brachte es mit sich, daß in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts dieser Begriff als eine der G r u n d l a g e n der Geometrie ganz zurückgestellt und bei der Lösung des Raumproblems
64
Zeit u n d
durch den B e g r i f f des A b s t a n d e s hat
diesen
letzteren
Begriff
für
Raum
ersetzt wurde. die
Deutung
Schon
des
Proklos
elften
Axioms
benutzt.
D i e Definition der parallelen Linien als Linien von g l e i c h e m
Abstand
(äquidistante Linien) hat seither m e h r m a l s die Mathematiker
angezogen.
Wenn
der B e g r i f f
des A b s t a n d e s
ü b e r den der R i c h t u n g davongetragen
endlich
dank der P h y s i o l o g i e o d e r richtiger der physiologischen der Analyse
der B e w e g u n g e n
lich der S e h r a u m
Sieg
fester K ö r p e r
Optik.
Bei
k o m m t fast ausschließ-
in Betracht und der Abstand als eine durch
Augenmaß
bestimmbare
mußte
der V e r w e r t u n g
bei
den
hat, so geschah dies teilweise
oder,
richtiger,
dieser Analyse
wahrnehmbare
das
Größe
für die Erkenntnis
des
wirklichen R a u m e s notwendigerweise eine h e r v o r r a g e n d e R o l l e spielen. Darum
glaubte
auch
Helmholtz
kämpfen zu müssen. wieder n u r durch Circulus
vitiosus.
in
geraden
jeder
•
Wenn
wäre,
den
Begriff
Richtung
Richtung Linie
ist s o g a r der speziellere B e g r i f f ,
gibt es zwei entgegengesetzte
wendung
des
bilden. 2
D i e analoge Schwierigkeit,
Rot,
Grün
Young
Begriffs
und
aufzubauen.
der
Violett
und
Richtung
bzw. Blau
Helmholtz
als
denn
Richtungen."1
eine Definition der R i c h t u n g auch in der Tat
auch
bedoch
die gerade L i n i e ; hier bewegen wir uns in einem
so dürfte dies kein u n ü b e r w i n d l i c h e s
sollte der
der
» W i e soll man a b e r R i c h t u n g definieren,
unmöglich
H i n d e r n i s für die V e r -
Grundlage
der
Geometrie
andere
Empfindungen,
genauer
zu
nicht
definieren,
verhindert,
die
wie
hat
ja
Farbenlehre
U m eine solche V e r w e n d u n g f r u c h t b r i n g e n d zu machen, Nachweis
genügen:
D i e Begriffe
der
Richtung
beruhen
e b e n s o auf sinnlichen E m p f i n d u n g e n , wie die B e g r i f f e von R o t
und
Grün
Einen solchen Nachweis haben
aber
in ü b e r z e u g e n d e r W e i s e schon im J a h r e
1878
oder S ü ß
und B i t t e r .
meine Untersuchungen geliefert. 1
Letzteres
wechslung
der
der Richtung,
beruht,
wie
Richtung
als
die n u r
schon
oben
Eigenschaft
eine B e z i e h u n g
gezeigt des
wurde,
Raumes
auf
einer
mit d e m
dieser E i g e n s c h a f t
zu
Ver-
Sinne
unserem
Ich
bedeutet. 4
E s gibt a b e r a u c h
Geometrie,
die
h e r v o r r a g e n d e Vertreter der
den Begriff des A b s t a n d e s Geometrie,
Nicht-Euklidischen
es für deren weitere E n t w i c k l u n g erforderlich h a l t e n ,
gleichwie
sie den
aufzugeben.
So
schreibt K i l l i n g :
Begriff d e r R i c h t u n g
a x i o m geforderten Sinn hat aufgeben m ü s s e n ,
in d e m
vom
« . . .
auch Die
Parallel-
so a u c h den Begriff des A b -
standes als G r u n d b e g r i f f nicht wird festhalten können, u n d s o m i t weit über Nicht-Euklidische
Raumformen
in e n g e r e m Sinne
hinausgehen
muß. . ."
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
65
Es soll nun hier der Versuch gemacht werden, die Definitionen u n d Axiome E u k l i d s auf ihren natürlichen U r s p r u n g aus den sinnlichen W a h r n e h m u n g e n des Bogengangsapparates zurückzuführen. Weit davon entfernt, die Einzelheiten der n u n folgenden Demonstration als endgültig hinzustellen, soll dieser Versuch n u r dazu dienen, die Ü b e r z e u g u n g zu wecken, daß die naturgemäßen G r u n d lagen der E u k l i d i s c h e n Geometrie auf den sinnlichen W a h r n e h m u n g e n des Richtungssinnesorgans beruhen. Die weitere Ausnützung dieser G r u n d l a g e n von Seiten maßgebender Mathematiker wird dann sicherlich nicht ausbleiben. Es sollen daher hier n u r einige der wichtigsten geometrischen Definitionen E u k l i d s berücksichtigt werden. Die gerade Linie wird von E u k l i d folgendermaßen definiert: »Eine gerade Linie ist diejenige, welche zwischen allen in ihr befindlichen Punkten auf e i n e r l e i Art liegt." (Lorenz.)1 Recta linea est, quaecunque ex aequo punctis in ea sitis jacet. a Die französische Übersetzung, wie sie K ö n i g ebenfalls nach dem griechischen Text gibt, hat den gleichen Sinn: „La ligne droite est celle qui est é g a l e m e n t s i t u é e entre ses extrémités." Der Begriff der geraden Linie, welchen E u k l i d definieren wollte, erscheint ganz klar: eine Linie, die gegen alle ihre Punkte auf e i n e r l e i A r t gelegen ist, will sagen, e i n e L i n i e , d i e n a c h k e i n e r S e i t e h i n a u s b i e g t , deren Punkte alle g l e i c h m ä ß i g , d. h. in derselben Richtung gelegen sind. Die gerade Linie ist die Linie e i n e r Richtung. U e b e r w e g glaubte dieser Definition eine strengere wissenschaftliche B e g r ü n d u n g zu geben, indem er die R i c h t u n g aus der Bewegung fester Körper abzuleiten suchte: „Diejenige Linie, welche bei der D r e h u n g um zwei ihrer Punkte in s i c h b l e i b t , heißt gerade." An sich ist eine solche Definition schon zulässig, um so m e h r als auch die D r e h u n g eine R i c h t u n g voraussetzt. Sie ist aber f ü r die h i e r in B e t r a c h t k o m m e n d e F r a g e k e i n e s f a l l s zu1 D i e v o n den Nicht-Euklidianern bevorzugte Übersetzung von H e i b e r g lautet folgendermaßen: „Eine Linie ist gerade, wenn sie gegen die in ihr befindlichen Punkte auf einerlei Art gelegen ist." 2 Der griechische Text E u k l i d s lautet: Jtv&eia YQi'ffJ'i iaxiv, ¡¡ng ¿f Xaov tolg s'tp' e'avi% arnieioig xsiiai. C l a v i u s hat folgende D e u t u n g dieser Definition vorgeschlagen: N u l l u m punctum intermedium ab extremis sursum aut deorsum vel huc vel illuc flectendo subsaltat."
E. v. C y o n ,
Qott und Wissenschaft.
Bd. 2.
5
66
Zeit und Raum
treffend.
W e n n man den U r s p r u n g
Euklids
nachforschen will, d a n n
Ideengang
oder
Voraussetzungen
der
Definitionen u n d
Axiome
ist es nicht gestattet, ihm einen unterzuschieben,
die
er
schon
d a r u m nicht haben k o n n t e , da sie erst im Laufe des vorigen Jahrh u n d e r t s entstanden sind.
Es ist sicherlich kein Zufall, d a ß E u k l i d
im ersten Buche den Begriff d e r B e w e g u n g ausgeschlossen hat.
Die
Begriffe d e r R i c h t u n g u n d d e r Lage g e n ü g t e n ihm vollständig, u m die in diesem B u c h e v o r k o m m e n d e n G r ö ß e n zu definieren u n d
um
gewisse Axiome, die er als allgemeine Begriffe (notions c o m m u n e s ) auffaßte, zu f o r m u l i e r e n . Nur
beim A x i o m
gegriffen h a b e n . Axiom
lautet:
der Kongruenz
A b e r auch
soll E u k l i d
zur
Bewegung
dies erscheint zweifelhaft.
„ Q u a e sibi m u t u o c o n g r u u n t ,
D a s achte
s u n t aequalia",
d. h.
» G r ö ß e n , die a u f e i n a n d e r p a s s e n , sind e i n a n d e r g l e i c h " ( L a m b e r t ) , o d e r » W a s e i n a n d e r deckt, ist e i n a n d e r g l e i c h "
(Lorenz);
»Les
g r a n d e u r s qui c o n v i e n n e n t sont égales et semblables et réciproquement"
(König).
Die älteren Mathematiker auf
den
Satz
direkt d u r c h
der Gleichheit
haben
1
viel richtiger die
Kongruenz
(similitude) z u r ü c k g e f ü h r t ,
die A n s c h a u u n g
g e g e b e n ist. 2
der
uns
W i e sollen auch an
B e w e g u n g e n r e a l e r K ö r p e r g e m a c h t e E r f a h r u n g e n z u m Satze der Kongruenz führen? kongruent
oder
W o sind d e n n solche Körper, die v o l l k o m m e n
auch
nur vollkommen
gleich w ä r e n ?
k o m m e n e K o n g r u e n z k o m m t eigentlich n u r in u n s e r e m
Eine
voll-
Bewußtsein
zustande, u n d zwar meistens d u r c h V e r s c h m e l z u n g zweier identischer N e t z h a u t b i l d e r o d e r d u r c h W a h r n e h m u n g identischer E i n d r ü c k e von zwei z w a r v e r s c h i e d e n e n , a b e r g l e i c h e r s c h e i n e n d e n
Dingen.
W i e d e m auch sei, bei d e r Definition d e r geraden Linie hat Euklid
n u r an Lage u n d R i c h t u n g gedacht.
Übereinstimmung. über
den
Entstehung
Ursprung des
D a r ü b e r herrscht volle
Es handelt sich also bei u n s e r e m jetzigen Wissen der
Richtungsempfindungen
Begriffs der
Richtung p h y s i o l o g i s c h
zu
geraden
Linie
als
nur der
darum, Linie
die
einer
begründen.
1 So z. B. K ö n i g : „Pour Euclide congruence est une notion commune", die mit dem großen Prinzip der Gleichheit verbunden ist (6. Buch). 2 F. K l e i n hat gezeigt, daß man die projektivische Geometrie ohne Zuhilfenahme der Bewegung aufbauen könne, indem man sie durch die Vergleichung ersetzt. „Jede Strecke, jeder Winkel ist sich selbst kongruent" ( H i l b e r t ) . Dies wird also nicht durch die Bewegung gelehrt.
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
67
Es wurde oben die funktionelle Bedeutung der Beherrschung der Augenmuskeln durch die Bogengänge des Ohrlabyrinths erörtert und gezeigt, w a r u m eine jede E r r e g u n g der Ampullennerven zugleich mit der E r z e u g u n g einer Richtungsempfindung gewisse Augenbewegungen auslöst, welche die Blicklinie in die e m p f u n d e n e Richt u n g , d. h. zur Quelle dieser E r r e g u n g wenden. Kann die Augenb e w e g u n g allein eine solche Richtung der Blicklinie nicht erzielen, so rufen die Ampullennerven auf reflektorischem W e g e die erforderlichen Kopf- resp. Körperbewegungen hervor. D e r k ü r z e s t e W e g , d e r von d e r E r r e g u n g s q u e l l e zu d e r Nervenstelle führt, wo eine bestimmte Richtung e m p f u n d e n w i r d , gibt die g e r a d e Linie d i e s e r R i c h t u n g an; die Blickl i n i e v e r a n s c h a u l i c h t d i e s e g e r a d e L i n i e . Die ideale Richt u n g ist ihrem Wesen nach u n b e g r e n z t . Dagegen ist die ihr entsprechende oder richtiger mit ihr zusammenfallende gerade Linie b e g r e n z t , einerseits durch den Ausgangspunkt der Erregung, andererseits durch den Punkt, wo diese E r r e g u n g wahrgenommen wird. Sie ist gleich dem A b s t ä n d e zwischen diesen beiden Punkten. A b e r d i e s e g e r a d e L i n i e k a n n s e l b s t v e r s t ä n d l i c h in d e r ihr e n t s p r e c h e n d e n Richtung nach Willkür verlängert 1 werden. Aus dieser durch den U r s p r u n g der idealen geraden Linie bedingten Fähigkeit entstand die zweite F o r d e r u n g E u k l i d s : j e d e b e g r e n z t e g e r a d e L i n i e s t e t i g in g e r a d e r R i c h t u n g z u v e r längern. Psychologisch könnte man also die gerade Linie etwa so definieren: d i e i d e a l e g e r a d e L i n i e i s t d i e v e r a n s c h a u l i c h t e Vorstellung einer empfundenen Richtung. Die Entstehungsweise des Begriffs der geraden Linie bedingt es, daß die gerade Linie die kürzeste Linie zwischen zwei Punkten ( A r c h i m e d e s ) ist und rechtfertigt auch die Definition von L e g e n d r e : » L a d r o i t e e s t le p l u s c o u r t c h e m i n d ' u n p o i n t ä u n a u t r e . " Es w u r d e dieser Definition der Vorwurf gemacht, sie bedürfe noch einer Definition des „ W e g e s " . Dieser „ W e g " oder A b s t a n d fällt •aber mit der »Richtung« zusammen, wie wir sahen. Die Definition von L e g e n d r e kommt daher dem physiologischen U r s p r u n g der 1
Bei V e r l ä n g e r u n g dieser geraden Linie über den letzteren P u n k t h i n a u s ändert sich das Vorzeichen (oder der Sinn) ihrer R i c h t u n g (siehe § 1). 5*
68
Zeit und Raum
idealen geraden Linie noch viel näher. Die Definition der geraden Linie als des kürzesten Weges zwischen zwei Punkten m u ß f ü r die Vertreter der N i c h t - E u k l i d i s c h e n Geometrie sehr unbequem sein. W i e oben gezeigt wurde, beruht die Möglichkeit von Dreiecken, in denen die Winkelsumme kleiner oder g r ö ß e r als zwei Rechte sein soll, auf dem Ersatz der geradlinigen Seiten der Dreiecke durch gekrümmte. Die Möglichkeit der Nicht-Euklidischen Raumformen beruht also im G r u n d e auf der A n n a h m e , daß in krummseitigen Dreiecken die W i n k e l s u m m e eine andere sein kann. Die Schwäche dieser G r u n d l a g e der imaginären Geometrie springt in die Augen. H e l m h o l t z hat daher versucht, in seinem berühmten Vortrage vom Jahre 1870 den Z u h ö r e r n die neuen R a u m f o r m e n , in denen die Axiome E u k l i d s ungültig sein sollen, dadurch mundgerecht zu machen, daß er die Definition der geraden Linie von L e g e n d r e , die gerade Linie sei der kürzeste W e g zwischen zwei Punkten, u m kehrte. Für die Bewohner der Oberfläche einer Kugel gebe es viele kürzeste Linien zwischen zwei Punkten, also auch viele gerade Linien! A l b e r t K r a u s e hat schon den logischen Fehler solcher U m k e h r u n g eines Satzes hervorgehoben. Alle Affen sind Tiere, deswegen sind aber nicht alle Tiere Affen. . . Neuestens hat auch H. P o i n c a r é in seinem Werke «La Valeur de la Science" die Berechtigung eines solchen Ersatzes der geradlinigen Seiten der Dreiecke durch gekrümmte folgendermaßen zu beweisen versucht: » D o n n e r aux côtés des premiers (Dreiecke mit geradlinigen Seiten) le nom de droites, c'est adopter la géométrie euclidienne; d o n n e r aux côtés des derniers (mit gekrümmten Seiten) le nom de droites, c'est adopter la géométrie non-euclidienne. D e sorte que, d e m a n d e r quelle géométrie convient-il d'adopter c'est demander à quelle ligne convient-il de d o n n e r le nom de la droite". P o i n c a r é fügt noch hinzu, daß man ebenso berechtigt ist, eine k r u m m e Linie als gerade zu bezeichnen, wie man eine gerade Linie nach Belieben als A B oder als C D bezeichnen kann. D i e g a n z e F r a g e w i r d a l s o a u f e i n e A r t W o r t s p i e l r e d u z i e r t . Unter gerader Linie (ligne droite) wird in allen Sprachen seit Jahrtausenden eben eine Linie, die gerade ist, und nicht eine gekrümmte (curviligne) verstanden, welche der hier angeführten Definitionen dieser geraden Linie auch sonst ang e n o m m e n wäre. So weitgehende Schlüsse, wie sie die Nicht-Euklidische Geometrie über das Vorhandensein von Räumen mit n-Dimensionen abzuleiten
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
69
pflegt, b e d ü r f e n einer g a n z a n d e r e n B e g r ü n d u n g als des Nachweises, d a ß die W i n k e l s u m m e in imaginären Dreiecken mit negativem
oder
positivem K r ü m m u n g s m a ß e kleiner o d e r g r ö ß e r als zwei Rechte sein kann.
Z u m Nachweise, d a ß die Netzhaut auch h ö r e n
es nicht g e n ü g e n ,
im S p r a c h g e b r a u c h e
das Wort
kann, w ü r d e
Gesichtswahr-
n e h m u n g e n als identisch mit G e h ö r s Wahrnehmungen e i n f ü h r e n zu wollen. Euklid
hat seine Definition nicht n u r d u r c h die eben zitierte
zweite F o r d e r u n g vervollständigt u n d präzisiert, s o n d e r n auch das zwölfte A x i o m : » Z w e i g e r a d e L i n i e n k ö n n e n einschließen", Punkte
durch
keinen
Raum
o d e r was dasselbe ist, k ö n n e n sich n u r in
einem
schneiden.
Auch dieses Axiom bestätigt ebenso wie die zweite
Forderung
den physiologischen U r s p r u n g des Begriffs d e r geraden Linie. folgt
unmittelbar
aus
der
Wahrnehmung
und aus ihrer Projektion nach außen.1 Richtungsempfindungen sein z u s a m m e n .
treffen
nur
der
Die
in
Es
Richtung
verschiedenen
unserem
Bewußt-
In welchem Sinne sie auch verlängert, d. h. p r o -
jiziert werden, sie m ü s s e n d i v e r g i e r e n : die verschiedenen Richtungen schneiden sich n u r einmal i n u n s e r e m
Bewußtsein.
D e r ü b e r z e u g e n d e Beweis, d a ß der Begriff der geraden als Linie
der
nehmungen
gleichen
Richtung
des O h r l a b y r i n t h s
seinen
hat,
Ursprung
wird
durch
liefert, d a ß a l l e T i e r e u n d M e n s c h e n , tionierendes Ohrlabyrinth die gerade schlagen um
mit
Linie als
den
der größten
am schnellsten zu
besitzen
den
die ein n o r m a l nur
kennen.
die geradlinige
ihrem Ziele zu gelangen.
sie die Straße kreuzen
o d e r u m eine Straßenecke
—
N u r sie
Richtung
Man
ge-
funk-
solche
ein,
beobachte
z. B. Brieftauben, w e n n sie auf d e m H e i m w e g begriffen sind, wenn
Linie Wahr-
die Tatsache
— und
kürzesten Weg
Präzision
in
Hunde,
umbiegen,
auf der Jagd gehetzte Tiere, die auf der Flucht begriffen sind, u n d m a n wird e r s t a u n e n , mit welcher Präzision sie jedesmal ihre Richt u n g wechseln u n d die D i a g o n a l e einzuschlagen verstehen, u m ihren W e g abzukürzen.
Kinder, die das G e h e n erst zu lernen
beginnen,
m a c h e n die g r ö ß t e A n s t r e n g u n g , u m in g e r a d e r Richtung zu gehen, sobald sie zu einem Ziele gelangen Dagegen 1
bewegen
wollen.
sich Tiere, die kein O h r l a b y r i n t h
besitzen,
Wie bei allen Empfindungen unserer äußeren Sinnesorgane.
70
Zeit u n d R a u m
und wenn sie mit Hilfe ihrer Gesichts- und G e r u c h i o r g a n e noch so vollkommen sich zu orientieren verstehen, wie z. B. Bienen und Ameisen, n u r in Halbkreisen und in Bogen: die g e r a d e L i n i e i s t i h n e n u n b e k a n n t 1 (siehe Kap. IV, § 8 des »Ohrlabyrinths"). Bei d e r e r s t e n K a t e g o r i e v o n T i e r e n v e r m ö g e n a n g e borene oder e r w o r b e n e Defekte des Bogengangsapparates d i e K e n n t n i s d e r g e r a d e n R i c h t u n g a u f z u h e b e n , wie dies an gewissen japanischen Tanzmäusen, an N e u n a u g e n , 2 an speziell operierten T a u b e n , Fröschen, Kaninchen usw. zu sehen ist, und zwar a u c h d a n n , w e n n i h r e G e s i c h t s o r g a n e v o l l k o m m e n intakt sind. Auch beim Menschen kann die Kenntnis der g e r a d e n L i n i e m o m e n t a n o d e r auf l ä n g e r e Zeit a u f g e h o b e n w e r d e n d u r c h K r a n k h e i t e n des O h r l a b y r i n t h s , d u r c h Intoxikationen, u n g e w o h n t e B e w e g u n g e n , wie das Schaukeln, D r e h u n g e n um die L ä n g s a c h s e und alle a n d e r e n Störungen der harmonischen Beziehungen zwischen dem Raum- und Gesichtssinn.3 Die zahlreichen Versuche und Betrachtungen, welche diese Tatsachen in unzweifelhafter Weise festgestellt haben, lassen nur die e i n e D e u t u n g zu: D e r B e g r i f f d e r g e r a d e n L i n i e , d i e s e r fundamentalen R a u m g r ö ß e der Geometrie, rührt von den R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n des O h r l a b y r i n t h s her. Der Nachweis des natürlichen U r s p r u n g s der von E u k l i d gegebenen Definition der geraden Linie ermöglicht auch, die Schwierigkeiten zu beheben, welche seine Definition der Parallellinien bis jetzt geboten hat: „Parallel sind gerade Linien, die in derselben Ebene liegen und auf keiner der beiden Seiten zusammentreffen, soweit man sie auch verlängern mag."
1
Mit dieser U n k e n n t n i s der geraden R i c h t u n g rechnen auch die meisten Fliegen- u n d Insektenfänger, die d u r c h gewisse riechende Substanzen die Tiere d u r c h eine relativ weite Ö f f n u n g in einen geschlossenen R a u m locken: die gefangenen Tiere gehen u m die E i n g a n g s ö f f n u n g h e r u m , o h n e den Ausweg zu f i n d e n , weil sie die gerade Richtung nicht einzuschlagen verstehen. 2 Solche ein- u n d zweidimensionalen Wesen gibt es nicht. Wesen aber, d i e n u r e i n e o d e r z w e i R i c h t u n g e n d e s R a u m e s e m p f i n d e n , bewegen sich nie geradlinig, sondern n u r im Zickzack u n d in Kreisen (siehe Kap. IV, §§ 1—6 des „Ohrlabyrinths". 3
Siehe „ O h r l a b y r i n t h " , Kap. II, §§ 7 u. 8, u n d Kap. III, §§ 4 u. 5.
Der geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
71
Die Schwierigkeit lag hauptsächlich in der Unmöglichkeit, den Beweis zu erbringen, daß die gezeichneten Linien wirklich gerade Linien seien, die in einer Ebene liegen. U m zur Erklärung der Parallellinien zu gelangen, nehmen die Mathematiker zu dem Begriffe d e r R i c h t u n g oder dem des A b s t a n d e s ihre Zuflucht (siehe oben). Beide Begriffe sind, wie eben gezeigt worden, physiologischen U r s p r u n g s und sind zugleich bestimmend f ü r die Definition der geraden Linie von E u k l i d . Dadurch wird schon d e r n a t ü r liche U r s p r u n g der Parallelen und auch die B e r e c h t i g u n g i h r e r o b i g e n D e f i n i t i o n d i r e k t b e w i e s e n . Der physiologische U r s p r u n g unserer Vorstellung der Parallelen w u r d e außerdem durch die an Menschen ausgeführten Versuche über Täuschungen in der W a h r n e h m u n g der Parallelrichtung in ganz klarer Weise dargetan. Diese Versuche sind in Kap. V, § 12 des «Ohrlabyrinths" ausführlich dargelegt. Sie sind sehr leicht a u s f ü h r b a r und ihre Ergebnisse sind von einer solchen Konstanz, daß jedermann sie wiederholen kann. Ihr wichtigstes Resultat ist, daß unsere W a h r n e h m u n g der Parallelrichtung vorzüglich durch die Empfindungen der sagittalen Bogengänge zustande k o m m t , wahrscheinlich mit Zuhilfenahme der vertikalen. U n d zwar in der Weise, daß identische Reize, die gleichzeitig die Nervenenden der rechten Sagittalen und linken Vertikalen (und umgekehrt) erregen, die E m p f i n d u n g des Parallelismus erzeugen. Im nächsten Kapitel wird die Ansicht ausgesprochen w e r d e n , daß die W a h r n e h m u n g der G l e i c h z e i t i g k e i t von Erscheinungen wahrscheinlich auf demselben Mechanismus beruht. D e m g e m ä ß fällt es nicht schwer, sich zu überzeugen, daß Kinder und Erwachsene, wenn sie auch keinerlei geometrischen Unterricht genossen haben, sehr gut wissen, daß parallele Richtungen nicht zusammentreffen können. Eine bloße Nachfrage genügt, um zu zeigen, daß dieses Wissen nicht durch die E r f a h r u n g erlangt ist, sondern auf einer d i r e k t e n A n s c h a u u n g beruht. Auch Tiere kennen diese Eigentümlichkeit der parallelen Richtungen. Man beobachte nur Spiele von Kindern unter sich oder mit Tieren oder auch Tiere, die der Verfolgung zu entweichen suchen. Das im Spiel oder im Ernst verfolgte Tier sucht bei der Flucht immer die gleiche Richtung wie das verfolgende zu bewahren, während im Gegenteil das verfolgende das verfolgte durch d i e A b w e i c h u n g v o n d e r p a r a l l e l e n R i c h t u n g zu erwischen sucht. Wechselt ersteres die Richtung, so schlägt auch sofort das verfolgte d i e s e n e u e R i e h -
72
Zeit und Raum
t u n g e i n , w o b e i es z u g l e i c h d u r c h d a s A u g e n m a ß den g l e i c h e n A b s t a n d z u b e w a h r e n s u c h t . Geschieht das Spiel in einem beschränkten Räume, so sieht man die Verfolgung in Zickzacklinien ausarten. 1 W e n n die Spielenden oder Verfolgten nicht die Vorstellung hätten, daß bei Einhaltung der parallelen Richtungen ein Z u s a m m e n treffen unmöglich sei, so w ü r d e es den Verfolgten doch viel einfacher erscheinen, eine Richtung einzuschlagen, die der des Verfolgers e n t g e g e n g e s e t z t ist. Von Idealisierungen oder Abstraktionen gemachter Erfahrungen kann wohl bei Tieren nicht die Rede sein: diese Ü b e r z e u g u n g i s t i h n e n a l s o d i r e k t d u r c h i h r e S i n n e s wahrnehmungen gegeben. Es liegt hier ebenfalls ein Beispiel des Zusammenwirkens des Ohrlabyrinths mit dem Sehorgan vor, auf welchem die erforderliche Übereinstimmung zwischen dem Sehraume und dem wirklichen Räume beruht. Die Begriffe der R i c h t u n g und des A b s t a n d e s sind die beiden natürlichen G r u n d lagen der Geometrie, eben dank dieser Übereinstimmung, ohne die jede Orientierung u n d jede Lokalisierung unmöglich wäre. Da die den drei Ausdehnungen des Raumes entsprechenden Richtungse m p f i n d u n g e n die bestimmende Rolle bei der Orientierung spielen, so müssen die Bogengänge die Bewegungen der Muskeln beherrschen, welche die Lokalisierung in dem Seh- und Tastraume, die n u r kleine Bruchteile des Weltenraumes sind, besorgen. Bei den Erklärungsversuchen der Definition der Parallelen w u r d e außer der R i c h t u n g u n d dem A b s t a n d auch der Begriff der U n endlichkeit der geraden Linie mehrmals herangezogen, wie er aus der zweiten F o r d e r u n g E u k l i d s folgt. Es ist schon gezeigt worden, daß die Berechtigung diesgr F o r d e r u n g auch in der W a h r n e h m u n g der idealen Richtung liegt (siehe auch § 7 des II. Kapitels). Der Nachweis des physiologischen U r s p r u n g s der Definitionen der geraden Linie und der Parallelen aus den Richtungse m p f i n d u n g e n könnte bei der grundlegenden Bedeutung dieser beiden geometrischen G r ö ß e n f ü r einen ersten Versuch genügen. Es soll aber noch gezeigt w e r d e n , daß auch der U r s p r u n g der anderen Definitionen E u k l i d s ohne Schwierigkeiten in derselben Weise sich herleiten läßt. Noch einige Beispiele sollen daher angeführt werden. 1 Über das Zickzackspiel der Tiere siehe z. B. das interessante Werk von G r o o s : »Die Spiele der Tiere".
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
73
Der Winkel wird von E u k l i d folgendermaßen definiert: »Ein ebener Winkel ist die N e i g u n g zweier Linien, die in einer Ebene zusammentreffen, ohne in g e r a d e r L i n i e zu liegen." Neigung kann keinen anderen Sinn haben wie R i c h t u n g s u n t e r s c h i e d , da ja die W o r t e „ n i c h t in g e r a d e r L i n i e " n u r e i n e D e u t u n g zulassen, nämlich „ n i c h t i n e i n e r R i c h t u n g " . U e b e r w e g , der auch in- dem synthetischen Teil seiner sehr bedeutenden Arbeit so viel Beispiele wirklich außerordentlicher Intuition gegeben hat, formulierte die betreffende Definition E u k l i d s folgendermaßen: „ D e r Unterschied der Richtungen zweier von einem Punkte ausgehender Linien heißt Winkel." Es genügte U e b e r w e g , den Begriff der Richtung bei der Ableitung der E u k l i d i s c h e n R a u m f o r m e n im Geiste gegenwärtig zu h a b e n , um die richtige F o r m u l i e r u n g zu treffen. D e n n auch bei der jetzigen Kenntnis des physiologischen U r p r u n g s des Begriffes R i c h t u n g könnte man den Winkel nicht zutreffender definieren. Es ist kaum nötig, die W o r t e „von einem Punkte a u s g e h e n d e r " durch „in einem Punkt z u s a m m e n t r e f f e n d e r " zu ersetzen; denn wir projizieren ja unsere Empfindungen n a c h a u ß e n . Die Lage der Bogengänge in drei senkrecht zueinander stehenden Ebenen bedingt, daß die Anschauung d e s r e c h t e n W i n k e l s uns unmittelbar gegeben ist. Daher geht auch die Definition dieses Winkels bei E u k l i d derjenigen der anderen (spitzen und stumpfen) Winkel voraus. Die Definition der E b e n e als Fläche, welche „zwischen allen in ihr befindlichen Linien auf einerlei Art gelegen ist", w u r d e von allen Mathematikern als analog der Definition der geraden Linie aufgefaßt. Bei unserem jetzigen Wissen von der Entstehungsweise des Begriffs der geraden Linie liegt es nahe, den Begriff der Ebene auf die identischen Richtungsempfindungen sämtlicher in der Ebene e i n e s b e s t i m m t e n B o g e n g a n g e s gelegenen Nervenenden zurückzuführen. W e r d e n doch die Q u a l i t ä t e n dieser Empfindungen durch die gegenseitige Lage der drei Bogengänge in drei zueinander senkrechten Ebenen bedingt. Die Begriffe der stumpfen und spitzen Winkel lassen sich folgendermaßen erklären: S p i t z e W i n k e l sind dadurch gegeben, daß die verlängerten Ebenen der vertikalen Kanäle (in der Mitte des Türkensattels) und die beiden Sagittalebenen (oberhalb des hinteren Randes des Foramen occipitale) sich kreuzen. S t u m p f e W i n k e l
74
Zeit u n d Raum
werden durch die Ebenen des vertikalen und sagittalen Kanals jeder Seite gebildet. Den Punkt definiert E u k l i d als etwas, « w a s k e i n e T e i l e h a t " . Statt dieser Definition wurden mehrere andere vorgeschlagen, wie z. B. »der Punkt ist die Grenze der Linie" ( L e g e n d r e ) , oder „die Stelle, wo zwei Linien sich kreuzen" ( B l a n c h e t ) . Nach den vorangegangenen Auseinandersetzungen über den U r s p r u n g der geraden Linie bietet die D e u t u n g dieser beiden Definitionen keinerlei Schwierigkeit. Möglicherweise ist aber dennoch die von E u k l i d gegebene Definition physiologisch die präziseste. Es wurde dieser Definition der Vorwurf der zu großen Allgemeinheit gemacht; sie soll z. B. auch auf das Bewußtsein, die Intelligenz oder die Seele bezogen werden können. Dieser Vorwurf deutet aber vielleicht auf den wahren Begriff hin, der E u k l i d bei seiner Definition vorgeschwebt hat: der Punkt, wo alle Richtungsempfindungen zusammentreffen, ist e b e n d a s u n t e i l b a r e S e l b s t b e w u ß t s e i n . Das selbstbewußte I c h , in dem die Richtungen des Raumes sich kreuzen, ist das. was i) keine Teile" oder „keine A u s d e h n u n g " hat. 1 Die Definitionen E u k l i d s sind also, wie ich glaube bewiesen zu h a b e n , keine P o s t u l a t e oder H y p o t h e s e n , wie viele Mathematiker gemeint h a b e n , sondern der A u s d r u c k v o n B e g r i f f e n , die direkt durch die sianlichen W a h r n e h m u n g e n eines b e s o n d e r e n S i n n e s o r g a n s g e b i l d e t s i n d . Die geometrischen Figuren sind i d e a l e R a u m g r ö ß e n und nicht g e o m e t r i s c h e K ö r p e r , wie die Empiristen sie zu bezeichnen pflegen. Sie entstehen aus Erregungen der äußeren Welt und werden bestimmt durch die F o r m unseres Empfindens. E u k l i d s Axiome sind u n m i t t e l b a r e F o l g e r u n g e n aus diesen sinnlichen W a h r n e h m u n g e n , welche in den Definitionen mehr oder weniger präzise formuliert wurden. Sie sind so eng mit den sinnlichen W a h r n e h m u n g e n verknüpft, daß sie uns als durch d i r e k t e A n s c h a u u n g gegeben erscheinen. Sie bedürfen keiner mathematischen B e w e i s e , sondern nur der B e s t ä t i g u n g durch die Erfahrungen an realen Gegenständen. E u k l i d hat sie daher als allgemeine Begriffe (notions communes) hingestellt, ohne Beweise zu g e b e n , die er f ü r überflüssig hielt. Der p h y s i o l o g i s c h e 1
U r s p r u n g der i d e a l e n
Raumgrößen,
Siehe Kap. II und ausführlich im n Ohrlabyrinth", Kap. VII.
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
75
auf welche sich die Axiome E u k l i d s beziehen, ist der G r u n d der apodiktischen Gewißheit, welche ihnen bis gegen die Mitte des vorigen Jahrhunderts auch von denjenigen Mathematikern zuerkannt wurde, die am eifrigsten b e m ü h t waren, mathematische Beweise f ü r das elfte Axiom zu suchen. 1 Die b l o ß e A n s c h a u u n g lehrte schon, d a ß , wenn zwei in einer Ebene liegende gerade Linien mit einer sie schneidenden geraden innere Winkel bilden, die kleiner als zwei Rechte sind, diese geraden Linien n i c h t p a r a l l e l s e i n können, also bei ihrer Verlängerung sich nähern müssen. D a ß sie, wenn genügend verlängert, nicht zusammentreffen, dies folgt aus dem Begriffe der parallelen Richtungen, wie ihn u n s die sinnliche W a h r n e h m u n g aufzwingt. Die Mathematiker, welche, wie R a m u s , C l a i r a u t u. a., immer behauptet haben, es sei u n n ü t z , nach Beweisen zu suchen f ü r e t w a s , w a s a n s i c h v o l l k o m m e n k l a r i s t , hatten, ebenso wie E u k l i d , durchaus recht. Jetzt, wo die natürlichen Grundlagen der geometrischen Definitionen festgestellt sind, wo also auch die Berechtigung der Begriffe von der geraden Linie und den Parallelen nicht mehr bestritten werden kann, jetzt erlangen auch die vielen mathematischen Beweisf ü h r u n g e n des elften Axioms, wie sie von W a l l i s , S a c c h e r i 2 , L a m b e r t u. a. gegeben wurden, ihre volle Gültigkeit. Es kann daher der von R i e m a n n , H e l m h o l t z u . a . gemachte Versuch, die Axiome E u k l i d s wegen der N i c h t - E u k l i d i s c h e n Geometrie als nicht mehr gültig hinzustellen, als mißglückt betrachtet werden. Dieser Versuch verdankt sein Dasein wohl hauptsächlich dem W u n s c h e , der K a n t sehen Lehre ihr Hauptargument, die apodiktische Gewißheit der geometrischen Axiome, zu entziehen. 3 Aber 1
„Euklides ab omni aevo vindicatus", so lautet die berühmte Schrift von S a c c h e r i , die eine Vorläuferin der N i c h t - E u k l i d i s c h e n Geometrie ist. 2 Besonders die drei geometrisch-physikalischen Beweise von S a c c h e r i . 3 R i e m a n n stand bekanntlich ganz unter dem Einfluß der H e r b a r t s c h e n Anschauungen, die auch auf H e l m h o l t z nicht ohne Wirkung geblieben waren. Es ist aber von hohem Interesse festzustellen, daß H e l m h o l t z bis zu Ende an der in seiner H e i d e l b e r g e r Rede ausgesprochenen Ansicht festgehalten hat, die N i c h t - E u k l i d i s c h e Geometrie habe das Raumproblem in einer für K a n t ungünstigen Weise entschieden. Es lagen schon mehrere Anzeichen vor, daß dem nicht so ist. In der zweiten Auflage seiner .„Physiologischen Optik" hat er nirgends der N i c h t - E u k l i d i s c h e n Raumformen gedacht. Der N a m e R i e m an n s wird nur einmal auf S. 336 im Vorbeigehen erwähnt, ohne Bezug auf die hier vorliegende Frage. Da-
76
Zeit und Raum
wie a u s d e r Feststellung d e r natürlichen G r u n d l a g e n
dieser A x i o m e
jetzt
nachweisbaren,
hervorgeht,
anderen
hat
Ursprung
diese
Gewißheit
als die u n s e r e m
einen
direkt
Geiste i n n e w o h n e n d e n
aphoris-
tischen Ideen, nämlich den u n s e r e r sinnlichen W a h r n e h m u n g e n . Notwendigkeit einer s o l c h e n B e k ä m p f u n g s w e i s e Kants
existiert also nicht
Die
der b o d e n l o s e n L e h r e
mehr.
D a ß sämtliche e m p i r i s c h e B e o b a c h t u n g e n
und
Gültigkeit d e r E u k l i d i s c h e n A x i o m e — u n d n u r
Erfahrungen
die
dieser —
vollauf
bestätigen, m u ß t e n ja, wie o b e n gezeigt, a u c h R i e m a n n und
Helm-
holtz
zugeben.
Der
v o r J a h r e n gelieferte N a c h w e i s ,
von d e m d r e i d i m e n s i o n a l e n dungen
der B o g e n g ä n g e
vervollständigt w o r d e n : labyrinths
geben
Räume
gebildet
eine
ist
jetzt
erweitert
und
die wichtigsten natürlichen G r u n d l a g e n d e r Begriffe
scharfe
Nicht-Euklidischen Euklidischen
werden,
Vorstellungen
Richtungsempfin-
D i e p h y s i o l o g i s c h e n V e r r i c h t u n g e n des O h r -
ab, auf w e l c h e n die E u k l i d i s c h e bildet
daß unsere
mit Hilfe d e r
von
Geometrie
Scheidewand Geometrie. den
aufgebaut ist.
zwischen
dieser
Mathematisch
Nicht-Euklidischen
d u r c h das V o r z e i c h e n ihres K r ü m m u n g s m a ß e s
—
und
m ö g e n sich
Raumformen o d e r viel
Das der die nur
sicherer
gegen hat H e l m h o l t z an den Kapiteln, wo die nativistischen und empirischen Raumtheorien diskutiert werden, in der letzten Auflage nichts geändert, mit Ausnahme eines Satzes, der sich eben auf K a n t bezieht: „So betrachtete er namentlich die geometrischen Axiome auch als ursprünglich in der Raumanschauung gegebene Sätze, eine Ansicht, d i e i c h zu w i d e r l e g e n g e s u c h t h a b e " (S. 613), statt „über welche sich noch streiten läßt" (1. Auflage S. 456). W i e A r t h u r K ö n i g in seiner Einleitung sagt, lag es auch nicht in der Absicht von H e l m h o l t z , irgendwelche Änderungen in diesem Teile (von S. 640 an) vorzunehmen. Im Jahre 1880 hatte ich mit H e l m h o l t z eine mehrstündige Besprechung über meine Raumtheorie, die ja in vielen Punkten mit seinen Ansichten schwer zu versöhnen war. Die Beweist'ähigkeit meiner tatsächlichen Ergebnisse gab er gerne zu. Sein Hauptargument gegen meine Lehre bestand darin, daß er die Möglichkeit von Empfindungen der A u s d e h n u n g nicht zugeben konnte, die zu sehr an die nativistische Lehre erinnern. Damals war nur der französische Text meiner Arbeit erschienen, in welchem, um das vieldeutige W o r t „direction" möglichst zu vermeiden, meistens „ s e n s a t i o n s d ' é t e n d u e " statt „sensations de d i r e c t i o n " gesetzt war. Als ich H e l m h o l t z auf diesen Umstand aufmerksam machte, riet er mir angelegentlichst, im deutschen Text nur von den ganz einwandsfreien „Richtungsempfindungen" zu sprechen, die einem physiologisch klaren Begriff entsprächen. Diesen Rat des genialen Meisters habe ich seitdem auch genau befolgt.
Der geometrische Sinn und die physiologischen Grundlagen usw.
77
durch ihre Abhängigkeit oder Unabhängigkeit vom Parallelaxiom — unterscheiden. P h y s i k a l i s c h ist der Unterschied zwischen den beiden Geometrien ein ganz gewaltiger: die E u k l i d i s c h e Geometrie a l l e i n beruht auf unserer sinnlichen Erkenntnis. N u r i h r e Sätze konnten daher durch die E r f a h r u n g u n d durch Messungen im uns zugänglichen Räume bestätigt u n d erwiesen werden. Die »dem gesunden Menschenverstände scheinbar so widerstrebenden Gedankenb i l d u n g e n " ( S t ä c k e l ) der Nicht-Euklidischen Geometrie sind, wie ihr bekannter U r s p r u n g zeigt, reine Produkte der mathematischen Ableitungen von G a u s s , L o b a t s c h e w s k y , B o l y a i , Riemann und Helmholtz. Sie sind also rein transzendentale Schöpfungen einiger hervorragender Geister. Ihre Raumformen sind imaginäre u n d der menschlichen Vorstellung nur sehr schwer, wenn überhaupt zugänglich. Sie widerspricht auch aller Anschauung. Die Bewegungsgesetze fester Körper im sphärischen und pseudosphärischen Räume sind zwar mit Zuhilfenahme variabler Gleichungen mit großer Präzision abgeleitet worden. O b sie aber irgendwo verwirklicht sind, bleibt bis jetzt mehr als problematisch. Von einer Gleichstellung der beiden Geometrien, oder gar von der B e t r a c h t u n g d e r E u k l i d i s c h e n G e o m e t r i e als d e s S p e z i a l f a l l e s e i n e r a l l g e m e i n e n G e o m e t r i e , in d e r v o m P a r a l l e l a x i o m a b g e s e h e n w i r d (F. K l e i n , D a v i d H i l b e r t , H. P o i n c a r é ) , k a n n d a h e r k e i n e R e d e s e i n . E s m a g a n a l y tisch zulässig sein, die e i n z e l n e n A x i o m e als u n a b h ä n g i g v o n e i n a n d e r zu b e t r a c h t e n ; p h y s i k a l i s c h ist d i e s n a c h d e m gemeinschaftlichen Ursprünge der Definitionen und A x i o m e E u k l i d s , besonders von der geraden Linie und den Parallellinien, sicherlich u n s t a t t h a f t . Unser logisches Denken beruht zum Teil auf den Begriffen, die der E u k l i d i s c h e n Geometrie als G r u n d l a g e n gedient haben, so wie diese Geometrie selbst die konsequenteste logische Entwicklung dieser Begriffe ist. F. A. T a u r i n u s , einer der Vorläufer der neuen Geometrie, sagt: « . . . W e n n die Vorstellung des Raumes als die bloße Form der äußeren Sinne betrachtet werden darf, so ist unstreitig das E u k l i d i s c h e System das wahre". D a ß unsere Vorstellungen der geometrischen G r ö ß e n wirklich diesen U r s p r u n g haben, glaube ich zur G e n ü g e festgestellt zu h a b e n . 1 1
Über den Nachweis, daß auch die anderen neueren Geometrien, wie z. B. die Topologie oder Analysis situs usw., den natürlichen Ursprung
78
Zeit und Raum
Von den drei Fragen, die das Wesen des Raumproblems ausmachen, haben hier zwei ihre Lösung gefunden, indem die dische
Geometrie
worden
ist.
gische
Raum,
auf
ihre
natürliche
Der E u k l i d i s c h e d. h. die
Raum
Grundlage ist auch
geometrischen
der
Formen,
Eukli-
zurückgeführt physiolo-
welche
Euklid
behandelt, sind durch die Wahrnehmungen unserer Sinne,
speziell
des sechsten Sinns, des R i c h t u n g s s i n n s ,
gegeben.
Die dritte Frage des Raumproblems, die über die reale Existenz des Raumes,
braucht vom Naturforscher nicht erörtert zu werden;
denn eine Verneinung dieser Frage würde die Negation der Existenz der Sinnesorgane, des menschlichen Verstandes und der des Naturforschers selbst involvieren. lage jeder menschlichen
Das Kausalgesetz ist die erste Grund-
Erkenntnis.
Es zwingt uns, die
Existenz
eines wirklichen, realen Raumes anzuerkennen, ohne welchen weder Bewegungen
fester Körper noch irgendwelche Empfindungen
mög-
lich wären. Der B e r k e l e y s c h e Phänomenalismus wird dem Naturforscher, trotz aller Bewunderung für den Scharfsinn seines Begründers, immer als unannehmbar erscheinen.
Wenn es keine andere als p s y c h i s c h e
W a h r h e i t gäbe, so müßten alle Menschen in allem übereinstimmen. Man findet aber kaum zwei Metaphysiker, die über irgend eine erkenntnistheoretische Frage v o l l s t ä n d i g harmonieren, wie es keinen Metaphysiker gibt, der nicht die Realität der Schmerzempfindungen äußert, wenn man ihm plötzlich auf seine Hühneraugen tritt! Die Worte K a n t s :
» D e r Raum ist nichts anderes als nur die
F o r m aller Erscheinungen maßen
äußerer S i n n e " , können jetzt folgender-
lauten: Die Eigenschaften
des Raumes sind uns durch die
F o r m der Wahrnehmungen der Richtungsempfindungen der Bogengänge gegeben.
Die
»körperliche Organisation",
die
Helmholtz
als unumgänglich voraussetzte, um die notwendige Anschauung eines dreidimensionalen Raumes zu erklären, Funktionen auch
auf
des p e r i p h e r e n dem Vermögen
die Erregungen
der H i r n z e n t r e n
der letzteren
verschiedener Modalitäten
beruht nicht nur auf den
Bogengangsapparates der
allein,
sondern
Raumnerven,
in der F o r m von Richtungen dreier
wahrzunehmen.
Entsprechen die wahrgenommenen drei Richtungen des Raumes unserer Vorstellungen eines d r e i d i m e n s i o n a l e n „Das Ohrlabyrinth", Kap. VI.
Raumes bestätigen,
siehe
D e r geometrische Sinn u n d die physiologischen G r u n d l a g e n usw.
79
auch den drei realen Ausdehnungen des äußeren R a u m e s , oder sind die drei Dimensionen nur reale Eigenschaften f e s t e r K ö r p e r ? 1 Der anatomische Bau und die gegenseitige Lage der Bogengänge bezeugt, daß bei diesem Sinnesorgan wirklich eine gewisse Übereinstimmung zwischen der Natur unserer Perzeptionen und den Eigenschaften der »Dinge an sich" existiert. U e b e r w e g , der die Existenz des O r g a n s f ü r die Richtungsempfindungen nicht kannte, ahnte schon die Notwendigkeit einer solchen Übereinstimmung. »Wären nun diese letzteren (die außerhalb seines Bewußtseins liegenden Dinge) anderen Gesetzen unterworfen als solchen, die aus der Natur des dem perzipierenden Wesen geometrisch-erkennbaren Raumes sich verstehen lassen, so würde dieses Wesen zwar eine in sich harmonische r e i n e Oeometrie gewinnen können, aber keine in sich harmonische a n g e w a n d t e Geometrie, keine auf die durch Sinnesaffektionen bedingte Erscheinungen passende geometrisch-physikalische Erklärung" . . . Wie könnten auch alle bis jetzt ausgeführten physikalischen und astronomischen Messungen die Gesetze der E u k l i d i s c h e n Geometrie bestätigen, wenn unsere Anschauung der drei Raumdimensionen nicht realen Eigenschaften des wirklichen Weltenraums entspräche? Besitzt dieser Weltenraum n u r d r e i Ausdehnungen, oder hängt unsere Kenntnis dieser Anzahl nur von der beschränkten Organisation unseres Ohrlabyrinths a b ? Könnten Geschöpfe mit einem System von vier Bogengangspaaren, f ü r die vielleicht das vierrechtwinklige Koordinatensystem von W e i e r s t r a ß das normale wäre, sich auch eine V o r s t e l l u n g von einer vierten A u s d e h n u n g des Raumes (nicht der festen Körper) m a c h e n ? W i r vermögen wohl algebraisch dem Räume jV-Ausdehnungen zuzuschreiben, aber wie A l b e r t K r a u s e ganz richtig sagte: »An dem Charakter der R a u m a n s c h a u u n g a l s e i n e s n u r in d r e i z u einander rechtwinklig stehenden Richtungen Ausgedehnten ändert eine algebraische Methode, welche aus praktischen G r ü n d e n eine v i e r t e R i c h t u n g mit behandelt, gar nichts". 1
Als solche D i m e n s i o n e n betrachte ich, g e m ä ß der Definition E u k l i d s (11. Buch), die H ö h e , Breite u n d Tiefe, aber nicht die drei B e z e i c h n u n g e n : Punkt, Linie u n d Fläche der neueren Mathematiker.
80
Zeit u n d R a u m
Zweites
Kapitel.
Der arithmetische Sinn.
Zeit und Zahl.
§ 1. Die Elemente des Zeitsinns. Die Generalsinne E. H. W e b e r s und Karl V i e r o r d t s . Beim definitiven Abschluß meiner langjährigen Studien über den Raumsinn und bei der endgültigen Gestaltung meiner Lehre wurde ich dazu gedrängt, die Frage nach dem U r s p r u n g unserer Zeitvorstellung einer näheren P r ü f u n g zu unterziehen. Seit der im Beginn meiner Untersuchungen gemachten Feststellung, daß der Bogengangsapparat mit seinen zentralen Hirnganglien die wichtige physiologische Funktion ausübe, bei der Ausführung willkürlicher oder reflektorischer Bewegungen die Innervationen unserer Muskeln ihrer Intensität, Dauer und Reihenfolge noch zu regulieren und mit großer Präzision abzumessen, hat dieser Teil meiner Lehre sowohl durch meine eigenen als durch fremde Forschungen eine bedeutende Entwicklung erfahren. Das Hauptergebnis aller dieser Forschungen bestand darin, daß in gewissen Nervenendapparaten des Ohrlabyrinths und in deren Hirnzentren wahre automatische Zählapparate vorhanden sind, die bei den Innervationen der motorischen Gebilde eine funktionelle Rolle von großer Tragweite spielen. Die Tätigkeit dieser vom O h r labyrinth beherrschten Zähl- und Meßvorrichtungen erstreckt sich nicht nur auf die Bestimmung der Intensitäten der Innervationen, sondern auch auf deren Z e i t f o l g e u n d Z e i t d a u e r . Die Verr i c h t u n g e n des O h r l a b y r i n t h s u m f a s s e n also nicht allein die r ä u m l i c h e n , s o n d e r n auch die zeitlichen V o r g ä n g e i n unserer Bewegungssphäre. Diese Feststellung erforderte daher das Hineinziehen des Zeitproblems in den Bereich meiner Untersuchungen über das Ohrlabyrinth. Leider konnte die Anwendung experimenteller Methoden auf das Studium der automatischen Meßapparate der Innervationsdauer bis jetzt nur in ganz beschränkten Grenzen vorgenommen werden. An den Kontraktionen der Muskeln ist es sowohl bei Tieren als bei Menschen im hohen Grade schwierig, mit der erforderlichen wissenschaftlichen Genauigkeit die Werte dieser
Der arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
81
Zeitdauer der Innervationen zu messen. Wie im § 2 des vorigen Kapitels dargetan w u r d e , erhalten wir keinerlei Empfindungen von den Innervationen der Muskeln. Weder der Laie noch der Physiologe vermag, auch bei gespanntester Aufmerksamkeit, irgendwelche Spuren von u n m i t t e l b a r e n W a h r n e h m u n g e n solcher Innervationen zu erhalten. F ü r die Physiologie der Zeitwahrnehmungen und der Bildung unserer Zeitvorstellungen war aber schon die bloße Feststellung der Existenz von Hirnzentren, deren Funktionen darin bestehen, automatisch die Z e i t d a u e r und die R e i h e n f o l g e der Innervationen zu regulieren u n d abzumessen, von entscheidender Bedeutung. Von nicht minderer Tragweite war die Feststellung, daß diese messenden Hirnzentren bei der A u s ü b u n g ihrer Verrichtungen von gewissen Teilen des Ohrlabyrinths beherrscht werden. 1 Es soll im Laufe der folgenden Erörterungen gezeigt werden, daß wir berechtigt sind, die Erfahrungen, die wir durch die zahlreichen experimentellen Studien mehrerer hervorragender Forscher über die Zeitfolge und Dauer der E m p f i n d u n g e n unserer fünf speziellen Sinnesorgane gewonnen haben, f ü r die analogen Vorgänge in der B e w e g u n g s s p h ä r e fast vollauf zu verwerten. D i e s e b e i d e n w i c h t i g e n E l e m e n t e u n s e r e r Z e i t v o r s t e l l u n g b e r u h e n n ä m l i c h auf d e n V e r r i c h t u n g e n d e r im O h r l a b y r i n t h e n t h a l t e n e n z w e i S i n n e s o r g a n e f ü r Richtung und Zahl. Die Zeitfolge u n d die Zeitdauer bilden die wichtigsten Elemente der Zeitwahrnehmungen. Diese beiden Zeitwerte lieferten daher bis jetzt die Hauptobjekte der meisten experimentellen Forschungen, welche von Psychologen und Physiologen über die Zeitvorstellungen oder das Zeitbewußtsein angestellt wurden. Die meisten dieser Forschungen bestanden in der A u s f ü h r u n g möglichst genauer Messungen der Zeit, welche zwischen der Reizwirkung und der w a h r g e n o m m e n e n E m p f i n d u n g vergeht, der Dauer dieser W a h r n e h m u n g e n und ihrer eventuellen Nachwirkungen. Die E m p f i n d u n g e n , deren zeitlicher Verlauf bei solchen Messungen am häufigsten in Anspruch g e n o m m e n wurden, waren die Tast-, Gesichtsu n d Q e h ö r s e m p f i n d u n g e n . Die Schwierigkeiten bei der A u s f ü h r u n g derartiger Meßversuche sind zweierlei Art: erstens die Notwendigkeit ganz präziser Meßmethoden und zweitens die unvermeidlichen Kompli1
Siehe „ D a s O h r l a b y r i n t h " , Kap. IV, § 10.
E. v. C y o n ,
Oott und Wissenschaft.
Bd. 2.
6
82
Zeit u n d R a u m
kationen, die sich bei der Verwertung der erhaltenen Zahlenergebnisse einstellen, wenn es sich d a r u m handelt zu entscheiden, ob diese Ergebnisse auf R e c h n u n g der S i n n e s e m p f i n d u n g e n , die der Zeitmessung unterzogen w u r d e n , oder auf die der Zeitwahrnehmungen selbst zu stellen sind. Zahlreiche psychologische Momente, wie z. B. die Einstellung der Aufmerksamkeit, die S p a n n u n g der Erwartung oder die A u f r e g u n g der Überraschung, der jeweilige physiologische oder pathologische Zustand der Versuchspersonen und besonders ihre spezielle persönliche Empfindlichkeit f ü r die einen oder die anderen sinnlichen Eindrücke bringen es mit sich, daß die Vergleichung der bei den Meßversuchen erhaltenen Ergebnisse zuweilen auf unüberwindliche Hindernisse stößt. Viel wichtiger aber f ü r das erfolgreiche Forschen auf diesem Gebiete haben sich folgende zwei Faktoren herausgestellt: 1. die m e h r oder weniger richtige A u f f a s s u n g des Wesens der zeitlichen W a h r n e h m u n g e n und ihrer Beziehungen zu den Empfindungen der anderen Sinne, von der der Forscher bei der Anstellung seiner Meßversuche auszugehen pflegt; 2. die glückliche Auswahl des speziellen Sinnesorgans, das f ü r die Messung der Zeitwerte benutzt werden soll. Es war daher f ü r die Lehre von dem Zeitsinn ein besonders glückliches Zusammentreffen, daß K a r l V i e r o r d t , der zuerst in die Physiologie präzise Zeitmeßversuche eingeführt, gleich zu A n f a n g z w e i außerordentlich gelungene Griffe gemacht hat. Bei der Auffassung der physiologischen Bestimmung des Zeitsinnes stellt er sich vollkommen auf den richtigen Boden, den E . H . W e b e r durch seine klassischen, während mehrerer Jahrzehnte verfolgten experimentellen Studien über den Raumsinn gewonnen hat, nämlich daß der Raumsinn kein spezieller, sondern ein Generalsinn ist. Dies gestattete ihm gleichzeitig die Ausarbeitung von ähnlich musterhaften experimentellen Methoden. Wie wir gleich sehen werden, war sein zweiter G r i f f , nämlich die Wahl des G e h ö r o r g a n s als des vorzüglichsten Versuchsobjekts, an dessen Empfindungen er die zeitlichen Werte messen wollte, nicht weniger erfolgreich. Bei der ganz außerordentlichen Bedeutung der W e b e r s e h e n Lehre über den Raumsinn f ü r die V i e r o r d t s c h e n Untersuchungen über den Zeitsinn ist es erforderlich, hier einige Hauptsätze dieser Lehre wörtlich wiederzugeben, so wie sie W e b e r in seiner letzten Schrift „ Ü b e r den Raumsinn usw." der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften im Jahre 1852 vorgelegt hat:
D e r arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
83
» D e r R a u m s i n n ist ein b e s o n d e r e r S i n n , a b e r n i c h t ein S p e z i a l s i n n , s o n d e r n ein G e n e r a l s i n n . " Mit diesen bedeutungsvollen Worten leitet E. H. W e b e r seine Schrift ein, welche die vollkommenste F o r m u l i e r u n g der Ergebnisse seiner während zweier Jahrzehnte verfolgten psycho-physiologischen Studien über die peripheren Sinnesorgane enthält. Er schließt seine Einleitung mit den W o r t e n : »Da nun die W a h r n e h m u n g e n des Raumes und der räumlichen Verhältnisse zu den allgemeinen W a h r n e h m u n g e n gehören und sich dadurch wesentlich von den W a h r n e h m u n g e n von Farben, Temperaturen, D r u c k e m p f i n d u n g e n , Tönen und G e r ü c h e n unterscheiden, die auf der E m p f i n d u n g einer besonderen Klasse von Bewegungen beruhen, welche auf unsere Nerven wirken, so konn man wohl den Raumsinn einen Generalsinn n e n n e n , zum Unterschiede von den genannten Spezialsinnen." (S. 87.) Die Versuchsmethoden E. H. W e b e r s , mit deren Hilfe er «die F e i n h e i t und die S c h ä r f e " der räumlichen W a h r n e h m u n g e n der Spezialsinne untersuchte, bestanden in genauen und vergleichenden Messungen, ausgeführt ausschließlich an den Druck- und Temperaturempfindungen der Haut und an den Gesichtsempfindungen der Netzhaut. Im vorigen Kapitel, § 2, haben wir schon einige Punkte der W e b e r s e h e n Raumanschauungen näher erörtert; wir kommen noch unten auf seine anderen Gesichtspunkte zurück. K a r l V i e r o r d t betrachtete den Zeitsinn ebenfalls als einen G e n e r a l s i n n , ganz in der nämlichen Auffassung, die E. H . W e b e r dieser Bezeichnung gegeben hat. „An die wachsende G r ö ß e des konkreten Räumlichen und Zeitlichen knüpft sich die Vorstellung eines größeren objektiven Raumes, einer längeren objektiven Zeit; der Reiz ist f ü r unsere E m p f i n d u n g einfach gewachsen, ohne daß der sonstige Empfindungsinhalt ein anderer geworden ist oder doch zu werden braucht. Unsere räumlichen und zeitlichen Empfindungen haben keineswegs jenes vollständig subjektive Gepräge, wie die Empfindungen der Spfezialsinne." »Gegenständliches u n d E m p f u n d e n e s bzw. W a h r g e n o m m e n e s sind auf dem Gebiete der Generalsinne wirklich und unmittelbar miteinander vergleichbar, weil sich beide wenigstens innerhalb gewisser Grenzen vollkommen oder doch annähernd decken und übereinanderlegen lassen." (S. 12.) » . . . Die spezifischen Empfind u n g e n verschaffen uns außer dem qualitativen Empfindungsinhalt 6*
84
Zeit und Raum
noch die Vorstellung verschiedener Intensitätsgrade So weit aber auch die Grenzen sein m ö g e n , innerhalb welcher die Stärke dieser intensiven Empfindungen sich bewegt, so ist doch der Empfindende . . . nicht imstande, an dieselben einen genaueren Maßstab anzulegen. Dieses Licht kommt uns bloß viel stärker, nicht aber dreimal stärker vor als jenes. . . . D i e S p e z i a l s i n n e h a b e n a l s o , w i e E. H . W e b e r r i c h t i g h e r v o r h e b t , im a l l g e m e i n e n k e i n e M u l t i p l a d e r Empfindungen im w e s e n t l i c h e n G e g e n s a t z z u unseren R a u m - u n d Z e i t w a h r n e h m u n g e n . Diese Linie kommt uns nicht bloß länger, sondern d o p p e l t s o l a n g v o r a l s j e n e ; d i e s e r H ö r e i n d r u c k m a c h t u n s b l o ß ein D r i t t e l d e s z e i t l i c h e n E i n d r u c k s wie jener usw. Die Generalsinne sind also m a t h e m a t i s c h e S i n n e ; . . . die räumlichen und zeitlichen G r ö ß e n werte der Sinnesreize fallen uns sozusagen unmittelbar in unser Bewußtsein." K a r l V i e r o r d t wählte also zum Ausgangspunkt seiner experimentellen Forschungen ü b e r unsere zeitlichen W a h r n e h m u n g e n die von E . H . W e b e r ausgebildete Auffassung des Raumsinnes. Wenn ich nicht irre, hat er auch zuerst das W o r t Z e i t s i n n als Analogie zu Raum- und Ortssinn gebildet. Leider schloß er sich seinem berühmten Vorgänger auch in der A n n a h m e an, daß es keine besonderen S i n n e s o r g a n e gäbe, die es dem Raum- und Zeitsinn gestatten, ihre physiologischen Verrichtungen als Abmesser der E m p f i n d u n g e n der fünf speziellen Sinnesorgane auszuüben. In dieser d a m a l s n o c h u n v e r m e i d l i c h e n A n n a h m e wurzelte die Schwäche der beiden Lehren. Die Auffassung des Raum- u n d Zeitsinnes als eines allgemeinen Sinnes besaßen schon A r i s t o t e l e s und der H l . T h o m a s v o n A q u i n o . Auf diese wichtige Tatsache hat erst unlängst der berühmte Thomist Prof. Dr. C o m m e r in einer meisterhaften Analyse meines Werkes »Dieu et Science" hingewiesen, die im Juliheft 1910 seines Jahrbuches f ü r Philosophie und spekulative Theologie erschienen ist.
§ 2.
Die Zeitfolge und die zeitliche Ausdehnung.
Von den Elementen der Zeitvorstellung gelangt die Z e i t f o l g e am unmittelbarsten zu unserer W a h r n e h m u n g . Welches ist n u n der physiologische U r s p r u n g ihrer W a h r n e h m u n g ? W i r empfinden die zeitliche Reihenfolge der äußeren und inneren Erscheinungen als in
D e r arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
85
einer gewissen O r d n u n g oder Richtung aufeinander geschehend. Je regelmäßiger diese Erscheinungen vor sich gehen, um so leichter ist es f ü r unsere W a h r n e h m u n g , sie zu verfolgen und sie in ihren zeitlichen Intervallen voneinander zu s o n d e r n ; daher nehmen wir am genauesten und unmittelbarsten die T o n e m p f i n d u n g e n wahr. Physiologen und Psychologen stimmen darin überein, daß die Zeitfolge oder die Z e i t o r d n u n g als eine Richtung oder als eine Ausd e h n u n g zu betrachten ist. »Sie (die Zeit) hat nur eine D i m e n s i o n ; verschiedene Zeiten sind nicht z u g l e i c h sondern n a c h e i n a n d e r , sowie verschiedene Räume nicht n a c h e i n a n d e r sondern z u g l e i c h sind." So drückt sich K a n t aus. Darin stimmen mit ihm auch die entschiedensten G e g n e r seiner Zeitauffassung überein: »die Zeit sei kein empirischer Begriff, der von einer E r f a h r u n g abgeleitet worden, denn das Zugleichsein oder Aufeinanderfolgen würde selbst nicht zur W a h r n e h m u n g k o m m e n , wenn die Vorstellung der Zeit nicht a p r i o r i zum G r u n d e läge." Die Schwierigkeit besteht nur in der Frage, welche R i c h t u n g diese L ä n g e n a u s d e h n u n g der Zeit wohl haben könnte. Nach einer genauen Analyse der meisten bei dieser Frage beteiligten Faktoren gelangte ich schon vor Jahren zu der Ü b e r z e u g u n g , d a ß das A u f e i n a n d e r f o l g e n oder N a c h e i n a n d e r s e i n der Erscheinungen und Bewegungen nur durch die s a g i t t a l e Richtung ausgedrückt werden könnte; s i e e n t s p r i c h t a l s o d e r g l e i c h n a m i g e n K o o r d i n a t e d e s R a u m s i n n s . Selbstverständlich m u ß der Nullpunkt der Zeitkoordinate mit dem des rechtwinkligen Koordinatensystems des Raumes sich vollständig decken, da letzterer ja unserem unteilbaren und bewußten I c h entspricht. (Siehe Kap. I, § 1.) Nach meiner Lehre vom Raumsinn nehmen die W a h r n e h m u n g e n der Richtungsempfindungen einen wichtigen Anteil an der Bildung unseres Selbstbewußtseins und gestatten, daß wir unser I c h von der äußeren Welt als verschieden betrachten, oder wie H e n s e n ganz richtig meine Gedanken wiedergegeben hat, »daß wir nach unserem ursprünglichen G e f ü h l e uns als Mittelpunkt erscheinen, um welchen sich alle Körper drehen." V e r g a n g e n h e i t und Z u k u n f t , d.h. das H i n t e r u n s l i e g e n d e und das Bevorstehende, entsprechen der Richtung HintenVorn. H i n t e r - u n s und Vor-uns sind die beiden R i c h t u n g e n d e r Z e i t , die beiden Vorzeichen derselben Pfeilkoordinate. Mit anderen W o r t e n : d i e R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n d e s B o g e n gangapparates, denen wir die V o r s t e l l u n g des dreifach
86
Zeit und
ausgedehnten
Raum
Raumes verdanken,
dienen
ebenfalls
d i e V o r s t e l l u n g d e r e i n z i g e n Z e i t a u s d e h n u n g zu
dazu,
bilden.
Durch die so gewonnene Kenntnis der wirklichen Zeitrichtung ist uns das Verständnis des engen Zusammenhanges zwischen lichen
und
zeitlichen
Anschauungen
viel
näher
räum-
gerückt.
Nur
erscheint jetzt dieser Zusammenhang in ganz anderem Lichte, als er K a n t und den Anhängern seiner aprioristischen Lehre vorgeschwebt Man darf namentlich jetzt das N a c h e i n a n d e r der zeitlichen
hatte.
Erscheinungen und Bewegungen nicht mehr als in absolutem Gegensatz
zu
dem
Nebeneinander
der
räumlichen
betrachten.
Es
gibt einen P a r a l l e l i s m u s der zeitlichen Erscheinungen (die Gleichzeitigkeit), der vollkommen dem Parallelismus im geometrischen Sinne entspricht; beide beruhen, unserem jetzigen Wissen nach, auf einer gleichzeitigen Auf
die
Erregung gewisser Bogengänge.
Bedeutung
der Gleichzeitigkeit
als
eines
konstanten
und wichtigen Elementes unserer zeitlichen Wahrnehmungen hat von Psychologen besonders M e u m a n n
die Aufmerksamkeit gelenkt.
Er
hat in seinen trefflichen „Studien" die wahre Bedeutung der Gleichzeitigkeit zu würdigen gewußt.
Daher kann die hier gegebene Auf-
deckung des physiologischen Ursprunges seiner Auseinandersetzungen Wie eben gesagt,
dieses Zeitwertes
manche
stützen.
stimmen die meisten Psychologen
Physiologen darin überein,
mit den
daß die K a n t sehe Ausdehnung als die
Zeitfolge darstellend aufzufassen sei.
Dagegen wird die hier präzi-
sierte Bedeutung
als
dieser Ausdehnung
der P f e i l r i c h t u n g
von
v o r n nach h i n t e n entsprechend wahrscheinlich von manchem Psychologen beanstandet werden.
Wie aus den vorhandenen Schriften und
Studien über das Wesen unserer Zeitwahrnehmungen war,
konnte
gegen
erhoben worden. sächlich
auf
meine
Auseinandersetzung
Einwand
Er ist rein dialektischer Natur und läuft haupt-
die Definition
des Wortes
oder auf die Unterschiede zwischen hinaus.
vorauszusehen
folgender
Die „ G e g e n w a r t "
„Gegenwart"
„Zeitlänge" und
und
„Jetzt"
„Zeitstrecke"
als einen in kontinuierlicher Bewegung
befindlichen Punkt zu betrachten, der die Zeitlinie erzeugt,
könnte
nach den Erörterungen von F. S c h u m a n n zu irrtümlichen
Schluß-
folgerungen führen.
Man hat, schreibt er z . B . , gefolgert: „Die Zeit
besteht aus Vergangenheit und Zukunft, die durch den beweglichen Punkt des „Jetzt" getrennt sind. die Zukunft noch nicht ist,
Da die Vergangenheit nicht mehr,
so wäre die Zeit ein Wirkliches,
das
Der arithmetische Sinn.
Zeit und Zahl
87
aus zwei Hälften besteht, die beide nicht wirklich sind." Eine derartige F o l g e r u n g beruht auf Schlüssen, die nur dem Scheine nach plausibel, in der Tat aber reine Sophismen sind. Die Beweglichkeit des Punktes ist eine überflüssige Voraussetzung, die durch die eben gegebene Auffassung des Nullpunktes der Zeitkoordinate hinfällig wird. Unser Selbstbewußtsein ist unveränderlich u n d unteilbar, nur die Inhalte des Ällgemeinbewußtseins wechseln. • N u r das vor uns Geschehene und nach uns K o m m e n d e ist b e w e g l i c h ; sie verlieren aber dadurch nicht im geringsten ihre Wirklichkeit. Nichts kann mit mehr Gewißheit das Recht der Wirklichkeit beanspruchen, als die Geschehnisse der Vergangenheit. Indem die zukünftigen Erscheinungen allmählich entstehen, werden sie v e r w i r k l i c h t , beim Übergehen in die Vergangenheit werden sie auf die Zeitkoordinate verschoben und wechseln ihr Vorzeichen. 1 Nach den bisherigen experimentellen Erfahrungen über den U r s p r u n g unserer Richtungsempfindungen ist man schon jetzt zu der A n n a h m e berechtigt, daß wir den Erregungen der sagittalen Bogengänge die Möglichkeit verdanken, die Zeitfolge oder, wie mehrere Psychologen sich ausdrücken, die Z e i t o r d n u n g wahrnehmen zu können. D i e s e W a h r n e h m u n g e n b i l d e n d i e e i n e K o m ponente unserer Zeitvorstellung. Auf die spezielle Frage, ob der Nullpunkt der Zeit- und Raumkoordinate mit dem bewußten Ich zusammenfällt oder nicht, die wesentlich psychologisches Interesse hat, wird noch wiederholt zurückgekommen werden.
§ 3. Die Messungen der Zeitdauer und der anderen Zeitwerte. Die eine Komponente des sogen. Zeitsinnes, die Zeitfolge, wird also mit Hilfe der W a h r n e h m u n g e n eines peripheren Sinnesorganes gebildet. Wie steht es nun mit den anderen Komponenten: der 1 Im gewöhnlichen Sprachgebrauch aller Völker wird übrigens die kürzeste Zeitdauer gar nicht durch die Worte „jetzt" oder „gegenwärtig" bezeichnet. Schon K. E. v. B a e r hat ganz richtig hervorgehoben, daß die kürzeste Zeitstrecke in den Sprachen der meisten Völker durch die uns als die kürzest geltende körperliche Bewegung ausgedrückt wird, nämlich das Blinzeln der Augenlider: „ A u g e n b l i c k " im Deutschen, „Mig" im Russischen, „ c l i n d ' o e i l " im Französischen usw., das Wort „Momentum" stammt von „movere". „ P u n c t u m t e m p o r i s " der Römer ist nach v. B a e r vielleicht die Zeit, die man braucht, einen Stich zu empfinden.
88
Zeit und Raum
D a u e r u n d der Geschwindigkeit? Die Geschwindigkeit/ist zwar im G r u n d e n u r eine Funktion der Zeitdauer; beide Zeitwerte können aber gesondert gemessen werden. Man m u ß daher zuerst erörtern, welcher von beiden den sinnlichen W a h r n e h m u n g e n zugänglicher ist, also leichter der experimentellen P r ü f u n g unterzogen werden kann. Eine solche Erörterung ist auch wesentlich mit der Frage nach dem U r s p r u n g unserer Zeitvorstellungen verknüpft. Die scheinbar einfachste Auffassung des U r s p r u n g s der Geschwindigkeitswahrn e h m u n g e n wäre in unsere Gesichtswahrnehmungen zu verlegen. Die G e s c h w i n d i g k e i t der äußeren Vorgänge springt geradezu in die Augen. Es ist daher nicht zu verwundern, daß mehrere Philosophen u n d auch Physiologen, wie z. B. C z e r m a c k in seinen »Ideen zu der Lehre vom Zeitsinn", die Bildung unserer Zeitvorstellungen in den Gesichtseindrücken suchten. Dies schien um so verlockender, als man durch die Konvergenz der Augenachsen und durch die Akkommodation auch den Mechanismus der Geschwindigkeitswahrnehmung zu erkennen hoffte. So geschah es; daß auch L u d w i g geneigt war, diese Auffassung als vollkommen begründet zu betrachten, «weil«, sagte er, »wir den Grad der Geschwindigkeit geradezu sehen". Einer solchen Auffassung stellen sich mehrere Einwände entgegen, sowohl weil sie die anderen Komponenten der Zeitvorstellung vollständig vernachlässigt, als auch, weil wir, wenn sie begründet wäre, dennoch die Zeitwahrnehmungen nicht als vorzugsweise von unserm Auge herstammend betrachten könnten. Seitdem in den Jahren 1 8 7 5 — 1 8 7 6 festgestellt wurde, daß der okulomotorische Apparat in einer kontinuierlich gesetzmäßigen Abhängigkeit von den Bogengängen steht, m u ß dem »Sehen der Geschwindigkeit" eine ganz andere D e u t u n g gegeben werden. Die Verstellung der Augenachsen, wie überhaupt sämtliche Bewegungen unserer Augenmuskeln, werden nämlich von den Erregungen der Bogengangsnerven beherrscht, die Messung der Geschwindigkeit unserer Zeitwahrnehmungen wird also in erster Linie vom Gehörs- und nicht vom Gesichtssinne ausgeübt. W u n d t weist die Geschwindigkeit als Zeitwert bei Messungen aus einem anderen G r u n d e zurück, nämlich weil eine solche Messung der sichtbaren Bewegung notwendigerweise zu einer Messung der räumlichen A u s d e h n u n g f ü h r e n muß. Die Möglichkeit oder sogar die Notwendigkeit, gleichzeitig die r ä u m l i c h e u n d z e i t l i c h e Ausd e h n u n g an den Bewegungen zu messen, m u ß im Gegenteil eher
Der arithmetische Sinn.
Zeit und Zahl
als eine Erleichterung der Aufgabe des Experimentators und
89
nicht
als eine störende Komplikation betrachtet werden. Diesen Vorteil hat V i e r o r d t ganz richtig gewürdigt, als er seine Versuche mit Dr. W . C a m e r e r in dieser Richtung ausgeführt hat. «Bei der W a h r n e h m u n g der Bewegung und der Schätzung der Geschwindigkeit, mit welcher dieselbe erfolgt, werden Zeit- und Raumsinn zugleich in Anspruch g e n o m m e n . " (S. 119.) Vierordt gab dabei die einfache Formel g = — zur Berechnung der Geschwindigkeit, wobei r das Verhältnis des durchlaufenen Raumes zur Längeneinheit, z das Verhältnis der dazu nötigen Zeit zur Zeiteinheit bezeichnet.
N u r dürfen nach unserem jetzigen Wissen die bei den
Messungen der Geschwindigkeit und der Zeitdauer erhaltenen Werte nicht mehr einfach dem Gesichtssinne zugeschrieben werden.
Bei
der Ausnutzung der Versuchsergebnisse f ü r die Theorie der Zeitw a h r n e h m u n g e n m u ß auch der Mechanismus berücksichtigt werden, der u n s gestattet, die sichtbare Geschwindigkeit zu messen. Die schönen Erfolge, welche V i e r o r d t und sein Schüler bei ihren diesbezüglichen Versuchen erzielt h a b e n , veranlaßten seine sämtlichen Nachfolger auf dem Gebiete derartiger Forschungen, sich im allgemeinen der von ihm geschaffenen Meßmethoden zu bedienen, u n d zwar sowohl bei der Wahl der zu bestimmenden Z e i t w e r t e , als auch bei der Auswahl der speziellen Sinnesempfindungen, deren zeitlicher Verlauf gemessen werden sollte. Leider haben die meisten seiner Nachfolger dabei aus dem Bereich ihrer Betrachtungen den A u s g a n g s p u n k t V i e r o r d t s ganz gestrichen, der ihn allein bei seinen Untersuchungen geleitet hat, nämlich die W e b e r s c h e Auffassung der G e n e r a l s i n n e . D a d u r c h v e r l o r e n sie die M ö g l i c h k e i t , i h r e V e r s u c h s e r g e b n i s s e in v o l l e m U m f a n g e z u verwerten. W i e schon in § 2 h e r v o r g e h o b e n , hatte V i e r o r d t auch den sehr glücklichen Einfall, dem G e h ö r o r g a n bei seinen zeitlichen Messungen den Vorzug vor den anderen Sinnesorganen zu geben. Diese glückliche Wahl gestattete ihm auch, viel genauer die meisten G r ö ß e n zu bestimmen, welche f ü r die experimentelle P r ü f u n g beim Studium der zeitlichen Vorgänge hauptsächlich in Betracht kommen. So gelang es ihm, dank der Wahl der G e h ö r s e m p f i n d u n g e n f ü r die zeitliche Messung der Zeitdauer, die wahre Bedeutung der Z e i t u n t e r s c h i e d e , des Rhythmus, des Taktes u n d der Z e i t i n t e r v a l l e zu entwickeln. Die V i e r o r d t s c h e W a h l dieser
90
Zeit und Raum
und ähnlicher G r ö ß e n f ü r seine Messungen war also itn allgemeinen zutreffend. Weniger glücklich war n u r die E i n f ü h r u n g des Begriffs der Z e i t s c h w e l l e und der L e e r e in den Bereich der zu messenden Zeitwerte. Wahrscheinlich w u r d e V i e r o r d t zu diesem Mißgriff lediglich dadurch verleitet, daß er teilweise, dem Beispiele E. H. W e b e r s folgend, den Ausdruck Z e i t w a h r n e h m u n g e n als gleichbedeutend mit Z e i t e m p f i n d u n g e n gebrauchte. Die Z e i t w e r t e , welche V i e r o r d t bei seinen Messungen bestimmte, bezogen sich aber in der Tat nicht auf Z e i t e m p f i n d u n g e n , sondern auf die W a h r n e h m u n g der z e i t l i c h e n D a u e r der Gehörse m p f i n d u n g e n . Das gleiche findet natürlich statt, wenn die Zeitdauer der anderen sinnlichen Empfindungen gemessen wird. Die R e i z s c h w e l l e n b e z i e h e n sich a b e r n u r auf die Reize, w e l c h e die b e t r e f f e n d e n speziellen s i n n l i c h e n E m p f i n d u n g e n erz e u g e n , u n d keineswegs auf die vermeintlichen Zeitempfindungen. Diese einfache Ü b e r l e g u n g haben auch viele Nachfolger V i e r o r d t s bei derartigen Messungen unterlassen. Wie gewöhnlich, wenn es sich um eine Verirrung handelt, ist M a c h dabei mit schlechtem Beispiel vorangegangen; er hat nämlich das W o r t „ Z e i t e m p f i n d u n g e n " in der falschen Auslegung verstanden u n d dementsprechend auch seine Messungen ausgeführt. Ein bloßer Blick auf die erhaltenen Werte der Zeitschwellen in Tausendsteln einer Sekunde hätte schon genügen sollen, um M a c h über den begangenen Irrtum zu belehren. Er erhielt nämlich beim G e h ö r 16,0, beim Tastsinn 27,7, beim Gesicht 47,0. Diese weit auseinandergehenden Werte bezeugen klar genug, daß es sich um R e i z s c h w e l l e n d e r e n t s p r e c h e n d e n S i n n e s e m p f i n d u n g e n u n d keinesfalls um die Zeitempfindungen handelt. Nach dem W e b e r s c h e n Gedanken sind eben die Generalsinne dazu bestimmt, die quantitativen Eigenschaften der übrigen Sinne genau abzumessen. S i e s i n d a l s o r e i n e M e ß a p p a r a t e f ü r R a u m u n d Z e i t . D a ß dieser G e d a n k e vollkommen der physiologischen Wahrheit entspricht, ist f ü r den Raumsinn durch die in den vorangehenden Kapiteln mitgeteilten Untersuchungen zur G e n ü g e klargelegt worden. D a ß er auch f ü r den Zeitsinn gültig ist, geht schon klar aus dem Ergebnis jener Versuche hervor, welche die zahlreichen Forscher bei ihren Messungen in den letzten Jahrzehnten ausgeführt haben. In meiner Mitteilung über den U r s p r u n g der Zeitwahrnehmungen (1907) habe ich bereits die Bedeutung dieser Tatsache hervorgehoben; in § 6 komme ich ausführlicher darauf
D e r arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
91
zurück. Die Reizschwellen, welche die E m p f i n d u n g e n der speziellen Sinne erzeugen, können uns selbstverständlich keinerlei Aufschluß über die Genauigkeit unseres physiologischen Z e i t m e s s e r s geben; s o w o h l die V i e r o r d t s c h e n V e r s u c h e als die s e i n e r N a c h f o l g e r v e r f o l g t e n a b e r in W i r k l i c h k e i t n u r d e n Z w e c k , d i e G e n a u i g k e i t des Z e i t m e s s e r s zu prüfen. Ebensowenig wie der Wert eines Teleskops durch die Bewegungsgesetze des Planeten bestimmt werden kann, ebensowenig vermögen die Reizschwellen der speziellen Sinnesempfindungen das Funktionieren des Zeitsinnes zu beeinflussen. Verfehlt war auch die E i n f ü h r u n g des Wortes „Leere" durch Vierordt. Er wollte darin dem Beispiel E. H. W e b e r s folgen, welcher den Zwischenräumen in seinen Empfindungskreisen besondere Aufmerksamkeit geschenkt hat. E s g i b t a b e r ü b e r h a u p t k e i n e L e e r e in u n s e r e r E m p f i n d u n g s s p h ä r e . Es treten ebensowenig zeitliche Diskontinuitäten in unseren Empfindungen wie in allen übrigen Lebensvorgängen und in diesen letzteren ebensowenig wie in den Bewegungen der Planeten ein. Es gibt n u r Schwankungen in den I n t e n s i t ä t e n unserer Nerventätigkeit und der Fixierung der Aufmerksamkeit auf verschiedene Empfindungsqualitäten. In unser Bewußtsein gelangt abwechselnd die W a h r n e h m u n g der einen oder der anderen sinnlichen Empfindung. J e d e E r r e g u n g u n s e r e r N e r v e n ist ja n u r e i n e p l ö t z l i c h e S t e i g e r u n g i h r e s E r r e g b a r k e i t s z u s t a n d e s ; dies hat P f l ü g e r schon vor vielen Jahren festgestellt. G a n z unerregbar sind nur gelähmte oder tote Nerven Am wenigsten kann man daher von r e i z f r e i e n oder l e e r e n Zeitperioden sprechen, wenn es sich um G e h ö r s e m p f i n d u n g e n handelt. 1
§ 4. Das Ohrlabyrinth als Sinnesorgan der Zeitwahrnehmungen, des Rhythmus und der Zahl. V i e r o r d t hatte die Intuition, daß das O h r die h e r v o r r a g e n d s t e Rolle bei der B i l d u n g u n s e r e r Z e i t v o r s t e l l u n g e n spiele. „ W i r beginnen mit demjenigen Sinne, dessen Empfindlichkeit f ü r Zeitgrößen u n d Unterschiede von Zeitgrößen bei jedem Menschen am meisten in Anspruch g e n o m m e n wird, dem H ö r s i n n " , so be1
Siehe d a r ü b e r im „ O h r l a b y r i n t h " Kap. IV, § 10, die Ansicht von Hensen.
Zeit u n d R a u m
92
gründet V i e r o r d t seine Wahl. Dadurch hat er die zu verfolgende Bahn den künftigen Forschern gleichsam vorgezeichnet. N u r wenige seiner Nachfolger versuchten, ihre Wahl des G e h ö r s i n n s f ü r Messungen näher zu begründen. In § 1 des vorangehenden Kapitels wurden die Hauptvorzüge des O h r e s vor dem Auge bei der Bildung unserer Raumvorstellungen näher auseinandergesetzt. Hier soll ausführlicher dargetan werden, daß in gewissem Sinne die Vorzüge des Ohrlabyrinths f ü r die Bild u n g unserer Zeitvorstellung nicht minder entscheidend sind. In dem Kapitel über die physiologischen G r u n d l a g e n der E u k l i d i s c h e n Geometrie wurden besonders diejenigen Vorzüge des O h r e s vor dem Auge bei der W a h r n e h m u n g der Richtungen hervorgehoben, die in der Geometrie eine so entscheidende Rolle spielen. Die Vorzüge, welche das O h r vor dem Auge als Meßapparat f ü r die geometrischen G r ö ß e n besitzt, wurden n u r angedeutet, und zwar bei der Erörterung der Abstandsbestimmungen. Es w u r d e dabei daran erinnert, daß der okulomotorische Apparat, von dem das Augenmaß a b h ä n g t , vollkommen von den Innervationen der Bogengänge als Sinnesorgans f ü r die Richtungsempfindungen beherrscht wird. Die physiologische Bestimmung des Ohrlabyrinths als eines Meßapparates beruht aber n u r in zweiter Linie auf den Verrichtungen der Bogengänge. Das wichtigste Element bei A u s f ü h r u n g von Messungen, sowohl der r ä u m l i c h e n a l s d e r z e i t l i c h e n , liegt in der Zahlenkenntnis, und diese Zahlenkenntnis verdanken wir ausschließlich der S c h n e c k e . 1 Die von der letzteren beherrschten a u t o m a t i s c h e n Z ä h l a p p a r a t e s p i e l e n bei d e r A b m e s s u n g d e r I n n e r v a t i o n s s t ä r k e und - D a u e r eine e n t s c h e i d e n d e Rolle. Zu den Vorzügen des O h r e s vor dem Auge, die es schon als Sinnesorgan' f ü r die drei Richtungsempfindungen besitzt, kommt also noch hinzu, daß es die peripheren O r g a n e enthält, denen wir unser Zahlenbewußtsein verdanken. „Lehrreich ist in dieser Beziehung die Vergleichung von Auge u n d Ohr, schreibt H e l m h o l t z , da die Objekte beider, Licht und Schall, schwingende Bewegungen sind, die je nach der Schnelligkeit ihrer Schwingungen verschiedene Empfindungen erregen, im Auge verschiedene Farben, im O h r verschiedene T o n h ö h e n . W e n n wir uns zur größeren Übersichtlichkeit erlauben, die Schwingungsverhältnisse des Lichtes mit dem Namen 1
Siehe Kap. IV, § 10 des „ O h r l a b y r i n t h s "
D e r arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
93
der durch entsprechende Tonschwingungen gebildeten musikalischen Intervalle zu bezeichnen, so ergibt sich folgendes: Das Ohr empfindet e t w a 10 O k t a v e n v e r s c h i e d e n e r T ö n e , das Auge nur eine S e x t e , obgleich jenseits dieser Grenzen liegende Schwingungen beim Schall wie beim Lichte vorkommen und physikalisch nachgewiesen werden können. D a s A u g e h a t n u r d r e i v o n e i n a n d e r v e r s c h i e d e n e G r u n d e m p f i n d u n g e n in seiner kurzen Skala, aus denen sich alle seine Qualitäten durch Addition zusammensetzen, nämlich Rot, Grün, Blauviolett. Diese mischen sich in der Empfindung, ohne sich zu stören. Das Ohr dagegen unterscheidet eine ungeheure Zahl von Tönen verschiedener Höhe. Kein Akkord klingt gleich einem anderen Akkorde, der aus anderen Tönen zusammengesetzt ist, während doch beim Auge gerade das Analoge der Fall ist" (1879). Noch ein anderer Vorteil des Gehörorgans vor dem Auge soll hier nach H e l m h o l t z hervorgehoben werden: der Gehörnerv ist dem Sehnerv bedeutend überlegen in der Fähigkeit, dem Wechsel von starker und schwacher Intensität des Reizes schnell folgen zu können. Ein solcher Wechsel in der Intensität des Reizes entsteht, wenn annähernd gleich hohe Töne abwechselnd mit gleichen und entgegengesetzten Phasen zusammenwirken, worauf das Phänomen der Schwebungen beruht. Gleichzeitig ist jede Faser des Gehörnervs nur für Töne aus einem sehr engen Intervall der Skala empfindlich, während jede Sehnervenfaser durch das ganze Spektrum zu empfinden vermag. Sämtliche hier hervorgehobenen Vorzüge des Ohres vor dem Auge bieten bei den künstlichen Messungen der Zeitdauer der Empfindungen bedeutende Vorteile. Der bedeutendste Vorzug aber, den die Gehörsempfindungen für die Wahrnehmung der Zeitdauer und deren genauer Abschätzung besitzen, liegt in dem R h y t h m u s und dem T a k t der Schallerregungen. Die Abfolge von Gehörseindrücken gleicher Z e i t d a u e r durch ebenso gleichmäßige Unterbrechungen ist auch für die unmittelbare W a h r n e h m u n g d e r Z e i t f o l g e von größter Bedeutung. Bei der Wahrnehmung der p e r i o d i s c h e n A b f o l g e v o n G e h ö r s e m p f i n d u n g e n besteht der Vorzug des Ohres vor dem Sehen der Geschwindigkeit noch darin, daß, wie schon erwähnt, bei ihnen keinerlei m e ß b a r e r ä u m l i c h e Beimischung stattfindet, während die gesehene Geschwindigkeit einen Quotienten der Zeit auf der Raumstrecke bildet. Die Periodizität der Naturerscheinungen gab dem Menschen die
94
Zeit u n d R a u m
erste Veranlassung zu Zeitwahrnehmungen. Der Sonnenaufgang und Untergang, die Ebbe und die Flut, der Wechsel von Tag und Nacht, die regelmäßige Wiederkehr der mit bestimmtem Temperaturwechsel v e r b u n d e n e n Jahreszeiten mußten sowohl beim Menschen als auch bei gewissen Tieren zur W a h r n e h m u n g der Zeitfolge u n d der Zeitunterschiede führen. Auch die inneren E m p f i n d u n g e n lehrten den Menschen die Bedeutung der Periodizität erkennen. Der Rhythmus des Herzpulses und der Atembewegungen, die Regelmäßigkeit in der Wiederkehr von H u n g e r und Durst sowie ihrer Stillung mußten notwendigerweise die Aufmerksamkeit des Menschen in Anspruch nehmen. Wilde bestimmen jetzt noch die Zeit nach der regelmäßigen Wiederkehr der Mahlzeiten (K. E. v o n B a e r ) . Wie man sowohl an Haustieren, an Pferden, H u n d e n usw., als auch an Z u g vögeln, ja sogar an Fischen, die in Teichen künstlich gefüttert werden, beobachten k a n n , vermögen auch Tiere regelmäßig wiederkehrende Zeitperioden zu erkennen. Die periodische Wiederkehr gewisser sinnlicher W a h r n e h m u n g e n in rhythmischen Intervallen zwingt unserem Bewußtsein notwendig die Vorstellung ihrer Gesetzmäßigkeit auf. Der G e d a n k e , solche regelmäßigen, periodischen oder rhythmischen Erscheinungen als Einheiten f ü r Zeitbestimmungen zu wählen, mußte dem Menschen daher schon von Urzeiten her gekommen sein. Natürlich nahm er dabei zuerst als Maßstab die kürzesten Zeitwerte, wie er auch bei räumlichen Maßen die kleinsten Strecken wählte, die sich ihm an seinem eigenen Körper oder in seiner U m g e b u n g am leichtesten darboten. Der F u ß war bei allen Völkern das ursprünglichste und verbreitetste Raummäß. Für die Zeit w u r d e der periodische Wechsel von Tag und Nacht g e n o m m e n . K a r l E r n s t v. B a e r sprach die Ü b e r z e u g u n g aus, daß das kleinste Zeitmaß, daß wir eine Sekunde nennen und als künstliche Einheit benutzen, von unseren rhythmischen Pulsschlägen gewonnen ist; im vorgeschrittenen Alter schlägt das Herz annähernd 60 mal in der Minute. Seitdem diese Ü b e r z e u g u n g ausgesprochen wurde, hat sie durch meine Beobachtung der rhythmischen Pulsationen an den häutigen B o g e n g ä n g e n 1 bedeutend an Wahrscheinlichkeit und auch an Interesse gewonnen. W i r vermögen nämlich diese Pulsationen auch entotisch wahrzunehmen u n d sie sogar f ü r experimentelle P r ü f u n g e n zu verwerten. 2 Die Arterien1 2
Kap. I, § 9 des „ O h r l a b y r i n t h s " . Kap. V, § 10 des „Ohrlabyrinths».
Der arithmetische Sinn.
Zeit u n d Z a h l
95
sklerose soll die häufigste Ursache der Hörbarkeit der entotischen Geräusche sein; die Zahl von sechzig Herzschlägen in der Minute ist also von B a e r nicht mit Unrecht angerufen worden. Bei der allgemeinen A n e r k e n n u n g der großen Bedeutung, welche die Periodizität u n d der Rhythmus der unseren Beobachtungen zugänglichen äußeren und inneren zeitlichen Vorgänge f ü r den Zeitsinn besitzen, ist es leicht erklärlich, daß die meisten Forscher dem erfolgreichen Beispiele V i e r o r d t s folgend, bei ihren experimentellen Messungen dieser Vorgänge dem Rhythmus und dem Takt besondere Aufmerksamkeit gewidmet haben. N u r hat man dabei die Wahl der rhythmischen Vorgänge nicht immer gleich glücklich getroffen. So z. B. stellte W u n d t an die Spitze der rhythmischen Erscheinungen des menschlichen Körpers bei Versuchen über die Z e i t w a h r n e h m u n g die normalen O e h b e w e g u n g e n . Dies ganz mit Unrecht, und zwar aus folgenden zwei G r ü n d e n . Erstens sind unsere G e h b e w e g u n g e n im normalen Leben meistens arhythmisch. N u r beim Studium des Mechanismus der Pendelbewegungen unserer Beine beim normalen Gehen ( G e b r . W e b e r ) werden unsere G e h bewegungen wirklich rhythmisch ausgeführt. Zweitens brauchen die E m p f i n d u n g e n , die bei unseren G e h b e w e g u n g e n erzeugt werden, auch wenn unser G a n g rhythmisch geschieht, noch keineswegs rhythmisch auszufallen. Wir empfinden nicht den G a n g als solchen, die Verzerrungen der Haut, die D e h n u n g e n der Sehnen und Muskeln, die Reibungen in unseren Gelenken usw. Die W a h r n e h m u n g dieser sehr mannigfaltigen Empfindungsqualitäten kann uns unmöglich die Vorstellung der Abfolge von rhythmisch sich wiederholenden Empfindungen liefern. Die zeitlichen Vorgänge, welche sich bei den willkürlichen und reflektorischen Bewegungen unserer Körperteile abspielen, äußern sich hauptsächlich in den A b m e s s u n g e n d e r D a u e r und der R e i h e n f o l g e der I n n e r v a t i o n e n der bei diesen B e w e g u n g e n beteiligten Muskeln. Diese Abmessungen werden nach unserem jetzigen Wissen von den Nervenenden des Ohrlabyrinths b e h e r r s c h t und g e r e g e l t . Rhythmisch werden unsere Bewegungen aber n u r d a n n , wenn sie, wie beim Marsch, beim Tanzen usw., d u r c h rhythmische Gehörsempfindungen erzeugt und unterhalten werden. Die genaue Abmessung der Zeitdauer und der Reihenfolge der Innervationen m u ß zwar bei a l l e n z w e c k m ä ß i g e n Muskelbewegungen, arhythmischen wie rhythmischen, stattfinden; aber n u r ,
Zeit u n d R a u m
96
wenn die Einwirkungen der Reize, welche die Innervationen erzeugen, in regelmäßigen Zeitintervallen geschehen, kontrahieren sich die innervierten Muskeln ebenfalls rhythmisch. Bei den experimentellen Studien der zeitlichen Vorgänge kommen aber in erster Linie nicht die rhythmischen B e w e g u n g e n , sondern die rhythmischen E m p f i n d u n g e n in Betracht. Seit V i e r o r d t die Gehörsempfindungen als die geeignetesten Objekte für derartige Studien gewählt hat, konnten sämtliche Forscher die Überzeugung gewinnen, daß zwischen diesen Empfindungen und unseren Zeitwahrnehmungen oder Zeitvorstellungen ganz eigentümliche Beziehungen vorhanden sein müssen, denen man bei den Tast- oder Gesichtsempfindungen nicht begegnet. Es ist schon oben gezeigt worden, daß das am unmittelbarsten wahrnehmbare Element unserer Zeitvorstellung, die Zeitfolge, auf der Verrichtung der Bogengänge beruht. An diese letztere Beziehung hat bis jetzt noch keiner dieser Forscher gedacht. Dagegen erkennen sie übereinstimmend an, daß die mathematisch genaue Abstimmung der Reize, welche die Gehörsempfindungen erzeugen, von deren entscheidender Bedeutung bei den Zeitwahrnehmungen genügend Rechenschaft gibt. Die Intervalle, Pausen, Rhythmen und Takte, in welchen die Schallwellen auf unser Gehör einwirken, um harmonische Tonempfindungen hervorzurufen, gehorchen ganz bestimmten arithmetischen Gesetzen. Glücklicherweise sprechen die übereinstimmenden Meßergebnisse derjenigen Zeitwerte, die bei Versuchen über Gehörsempfindungen gewonnen wurden, schon allein eine klare Sprache zugunsten der funktionellen Beziehungen unserer Zeitwahrnehmungen zu den Verrichtungen des Ohrlabyrinths. Die genaue Analyse der Elemente dieser Wahrnehmungen, der Z e i t f o l g e und der Z e i t d a u e r , und deren Vergleichung mit den zahlreichen experimentellen Erfahrungen über die Rolle des Ohrlabyrinths bei der Regulierung und Abmessung der R e i h e n f o l g e und Z e i t d a u e r der Innervationen der Bewegungsorgane 1 liefern ebenfalls eindeutige und zwingende Belege dafür. S i e b e z e u g e n in s i n n f ä l l i g e r W e i s e , d a ß es d i e selben O r g a n e sind, welche die zeitlichen Vorgänge sow o h l in u n s e r e r E m p f i n d u n g s - , a l s in u n s e r e r B e w e g u n g s s p h ä r e b e h e r r s c h e n . Ja, noch mehr: die aus Tierversuchen gewonnenen Resultate über die Verrichtungen der verschiedenen Teile 1
Siehe Kap. III, §§ 7—10 des „Ohrlabyrinths«.
Der arithmetische Sinn.
Zeit u n d Z a h l
des O h r l a b y r i n t h s berechtigen zur A n n a h m e , d a ß solcher
Feinheit
erregungen stimmt zu
und
ihrem
Schärfe
Ursprünge
sind, unsere
setzen,
denen
die
Schon
die zeitlieh
abgemessenen
nach
tatsächlich
motorischen Hirnzentren
zweckmäßigen
Körperteile
gespeicherten
genau
97
mit
Bewegungen
möglichster
Reizkräfte
mit
Schall-
dazu
be-
in d e n S t a n d der
verschie-
Ersparnis
der
auf-
auszuführen.
bei niederen T i e r e n wurde der Nachweis
geliefert,
daß
zwischen den E r r e g u n g e n der N e r v e n e n d e n ihrer Otozysten und der R e g e l u n g ihrer B e w e g u n g e n ein kausaler Z u s a m m e n h a n g von hervorragender physiologischer Mit der
Bedeutung
dem Fortschreiten
physiologischen
labyrinths
erreichen
bei
schen
die
den
Herrschaft
Bewegungen
Sprache:
tage,
größere
der
des
und
erlangt
Ohrlabyrinths
in
dem
S p r a c h e und
und
bei
Herkunft
in
der von
Mechanismus
hat schon
Gehörorgane
der geniale
der
E. H. W e b e r
nicht
können,
weil
sie
. .
die
wahrnehmen,
diejenigen
der
die
wir
Muskeln
und
damit
E . v. C y o n ,
zu-
die
der ein
Jahren
ausgesprochen: hören, mit
der
Muskeln,
Q o t t und Wissenschaft.
dem
Bewegungen sie daher
Muskeln
nicht
hervor-
bestimmter
Ton und
dadurch
feinste
ab-
um so g e r i n g e
Größen
der
ein
bis
entstehende
aufs
welche Bd. 2.
sind
W i r können hier den G r a d
die
hervorbringen,
Es handelt sich h i e r b e i
Verkürzung
Weise
menschlichen
U n t e r allen Muskeln haben wir die der S t i m m e
Verkürzung
Spannung,
unserer Verrich-
v o r vielen
und weil
Anstrengungen
des A u g e s am meisten in der G e w a l t .
messen.
der
Wirkungen
welche
hervorbringen,
z u b r i n g e n , welche erforderlich sind,
der
bei
Bildung den
welche ihre S t i m m e n i c h t
stumm,
Stimmuskeln
entstehe.
Gehörs-
Stimme.
deswegen
erlernen
Den Men-
erst
anschaulicherer
wunderbaren
„Die Taubgeborenen,
ihrer
Muskel-
und
Muskeln
geahnt und mit meisterhafter Klarheit und Präzision eben
zwischen
beim
Schallerregungen
ihrer
Ohr-
Vollkommenheit.
willkürlichen
Augäpfel
und
des
n i r g e n d s tritt die f u n k t i o n e l l e B e d e u t u n g
als Dies
viel
die
der
Zeitwahrnehmungen tungen
Teile
die B e z i e h u n g e n
Vollkommenheit
über
Entwicklung
einzelnen
und den von ihnen beherrschten eine
dieser
empfindungen
der
höheren Tieren
allmählich
Gipfelpunkt
besteht.
morphologischen
Differenzierung
den G e h ö r s e m p f i n d u n g e n bewegungen
der
Mikroskop 7
und
ein
98
Zeit u n d Raum
M i k r o m e t e r e r f o r d e r n w ü r d e n , u m sie mit A u g e n d e u t l i c h s i c h t b a r u n d m e ß b a r zu m a c h e n . Diese Abmessung geht b e i d e n S t i m m u s k e l n d e s t o m e h r i n s F e i n e , je f e i n e r d i e W a h r n e h m u n g d e r T ö n e d u r c h d a s O h r i s t . 1 Welche geringe Abänderungen der Länge und der S p a n n u n g der Stimmmuskeln gehört dazu, damit der Ton von der erforderlichen Reinheit nicht um ein Merkbares abweiche, und dennoch bringt ein geübter Sänger ganze Reihen von Tönen sehr rein hervor." Man darf in dem Einfluß der s i c h t b a r e n Taktbewegungen des Taktierstabes des Kapellmeisters auf das T e m p o des Orchesterspiels (besonders der Streichinstrumente) k e i n e n W i d e r s p r u c h mit der s e k u n d ä r e n B e d e u t u n g des G e s i c h t s s i n n e s bei der Regulierung des zeitlichen Verlaufs der Innervationen sehen. Dieser Einfluß beruht teilweise auf rein reflektorischer N a c h a h m u n g sichtbarer Bewegungen, zum größeren Teil aber auf der Reproduktion von Gehörseindrücken, die im Gedächtnis beim Einstudieren angehäuft wurden. Das W a h r n e h m e n der T o n e m p f i n d u n g e n ist bei weitem keine notwendige B e d i n g u n g , damit das Ohrlabyrinth bei der Verteilung der Muskelinnervationen entscheidend eingreife. Bei den Schlingu n d Schluckbewegungen ist die genaue Abmessung ihrer Dauer u n d Reihenfolge nicht minder erforderlich, als beim Sprechen und Singen; die T o n e m p f i n d u n g e n bleiben aber dabei ganz unbeteiligt, die von dem Ohrlabyrinth beherrschten Zählvorrichtungen werden auf rein reflektorischem W e g e in Tätigkeit gesetzt.
§ 5.
Die Tonempfindungen und der arithmetische Sinn. Schlußwort.
„Sollte eine p o s i t i v e B e a n t w o r t u n g d e r viel d i s k u tierten Frage über die E n t s t e h u n g der Z e i t e m p f i n d u n g der W i s s e n s c h a f t j e m a l s m ö g l i c h w e r d e n , so w ü r d e d a s zu n i c h t s G e r i n g e r e m f ü h r e n , a l s z u r E r k e n n t n i s der Natur und Wesenheit der Seele und ihrer Wechselbez i e h u n g e n zur N e r v - und M u s k e l t ä t i g k e i t ; d e n n , die allmähliche Entstehung der Z e i t - E m p f i n d u n g e n und -Wahrn e h m u n g e n b e g r e i f e n , heißt nichts a n d e r e s , als die P s y c h e 1
Von mir gesperrt wiedergegeben.
D e r arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
99
v o n i h r e n e r s t e n R e g u n g e n an g e n e t i s c h k o n s t r u i e r e n " . Mit diesen bedeutungsvollen Worten hat V i e r o r d t vor fünfzig Jahren den letzten Paragraphen seines klassischen »Zeitsinnes" eingeleitet. Die Aufgabe der Physiologie bei der Lösung eines Problems von so entscheidender psychologischer Tragweite besteht nach V i e r o r d t in der Entscheidung der folgenden Frage: „Wie gelangt ein mit gewissen rudimentären, an sich völlig u n e r k l ä r b a r e n psychischen Anlagen und Eigenschaften ausgestatteter Organismus zur allmählichen U n t e r s c h e i d u n g seines Ichs von der A u ß e n w e l t und zur K e n n t n i s der r ä u m l i c h e n und zeitlichen Beziehungen eben der Dinge dieser Außenwelt" (S. 182). W a s die »räumlichen Beziehungen" anlangt, so ist es nach Jahrzehnte lang fortgesetzten experimentellen Forschungen gelungen, eine befriedigende und anschauliche Lösung des psycho-physiologischen P r o b l e m s zu geben; die sechs ersten Kapitel meines Ohrlabyrinths" bezeugen dies zur G e n ü g e . An der Hand der zahlreichen, dabei gewonnenen tatsächlichen Ergebnisse und Erfahrungen versuchte ich in den vorangehenden Paragraphen dieses Kapitels, den physiologischen U r s p r u n g u n d die Bedeutung der zu unserer W a h r n e h m u n g gelangenden Zeitwerte festzustellen und deren Anteil an der Bildung unseres Selbstbewußtseins aufzuklären. Die Erkenntnis der wahren Beziehungen zwischen den Schallerregungen einerseits und den zeitlichen Abmessungen der Reihenfolge und Dauer der Muskelinnervationen und der E m p f i n d u n g e n der speziellen Sinnesorgane andererseits haben es gestattet, den sogenannten Zeitsinn auf seine wichtigste funktionelle Bestimmung als Meßvorrichtung zurückzuführen. Wie bei allen Meßvorrichtungen spielen auch beim Zeitsinn die Zahlen eine wichtige Rolle. O h n e Zahlenkenntnis oder Zahlenbewußtsein kann der Zeitsinn seine Bestimmung gar nicht erfüllen. Der Aufbau unserer Vorstellungen vom dreidimensionalen Räume beruht allein auf den W a h r n e h m u n g e n der drei Richtungen unseres Bogengangsapparates, ohne irgendwelche Beihilfe der Zahlen; wir könnten eine Geometrie ohne G r ö ß e n l e h r e haben. Dem ist nicht so beim Zeitsinn. N u r die zu unserer unmittelbaren W a h r n e h m u n g gelangende Zeitfolge (Zeitordnung, Aufeinanderfolge) bedarf der W a h r n e h m u n g der Richtung! O h n e Zahlen gibt es keine Zeitwerte, ist also auch die Bildung unseres Zeitbegriffs oder unserer Zeit7*
Zeit und Raum
100 Vorstellung u n m ö g l i c h . welcher
in
den
Innervationen Innervation sich
«Bei der außerordentlichen Genauigkeit,
hier
behandelten
Vorgängen
die
u n d a u c h die W a h l des Z e i t p u n k t e s , w o j e d e
beginnen
meistens um
und
enden
unendlich
soll,
geschehen
kleine Zahlen.
mit
Abmessung muß,
der
einzelne
handelt
es
Diese Abmessungen
in
d e n m o t o r i s c h e n H i r n z e n t r e n , w e l c h e als E n e r g i e s p e i c h e r u n d E n e r g i e messer funktionieren,1 erfordern
e i n e viel g r ö ß e r e P r ä z i s i o n , als d i e
bei den
künstlichen
der Zeitwerte von
siologen
angewendeten"
Versuchen Wesen
Messungen
wir,
einen
auch
der Rechenoperationen
messungen
der Innervationen
wie
die
Armes,
müssen
gesandt
werden:
Hebung Impulse den
der
Phy-
nur annähernden
Begriff von
dem
zu g e b e n , die bei d e n zeitlichen A b in
Betracht
Bei jeder zweckmäßigen B e w e g u n g , einfach
Seiten
(1907).
einer einer
Last
kommen. u n d w ä r e sie a u c h
durch
größeren
Beugemuskeln
die
Anzahl
in
dem
nur
Beugung von
Muskeln
gegebenen
so
unseres zu-
Beispiel,
w e l c h e n die H a u p t a u f g a b e z u k o m m t , d e r e n G e g e n m u s k e l n , w e l c h e die Ü b e r t r e i b u n g d e r a u s z u f ü h r e n d e n B e w e g u n g zu h i n d e r n A b - und Adduktoren, die
den
Oberarm
haben,
fixieren,
den
Nacken-
und
Rückenmuskeln,
d e m K o p f e u n d d e m O b e r k ö r p e r die g ü n s t i g s t e S t e l l u n g g e b e n , die
gewollte
Arbeit
und Muskelkräften beteiligten
mit
Zahl
erhalten.
Die
möglichst
zu v o l l z i e h e n
Muskeln
schiedene
muß
von
geringem
usw.
bei
Jeder
seiner
Aufwände einzelne
Innervation
Auslösungsreizen
Momente,
wo
für
jeden
in
der
Muskel
von
metischen dabei Die
in
den
„Feinheit
bei
diesen
Grenzen und
von
Schärfe",
dabei
eine
mit
der
Ohrlabyrinths
beherrscht werden,
Refleximpulse
funktionieren,
sein.
der
Glieder-
Sie steigern
Bewegungen
1
Rindensubstanz,
sich
und
der die
die von
die
Innervation müssen
Die
arith-
einer
wunderbaren den
sich
Sekunde. Rechen-
Nervenenden
bei V e r t e i l u n g d e r W i l l e n s -
müssen
also
schon
Rumpfmuskeln
bedeutend,
ver-
bewegen
Tausendsteln
mechanismen
wegungen
Operationen
wenn
ähnlicher Muskelgruppen
bei
ganz
es sich
handelt,
Siehe Kap. III, §§ 7 u. 8 des „Ohrlabyrintlis".
um
Zeiteinheit
b e s t i m m t und a b g e m e s s e n werden.
Werte
die Reiz-
der
b e g i n n t , s o w i e die Z e i t d a u e r , w ä h r e n d d e r e n sie a n h a l t e n soll, ebenfalls g e n a u
den
die d e n V o r d e r a r m , s o w i e d e n S c h u l t e r m u s k e l n ,
des oder
einfachen
Be-
außerordentliche
um
kompliziertere
wie bei d e m
kiinst-
101 lerischen T u r n e n eines Akrobaten oder Seiltänzers, wo ein Irrtum in der Zeitdauer von einigen Tausendstel Sekunden verhängnisvoll werden kann und häufig auch wird. Die Leistungen der Zählapparate unserer Ganglienzellen erheischen eine ganz außerordentliche Präzision, wenn es sich um die Innervationen der S p r a c h - u n d S t i m m u s k e l n oder gar um die der A u g e n m u s k e l n handelt. Hier handelt es sich nicht allein nur um Rechnungen mit unendlich kleinen Zahlen, sondern auch um die außerordentliche Geschwindigkeit, mit der diese Rechenoperationen ausgeführt werden müssen, damit sie ihr Ziel erreichen. Die Operationen selber beschränken sich wahrscheinlich auf die vier elementaren Regeln: Addition, Subtraktion, Multiplikation und Division. S i e w e r d e n n a c h g e w i e s e n e r m a ß e n v o n g e w i s s e n s e n siblen Endnerven des O h r l a b y r i n t h s beherrscht und ausg e f ü h r t , bei Wirbellosen ausschließlich von den Otozysten, bei den höheren Wirbeltieren, besonders aber beim Menschen auch durch die Schnecke. Schon W e b e r hat gezeigt, daß geübte Musiker noch einen Unterschied der T o n h ö h e wahrzunehmen v e r m ö g e n , welche den Schwingungsverhältnissen 1000 zu 1001 entspricht. Das gibt 1 / 6 4 eines halben Tones, was eine noch kleinere G r ö ß e ist, als der Abstand der C o r t i s c h e n Fasern voneinander. Seitdem haben die zahllosen nach dem Vorgange V i e r o r d t s von Physiologen u n d Psychologen ausgeführten Meßversuche unserer Zeitwahrnehmungen übereinstimmend ergeben, mit welcher Feinheit wir auch die winzigsten Zeitunterschiede zu erkennen vermögen. Diese Fähigkeit der Schnecke, mit solcher P r ä z i s i o n so f e i n e R e c h e n o p e r a t i o n e n a u s z u f ü h r e n , z w i n g t zu d e r A n n a h m e , daß letztere ein w a h r e s a r i t h m e t i s c h e s Sinneso r g a n ist, d e m wir die u n m i t t e l b a r e K e n n t n i s d e r e l e m e n taren Regeln der Rechenkunst verdanken. Da unsere Zeitw a h r n e h m u n g e n mit Ausnahme der unmittelbaren Empfindungen der Zeitfolge auf dieser Zahlenkenntnis beruhen, s o i s t d e r S c h l u ß b e r e c h t i g t , d a ß d e r Z e i t s i n n in e n g e r f u n k t i o n e l l e r B e z i e h u n g zum arithmetischen S i n n e s o r g a n stehe. Wie die drei Richtungsempfindungen der Bogengänge uns die Vorstellung eines dreidimensionalen Raumes ermöglichen, ja geradezu aufzwingen, so sind wir auch imstande, von den beiden Komponenten des Zeitbegriffes, nämlich d e r R i c h t u n g u n d d e r Z a h l (bei der Zeitdauer), d i e e r s t e r e in d e n B o g e n g a n g a p p a r a t ,
102
Zeit u n d Raum
d i e z w e i t e in d i e S c h n e c k e z u v e r l e g e n . A u c h 'das O r g a n d e s Z e i t s i n n s h a t s e i n e n S i t z im O h r l a b y r i n t h . D e r Beg r i f f d e r Z e i t w i r d g e b i l d e t d u r c h A s s o z i a t i o n e n in d e n H i r n z e n t r e n , wo die W a h r n e h m u n g e n der R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n des B o g e n g a n g a p p a r a t e s mit denen der T o n empfindungen der Cortischen Fasern, denen wir die Kenntnis der Zahl verdanken, zusammentreffen. Meine älteren Untersuchungen haben ergeben, daß der Bogeng a n g a p p a r a t als das g e o m e t r i s c h e S i n n e s o r g a n betrachtet werden muß. Wir haben eben gesehen, daß das Cortische Organ das Recht b e a n s p r u c h e n kann, das Organ des arithm e t i s c h e n S i n n e s zu s e i n : mit e i n e m W o r t e , d a s O h r l a b y rinth enthält zwei m a t h e m a t i s c h e S i n n e s o r g a n e für Richt u n g = Raum und Zahl = Zeit.1 Es wurde noch bis vor kurzem auch von den G e g n e r n des aprioristischen U r s p r u n g e s der R a u m - und Zeitvorstellungen stillschweigend a n g e n o m m e n , daß der Begriff der Z a h l ein bloßes Produkt unseres Geistes sei. Man gelangte zu dieser Annahme ohne weitere Beweisführung n u r durch die außerordentliche Entwicklung der mathematischen Wissenschaften. Da diese Entwicklung unzweifelhaft auf geistigen Operationen beruhte, so schloß man, daß sinnliche W a h r n e h m u n g e n bei diesen Operationen, auch bei den einfachsten u n d ursprünglichsten, keinerlei Rolle spielen und auch nie gespielt haben. Für den denkenden Naturforscher braucht die Frage nach d e r ä u ß e r e n R e a l i t ä t der Zeit und der Zahl kaum diskutiert zu w e r d e n ; beruht doch die ganze physikalische W e l t o r d n u n g auf räumlich und zeitlich streng mathematisch geregelten Gesetzen. Wenn auch der physiologische U r s p r u n g der sinnlichen E m p f i n d u n g e n und W a h r n e h m u n g e n von Raum, Zeit und Zahl uns bis auf meine Untersuchungen unbekannt geblieben war, so gestatteten doch tägliche zahllose Beobachtungen und Experimente die Gültigkeit dieser Gesetze, also die R e a l i t ä t d e r v o n i h n e n b e h e r r s c h t e n E r s c h e i n u n g e n zu b e w e i s e n . Andererseits vermögen wir ebensowenig der Lehre von den Zahlen, d. h. der Arithmetik ihre Grundgesetze v o l l s t ä n d i g vorzuschreiben, wie der Geometrie. Die vier Regeln der Arithmetik 1
Siehe Kap. IV, § 10 u n d Kap. VI, § 5 des „ O h r l a b y r i n t h s " .
103 besitzen ebenso ihre absolute Gültigkeit wie die Axiome der E u k l i d i s c h e n Geometrie. Durch geistige Operationen gewonnene Gesetze können aber auf absolute Gültigkeit n u r dann Anspruch machen, wenn ihr U r s p r u n g auf sinnlicher E r f a h r u n g beruht und wenn sie auf experimentellem W e g e bestätigt werden können. In Wirklichkeit drängen uns die Zahlen die ihnen innewohnenden Regeln u n d Gesetze auf. Die ursprünglichen Fortschritte der Arithmetik bestanden darin, auf G r u n d der zu unserem Bewußtsein gelangenden W a h r n e h m u n g e n der Schallerregungen die ersten Elemente der Zahlenverhältnisse allmählich zu abstrahieren, sie ihrem wahren Wesen nach zu erkennen, sie jahrtausendelang auf die äußeren Vorgänge anzuwenden und so zur Feststellung ihrer objektiven Regeln und Gesetze zu gelangen. D i e v i e r e l e m e n t a r e n Regeln der Arithmetik werden uns also durch die sinnl i c h e n W a h r n e h m u n g e n d e r b e s o n d e r s auf g e w i s s e Z a h l e n a b g e s t i m m t e n N e r v e n f a s e r n des C o r t i s c h e n O r g a n s geg e b e n . Wir verdankten den Erregungen dieser Nervenenden zuerst die Fähigkeit, unsere Bewegungsimpulse abzumessen, die Phonetik zu bilden und unsere Sprache zu entwickeln. Es gehörten viele Jahrtausende dazu, ehe der Mensch die T o n e m p f i n d u n g e n f ü r die Musik verwendete und die Gesetze der Harmonie erkannte, die in den Zahlenverhältnissen der Schallerregungen gegeben sind. Mit anderen W o r t e n : ebensowenig wie die Richtungsempfindungen des Bogengangsapparates ursprünglich zur Ausbildung der E u k l i d i s c h e n Geometrie als Wissenschaft bestimmt waren, ebensowenig hatten die harmonischen T o n e m p f i n d u n g e n den Zweck, uns M o z a r t s Requiem, die Symphonien von B e e t h o v e n und die Messen von B a c h genießen zu lassen oder die Gleichungen von M a x w e l l zu entwickeln. Sowohl der geometrische Sinn der Bogengänge als der arithmetische Sinn der Schnecke dienten zuerst zu unserer Orientierung in Raum und Zeit, zur Ausbildung unserer Sprache und Stimme; und erst nach Jahrtausenden ontogenetischer und vielleicht auch phylogenetischer Entwicklungen führten sie zur Bildung der mathematischen Wissenschaft, zur S c h ö p f u n g der bildenden Künste und der Musik. Die zahlreichen in den letzten Jahrzehnten sich häufenden Entdeckungen in der Geschichte der mathematischen Wissenschaften bei den Chaldäern, Assyrern, Ägyptern und besonders bei den Griechen zeugen sämtlich klar g e n u g zugunsten des empirischen U r s p r u n g e s
104
Zeit u n d Raum
unserer mathematischen Kenntnisse. 1 Auf die tatsächlichen Ergebnisse dieser neuen Forschungen kann hier, trotz der großen Bed e u t u n g , die sie auch f ü r den Naturforscher besitzen, nicht eingegangen werden. Aus dem reichhaltigen Material der Entwicklungsgeschichte der mathematischen Wissenschaften wollen wir hier n u r dasjenige wichtige Ergebnis hervorheben, das unsere Lehre von dem s i n n l i c h e n U r s p r u n g der Geometrie und der Zahlenlehre bekräftigt. F a s t a l l s e i t i g w i r d j e t z t d e r e m p i r i s c h e U r s p r u n g der mathematischen Wissenschaften anerkannt, hauptsächlich was' die G e o m e t r i e u n d die e l e m e n t a r e n R e g e l n d e r Arithmetik betrifft. Freilich verstehen die Mathematiker unter empirischem U r s p r u n g nicht immer die Entstehung durch die E r f a h r u n g e n spezieller Sinnesorgane, wie dies der Physiologe zu tun gezwungen ist. Wie niemand vor mir auf den Gedanken gekommen war, die Richtungsempfindungen der drei Bogengänge als die Quelle des Ausdehnungsbegriffs zu betrachten, ohne den keine empirische Lehre unserer Raumvorstellungen bestehen kann, so hat meines Wissens bis jetzt niemand, nicht einmal H e l m h o l t z , die Vermutung ausgesprochen, daß wir in den T o n e m p f i n d u n g e n eine Quelle f ü r W a h r n e h m u n g e n besitzen, welche durch Abstraktion zur Bildung des Zahlenbegriffs führen müssen. D i e s i s t a n s i c h n o c h v i e l ü b e r r a s c h e n d e r , als die Kenntnis der Zahlen und der G r u n d r e g e l n der Arithmetik sowie die Entstehung unserer Zahlenbegriffe den Empfindungen des Ohrlabyrinths zuschreiben zu können. D a ß ein derartiger kausaler Z u s a m m e n h a n g nicht schon Hunderten von Forschern in den Sinn gekommen ist, m u ß um so mehr Erstaunen erregen, als man in der Geschichte der ersten Entwicklung der Mathematik als Leitmotiv sowohl bei Philosophen wie bei Mathematikern häufig Betrachtungen über den wunderbaren Z u s a m m e n hang der Gesetze der H a r m o n i e mit den Gesetzen der Planetenbewegungen findet. P y t h a g o r a s , der die gesetzlichen Verhältnisse zwischen der musikalischen Harmonie und den Seitenlangen der Streichinstrumente genau erkannte, sowie viele andere griechische Philosophen haben der M u s i k eine sehr weitgehende kosmogonische, ja sogar soziale Bedeutung zugeschrieben, und zwar nicht etwa der musikalisch-ästhetischen Genüsse wegen, die wir ihr verdanken, son-
1
Siehe die Werke von C a n t o r , C o u t u r a t und b e s o n d e r s die n e u e s t e n
Schriften v o n P a u l
Tannery.
Der arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
105
d e m ganz besonderer mystischer Kräfte halber, die den Zahlen innewohnen und die eine universelle Tragweite besitzen sollen. Die G e s e t z e der Z a h l e n h a r m o n i e sollten die Welt beherrschen! Diese mystischen Ideen sind aus Ägypten und Assyrien zusammen mit den ersten Grundlagen der Geometrie nach Griechenland herübergekommen. Ja sogar C o n f u c i u s hat schon analoge Ansichten über die Musik und die W e l t o r d n u n g geäußert. Erst neuestens sollen assyrische Inschriften gefunden worden sein, welche bereits die berühmte P l a t o n i s c h e Zahl darstellen und ebenfalls zu ganz mystischen Deutungen und Kommentaren geführt haben. Überhaupt haben im Altertum sowohl Priester als Philosophen die Geometrie und die Lehre von den Zahlen als Wissenschaften betrachtet, die vor der Neugierde des Volkes geheim gehalten werden müssen. Ü b e r der T ü r der philosophischen Schule P i a t o s prangten die W o r t e : „Niemand hat hier Zutritt, der nicht Mathematiker ist." Erst im 5. Jahrhundert v. Chr. gelangte die Geometrie des P y t h a g o r a s in die Öffentlichkeit, dank dem Verrat zweier seiner Schüler. Diese Geometrie, in der zuerst die Zahlenlehre auf Linien, Flächen und Volumen angewendet wurde, enthielt schon die Elemente der E u k l i d i s c h e n Geometrie. Letztere ist unverändert und vollgültig bis auf die neueste Zeit übergegangen und wird trotz ihrer Anzweifelung in den letzten Dezennien und trotz der Angriffe von neugebildeten, Nicht-Euklidischen Geometrien noch viele Jahrtausende ihre volle Gültigkeit bewahren. U n d z w a r a u s d e m e i n f a c h e n a b e r e n t s c h e i d e n d e n G r u n d e , weil i h r e w i c h t i g s t e n A x i o m e u n d D e f i n i t i o n e n auf den E m p f i n d u n g e n u n d W a h r n e h mungen eines speziellen Sinnesorgans beruhen. Ebenso werden die den gleichen U r s p r u n g besitzenden vier G r u n d regeln der Arithmetik ihre Gültigkeit immer behalten. Jahrtausendelang philosophierten Mystiker und Metaphysiker vergebens über die geheimen Kräfte der Zahlen und die W u n d e r der geometrischen Formen. Es genügte der experimentelle Nachweis, daß wir im Ohrlabyrinth Sinnesorgane besitzen, welche unsere ganze Bewegungssphäre beherrschen und durch Richtungsempfind u n g e n und besondere Zählvorrichtungen uns die Orientierung in Raum und Zeit und die Bildung der menschlichen Sprache ermöglichen, um den mystischen Schleier zu lüften, der solange die W a h r heit unserem Geiste verhüllt hatte! Welch glänzender Sieg der
106
Zeit u n d
Raum
experimentellen Physiologie über die ewig sterile Metaphysik auch auf dem Gebiete der Psychologie! Das P r o b l e m des U r s p r u n g e s unserer Begriffe von der U n endlichkeit des Raumes und der Zeit hängt eng mit den hier der Lösung entgegengeführten Fragen zusammen. D a s w a h r e H i n d e r n i s , das sich u n s e r e n V o r s t e l l u n g e n v o n d i e s e r U n e n d l i c h keit e n t g e g e n s t e l l t , ist, d a ß wir s o w o h l d e n w i n z i g e n T a s t raum als den i m m e n s e n S e h r a u m begrenzt w a h r n e h m e n . Es wurde oben erwähnt, daß E. H. W e b e r dem Geruchs- und Gehörssinne auf G r u n d einiger Versuche jeden Orts- und Raumsinn abgesprochen hat, weil sie keine Gestalt bilden. Auch einige eminente Psychologen, wie z. B. S t u m p f , glaubten, den Ton- und Gehörsempfindungen jede räumliche Qualität absprechen zu müssen. Dies r ü h r t e d a h e r , daß wir die G r e n z e n des H ö r r a u m e s sowie des G e r u c h s s i n n s nicht wahrzunehmen vermögen. In Wirklichkeit sind die räumlichen und zeitlichen Qualitäten des Gehörssinns, dank den Richtungsempfindungen des Bogengangsapparates, von viel größerer Bedeutung als die des Tast- und Sehraumes: diesen E m p f i n d u n g e n v e r d a n k e n wir unsere V o r s t e l l u n g oder richtiger den Begriff der Unendlichkeit des Weltenr a u m e s : d i e R i c h t u n g ist i h r e m W e s e n n a c h u n t e i l b a r u n d unbegrenzt.1 Den T o n - o d e r S c h a l l e m p f i n d u n g e n , i n s o f e r n sie u n s die K e n n t n i s der Z a h l e n g e b e n , v e r d a n k e n wir unseren Begriff der U n e n d l i c h k e i t der Zeit, denn die Z a h l ist i h r e m W e s e n n a c h u n e n d l i c h e n t w i c k e l b a r . Es sollen hier noch einige Worte über die verschiedene Ausbildung der beiden gesonderten Sinnesorgane, des einen f ü r die Bildung unserer geometrischen Raumformen, des anderen, dem wir die Zahlenkenntnis u n d die arithmetischen Regeln verdanken, hinzugefügt werden. Es ist eine allbekannte Tatsache, daß man unter den Matheinatikern zwei ganz verschiedene Geistesanlagen zu unterscheiden vermag: die einen sind besonders f ü r die Geometrie, die anderen f ü r die Analysis begabt. Dies gilt nicht nur f ü r ausgebildete Mathematiker, sondern auch f ü r Anfänger in den mathematischen Studien. Lehrern der Mathematik ist die Erfahrung bekannt, daß beim Beginn des geometrischen Unterrichts ein Teil der Schüler
' Siehe m e i n e Bd. 118.
letzte M i t t e i l u n g v o m J a h r e 1907 in P f l ü g e r s
Archiv,
D e r arithmetische Sinn.
Zeit u n d Zahl
107
viele Demonstrationen der Lehrsätze f ü r überflüssig hält; sie f ü h l e n a u s r e i n e r A n s c h a u u n g deren Richtigkeit und sind über die A n h ä u f u n g der Beweise erstaunt. Solche Schüler tun sich später gewöhnlich auch durch Geschicklichkeit in geometrischen Zeichnungen und durch leichte Auffassung der Geometrie des Raumes hervor. Ein anderer Teil der Schüler dagegen zeichnet schlecht und begegnet großen Schwierigkeiten, um die projektivische Geometrie zu verfolgen, während er f ü r arithmetische Rechnungen und algebraische Studien sehr begabt ist. Die Trigonometrie und die Theorien der Arithmetik üben auf solche jungen Leute gewöhnlich einen eigentümlichen Reiz aus. Diese Differenzen fallen natürlich bei hervorragenden Mathematikern erst recht auf. So z. B. waren von den Mathematikern der Neuzeit R i e m a n n und B e r t r a n d vorzugsweise Geometer. Sie bedurften der sinnlichen Anschauung, um ihre weitgehenden Deduktionen entwickeln zu können; andere dagegen, wie H e r m i t e und W e i e r s t r a ß , vermieden mit einer gewissen Scheu jedwede V e r a n s c h a u l i c h u n g . Die abstrakte Analysis mit Hilfe von verwickelten Zahlengleichungen war das Hauptgebiet ihrer wissenschaftlichen Forschungen. Ich hatte Gelegenheit, bei meinen beiden mathematischen Lehrern die gleichen Unterschiede zu beobachten. Prof. Z ö l l n e r , der mich in die analytische Geometrie eingeführt hat (Leipzig, 1867), war auch in seinen physikalischen und astronomischen Studien reiner Geometer. B o l t z m a n n , der mir 1868 in Wien Privatunterricht in der Differenzial- und Integralrechnung erteilte, träumte nur von Gleichungen. Die B e w u n d e r u n g der Gleichungen von M a x w e l l beherrschte sein ganzes Wirken in der Physik. Bei der jetzigen Gestaltung der Lehre von den Verrichtungen des Ohrlabyrinths kann man mit einiger Wahrscheinlichkeit voraussetzen, daß die, welche hauptsächlich Geometer sind, besonders fein empfindende Bogengangsapparate und dementsprechend auch sehr entwickelte Hirnzentren für die W a h r n e h m u n g der Richtungsempfindungen besitzen. Dagegen werden Mathematiker, welche ihre Probleme nur mittels abstrakter G r ö ß e n und analytischer Gleichungen zu lösen suchen, einen besonders feinen Bau der nervösen Gebilde der Schnecke und der entsprechenden Gehirnzentren aufweisen. Bei den ersteren dominiert die Tätigkeit des Vestibulär-, bei den letzteren die des Cochlearnervensystems. Nicht minder bekannt ist die Tatsache, daß sowohl musikalische als mathematische Begabung sich besonders frühzeitig bei Kindern
108
Zeit und Raum
zu offenbaren pflegen. So außerordentliche Beispiele vdn Frühreife, wie sie z. B. P a s c a l und J. B e r t r a n d oder M o z a r t und B i z e t gegeben haben, finden sich in keinem anderen Zweige der menschlichen Kunst oder des menschlichen Wissens. Der Fall von J n a u d i ist überall beschrieben und allgemein bekannt. Viel merkwürdiger aber sind die Beobachtungen an dem 4jährigen Knaben O t t o P ö h l e r , die S t u m p f mit großer Schärfe analysiert hat. Dieser Knabe zeigte außer einem f ü r sein Alter ungewöhnlichen Gedächtnisse f ü r Z a h l e n und einem außerordentlichen Verständnisse f ü r Z a h l e n V e r h ä l t n i s s e , in V e r b i n d u n g mit gewissen Gesichtseindrücken, auch ein ganz eigenartiges Verhalten zur M u s i k . Er besaß f ü r T ö n e eine fast krankhafte Empfindsamkeit. Er unterschied sie sehr fein voneinander, nicht aber ihrer H ö h e , sondern ihrem »Gewichte" nach: ein tiefer T o n wog 2 0 0 P f u n d , ein hoher n u r 1 P f u n d . (Sollte dies nicht auf dem Einfluß der Schallerregungen auf die Bewegungsorgane b e r u h e n ? ) D a s R e c h n e n w a r i h m e b e n s o p e i n l i c h , ja g e r a d e z u s c h m e r z h a f t , w i e g e w i s s e M u s i k . Er führte ungern Rechenoperationen aus, auch wenn er sie längst kannte, weinte beim Pianospielen und konnte keine Orgel und keine Militärmusik vertragen ( S t u m p f , Un enfant extraordinaire. Revue scientifique 1897). Die Erklärung liegt auf der H a n d : d e r m u s i k a l i s c h e u n d mathematische Sinn sind Verrichtungen desselben Organs. Mancher Laie mag es sonderbar finden, wenn leidenschaftliche Mathematiker von der Ästhetik der Zahlengruppen oder von der Harmonie der Gleichungen sprechen. U m dies richtig zu würdigen, bedenke man n u r , daß wir von allen Sinnesorganen dem G e h ö r organ die unmittelbarsten ästhetischen Genüsse verdanken. Durch Hineinziehung des Zeit- und Zahlenproblems in den Bereich der Untersuchungen über das Ohrlabyrinth ist an unserer Lehre von den Verrichtungen des Bogengangsapparates bei der Orientierung im Räume u n d als des O r g a n s f ü r den Raumsinn, so wie ich sie in den sechs ersten Kapitel n meines » O h r l a b y r i n t h s " entwickelt und weiter oben (Kap. I, § 2) zusammengefaßt habe, nicht viel Wesentliches geändert worden. Es erübrigt daher nur noch, die Hauptpunkte der in diesem Kapitel entwickelten Lehre von den Verrichtungen des Ohrlabyrinths, die an der Bildung unserer Begriffe von Zeit und Zahl teilnehmen, in einigen Sätzen zusammenzufassen.
Der arithmetische Sinn.
Zeit und Zahl
109
1. Die Orientierung in d e r Z e i t u n d die Bildung unserer Zeitbegriffe beruhen ebenso wie die Orientierung im Räume und die Bildung unserer Raumvorstellungen vorzugsweise auf den Verrichtungen des Ohrlabyrinths. 2. Für die bloße Orientierung in der Zeit genügt die Empfind u n g der Zeitfolge, d. h. die u n m i t t e l b a r e W a h r n e h m u n g d e r z e i t l i c h e n R i c h t u n g , in welcher die äußeren Erscheinungen, die wir durch die E m p f i n d u n g e n unserer fünf speziellen Sinne erkennen, verlaufen. Die Kenntnis dieser Richtung verdanken wir den Funktionen des Bogengangsapparates. 3. Die Dauer und die Geschwindigkeit, welche das bei weitem wichtigste Element für die Bildung unserer Zeitbegriffe abgeben, gelangen zu unserer W a h r n e h m u n g durch annähernde Abschätzung oder genaue Abmessung der Z e i t s t r e c k e n , aus denen die k o n t i n u i e r l i c h e Zeitfolge besteht. 4. Die Kontinuität unserer zeitlichen W a h r n e h m u n g e n beruht darauf, daß es keine f r e i e n I n t e r v a l l e , d. h. keine Z e i t l e e r e n in den Erregungen u n d E m p f i n d u n g e n unseres sensiblen Nervensystems gibt. D e m Wesen dieser W a h r n e h m u n g e n entsprechend kann auch bei ihnen nicht die Rede von Reizschwellen sein. 5. Die Labyrinthteile, welche unsere ganze Bewegungssphäre räumlich regulieren, und zwar durch Abmessung und Abstufung der I n t e n s i t ä t jener Innervationen, die die Hirnzentren unseren Muskeln erteilen, beherrschen unsere Bewegungen auch z e i t l i c h , indem sie genau die Z e i t f o l g e und die Z e i t d a u e r dieser Innervationen regulieren und abmessen. Auf der Feinheit und Schärfe dieser Regulierung und Abmessung beruht beim Menschen auch die Bildung seiner Sprache. 6. Die f ü r die Abmessung der zeitlichen Vorgänge in unserer E m p f i n d u n g s - und Bewegungssphäre erforderliche Zahlenkenntnis wird uns durch die arithmetisch genau abgestimmten Schallerregungen der Nervenenden in der Schnecke (und den Säckchen) geliefert. 7. In den Hirnzentren, wohin diese Erregungen der Nervenenden übertragen und wo sie zu Messungen verwendet werden, besitzen wir wahre Rechenvorrichtungen. Die Schnecke darf daher als das a r i t h m e t i s c h e S i n n e s o r g a n , analog dem geometrischen Sinne des Bogengangapparates, bezeichnet werden. Was für den letzteren die R i c h t u n g s e m p f i n d u n g e n , bedeuten für die Schnecke die T o n empfindungen.
110
Zeit und Raum 8.
D u r c h die Lokalisierung des R a u m - u n d Zeitsihnes im O h r -
labyrinth u n d d u r c h die A u f k l ä r u n g des wahren M e c h a n i s m u s ihrer Verrichtungen hat die W e b e r - V i e r o r d t s c h e A u f f a s s u n g dieser S i n n e als G e n e r a l s i n n e
einen
festen physiologischen Boden
gewonnen.
Insofern diese V e r r i c h t u n g e n von d e n geometrischen u n d arithmetischen S i n n e s o r g a n e n a u s g e ü b t werden, erweist sich auch die von diesen
Forschern
ihnen
beigelegte B e z e i c h n u n g
»mathematische
G e n e r a l s i n n e " als auf einer richtigen A h n u n g des reellen Tatbestandes beruhend. 9.
Die U n t e r s u c h u n g e n
ü b e r die E n t s t e h u n g
u n s e r e r Vorstel-
l u n g eines d r e i d i m e n s i o n a l e n R a u m e s a u s d e n W a h r n e h m u n g e n drei
Grundrichtungen
haben wir
mich s c h o n
die
Bildung
durch
vor J a h r e n unseres
Erregungen
zu d e r
der
den
Verrichtungen
Koordinatensystems
soll
unserem
bewußten
D i e in d e n v o r h e r g e h e n d e n P a r a g r a p h e n
Lokalisierung
der
Zeitwahrnehmungen
hat
diese
Ich
Entstehungsweise Bedeutung
erweitert.
ist jetzt
unbestreitbar,
u n s e r e r S i n n e s o r g a n e ist. peripheren darauf
des
festgestellte
u n s e r e s Ichbewußtseins bestätigt u n d d e r e n psychologische Es
daß
D e r N u l l p u n k t des von ihnen gebildeten
entsprechen.
wesentlich
der
Ampullennerven
B e h a u p t u n g veranlaßt,
Ichbewußtseins
Ohrlabyrinths verdanken. Descartesschen
die
Sinnesorganen
hin.
Der
so
daß
das O h r
das wichtigste
Schon seine, im Vergleich zu den bestgeschützte
eigentümliche
Schalleitungsvorrichtungen,
besonders
Lage
und aber
im
Schädel
verwickelte der
aller
übrigen deutet
Bau
seiner
wunderbaren
und
k a u m zu e n t w i r r e n d e n N e r v e n e n d a p p a r a t e des häutigen Labyrinths, von d e m die F i g u r e n der Tafeln I u n d II n u r a n n ä h e r n d eine V o r s t e l l u n g zu g e b e n
vermögen,
seiner F u n k t i o n e n . rinths
als O r g a n
beweisen Die
morphologisch
die
Kenntnis d e r V e r r i c h t u n g e n
des R a u m - u n d
Zeitsinnes
Mannigfaltigkeit des
Ohrlaby-
eröffnet dem
Natur-
forscher die P f o r t e n , d u r c h welche er z u r Einsicht in die psychischen V o r g ä n g e beim Menschen gelangen
kann.
111
Nachtrag. 1 Die Descartessche logarithmische Spirale und die Schnecke als arithmetisches Organ. Von Professor C. Doniselli (Mailand). E. v o n C y o n hat den Nachweis geliefert, daß sich im O h r zwei mathematische Sinnesorgane befinden, und zwar ein in den drei Bogengangpaaren des Ohrlabyrinths liegendes g e o m e t r i s c h e s O r g a n u n d ein a r i t h m e t i s c h e s O r g a n , das sich in der Schnecke befindet. Hier möchte ich n u n nachweisen, daß der logarithmischen Spirale von D e s c a r t e s in bezug auf die Funktionen der Schnecke eine entsprechende Bedeutung z u k o m m t , wie es — nach der C y o n sehen Lehre vom Raumsinn — f ü r das rechtwinklige Koordinatensystem von D e s c a r t e s bezüglich der Funktionen der Bogengänge der Fall ist. Nach der Resonanzlehre ( H e l m h o l t z ) sind die einzelnen Teile des C o r t i sehen Organs in ihrer Aufeinanderfolge so spezifisch differenziert, daß auf T ö n e von verschiedener H ö h e verschiedene Sektoren des spiralförmigen Oehörapparates abgestimmt sind. Ich habe schon an anderer Stelle nachzuweisen gesucht, welche Bedeutung dabei dem spiralförmigen Bau der Schnecke zukommt. 2 Hier kann ich mich darauf nicht näher einlassen und will n u r kurz die Untersuchungen über das oben gestellte Problem zusammenfassen. 1
Vor einem Jahre veröffentlichte Professor D o n i s e l l i über den M e c h a n i s m u s der Funktionsweise des arithmetischen Sinnesorgans eine in h o h e m G r a d e geistreiche H y p o t h e s e : D a s C o r t i s c h e O r g a n soll danach wie eine Art logarithmischer Spirale funktionieren u n d auf diese Weise seine Aufgabe als Rechenmaschine erfüllen. Die von D o n i s e l l i vorgebrachten Argumente waren in mehreren Beziehungen sehr gewichtig; ich forderte daher den sowohl musikalisch als psychologisch sehr begabten Kollegen auf, seine H y p o t h e s e weiter zu entwickeln u n d möglichst auf experimentellem W e g e zu b e g r ü n d e n . U m sein Prioritätsrecht auf diese vielversprechende Lehre zu w a h r e n , h a b e ich ihn e i n g e l a d e n , am Schlüsse des Kapitels über den arithmetischen Sinn seine bis jetzt gewonnenen G r u n d l a g e n u n d Beweise auseinanderzusetzen u n d sie in weiteren kompetenten Kreisen bekannt zu machen. 5 C. D o n i s e l l i , Archivio di Fisiología.
Vol. VI, p. 57S.
1909.
112
Zeit u n d Raum
Zunächst erinnere ich an die völlige Übereinstimmung zwischen dem W e b e r - F e c h n e r s c h e n G e s e t z u n d dem G e s e t z d e r m u s i kalischen Intervalle. Nach dem ersteren v a r i i e r t d i e I n t e n sität der E m p f i n d u n g p r o p o r t i o n a l dem L o g a r i t h m u s der R e i z e i n h e i t e n ; nach dem zweiten v a r i i e r t d a s T o n i n t e r v a l l proportional dem Logarithmus der Schwingungszahl. Die Schätzung der Tonintervalle steht aber in keinerlei direkter Beziehung zu den Tonqualitäten, da die qualitativen Änderungen der T o n e m p f i n d u n g bekanntlich den absoluten Änderungen der Schwingungszahlen direkt proportional sind, so daß f ü r die Tonqualitäten das W e b e r s c h e Gesetz nicht gilt. 1 Wie kommen wir nun zur Schätzung der Tonintervalle? Sie vollzieht sich nach dem W e b e r - F e c h n e r s c h e n Gesetz, das sich auf die quantitativen (intensiven) Eigenschaften der E m p f i n d u n g e n bezieht. Tatsächlich nimmt die Schallintensität bei gleichbleibender Schwingungsamplitude mit der T o n h ö h e merklich zu ( H e l m h o l t z , W i e n ) . Das heißt: das Gehirn ist f ü r T ö n e von z. B. 2 0 0 0 Schwingungen in der Sekunde empfindlicher, als f ü r Töne von 100 Schwingungen in der Sekunde. Bei der E r r e g u n g der Gehörnerven sind also zu unterscheiden: 1. eine q u a l i t a t i v e Tonwirkung, die das G e h i r n nach ihrem zeitlich extensiven, a b s o l u t e n Periodizitätswerte wahrnimmt, und 2. eine i n t e n s i v e W i r k u n g durch q u a n t i t a t i v e S u m m i e r u n g der Elementarreize (Schwingungen), die vom G e h i r n nach dem W e b e r - F e c h n e r schen Gesetze w a h r g e n o m m e n wird. Die letztere wächst also proportional dem Logarithmus der Schwingungszahl: die einzelnen Schwingungen entsprechen hier also den W e b e r s c h e n Reizeinheiten. Die Tonerregungen bilden dabei eine Stufenfolge, die der W e b e r s c h e n Intensitätenskala der Tastempfindungen vergleichbar ist, aber nur in bezug auf ihre i n t e n s i v e n , nicht auf ihre q u a l i t a t i v e n Eigenschaften, wie es F e c h n e r und selbst W e b e r zu ihrer Zeit annahmen. Überlegen wir n u n , was eintreten m u ß , wenn eine Abfolge von Tönen (z. B. von steigender Tonhöhe) stattfindet. Die Erregungsstelle wird sich längs der Spiralwindungen des C o r t i sehen O r g a n s in der Schnecke verschieben, und zwar in diesem Falle von der Spitzenwindung zur Basilarwindung: das Gehirn perzipiert also im 1
V g l . W. W u n d t ,
„Pliysiol.
Psych."
5. Aufl.
Ed. II.
S. 7 0 f f .
1902.
Nachtrag
113
weitesten Sinne des Wortes eine Translation der Erregungsstelle; es empfindet, daß im peripherischen Sinnesapparat eine Bewegung (Motiv, T o n b e w e g u n g ) stattgefunden hat. N u n aber lautet das T o n intervallgesetz, daß g l e i c h e n V e r h ä l t n i s s e n d e r S c h w i n g u n g s z a h l e n g l e i c h e T o n i n t e r v a l l e e n t s p r e c h e n , d. h. reelle räumliche Abstände oder Schritte auf der Spirale, die vom G e h i r n als gleichwertig geschätzt werden, und zwar genau nach der auf der Skala der intensiven Werte überschrittenen Stufen, die, neben den Werten der absoluten Reihe der Periodenzahlen (geometrische Reihe), die Logarithmenreihe (arithmetische Reihe) bilden. Demnach kommt zwar die Vorstellung der Tonintervalle in der Tonfolge (bei fortschreitender Melodie) deutlich zum Bewußtsein, wogegen bei gleichzeitig erklingenden Tönen (Harmonie) n u r die Konsonanz oder Dissonanz (je nach dem mehr oder minder einfachen Verhältnisse der Schwingungszahlen) deutlich zur W a h r n e h m u n g gelangen. Dabei ist das G e h ö r ein hervorragendes dynamisches Sinnesorgan: es schätzt den auf der C o r tischen Spirale überschrittenen Abstand in dem Zeitlauf, d. h. während er überschritten wird (also bei fortschreitender T o n b e w e g u n g ) , und nicht den Abstand zwischen zwei gleichzeitig erregten Punkten der Schnecke (stehender Akkord). Dies läßt sich an einem zwar inadäquaten u n d groben Beispiel veranschaulichen, das aber den Begriff einigermaßen wiedergibt. W e n n wir die Treppe unserer W o h n u n g hinaufsteigen, so merken wir auch im Dunkeln an den verschiedenen Anstrengungsgraden, ob wir eine, zwei oder drei Stufen auf einmal überschreiten. Die Tatsache, auf die ich hier hinweisen will, kann jeder an sich selbst beobachten, wofern er neben der G a b e der Selbstbeobachtung nur etwas musikalischen Sinn besitzt. Bei völligem Stillschweigen wiederhole man sich im Geiste die Tonskala. Sobald man eine ganze Oktave überschritten hat, stellt sich (vorausgesetzt, daß man nicht, ohne es zu merken, wieder in die tiefere Oktave zurückfällt, was bei dergleichen Versuchen ziemlich leicht geschehen kann) alsbald eine gewisse geistige A n s p a n n u n g ein: die aufeinanderfolgenden Stufen beim Hinaufsteigen der Tonskala lassen sich, wie beim Gesang, immer schwerer erreichen und es- bedarf immer längerer Zeit, um die genaue Erinnerung an die T ö n e hervorzurufen und festzuhalten. Sehr bald fließen den Stimmuskeln unwillkürliche, dem Gehirn entsprungene Erregungen zu, dank den Anspannungen in den Hirnzentren, kraft deren man die T o n e r i n n e n i n g e n ohne objektive E. v. Cyon, Gott lind Wissenschaft. Pd. 2.
8
114 Reize hervorzurufen sucht.
Ist es nun mit ziemlicher Anstrengung
gelungen, sich einen hohen T o n durch reine Erinnerung vorzustellen, so erhält man ein G e f ü h l der Ruhe und Entlastung, wenn man die Tonskala wieder
hinabgeht.
Ja das Hinabgehen
Gegensatz z u m Hinaufsteigen —
sich —
im
so rasch vollziehen wie man will,
auch bei ganz exakter Wiedergabe leiter.
läßt
der einzelnen Stufen der Ton-
Die Abstufungen der Skala, die wir als Intervalle bezeichnet
haben, sind intensiver Natur, wobei wir jetzt von ihrem dynamischen Gepräge ganz absehen
(ich meine den subjektiven
Bewegungsein-
druck, den wir als Steigen und Absteigen des T o n s bezeichnen und der von der reellen Verschiebung der Erregungsstelle auf den W i n d u n g e n des C o r t i sehen Organs herrührt). Die Stufen der Tonleiter Quinte usw.) werden schätzt. den
in allen
Intervalle
(Oktave,
H ö h e n der Tonskala als gleich
D a s kommt von der zwischen den Schwingungszahlen
Tonintervallen
deren
für gleichwertige
die
bestehenden
dynamischen
logarithmischen
Eigenschaften
einer
geund
Beziehung,
kraft
derselben
Ton-
und
b e w e g u n g in allen Teilen der Tonlinie, also in den verschiedensten H ö h e n der Skala, die gleichen bleiben. Oszillationen,
die
jeder
bestimmten
D i e A b f o l g e der intensiven
Tonbewegung
ihr
besonderes
Gepräge verleiht und neben den anderen qualitativen Faktoren deren musikalische B e d e u t u n g mitbestimmt, bleibt stets unverändert, gleichviel,
mit welcher H ö h e
der Tonskala man beginnt.
eine graphische Darstellung von den Schwankungen Werte g e b e n ,
die den Tonveränderungen
Wollten der
entsprechen,
zeitlicher A b f o l g e eine bestimmte T o n b e w e g u n g
wir
intensiven aus
deren
entsteht, so würde
unsere Kurve stets die gleiche Form zeigen, gleichviel, welches der erste intensive Wert, d. h. die H ö h e auf der Tonleiter war, mit der die T o n b e w e g u n g anfing, und zwar eben infolge der logarithmischen Beziehung
zwischen
den
intensiven
Reizeinheiten (Schwingungen). nämlich auch' so:
Werten
und
den
objektiven
Das Gesetz der Tonintervalle lautet
konstanten Verhältnissen
der
Schwingungszahlen
entsprechen konstante Unterschiede in den intensiven Werten. alledem
geht
klar
hervor,
warum
ein
und
dasselbe
Aus
Tonintervall
(Oktave, Quinte, Quarte usw.) in beliebiger^ H ö h e der Tonskala nicht nur einen gleichen
subjektiven Abstand oder Schritt auf der Ton-
linie, sondern auch einen und denselben Akkord umfaßt, da dieser ja aus
Tönen
von
besteht (Oktave 1 : 2 ,
konstantem Duodezime
Verhältnis 1:3,
der
Schwingungszahlen
Quinte 2 : 3
usw.).
Nachtrag
11 5
Die mathematische Figur, die dank ihrer Beschaffenheit die Gesetze des musikalischen Sinnes ganz natürlich ausdrückt, ist die von D e s c a r t e s entdeckte logarithmische Spirale. 1 Sie bezieht sich allerdings nicht direkt auf die anatomische Form der Schnecke, sondern auf die mathematischen Gesetze, die deren Funktionen beherrschen und die doch von den Modalitäten ihrer anatomischen Entwicklung durchaus abhängig sind. In der Tat kann man nicht von den physiologischen Eigenschaften eines so eigenartigen O r g a n s wie der Schnecke (oder auch des Systems der Bogengänge) reden, ohne dessen anatomischen Bau zu berücksichtigen. U n d zwar gibt uns von allen Sinnesorganen allein die Schnecke das Recht, die Gesetze ihrer Funktionen durch die D e s c a r t e ssche Spirale darzustellen. In der Tat bietet die Schnecke allein ein Beispiel von zwei Reihen physiologischer Wirkungen — der absoluten Reihe der Tonqualitäten, und der Logarithmenreihe (intensive Werte, welche die Schätzung der Tonintervalle bestimmen) — die beide zugleich von der Periodenzahl des spezifischen Schwingungsreizes dieses O r g a n s abhängen. Kommt die D e s c a r t e s s c h e Spirale in Betracht, so wird auch sogleich von den vier arithmetischen G r u n d r e g e l n die Rede sein. Dies ist gerade auch f ü r die C o r t i s c h e Spirale der Fall, infolge der mathematischen Gesetze, welche ihre Funktionen beherrschen. Z u m besseren Verständnis genüge der Hinweis, daß die D e s c a t t e s sche Spirale nichts anderes ist als eine graphische Logarithmentafel. Wollte man auf dieser graphischen Tafel die Zahlen markieren, welche den sukzessiven Werten der beiden f ü r diese Spirale in Frage kommenden (arithmetischen und geometrischen) Größenreihen entsprechen, so versteht man von selbst, von welcher Art die vom Radius vector ausgeführten Operationen sein werden, indem er um den Pol rotiert, wie etwa ein Quadrantenzeiger. Bei jedem vom Zeiger nach der D r e h u n g s r i c h t u n g addierten oder subtrahierten unitarischen Sektor wird die Zeigerspitze selbst jedesmal auf der Spirale solche Zahlen anzeigen, welche entsprechend die sukzessiven Resultate einer Multiplikation oder Division durch einen konstanten Wert auch stets ergeben.
1
C. D o n i s e l l i ,
„Sulle
funzioni
della coclea",
B u l l e t t i n o delle
Scienze m e d i c h e . V o r l ä u f i g e Mitteilung. B o l o g n a , 1 6 . M ä r z l 9 1 1 . — D e r s e l b e , „La chiocciola organo musicale e aritmetico".
B o l o g n a 1911.
8*
116
Zeit u n d Raum
Die C o r t i s c h e Spirale ist ja ein lebendiger Apparat dieser Art, nur viel einfacher und vollkommener. Die verschiedenen Punkte ihres lebenden Quadranten sind mit keiner Zahl versehen, noch bedarf sie irgend eines Zeigers. Die zwei (arithmetische und geometrische) Wertreihen kommen hier selbst unmittelbar zustande, infolge von Schallreizen von verschiedener Höhe. Verschiebt sich die Erregungsstelle auf der Spirale in einer Richtung (z. B. bei steigender T o n h ö h e ) , so werden — indem jedesmal die Periodenzahl auf der Spirale durch einen konstanten Wert multipliziert wird — korrespondierende Sektoren des C o r t i s c h e n O r g a n s , d. h. Skalastufen, mit einem Worte, Tonintervalle überschritten, die vom G e h i r n als eine arithmetische Reihe von konstanten Werten geschätzt werden. In Übereinstimmung mit den klassischen Entdeckungen von E. v o n C y o n haben also die vier arithmetischen Regeln einen sinnlichen U r s p r u n g in den musikalischen Funktionen der Schnecke u n d besitzen einen absoluten W e r t , genau wie die Axiome der E u k l i d i s c h e n Geometrie, deren U r s p r u n g in den Empfindungen der drei G r u n d r i c h t u n g e n des Raumes liegt, die wir dem Bogengangsystem des Ohrlabyrinths verdanken. Die komplizierte Berechnung und A b m e s s u n g der Intensitäten und der Zeitdauer der Innervationen, und besonders der den Stimmuskeln zufließenden Nervenerregungen (Sprache, Gesang), reduziert sich, dank der mathematischen Funktionen der Schnecke ( somit automatisch auf die vier arithmetischen G r u n d r e g e l n : Addition, Subtraktion, Multiplikation, Division. D e s c a r t e s ' E r f i n d u n g der logarithmischen Spirale und der Methode der räumlichen Bestimmungen mit Hilfe eines Systems dreier rechtwinkliger Koordinaten erscheint tatsächlich als eine reine Abstraktion von den Gesetzen, welche die Funktionen der beiden von C y o n festgestellten mathematischen Sinne des Ohrlabyrinths beherrschen.
Zweiter
Teil.
Leib, Seele und Geist. Drittes
Kapitel.
Versuch einer psychologischen Differenzierung der psychischen Funktionen. § 1.
Einleitung.
A r i s t o t e l e s hat das G e h ö r f ü r den intellektuellsten aller Sinne erklärt,
und
Stimme.
zwar wegen
seiner B e d e u t u n g
f ü r die Sprache
und
M e h r als 2 0 0 0 Jahre später hat die experimentelle Physio-
logie im O h r l a b y r i n t h
die Existenz v o n S i n n e s o r g a n e n
für
Raum,
Zeit u n d Zahl nachgewiesen u n d so in g l ä n z e n d e r Weise die Richtigkeit d e r genialen Intuition des B e g r ü n d e r s der Psychologie erwiesen. Das O h r l a b y r i n t h darf von n u n an mit Recht als das vorzüglichste Sinnesorgan
gelten.
Ohne
seine F u n k t i o n e n wären die wichtigsten
E r s c h e i n u n g e n des geistigen u n d seelischen Lebens u n m ö g l i c h : der Mensch besäße keine Sprache, wäre unfähig, sich im ä u ß e r e n R ä u m e zu o r i e n t i e r e n ; äußeren
die Netzhautbilder
Gegenstände
kämen
nur verdoppelt und
n u r u m g e k e h r t zur W a h r n e h m u n g ;
alle
das Ich-
b e w u ß t s e i n k ö n n t e sich nicht völlig ausbilden u n d die V e r d o p p e l u n g der
Persönlichkeit wäre b e i m M e n s c h e n
die Regel.
keine Begriffe v o n Raum, Zeit u n d Z a h l ;
Wir
besäßen
die Geometrie, die Arith-
metik u n d die höchsten ästhetischen G e n ü s s e , die der Musik, wären u n s vollständig könnten dieser
unbekannt;
keinerlei Aufzählung
alle M e n s c h e n
zweckmäßige sind
jedoch
Bewegungen die
wären
taubstumm
und
a u s f ü h r e n usw.
Mit
Errungenschaften
mentellen F o r s c h u n g e n am O h r l a b y r i n t h seit V e n t u r i
der
experi-
und S p a l l a n -
z a n i am E n d e des 18. J a h r h u n d e r t s u n d A u t e n r i e t h u n d
Flourens
118
I.eib, Seele u n d
in Beginn des 19. bis zu meinen weitem nicht erschöpfend dargelegt.
Geist
endgültigen
En/deckungen
bei
Die naturwissenschaftliche Lösung des Zeit- und Raumproblems, an dem sich seit Jahrtausenden Philosophen und Mathematiker vergeblich abgemüht haben, ist ein so entscheidender Sieg der experimentellen Physiologie über die spekulative Metaphysik, daß der Physiologe die Pflicht hat, die eingeschlagenen Bahnen weiter zu verfolgen. Durch die Befreiung des Geistes von den Schranken, die seiner Tätigkeit durch den Z w a n g der aprioristischen Anschauungsformen u n d durch die Last der angeborenen Vorstellungsbilder von K a n t auferlegt w o r d e n , sind die künstlich errichteten Hindernisse f ü r die erfolgreiche A n w e n d u n g exakter physiologischer Methoden beim Studium der seelischen Funktionen beseitigt. Eine neue Differenzierung der psychischen Funktionen ist jetzt das erste Erfordernis, u m diese Methoden mit Erfolg weiter verwenden zu können. Der hier gemachte Versuch einer solchen Differenzierung der seelischen Funktionen verfolgt daher hauptsächlich methodologische Zwecke. Weit entfernt, irgend welche neuen Hypothesen oder Theorien über deren Wesen auf den Markt bringen zu wollen, oder etwa mit den vorhandenen Klassifikationen in Wettstreit zu geraten, strebt dieser Versuch im Gegenteil eine gewisse Übereins t i m m u n g , wenigstens in der Auffassung der Beziehungen der psychischen Vorgänge zu den Gehirnfunktionen und in der Wahl der zuverlässigsten W e g e u n d Methoden f ü r deren erfolgreiche Erforschung an. Die kaum zu entwirrenden Gegensätze und Widersprüche der herrschenden psychologischen Lehren hängen nicht allein von den Schwierigkeiten der zu lösenden Probleme ab. Die Mannigfaltigkeit der an dem A u f b a u der Psychologie beteiligten Wissenschaftszweige bringt es mit sich, daß gleichzeitig mit der Fülle der tatsächlichen Errungenschaften, auch die ihrer Verwertung entgegenstehenden Hindernisse wachsen. Dies der Unmöglichkeit wegen, die mit Hilfe weit auseinander gehender Forschungsmethoden gewonnenen Ergebnisse unter einheitlichen Gesichtspunkten zu werten u n d miteinander zu versöhnen. Die Philosophen u n d Psychologen, im Vollbesitze der während Jahrtausenden angehäuften Schätze des spekulativen Denkens, sträuben sich mit Recht, diese Schätze zugunsten der nicht immer gereiften Früchte naturwissenschaftlicher Beobachtungen
Psvchologisclic Differenzierung der psychischen Funktionen
119
und Experimente als wertlos zu opfern und sie als veraltetes Rüstzeug in die Rumpelkammer zu verweisen. Andrerseits wehren sich die Anatomen und Physiologen, stolz auf die reichhaltigen Errungenschaften ihrer exakten Forschungsmethoden, dagegen, die vieldeutigen Ergebnisse der subjektiven, rein spekulativen Psychologie als gleichwertig mit den ihrigen anzuerkennen. Die Verschmelzung der sich schroff gegenüberstehenden wissenschaftlichen Richtungen zu einer p h y s i o l o g i s c h e n P s y c h o l o g i e hat ersichtlich die erhofften Früchte nicht getragen: im Gegenteil, sie hat das Zutrauen der Philosophen zu der Verwendbarkeit der exakten physiologischen oder physikalischen Methoden in der Psychologie eher erschüttert. Der Schiffbruch des F e c h n e r s e h e n Gesetzes war in dieser Beziehung nur zu lehrreich, wogegen W e b e r s physiologisches Gesetz unangefochten dasteht. Die Notwendigkeit einer Scheidung und Arbeitsteilung zwischen der Psychologie und der Physiologie wird daher mehr und mehr anerkannt. Ja, wie aus dem letzten Kapitel des Hauptwerkes von W u n d t 1 leicht zu erkennen ist, beginnt auch der Begründer dieser neuen Psychologie die Notwendigkeit einer Arbeitsteilung ins Auge zu fassen. Soll aber diese Arbeitsteilung fruchtbar w e r d e n , so m u ß ihr in erster Linie eine Scheidung der Forschungsgebiete vorangehen. Die Verschiedenheit der zu verwendenden Methoden wird sich dann schon von selbst ergeben. Das H a u p t e r f o r d e r n i s einer solchen Scheidung der Gebiete ist die völlige Ausschaltung der geistigen Leistungen aus den seelischen F u n k t i o n e n , was selbstverständlich eine völlige U m g e s t a l t u n g des Begriffs der Seele voraussetzt. Hieraus ergeben sich die Verschiedenheiten der einzuschlagenden Methoden von selbst. Eine solche Umgestalt u n g vollzieht sich aber tatsächlich schon seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die traditionelle metaphysich-theodizeische Lehre von der Einheit der Seele als Inbegriff aller vitalen und geistigen Funktionen f ü h r t n u r noch eine Scheinexistenz; und auch dies n u r dank der allgemeinen Scheu vor gewissen übereilten Schlußfolger u n g e n über das Wesen der Psyche, welche manche Forscher, insbesondere unter den Psychiatern, aus den bahnbrechenden Entdeckungen gezogen haben, die zur Lokalisierung der Sprachzentren 1
» D i e p h y s i o l o g i s c h e P s y c h o l o g i e " , 5. A u f l . , B d . III, 1903.
120
Leib, Seele u n d
Geist
in der linken Stirnwindung ( B r o c a ) , der Sinnessphärin ( H e r m a n n M ü n k , F l e c h s i g ) u n d der motorischen Regionen in der Rindensubstanz ( F r i t s c h e und H i t z i g ) usw. geführt haben. U n d doch zeigt die einfache Überlegung, daß, je mehr Analogien, ja Identitäten im Baue u n d in den Verrichtungen des G e h i r n s bei Menschen und höheren Wirbeltieren g e f u n d e n werden, um desto zwingender sich die e n t g e g e n g e s e t z t e Schlußfolgerung aufdrängt: d e r G e i s t darf nicht m e h r als b l o ß e H i r n f u n k t i o n b e t r a c h t e t w e r d e n . Auch die menschenähnlichsten Affen sind sprachunfähig, bilden keine allgemeine Begriffe und kennen weder Religion noch Philosophie und Wissenschaft. Dagegen besitzen die höheren Wirbeltiere vollauf alle die Sinnes- und S e e l e n f u n k t i o n e n , welche a l s r e i n e H i r n f u n k t i o n e n b e t r a c h t e t w e r d e n m ü s s e n . Diese Funktionen können also von nun an als Funktionen des peripherischen und zentralen Nervensystems angesehen werden. Auf G r u n d dieser unleugbaren Tatsachen sieht ja der denkende Naturforscher sich gezwungen, den Glauben an die Unsterblichkeit der S e e l e auf die i n t e l l e k t u e l l e Seele des Menschen zu beschränken, in dem Sinne, wie A r i s t o t e l e s , T h o m a s v o n A q u i n o und so viel andre große und gläubige spiritualistische Philosophen sie gelehrt haben. N u r der Geist oder die a n i m a r a t i o n a l i s s e u i n t e l l e c t i v a , wie die Theologen ihn seit dem Konzil zu Vienne bezeichnen, ist intellektuell; er ist das untrennbare Attribut der menschlichen Seele und deren eigentliches W e s e n ; er ist weder materiell noch körperlich. (Übrigens ist er identisch mit dem N o u s des A r i s t o t e l e s . ) Das kann der m o d e r n e Physiologe, der die verschiedenen psychischen Funktionen zu scheiden weiß, nicht nur mit Sicherheit behaupten, sondern auch einwandfrei nachweisen. Einem derartigen Nachweis ist das vorliegende Kapitel gewidmet. Die größten Psychologen haben dies in genialer Intuition erkannt und eine solche Differenzierung v o r g e n o m m e n . Ich brauche hier nur den Apostel P a u l u s zu zitieren, den eigentlichen Schöpfer der Völkerpsychologie, der in seinen wundervollen Briefen über diese Frage weit über A r i s t o t e l e s und alle griechischen Philosophen hinaus geht. Man lese u. a. den
1
In s e i n e m Brief a n d i e F.plieser (III, 18) e r k l ä r t P a u l u s d i e E r k e n n t n i s
der wahren Bedeutung Vervollkommnung.
d e r drei R a u n i d i i n e n s i o n e n
für eine
psychologische
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
121
ersten Brief an die Korinther, Kapitel II und Kapitel XV. 1 Im IV. Kapitel des Briefes an die Hebräer lesen wir, daß das Wort Gottes schärfer ist als ein zweischneidiges Schwert, w e i l e s b i s z u r S c h e i d u n g z w i s c h e n S e e l e u n d G e i s t , zwischen den Gelenken und den Gehirnen vordringt. Bei einem andren christlichen Psychologen, dem Heiligen A u g u s t i n , dem gotterfülltesten nächst P a u l u s , finden wir (in seinem Briefe gegen die M a n i c h ä e r ) die deutliche Dreiteilung von L e i b , S e e l e u n d G e i s t ; meine Differenzierung ist also keineswegs neu. Ich vermochte nur mit Hilfe streng wissenschaftlicher Experimente die Richtigkeit der Intuitionen der größten alten und neueren Denker, wie L e i b n i z und D e s c a r t e s , der bedeutendsten Gelehrten und Philosophen im Zeitalter der Neugeburt der exakten Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert nachzuweisen. 1 Die Unsterblichkeit des menschlichen G e i s t e s oder der i n t e l l e k t u e l l e n Seele wird uns schon durch die angehäuften Schätze in den Museen und Bibliotheken, sowie durch die ganze Geschichte der Kulturvölker anschaulich demonstriert. Die Ausschaltung des Geistes aus den seelischen Hirnfunktionen ist allein imstande, eine gewisse Übereinstimmung zwischen den sich schroff gegenüberstehenden psychologischen Lehren herzustellen. Solange der jetzt herrschende Wirrwarr anhält, ist jeder ernstliche Fortschritt in der Erforschung der seelischen Funktionen unmöglich. Die Ü b e r z e u g u n g von der U n u m g ä n g l i c h k e i t dieser Ausschaltung war auf G r u n d l a g e fremder und eigener experimenteller Forschungen schon seit vielen Jahren bei mir gezeitigt. Aber erst die neuesten Errungenschaften meiner Untersuchungen über die Verrichtungen des Ohrlabyrinths haben deren A u s f ü h r b a r k e i t dargetan. Auf G r u n d der wichtigsten dieser Errungenschaften soll hier versucht werden, auch Philosophen von der Notwendigkeit einer derartigen Umgestaltung zu überzeugen. Die verschiedenen Gebiete der Psychologie werden meistens in drei H a u p t g r u p p e n eingeteilt: 1. Der Wille und seine Beziehungen zu den willkürlichen und reflektorischen Muskelbewegungen; 2. die Gefühle, Affekte und Triebe; 3. die sinnlichen W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen, samt dem Bewußtsein und dem ganzen intellektuellen Leben. Die Lösung des Problems v o n Z e i t u n d R a u m wurde 1
S i e h e § § 10 u n d 11 dieses K a p i t e l s .
122
Leib, Seele u n d
Geist
seit Jahrtausenden als der unentbehrliche A u s g a n g s p u n k t jeder psychologischen Lehre, d i e A u f k l ä r u n g d e r Beziehungen z w i s c h e n L e i b u n d S e e l e als deren K r ö n u n g betrachtet. Es war ein glückliches, aber kein zufälliges Zusammentreffen, daß die wichtigsten Gebiete, auf welchen sich m e h r als 40 Jahre meine experimentelle wissenschaftliche Tätigkeit bewegte, zahlreiche Berührungspunkte mit den eben angegebenen Hauptgebieten der Psychologie besaßen. Die Ergebnisse dieser experimentellen Forschungen führten mich daher notgedrungen fast immer zum Studium der seelischen Funktionen und der damit verbundenen Probleme der Psychologie. Diese gemeinschaftlichen Forschungsgebiete waren: der Muskeltonus u n d seine Bedeutung f ü r den Mechanismus der willkürlichen und reflektorischen B e w e g u n g e n ; die sensiblen, akzeleratorischen u n d hemmenden N e r v e n des Herzens samt den wunderbaren autoregulatorischen Oanglienapparaten, welche das ganze Gemütsleben beherrschen; die Verrichtungen des Ohrlabyrinths als Sinnesorgan f ü r den U r s p r u n g unserer räumlichen und zeitlichen Vorstellungen, die Entstehung unseres Ichbewußtseins, u n d endlich die rätselhaften Funktionen der Gefäßdrüsen (Schilddrüse, Hypophyse, Zirbeldrüse usw.), deren Erkrankungen regelmäßig höchst eigentümliche psychische Störungen herbeiführen. Die Ergebnisse der an diesen Drüsen gemachten Untersuchungen eröffneten unter anderem auch neue Gesichtspunkte f ü r das Verständnis der Beziehungen zwischen Leib und Seele. Wie gesagt, haben die bei diesen experimentellen Untersuchungen gewonnenen Erfahrungen über die Hirn- und Sinnesfunktionen bei mir die Ü b e r z e u g u n g gezeitigt, daß m a n , o h n e d e n Boden e x a k t e r F o r s c h u n g zu v e r l a s s e n , s c h o n jetzt an e i n e präzisere Differenzierung und Gruppierung der seelischen und geistigen Vorgänge gehen könne. Diese Erfahrungen sollen hier in möglichster Kürze zusammengefaßt werden. Soweit sie verwendbare Lösungen mehrerer wichtiger psychologischer Probleme geliefert oder vorbereitet haben, werden sie für die Motivierung und B e g r ü n d u n g der vorgeschlagenen Differenzierung verwertet werden und zum Ausgangspunkt f ü r neue experimentelle Untersuchungen auf d e m G e b i e t e d e r P h y s i o l o g i e u n d P s y c h o l o g i e des Menschen dienen.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
§ 2.
123
Der Muskeltonus und die hemmenden und regulatorischen Ver-
richtungen des Ohrlabyrinths.
Die Quellen der psychischen Energie.
In meiner Erstlingsarbeit: „ Ü b e r den Einfluß der hinteren Wurzeln des Rückenmarks auf die Erregbarkeit der vorderen" 1 , wo die Existenz eines reflektorischen Muskeltonus endgültig nachgewiesen wurde, teilte ich Versuche mit, aus denen unzweifelhaft hervorging, daß die Ü b e r t r a g u n g der Reize von den sensiblen Nerven auf die Muskeln nicht allein im Lendenteil des Rückenmarks vor sich geht. Solche Übertragungen finden auch in den Großhirnhemisphären, in den Thalami optici, den Corpora quadrigemina sowie im verlängerten Mark und auch in der oberen Hälfte des Rückenmarks statt. Seitdem haben zahlreiche Forscher die Vollgültigkeit meiner 1865 gemachten u n d in vielen späteren Untersuchungen erweiterten Feststellungen bestätigt. Die Lehre vom Muskeltonus nimmt jetzt eine hervorragende Stellung in der allgemeinen Physiologie des Nervensystems ein, nachdem sie schon f r ü h e r von Nervenpathologen wegen ihrer Bedeutung f ü r die Symptomatologie zahlreicher Nervenkrankheiten mit Erfolg verwertet worden war. An jeder willkürlichen Bewegung der Gliedmaßen oder des ganzen Körpers nehmen mehrere Muskeln oder Muskelgruppen teil. Zu ihrem Zustandekommen ist eine genaue A b m e s s u n g ihrer Innervationen erforderlich. Das habe ich schon vor mehr als 40 Jahren in meiner Monographie über die T a b e s d o r s a l i s nachgewiesen, u n d zwar in einer Darstellung meiner Untersuchungen über den Einfluß der hinteren Rückenmarkswurzeln auf die Erregbarkeit der vorderen. Erst viel später, in den Jahren 1 8 7 3 — 7 8 , betonte ich die g r o ß e Bedeutung der Ergebnisse dieser Nachforschungen f ü r das Studium der Funktionen der Bogengänge des Ohrlabyrinths. Diese Bedeutung ist inzwischen allgemein erkannt worden. In den letzten Jahren sind meine Feststellungen ü b e r den Einfluß der hinteren Rückenmarkswurzeln auf die Muskeltätigkeit, insbesondere auf den Muskeltonus, noch durch zahlreiche experimentelle Forschungen von andrer Seite erweitert worden, so durch die Untersuchungen von M o t t und S h e r r i n g t o n und besonders durch die ausschlag1
siehe
Berichte der Sachs. Gesellschaft der W i s s e n s c h a f t e n , auch
S. 197.
meine
„Oesammelten
physiologischen
Arbeiten",
Leipzig
1865;
Berlin
1888,
124
I.eib, Seele u n d
Oeist
gebenden Experimentalforschungen von H e r m a n n ' M ü n k . Ich erwähne hier nur die Ergebnisse der neuesten Forschungen, die sich unmittelbar auf das Studium der Funktionen des Ohrlabyrinths als Regulator der Verteilung der Muskelinnervationen beziehen. Z u r Erleichterung des Verständnisses der Vorgänge, die bei der Verteilung dieser Reizkräfte mitwirken, hielt ich es f ü r notwendig, den verschiedenen Organen, welche an den verwickelten, beim T o n u s in Betracht k o m m e n d e n Verrichtungen beteiligt sind, gesonderte Bezeichnungen zu geben. Die peripherischen O r g a n e (Haut, Muskeln, Sehnen, Gelenke usw.), deren Nervenendapparate bei ihrer E r r e g u n g die Quellen f ü r die Bildung der im Gehirn aufzuspeichernden Reizkräfte bilden, habe ich als E n e r g i e e r r e g e r , die hinteren Wurzeln, sowie sämtliche Rückenmarks- und Hirnfasern, welche diese Erregungen dem Gehirn übermitteln, als E n e r g i e l e i t e r bezeichnet. Die zentralen Stellen im Rückenmark, G r o ß - und Kleinhirn, wo die Reizkräfte aufgespeichert werden, sind die E n e r g i e s p e i c h e r . Den Bogengangapparat endlich, der die Regulierung und Abmessung der Innervationen ihrer Intensität u n d Zeitdauer nach besorgt, habe ich als E n e r g i e m e s s e r bezeichnet. 1 Mit der A n h ä u f u n g der Reizkräfte in den motorischen Hirnzentren ist die große physiologische Bedeutung dieser organischen Vorrichtungen jedoch bei weitem nicht erschöpft. Die mit Hilfe der hemmenden Wirkungen des Ohrlabyrints in gewissen Hirnzentren aufgespeicherten Reizkräfte haben f ü r die seelische Tätigkeit die gleiche funktionelle B e d e u t u n g , indem sie als Quellen f ü r die psychische Energie fungieren. Wie die in den motorischen Hirnzentren aufgespeicherten Reizkräfte fortwährend die gesamte Körpermuskulatur in einem bestimmten G r a d e von S p a n n u n g erhalten und n u r gelegentlich f ü r die Auslösung von Innervationen dienen, so vermögen auch die in den psychischen Hirnzentren angehäuften Reizkräfte diese in einem tonischen Erregungszustande zu erhalten, der ihre Leistungsfähigkeit erhöht. Diese Energiequellen sind ja an sich fast unerschöpflich. Unser gesamtes sensibles Nervensystem ist während des ganzen Lebens ununterbrochen äußeren und inneren Reizen ausgesetzt. Von diesen Erregungen wird nur ein winziger Teil f ü r die E r z e u g u n g von bewußten Empfindungen benutzt. Die Reste werden in den Hirn1
S i e h e „ D a s O h r l a b y r i n t h » , K a p . III, § § 7 — 8 .
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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und Rückenmarkszentren als Reizkräfte aufgespeichert. Erregungsfreie Intervalle kann es weder in unseren sensoriellen noch in den sensiblen Organen geben. Um diese Reizkräfte m u ß gewissermaßen ein Wettstreit zwischen den verschiedenen G e h i r n o r g a n e n herrschen, da diejenigen Organe, welche sich in beständiger Tätigkeit befinden, auch eine bedeutend größere Anzahl von Reizkräften verbrauchen als die in Ruhe befindlichen. Man kann sich diesen Wettstreit entsprechend demjenigen denken, der zwischen verschiedenen Organen des Körpers bei der Heranziehung von Blut- und Nährflüssigkeitsmengen stattfindet. Die zweckmäßige Verteilung dieser letzteren besorgen die wunderbaren autoregulatorischen Herz- und Gefäßnerven in Verbindung mit den ihnen zugehörigen Ganglienzellen. Die G e h ö r - und Sinnesorgane, besonders aber das Ohrlabyrinth, besorgen eine entsprechende Regulierung der Reizkräfte, die in den Sinnessphären u n d in anderen Hirnzentren aufgespeichert sind. Wie ich schon a. a. O. hervorgehoben habe 1 , ahnte bereits der berühmte C h e v r e u l die h e m m e n d e Tätigkeit der Bogengänge, deren funktionelle Bedeutung ich erst im Jahre 1 8 7 5 / 7 6 erkannt und nachgewiesen habe. Über diese Bestimmung des Ohrlabyrinths herrscht jetzt bei den Physiologen, die ernstlich die Verrichtungen des G e h ö r o r g a n s studiert haben, völlige Übereinstimmung. Es wurde von mehreren F o r s c h e r n , besonders aber von H e r m a n n M ü n k festgestellt, daß die von gewissen Körperteilen ausgehenden Erregungen in erster Linie dazu bestimmt sind, die Hirnzentren, welche die Muskeln dieser Körperteile beherrschen, mit Reizkräften zu versehen. Die genauere Untersuchung des Einflusses der Sensibilität auf die Beweglichkeit durch H e r m a n n M ü n k liefert den schlagenden Beweis, daß beim Ausfalle dieser Reizquellen die betreffenden Hirnzentren aus den benachbarten Rindenzentren ihren Bedarf von Reizkräften heranzuziehen vermögen. Es deuten aber zahlreiche psychopathologische Beobachtungen darauf hin, daß ähnliche Vorgänge in den Hirnzentren, der höheren psychischen Funktionen stattfinden. 2 So sind die Erregungen der Sinnesorgane selbstverständlich f ü r die Zentren der in der Rindensubstanz gelagerten entsprechenden Sinnessphären bestimmt. Diese Sinneszentren
1
Siehe „ D a s O h r l a b y r i n t h " , Kap. IV, § 10. - H e r m a n n M u n k : „ Ü b e r die F u n k t i o n e n von Hirn u n d mark". Oesammelte Mitteilungen, neue Folge, Berlin 1909.
Rücken-
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vermögen aber ebenfalls, besonders bei geistiger Überanstrengung, Reizkräfte von den benachbarten motorischen Zentren zu verbrauchen, oft sogar in so ausgedehnter Weise, daß die Muskelspannung in gewissen Körperteilen dadurch zu leiden hat. Der Wettstreit um die im Gehirn aufgespeicherten und diesem fortwährend noch zufließenden Energiemengen kann also auch zwischen psychischen und motorischen Hirnzentren vor sicli gehen. Je nach der Ü b e r h a n d nähme der psychischen oder motorischen Leistungen verbleibt der Sieg den Hirnzentren, die in einem gegebenen Moment die intensivste Arbeit leisten. Spielt das Ohrlabyrinth auch bei der A n h ä u f u n g und bei der Verteilung der Reizkräfte in den psychischen Zentren die gleiche e n t s c h e i d e n d e Rolle, wie wir sie f ü r die motorische Sphäre experimentell haben nachweisen k ö n n e n ? Für die Zentren der G e h ö r sphäre ist dies im hohen G r a d e wahrscheinlich. Aber auch f ü r die anderen Sinnessphären, besonders f ü r die Sehsphäre, läßt sich ähnliches annehmen. Beherrschen doch die Bogengänge des Ohrlabyrinths den ganzen okulomotorischen Apparat, der eine so dominierende Bedeutung für die Lokalisierung der Gesichtseindrücke besitzt. Es liegen aber auch mehrere unmittelbare Belege dafür vor, daß auch die entgegengesetzte W i r k u n g nicht unmöglich ist. Beim Ausfalle des Bogengangapparates bei Wirbeltieren und der Otozysten bei Wirbellosen vermögen die Sehorgane bei der Regulierung der willkürlichen und reflektorischen Bewegungen insofern einen Ersatz zu bieten, als die Tiere einige Zeit nach der Operation allmählich n u r b e i o f f e n e n A u g e n koordinierte Bewegungen auszuführen lernen. Dies deutet darauf hin, daß sie auch beim normal funktionierenden Ohrlabyrinth an dieser Regulierung einen gewissen Anteil nehmen. Das Gleiche gilt hier auch f ü r die Tastorgane, wenigstens soweit sie an der Orientierung im umgebenden Räume teilnehmen. Es m u ß ferneren experimentellen Untersuchungen vorbehalten bleiben, nähere und präzisere Angaben sowohl über den Wettstreit um die Reizkräfte zwischen den psychischen, sensorischen und motorischen Hirnzentren, als auch überhaupt über die verschiedenen Quellen der psychischen Energien zu gewinnen. P f l ü g e r , dem wir die grundlegenden Gesetze der Nervenerregungen verdanken, stellte die Beziehungen zwischen der E r r e g u n g und den Erregbarkeitszuständen fest. Die Erregung besteht in einer mehr oder weniger plötzlichen Steigerung des Erregbarkeitszustandes, gleichgültig welche
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Ursache eine solche Steigerung war: Änderungen der inneren Temperatur, der elektrischen S p a n n u n g oder der chemischen Zusammensetzung usw. So winzig die Erregungsursachen an sich auch seien, so vermögen sie doch ganz beliebige Energiemengen auszulösen und damit gewaltige mechanische Leistungen zu erzielen, w e n n s i e n u r d u r c h d i e in d e n N e r v e n z e n t r e n a u f g e s p e i c h e r t e n R e i z k r ä f t e f o r t w ä h r e n d in t o n i s c h e m E r r e g u n g s z u s t a n d e e r halten werden. Kurz, der T o n u s ist von entscheidender Bedeutung nicht allein für die Leistungsfähigkeit unsres Muskelsystems, sondern auch f ü r unser ganzes psychisches und geistiges Leben. In beiden Fällen ist das Ziel das gleiche: mit einem Minimum von Energieverbrauch die größtmöglichste Leistung hervorzurufen. Die psychische .Energie, von der manche Metaphysiker ein solches Wesen machen, ohne ihre Quellen oder ihre Funktionen zu kennen, beruht in Wahrheit auf diesen mechanischen Vorgängen der Aufspeicherung, Verteilung und Regulierung der psychischen Energie in Gehirn und Rückenmark. Diese Aufspeicherung von Energien, die aus der fortwährenden E r r e g u n g des sensiblen Nervensystems wie der Sinnessphären durch willkürliche oder zufällige Ursachen stammen, und ihre streng geregelter Verbrauch ermöglicht unseren Ganglienzellen und unserem Muskelsystem ein Maximum an Arbeitsleistung bei einem Minimum von Energieverbrauch. Andererseits schließt der Wettstreit zwischen den verschiedenen O r g a n e n um diese Energie jede V e r g e u d u n g der aufgespeicherten Kräfte von selbst aus. Das Ohrlabyrinth, das, wie wir in den beiden vorhergehenden Kapiteln nachwiesen, das intellektuellste Organ ist, regelt die Stärke, die Zeitdauer und Abfolge der Innervationen und die Auslösung der Reizkräfte. Die komplizierten Mechanismen, mit deren Hilfe das O h r labyrinth diese Regelung besorgt, sind bereits in meinem Werke »Das Ohrlabyrinth" (Kap. III, § 7 — 1 1 ) eingehend dargelegt worden, u n d der Leser sei auf diese Darstellung verwiesen. Z u m Schluß sei nur noch betont, daß dieser Wettstreit um die in den Nervenzentren aufzuspeichernden Reizkräfte dem Pädagogen die leitenden Gesichtspunkte für eine rationelle psychische und geistige Erziehung liefern könnte. Das Hauptproblem der Erziehung liegt vielleicht in der Erhaltung eines zweckmäßigen Gleichgewichtes in der Verteilung der Energien zwischen den motorischen und psychischen Hirnzentren.
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§ 3.
Das Herz als Gemütsorgan.
Der Menscli pflegt den U r s p r u n g seiner Empfindungen und G e f ü h l e in die Organe zu verlegen, in denen er sie wahrzunehmen glaubt. Für das Volksbewußtsein war es daher schon seit Jahrtausenden eine selbstverständliche, in allen Sprachen zum Ausdruck gelangte Tatsache, daß das Herz die vorzüglichste Quelle unserer Gefühle und Gemütsbewegungen sei. Philosophen und Dichter verlegten ebenfalls den Sitz der feineren Nuancen der Seelen- und Gemütsbewegungen in ein in der Brust befindliches Organ. Dagegen studierten Anatomen und Physiologen bis zur Mitte des vorigen Jahrhunderts das Merz nur in seiner Eigenschaft als wunderbarer Motor, der die Blutzirkulation im Körper unterhält. Seine etwaigen seelischen Funktionen traten bei ihnen ganz in den Hintergrund. Erst nachdem ich in Geineinschaft mit L u d w i g den Nervus depressor als sensiblen Herznerv und dessen Beziehungen zum G e fäßnervenzentrum und zum Nervus splanchnicus und bald darauf in Gemeinschaft mit meinem Bruder die Nervi acceleratores als beschleunigende Herznerven entdeckt hatte, gelang die A u f k l ä r u n g der wunderbaren autoregulatorischen Verrichtungen des Gefäß- und Herznervensystems und experimentelle P r ü f u n g der Beziehungen dieses Systems zum Gehirn und zu den seelischen Funktionen. Einige Jahre darauf (1869 — 70) vermochte ich bestimmte Ergebnisse über die Reaktionen der Herz- und Gefäßnerven auf s c h m e r z h a f t e G e f ü h l e , die auf reflektorischem W e g e durch Reizung sensibler Nerven entstehen, zu veröffentlichen. 1 Diese Ergebnisse gestatteten schon damals die wahre Natur der Beziehungen zwischen Herz und Gehirn bei der Entstehung' von Gemütsbewegungen aufzuklären. Auf G r u n d zahlreicher experimenteller Studien und vieler Beobachtungen am Menschen vermochte ich im Jahre 1873 in einer akademischen Rede, »Herz und H i r n " 2 , diese Beziehungen näher zu entwickeln und die Mechanismen der gegenseitigen Einwirkungen der 1 „ C o m p t e s r e n d u s de l'Académie des Sciences", Paris 1869; „ H e m m u n g e n und Erregungen im Zentralnervensystem der G e f ä ß n e r v e n " , im Bull, de l'Académie des Sciences, St. Pétersbourg 1870. Siehe auch meine „Gesammellen physiologischen Arbeiten", Berlin 1888, und H e i d e n h a i n : „ Ü b e r C y o n s neue Theorie" (in P f l ü g e r s Archiv, 1871).
- „Coeur et cerveau", Revue Scientifique 1873.
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Herz- und Oefäßnerven in den Gehirnzentren bei Erzeugung von Gefühlen und Affekten in den Hauptzügen festzustellen. A u c h d i e B e d e u t u n g des H e r z e n s als des v o r z ü g l i c h s t e n p e r i p h e r i s c h e n G e m ü t s o r g a n s , die C l a u d e B e r n a r d schon 1864 geahnt hatte, wurde in dieser Rede festgestellt und eingehend dargelegt. Es folgte aus diesen U n t e r s u c h u n g e n mit Gewißheit, daß das Gefäßnervensystem bei der E r z e u g u n g von Gefühlen n u r eine ganz untergeordnete und indirekte Rolle zu spielen vermag. Am häufigsten sind sie nur Folgeerscheinungen der vorangehenden Erregungen der Herznerven oder Hirnzentren. Die Gefäße besitzen in der Tat zentripetale Nervenfasern, welche reflektorisch-motorische W i r k u n g e n erzeugen, aber keine irgend in Betracht kommenden Nervenfasern, die Lust oder Unlust, Freude- oder Schmerzgefühle oder andere Gemütszustände unserem Bewußtsein zuleiten könnten. In dieser Beziehung ist das Verhalten ihrer glatten Muskeln den G e m ü t s bewegungen gegenüber analog dem der ebenfalls durch seelische Emotionen erregten S k e l e t t m u s k e l n beim Ausstoßen von Schreien, bei heftigen Atembewegungen, mimischem Verzerren der Gesichtsmuskeln, Flucht- und Abwehrversuchen usw.: sie sind bloße Begleiterscheinungen gewisser Gemütsbewegungen und bieten n u r physiologisches, aber kein psychologisches Interesse. Als Quellen f ü r die direkte Erzeugung von G e m ü t s e m p f i n d u n g e n kommen sich nicht in Betracht. Die L a n g e - J a m e s s c h e Lehre konnte daher schon im Beginn der siebziger Jahre als im voraus widerlegt gelten. zu N u r ein M u s k e l o r g a n v e r m a g als G e m ü t s o r g a n g e l t e n , d a s ist d e r H e r z m u s k e l . Nicht n u r die Dichter haben dem Herzen diese Funktion zugeschrieben. Eine Fülle von Redensarten und Sprichwörtern in allen Sprachen bezeichnen es als Quelle aller G e f ü h l e und als das den Charakter des Menschen bestimmende Organ. Erinnert sei hier nur an die Ausdrücke h a r t h e r z i g u n d k a l t h e r z i g zur Bezeichnung eines Egoisten, während w e i c h h e r z i g und w a r m h e r z i g das Gegenteil bedeuten. «Das Herz bricht", es „krampft sich zusammen", « das Herz wird Einem schwer", «das Herz hüpft vor Freude" —• alle diese Ausdrücke schildern mit wundervoller Deutlichkeit eine Reihe von G e f ü h l e n , die jedermann in gewissem G r a d e e m p f u n d e n hat. Alle Menschen ohne Ausnahme, Barbaren wie Zivilisierte, verlegen den Sitz unserer G e f ü h l e in ein in der Brust befindliches Organ. Wir haben diese so unendlich nuancenreichen G e f ü h l e soeben durch grobe, allgemeine Bilder ausgedrückt; E. v. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
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die Dichter differenzieren sie in künstlerischer Form bis in ihre unfaßlichsten Schattierungen. G r o ß e poetische Genies haben sogar die konstanten Beziehungen zwischen diesen G e f ü h l e n und der Richtung unserer Gedanken in Worte gekleidet und ebenso den Einfluß, den sie auf unsere G e d a n k e n v e r k n ü p f u n g e n und auf die Handlungen haben können, die sich mit Notwendigkeit aus jenen ergeben. Angesichts einer solchen Ü b e r e i n s t i m m u n g war es gewagt, den Anteil des Herzens an unserem Gemütsleben abzustreiten. Trotzdem hat man seit dem zweiten Viertel des vorigen Jahrhunderts, dank der gewaltigen Fortschritte in der Erkenntnis des Blutkreislaufes, das Herz stets in erster Linie als P u m p v o r r i c h t u n g des Blutes aufgefaßt und seine Bedeutung als G e m ü t s o r g a n immermehr vernachlässigt. In ihrer Begeisterung über die unnachahmliche Volle n d u n g des Herzens als Saug- und D r u c k p u m p e hielten Anatomen u n d Physiologen daran fest, daß das Herz weiter nichts als eine Blutpumpe war. Nach ihrer Meinung waren die landläufigen Redensarten über das Herz ohne jede Bedeutung und Tragweite, und die W o r t e der Dichter waren nichts als Metaphern überhitzter Phantasie. C l a u d e B e r n a r d war der erste, der die wissenschaftlichen Tatsachen mit den Schöpfungen der Poesie in Einklang zu bringen versuchte. In einer öffentlichen Vorlesung in der S o r b o n n e im Jahre 1864 unternahm er es, einige poetische Ausdrücke, welche die Abhängigkeit des Herzens von dem Gemütszustand versinnbildlichten, physiologisch zu erklären. Die geringen damaligen Kenntnisse über die Nervenstämme, die Herz u n d Hirn verbinden, gestatteten dem genialen Gelehrten keine vollständige Entwicklung seines G r u n d g e d a n k e n s . Inzwischen sind über die gegenseitigen Beeinflussungen des G e h i r n s u n d des Herzens durch die im Jahre 1864 noch unbekannten Nervenäste zahlreiche Entdeckungen gemacht w o r d e n ; und so können wir heute seinen Gedanken zu Ende denken und die unabweisbare Schlußfolgerung ziehen: d a s H e r z ist d a s O r g a n , in d e m s i c h a l l e G e m ü t s z u s t ä n d e mit w u n d e r b a r e r Klarheit w i d e r s p i e g e l n . Jawohl: dieser kleine Muskelsack ist nicht bloß eine Blutpumpe, er leistet und regelt nicht nur eine gewaltige mechanische Arbeit, sondern er ist auch das O r g a n , das alle unsere Seelenregungen scharf und augenblicklich wie ein Spiegel reflektiert! Alle unsere G e f ü h l e in ihren zartesten Schattierungen prägen sich mit unver-
P s y c h o l o g i s c h e D i f f e r e n z i e r u n g der psychischen F u n k t i o n e n
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gleichlicher Präzision und Vollkommenheit im Herzen aus. Und so dürfen wir auf G r u n d eines wohlbekannten physiologischen Gesetzes, kraft dessen wir unsere G e f ü h l e in das peripherische Organ zu verlegen gewohnt sind, das sie unserem Bewußtsein mitteilt, dem Herzen alle die G e f ü h l e zuschreiben, die wir bei einer Reihe von Gemütsbewegungen e m p f i n d e n ! Bevor ich darlege, wie das Herz dieser doppelten Aufgabe so vortrefflich gerecht wird, m u ß ich kurz auf seine Bedeutung als P u m p vorrichtung eingehen. Das Herz ist ein kleines hydraulisches Organ mit nachgiebigen Wänden, das aus zwei, nur durch ein System von Verbindungsröhren kommunizierenden Hälften, jede aus einem Vo>'hof und einer Kammer besteht. Seine mechanische Verrichtung entspricht ganz der einer P u m p e aus Kautschuk, die durch Zusammenziehung ihren Flüssigkeitsinhalt aus einer Ö f f n u n g am einen Ende entleert u n d durch W i e d e r a u s d e h n u n g die Flüssigkeit durch eine Ö f f n u n g am anderen Ende wieder aufsaugt. Wie eine Kautschukpumpe besitzen die Herzhöhlen an ihren Enden Klappen, welche die Richtung der inneren Blutströmung bestimmen. Die hydraulische Funktion des Herzens besteht nun darin, daß die linke Herzkammer das Blut aus den Lungen aufsaugt und es durch alle Blutgefäße des Körpers in die rechte Herzkammer treibt; diese wiederum treibt das Blut durch die Lungen in die linke Herzkammer zurück. Auf diese Weise zirkuliert das Blut in dem ganzen Gefäßsystem und überwindet die zahlreichen Widerstände, die es auf seinem Wege findet. Die mechanische Arbeit, die das Herz leistet, ist ungeheuer: sie beträgt 7 0 0 0 0 Kilogrammeter in 24 Stunden. Im Laufe eines Jahres könnte das Herz also ein Gewicht von mehr als 25 5 0 0 0 0 0 Kilogramm einen Meter hoch heben. Die Arbeit, die es in einem Leben von 7 0 — 8 0 Jahren leistet, würde genügen, um einen gewöhnlichen Eisenbahnzug bis zur Montblanchöhe zu heben. W e n n das Herz derart nach dem Prinzip einer gewöhnlichen Kautschukpumpe arbeitet, so unterscheidet es sich von ihr doch wesentlich durch den U m s t a n d , daß es ohne äußeren Antrieb sein Volumen verändert. Seine Kontraktionsfähigkeit beruht auf der Eigenart des Stoffes, aus dem es besteht: dem Muskelgewebe. Wie alle unsere Muskeln besitzt auch das Herz motorische Nerven, die seinen Fasern einen motorischen Reiz vermitteln. Diese gehen nicht vom Zentralnervensystem aus, sondern von kleinen 9*
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Nervenapparaten, die, von unserem Willen ganz unabhängig, im Herzen selbst liegen. Diese selbständigen Nervenzentren erhalten ihre Reizkräfte von der Blutwärme und der chemischen Z u s a m m e n setzung des Blutes. Außer diesen motorischen Ganglien besitzt das Herz noch andere, welche zur Regelung oder H e m m u n g des Herzpulses dienen. Diese regulatorischen Zentren stehen nicht in direkter V e r b i n d u n g mit dem Muskelgewebe des Herzens, sondern sie beeinflussen dieses nur vermittelst der motorischen Ganglien. Sie bilden eine H e m m u n g s vorrichtung f ü r die Reizkräfte, welche die motorischen Ganglien den Muskelfasern des Herzens mitteilen. Durch diese Hemmungsvorrichtung werden die Ganglien gezwungen, die lebendigen Kräfte, die während der E r r e g u n g bei ihnen frei werden, nur mit einer Art rhythmischer Sparsamkeit zu verbrauchen. O h n e den regulatorischen Einfluß dieser h e m m e n d e n Zentren würden die motorischen Ganglien ihren Energievorrat rasch verbrauchen, u n d das Herz, das sich sehr oft und rasch zusammenziehen w ü r d e , hörte infolge der völligen Erschöpfung der motorischen Ganglien und vielleicht auch der Herzmuskelfasern bald zu schlagen auf, da diese letzteren ja keine Zeit hätten, ihren Energieverbrauch durch A u f n a h m e neuer N a h r u n g aus dem Blute wieder zu ersetzen. Auf diese Weise verhindern die regulatorischen Ganglien auch nicht den kleinsten Teil der zweckmäßigen Arbeit des motorischen Herzmechänismus und vernichten keine der in ihm freiwerdenden lebendigen Kräfte; wohl aber verteilen sie diese Arbeit auf eine gewisse Zeitdauer, indem sie die Umsetzung der virtuellen Energien in lebendige Kraft oder die Ü b e r t r a g u n g der letzteren auf die motorischen Nerven regulieren. So zwingen sie das Herz zur Erfüllung seiner Funktion in einer bestimmten, durch starke u n d langsame, oder auch durch schwache u n d häufige Schläge gemessenen Zeit. Aber die motorischen u n d regulatorischen Ganglien unterscheiden sich nicht nur durch ihre physiologische Bestimmung; auch ihre anatomische Struktur und die Art ihres Z u s a m m e n h a n g s mit den Nervenfasern, die in sie hinein und aus ihnen hinaus treten, m u ß gewisse Unterschiede aufweisen, deren Wesen noch nicht genau ergründet, deren Vorhandensein aber unwiderleglich bewiesen ist durch das physiologische Gesetz, wonach alle physikalischen und chemischen Reize, die eine bestimmte Ganglienart erregen, ihre Antagonisten paralysieren und umgekehrt.
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O h n e mich bei den zahlreichen H e r z g i f t e n aufzuhalten, welche die eine oder die andere dieser Ganglienarten spezifisch beeinflussen; will ich nur auf zwei wichtige Erreger dieser beiden Nervenzentren bei normalen Verhältnissen hinweisen. Sauerstoff sowie Temperature r h ö h u n g erregen die motorischen Ganglien und schwächen die regulatorischen, während umgekehrt die Kohlensäure und Temperaturv e r m i n d e r u n g die Tätigkeit der motorischen Ganglien hemmen und die regulatorischen stark erregen. Diese bemerkenswerte Tatsache ist, wie wir sehen werden, von g r o ß e r funktioneller Bedeutung. Durch das Wechselspiel dieser beiden Nervenzentren ziehen sich die beiden Herzkammern gleichzeitig und in regelmäßigen Pausen zusammen. Der Mechanismus dieser Herzschläge besitzt aber noch andere sehr praktische Einrichtungen, dank denen das Herz seine gewaltige mechanische Arbeit mit vollkommener, ununterbrochener Regelmäßigkeit leistet. Es ist hier nicht der O r t , um diese wunderbaren motorischen und regulatorischen Vorrichtungen ausführlich zu beschreiben. 1 Wir gehen also zur U n t e r s u c h u n g der zwischen Herz und Hirn bestehenden Z u s a m m e n h ä n g e ü b e r , die einerseits der hydraulischen Tätigkeit des Herzens seine unnachahmliche Vollendung geben und die andererseits seine Rolle als G e m ü t s o r g a n bestimmen. Wiewohl das- Herz seine Reizkräfte von seinen eigenen Ganglien empfängt (so daß es also auch vom Körper getrennt zu schlagen vermag), hängt es doch mit dem G e h i r n durch eine Reihe von Nervenfasern zusammen. Diese Fasern, die ihm die zerebralen Erregungen mitteilen, modifizieren die Herztätigkeit beträchtlich, insofern sie den Herzschlag und die Stärke der Kontraktionen' beeinflussen. Umgekehrt kann auch das Herz den Hirnteilen durch sie eine ganze Reihe von E m p f i n d u n g e n übermitteln, die der Art ihrer organischen Verrichtungen entsprechen. Dieser Nervenstrang besitzt zwei Arten von Nervenfasern: die zentrifugalen, die vom Gehirn zum Herzen führen, und die zentripetalen, die vom Herzen zum Gehirn führen. Von den ersteren kennen wir bis jetzt die Nerven, welche die Herzschläge verlangsamen u n d durch den Nervus vagus ins G e h i r n f ü h r e n , sowie die
1 Siehe mein W e r k : „Die Nerven des Herzens" (deutsch bei Julius Springer, Berlin 1907), welches eine vollständige Darstellung der verwickelten, hiermit z u s a m m e n h ä n g e n d e n P r o b l e m e bietet.
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Leib, Seele u n d Geist
Nerven, welche die Herztätigkeit beschleunigen und durch die Ganglien des sympathischen Grenzstranges zum Herzen führen. Der Nervus vagus verlangsamt durch seine E r r e g u n g die Herzschläge, indem er ihre Stärke erhöht; die Nervi acceleratores vermehren die Zahl der Schläge, indem sie deren Stärke herabsetzten. Diese beiden Nervenarten besitzen also den gleichen Einfluß wie die im Herzen selbst gelegenen motorischen und regulatorischen Ganglien. Diese funktionelle Übereinstimmung rührt daher, daß die aus dem Gehirn kommenden Nerven nicht in den Muskelfasern, sondern in den entsprechenden Ganglien enden, und zwar die Nervi acceleratores in den motorischen und der Vagus in den regulatorischen Ganglien. Sowohl die hemmenden Fasern des Vagus wie die Nervi acceleratores befinden sich stets im Zustande tonischer Erregung. Die Herzschläge, die aus dem harmonischen Wechselspiel dieser beiden Zentren entstehen, sind als normale anzusehen. Ich habe sie als Aktionspulse bezeichnet. W i r wissen, daß die Erreger, die auf die zentralen Enden dieser Nerven einwirken, im großen und ganzen mit denen übereinstimmen, die auf die entsprechenden peripherischen Ganglien einwirken: Sauerstoff und Temperature r h ö h u n g erregen vornehmlich die Nervi acceleratores, Kohlensäure und T e m p e r a t u r v e r m i n d e r u n g die regulatorischen N e r v e n . 1 Das Gehirn vermag den Mechanismus der Blutzirkulation auch noch durch andere zentrifugale Nerven zu beeinflussen, die in den Muskeln der kleinen Arterien enden. Diese Nerven gehen vom großen sympathischen Nerv aus. Durch ihre E r r e g u n g wird der Durchmesser der kleinen Schlagadern verringert, durch ihre L ä h m u n g hingegen vergrößert. Ihre hydraulische Funktion entspricht der von H ä h n e n , die zwischen den Arterien und den Kapillargefäßen angebracht wären und deren mehr oder minder vollständige Ö f f n u n g oder Schließung die Blutmenge regeln w ü r d e , die in einer bestimmten Zeit durch ein beliebiges Organ unseres Körpers zu fließen hat. Alle diese zentrifugalen Nerven haben den gleichen Zweck: nämlich die Anpassung der Herztätigkeit und des Blutzuflusses zu unseren
1
Siehe die drei Erregungsgesetze der G a n g l i e n
u n d anderer N e r v e n -
e n d e n , die ich auf G r u n d zahlreicher E x p e r i m e n t a l f o r s c h u n g e n „ N e r v e n des Herzens" dargelegt habe.
in
meinen
P s y c h o l o g i s c h e D i f f e r e n z i e r u n g der psychischen Funktionen
135
verschiedenen Organen nach deren Tätigkeitsbedürfnis oder nach dem organischen Zustand des Herzens zu regeln. Die vitalen Funktionen des Organismus sind fortwährenden, bald normalen, bald krankhaften Schwankungen unterworfen, die bedeutende Veränderungen im Blutkreislauf nötig machen. U n d zwar m u ß durch sie den Organen einerseits soviel Blut zugeführt werden, als ihre Tätigkeit in einem bestimmten Zeitraum erfordert, und andererseits müssen die schädlichen Einflüsse, die der normalen Tätigkeit dieser Organe hinderlich sind, beseitigt oder paralysiert werden. Die g r o ß e Vollkommenheit dieser O r g a n e zeigt sich darin, daß sie die Anzahl u n d die Stärke der Herzkontraktionen zwar mannigfach verändern, aber die von dem Herzen zu leistende mechanische Arbeit, die zum ununterbrochenen Blutumlauf nötig ist, in keiner Weise verändern. Einerseits empfangen die zentrifugalen Nerven, die zu den O r g a n e n dieses Blutumlaufes f ü h r e n , unmittelbare Reize von ihren Hirnzentren; und andererseits werden alle peripheren Erregungen, die in unseren sensiblen Nerven stattfinden, auf jene zentrifugalen Nerven reflektiert. Die W i r k u n g dieser reflektorischen Erregungen auf die Gefäß- und Herznerven ist eine doppelte: durch sie wird die Tätigkeit dieser letzteren entweder gesteigert oder herabgesetzt. Durch diese Reflexwirkungen wird bei der E r r e g u n g eines beliebigen Teils unseres Herzens die Menge des Blutes modifiziert, das durch alle O r g a n e kreist, und damit auch der Grad ihrer Tätigkeit. Die Einheit unseres Organismus, der aus Milliarden getrennter Zellen besteht, von denen jede ein in hohem Maße selbständiges Dasein f ü h r t , diese Einheit verdankt man vor allem den Reflexwirkungen der sensiblen Nerven auf die Gefäß- u n d Herznerven. Infolge dieser Reflexwirkungen übt jede E r r e g u n g von Zellen einen unmittelbaren Einfluß auf die Tätigkeit der übrigen aus. Gleichwohl berühren diese Reflexvorgänge die uns hier beschäftigende Frage nur insofern, als sie uns den mächtigen Einfluß erklären, den die Err e g u n g unserer peripherischen Nerven auf die Blutmenge haben kann, welche zu einem bestimmten Zeitpunkte unsere Nervenzentren umspült, und somit auch den Einfluß auf die davon abhängige Leistung dieser Zentren. • Gehen wir indessen auf die wunderbarste dieser autoregulatorischen Schutzvorrichtungen ein, nämlich die des Nervus depressor,
136
Leib, Seele und Geist
den ichin Gemeinschaft mit L u d w i g im Jahre 1866 entdeckt habe. 1 Es ist dies der wichtigste sensible Nerv des Herzens und bestimmt dessen Verhalten als Gemütsorgan. Als elastische Pumpe, die mit einem komplizierten System dehnbarer Röhren in V e r b i n d u n g steht, enthält das Herz in seinen Kammern größere oder kleinere Blutmengen, je nach dem größeren oder kleineren Durchmesser der aus ihm herausführenden Gefäßen. Durch starke Z u s a m m e n z i e h u n g der kleinen Arterien wird der Widerstand, den das Blut bei seinem Ü b e r g a n g vom Arteriensystem zum Venensystem findet, bedeutend vergrößert; ja es findet im Herzen bisweilen eine so plötzliche Blutdrucksteigerung statt, daß e s , wie ein Dampfkessel, dessen D a m p f s p a n n u n g zu groß geworden ist, zu platzen droht. Das Sicherheitsventil, das bei zu starkem Drucke in Tätigkeit tritt, schützt den Kessel vor der Explosion, indem es den Dampf herausläßt. Auch das Herz besitzt solch eine selbsttätige Sicherheitsvorricht u n g gegen die Zerreißung durch Hochdruck; nur ist sie ungleich vollkommener und in ihrer Konstruktion komplizierter als das Dampfkesselventil. Ihr Mechanismus ist folgender: Jedesmal wenn das Herz einen übermäßigen Blutandrang erleidet, durch den es zerplatzen könnte, werden seine sensiblen Nerven durch den hohen Blutdruck erregt; die Erregung teilt sich dem Gehirn mit und bewirkt hier eine Verminderung des T o n u s der vasomotorischen Zentren, infolge deren sich alle kleinen Arterien unseres Körpers unmittelbar erweitern u n d dem in den Herzkammern befindlichen Blute einen bequemen Abfluß gestatten. Das Herz leert sich alsdann rasch und leicht, die S p a n n u n g läßt nach und die G e f a h r des Zerreißens ist beseitigt. Man stelle sich ein zentrales Wasserbecken vor, das mehrere Örtlichkeiten durch Abflußkanäle mit Wasser speist; am Ende dieser Kanäle befinden sich Schleusen, deren Ö f f n u n g oder Schließung durch einen besonderen Mechanismus stattfindet, der in dem Sammelbecken selbst liegt u n d vermittelst elektrischer Leitungen in Tätigkeit tritt. Wird ein großer Teil der Schleusen geschlossen, so daß das 1
und
Der N e r v u s depressor u n d die Nervi acceleratores,
meinem
Bruder
C y o n s c h e Nerven.
entdeckt,
tragen
in
der
letztere v o n mir
Wissenschaft
den
Auf einen meisterhaften Bericht von C l a u d e
an die Pariser A k a d e m i e der W i s s e n s c h a f t e n w u r d e mir der P r i x für experimentelle P h y s i o l o g i e im Jahre 1867 e i n s t i m m i g
Namen Bernard
Monthyon
zuerkannt.
Psychologische Differenzierung
Wasser
der psychischen
Funktionen
137
im Becken i m m e r h ö h e r steigt und überzulaufen d r o h t ,
öffnen sich die S c h l e u s e n von selbst, Abzug
durch
die
schwemmung
vor.
Kanäle
und
In ganz
beugen
ähnlicher
depressor das H e r z vorm Z e r s p r i n g e n ; ungleich
vollkommener,
als er
äußeren Kraft besorgt.
Doch
die von
ihm
so
der
Weise
Gefahr
bewahrt
der
Über-
der
Nervus
nur funktioniert er
insofern
dieses G e s c h ä f t o h n e Eingriff einer der Unterschied
einer g r ö ß e r e n V o l l k o m m e n h e i t das H e r z
so
gewähren dem W a s s e r freien
liegt nicht allein in
des H e r z m e c h a n i s m u s ,
demzufolge
zu verrichtende Arbeit selbst leistet und in
Bruchteilen einer S e k u n d e j e d e G e f a h r a b w e n d e t , der automatischen Tätigkeit dieses wunderbaren
sondern
auch
in
Selbstregulators.
D e r N e r v u s depressor, der bei der hydraulischen Tätigkeit des H e r z e n s eine so h e r v o r r a g e n d e R o l l e spielt, bildet auch als sensibler Nerv
die
Hauptbahn,
auf der alle G e f ü h l e
von G e m ü t s b e w e g u n g e n
des H e r z e n s
in unser Bewußtsein gelangen.
in
Form
Schlägt das
H e r z r u h i g und regelmäßig, so verspürt d e r Mensch keine besonderen Gefühle. die
W i r d der R h y t h m u s und die Stärke des Herzschlages durch
Erregung
verändert,
des N e r v u s
so
stattfindenden Gefühle
depressor
o d e r ' des N e r v u s
accelerator
erhalten wir eine R e i h e von E m p f i n g u n g e n , physiologischen
können
Veränderungen
die den
entsprechen.
sehr m a n n i g f a c h e r Art sein,
Diese
und die weiter
oben
zitierten Ausdrücke dafür geben m a n c h e ihrer Schattierungen mit aller wünschbaren
Deutlichkeit
wieder.
V e r s c h i e d e n e physikalische und c h e m i s c h e Reize v e r m ö g e n Nervus
accelerator
erregen
bzw.
oder
lahm
die
zu legen.
psychischer E r r e g u n g e n . verlängerten systems,
der
allen
Noch
Herznerven
tiefer gehen
die
d. h.
in
Gehirn-
dem
und
Teile
des
Nervensystem
erregenden
Seelenzustände und S t i m m u n g e n
Reize
und
aber
ist
die
liegen
im
in
Ver-
wo sich alle treffen.
Die
des M e n s c h e n sind hinsichtlich ihrer
Intensität und Qualität von u n e n d l i c h e r Mannigfaltigkeit. groß
zu
Wirkungen
Rückenmarksnerven begegnen
den
Zentralnerven-
b i n d u n g steht und gleichsam der Kreuzungspunkt ist, das
stark
D i e Hirnzentren der Herznerven
Rückenmark, mit
regulatorischen
Mannigfaltigkeit
und
Fast e b e n s o
Verschiedenheit
in
den
Nuancen des Herzschlages, die durch E r r e g u n g der Herznerven
ent-
stehen, und daraus ergibt sich wieder eine g r o ß e Mannigfaltigkeit in den G e m ü t s b e w e g u n g e n , die der N e r v u s depressor unserem B e w u ß t sein
übermittelt. Die
Eigenschaft
der zentrifugalen Nerven
des H e r z e n s ,
durch
138
Leib, Seele und
Geist
seelische Zustände in Erregung versetzt zu werden,
und das Ver-
mögen seiner zentripetalen Nerven, alle durch diese im Herzschlag hervorgerufenen
Unregelmäßigkeiten
naueste zu übermitteln,
unserem
Bewußtsein
aufs ge-
diese beiden Eigentümlichkeiten der Herz-
nerven machen das Herz zu einem Organ, in dem sich alle wechselnden
Stimmungen,
Schmerz,
alle
Wallungen
Liebe und Haß,
Zorn
unseres und
Gemüts,
Freude
Wohlgefallen
und
widerspiegeln.
Alle diese Affekte drücken sich auch im Gebärdenspiel, in der Stimme, der Körperhaltung usw. aus. haben sich
Physiologen und Psychologen
längst mit diesen äußeren Zeichen unseres inneren Zu-
standes befaßt, und sie haben das ungeheure Material, das Menschen wie Tiere dem Beobachter darbieten, zusammengetragen und systematisiert. Der eben dargestellte Herzmechanismus
ist bisher vorwiegend
unter dem Gesichtspunkt seiner rein physiologischen Tätigkeit erforscht worden, und so können wir von den Veränderungen im Herzschlage, die durch die verschiedenen Seelenzustände hervorgerufen
werden,
Die Beobachtungen
sind in
noch
kein
vollständiges Bild geben.
dieser Hinsicht
noch zu unzureichend. 1
Diese Art von
Beobach-
tungen ist beim Herzen auch besonders schwierig; sie erfordert vor allem viel Selbstbeobachtung. zubekommen, Veränderungen
Um eine Anzahl von Daten zusammen-
sind besondere Glücksumstände im Herzschlage
und
die
sie
nötig,
zumal diese
bedingenden
Seelen-
zustände von unserem Willen völlig unabhängig sind. Daher können
diese Erscheinungen
auch nicht nach dem Be-
lieben des Experimentators hervorgerufen werden; gibt es doch nur sehr wenige Seelenregungen, die man willkürlich hervorrufen kann, z. B.
den Schreck.
schon
ein
über
die
Trotz
genügendes Abhängigkeit
aller Schwierigkeiten
besitzen
Tatsachenmaterial,
um
einige
des
von
den
Herzschlages
wir aber
Grundregeln seelischen
Er-
regungen des Gehirns aufzustellen.
A n g e l o M o s s o war der erste,
der
dieser
systematische
Experimente
in
Hinsicht
mit
Hilfe
des
auf
den
Sphygmographen zu machen versucht hat. Alle
angenehmen,
freudigen Seelenregungen
wirken
Nervus accelerator; sie lassen das Herz schneller schlagen und verringern gleichzeitig die Stärke jedes Schlages.
1
Ausdrücke WICI n das
Ich h a b e den S t a n d dieses P r o b l e m s erst 1 9 0 5 in d e r d e u t s c h e n A u f l a g e
m e i n e r » N e r v e n des H e r z e n s " a u s f ü h r l i c h
dargestellt.
Psychologische Differenzierung der psychischen
Herz
hüpft
treffend
vor
das
Herzklopfen.
Freude",
durch Die
es
Erregung mühelose
»bebt des
vor
Freude",
Nervus
Entleerung
Funktionen
139
kennzeichnen
accelerator
entstehende
des Herzens durch
diese
raschen Kontraktionen, bei denen der regelmäßige Blutkreislauf durch leichten Druck aufrecht erhalten wird, erzeugt ein Gefühl des Wohlbehagens,
das sich in der Redensart »mir ist so leicht ums Herz"
ausgezeichnet widerspiegelt. Traurige oder herabstimmende Gefühle beeinflussen
besonders
die regulatorischen Fasern des Nervus vagus und verlangsamen den Herzschlag je nach dem Grade ihrer Intensität durch Verlängerung der Zeitabschnitte, in denen das Herz eine große Blutmenge
auf-
saugt, die es nur durch sehr kräftige Kontraktionen wieder entleeren kann.
Diese anstrengende Tätigkeit, die mit einem gewissen Schmerz-
gefühl verbunden ist, wird durch eine ganze Reihe von Ausdrücken geschildert:
«Es nagt am
beklommen",
Herzen",
»Herzenspein",
»das Herz ist
„das Herz krampft sich zusammen" usw.
Der fran-
zösische Ausdruck für tiefe Betrübnis: »avoir le coeur gros", drückt den geschwollenen
Zustand des Herzens, die Folge der Erregung
des Nervus vagus, sehr anschaulich aus. Eine plötzliche Hiobspost oder eine lange qualvolle Empfindung rufen heftiges Herzklopfen
hervor,
das die Redensart:
pocht zum Zerspringen" sehr richtig wiedergibt.
»Das Herz
Dieses heftige, sehr
rasche Herzklopfen rührt von einer Schwächung des Nervus vagus her. Und zwar unterscheidet sich diese Beschleunigung des Herzschlages, als Folge der Lähmung der regulatorischen Nerven,
deutlich
von
der, welche man infolge der Erregung der Herznerven durch freudige Empfindungen verspürt. Bei diesem heftigen Herzklopfen steigert sich das Gefühl des Schmerzes,
der Unruhe und Angst oft bis ins Unerträgliche:
Herz muß sehr häufige, die große Blutmenge
schmerzhafte Kontraktionen
durch energischen
Druck
machen,
das um
weiterzubefördern.
Der plötzliche Schreck, einerlei, ob durch eine freudige oder traurige Nachricht hervorgerufen, versetzt den Nervus vagus allemal in starke Erregung, die zum völligen Stillstehen des Herzens und zur Ohnmacht führen kann. freudigen
(Auf dieses Stillstehen des Herzens folgt bei
Nachrichten
ein
rascher
Herzschlag,
bei
traurigen
ein
schwerer, langsamer Schlag.) Aber die Herznerven besitzen nicht das alleinige Vorrecht, auf Gemütsbewegungen
zu reagieren.
Viele Gemütsbewegungen
beein-
140
Leib, Seele und Geist
flussen ebenfalls die Gefäßnerven und verursachen durch sie gewisse Veränderungen in dem Gefäßvolumen. So kommt die Blässe im Gesicht beim Schreck von einer Zusammenziehung der kleinen Gesichtsarterien, die Röte im Gesicht infolge einer plötzlichen Freude oder eines G e f ü h l s der Scham rührt von einer L ä h m u n g der Gefäßnerven her. N u r entstehen diese Lähmungen bei plötzlicher Freude nicht durch unmittelbare Beeinflussung der Nerven, sondern durch mittelbare, sekundäre Einwirkung auf diese Blijtgefäße durch das Herz und den Nervus depressor. Die Intensität der Beeinflussung des Herzens durch Gemütsbewegungen hängt in erster Linie von dem G r a d e der nervösen Erregbarkeit ab. Je größer diese ist, desto stärker sind die Veränderungen des Herzschlages durch Gemütsbewegungen und desto lebhafter die Empfindungen, die wir dabei haben. Bei Frauen und Kindern ist diese nervöse Erregbarkeit viel stärker als beim erwachsenen Manne, und deshalb drücken sich die Gemütsbewegungen bei ihnen auch viel leichter und stärker in der Herztätigkeit aus. Der Volksglaube, daß Frauen und Kinder ein weicheres und zärtlicheres Herz haben als die M ä n n e r , findet hier also seine volle physiologische Bestätigung. Besondere Aufmerksamkeit verdient noch der eigenartige Parallelism u s zwischen der W i r k u n g gewisser physikalischer und chemischer Erreger u n d der W i r k u n g seelischer Erregungen auf unser Herz. Sauerstoff und W ä r m e beschleunigen den Herzschlag ebenso wie angenehme und freudige Gemütsbewegungen durch Beeinflussung des Nervus accelerator. Kohlensäure und Kälte sowie seelische Verstimmungen erregen die Fasern des Nervus vagus und verlangsamen dadurch die Herztätigkeit. Mit anderen W o r t e n : die lebenfördernden Reize, einerlei ob physikalisch oder psychisch, wirken in analoger Weise auf eine G r u p p e der Herznerven, die lebensschädlichen auf eine andere. Nach dem landläufigen Sprachgebrauch schreibt man dem guten Menschen, der am Schicksal seines Nächsten Anteil nimmt, ein w a r m e s H e r z zu, dagegen dem Egoisten ein k a l t e s H e r z . Auch hier sind die Z u s a m m e n h ä n g e zwischen den moralischen Eigenschaften und der Herztätigkeit richtig erfaßt. Bei dem Menschen, der die Freuden und Leiden seiner Mitmenschen mit gleichgültigen Blicken betrachtet, ist der Herzschlag ruhig und langsam, wie bei der Einwirkung der Kälte. Bei dem Menschen hingegen, der sich
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen die Freuden
seines Nächsten
zu
Herzen
nimmt,
sind die
t i o n e n z a h l r e i c h , wie u n t e r d e r E i n w i r k u n g d e r Wenn
schon
Seelenzuständen lich
zum
und
mit
das
noch
mung
in
zu
bringen
größerer
Wechselwirkungen
der
diese
Zusammenhänge
Nichts
ist
vermocht
Genauigkeit
zwischen
zwischen
Herz
hat,
die
und
so
haben
Dichter
Gehirn
die
der Herzempfindungen
Zeitalter
und
Völker:
Heine
alle W o n n e n
und .Leiden
G e s e t z e d e s h o h e n S t i l s in d i e s e n S p r a c h e n so
kann
die
Ähnlichkeit
der Empfindungen
der
Ausdrücke und
Dichtern
in
gleichen
den
im Italienischen,
der Liebe.
Da
die
grundverschieden waren,
nur
dies
aus-
Übereinstim-
aus
beweist
der
Verwandtheit
die R i c h t i g k e i t
der
N u r sollten d i e D i c h t e r ein f ü r allemal d a r a u f v e r z i c h t e n ,
ihre
poetischen
stammen,
zahllosen und
bei d e n
fast
A u s d r ü c k e n b e s i n g e n A m a r u im S a n s k r i t , P e t r a r c a und
den
erstrecht
erfaßt
a u f f ä l l i g e r als d i e v o l l s t ä n d i g e
der Darstellung
verschiedensten
Horaz
Kontrak-
Wärme.
u n d d e r Herztätigkeit s o r i c h t i g e r f a ß t u n d s o d e u t -
Ausdruck
gesprochen.
Volk
141
Fiktionen.
H e l d e n an g e b r o c h e n e m
Herzen
i n f o l g e e i n e s plötzlichen S c h m e r z e s
s t e r b e n zu l a s s e n : d a n k d e r S c h u t z v o r r i c h t u n g d e s N e r v u s kann
ein
gesundes
Gemütserregungen, lings verändern,
Herz
nicht
zerreißen.
besonders wechselnde,
können den T o d
herbeiführen,
durch allmähliche Entwicklung von allen,
ihnen
Organismus
eigentümlichen begleitet
zum Schweigen
werden.
zu b r i n g e n
N e r v e n , die z u m H e r z e n Willen
unabhängig;
Der Mensch
Nur
lange
die d e n
Ebenso
aber nur
jäh-
langsam,
die d a n n
von
Veränderungen
unrichtig
ist
es,
sein
des Herz
o d e r die S c h a m r ö t e zu b e z w i n g e n .
u n d zu d e n B l u t g e f ä ß e n
e r hat also k e i n e r l e i
konnte
anhaltende
Herzschlag
Herzkrankheiten,
pathologischen
depressor
sein
Herz
Alle
f ü h r e n , sind
vom
E i n f l u ß auf sie.
von
jeher
nur
in
zwei
Fällen
z u m S c h w e i g e n b r i n g e n : e n t w e d e r e r e m p f a n d die G e m ü t s b e w e g u n g e n , die
sein
Herz
hätten
erregen
können,
nicht
mehr,
oder
er
diese G e f ü h l e so h ä u f i g u n d in s o l c h e r S t ä r k e e m p f u n d e n , H e r z n e r v e n bis z u r U n e m p f i n d l i c h k e i t a b g e s t u m p f t w a r e n . spielt
dabei
keine
Veränderungen seelische
Rolle.
der
Herztätigkeit
Erregungen
richtigkeit
unserer
Menschen
wohl,
Infolge
das die
und
einzige
Gefühle.
durch
ihrer
Bei
Unfreiwilligkeit
der
ehrliche langer
Stimme,
die
die
Der Wille sind
Gefäßausdehnung Zeugnis
hatte
daß
durch
die
Auf-
es
dem
Gesichtsmuskulator,
den
Übung
für
diese
gelingt
Augenausdruck, ja durch heuchlerische Tränen G e f ü h l e vorzutäuschen,
142
Leib, Seele u n d Geist
die er nicht empfindet. Doch auch der größte Schauspieler könnte nicht willkürlich erbleichen noch sein Herz so schlagen lassen, wie es das von ihm ausgedrückte G e f ü h l erheischt. Ja selbst wenn er dieses G e f ü h l früher oft e m p f u n d e n hat, so kann er doch in seinem Herzen die entsprechenden Veränderungen n u r dann hervorrufen, wenn er sich an seiner E r i n n e r u n g erregt. Auch die physiologische Psychologie ist derartigen Verirrungen gegenüber den Problemen der Psychologie der G e f ü h l e und Affekte nicht fremd geblieben. Und doch hätte man erwarten sollen, daß die leichte Zugänglichkeit mehrerer objektiver Forschungsmethoden der Physiologie des menschlichen Herzens, wie z. B. der Plethysmographie von M o s s o , die experimentierenden Psychologen vor Verirrungen hätten bewahren sollen. W e n n dem nicht so war, wenn z. B. sogar W u n d t als G r u n d seiner Vernachlässigung der Herzpulsationen 1 beim Studium von rhythmischen Bewegungen angibt, daß die Herzbewegungen, »ebenso wie die Schwankungen anderer innerer Lebensvorgänge" keine »Bewußtseinsdaten, also keine E m p f i n d u n g e n und G e f ü h l e " mit sich f ü h r e n , — so beweist dies nochmals, daß die seelischen Funktionen, die vom Hirn und vom Nervensystem ausgeübt werden, nur von wirklichen Physiologen mit Erfolg studiert werden können. Entgegen der Ansicht von W u n d t , daß die Naturforscher »die G e f ü h l e u n d Affekte als schlechthin nicht zum objektiven Geschehen gehörig" betrachten 2 , lehren die Erfahrungen der Herzphysiologie, daß auf diesem Gebiete sogar die s u b j e k t i v e Forschung erfolglos bleiben m u ß , wenn sie nicht von einem allseitigen Kenner der Physiologie des Herzens ausgeübt wird, der Tausende von schlagenden Herzen zu beobachten, und Meilen von Herzkurven objektiv zu analysieren Gelegenheit hatte. Im Besitze eines sehr erregbaren Herznervensystemes (eines i r r i t a b l e h e a r t , wie sich die englischen Ärzte ausdrücken), hatte ich im Laufe meines bewegten Lebens Gelegenheit genug, subjektive Beobachtungen an ihm zu machen. Im Interesse der hier behandelten physiologischen Probleme zögerte ich auch nie, zu experimentellen Zwecken meinem Herzen schwere u n d sogar gefährliche, sowohl physische als seelische Aufgaben zu stellen. Trotzdem mein Herzu m f a n g im Verhältnis zum kräftigen Körperbau nur gering war, so 1
Siehe auch „ D a s Ohrlabyrinth", Kap. VII, § 6.
2
P h y s i o l o g i s c h e P s y c h o l o g i e , III. Bd., 5. Aufl., S. 766.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
1 43
unterzog ich mein Herz doch häufig erschöpfenden Überanstrengungen durch Bergsteigen, Studien
Rudern,
Fechten und Reiten, um vergleichende
über seine mechanische
Leistungsfähigkeit
bei diesen
ver-
schiedenen Muskelbewegungen anzustellen. Viel lehrreicher waren aber die Experimente mit künstlicher Erzeugung der verschiedenartigsten Emotionen, um die Reaktionen meiner Herznerven auf das Gehirn und die durch sie hervorgerufenen sekundären Gemütsbewegungen,
Ge-
fühle und Affekte studieren zu können. Die Deutungen der Ergebnisse dieser Versuche und Beobachtungen boten meistens keine besonderen Schwierigkeiten,
und
dies
nur dank den unzähligen
Erfahrungen,
die ich an Herzen, in situ bei offener Brusthöhle, oder, vom übrigen Körper isoliert und mit
Hilfe meiner Methode des künstlich
gestellten
Stunden,
Blutumlaufes,
halten, zu beobachten
ja
tagelang,
Gelegenheit hatte.
her-
funktionsfähig
er-
Nur selten griff ich zu
graphischen Aufzeichnungen meiner subjektiven Beobachtungen durch den Sphygmographen oder den Pletysmographen: vor meinen Augen die Gedächtnisbilder
so lebhaft waren
der Herzkurven, die den
normalen wie den anormalen Formen der Herztätigkeit entsprechen. Für den Nichtphysiologen bieten das Ablesen der graphischen Aufzeichnungen
der M o s s o s c h e n Plethysmographen oder ähnlicher
Instrumente und deren Deutung oft unüberwindliche Schwierigkeiten. Nur zu häufig kommen dabei arge Verwechslungen bei der Deutung der Kurven vor, die von den verschiedensten Faktoren, wie Schwankungen des Blutdrucks, der Schlagzahl, der Atembewegungen,
der
künstlichen T r a u b e s c h e n oder der natürlichen C y o n s c h e n Wellen usw. herrühren.
Die Formveränderungen
der Pulswellen entgehen
den
meisten, selbst wenn sie durch natürliche, physikalische, oder durch künstliche, vom Experimentierenden hervorgerufene Einflüsse erzeugt werden.
Der Komplex der seelischen Einwirkungen auf die Herz-
tätigkeit ist noch viel verwickelter,
und so können diese denn nur
durch Hand in Hand gehende subjektive und objektive Experimente in
ihrer vollen
Bedeutung erkannt werden.
Aber hier wie in so
vielen anderen Fällen hat die Experimentalforschung nur dann Aussicht
auf
Erfolg,
wenn
sie
von
gründlichen
Kennern
der
Herz-
physiologie betrieben wird. Ein
anderes Problem
schließt sich dem eben berührten
aufs
engste an und seine Lösung ist von größter Wichtigkeit für die Psychologie der Gefühle und Affekte.
Es läßt sich folgendermaßen formu-
lieren: Können die sensiblen Endorgane der Herznerven, inbesondere
144
Leib, Seele u n d Geist
die Ganglienzellen, dem Herzen u n m i t t e l b a r G e f ü h l e und Gemütsbewegungen zuleiten, die ihre Reizquelle nicht im Gehirn h a b e n ? D e r Herzschlag hängt der Zahl, Dauer und Stärke nach von dem Erregungszustand des Herznervensystems ab, u n d die sinnlichen u n d emotionellen Erregungen, die aus den Hirnzentren k o m m e n , beeinflussen den Herzschlag nur vermittelst dieses Systems. Man könnte also ebenso annehmen, d a ß die durch die i n n e r e n Erregungen des Herzens entstehenden Modifikationen auch ihrerseits G e f ü h l e u n d Affekte in unserem Bewußtsein auslösen. Sehr zahlreich sind ja die rein chemischen, physikalischen oder inneren E r r e g e r 1 , durch welche der Herzschlag mit oder o h n e Beihilfe der Ganglienzentren des G e h i r n s oder des großen sympathischen Nervs modifiziert wird. Viele dieser Erreger, z. B. die Temperaturschwankungen oder die «chemische Zusammensetzung der Gase im Herzblut, erregen die Herznervenenden in derselben Weise, wie es die vom Gehirn ausgehenden seelischen Erregungen tun. So beeinflussen freudige G e mütsbewegungen ebenso wie Temperaturzunahme u n d Sauerstoff die Enden des Nervus accelerator, wogegen Schmerz- u n d Unlustgefühle die Enden der retardierenden Nerven beeinflussen, ebenso wie die V e r m i n d e r u n g der W ä r m e oder die V e r m e h r u n g der Kohlensäure im Blute. 2 Laut meinem zweiten und dritten Gesetz der G a n g l i e n e r r e g u n g 3 müßten solche psychischen Erregungen die Ganglien u n d die sensiblen Endorgane der Herznerven ebenso beeinflussen, wie deren Hirnzentren. Die soeben gestellte Frage scheint also bejaht werden zu können. Trotzdem liegt die Antwort durchaus nicht so nahe, wie man zu glauben versucht wäre. Die Bejahung würde sogleich die neue Frage nach sich ziehen: warum verursachen die i n n e r e n , normalen oder krankhaften Erregungen des Herzens nicht auch gelegentlich so komplizierte Gemütsbewegungen wie Liebe und Haß, ebenso wie sie Todesangst oder die peinlichen G e f ü h l e der Brustbeklemmung h e r v o r r u f e n ? Hierauf könnte der Physiologe antworten: aus demselben G r u n d e , aus dem die pathologischen Veränderungen des Ohrlabyrinths oder die künstlichen Erregungen seiner Nerven1
Siehe m e i n e „Nerven des Herzens", Kap. IV.
• Ich
sehe
Herzaffektionen
hier
g a n z v o n den
entstehen.
Siehe
zahlreichen
hierüber
meine
Gefühlen ab, „Nerven
S. 161 ff., w o ich m e i n e S e l b s t b e o b a c h t u n g e n mitgeteilt habe. 3
S i e h e „ D i e N e r v e n des Herzens", Kap. IV, § 7.
des
die
durch
Herzens",
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
145
fasern nie, auch nicht g e l e g e n t l i c h , ähnliche G e f ü h l e auslösen, wie wir sie beim Anhören einer M o z a r t sehen Sonate oder einer B e e t h o v e n sehen Symphonie haben. In seiner bahnbrechenden Arbeit über die Reflextätigkeit des Rückenmarks hat E d u a r d P f l ü g e r um die Mitte des letzten Jahrhunderts den Ganglienzellen des Rückenmarks sensorische, d. h. seelische Funktionen zugeschrieben. 1 Zahllose Forschungen haben seitdem die Richtigkeit der P f l ü g e r s c h e n Lehre erwiesen. Bei der von mir vorgeschlagenen Differenzierung der psychischen Funktionen liegt keinerlei G r u n d vor, ähnliche sensorische Funktionen denjenigen Ganglienzellen des großen sympathischen Nervs zuzuschreiben, deren reflektorische Fähigkeiten in unzweifelhafter Weise erwiesen sind, besonders aber den Hals- und obersten Brustganglien, deren Reflexe, wie ich dies gezeigt habe, eine große funktionelle Bedeutung f ü r die Herztätigkeit besitzen. Mit der gleichen Befugnis darf man auch gewissen Herzganglien selbständige seelische Funktionen zuschreiben. Die endgültige Lösung dieser Frage, die wir auf G r u n d von Tierexperimenten aufgeworfen haben, stößt indes noch auf große* Schwierigkeiten. U n d so könnten n u r neue Beobachtungen, besonders an Herzkranken, zu ihrer Lösung beitragen. 2
§ 4. Das Ohrlabyrinth und das Geistesleben. Die Grenzen zwischen seelischen Funktionen und geistigen Leistungen. Die Verrichtungen der Sinnesorgane bilden das wichtigste Grenzgebiet, auf welchen die Untersuchungen der Physiologen und Philosophen zu fruchtbarer Arbeit zusammentreffen können. In den folgenden Abschnitten soll der Versuch gemacht werden, möglichst scharfe Grenzlinien zu bezeichnen, bis wohin die experimentelle F o r s c h u n g des Physiologen sich ausdehnen kann; jenseits dieser Linie soll das Gebiet der spekulativen Philosophie beginnen. Der Naturforscher darf den festen Boden der experimentell erwiesenen oder unzweifelhaft beobachteten Tatsachen nicht verlassen, wenn er vollgültige Gesetze von ihnen ableiten will. Der Philosoph dagegen besitzt reichhaltige, während Jahrtausenden von den größten 1
E d u a r d P f l ü g e r , « D i e sensorischen Funktionen des Rückenmarks der Wirbeltiere«, Berlin 1853. 2 Über die hierbei einzuschlagenden Methoden siehe meine Schrift „Leib, Seele und Geist" in P f l ü g e r s Archiv, Bd. CXXV1I, 1909. E. v. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
Rü. 2.
10
146
Leib, Seele und Geist
D e n k e r n der Menschheit angehäufte Schätze von Lehren, Hypothesen u n d Theorien über das Denkvermögen und die Denkgesetze, die es ihm mit viel größerer Leichtigkeit als dem Physiologen gestatten, die Errungenschaften der Sinnesphysiologie f ü r die Erkenntnis der geistigen Vorgänge zu verwerten. Er braucht dabei nicht unbedingt von präzisen Apparaten und von mathematischen Formeln Gebrauch zu machen. Maß und Zahl können an den rein geistigen Erscheinungen und Vorgängen n u r selten mit Nutzen angewendet werden. N u r die seelischen Funktionen werden räumlichen und zeitlichen Messungen unterzogen und dies dank den beiden mathematischen Oeneralsinnen im Ohrlabyrinth, die einen notwendigen Faktor unseres Denkvermögens bilden. Unter Zuhilfenahme der bei dem Studium der Funktionen des Ohrlabyrinths gewonnenen Erfahrungen soll hier der Versuch gemacht werden, die Grenzlinie zwischen den seelischen Funktionen und den geistigen Vorgängen etwas näher zu bezeichnen. Die Zeitu n d R a u m w a h r n e h m u n g e n galten bis jetzt als rein geistige Prozesse, deren E r f o r s c h u n g allein den Philosophen und Mathematikern zukommt. Trotzdem ist deren Forschen bisher erfolglos geblieben, obwohl sie oft g e n u g versucht haben, den rein geistigen U r s p r u n g der Zeit- u n d Raumvorstellungen spekulativ zu beweisen. Noch vor kurzem hat C a r l S t u m p f zugeben müssen, daß es bis jetzt den Mathematikern, trotz der neuen Richtung, die sie mit der nichteuklidischen Geometrie einschlugen, nicht gelungen S61. n weder diesen U r s p r u n g nachzuweisen noch diese Neubildungen in den Rahmen der allgemeinen Erkenntnisprobleme befriedigend einzufügen, sie zu den Begriffen von E r f a h r u n g und aprioristischer Erkenntnis, zu denen wir von anderen Seiten unweigerlich geführt werden, in einleuchtende Beziehung zu setzen". 1 Der G r u n d dieses Mißlingens rührt aber nicht, wie S t u m p f sagt, daher, daß »sie nicht in der Erkenntnistheorie aufgewachsen«, sondern daß diese P r o b l e m e überhaupt w e d e r v o n P h i l o s o p h e n n o c h v o n M a t h e m a t i k e r n gelöst werden konnten. Allein die experimentelle Physiologie ist im Besitze der notwendigen Methoden, um die Existenz von Sinnesorganen nachzuweisen, deren W a h r n e h m u n g e n zu Vorstellungen von Raum und Zeit führen. Es gibt keine unmittelbare Vorstellung ohne W a h r n e h m u n g e n , 1 Carl Berlin 1907.
Stumpf,
Die W i e d e r g e b u r t der Philosophie.
Rektoratsrede.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
147
keine W a h r n e h m u n g ohne vorhergehende E m p f i n d u n g ; keine Empfind u n g ohne E r r e g u n g von Nervenfasern — oder deren Endigungen — und keine E r r e g u n g ohne Einwirkung äußerer oder innerer Reize. Diese Unmöglichkeiten hätten die Empiristen unter den Philosophen davon abhalten sollen, von sinnlichen W a h r n e h m u n g e n zu sprechen, wenn sie nicht imstande waren, die Sinnesorgane aufzuweisen, deren Empfindungen wahrgenommen werden sollen. Keine mathematischen Formeln oder dialektischen Spitzfindigkeiten, keine noch so geistreiche Sophistik vermögen über diese unbedingten Notwendigkeiten hinwegzuhelfen. Der Erfolg allein entscheidet über den Wert der zur Forschung verwendeten Methoden. D i e E n t s c h e i d u n g i s t aber zugunsten der experimentellen Physiologie ausgef a l l e n , d e r e s g e l u n g e n i s t , im O h r l a b y r i n t h d i e E x i s t e n z spezieller S i n n e s v o r r i c h t u n g e n nachzuweisen, denen wir die W a h r n e h m u n g der drei G r u n d r i c h t u n g e n verdanken, die u n s e r e m Bewußtsein die V o r s t e l l u n g eines d r e i d i m e n sionalen Raumes sowie die Zahlenkenntnis aufzwingen. Diese Sinneseinrichtungen bestehen in dem System der drei senkrecht zueinander stehenden Bogengänge, welche ihrer anatotomischen Lagerung wegen dem rechtwinkligen D e s c a r t e s ' s c h e n Koordinatensystem entsprechen. Die unmittelbare Vorstellung dieses Koordinatensystems in unserem Bewußtsein oder dessen ideale Abstraktion könnte bei der S c h ö p f u n g der analytischen Geometrie von D e s c a r t e s sehr gut als Ausgangspunkt gedient haben. D i e s e G e o metrie würde also ihren U r s p r u n g ebenfalls den Verricht u n g e n des B o g e n g a n g a p p a r a t e s v e r d a n k e n , g e n a u wie die v o n E u k l i d . Schon 1 8 7 8 , als ich das Zustandekommen dieses idealen Systems dreier rechtwinkliger Koordinaten in unserem Bewußtsein darlegte, erkannte ich diesen U r s p r u n g , zauderte aus den angeführten G r ü n d e n jedoch, der Frage näher zu treten. Ein Mathematiker, der sich die Fortsetzung dieser Nachforschungen zur Aufgabe machte, könnte der Philosophie sicherlich wertvolle Daten aus seiner Wissenschaft liefern.
§ 5.
Die Entstehung unserer Vorstellung des rechtwinkligen Koordi-
natensystems von D e s c a r t e s .
Die Umkehr der Netzhautbilder.
»Bei keinem anderen unserer Sinnesorgane", schrieb ich schon im Jahre 1878, „haben wir es so leicht wie beim Bogengangappa10*
148
Leib, Seele und Geist
rate, das Zustandekommen der Vorstellung von der Natur der E m p f i n d u n g e n herzuleiten. Der anatomische Bau der in drei auf einander senkrechten Ebenen gelegenen Bogengänge hätte schon genügen sollen, um ihre funktionelle Bestimmung zu erkennen, welche ist, uns die E m p f i n d u n g e n der von den drei G r u n d r i c h t u n g e n des Raumes herkommenden Schallwellen w a h r n e h m e n zu lassen." Noch ehe die zahllosen Versuche an den Bogengängen — von F l o u r e n s bis zu mir — unzweideutig dargetan haben, in welchen genauen Beziehungen die Nervenenden der drei Ampullen zu den Richtungen unserer Bewegungen stehen, konnte man schon mit Wahrscheinlichkeit aus ihrem Bau eine solche Funktionsweise erschließen, wie dies A u t e n r i e t h schon im Jahre 1803 getan hat. Als im Jahre 1 8 7 5 — 7 6 mir der Nachweis gelang, daß die drei Bogengangpaare die Bewegungen unserer beiden Augäpfel beherrschen, welche f ü r die räumlichen u n d zeitlichen Vorstellungen von so außerordentlicher Wichtigkeit sind, bestand f ü r mich kein Zweifel m e h r , daß die Richtungsempfindungen, welche bei den Tieren f ü r die Orientierung in den drei Richtungen des äußeren Raumes dienen, beim Menschen auch die Bildung seiner Vorstellungen und Begriffe eines Raumes von drei Dimensionen ermöglichen. Gleichzeitig häuften sich die experimentellen Belege 1 dafür, daß die U m k e h r u n s e r e r N e t z h a u t b i l d e r , d i e u n s g e s t a t t e t , ä u ß e r e G e g e n s t ä n d e in i h r e r a u f r e c h t e n u n d n i c h t in v e r k e h r t e r S t e l l u n g w a h r z u n e h m e n , e b e n f a l l s auf die V e r r i c h t u n g e n der Bogengänge z u r ü c k g e f ü h r t werden muß. So e n t w i c k e l t e sich a l l m ä h l i c h die Lehre, daß die Richt u n g s e m p f i n d u n g e n die unmittelbare Vorstellung eines r e c h t w i n k l i g e n K o o r d i n a t e n s y s t e m s b i l d e n , auf welches alle anderen E m p f i n d u n g e n , besonders die der Tast- und Gesichtsorgane, projiziert werden. D i e s e P r o j e k t i o n ges t a t t e t d i e f ü r d i e O r i e n t i e r u n g im R ä u m e e r f o r d e r l i c h e L o k a l i s i e r u n g d e r ä u ß e r e n G e g e n s t ä n d e und b e s o r g t , wie g e s a g t , die U m k e h r d e r N e t z h a u t b i l d e r , e h e sie zu u n s e r e m Bewußtsein gelangen. Es w u r d e schon angedeutet, daß die neu festgestellten Verrichtungen des Ohrlabyrinths sich besonders dazu eignen, die G r e n z 1
Siehe
„ D a s Ohrlabyrinth«, Kap. 1, § § 4, 8 u. 9 ; Kap. V, § § 12 u. 13,
s o w i e Figg. 1—VII auf Taf. I.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
149
linie zwischen den seelischen Hirnfunktionen und den geistigen Vorgängen, also zwischen den Forschungsgebieten der Physiologen und der Philosophen, zu ziehen. S o l a n g e e s s i c h b e i d i e s e n Verrichtungen um Empfindungen, W a h r n e h m u n g e n und u n m i t t e l b a r e V o r s t e l l u n g e n h a n d e l t , u n t e r l i e g t es k e i n e m Z w e i f e l , d a ß m a n es m i t r e i n s e e l i s c h e n P r o z e s s e n zu t u n hat, deren weitere E r f o r s c h u n g der e x p e r i m e n t e l l e n P h y siologie obliegt. Zweifel könnten darüber entstehen, ob die U m k e h r des Netzhautbildes und die Bildung des Koordinatensystems zu den seelischen Funktionen oder zu den geistigen Leistungen gehören. Die ausführliche Darlegung dieser physiologisch wichtigen Funktionen des Ohrlabyrinths zeigt, daß diese Prozesse sich zwischen den peripheren Sinnesorganen und denjenigen Ganglienzentren abspielen, wo die W a h r n e h m u n g e n der äußeren Eindrücke stattfinden. Der Begriff einer Funktion bedingt notwendig die Existenz von O r g a n e n , von denen sie ausgeübt wird; nun aber beherrscht nach meiner Auffassung der Geist in ausgedehntem Maße die seelischen Funktionen des Gehirns. Der Geist besitzt keine angeborenen (aprioristischen) Inhalte noch Organe. Er benutzt die in den G a n g lienzellen angehäuften E m p f i n d u n g e n , E i n d r ü c k e , W a h r n e h m u n g e n und u n m i t t e l b a r e V o r s t e l l u n g e n , um sie in vorteilhaftester Weise nach den unwandelbaren Gesetzen des Denkens für die Bildung von B e g r i f f e n , a b s t r a k t e n I d e e n , U r t e i l e n usw. zu v e r w e n d e n . Er kann also selbst nicht eine F u n k t i o n u n d am w e n i g s t e n eine F u n k t i o n d e r von ihm b e h e r r s c h t e n G a n g l i e n z e l l e n sein. Bei der Unmöglichkeit, auch nur Vermutungen über die O r g a n e anzustellen, die als materielles Substrat oder auch n u r als physisches Korrelat f ü r seine Funktionen dienen, kann man wohl von geistigen A s s o z i a t i o n e n , E r s c h e i n u n g e n , V o r g ä n g e n u n d L e i s t u n g e n sprechen, aber nicht von geistigen Funktionen. D a d i e U m k e h r d e s N e t z h a u t b i l d e s s i c h im G e h i r n e s e l b s t a b s p i e l t , so m u ß sie als e i n e s e e l i s c h e F u n k t i o n d e r H i r n z e n t r e n b e t r a c h t e t werden, wahrscheinlich derjenigen, wo die Nervenfasern des Opticus mit denen des Vestibularnervs zusammentreffen. Die Sinnestäuschungen, die man durch Verstellung des Kopfes oder mit Hilfe besonderer prismatischer Brillen hervorruft, um eine derartige U m k e h r der Netzhautbilder zu erzeugen oder zu verhindern (jedesmal bei intaktem Ohrlabyrinth),
1 50
Leib, Seele und Geist
zeugen ebenfalls zugunsten ihres seelischen Ursprungs'. 1 Die Unterschiede zwischen einer Sinnestäuschung u n d Urteilstäuschung sind beim Menschen zu evident, als daß man das Ausfallen d e r Umkehr f ü r eine geistige T ä u s c h u n g halten könnte. Nun habe ich derartige Ausfälle durch zahlreiche Versuche über die Täuschungen in den Richtungswahrnehmungen am Menschen klar dartun können.
§ 6.
Die Bildung des Ichbewußtseins beim Menschen und des Sich-
empfindens bei Tieren.
Die Verdoppelung der Persönlichkeit
Viel größere Schwierigkeiten bietet schon eine andere Konsequenz der Bildung des idealen Koordinatensystems durch die drei Richtungsempfindungen des Ohrlabyrinths, nämlich die Annahme, daß der Nullpunkt dieses Systems unserem Ichbewußtsein entspräche. Von jeher hat der Naturforscher unser Ichbewußtsein als die Resultante sämtlicher individueller E m p f i n d u n g e n betrachtet, die zu unserem Bewußtsein gelangen. Die Projektion unserer sämtlichen E m p f i n d u n g e n auf das Koordinatensystem des Ohrlabyrinths geschieht zum Zwecke der Lokalisierung dieser Empfindungen im äußeren Räume. Der G e d a n k e lag daher nahe, das Z e n t r u m 2 , wo die W a h r n e h m u n g e n aller dieser Empfindungen zusammentreffen, sei beim Menschen mit diesem Nullpunkt identisch. Auf G r u n d der ersten ausführlichen Mitteilung meiner experimentellen Untersuchungen über den Bogengangapparat als peripheres Organ des Raumsinns (1878), wo ich diesen Gedanken entwickelte, hat H e n s e n in seiner klassischen »Physiologie des G e h ö r s " ihn in f o l g e n d e r W e i s e formuliert: »Wenn ich die Ansicht C y o n s richtig verstehe, würde also durch die G e f ü h l e in den Kanälen f ü r unseren Kopf und folglich f ü r den ganzen Körper der festgelegte Nullpunkt der drei Koordinaten des Raumes geschaffen werden, von dem aus man den Rauhi mit Hilfe der Sinnesorgane und deren Bewegungen durchforschen kann. . . . Durch die G e f ü h l e in den halbzirkelförmigen Kanälen würde also der Teil unseres Selbstbewußtseins eine Erklärung finden, welcher es bewirkt, daß wir nach unserem ursprüng1
Siehe Figur I u. IV des „Ohrlabyrinths" sowie Kap. V, § 13 desselben
Werkes. 2
Den p o i n t d ' o r i g i n e des Koordinatensystems nach
Descartes.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
151
liehen G e f ü h l uns als Mittelpunkt erscheinen, um welchen sich alle Körper d r e h e n . " 1 In den zwei ersten Kapiteln dieses Bandes ist diese Frage vom U r s p r u n g des Ichbewußtseins ausführlicher erörtert worden. Hier soll n u r geprüft werden, ob der Sitz dieses Ichbewußtseins in die Seele (Hirn) oder in den Geist verlegt werden muß. Vom Ausgange dieser P r ü f u n g wird es a b h ä n g e n , o b seine weitere Erforschung in das Bereich der Physiologie oder in das der Philosophie gehört. Wie bei allen Grenzgebieten, so werden auch zwischen diesen beiden Wissenschaften immer gewisse Streitgebiete übrig bleiben. N u r einige G r ü n d e sollen hier noch angegeben werden, die eher zugunsten der Physiologie sprechen. Im Gegensatz zum allgemeinen Bewußtsein besitzt das Ichbewußtsein keinerlei intellektuelle Inhalte. Die verwirrende Vielstimmigkeit in den philosophischen Auffassungen des Ichbewußtseins rührt zum großen Teile davon her, daß seit L e i b n i z die Ansicht vorherrscht, das Ichbewußtsein sei mit dem Bewußtsein identisch. Die Definition von D a v i d H u m e , das Ichbewußtsein sei ein »Bündel von Vorstellungen", sowie die Auffassung H e r b a r t s , das Ich sei »eine Vorstellungsmasse", beruhen eben auf einer derartigen Identität. Die gegenüberstehende Definition, das Selbstbewußtsein sei nur ein » G e f ü h l s k o m p l e x " oder ein Totalgefühl" ( W u n d t ) , befinden sich im vollen Widerspruch mit den eben erwähnten. Die ersten stammen von Philosophen, die letzteren von Psychophysiologen. Auch diese sind übrigens von jeder Einstimmigkeit entfernt; die eine Schule will das Ichbewußtsein nur aus s i n n l i c h e n E m p f i n d u n g e n entstehen lassen; die anderen geben den G e f ü h l e n den Vorzug. Die Ausschaltung des Geistes aus den seelischen Funktionen würde vielleicht dazu beitragen, alle diese Gegensätze, wenn nicht zu versöhnen, so doch wenigstens zu klären. Diese Ausschaltung schließt die Identitätslehre, wenigstens in der schroffen L e i b n i z s c h e n F o r m u l i e r u n g aus. Der von mir verteidigte U r s p r u n g des Ichbewußtseins beim Mennschen aus der Projektion sämtlicher sinnlicher Empfindungen und inneren G e f ü h l e auf das ideale Koordinatensystem des Ohrlabyrinths gibt dagegen Anhaltspunkte, um den 1 M e n s e n , Physiologie des Gehörs. H e r m a n n , Bd. 3, S. 141.
Handbuch der Physiologie von
152
Leib, Seele und Geist
Beziehungen zwischen dem Ichbewußtsein und derfi allgemeinen Bewußtsein nachforschen zu können. Was die Widersprüche unter den Psychophysiologen betrifft, so gleichen sie sich von selbst aus, w e n n die oben (in § 3) erörterten Bedingungen näher berücksichtigt werden, unter welchen die Einflüsse der sinnlichen Empfindungen sowohl die zentralen Emotionsorgane im Gehirn als auch die des Herzens beherrschen und regulieren. Wie dem auch sei, d i e d a b e i in B e t r a c h t k o m m e n d e n Funktionen werden sämtlich von G a n g l i e n - und Nervena p p a r a t e n a u s g e ü b t ; sie g e h ö r e n a l s o zu d e n s e e l i s c h e n Verrichtungen. Der Geist vermag die G e f ü h l e und Gemütsbewegungen n u r indirekt zu beeinflussen und dies nur in sehr beschränktem Maße. D a h e r r ü h r t es a u c h , d a ß g e i s t i g e U r teile nicht i m s t a n d e sind, i r g e n d w i e die Täuschungen r i c h t i g z u s t e l l e n , die auf f a l s c h e r P r o j e k t i o n u n s e r e r E m p f i n d u n g e n o d e r G e f ü h l e auf d a s ideale rechtwinklige Koordinatensystem, dessen Nullpunkt dem Ichbewußtsein e n t s p r i c h t , b e r u h e n . Da die Lokalisierung unserer Empfindungen im äußeren Räume oder in unserem eigenen Organismus mit Hilfe dieses Koordinatensystems zustande kommt, so gehört auch die Bildung des Ichbewußtseins in das Gebiet der räumlichen Funktionen des Ohrlabyrinths. Die Vorstellungen von Raum und Zeit (diese letzteren n u r , soweit sie von den W a h r n e h m u n g e n der Richtungsempfindungen h e r r ü h r e n ) 1 müssen also bei der Bildung unseres Ichbewußtseins in erster Linie in Betracht gezogen werden. Sämtliche Tiere, welche sich im äußeren Räume mit Hilfe der Bogengänge oder der Otozysten zu orientieren vermögen, können bis zu einem gewissen G r a d e ihr individuelles I c h von der äußeren Welt unterscheiden, sie besitzen also ein Ichbewußtsein oder r i c h t i g e r e i n S i c h e m p f i n d e n . Der Stolz eines arabischen Vollbluthengstes, wie die Mißachtung gutgepflegter Rassenhunde f ü r minder begünstigte und vernachlässigte, auf der Straße herumlaufende Stammesgenossen, spricht sogar f ü r ein ziemlich entwickeltes Selbstgefühl bei gewissen Wirbeltieren, ohne daß man deswegen bei ihnen auf geistige Vorgänge zu schließen brauchte. Das Tier empfindet, daß 1
es außerhalb der ihn
Siehe Kap. VII, §§ 3 u. 4 des „Olirlabyrintlis".
umgebenden
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
1 53
Dinge f ü r s i c h ist. Seine Empfindungen und Gefühle vermag es n u r durch reflektorische Bewegungen, durch Laute und Töne auszudrücken. O h n e Sprache kann aber keine Ideenbildung stattfinden. Das B e w u ß t s e i n e i n e r i n d i v i d u e l l e n E x i s t e n z ist d e m T i e r e daher unzugänglich. Es vermag sich als gesondert im Räume wahrzunehmen, also sich i m R ä u m e z u o r i e n t i e r e n , dies aber nur mit Hilfe der Gesichts- und Richtungsempfindungen. Diese Orientierung im Räume äußert sich bei den höheren Wirbeltieren, die ein vollständiges Ohrlabyrinth besitzen, darin, daß sie die Bewegungen ihrer Körperteile w i l l k ü r l i c h u n d z w e c k m ä ß i g in den drei Richtungen des Raumes auszuführen, ihre Lage in bezug auf die sie u m g e b e n d e n Gegenständen zu nähern oder zu entfernen vermögen usw. Aber von irgendwelchen bewußten Vorstell u n g e n o d e r g a r r ä u m l i c h e n B e g r i f f e n k a n n a u c h bei den h ö c h s t e n W i r b e l t i e r e n keine Rede sein. Die Bildung des Begriffes des idealen rechtwinkligen Koordinatensystems ist ein rein geistiger Vorgang und d e u t e t a u f d i e B e z i e h u n g e n z w i s c h e n dem Ichbewußtsein und dem allgemeinen Bewußtsein. Den wahren Begriff dieses Systems hat erst D e s c a r t e s gebildet. Meine Untersuchungen haben n u r seinen sinnlichen U r s p r u n g erwiesen. Diese G r e n z e der seelischen Funktionen der Tiere ist an sich so bezeichnend, daß man glauben könnte, daß Verwechslungen und Irrtümer, besonders beim Naturforscher, kaum möglich wären. Leider ist dem nicht so; und gerade beim Studium der Verrichtungen des G e h ö r o r g a n s sind derartige Verirrungen noch g a n g und gebe. Die einen, meistens Schüler von M a c h , schrieben sogar den wirbellosen Tieren geometrische Kenntnisse z u , indem sie aus Versuchen an Krebsen den Schluß zogen, daß die Otolithen ihnen dazu dienen, d i e S e n k r e c h t e z u b e s t i m m e n ! Ja gewisse Mathematiker glauben, ich hätte mit meinen Versuchen über die Verrichtungen der Bogengänge beweisen wollen, die Tiere besäßen, dank dem Ohrlabyrinth, die Fähigkeit, Begriffe und Vorstellungen von einem drei-, zwei- ja sogar eindimensionalem Räume zu bilden. Unzählige Male bin ich im Laufe der Erörterungen im »Ohrlabyrinth" derartigen Verirrungen entgegengetreten. Ein ganzes Kapitel dieses Buches ist hauptsächlich der Analyse der experimentellen Tatsachen gewidmet, welche eben die Grenzen zwischen den Verrichtungen des Ohrlabyrinths beim Menschen und bei verschiedenen Wirbeltieren und Wirbellosen
154
Leib, Seele und Geist
scharf hervortreten lassen. 1 Dort habe ich auch die Quellen f ü r die von einigen meiner G e g n e r begangenen Irrtümer und Verwechslungen aufgedeckt. Wirbeltiere und sogar wirbellose Tiere besitzen Sinnesorgane, die dem Menschen fehlen. Von den mit dem Menschen gemeinschaftlichen Sinnesorganen sind m e h r e r e , wie z. B. der S p ü r s i n n f ü r die Fernorientierung 2 , bei Tieren viel feiner ausgebildet als beim Menschen: trotzdem gehen ihre Verrichtungen nicht über die Grenze der rein seelischen Funktionen hinaus und bringen keine Vorstellungen und Begriffe hervor. Ich verweilte etwas länger bei dem seelischen U r s p r u n g des Ichbewußtseins, weil mit seiner Bildungsweise noch manche andere physiologische und pathologische Fragen verknüpft sind, die von psychologischem Interesse sind. So z. B. die Frage nach der rätselhaften V e r d o p p e l u n g der Persönlichkeit. Diese krankhafte Erschein u n g , eine der geheimnisvollsten der Psychopathologie, hat bis jetzt allen Erklärungsversuchen getrotzt; oder richtiger: es gelang den Psychiatern nicht einmal, eine annähernde Erklärung dieser Erscheinung zu versuchen. Die Entstehungsweise des Ichbewußtseins aus den drei Richtungsempfindungen des Ohrlabyrinths liefert uns eine Handhabe, um den Mechanismus der Verdoppelung der Persönlichkeit einigermaßen einer Analyse zu unterziehen. Das ideale Koordinatensystem, auf welches, unter anderen, die Netzhautbilder projiziert w e r d e n , wird durch die V e r s c h m e l z u n g der beiderseitigen Koordinatensysteme des rechten u n d linken O h r labyrinths gebildet. O h n e eine derartige Verschmelzung würden die Netzhautbilder der beiden Seiten immer g e s o n d e r t zum Bewußtsein gelangen; sie würden auf zwei gesonderte rechtwinklige D e s c a r t e s ' s c h e Koordinatensysteme projiziert und folglich auch gesondert im äußeren Räume lokalisiert werden. W i r besäßen dann auch zwei Ichbewußtseine, und da die zur Wahrnehmung gebrachten Bilder nicht vollkommen identisch sind, so müßten wir uns als zwei verschiedene Personen empfinden, wahrnehmen und vorstellen. 1
Siehe „Das Ohrlabyrinth", Kap. IV, § § 6 - 9 . Zur Verdeutlichung des Unterschiedes zwischen der Orientierung in den drei Grundrichtungen des Raumes und der Fernorientierung, wie sie z. B. die Wandertauben vornehmen, habe ich die Bogengänge des Ohrlabyrinths mit dem Steuer eines Schiffes verglichen, wogegen das Nasenlabyrinth und die Sehorgane bei der Fernorientierung als Kompaß fungieren. 2
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
155
N u n werden aber auf diese Koordinatensysteme nicht allein die Gesichtsempfindungen
projiziert:
alle
Empfindungen,
äußere
und innere, die zu unserer W a h r n e h m u n g gelangen, tun das gleiche. Von der rechten und linken Körperhälfte nehmen wir Empfindungen w a h r , die, wie gesagt, bei weitem nicht identisch sind.
Im Falle
der Verdoppelung der Persönlichkeit kann man also annehmen, daß zwei g a n z
v e r s c h i e d e n e B i l d e r von ihnen zum Bewußtsein ge-
langen, infolge deren sich das Individuum als aus z w e i P e r s o n e n bestehend
getrennten
wahrnimmt.
Dieser Versuch einer plausiblen Erklärung der rätselhaften Verd o p p e l u n g der Persönlichkeit
gestattet jedenfalls eine anschauliche
Vorstellung von ihrem Mechanismus.
Selbstverständlich würde eine
derartige Entstehungsweise der Verdoppelung ebenfalls zugunsten des sinnlichen U r s p r u n g s des Ichbewußtseins sprechen.
§ 7.
Die Abgrenzung der Gebiete der Physiologie und Philosophie im Raum- und Zeitproblem.
Terminologisches.
Die angeführten Beispiele liefern schon genügende Anhaltspunkte, um gewisse Grenzlinien zwischen den seelischen Funktionen und den geistigen Leistungen im Sinne der hier entwickelten Auffassung zu entwerfen. Alle psychischen Geschehnisse, die durch die sinnliche E r f a h r u n g , also durch bestimmbare Funktionen des zentralen oder peripheren Nervensystems erzeugt sind, g e h ö r e n in d a s B e r e i c h d e r S e e l e , also in das Gebiet der Physiologie, Anatomie und Psychiatrie. Die bisher als h ö h e r e p s y c h i s c h e bezeichneten Funktionen der Seele sind keine F u n k t i o n e n im eigentlichen Sinne des W o r t e s ; sie wurden bis jetzt auch häufig als E r s c h e i n u n g e n oder A s s o z i a t i o n e n bezeichnet. Ich gebrauche hier die Bezeichnungen V o r g ä n g e oder L e i s t u n g e n ; die letztere Bezeichnung bietet den Vorzug, daß sie die s c h ö p f e rische Fähigkeit des Geistes anzeigt. Nach der vorges c h l a g e n e n D i f f e r e n z i e r u n g k ö n n e n sie n u r d e m M e n s c h e n e i g e n t ü m l i c h sein. Die Erforschung der geistigen Leistungen gehört also bis auf weiteres in das Gebiet der Philosophie. N u r die Philosophen besitzen die notwendige Freiheit, um Fragestellungen zu formulieren, auf welche sie im voraus sicher sind, keine entscheidende Antwort
1 56
Leib, Seele und Geist
erhalten zu können, 1 um Definitionen von abstrakten Gedanken und Begriffen zu g e b e n , deren U r s p r u n g ihnen nicht immer klar ist, und Hypothesen zu bauen, über deren ephemären Charakter kein Zweifel möglich sein kann. Dieses hindert nicht, daß ihre Fragestellungen, Definitionen und Hypothesen f ü r die weitere erfolgreiche psychologische Forschung sich häufig als fruchtbar erwiesen haben. Psychologen wie Philosophen, die darauf ausgehen, das tiefste Wesen der Dinge zu e r g r ü n d e n , sind ja seit Jahrtausenden daran gewöhnt, bei ihren Forschungen auf definitive Ergebnisse Verzicht zu leisten. Der Naturforscher dagegen, dessen Aufgaben viel bescheidenere sind, dessen Untersuchungen sich auf greifbare, meßbare und wägbare, also reelle Werte beschränken, m u ß auch darauf abzielen, möglichst greifbare und nachweisbare Resultate zu erhalten. U m auf die psychologische Bedeutung der Verrichtungen des Ohrlabyrinths zurückzukommen, so ist es mir endlich gelungen, die seit mehr als einem Jahrhundert zu verschiedenen Zwecken von V e n t u r i , S p a l l a n z a n i , A u t e n r i e t h , F l o u r e n s , E. H. W e b e r , K. V i e r o r d t u. a. verfolgten experimentellen Forschungen bis zum Nachweis der Existenz besonderer Sinnesorgane zu f ü h r e n , deren E m p f i n d u n g e n u n d W a h r n e h m u n g e n es gestatten, den sinnlichen U r s p r u n g unserer Raum- und Zeitvorstellungen, sowie der Zahlkenntnis zu demonstrieren. Durch diese Erkenntnis wurde die eigentliche Aufgabe des Physiologen bei der Lösung des Zeit- und Raumproblems mit Erfolg erledigt. W e n n ich mich dennoch in das Gebiet der Philosophie hineinwagte, so geschah dies aus folgenden G r ü n d e n . Aus der Existenz der genannten mathematischen Sinnesorgane folgt mit Notwendigkeit, daß der bei mehreren Naturforschern und Mathematikern so tief eingewurzelte Glaube an den aprioristischen U r s p r u n g der Raum- u n d Zeitvorstellungen von nun an halt- u n d gegenstandslos geworden ist. Bei der engen V e r k n ü p f u n g der Frage nach dem U r s p r ü n g e der geometrischen Axiome mit der nach der Herkunft unserer räumlichen Anschauungen war es unvermeidlich, diese Frage ebenfalls in den Bereich meiner Forschungen hineinzuziehen. Auf G r u n d der Empfindungen der drei G r u n d r i c h t u n g e n des Raumes gelang es mir, 1
H ä u f i g g e n u g wird von Mctliapliysikcrn die A u f s t e l l u n g einer Frage
auch als mit deren B e a n t w o r t u n g gleichwertig betrachtet.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
157
den sinnlichen U r s p r u n g dieser Axiome und Definitionen abzuleiten u n d so die Möglichkeit des synthetischen Aufbaues der E u k l i d i s c h e n Geometrie zu demonstrieren. Dadurch wurden gleichzeitig die Angriffe der Meta-Mathematiker siegreich zurückgewiesen, die es untern o m m e n hatten, „ E u k l i d die Herrschaft über die Menschen" zu entreißen, »die er länger ausgeübt hat als irgend ein Königshaus", um mich der Worte von K. E. v o n B a e r zu bedienen. Weiter habe ich das Eindringen auf das philosophische Gebiet nicht verfolgen wollen und will es auch jetzt den Philosophen überlassen, die von der Physiologie gewonnenen Errungenschaften mit den ihnen zu Gebote stehenden Methoden weiter zu entwickeln und zu verwerten. Die B i l d u n g der abstrakten Begriffe von R a u m u n d Z e i t ist e i n e g e i s t i g e O p e r a t i o n , deren Aufklärung in erster Linie den Philosophen gehört. Dem Mathematiker dagegen liegt die dankbare Aufgabe o b , den Mechanismus derjenigen geistigen Vorgänge, zu erforschen, mit deren Hilfe seine Wissenschaft es vermocht hatte, aus der Kenntnis der Zahl und der vier Spezies der Arithmetik das grandiose G e b ä u d e der höheren Analysis und der transzendentalen Geometrie zu errichten. Der physiologische U r s p r u n g der Axiome und Definitionen der E u k l i d i s c h e n Geometrie kann der mathematischen Philosophie zahlreiche Ausgangspunkte f ü r die erfolgreiche Erforschung dieser Geometrie sowie über den Wert oder Unwert der neuen mehr oder minder imaginären Geometrien liefern. Die Physiologie des Ohrlabyrinths hat gezeigt, daß der B e g r i f f d e r U n e n d l i c h k e i t v o n R a u m u n d Z e i t uns zuerst durch die Richtungsempfindungen geliefert werden konnte. Die W a h r n e h m u n g einer Richtung erzeugt, wie dies schon G a u s s behauptet u n d U e b e r w e g nachzuweisen versucht hat, die Vorstellung der geraden Linie. Meine Versuche an Tieren und Menschen haben experimentell die Richtigkeit dieses U r s p r u n g s erwiesen. Nun aber können wir u n s die Richtungen nicht anders als u n t e i l b a r u n d o h n e G r e n z e n , also als unendlich, vorstellen. Diese geistigen Vorgänge zu erforschen und aufzuklären, die von dieser unmittelbaren Vorstellung der Richtung bis zur Bildung des Begriffes der Unendlichkeit des Raumes f ü h r e n , ist die Aufgabe der Zukunft. Bei der Lösung dieser Aufgabe m u ß besondere Aufmerksamkeit den Gegensätzen gewidmet werden, die zwischen dem immensen, aber b e g r e n z t e n S e h r a u i n , der unserer direkten Anschauung zugänglich
158
Leib, Seele u n d Geist
ist, u n d d e m f ü r uns unsichtbaren und deswegen als u n b e g r e n z t e r s c h e i n e n d e n , aber tatsächlich viel weniger ausgedehnten H ö r raum bestehen. Bei der Abstraktion des Begriffes der Unendlichkeit von Zeit und Raum sind diese Gegensätze sicherlich von entscheidender Bedeutung. Bis jetzt waren Philosophen und Psychologen gezwungen, ihre Begriffe von diesen G r ö ß e n ohne jede positive Grundlage, auf rein metaphysischem Wege, sozusagen aus sich selbst zu schaffen; daher die Sterilität ihrer tausendjährigen B e m ü h u n g e n , dauernde und wissenschaftlich verwertbare Begriffe zu bilden. Die Begriffe sind aber die G r u n d e l e m e n t e der geistigen Tätigkeit. O h n e klare und unwandelbare Begriffe vermag daher der Psychologe seine Hauptaufgabe, die E r k e n n t n i s d e r D e n k g e s e t z e , unmöglich zu erfüllen. Die anarchische Vielstimmigkeit, die seit jeher in der Psychologie herrscht, wird zum großen Teil durch die erwähnte Sterilität bedingt. V o n n u n an ist es d e m P h i l o s o p h e n n i c h t m e h r m ö g lich, e r n s t l i c h an d i e B i l d u n g d e r B e g r i f f e v o n R a u m u n d Zeit h e r a n z u t r e t e n , ohne die n a c h g e w i e s e n e Existenz bes o n d e r e r S i n n e s o r g a n e im O h r l a b y r i n t h zu b e r ü c k s i c h tigen, denen wir die E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen der drei G r u n d r i c h t u n g e n des Raumes und die Z a h l e n k e n n t n i s verdanken.1 Die zahlreichen Errungenschaften der experimentellen Physiologie in bezug auf die Verrichtungen dieser Sinnesorgane müssen von den Philosophen vollauf angeeignet werden, wenn sie Fruchtbares und Dauerndes in der Psychologie des Menschen leisten wollen. Damit aber ein paralleles Arbeiten der Physiologie und der Philosophie auf verwandten Gebieten ersprießlich wird, m u ß vorher eine gewisse Übereinkunft über die Bezeichnungen der zu erforschenden Elemente und Faktoren zustande kommen. Die bis jetzt gebräuchliche Terminologie kann ohne gewichtige Modifikationen nicht länger in Kraft bleiben. Wie schon erwähnt, dürfte nach Ausschaltung der geistigen Leistungen aus den seelischen Funktionen das W o r t P s y c h o l o g i e streng g e n o m m e n nur auf die Lehre von der letzteren angewendet werden. D a n n wird dieses W o r t ohne
1
D i e Abhängigkeit
g a n z richtig erkannt!
der Zeit v o n
der Zahl
hat
schon
Aristoteles
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
159
B e d e n k e n auch f ü r Studien an Tieren gebraucht werden können, während man jetzt nur zu oft geneigt ist, aus Beobachtungen an der Psyche der niederen, sogar der wirbellosen Tiere Schlüsse über die geistigen Errungenschaften der Menschen zu ziehen, was unweigerlich zu den wunderlichsten Irrtümern führt. 1 In letzterer Zeit wird von Laien und Dilettanten und leider auch von manchen Naturforschern mit den Worten »Psychische Studien", »Psychismus" und sogar ¡t Psychologische Institute« 2 arger Mißbrauch getrieben. Man müßte daher, der W ü r d e der wissenschaftlichen Forschung entsprechend, f ü r die Lehre vom menschlichen Geiste eine neue Bezeichnung wählen. Ü b e r diese zu entscheiden, ist Sache der Philosophen. D a s W o r t M e n t o l o g i e währe vielleicht das unverfänglichste, wurde aber, wenn ich nicht irre, schon auf ganz anderem Gebiete angewendet. Vorläufig könnte man sie als « s c h ö p f e r i s c h e P s y c h o l o g i e " oder als » P s y c h o l o g i e d e s M e n s c h e n " bezeichnen. Ich gebrauchte hier häufig das W o r t V o r g ä n g e f ü r die Tätigkeitsäußerungen des Geistes, weil dieses W o r t keinerlei Voraussetzungen über das Wesen dieser Tätigkeit bedingt. Die Bezeichnungen A s s o z i a t i o n e n , E r s c h e i n u n g e n u n d F u n k t i o n e n passen mehr f ü r die rein seelischen als f ü r die g e i s t i g e n Geschehnisse. Geläufige Assoziationen von W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen, von Eindrücken u n d Gedächtnisbildern, können auch ohne jede Einmischung des Geistes zustande k o m m e n , u n d zwar dank den anatomischen Bahnen, den Fibrillen von A p a t h y , welche die Ganglienzellen, in denen sie angehäuft sind, verbinden. Auf derartigen Assoziationen b e r u h e n die wichtigsten Äußerungen des Seelenlebens bei Menschen u n d bei Tieren. Das Wort E r s c h e i n u n g wird in verschiedenem Sinne gebraucht. Eine Erscheinung zeigt nur die äußere Seite eines Vorganges; sie wird von jedem Beobachter anders g e s e h e n und g e d e u t e t . Das W o r t deutet auf etwas Vergängliches, Momentanes, Ephemäres, paßt daher kaum f ü r die schaffende Tätigkeit des Geistes. M a c h , der sich durch immer verkehrte Deutungen der einfachsten und klarsten Erscheinungen auszeichnet, hat übrigens durch seine verunglückte Auffrischung des heraklitischen »Alles
1
Siehe „Ohrlabyrinth", Kap. IV, § 5. Zum großen Teil handelt es sich dabei um verschämte spiritistische Studien und um verkappte Spinlistenkunststücke. 2
160
Leib, Seele und" Geist
fließt" auch die Erscheinungspsychologie in den Aiigen der Naturforscher vollständig kompromittiert. 1 Der hervorragende Philosoph C a r l S t u m p f hat neuerdings, dem Beispiel einiger amerikanischen Philosophen folgend, den Ausdruck »geistige Funktionen" anstatt Erscheinungen eingeführt. Mit folgenden Worten präzisierte er seine Auffassung des Wortes: »Funktion im Unterschiede zu den Definitionen von D. S. M i l l e r , D e w e y u. a., ist also hier nicht im Sinn einer durch einen Vorgang erzielten Folge verstanden, so wie man etwa die Blutzirkulation als Funktion der H e r z b e w e g u n g bezeichnet; sondern im Sinne der Tätigkeit, des Vorganges oder Erlebnisses selbst, so wie die Herzkontraktion selbst als eine organische Funktion bezeichnet wird." 2 Auch in dem so präzisierten Sinne ist es dem Naturforscher kaum gestattet, von geistigen Funktionen zu sprechen. Für den Physiologen kann eine Funktion nur von einem entsprechenden Organ ausgeübt werden. Bei der hier vertretenen Auffassung des Geistes, die wohl n u r bei verspäteten Materialisten Anstoß erregen wird, besitzt der Geist aber kein bestimmtes materielles Substrat. 3 »Leistungen" des Geistes wäre daher eine viel zutreffendere Bezeichnung als „ F u n k t i o n e n " . Der Geist beherrscht die seelischen Hirnfunktionen, er bestimmt die Gesetze, nach denen die Inhalte der Ganglienzellen als Produkte dieser Funktionen f ü r das Denken und Schaffen verwendet werden. Der Geist kann also keinesfalls als eine Funktion dieser Ganglienzellen betrachtet werden. Der Geist bildet Begriffe, Urteile, Schlüsse, entwickelt Hypothesen u n d Theorien, auf G r u n d des Schatzes von sinnlichen E r f a h r u n g e n , von Gefühlseindrücken, die vom Herzen u n d von allen anderen sensiblen Gebilden unseres Organismus herstammen und die in den Archiven des zentralen Gangliensystems aufgespeichert sind, — »diesem vornehmsten Gebilde, welches die Natur hervorgebracht hat, . . . diesem größten W u n d e r der Welt, dem an geheimnisvoller Erhabenheit nichts vergleichbar ist" ( P f l ü g e r ) . Diese Denkgesetze
abzuleiten,
die W e g e zu bezeichnen,
auf
1
Siehe „Ohrlabyrinth", Kap. II, § § 2 — 7 u n d den A n h a n g zu Kap. VI, § 5.
s
E r s c h e i n u n g e n u n d p s y c h i s c h e Funktionen.
d. Wissensch. 3
D i e Frage
menschlichen
A b h a n d l . d. Berl. Akad.
1907. über
Geistes
ist
die Substanzialität durch
die
neue
oder N i c h t - S u b s l a n z i a l i t ä t
des
wissenschaftliche
des
Deutung
Wortes „Substanz" g a n z verlegt u n d kann liier nicht erörtert werden.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
161
denen, dank diesen Gesetzen, die W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen unserer S i n n e durch Abstraktionen
zum Aufbau
von Begriffen
be-
nutzt werden, die ihrerseits als Ausgangspunkte für weitere geistige Leistungen dienen, — sophen. und
In seinen
Raum.
auch
ist,
so
sind
daher
So
wunderbar
ist
sie
ihn
nur
als
seinen
die
den
unserer
und zeitlich
Hilfe
der
des
unendlichen
schöpferischen der
Dichter,
Geistes
wir end-
zu
er-
vermögen
wir
der Weltschöpfung
die
zu
ewige Wahrheiten,
schöpferische
nach Wahrheit
Wunder
Zeit
Ganglienzellen
Funktionen
Propheten
leitet
in
beschränkt;
Leistungen
Urkräfte
dem
enthüllt dem
forscher die geheimnisvollen
unbeschränkt
mit
offenbart
genialen
des Künstlers und
Tätigkeit
räumlich
eine Emanation
D e r Geist
inspiriert
ist der Geist
das W e s e n
Nach
erkennen.
doch
außerstande,
licher Organe gründen.
darin liegt die wichtigste Aufgabe der Philo-
Leistungen
Phantasie
lechzenden
der Natur
und
die
NaturGesetze
ihres Geschehens, — dies alles, soweit deren Verständnis der Kapazität ihrer Ganglienkugeln Leistungen,
zugänglich
ist.
von F ä h i g k e i t e n
Man
kann
daher
oder von P o t e n z e n
nicht von seinen Funktionen sprechen.
nur
von
des Geistes,
Noch weniger
könnte man
das W o r t F u n k t i o n beim Geist im mathematischen Sinne verwenden; dies würde jedenfalls zu Mißverständnissen Veranlassung geben.
§ 8.
Die wahren
Laboratorien
für die experimentelle
Psychologie
des Menschen. Bei Gebietes
der
Erforschung
der geistigen
des
unübersehbaren
Leistungen
darf
und
unbegrenzten
die Philosophie,
um
von
ihnen die Gesetze des Denkens abzuleiten, sich nicht mit den subjektiven
Studien
der
launenhaften
ewigen Durchwühlen tausende begnügen.
inneren
Anschauung
der angehäuften Spekulationen
und
dem
früherer Jahr-
Das Unzureichende der Methoden der physio-
logischen Psychologie bei der Erforschung des menschlichen Geistes bedingt keineswegs den Verzicht der Philosophie auf experimentelle Studien.
Das
objektive,
G e b i e t e der menschlichen
experimentelle Psychologie
kann
Forschen dem
schönsten und die dauerhaftesten Früchte bringen. verfügt beim mit denen
Studium
der geistigen
die modernen
Leistungen
psychologischen
auf
Philosophen Der
über
dem die
Philosoph
Laboratorien,
Institute, und
wenn
sie
mit noch so kostspieligen, feinen Instrumenten ausgestattet sind, nicht E. v. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
11
162
Leib, Seele u n d Geist
wetteifern können. Diese experimentelle Psychologie ist übrigens so alt wie die Menschheit. Die meisten ihrer während vieler Jahrtausende angehäuften Erfahrungen bewähren sich bis auf unsere Zeit; ihre Dauer bezeugt den unerschütterlichen W e r t ihrer Errungenschaften. E v a hat das erste psychologische Experiment angestellt; es war sogar ein Tierversuch. M o s e s hat in der arabischen Wüste vierzig Jahre lang an einer Herde entlaufener Sklaven ununterbrochen experimentelle Psychologie getrieben. Das schönste und glücklichste seiner Experimente bestand darin, daß er zwei Generationen von Sklaven in der Wüste sterben ließ, bevor er ihre freigeborenen Kinder ins gelobte Land führte. Der gotterfüllte Schöpfer der Völkerpsychologie, der Apostel P a u l u s , der erste P h i l o s o p h , der die geistigen von den seelischen Leistungen und den geistigen von dem seelischen Menschen ausdrücklich unterschied, 1 hat uns in seinen Briefen die glänzendsten Denkmäler erfolgreicher experimenteller Forschung auf geistigem Gebiete hinterlassen. Die Ergebnisse seiner E r f a h r u n g stehen noch heute unangetastet da. G r ü n d e r von Religionen, Sammler von Volksstämmen, siegreiche Feldherren waren vor allem großartige Psychologen und meisterhafte Experimentatoren. Der Geist, und nicht die rohe Kraft, gewinnt die Siege auf den Schlachtfeldern wie in den Kabinetten der Staatsmänner und entscheidet die Geschicke der Menschheit. Die beiden Mächte, welche sich in die Beherrschung der zivilisierten Welt teilen — England und das Papsttum — sind in höchstem Maße geistige Kräfte; und der wirkliche Kampf um die Weltherrschaft spielt sich zwischen dem Vatikan und Westminster ab, den beiden Großmächten der christlichen Welt, deren jede mehrere hundert Millionen von Seelen regiert. W o r t und Feder sind die mächtigsten Waffen des Menschen geworden. Für das Studium der Leistungen des menschlichen Geistes gibt es kaum ein fruchtbareres Forschungsfeld als die Geschichte der Menschheit; u n d wenn ein m o d e r n e r Philosoph experimentelle Psychologie des Menschen treiben will, so soll er die Laboratorien, in denen die Zeitgeschichte gemacht wird, nicht verschmähen. In keiner Epoche hat sich die Beherrschung der Weltereignisse durch den Geist gewaltiger und greifbarer geäußert, als in der unsrigen. W e n n in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Philosophen 1
Siehe den I. Brief an die Korinther, XV,
44-47.
P s y c h o l o g i s c h e D i f f e r e n z i e r u n g der p s y c h i s c h e n Funktionen
163
sich durch den gewaltigen Aufschwung der Naturwissenschaften nicht hätten einschüchtern lassen, wenn sie vielmehr deren Errungenschaften zu verwerten verstanden hätten, statt sich auf das engere Oebiet der Geschichte der Philosophie zurückzuziehen, dann würden sie sich zu geistigen Herrschern der souverän gewordenen Volksmassen emporgeschwungen h a b e n ; ebenso wie ihre großen Vorgänger im 18. J a h r h u n d e r t , dem Zeitalter der Aufklärung, die gekrönten Häupter und deren H ö f l i n g e geistig beherrschten. Die Philosophie unserer Tage wäre dann nicht zur Einflußlosigkeit auf die intellektuelle Bewegung verdammt; marktschreierische Gelehrte und metaphysische Dilettanten hätten den Geist der Wissenschaft nicht fälschen und die Massen niemals betören können. Auch der neueste Zweig der Philosophie, die Soziologie, wird erst dann Anspruch auf wissenschaftlichen Wert erheben und einen wohltuenden Einfluß auf den G a n g der modernen sozialen Bewegung ausüben können, wenn sie aufhören wird, reine Kathederweisheit zu sein, wenn sie ihre Gesetze nicht auf spekulativem Wege, sondern von reellen Beobachtungen und experimentellen Studien ableiten wird, die an den Orten gemacht werden, wo der soziale Kampf stattfindet.
§ 9.
Der Geist und die schöpferische Intuition bei wissenschaftlichen Entdeckungen und Erfindungen.
Der Wert der geistigen Leistungen hängt nicht allein von den Fähigkeiten der G a n g l i e n z e l l e n ab, aus denen der Geist seine Inhalte schöpft, sondern auch vom Werte dieser Inhalte selbst und der Art, wie sie a n g e h ä u f t und a n g e o r d n e t worden sind. Für die Erkenntnis der geistigen Leistungen und der Gesetze ihres Entstehens liefert daher die Psychologie der großen Denker und der schaffenden Forscher aller Zeiten unerschöpfliche Studienquellen. Auch hier bietet das Studium der Werke der Schöpfer der modernen Naturwissenschaften ein viel wertvolleres, weil weit sicherer abschätzbares Material f ü r den Psychologen als das ewige Durchwühlen der griechischen Philosophen, die uns sowohl zeitlich als räumlich in ihren Denkzielen und Methoden fernstehen. Keine anderen psychischen Leistungen eignen sich besser f ü r die Unterscheidung des Anteils, der dabei dem Geiste und dem Gehirn z u k o m m t , als die epochemachenden Entdeckungen, welche unser Wissen im vorigen Jahrhundert vollständig umgewälzt haben. 11*
164
Leib, Seele und Oeist
»War es ein G o t t , der diese Zeilen schrieb?" fragte B o l t z m a n n bei seinen Erörterungen über die M a x w e l l sehen Gleichungen. Diese Frage könnte auch als Motto dienen f ü r die Gesetze der Entropie von C a r n o t und C l a u s i u s , der H e r t z s c h e n Wellen, der Radioaktivität von C u r i e und R a m s a y , um n u r von den neuesten W u n d e r n der Naturforschung zu reden. Nirgends tritt mit solcher Klarheit die entscheidende Rolle des Geistes hervor, wie bei der Intuition dieser Entdeckungen. „Geheimnisvoll am lichten Tag Läßt sich die Natur des Schleiers nicht berauben, U n d was sie deinem Geist nicht offenbaren mag, Das zwingst du ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben."
(Faust.)
Der Naturforscher, der selbst neue Entdeckungen zu machen Gelegenheit hatte, kann freilich das kompetenteste Zeugnis ablegen, welcher Anteil dabei der forschenden Tätigkeit seines Gehirns, welcher der plötzlichen u n d schaffenden Intuition seines Geistes zukommt. Das Gleiche gilt natürlich auch f ü r die Inspirationen des Künstlers und des Dichters, f ü r die Voraussicht des Staatsmannes und die Weissagungen des Propheten. Es ist nicht immer leicht, die Grenzen zwischen den gewöhnlichen Leistungen des Geistes, welche die Frucht langen Nachdenkens, mit Benutzung der in den G a n g lienzellen der Naturforscher angehäuften Erfahrungen von fremden u n d eigenen Beobachtungen und Experimenten sind, und denen zu erkennen, die auf spontaner Intuition beruhen. Intuitionen treten fast immer plötzlich und unerwartet, und manchmal gerade in Momenten a u f , wo der Forscher an die Möglichkeit, die monatelang gesuchte Lösung des seinen Geist beherrschenden P r o b l e m s zu finden, zu verzweifeln beginnt. Sie blitzen in seinem Geist auf, meistens unter besonders günstigen äußeren Umständen, bei einem Spaziergang in den Schweizer Bergen ( H e l m h o l t z ) , am Ufer eines w u n d e r b a r beleuchteten Sees oder bei einer nächtlichen Fahrt auf dem Meere bei Vollmondschein, also unter Umständen, w o d i e A u f m e r k s a m k e i t des F o r s c h e r s von dem sonst ihn bes c h ä f t i g e n d e n P r o b l e m a b g e l e n k t i s t u n d s i c h in d i e Naturschönheiten versenkt. Die fruchtbarsten Entdeckungen in den experimentellen Naturwissenschaften haben ihren letzten U r s p r u n g oft in erneuter Beobachtung oder in der W a h r n e h m u n g auffallender tatsächlicher Erscheinungen, die einem zur Intuition angelegten Geiste sofort als
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
165
bedeutungsvoll erscheinen. Solche Entdeckungen werden daher meistens in Laboratorien gemacht. Als leuchtendes Beispiel kann die Entdeckung der Spektralanalyse durch K i r c h h o f f und B u n s e n gelten. Im Jahre 1857 erhielten sie das erste von F r a u e n h o f e r selbst geschliffene Flintprisma und untersuchten die Beziehung des gelben Streifens zur D - L i n i e des Spektrums. W ä h r e n d sie im Sonnenspektrum die D-Linie betrachteten, führten sie eine kochsalzhaltige Flamme ins Gesichtsfeld ein; die schwarze D-Linie, so erwarteten sie, würde dabei h e l l werden. Beim trüben Wolkenlichte war dies auch der Fall, aber beim hellen Sonnenschein wurde sie noch b r e i t e r und s c h w ä r z e r . „ D a s scheint mir eine fundamentale Geschichte", rief K i r c h h o f f aus und verließ das Zimmer. Am nächsten Tage war auch die Ursache g e f u n d e n , und bald darauf die Beziehungen zwischen Absorptions- und Emissionsvermögen erkannt: der Satz von der U m k e h r u n g der Spektrallinien war gefunden. Die w u n d e r b a r e n Anwendungen dieses Satzes auf die Physik, Chemie, Physiologie und Astronomie, wo der Nachweis des Vorkommens irdischer Stoffe in der Sonne die Gleichartigkeit der Materie in der, unseren Sinnen zugänglichen Welt dargetan hat, — das alles ging also aus der genialen Intuition K i r c h h o f f s bei der W a h r n e h m u n g der breiten und schwarzen D - L i n i e im hellen Sonnenlicht hervor. Die Entdeckung des Planeten Neptun durch L e V e r r i e r , eine ebenso gewaltige geistige Leistung wie die vorangehende, wurde auf ganz entgegengesetztem W e g e gemacht. Die von B o u v a r d entdeckten Abweichungen zwischen den in den astronomischen Tabellen ausgerechneten Bewegungen des von H e r s c h e l entdeckten Planeten U r a n u s und seinen tatsächlich beobachteten Bewegungen schienen im Widerspruche zum N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetz zu stehen. Auf Anraten A r a g o s versuchte L e V e r r i e r festzustellen, ob die Abweichungen in den Uranusbewegungen nicht vom Saturn und Jupiter hervorgerufen würden. Er vermutete daher in der Nähe des U r a n u s die Existenz eines noch unbekannten Planeten, u n d am 18. September 1846 teilte er als definitives Resultat seiner mathematischen Berechnungen der Pariser Akademie die Existenz dieses neuen Planeten mit und bezeichnete dabei genau dessen Stellung am Sternenhimmel; ja er sagte die Stelle voraus, wo er am 1. Januar 1847 gesehen werden könnte. Auf G r u n d dieser genauen Angaben fanden bald darauf H a l l und D ' A b r e s t im Berliner Observatorium den Neptun genau an der von Le V e r r i e r bezeichneten Stelle mit
166 dem F e r n r o h r auf. „ L e V e r r i e r hat den neuen Planeten entdeckt, ohne einen Blick auf den Himmel zu w e r f e n , " erklärte A r a g o in der Sitzung vom 5. Oktober 1846. „ E r h a t i h n a n d e r S p i t z e s e i n e r F e d e r g e s e h e n . Allein durch seine Berechnungen hat er die G r ö ß e und die Lage eines Körpers bestimmt, der sich außerhalb der bis jetzt bekannten Grenzen unseres Planetensystems und in einer Entfernung von mehr als 1200 Millionen Meilen befindet, der auch in dem feinsten Teleskop n u r als kaum sichtbare Scheibe erscheint." Diese glänzende Entdeckung L e V e r r i e r s hat den exakten Beweis des N e w t o n s c h e n Gravitationsgesetzes geliefert, einen Beweis, der erkenntnistheoretisch dem Werte eines wirklichen Experiments an den Himmelskörpern gleichkommt. Zehn Jahre später haben K i r c h h o f f und B u n s e n Sonne u n d Fixsterne in das Gebiet der experimentellen Naturforschung hereingezogen. Auf die Frage, wie er auf das Weltgesetz der Anziehung gek o m m e n , antwortete N e w t o n bekanntlich: „Indem ich ununterbrochen daran dachte". In der Tat bildet die Konzentration der Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem und das lange Nachdenken über seine mögliche Lösung die wesentlichste V o r b e d i n g u n g geistiger Intuitionen. „Intuitionen werden nur dem zuteil, dessen Geist darauf vorbereitet ist, sie zu e m p f a n g e n , " erklärte P a s t e u r . D e n ersten Anstoß zu N e w t o n s Nachdenken über das Wesen der Anziehungskraft soll aber, der Überlieferung nach, doch auf einer Intuition beruhen. W ä h r e n d N e w t o n bei seinem Aufenthalt auf dem Lande in Whoolstorpe sich im Parke ausruhte, fiel von einem Baum ein Apfel zu seinen Füßen. Seine Aufmerksamkeit wurde sofort auf die Tatsache gelenkt, daß naheliegende Körper zum Erdmittelpunkt angezogen wurden, wogegen der entfernte Mond, der am Himmel stand, vom Falle verschont blieb. Soweit die Überlieferung, wie sie zuerst von seinem Bewunderer V o l t a i r e , nach der Erzählung einer Nichte N e w t o n s , als wahrheitsgetreu veröffentlicht worden ist. Viel wahrscheinlicher ist es, daß N e w t o n s Geist schon vor diesem Fall lange mit dem Problem der Gravitation beschäftigt war; der Gegensatz zwischen der W i r k u n g der Anziehung auf den Apfel und auf den Mond hat ihm n u r intuitiv den W e g zur Lösung des Problems gewiesen. Die Spontanität und das Unerwartete ihres Entstehens sind die Hauptmomente, welche den geistigen U r s p r u n g der Intuition bezeugen. Naturforscher, Psychologen und Mathematiker stimmen
P s y c h o l o g i s c h e D i f f e r e n z i e r u n g d e r psycliisclien F u n k t i o n e n
1 67
über diese Spontanität der Intuitionen überein, wie auch darüber, daß gewisse Intuitionen plötzlich b e i m E r w a c h e n a u s t i e f e m S c h l a f entstehen, bzw. erst dann zum Bewußtsein gelangen. Auf die Herkunft und den Mechanismus solcher Intuitionen komme ich ausführlich im nächsten Paragraphen zurück. Es wird dort gezeigt, daß der Wert d i e s e r Intuitionen häufig sehr überschätzt wird. Wirklich intuitive Gedanken stehen meistens im Gegensatz zu den herrschenden Ansichten und Lehren und werden im Beginn als u n w a h r s c h e i n l i c h betrachtet. W e n n sie nicht gerade zur unmittelbaren praktischen A n w e n d u n g f ü h r e n , so stoßen sie gewöhnlich auf großen Widerstand. Es gehören oft viele Jahre schwerer Kämpfe dazu, um sie zur allgemeinen G e l t u n g zu bringen. Ihr Gegensatz zu den herrschenden Ideen ist oft so g r o ß , daß es selbst ihrem Entdecker einige Mühe kostet, sie in seinen gewohnten Ideengang einzuflechten. W i r k l i c h i n s p i r i e r t e G e d a n k e n s i n d dank diesem U r s p r ü n g e meistens auch ganz richtige Gedanken. Man kann sogar behaupten, daß ihre Unwahrscheinlichkeit oder ihr Widerspruch zu den herrschenden Ansichten als ein günstiges Zeichen f ü r ihre Richtigkeit gelten kann. 1 »Bei vielen meiner wissenschaftlichen F o r s c h u n g e n " , so schrieb ich in der Vorrede zum (/ Ohrlabyrinth", gelangte ich zu Lösungen, die anfänglich immer den Eindruck der U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t machten, und zwar nur, weil sie mit den augenblicklich herrschenden Ansichten und Lehren im W i d e r s p r u c h e standen. Später staunte man im Gegenteil darüber, daß die Richtigkeit augenscheinlicher, einfacher und auf der Hand liegender Lösungen jemals als unwahrscheinlich erscheinen konnte." Als ich im Jahre 1865 die Untersuchung über den Einfluß der hinteren Rückenmarkswurzeln auf die Erregbarkeit der vorderen unternahm, schien die Existenz des B r o n d g e e s t s c h e n T o n u s definitiv widerlegt, besonders seitdem die völlige Unzulänglichkeit der B r o n d g e e s t s c h e n Methoden physiologisch nachgewiesen war. 2 Auf 1
Dieses Kriterium
deckungen. und
gilt
aber
nicht
allein
für wissenschaftliche
Ent-
„ D i e P l ä n e e i n e s S t a a t s i n a n n e s wie d i e I n t u i t i o n e n d e s K ü n s t l e r s
die Entdeckungen
fruchtbar, wenn
der Gelehrten
sie — w e n i g s t e n s zu
sind
nur
dann
A n f a n g — auf
wirklich g r o ß
und
die Feindschaft
der
M e n g e stoi3en", s c h r i e b ich s c h o n im J a h r e 1895 in d e r V o r r e d e zu
meiner
„ G e s c h i c h t e d e s r u s s i s c h - f r a n z ö s i s c h e n B ü n d n i s s e s " (Paris, Eichler). '- E d u a r d P F l ü g e r , t o r i u m zu B o n n .
1865.
Untersuchungen aus dem physiologischen Labora-
168
leib, Seele lind Geist
G r u n d klinischer Erfahrungen an der Tabes dorsalis hidlt ich trotzdem an der Ü b e r z e u g u n g fest, die Integrität der hinteren Wurzeln des Rückenmarks müsse auf die Funktionen der motorischen Wurzeln von großem Einflüsse sein; und ich beschloß, eine neue experimentelle P r ü f u n g der Frage zu unternehmen. Von den Ergebnissen dieser P r ü f u n g und deren großer Bedeutung f ü r die Gehirnfunktionen ist oben im § 2 die Rede gewesen. Ein ausgeschnittenes Froschherz tagelang funktionsfähig zu erhalten, indem es selbsttätig .einen künstlichen Kreislauf von Kaninchenserum zu seiner Speisung herstellt und dabei noch mittels eines Quecksilbermanometers seine Schläge auf einer rotierenden Trommel aufzeichnet, schien ein D i n g der Unmöglichkeit. Wenige Monate, nachdem ich unter L u d w i g s Leitung Versuche nach dieser Richtung hin u n t e r n o m m e n , im Herbst 1865, war das Unmögliche zur W a h r heit geworden und die Methode zur Wiederherstellung der Lebensfunktionen eines vom übrigen Körper isolierten O r g a n s war geschaffen. Die fruchtbare A n w e n d u n g dieser Methode in den verschiedensten Zweigen der experimentellen Physiologie ist bekannt. Dreiunddreißig Jahre später (1898) gelang es mir mit Hilfe der gleichen Methode, die abgestorbenen Hirnzentren der Herz- und Gefäßnerven, sowie die der A t m u n g und des Augenlidreflexes wiederherzustellen. 1 Als im Jahre 1864 die Aufsehen erregenden Untersuchungen von L u d w i g und T h i r y erschienen, welche die Irrtümer in den Methoden und Schlußfolgerungen B e z o l d s aufdeckten, galt die Frage nach der Innervation des Herzens vom Rückenmark aus auf lange Jahre als im negativen Sinne erledigt. Im Jahre 1866 unternahm ich neue Untersuchungen über die Nerven des Herzens, und ich entdeckte, dank glücklicher Intuitionen und mit Hilfe geeigneter Methoden, die sensiblen Herznerven (N. depressores) und die motorischen Herznerven (N. acceleratores), die letzteren in Gemeinschaft mit meinem Bruder, noch ehe das Jahr verflossen war. 3 des
Die Geschichte der Entdeckung des Bogengangsystems als Organ Raumsinnes (1873), der physiologischen Verrichtungen der
' Siehe „ D i e Nerven des H e r z e n s " Kap. V, § 9. Über die physiologische Bedeutung dieser Entdeckungen siehe den Bericht von C l a u d e B e r n a r d an die Pariser A k a d e m i e der Wissenschaften (1867), die mir einstimmig den Preis f ü r experimentelle Physiologie (Prix M o n t h y o n ) verlieh. 2
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen Schilddrüse, habe
der
Hypophyse
ich an a n d e r e r
Stelle
und
der
Zirbeldrüse
berichtet.
Diese
169
(1897—1902)
Entdeckungen
waren
teils d i e F o l g e v o n geistigen Intuitionen, bei gleichzeitiger A n w e s e n heit s c h e i n b a r h e t e r o g e n e r Inhalte in m e i n e m B e w u ß t s e i n , teils von mehr
oder
minder
plötzlichen
zwischen W a h r n e h m u n g e n
und
spontanen
Ideenassoziationen
o d e r V o r s t e l l u n g e n , die in m e i n e n G a n g -
lienzellen a n g e h ä u f t w a r e n u n d die sich im G e h i r n auf
dem
Wege
der anatomischen Fibrillenverbindungen gewisser Ganglienzellen knüpften.
Diese
letzteren
Assoziationen
können
ohne
d e s Geistes u n d u n s e r e s a l l g e m e i n e n B e w u ß t s e i n s z u s t a n d e Diese
rein
zerebralen
Assoziationen
sollte
man
ver-
Teilnahme kommen.
als
seelische
Assoziationen b e z e i c h n e n ; sie entstehen u n a b h ä n g i g v o m W i l l e n Ichbewußtsein
und
werden
w u ß t s e i n zugeleitet. wußtsein
in
unser
dem
im
allgemeinen
Be-
D i e rein geistigen Inspirationen h i n g e g e n
sind
v o n A n f a n g an b e w u ß t ;
erst nachträglich
sie g e l a n g e n a u s u n s e r e m a l l g e m e i n e n
Ichbewußtsein.
Es w ä r e
n ü t z l i c h , die
Be-
Bezeich-
n u n g it I n t u i t i o n e n " f ü r die rein geistigen I n s p i r a t i o n e n u n d A h n u n g e n beizubehalten im
u n d d i e seelischen I n t u i t i o n e n ,
Gangliensystem
zeichnen.
beruhen,
die auf
als G e f ü h l e o d e r
In diesem S i n n e g e b r a u c h t e auch C l a u d e
W o r t G e f ü h l in seiner d e n k w ü r d i g e n » E i n f ü h r u n g " . brale
Assoziationen
V o r g e f ü h l e zu
Ursprung
gewisser
Intuitionen,
die
auf
der
Bernard
D e r rein zereAssoziation
m i t t e l b a r e r V o r s t e l l u n g e n mit G e d ä c h t n i s b i l d e r n b e r u h e n , Claude
Bernard
nicht,
Zweige der Physiologie
Entdeckungen
zu
befruchtet haben.
bedas
machen,
die
mehrere
In solchen Fällen
d a s so v e r s t a n d e n e G e f ü h l z u m A n s t o ß d e s D e n k e n s ;
un-
verhinderte dient
es leitet
die
U n t e r s u c h u n g e n a u f s beste u n d erschließt e r f o l g r e i c h e W e g e zu rein geistigen
Leistungen.
Ein Beispiel folgende. Baumann
Als
e i n e r Intuition
ich
erfuhr,
von
der
blitzte in
durch
e i n f a c h e Assoziation ist d a s
Entdeckung meinem
des Jodothyrins
Gedächtnis
eine
durch
Assoziation
zwischen d e n v o r vielen J a h r z e h n t e n g e m a c h t e n E r f a h r u n g e n bei d e r B a s e d o w s c h e n Krankheit, d e r H e i l w i r k u n g d e s J o d s u n d Funktionen der Herznerven physiologischen W i r k u n g
auf, und
d e s J o d o t h y r i n s auf die
in d e r e n E r f o r s c h u n g d e r Schlüssel
bestimmten
ich a h n t e s o f o r t , d a ß in d e r f ü r das
Herznerven
Problem
der
und
Verrich-
r i c h t u n g e n d e r S c h i l d d r ü s e lag. D i e Intuition, d i e z u r E n t d e c k u n g d e r H y p o p h y s e f ü h r t e , w a r h i n g e g e n eine rein geistige.
Die U n w a h r s c h e i n l i c h k e i t ,
d a ß ein so
170
Leih, Seele u n d
Geist
winziges O r g a n , das von vielen Physiologen und Anatomen als ein funktionsloser Überrest embryonaler Entartung betrachtet wurde, eine so wichtige Lebensfunktion ausüben soll, gab mir einen neuen Antrieb, die Sache experimentell zu untersuchen. Der gleiche Ideengang führte mich auch zur Entdeckung der Funktionen der Zirbeldrüse. Unlängst hat S i r W i l l i a m R a m s a y in einem Vortrag „ Ü b e r die V o r z ü g e d e r U n t e r s u c h u n g v o n Unwahrscheinlichk e i t e n " , gehalten in der Society of Chemical Industry, den gleichen Oedanken mit vielen Belegen aus seinen eigenen wissenschaftlichen Erfahrungen demonstriert. „Es war durchaus unwahrscheinlich, daß die Luft fünf Elemente enthält, die bisher übersehen wurden. Der Gipfel der Unglaublichkeit war, daß ein G a s , das aus Radium verdrungen, frei wird, sich spontan teilweise in Helium umsetzt." Auch die E r f i n d u n g neuer F o r s c h u n g s m e t h o d e n , die in der Physiologie von entscheidender Bedeutung sind, ist eine rein geistige Leistung und beruht häufig auf einer Intuition, der langes Nachdenken vorangehen muß. Die einmal geschaffenen Methoden, die ihren U r s p r u n g der Intuition eines hervorragenden Forschers verdanken, können manchmal bei gewissenhafter V e r w e n d u n g , auch durch minderwertige Gelehrte, der Wissenschaft wesentliche Dienste leisten. Dieser Umstand führt häufig zur A n n a h m e , daß weder Intuition noch besondere geistige Fähigkeiten dazu erforderlich seien, um produktiv zu arbeiten. W i l h e l m O s t w a l d hat unlängst in einem Aufsatz über die Technik des Erfindens sich dahin ausgesprochen, daß „ d e r V o r z u g (im Erfinden) e i n i g e r u n a b h ä n g i g e r G e i s t e r s i c h als auf S c h ü l e r u n d N a c h f o l g e r ü b e r t r a g b a r e r w e i s t " . . . . Dies ist bei E r f i n d u n g e n schon möglich, aber auch nur dann, wenn man das Glück hat, mit den von einem Meister geschaffenen Methoden und unter seiner Leitung zu arbeiten. U m wahre E n t d e c k u n g e n auf dem Gebiete der Naturwissenschaften zu machen, besonders solche, die neue Bahnen der Forschung eröffnen, dazu reicht die bloße Möglichkeit, fremde Methoden geschickt zu verwenden, keinesfalls aus. Besondere geistige Anlagen sind dazu nötig. Die Geschichte der Naturwissenschaften ist reich an Beispielen dafür. Auch viele andere Betrachtungen über die Psychologie der Entdeckungen, insbesondere über die Differenzierung der geistigen Funktionen und der geistigen Leistungen, wären von großem Interesse. „ Beim Studium der Verrichtungen des menschlichen Geistes",
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
171
schrieb ich vor einigen Jah ren. » pflegen die modernen Psychologen fast ausnahmslos q u a n t i t a t i v e Messungen als die wichtigste und ersprießlichste Untersuchungsmethode zu betrachten. Die physiologische Psychologie hielt diese Methode sogar f ü r die allein zulässige, weil sie einer präzisen Wissenschaft am meisten zu entsprechen schien. Dies war ein völliger Irrtum: die q u a l i t a t i v e n Unterschiede der Leistungen des menschlichen Geistes sind nicht nur von höherer erkenntnistheoretischer Tragweite, sie sind auch in methodologischer Beziehung der streng wissenschaftlichen Analyse viel zugänglicher. Ein Psychologe, der es sich zur Aufgabe stellen w ü r d e , die Irrtümer des menschlichen Geistes auch nur auf einem Gebiete, wie z. B. in der Geschichte der exakten Naturwissenschaften, von diesem Standpunkt aus zu studieren, wird uns sicherlich der Erkenntnis des menschlichen Verstandes viel näher bringen, als dies sämtliche physio-psychologischen Messungsversuche bis jetzt zu tun vermocht haben." Ich habe damals ein Ergebnis dieser Studien folgendermaßen formuliert: »Die menschlichen Geister müssen in zwei ungleiche Kategorien eingeteilt werden: Geister, die fast immer die Wahrheit unmittelbar erkennen, und solche, die stets dem Irrtum verfallen." Erkenntnis und Irrtum erklärte ich als qualitative Eigentümlichkeiten verschiedener Geister, nicht als Funktionen desselben Geistes, und als ganz unabhängig von der mehr oder minder sorgfältigen und fleißigen Arbeit. „Auch die größte Gelehrsamkeit, die sorgfältigste und allseitigste P r ü f u n g einer Frage wird einen zum Irrtum angelegten Geist nicht zur wahren Erkenntnis führen, wie dies M a c h in seinem Werke ,Erkenntnis und I r r t u m ' behauptet hat." Mach selbst bietet übrigens das eklatanteste Beispiel eines fleißigen, vielseitigen und kenntnisreichen Gelehrten, der zur Kategorie der immer verkehrt Denkenden gehört. Fast jede Seite dieses Werkes legt 2 davon Zeugnis ab. Die Zahl der richtig denkenden Forscher ist aber auf allen Gebieten nur sehr gering. Die erste Bedingung f ü r richtiges Denken ist die Fähigkeit, die sinnlichen Empfindungen richtig wahrzunehmen.
1 E. v. C y o n , „Myogenc Irrungen. Ein S c h l u ß w o r t . " P f l i i g e t s Archiv, Bd. 113, S. 111 (1906). 4 In Kap. II, §§ 2, 3 und 7 sowie im A n h a n g zu Kap. VI des „ O h r labyrinths" werden d a f ü r zahlreiche Beispiele beigebracht.
172
Leih, Seele und Oeist
Sodann handelt es sich d a r u m , das W a h r g e n o m m e n e richtig vorzustellen, was meistens von einer richtigen A n o r d n u n g und G r u p p i e r u n g der im Gedächtnis angehäuften Vorstellungsbilder abhängig ist. An den Tast- und besonders Gesichtsempfindungen verschiedener Individuen, die gleichzeitig dieselben Eindrücke erhalten, läßt es sich am leichtesten erkennen, wie gering die Zahl derer ist, die richtig s e h e n oder f ü h l e n . Bei der Verwertung der Beobachtungen f ü r das richtige Erkennen wird diese Zahl noch bedeutend verringert, und dies auch, wenn das Erkennen von Leuten gleichen Wissens erstrebt wird. Die Fähigkeit, richtig zu denken, äußert sich bereits bei der Bildung der Begriffe. Die schöpferische Intuition greift erst in dem Augenblick ein, wo der Forscher versucht, das Wesen der Erscheinungen, welche die ersten sinnlichen W a h r n e h m u n g e n und deren Bewußtwerdung herbeigeführt haben, mit Hilfe fertiger Vorstellungen oder Begriffe zu deuten und zu beurteilen. Aber auch ohne Intuition können richtig denkende Forscher durch lange und gewissenhafte Arbeit Fruchtbares in der Naturforschung leisten. Bahnbrechend sind ihre Leistungen aber nie, und unsere Kenntnis der Wahrheit wird dadurch nicht befruchtet. Die Intuition der Wahrheit wird, wie gesagt, nur den richtig denkenken Forschern zuteil, weil nur diese die Fähigkeit besitzen, sie auch allseitig richtig zu verwerten. Für eine solche s c h ö p f e r i s c h e Intuition genügt aber weder das richtige Denken, noch eine ausgedehnte Gelehrsamkeit. Es gehört noch ein drittes, rein ethisches Element dazu: „Die Wahrheit o f f e n b a r t sich n u r d e m , der sie leidenschaftlich, ihrer selbst wegen und ohne jede Nebenabsichten sucht", schrieb ich in der Vorrede zu den „Nerven des Herzens". Selbstverständlich gehören viele Jahre anhaltender Arbeit dazu, um auch bei den günstigsten geistigen Anlagen Beweise d a f ü r zu liefern, d a ß die intuitiven Ideen u n d Lösungen schwieriger Probleme auch die Wahrheit darstellen. Als sicherster Beweis nach dieser Richtung gilt ihre Fruchtbarkeit f ü r fernere Forschungen: „Das Beweisen, nicht das einfache Finden hat die Schöpfer der modernen Naturforschung groß gemacht und ihre Namen mit unvertilgbarer Schrift in den Tempel des Ruhmes eingegraben", sagt K. E. v o n B a e r am Schluß seiner Darlegung über die langen Kämpfe und schweren P r ü f u n g e n , die einem K o p e r n i k u s , K e p l e r , G a l i l e i u. v. a. beschieden waren, bevor ihre großen Entdeckungen allgemeine Anerkennung fanden.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
173
Die Kategorie der immer verkehrt sehenden, urteilenden und denkenden Gelehrten ist selbstredend zu produktiver wissenschaftlicher F o r s c h u n g unfähig. Diese Gelehrten können, mit oder ohne f r e m d e Leitung, wohl einige schlecht angelegte u n d meistenteils mäßig ausgeführte Untersuchungen machen, ja durch Zufall sogar ein neues Resultat gewinnen. Aber sie werden stets unfähig sein, dessen wahre Tragweite zu erkennen u n d gültige allgemeine Schlüsse daraus zu ziehen. In jeder dieser Kategorien gibt es natürlich viele Zwischenstufen. Dagegen kommen Ü b e r g ä n g e von der zweiten zur ersten n u r äußerst selten vor. In der ersten Kategorie müßte man außer den intuitiven Geistern noch zwei Unterabteilungen machen: einerseits die reinen I n t e l l e k t u e l l e n , bei denen das Gemütsleben a u f i h r e G e i s t e s o p e r a t i o n e n keinerlei Einfluß hat und allein der Verstand alle Untersuchungen leitet; u n d zweitens die,- denen geistige Tätigkeit durch W ü n s c h e , Interessen u n d Leidenschaften zwar angeregt, letzten Endes aber doch vom Verstände beherrscht wird. Eine dritte Kategorie von Menschen, die in der Gelehrtenwelt viel seltner sind, sonst aber die überwiegende Mehrzahl bilden, sei hier schließlich noch besücksichtigt. Ich meine diejenigen, d i e d a s D e n k e n im w a h r e n S i n n e d e s W o r t e s ü b e r h a u p t nicht kennen. Bei dieser dritten Kategorie wäre die A n n a h m e zulässig, daß sie n u r seelische Funktionen, die vom Gehirn ausgeübt werden, aber keinen leistungsfähigen Geist besitzt. Ihre minderwertigen psychischen Prozesse könnten auf dem Funktionieren rein automatischer Hirnmechanismen beruhen, also n u r in einer q u a n t i t a t i v u n d q u a l i t a t i v vollkommeneren Weise, als dies bei den höheren Wirbeltieren der Fall ist. Setzt man diese Einteilung als richtig voraus, so entsteht die Frage, inwieweit der Geist f ü r die Anlage zum Irrtum bei der zweiten Kathegorie verantwortlich ist. Gewichtige G r ü n d e sprechen d a f ü r , daß die Anlage zum Irrtum bei solchen Individuen nicht ihrem Geiste, sondern ihren Ganglienzellen zuzuschreiben sind, die an sich minderwertig und mit nutzlosen, unproduktiven oder schlecht angeordneten Inhalten erfüllt sind. Die streng wissenschaftliche D u r c h f ü h r u n g der hier entwickelten Auffassung und Einteilung würde schon jetzt, auf G r u n d der vorhandenen Erfahrungen, gestatten, die Unterschiede zwischen den seelischen Hirnfunktionen und den geistigen Leistungen in anschau-
174
Leib, Seele und Geist
licher Weise
zu
den seelischen rung
von
demonstrieren.
Funktionen
weittragender
Geisteskrankheiten sondern
Bedeutung
im
nur Seelen-
Bezeichnung
Die Ausschaltung des Geistes
würde uns schon
aufzwingen:
eigentlichen
oder
Verhältnissen
würde
Studium
heiten
der
anwenden
Symptomatologie wollte,
müßte
der
sich
Die
deutsche
viel
genauer
ohne Rückhalt für
sogenannten
zuerst
Geisteskrank-
bestreben,
in
systema-
t i s c h e r W e i s e zu p r ü f e n ,
ob
störungen,
oder sonstige pathologische Veränderungen,
Erweichungen
Erkrankungen
keine
Wortes,
Ein erfahrener Psych-
iater, d e r die h i e r v o r g e s c h l a g e n e D i f f e r e n z i e r u n g das
gibt
dieses
schon
entsprechen.1
aus
Schlußfolge-
Es
Sinne
Gehirnkrankheiten.
„Gemütskrankheiten"
d e n tatsächlichen
jetzt e i n e
der Hirnteile,
welche deren seelische Funktionen aufheben z i e r e n , an sich s c h o n Störungen
§
10.
genügen, um
A u f k l ä r u n g zu
und Zirbeldrüse. Die
Frage
nach
das Interesse v o n erregt.
zwischen
Beziehungen
und
sie,
dank
den
etwaigen
und Naturforschern
in h o h e m
und
Seele
Nur
im
zwei
u n d von L e i b n i z , dem
hohen
Menschen,"
vorgeschlagene sollen
wissenschaftlichen
sollen
nämlich
nach
Denken
dieser
Descartes
sich
nur
schien
dazu g e e i g n e t , e i n e d e r a r t i g e R o l l e zu spielen.
1
Die
russische Sprache
in
der Zirbeldrüse des Gehirns.
Zirbeldrüse
kennt
die
Philo-
waren.
suchte also eine anatomische G r u n d l a g e für dieses der
Recht
Lösungen,
cartes
Bau
in
Verbin-
mit
hier kurz erwähnt werden,
S i n n e nicht u n f r u c h t b a r
Körper
sagt
berühren,
anatomische
Grade
nachgedacht,
Punkte Der
Verbin-
l e i d e n s c h a f t l i c h e r g e s t r i t t e n , als ü b e r die Leib
s o p h e n , in g e w i s s e m Geist und
Hypophyse
Unbewußte.
L e i b , S e e l e u n d G e i s t hat seit J a h r h u n d e r t e n
Bois-Reymond.
von D e s c a r t e s weil
Leib, Seele und G e i s t ;
Der Schlaf und das
Philosophen
mehr geschrieben,
modifi-
intellektueller
„ Ü b e r wenige Gegenstände wurde anhaltender
dungen E. d u
den
zwischen
oder wesentlich
ü b e r die H e r k u n f t
Zer-
geben.
Die Beziehungen zwischen
dungsbahnen
wie
zwar
am
Intuitionen
einem Des-
Problem. wenigsten genialer
den Ausdruck G e i s t e s k r a n k h e i t
gar
nicht;'' geistige Störungen werden allgemein als seelische Krankheiten bezeichnet. Irrsinnige werden auch vom Volke als „vom Verstand Herabgestiegene" benannt.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
175
Leute enthalten aber fast immer ein Körnchen Wahrheit. Wir werden sogleich sehen, daß dieses winzige O r g a n , wie es sich aus meinen Untersuchungen von 1903 zu ergeben scheint, bei der Lösung der vorliegenden Frage eine wichtige Rolle spielt. L e i b n i z wollte es durch einen rein mechanischen Vergleich unserem Verständnis zugänglich machen: das Bild von zwei Uhren, die den gleichen G a n g h a b e n , sollte die Beziehungen zwischen Leib und Seele darstellen. Er zieht dabei drei Möglichkeiten in Erwägung, von denen nur die dritte den Erfinder der »prästabilierten H a r m o n i e " befriedigt hat. Der Künstler, der die beiden Uhren konstruiert hat, war so geschickt, sie, obschon ganz unabhängig voneinander, gleichgehend zu machen. Der m o d e r n e Naturforscher kann sich natürlich mit dieser allzu schlichten Erklärung nicht zufrieden geben. Von einem Parallelismus der geistigen Leistungen mit den Funktionen des G e h i r n s kann bei unserer Auffassung des Geistes weder im Sinne von L e i b n i z noch in dem von S p i n o z a die Rede sein. D i e Frage nach den Beziehungen zwischen Leib und Seele wird durch die Ausschaltung des Geistes aus den seelischen Funktionen völlig umgestaltet. Diese Funktionen können auch vom idealistischen Philosophen n u r als organische Verrichtungen der Hirnzellen betrachtet werden. Der kühne Ausspruch K a r l V o g t s , der um die Mitte des vorigen Jahrhunderts so viel Aufsehen und Streit hervorgerufen hat, „daß alle jene Fähigkeiten, die wir unter dem Namen Seelentätigkeiten begreifen, nur Funktionen des G e h i r n s sind, oder, um es einigermaßen g r o b auszudrücken, daß die G e danken etwa in demselben Verhältnisse zum Gehirn stehen wie die Galle zu der Leber oder der Urin zu den Nieren", beruht auf einer leidigen Verwechslung der Drüsen mit den Ganglien, welche letzteren durchaus nichts ausscheiden können. Immerhin kann man, sobald das reine D e n k e n nicht mehr zur S e e l e n t ä t i g k e i t gehört, sondern in dem oben entwickelten Sinne vom Geiste ausgeübt wird, gegen diesen Ausspruch V o g t s , trotz seiner Plumpheit, keine prinzipiellen Bedenken mehr erheben. Infolge der hier vorgeschlagenen Differenzierung reduzieren sich die Beziehungen zwischen Leib und Seele in W i r k l i c h k e i t a u f d i e B e z i e h u n g e n zwischen Organen von äußerst komplizierter Struktur und deren physiologischen Verrichtungen. Für diese Beziehungen aber hat die Physiologie seit fast hundert Jahren fortwährend so viele präzise Daten beigebracht, daß es heute nicht
176
Leib, Seele u n d Geist
mehr erlaubt ist, sie dem menschlichen Verstände als verschlossen hinzustellen. Die höhere Sinnesphysiologie ist seit der Mitte des letzten Jahrhunderts der am eingehendsten erforschte und am festesten begründete Zweig der Biologie. Sie hat in ihren Fortschritten noch niemals Halt gemacht. Dank ihren Forschungsmethoden, die den Methoden der^ Physik u n d Astronomie an Strenge gleichkommen, ja diese bisweilen übertreffen, sind unsre Kenntnisse von den wunderbar komplizierten Funktionen des O h r s und des Auges so reichhaltig, daß wir deren Erforschung endgültig in das Gebiet der exakten Wissenschaften einbegreifen können. Die Psychologen, die gegen diese Errungenschaften der Physiologie lediglich mit den Mitteln einer veralteten Dialektik vorgehen, lassen die Vergeblichkeit der Bemühungen ihrer Vorgänger dadurch n u r doppelt hervortreten. Räder, die man auf der Stelle dreht, und sei es noch so geschickt, bringen einen Handwagen nicht vorwärts, noch können sie gar die Geschwindigkeit einer Lokomotive überflügeln. Eine Psychologie, die nicht auf gründlicher Kenntnis der Sinnesphysiologie in ihrem jetzigen U m f a n g beruht, hat keinerlei Bedeutung m e h r ; im Gegenteil, sie stellt einen bedeutenden Rückschritt gegenüber der Psychologie des A r i s t o t e l e s d a r , welcher dank seinem intuitiven G e n i u s die G r u n d l a g e n einer wissenschaftlichen Psychologie auf dem Gebiete der inneren Anschauung schuf. G r ö ß e r e n Schwierigkeiten begegnet die experimentelle Physiologie da, wo es gilt, mit Hilfe präziser Methoden die Funktionen der Milliarden von Ganglienzellen zu erforschen, in die unsere Sinnesorgane m ü n d e n . In der Erforschung des G e h i r n s sind die Embryologie, die Anatomie u n d Histologie der experimentellen Physiologie bedeutend voraus; doch auch hier: wie viele methodologische Fortschritte, wie viele wertvolle und endgültige Entdeckungen von F l o u r e n s bis H e r m a n n M u n c k ! Die gegenwärtige Bedeutung dieser Forschritte läßt sich vielleicht nicht besser kennzeichnen, als durch ein Zitat aus einer der letzten Experimentalforschungen über die Sinnessphären der Hirnrinde. Der berühmte Physiologe H e r m a n n M u n c k , 1 dem wir dieses Zitat entlehnen, hat bei seinen, während dreißig Jahren ver1
„Über
die F u n k t i o n e n
Mitteilungen, n e u e Folge.
von
Hirn
und
Berlin 1909, S. 234.
Rückenmark".
Oesammelte
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
177
folgten Untersuchungen über die Funktionen der verschiedenen Hirnteile keinen Augenblick den Boden exakter Forschung verlassen. Die Feinheit u n d Präzision seiner Operationsmethoden und die scharfe, aber unparteiische Kritik, der er sowohl eigne als fremde Ergebnisse zu unterziehen pflegt, verleihen seinen klassischen Studien » Ü b e r die A u s d e h n u n g der Sinnessphären" einen ganz besonderen Wert. „Indem die Sinnesnervenfasern, die als Projektionsfasern zur Rinde in deren ganzer A u s d e h n u n g gehen, dort f ü r jeden Sinn nebeneinander ihr Ende finden, ohne daß Fasern eines anderen Sinnes sich untermischen, stellt sich die Rinde als ein Aggregat den verschiedenen Sinnen zugeordneter Abschnitte, der Sinnessphären, dar; u n d es kommen in den zentralen Elementen jeder Sinnessphäre, die unmittelbar oder fast unmittelbar mit den Projektionsfasern zus a m m e n h ä n g e n , die spezifischen E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen eines Sinnes zustande. Für die darüber hinausgehenden Funktionen der Rinde, gebunden an Assoziationsfasern u n d andere zentrale Elemente, die wiederum über die Rinde in deren ganzen A u s d e h n u n g verbreitet sind, eine jede Funktion natürlich an bestimmte morphologische Gebilde g e b u n d e n , hat bezüglich des Zustandekommens die Abgrenzung der Sinnessphären keine durchgreifende Bedeutung m e h r ; doch sind des weiteren wir noch im Dunkeln, da bisher der Versuch am Tiere versagt u n d die pathologische Beobachtung in den Aphasien, Alexien, Agraphien usw. nur sehr spärliche und nicht genügend durchsichtige Aufschlüsse geliefert hat." Wie man sieht, sind in der Lokalisierung der Sinnesfunktionen schon beträchtliche Fortschritte gemacht worden, welche die Bezirke der E m p f i n d u n g e n , W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen genau zu bestimmen gestatten; d. h. die Lokalisierung ist fast bis zu den äußersten Grenzen gelangt, wo Tierversuche noch präzise Resultate liefern können. Die allzu kühnen Streifzüge mehrerer Embryologen und besonders der Irrenärzte auf dem Gebiet der geistigen P r o zesse können auf endgültigen wissenschaftlichen Wert keinen Anspruch e r h e b e n , besonders nicht bei der Lokalisierung der sogenannteh Denkzentren. Man sieht, die Frage nach den Beziehungen zwischen Leib und Seele ist hinsichtlich der Lokalisierung und der allgemeinen Mechanismen genügend geklärt. Es bleibt also n u r die zweite Frage offen: die nach den Beziehungen zwischen Seele und Geist, oder E. v. C y o n , Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
12 •
] 78
Leib, Seele u n d Geist
mit anderen W o r t e n , z w i s c h e n d e n F u n k t i o n e n d e r H i r n z e n t r e n u n d d e m G e i s t e . Aber auch in dieser F o r m u l i e r u n g ist diese Frage f ü r unseren Verstand nicht völlig unlösbar. Die Beziehungen zwischen einer Funktion und deren Verwertung f ü r die Geistesoperationen lassen sich leichter untersuchen, als die unmittelbaren Beziehungen zwischen Leib und Geist. Es kommt vor allem auf die Feststellung a n , auf welchen Bahnen die Inhalte unserer Ganglienzellen zum Geiste gelangen, der sie zur Bildung von Begriffen, Ideen, Urteilen usw. benutzt. Aber auch in dieser Gestalt bietet eine direkte Beantwortung der Frage noch große Schwierigkeiten. Diese suchte ich zu umgehen, indem ich die Frage indirekt angriff. Anstatt die Bahnen zu bestimmen, welche den Verkehr zwischen Geist und Seele vermitteln, versuchte ich zu ergründen, wodurch dieser Verkehr unterbrochen wird und wiederhergestellt werden kann. Dieser Versuch führte mich zur Erweiterung meiner Studien über die Rolle der Hypophyse und der Zirbeldrüse bei dem uns beschäftigenden Problem. In der Einleitung habe ich bereits auf eine Mitteilung über die Funktionen dieser beiden Gefäßdrüsen hingedeutet, die ich im Jahre 1907 der Pariser Akademie der Wissenschaften machte. In dieser Mitteilung habe ich die wichtigsten Ergebnisse meiner zehnjährigen Untersuchungen über die Verrichtungen der Schilddrüse, der Hypophyse und der Zirbeldrüse zusammengefaßt. Diese Untersuchungen wurden seinerzeit fast sämtlich in » P f l ü g e r s Archiv f ü r die gesamte Physiologie" veröffentlicht. 1 Es genügt hier, auf diese Veröffentlichungen zu verweisen und ihre Ergebnisse in den Hauptzügen anzudeuten: 1. Die Hypophyse ist im Autoregulator des Blutdrucks in der Schädelhöhle. Sie wacht über die Sicherheit des G e h i r n s und über die Erhaltung der Leistungsfähigkeit seiner Lebens- u n d Seelenfunktionen. Sie erfüllt diese Aufgabe, indem sie auf mechanischem Wege, mit Hilfe eines Systems von Schleusen, von denen die Schilddrüsen die wichtigsten sind, das Gehirn vor gefährlichem Blutandrang bewahrt.
1 Band 70—101. — Mein Werk, das alle diese U n t e r s u c h u n g e n z u s a m m e n faßt, erschien unter dem Titel: „ D i e G e f ä ß d r ü s e n als regulatorische Schutzorgane des Zentralnervensystems", bei Julius Springer, Herlin 1910.
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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2. Der Drüsenteil der Hypophyse erzeugt zwei wirksame Substanzen, welche das Herz- und Gefäßnervensystem in guter Leistungsfähigkeit erhalten; die eine dieser Substanzen, das Hypophysin, vermag die Stärke der Herzschläge bedeutend zu e r h ö h e n ; sie ist außerdem ein mächtiges Gegengift gegen Atropin und Nikotin und wahrscheinlich gegen schädliche, im Körper selbst entstehende Zersetzungsprodukte. 3. Die Hypophyse erzeugt und unterhält die tonische Erregung der hemmenden Nerven. 4. Durch ihre wirksamen Substanzen, welche die Tätigkeit des Sympathicus u n d des Vagusnervensystems beherrschen, reguliert sie den Stoffwechsel der Gewebe und die Ausscheidungen wichtiger Drüsen. Sie vermag die Harn- u n d Geschlechtsorgane erregend zu beeinflussen. Durch die Regulierung des Stoffwechsels übt die Hypophyse eine mächtige W i r k u n g auf die Entwicklung und das Wachstum der Gewebe, besonders des Knochengewebes, aus. 5. Erkrankungen der Hypophyse und auch bloße Störungen ihrer Funktionen erzeugen gewisse Komplexe von organischen und psychischen Leiden, die meistens unheilbar sind und oft zum Tode führen. Die plötzliche Zerstörung der Hypophyse oder ihre völlige Entfernung erzeugt einen komatösen Zustand, B e w u ß t l o s i g k e i t u n d f ü h r t nach Verlauf weniger Tage den Tod herbei. 6. Die Zirbeldrüse wirkt hauptsächlich auf mechanischem Wege als Regulator des Zu- und Abflusses der Zerebrospinalflüssigkeit durch den A q u a e d u c t u s S y l v i i . Die Notwendigkeit, ein gewisses Gleichgewicht zwischen den Blutmengen und der Zerebrospinalflüssigkeit in der Schädelhöhle fortwährend zu unterhalten, bedingt selbstverständlich ein harmonisches Zusammenwirken in den Verrichtungen der Hypophyse und der Zirbeldrüse. Die in einer Kapsel mit starren W a n d u n g e n eingeschlossene Hypophyse, die durch die leisesten Druckschwankungen in E r r e g u n g versetzt wird, beherrscht wahrscheinlich die Funktionen der Zirbeldrüse. Ich schloß diese Mitteilung mit dem Hinweise, d i e H y p o p h y s e s e i v i e l l e i c h t d a z u b e f ä h i g t , in g e w i s s e m S i n n e d i e Rolle zu e r f ü l l e n , welche D e s c a r t e s der Z i r b e l d r ü s e zug e s c h r i e b e n hat. Es sei hier noch hervorgehoben, d a ß , wie das Ohrlabyrinth von den übrigen peripherischen Sinnesorganen die bestgeschützte 12*
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Leib, Seele und Geist
Lage im Schädel einnimmt, so auch die Hypophyse, in einer festen Kapsel auf dem Türkensattel der Schädelbasis eingeschlossen, von allen O e h i r n o r g a n e n am sichersten gegen äußere Eingriffe geschützt ist. Es sind also ganz außerordentliche morphologische Einrichtungen geschaffen, damit diese O r g a n e in möglichster Sicherheit und ungestört ihre wichtigen Funktionen ausüben können. Die H y p o p h y s e kann infolge ihrer vielseitigen Verr i c h t u n g e n f ü r die R e g e l u n g der E r n ä h r u n g , des Stoffwechsels, der B l u t u m l a u f s - und A u s s c h e i d u n g s o r g a n e gew i s s e r m a ß e n als ein V e r b i n d u n g s k n o t e n g e l t e n , wo s ä m t liche Lebensfäden zusammentreffen. In dem Sinne, den die alten Philosophen dem Worte L e b e n s s e e l e b e i z u l e g e n p f l e g t e n , k ö n n t e man die H y p o p h y s e als Sitz der L e b e n s s e e l e bezeichnen. Ihre p s y c h o l o g i s c h e Rolle ist nicht von minderer Bedeutung. Die Pathologen der letzten Jahrhunderte haben eine Fülle klinischer Beobachtungen gewonnen, die auf diese Rolle schon schließen ließen. Aber erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts ist diese in unwiderleglicher Weise klargelegt worden. Pathologische Veränderungen der Hypophyse, sehr häufig von entsprechenden Erkrankungen der Schilddrüse u n d der Zirbeldrüse begleitet, erzeugen fast immer ausgesprochene Störungen: anfangs geistige Depression und Trägheit, g r o ß e Neigung zum Schlaf; allmählich aber entwickeln sich Anfälle v o n p e r i o d i s c h eint r e t e n d e r B e w u ß t l o s i g k e i t , die endlich zum völligen Blödsinn führen können. »Das höhere Erkenntnisvermögen, welches sich in den Begriffen, Urteilen und Schlüssen ausspricht, ist bei Alterationen der Hypophyse selten getrübt, und nie im Beginne der Krankheit. . . In einer näheren Beziehung scheint die Hypophyse zu dem niederen Erkenntnisvermögen zu stehen. . . Das Gedächtnis erlahmt, Vorstellungen niederer Art, den körperlichen Zustand betreffend, aus diesen hervorgehend, auf diesen zurückwirkend, erdrücken allmählich den Kranken; die immer rege Phantasie, die nie an Raum, nie an Zeit sich bindet, ist gleichsam gefangen in der kranken irdischen Hülle, und erhebt sich nie mehr zum vorigen Schwünge. So entstehen die so häufigen Verstimmnngen des Gemütes, die man bei Abnormitäten des Hirnanhanges bemerkt, so wie diese auch häufig jenen ihren U r s p r u n g verdanken." Dieses allgemeine Bild der Erkrankungen der Hypophyse, die von der der Zir' drüse begleitet waren, ist einer sehr sorgfältigen
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen pathologischen anhang
und
Untersuchung den
D i s s e r t a t i o n in W i e n 1 beiden
der
Diese
leichtesten
sowie
der
Jahrhunderte neuere
welche durch
Hypophyse
suchungen
Hypophyse
mechanische.
haben,
nicht,
genau
den
Jahre
Hirn-
1839
berücksichtigt
Beobachtungen in
der
Wie
ist a b e r
wie
D a n k den
«Über im
erklären
Regulierung
die krankhaften
entstehen.
gezeigt
die
als
u n d g l e i c h z e i t i g die g e s a m t e Literatur
durch die S t ö r u n g e n
hirndruckes, der
einige
Engels,
entnommen,
erschien
vorhergehenden
alten
Joseph
Trichter",
181
die
meine die
der
sich des
hat. am Ge-
Veränderungen
experimentellen
autoregulatorische Zirbeldrüse,
UnterTätigkeit
nur
eine
rein
von ihr produzierten wirksamen Substanzen
v e r m a g sie allein o d e r im V e r e i n mit den A u s s c h e i d u n g e n d e r a n d e r e n Gefäßdrüsen Zustande auch
das
zu
gesamte
erhalten.
direkt
und
Zentralnervensystem
Diese
funktionell
und die Ausscheidungen chemischem
einzigen,
der
zu
in
leistungsfähigem
Produkte
den Stoffwechsel
beeinflussen,
und
in
zwar
scheinen
aber
den
Geweben
teils
auf
rein
Wege.
Die eben die
wirksamen
genannten
s e e l i s c h e n S t ö r u n g e n sind bei w e i t e m n i c h t
die
durch
die
Gefäßdrüsen,
dieser
wahren
Veränderungen Schutz-
in
den
und
des Z e n t r a l n e r v e n s y s t e m s , e r z e u g t w e r d e n .
Verrichtungen
Regulierungsorgane
F ü r den hier
verfolgten
Z w e c k w ä r e es a b e r ü b e r f l ü s s i g , auf weitere E i n z e l h e i t e n e i n z u g e h e n ; die
angeführten
stellten die
zwei
Aufhebung
dungen völlige dieser oder des
oder
und
teilweise
in
im
und
Ab-
in
den
der
und
und
Seele
Abbruch kann
der
die
permanent geschehen
Verbin-
auch
Der
Wiederaufnahme oder
bei
und
ge-
welche
der
in
größeren
Veränderungen zwar
od-er S e n k u n g e n als
oben
Mitteln,
ermöglichen.
oder
Schädelhöhle,
der
Aufstellung
Wiederherstellung
Hirngefäßen, und
zur
Wegen
Steigerungen
Zufluß
Hirnhüllen
die
Intervallen
plötzlicher
druckes
den
Geist
Verbindungen
Druckes
genügen
nach
zwischen
kleineren
folge
den
Tatsachen
Fragen
der
zerebrospinalen
sowohl des
inBlut-
Schwankungen Flüssigkeit
in
-höhlen.
1 Ich zitiere aus E n g e l s , unter R o k i t a n s k y s Leitung ausgeführter Arbeit, die eine größere Anzahl klinischer Beobachtungen mit Sektionsbefunden, sämtlich von hervorragendem Interesse, enthält. Merkwürdigerweise ist sie den modernen Forschern auf diesem Gebiete völlig entgangen.
182
Leib, Seele und Geist
Die momentane A u f h e b u n g der seelischen Funktionen schneidet natürlich dem Geiste die Möglichkeit ab, das in den Archiven der Ganglienzellen angehäufte Material f ü r die Denkvorgänge zu verwerten.. D a s I c h b e w u ß t s e i n , d a s , w i e o b e n g e z e i g t , a l s e i n e s e e l i s c h e F u n k t i o n zu b e t r a c h t e n ist, e r l i s c h t z u g l e i c h mit dem allgemeinen Bewußtsein, sobald diese V e r ä n d e r u n g e n d e s D r u c k s in d e r S c h ä d e l h ö h l e g e w i s s e o b e r e o d e r u n t e r e G r e n z e n e r r e i c h e n . U m einen krassen Vergleich zu gebrauchen: die Beziehungen zwischen Seele und Geist werden etwa so unterbrochen, wie bei eintretender Dunkelheit die Arbeit eines Gelehrten in einem Archiv. Die Frage, was mit dem geistigen Bewußtsein geschieht, wenn die Inhalte der Ganglienzellen unverwendbar sind, gehört in das Gebiet der Philosophie. Der Physiologe soll n u r noch einige experimentelle und pathologische Erfahrungen hinzusetzen, die f ü r die Entscheidung dieser Frage in Betracht kommen. Unter den Symptomen der Hypophysenkrankheiten wurden soeben die periodische Wiederkehr der Bewußtlosigkeit und die anhaltende Schläfrigkeit aufgezählt. Solche periodisch wiederkehrende Bewußtlosigkeit tritt normalerweise und in regelmäßigen Intervallen bei M e n s c h e n und auch bei T i e r e n in F o r m des Schlafes auf. In der Tat beruht der normale Schlaf, zum großen Teil wenigstens, auf bestimmten Schwankungen des Blutdruckes in der Schädelhöhle, die sich bei Menschen d u r c h Veränderungen des Volumens der Blutgefäße des G e h i r n s äußern. Da dieser Blutdruck aber von der Hypophyse reguliert wird, so drängt sich der Schluß auf, daß der Schlaf von den Funktionen der H y p o p h y s e und der Zirbeldrüse abhänge. Es sind in der letzten Zeit mehrere Spezialuntersuchungen veröffentlicht w o r d e n , die diese A n n a h m e scheinbar bestätigen. So gelangte A. S a l m o n zu der A n n a h m e , der physiologische Schlaf hänge von den Drüsenausscheidungen der Hypophyse ab. Andererseits hat A. G e m e l l i interessante Beobachtungen über die histologischen Veränderungen der Hypophyse bei Murmeltieren während des Winterschlafes veröffentlicht. So z. B. soll die Menge gewisser Hirnzellen, nämlich der zyanophilen, während des Schlafes vermindert werden. Sollte diese Tatsache sich bestätigen, so dürfte jedenfalls mit großer Wahrscheinlichkeit daraus geschlossen werden, daß die Tätigkeit der Drüse während des Winterschlafes beim Murmeltiere ebenso abnimmt, wie viele andere Funktionen. U m eine annähernd präzise Erklärung der Tätigkeit der H y p o -
Psychologische Differenzierung der psychischen Funktionen
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physe bei der Erzeugung der Bewußtlosigkeit während des Schlafes geben zu k ö n n e n , wird es aber vorteilhafter sein, vorläufig von etwaigen chemischen Einflüssen abzusehen. Solche Einflüsse erkennen wir bis jetzt nur an den Endresultaten. Die Zwischenstufen dieser Einflüsse können erst dann mit einiger Sicherheit aufgeklärt werden, wenn die chemische Zusammensetzung des Hypophysins genau bekannt ist. Inzwischen m u ß man sich auf die Analyse der schon aufgeklärten m e c h a n i s c h e n Wirkungen der Hypophyse beschränken. Eine Verminderung der Tätigkeit der Hypophyse während des Schlafes m u ß sich in einer Abnahme der Geschwindigkeit des Blutabflusses aus den Hirnvenen — also in einer gewissen Z u n a h m e der Blutmengen in der Schädelhöhle — äußern. Eine jede Blutstauung im Gehirn aber setzt, wenn sie eine gewisse H ö h e erreicht, die Tätigkeit sämtlicher Ganglienzellen mehr oder minder herab. Es wurde soeben angedeutet, daß zwischen den Blutmengen und denen der zerebrospinalen Flüssigkeit in der Schädelhöhle ein gewisses labiles Gleichgewicht bestehen muß. Die Zun a h m e der Blutmenge z. B. müßte daher schon a u s r e i n m e c h a n i s c h e n G r ü n d e n von einer A b n a h m e der Hirnflüssigkeit begleitet sein und umgekehrt. Diesen mechanischen Wirkungen könnte die Hypophyse n u r durch einen N e r v e n r e i z entgegenwirken, der den funktionellen Zustand der Zirbeldrüse verändert. Leider besitzen wir keinen unmittelbaren Anhaltspunkt f ü r ein derartiges Eingreifen, das trotzdem zur Erhaltung der Hirnfunktionen erforderlich ist. Handelt es sich um eine periodische funktionelle Veränderung des Blutdruckes durch die Hypophyse, so könnte die Tätigkeit der Zirbeldrüse n u r in einer Weise stattfinden, die dem physiologischen Zweck dieser Veränderung entspricht. Diese Tätigkeit wäre also völlig unabhängig von dem mechanischen Gleichgewicht der beiden Flüssigkeitsmengen in der Schädelhöhle. Durch sie könnte der Abfluß der zerebrospinalen Flüssigkeit durch den Aquaeductus Sylvii beschleunigt oder verlangsamt werden. Nun mehren sich in letzter Zeit die Anzeichen, daß die erhöhte S p a n n u n g in den Hirnhöhlen auf die Tätigkeit der Ganglienzellen, die am intellektuellen Leben am meisten beteiligt sind, einen direkt fördernden Einfluß ausübt. Es soll in dieser Richtung n u r auf die wichtigen Schlußfolgerungen hingewiesen werden, welche H a n s e m a n n aus der genauen Unters u c h u n g der Gehirne von H e l m h o l t z und M e n z e l hinsichtlich des großen Volumens ihrer Höhlen gezogen hat.
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Leib, Seele u n d Geist
Z w e i F a k t o r e n s i n d a l s o im S c h l a f e t ä t i g , u m d i e seelischen Funktionen der Gehirnganglien abzuschwächen u n d u m e v e n t u e l l S t ö r u n g e n in i h r e n V e r b i n d u n g s b a h n e n zu e r z e u g e n . Diese beiden M o m e n t e , E r h ö h u n g des D r u c k e s in d e n G e f ä ß e n u n d A b n a h m e d e r S p a n n u n g in d e n H ö h l e n , h ä n g e n direkt von der F u n k t i o n s w e i s e der H y p o p h y s e und d e r Z i r b e l d r ü s e a b . In welcher Weise äußern sich im Schlafe die Abnahme der Tätigkeit der Hirnzellen und das Auftreten von Störungen in ihren verbindenden Leitungsbahnen? Jeder denkende und an geistige Beschäftigung gewöhnte Mensch kann durch Selbstbeobachtung eine positive Antwort auf diese Frage g e b e n : Der Beginn des Schlafens äußert sich zuerst in einer Verwirrung der Bewußtseinsinhalte, in einer stufenweisen Abnahme des Ichbewußtseins und in einer Ideenflucht, die auch die größten Anstrengungen der Aufmerksamkeit nicht mehr zu verhindern vermögen. Die heterogensten W a h r n e h m u n g e n , Vorstellungen und Eindrücke werden in sinnloser Weise assoziiert. M a n e r h ä l t d e n E i n d r u c k , als wären plötzlich sämtliche Hemmungsvorrichtungen aus den Hirnapparaten entfernt, welche sonst diese Assoziationen beherrschen. Die Zeitdauer dieser Periode des Einschlafens ist sehr mannigfaltig und kann bis auf Bruchteile einer Sekunde herabgesetzt oder durch äußere oder innere Einflüsse auf mehrere Minuten ausgedehnt werden. Die konstanteste und auffälligste Erscheinung im Momente des Einschlafens ist die zunehmende Verwirrung in den G e d a n k e n , die in unser Bewußtsein gelangen, und in unseren Sinneseindrücken. N u r das völlige Erwachen kann dieser Anarchie ein Ende machen, sonst geht sie in einen tiefen Schlaf mit mehr oder minder völligem Verlust des Bewußtseins über. W a s während dieses Schlafes in dem Innern unserer Psyche vorgeht, d a r ü b e r können n u r mehr oder weniger wahrscheinliche Vermutungen angestellt werden. Aus den Äußerungen des Schlafenden, die der Beobachtung zugänglich sind, wie z. B. aus den reflektorischen Bewegungen, mit denen der Schlafende auf äußere Reize reagiert, lassen sich keine bestimmten Schlüsse ziehen. Die sogenannte unbewußte Tätigkeit der Seele oder des Geistes, von der manche Philosophen so ausführlich zu erzählen wissen, kommt f ü r den Physiologen wenig in Betracht, eben weil sie seinem eigenen Bewußtsein unzugänglich sind. Was uns von dem Geträumten
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sofort oder erst durch Gedächtnisbilder zum Bewußtsein gelangt, stammt eben nicht 'aus den Geschehnissen w ä h r e n d d e s t i e f e n S c h l a f e s , sondern während der Zustände des Halberwachens, das entweder dem völligen Erwachen vorangeht oder den tiefen Schlaf n u r zeitweise unterbricht. N u n lehrt die allgemeine Beobachtung, d a ß , wenn das E i n s c h l a f e n eine sinnlose Verwirrung von Ideen und Vorstellungen erzeugt, das E r w a c h e n im Gegenteil sich manchmal in einer Klärung der Gedanken und Vorstellungen äußert. Schaffende Gelehrte haben Gelegenheit, die Erfahrung zu machen, daß manchmal der erste klare G e d a n k e beim Aufwachen ihnen sofort die richtige Lösung von Fragen lieferte, die sie während monatelangen Suchens nicht haben finden können. Auch der gemeinen Erkenntnis der Völker ist diese Tatsache nicht unbekannt. »Der Morgen ist klüger als der A b e n d " lehrt ein russisches Sprichwort. »Die Nacht bringt R a t " , sagen die Franzosen. Aus zahlreichen eigenen Erfahrungen habe ich die Ü b e r z e u g u n g g e w o n n e n , daß der Abend und der Morgen an sich nichts mit dem plötzlichen Auftreten glücklicher Einfälle zu schaffen haben. Es handelt sich dabei n u r um ein zufälliges Zusammentreffen zwischen dem A b e n d und dem Moment des Einschlafens einerseits und dem M o r g e n und der Zeit des Erwachens andererseits. Seit Jahrzehnten, besonders während anhaltend geistiger Anstrengung, dauert mein Schlaf selten mehr als zwei oder drei Stunden und dies ganz unabhängig von der Zeit des Schlafengehens. 1 Die S t u n d e des Erwachens wie die D a u e r des Schlafes üben nach meinen vieljährigen Erfahrungen keinerlei merklichen Einfluß, weder auf die Leistungsfähigkeit des Geistes gleich nach dem Erwachen, noch auf das Auftreten glücklicher Einfälle im Augenblick des Erwachens aus. N u r die T i e f e des Schlafes ist f ü r diese beiden Momente von großer Bedeutung, da nur der t i e f e Schlaf erholend auf die bei der geistigen Tätigkeit in Anspruch genommenen Ganglienzellen wirkt. 2 Am tiefsten ist aber der Schlaf im normalen Zustand schon in der ersten Stunde nach dem Einschlafen; darin stimmen fast sämtliche Beobachter und Experimentatoren überein,
1
Siehe „ D a s O h r l a b y r i n t h " , A n h a n g zu Kap. III, § 8. Der Geist kennt an sich keine E r m ü d u n g : nur die überangestrengten Ganglienzellen verweigern dem stets wachen Geist ihre Mitarbeit. 2
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Leib, Seele lind Geist
die, wie K o h l s c h ü t t e r , M i c h e l s o h n und andere, den Schlaf näher studiert haben. Zwei bis drei Stunden tiefen Schlafes genügen daher auch bei geistigen Anstrengungen zur sofortigen E r h o l u n g und zur unmittelbaren Wiederaufnahme der Arbeit; aber n u r unter der Bedingung, daß das Erwachen von s e l b s t auftritt, ohne durch äußere Umstände, wie Geräusche, Berührungen usw., hervorgerufen zu werden. Intuitive Gedanken, welche zu Lösungen schwieriger Probleme, denen man oft wochen- oder monatelang durch anstrengendes Denken vergeblich nachgeforscht hat, können daher manchmal gleich beim Erwachen entstehen. Man erhält den E i n d r u c k , d a ß d i e s e s A u f blitzen die u n w i l l k ü r l i c h e U r s a c h e des E r w a c h e n s war. Das Erwachen mit dem neuen Gedanken bedeutet aber keineswegs das vollständige Aufhören der Bewußtlosigkeit; der aufgeblitzte Gedanke erscheint allein im geistigen Bewußtsein. Das Ichbewußtsein kehrt meistens später und nur allmählich zurück. Erst mit der Rückkehr dieses S e l b s t b e w u ß t s e i n s wird der neue G e d a n k e stufenweise mit den früheren Gedanken in Beziehung gebracht, welche v o r dem Schlafe den Geist beschäftigt haben. Es vergeht eine merkliche Zeit, bis der Ideengang, der zur Lösung des Problems geführt hat, sich klar in unserem Bewußtsein aufrollt. H ä u f i g fehlen dabei einige Glieder in der Gedankenkette, und zwar an der Stelle, wo die neue intuitive Idee anfängt. Wie lange diese Zeitperiode dauert, d a r ü b e r lassen sich keinerlei bestimmte Angaben machen. N u r das eine glaube ich mit Bestimmtheit behaupten zu können: diese Periode des halben Erwachens kann in ziemlich weiten Zeitgrenzen variieren, und die angedeuteten geistigen Vorgänge spielen sich merklich langsamer ab als bei der zusammenhanglosen Ideenflucht im wirklichen T r a u m . Diese, vielen Philosophen und' Psychologen aus der Selbstbeobachtung geläufigen Tatsachen haben Anlaß zu zahlreichen Erklärungsversuchen gegeben. Die Philosophie des Unbewußten beruht in letzter Instanz auf ähnlichen Tatsachen, deren naheliegendste und auch gangbarste Erklärung darauf hinausgeht, daß ein großer Teil der Tätigkeitsäußerungen des Gehirns, der Seele oder des Geistes — je nach der Weltanschauung des betreffenden Philosophen — ohne Teilnahme unseres Bewußtseins vor sich geht und entweder unbewußt bleibt oder nur fragmentarisch früher oder später zum Bewußtsein gelangt. Der Physiologe kann diese Erklärung nicht ohne
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weiteres als vollgültig annehmen. Geistige Erscheinungen, die nicht zu unserem Bewußtsein gelangen, können überhaupt nicht Gegenstand exakter Forschung werden. Ü b e r den näheren H e r g a n g bei solchem Auftauchen neuer Ideen und Einfälle ist es meistens unmöglich, auch nur annähernd ein bestimmtes Urteil zu bilden. Man ist selbstverständlich dabei auf Selbstbeobachtungen angewiesen. Solche haben aber auch nur W e r t , wenn sie zahlreich g e n u g sind und in den Hauptzügen eine gewisse Ü b e r e i n s t i m m u n g zeigen. F r e m d e Selbstbeobachtungen dürfen in solchen Fällen mit der äußersten Zurückhaltung berücksichtigt und n u r dann für Erklärungsversuche verwendet werden, wenn sie von absolut glaubwürdigen Forschern herrühren und mit den eigenen, wenigstens in den Hauptzügen, übereinstimmen. Mit diesem Vorbehalte soll hier, unter Z u g r u n d e l e g u n g der vorgeschlagenen Differenzierung der seelischen Funktionen, eine Erklärung mehrerer der in Frage stehenden Erscheinungen versucht werden. Als Richtschnur sollen uns dabei die bisher gewonnenen Kenntnisse über die physiologischen Verrichtungen der Hypophyse u n d ' der Zirbeldrüse dienen, soweit sie mit dem periodischen Eintreten der Bewußtlosigkeit (beim Schlaf) oder bei komatösen, pathologischen Zuständen zu schaffen haben, oder schließlich experimentell hervorgerufen werden. Die Tätigkeit unseres Zentralnervensystems kann während des Schlafes herabgesetzt werden, aber nicht ganz erlöschen. Unser sensibles u n d sensorisches Nervensystem kennt keine erregungsfreien Intervalle. Die E r r e g u n g e n , ob sie von der Peripherie oder von den inneren O r g a n e n h e r r ü h r e n , werden fortwährend den peripherischen und zentralen Ganglienzellen z u g e f ü h r t , wo sie zur Aufspeicherung psychischer Energien in den Energiespeichern dienen und n u r zum Teil dazu verwendet werden, die gesamte Muskulatur in tonischer S p a n n u n g zu erhalten. Besondere Hemmungsvorrichtungen, von denen die wichtigsten im Ohrlabyrinth ihren Sitz haben, beherrschen und regulieren die Verteilung und Verwendung dieser Reizkräfte und verhindern deren Verschwendung durch unnütze oder übermäßige Auslösungen von Innervationen. Auf diesen, im ,,Ohrlabyrinth" 1 beschriebenen Mechanismen beruht die eigentliche Ökonomie unserer geistigen Funktionen. 1
Siehe „ O h r l a b y r i n t h " , Kap. III, §§ 7, 8 usw. u n d auch oben, § 2.
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W ä h r e n d des Schlafes werden die von der äußeren Welt dem Zentralnervensystem zugeführten Erregungen nicht unbedeutend reduziert; dementsprechend werden auch dessen verschiedene Funktionen herabgesetzt. Unter den soeben erörterten Einflüssen der I lypophyse und der Zirbeldrüse wird, gleichzeitig mit dem völligen Erlöschen des Ichbewußtseins, auch das ganze psychische Leben allmählich aufgehoben. V o n e i n e r u n b e w u ß t e n g e i s t i g e n Tätigkeit w ä h r e n d des Schlafes kann daher wohl kaum d i e R e d e s e i n . Die unzusammenhängenden, episodisch auftretenden Assoziationen von dunklen Vorstellungen und W a h r n e h m u n g e n beruhen auf zufälligen äußeren oder inneren Erregungen. Sie kommen kaum in Betracht bei den Leistungen des intellektuellen Lebens und sind jedenfalls weit davon entfernt, die entscheidende Bedeutung zu haben, die ihnen die Philosophen des Unbewußten zuschreiben wollen. Wie gesagt, gelangen sie nur zufällig in zusammenhängenden Fragmenten und in unklaren Umrissen zu unserem Ichbewußtsein, u n d dies nur d a n n , wenn irgendwelche äußeren Reize auf einige Augenblicke den Schlaf mehr oder weniger verflachen. Wie könnte auch eine unbewußte Tätigkeit des Geistes während des Schlafes zustande k o m m e n und eventuell fruchtbar w e r d e n ? Nach unserer Auffassung besitzt der Geist keine eigenen Inhalte, sondern nur Fähigkeiten und Potenzen. Für seine Tätigkeit bedarf er notwendigerweise der in unseren Gehirnzentren angehäuften Inhalte. W ä h r e n d des Schlafes könnte der Geist nur über die Inhalte einer beschränkten G r u p p e von Ganglienzellen zum Zwecke der G e d a n k e n b i l d u n g verfügen, die zufällig dem einschläfernden Einfluß der Hypophyse u n d Zirbeldrüse entgangen sind. Als solche wachgebliebenen Zentren könnten nur die in Betracht k o m m e n , welche in der dem Schlafe vorhergehenden Zeitperiode andauernd f ü r geistige Leistungen in Anspruch g e n o m m e n waren. Die Ganglienzellen, die längere Zeit f ü r anstrengende geistige Arbeit benutzt wurden, müssen schon im wachen Zustande viel mehr Reizkräfte, d. h. psychische Energie verbrauchen, als die in relativer Ruhe verbleibenden. W e r d e n nun die letzteren Ganglienzellen durch den Schlaf ganz außer Tätigkeit gesetzt, so könnten die noch wachen Zentren, da die Mitbewerber ausfallen, die in Nachbarzentren gespeicherten Reizkräfte für sich verbrauchen. D e r G e i s t k ö n n t e a l s o s e i n e s c h ö p f e rische Tätigkeit fortsetzen, und seine Leistungen würden
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bei p l ö t z l i c h e m E r w a c h e n zum B e w u ß t s e i n g e l a n g e n und zu i n t u i t i v e n G e d a n k e n w e r d e n . Diese Erklärung ist jedoch nicht die einzig mögliche. In viel wahrscheinlicherer Weise würde die Herkunft der durchaus seltenen Intuitionen beim Erwachen etwa in folgender Weise zu erklären sein: Der Geist knüpft die d u r c h d e n S c h l a f v ö l l i g unterb r o c h e n e n B e z i e h u n g e n zu d e n v o r h e r in A n s p r u c h g e n o m m e n e n H i r n z e n t r e n e r s t w i e d e r a n in d e r m e h r o d e r w e n i g e r k u r z e n P e r i o d e des H a l b w a c h e n s , wo das seelische I c h b e w u ß t s e i n n o c h n i c h t g a n z z u r ü c k g e k e h r t ist. In dieser Periode kehrt das Ichbewußtsein, das nach unserer Auffassung dem Nullpunkt des Koordinatensystems entspricht, auf das alle unsere äußeren und inneren Schmerzempfindungen projiziert werden, langsam zurück. Dieser Zustand des unklaren Bewußtseins, den die Philosophen als U n t e r b e w u ß t s e i n bezeichnen, könnte bei unserer Auffassung der geistigen Tätigkeit sich wirklich f ü r schöpferische Denkleistungen eignen. Der Inhalt der Hirnzentren, die schon seit einer gewissen Zeit die Aufmerksamkeit des Geistes auf sich gelenkt haben, m u ß auch zuerst in den Geist gelangen, sobald das Ichgefühl erwacht. Hingegen kann man a n n e h m e n , daß die anderen, noch in Schlaf versunkenen Hirnzentren untätig bleiben und g r o ß e Mengen psychischer Energie nicht zu verbrauchen imstande sind, da nämlich jede Ablenkung der Aufmerksamkeit auf gewisse Hirnzentren h e m m e n d auf die Tätigkeit der Nachbarzentren wirkt, und zwar infolge ihrer notwendigen Bewerbung um psychische Energien. Die ersteren können also über ganz andere Energiemengen verfügen. Bei einer derartigen Auffassung vom U r s p r u n g der Intuitionen kann aber noch weniger als bei der erstgenannten von unbewußter Geistestätigkeit während des Schlafes die Rede sein. Es handelt sich dabei also nur um eine ganz kurze Tätigkeit während der kurzen Periode des Halbwachens, wo die aufgehobenen Beziehungen zwischen dem g e i s t i g e n oder a l l g e m e i n e n Bewußtsein und dem Ichbewußtsein sich allmählich wiederherstellen. Von dem wirklichen Werte solcher, während des Halbbewußtseins entstehender Intuitionen gibt man sich erst Rechenschaft nach dem völligen Erwachen, d. h. erst wenn der Geist im Vollbesitz aller Inhalte der Ganglienzellen ist, die beim Nachdenken mit der intuitiven Idee in V e r b i n d u n g gebracht werden können. Diese Ganglienzellen müssen also zu einem leistungsfähigen Zustand
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zurückgekehrt sein. Nach P f l ü g e r s in den Hauptzügen noch jetzt völlig gültigen „Theorie des Schlafes" geschieht das volle Erwachen erst »nach einer Summation der äußeren und inneren Reize, indem allmählich diejenige G r ö ß e der lebendigen Kraft der intramolekularen Schwingungen erzielt wird, wie sie der ganz wache Zustand notwendig voraussetzt". 1 Dazu bedarf es eines Zuflusses von Reizkräften aus allen Energienquellen, besonders aber der beiden höheren Sinne, des Gesichts- und des Gehörsinns. Was in der Finsternis auch bei geschlossenen Augenlidern unserem Unterbewußtsein noch als genialer Einfall erscheint, entpuppt sich häufig bei hellem Lichte als ein wertloses Hirngespinnst. N u r der Naturforscher kann durch experimentelle P r ü f u n g zur Gewißheit über den wahren Wert der erhaltenen Intuition gelangen. Die unkontrollierbaren Einfälle der Metaphysiker behalten nur den gewöhnlichen imaginären Wert und können folglich mit den wahrhaft schöpferischen Intuitionen des Naturforschers nicht auf eine Stufe gestellt werden. Sämtliche Forscher, die den Schlaf zum Gegenstand ihrer Beobachtungen und Experimente gemacht haben, erkennen die ganz besondere Bedeutung, welche dem G e h ö r o r g a n in dem Mechanismus des Einschlafens oder Aufwachens zukommt. Die G e h ö r e m p f i n d u n g e n verschwinden am letzten beim Einschlafen, wie sie auch gewöhnlich am leichtesten den Schlaf zu verhindern und eventuell zu unterbrechen vermögen. Auch beim künstlich durch Narkose hervorgerufenen Schlaf dauern die G e h ö r w a h r n e h m u n g e n am längsten. Bei der A n w e n d u n g von Skopolamin z. B. soll das G e h ö r o r g a n sogar das einzige Sinnesorgan sein, das während der ganzen Zeit der Narkose seine Funktion aufrecht erhält. In Anbetracht der Rolle des Ohrlabyrinths bei der E r z e u g u n g des Ichbewußtseins als des Nullpunktes des D e s c a r t e s s c h e n Koordinatensystems erhalten diese Beziehungen des G e h ö r o r g a n s zu den schlaferzeugenden O r g a n e n eine ganz neue Bedeutung. Sie scheinen dafür zu sprechen, daß die Nervenenden des Ohrlabyrinths in funktionellen, ja in anatomischen Beziehungen zur Hypophyse stehen. Wir haben weiter oben die Ergebnisse der physiologischen Experimente und der pathologischen Beobachtungen mitgeteilt, auf G r u n d deren man die Hypophyse als Z e n t r u m der wichtigsten 'Eduard Bd: 10, 1875.
Pflüger,
Theorie des Schlafes.
Archiv f. Physiologie,
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Lebensfunktionen ansehen kann. Ihre Verbindungen mit dem wichtigsten intellektuellen Sinnesorgan, dem wir die Bildung des Ichbewußtseins verdanken, werfen ein helles Licht auf die Natur der Beziehungen zwischen Seele und Geist. Ein neues Forschungsgebiet eröffnet sich hier f ü r den Physiologen. Es handelt sich dabei um genauere Feststellung der Einflüsse, welche die Erregung des Gehörnervs auf das Herz- und Gefäßnervensystems auszuüben vermag, dessen Tätigkeit, wie ich nachgewiesen habe, großenteils durch die Hypophyse geregelt wird. Bei der experimentellen P r ü f u n g dieser Frage müßten die Vestibularnerven und Cochlearnerven e i n z e l n erregt werden; und zwar müßten außer den Schallerregungen auch mechanische und elektrische Reizungen erprobt werden. Die A u s f ü h r u n g solcher Versuche würde freilich g r o ß e technische Schwierigkeiten bieten; d a f ü r aber wären ihre Ergebnisse wohl auch von entscheidender Bedeutung. Den operativen Maßnahmen müßte besondere Sorgfalt gewidmet werden; aber f ü r einen Forscher, der derartige Probleme lösen will, darf es keine u n a u s f ü h r b a r e n Vivisektionen geben. Kurz, die U n t e r s u c h u n g unserer jetzigen Kenntnisse über die Funktionen der Hypophyse und der Zirbeldrüse sowie über den Mechanismus des Schlafes deutet darauf hin, daß die rein geistigen Leistungen des G e h i r n s im Zustande des Schlafes nur sehr mangelhaft, unvollkommen und völlig unzusammenhängend sind. Die Tätigkeit des Geistes kann also während des völligen Schlafes als tatsächlich ausgeschaltet gelten. Nur in der Periode des Halbschlafes, oder besser, des halben Erwachens, kann eine solche Tätigkeit stattfinden, aber nur in den eben angegebenen Grenzen. Wir haben bei unseren Erörterungen die Frage über die unbewußte geistige Tätigkeit im w a c h e n Zustand absichtlich beiseite gelassen. Nach der gegebenen Aufklärung der Vorgänge im Schlafe und während des sogenannten Unterbewußtseins kann f ü r den Physiologen von einer irgendwie produktiven u n b e w u ß t e n T ä t i g k e i t d e s G e i s t e s in k e i n e m S i n n e d i e R e d e sein. Der Geist arbeitet immer bewußt. §11.
Die Grenzen des menschlichen Verstandes. — Der Mechanismus der Empfindungen und Wahrnehmungen.
Es ist fast vierzig Jahre her, daß der berühmte Physiologe d u B o i s - R e y m o n d in einer Aufsehen erregenden Rede über die
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G r e n z e n unseres Naturerkennens sein berühmtes I ^ n o r a b i m u s aussprach. Er wollte damit die Grenzen bezeichnen, welche die Wissenschaft nie überschreiten darf. 1 Unter den Problemen, die er f ü r unseren Verstand unlösbar hielt, befanden sich E m p f i n d u n g , Bewußtsein und Denken. Diese Fragen lagen damals wie heute den Physiologen und Psychologen besonders am Herzen. Von allen Schranken, die nach d u B o i s - R e y m o n d s Ansicht dem menschlichen Geiste gesetzt sind, erschien ihnen keine demütigender und schwerer erträglich. Im Jahre 1873 habe ich meine Stellung gegenüber dieser Beh a u p t u n g meines alten Lehrers folgendermaßen formuliert. »In der Geschichte der Physiologie der letzten Zeit", sagte ich damals, »kam ein Augenblick, wo die Physiologen, durch die beispiellosen Erfolge geblendet, die man der E i n f ü h r u n g mechanistischer Anschauungen in das Studium der Lebensvorgänge verdankte, sich einbildeten, daß man nur die gleichen Anschauungen und exakten Forschungsmethoden auf das Studium der geistigen Vorgänge anzuwenden brauchte, um ebenso ruhmvolle Lorbeeren zu ernten. »In ihren Augen konnten Tatsachen, wie die Abhängigkeit der geistigen Erscheinungen von der jeweiligen Stufe der Gehirnentwicklung, der g r o ß e Einfluß, den zahlreiche physiologische Ursachen, wie Narkose, Delirium, Mikrozephalie, auf die Richtung und den Verlauf unserer Gedanken ausüben, zum Ausgangspunkte der Erforschung des geistigen Gebiets dienen. Einige Erfolge der PsychoPhysiologie scheinen den Physiologen die Aufklärung des Mysteriums zu verheißen, das den höchsten Anstrengungen der größten Denker aller Zeiten und Länder getrotzt hatte. So erblickt das Kind am Horizont die scheinbare Brücke zwischen Himmel u n d Erde und wähnt, daß es diese imaginäre Grenze nur zu erreichen brauche, um in den Himmel zu klettern. Die Vergeblichkeit seiner Anstrengungen erweckt in ihm zuerst das G e f ü h l von der Schwierigkeit des Unternehmens. Aber sein Verstand sieht die Unmöglichkeit erst dann ein, wenn man ihm die wirklichen Beziehungen zwischen unseren Planeten und dem Sonnensystem klar gemacht hat. »Das Bewußtsein der Schwierigkeit, das zu erklären, was bisher unerklärlich blieb, erwacht bei manchen Physiologen gewiß ziemlich f r ü h . Aber das wirkliche Ziel, das sie erreichen könnten, offenbarte 1
E. d u B o i s - R e y m o n d ,
„Reden", 1. Band, 2. Aufl. Leipzig 1912.
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sich ihnen erst nach Erlangung der ersten wichtigen Resultate auf dem Gebiete der seelischen Funktionen, die durch die Anwendung der psychischen Methode gewonnen waren. Nun erkannten sie deutlich die Grenzen ihres Forschens, die der menschliche Verstand nicht zu überschreiten vermag. «Wie die Erforschung aller geistigen Erscheinungen, so müssen auch die Untersuchungen über die Natur der seelischen Funktionen in der Zurückführung dieser Funktionen auf die bekannten Atombewegungen gipfeln — Bewegungen, die von ihren immanenten Kräften hervorgerufen werden — ; kurz, die Mechanik der Gehirnatome muß geschaffen werden. Indem die Physiologie in der exakten Erforschung der Sinnesorgane fortfährt, welche gewissermaßen die Vermittler zwischen Leib und Seele sind, wird es ihr eines Tages vielleicht mit großer Mühe gelingen, die Mechanik der Gehirnfunktionen zu schaffen. Gesetzt aber, es käme der Augenblick, wo wir im Vollbesitz dieser Mechanik wären, wo die Molekularbewegungen, die in unseren Nervenzellen stattfinden, während die höchsten Gedanken des menschlichen Geistes entstehen, uns ebenso klar und verständlich wären, wie der Mechanismus einer einfachen Rechenmaschine; oder auch, um eine Wendung von d u B o i s - R e y m o n d zu gebrauchen, wenn wir den Tanz der Atome von C, H, N, O, P, welcher die musikalischen Verzückungen hervorruft, und den Wirbel der Molekularbewegungen, die den neuralgischen Schmerz erzeugen, bis in ihre geringsten Einzelheiten kennten, so stünden wir der Erkenntnis dessen, was das Selbstbewußtsein und unser Denken ist, ebenso fern wie jetzt. Zwischen der Erkenntnis der mechanischen Vorgänge, welche das Denken hervorrufen, und dem Verständnis der Art, wie sie es hervorrufen, klafft ein Abgrund, den der menschliche Verstand nie überschreiten wird. «Man braucht nur mit einigem Nachdenken in den Kern dieser Frage einzudringen, um sich von der völligen Unmöglichkeit zu überzeugen, daß der Verstand es je fassen wird, welche Beziehungen zwischen gewissen Bewegungen der physikalischen Gehirnatome und der Tatsache der Lust- und Schmerzempfindung, des Hörens von Tönen, des Sehens von Farben sowie zwischen diesen Bewegungen und unserem Daseinsbewußtsein bestehen. Die Unmöglichkeit, diese Beziehungen zu erfassen, ist gleichgroß bei dem elementarsten Lust- und Schmerzgefühle eines niederen Tieres wie bei dem Denken E. V. C y o n ,
Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
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eines D e s c a r t e s und der schöpferischen Phantasie /eines S h a k e s p e a r e oder R a f f a e l . Hier wie dort ist uns das Verständnis dafür versagt, warum die Atome O, C, H, N oder P bei dieser Verbindung Lust und bei jener Unlust empfinden, und wie gewisse chemische Verbindungen das N e w t o n s c h e Gesetz oder M o z a r t s ,Requiem' hervorbringen können." 1 Seit ich diese Worte aussprach, hat die Psychologie des Menschen, die einzige, die uns hier interessiert, in jeder Hinsicht beträchtliche Fortschritte gemacht. Das schwierigste Problem, welches seit Jahrtausenden den notwendigen Ausgangspunkt für jede psychologische Theorie bildete, ist ausreichend gelöst worden. Durch die Entdeckung der beiden mathematischen Sinne für Raum und Zeit ist eine wissenschaftliche Grundlage geschaffen, auf der die künftige Geisteswissenschaft sicher. aufgebaut werden kann. V i e r o r d t s Ahnung, daß die Lösung dieses Problems uns gestatten würde, »das Wesen der Psyche selbst" zu erfassen 2 und die Art der Beziehungen zwischen unserem Ichgefühl und der Außenwelt zu entschleiern, regte mich an, den Mechanismus der Beziehungen zwischen Leib und Seele, sowie zwischen Seele und Geist zu ergründen. Zu diesem Zwecke glaubte ich im. Interesse künftiger Forschungen den Geist von den seelischen. Funktionen ausschließen und das Ichbewußtsein, eine seelische Funktion, vom allgemeinen Bewußtsein, einem reinen Geistesprodukt, völlig trennen zu müssen. Den Mechanismus der Entstehung des Ichbewußtseins konnte ich in großen Zügen darstellen, von seinem sinnlichen Ursprung in den Verrichtungen des Bogengangapparates bis zu seiner Idealisierung im Geiste. 3 Auf Grund meiner Studien über die Hypophyse, den eigentlichen Sitz der Lebensseele (s. S. 178 ff.) und deren sehr wahrscheinliche Beziehungen zur Zirbeldrüse, versuchte ich die Natur dieser Beziehungen zwischen Seele und Geist, und folglich auch zwischen Ichbewußtsein und allgemeinem Bewußtsein, noch tiefer zu erfassen. Das Hauptergebnis dieses Versuches ließe sich folgendermaßen formulieren: Die Hypophyse scheint in diesen Beziehungen, wo nicht als Brücke, so doch als Brückenkopf zu dienen und somit die 1 2 3
Auszüge aus meiner akademischen Rede „Herz und Hirn", zitiert in § 3. Siehe Kap. II, § 7. Siehe weiter oben, §§ 5—6.
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U n t e r b r e c h u n g sowie die Wiederherstellung der Verbindungen zwischen Hirn und Seele einerseits und dem Geist andererseits zu bestimmen. W i e wir sahen, haben auch unsere Kenntnisse über die Art der Funktionen des Herzens, als Hauptorgan des Qemütslebens, seit 1870 sich beträchtlich vertieft und erweitert. Die Mechanismen, auf denen die Wechselbeziehungen zwischen Herz und H i r n , oder besser gesagt, zwischen der affektiven und der sensorischen Seele b e r u h e n , waren Gegenstand zahlreicher U n t e r s u c h u n g e n , die uns deren psychologische Bedeutung jetzt besser erkennen lassen. Schließlich ist auch die Hauptquelle der psychischen Energien, von denen sämtliche Verrichtungen unseres Zentralnervensystems abhängen, festgestellt worden, desgleichen der allgemeine Mechanismus der Verteilung dieser Energien zwischen dem Bewegungs- und dem Empfindungsleben. Die Physiologie hat also zweifellos beträchtliche Fortschritte auf dem Gebiet der seelischen Funktionen gemacht, seit d u B o i s R e y m o n d sein berühmtes I g n o r a b i m u s sprach, das in der Welt der Denker so großes Aufsehen hervorrief. Das Gebiet unserer Kenntnisse über die Psychologie des Menschen hat sich in einer Weise erweitert, welche die kühnsten H o f f n u n g e n von vor vierzig Jahren weit übertroffen hat, und von neuem drängt sich die Frage nach den G r e n z e n unseres Verstandes auf. Gestatten uns die weiten Horizonte, die der Erforschung der seelischen Funktionen erschlossen sind, zunächst eine weitere Aufklärung der Mechanismen, die bei der Entstehung unserer Sinnesempfindungen mitwirken, und ferner die tiefere Erfassung ihrer Beziehungen zu den W a h r n e h m u n g e n und dem Ichbewußtsein? Die berühmtesten Philosophen haben, wie wir wissen, dieses Problem stets f ü r unlösbar erklärt. D e s c a r t e s behauptete, daß die mechanistische Weltauffassung angesichts der Unmöglichkeit halt machte, das Wesen der elementaren E m p f i n d u n g zu erklären. W e d e r die Atome unseres Leibes, noch die Eigenschaften unserer Seele konnten uns, a l l e i n g e n o m m e n , die E m p f i n d u n g begreiflich machen. D e s c a r t e s ' Versuch, diese Schwierigkeit zu überwinden, indem er einen V e r b i n d u n g s p u n k t zwischen Leib und Seele suchte, mißlang, wie man im Anfang von § 10 gesehen hat. Einer der Begründer der modernen Philosophie, L o c k e , beschäftigte sich in seinem » Versuch über den menschlichen Ver13*
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stand" gleichfalls mit der Natur der Empfindungen, Üie er für die Grundlage des Bewußtseins hielt. Als Gegner angeborener Ideen schrieb er dem Verstände nur die F ä h i g k e i t e n der Perzeption, der Abstraktion und des Vergleichens zu. Den Ursprung der Gedanken, welche uns die Beziehungen zwischen den Objekten der Außenwelt und unseren Vorstellungen ermöglichen, mußte er also wo anders suchen. Aber unser Geist war nach ihm außerstande, eine d e n k b a r e Beziehung zwischen den körperlichen Gegenständen und den Empfindungen herzustellen, die jene in uns hervorrufen. »Wir sind unfähig zu begreifen", sagte er, »wie Gestalt, Lage und Bewegung in uns die Empfindung von Farbe, Geschmack und Klang hervorrufen können. Es g i b t k e i n e n Z u s a m m e n h a n g z w i s c h e n d i e s e n m e c h a n i s c h e n V o r g ä n g e n u n d u n s e r e n Vorstellungen." K a n t versuchte in seiner » Kritik der reinen Vernunft" den Ursprung unserer Vorstellung von der Außenwelt sowie unserer Raum- und Zeitbegriffe zu begründen; er hat das Rätsel jedoch nur scheinbar gelöst. Ich habe in diesem Buche auf die Grundirrtümer des Kantschen Apriorismus und alle seine Konzequenzen hingewiesen und brauche nicht darauf zurückzukommen. Betont sei nur noch, daß K a n t , indem er sich an L o c k e anschloß und ihm den Begriff der »Dinge an sich" (things ihemselves) entlehnte, diesen Begriff als v o r der sinnlichen Erfahrung bestehend annahm. Von H u m e übernahm er die scharf geprägten Begriffe der Wahrnehmungen (Perzeptionen) und Vorstellungen; durch seine Behauptung aber, daß ein U r t e i l a p r i o r i zum Zustandekommen einer Sinneserfahrung notwendig sei, entfernte er sich von H u m e s System und näherte sich dem Idealismus B e r k e l e y s . Was schließlich seine angebliche Anlehnung an N e w t o n s Theorien betrifft, so leugnete K a n t die Wirklichkeit eines absoluten Raumes und wandte sich damit ganz von N e w t o n s Vorstellungen ab. Wenn die Physiologie in ihrem Streben nach Erklärung der Natur unserer Empfindungen und Wahrnehmungen nicht mehr Glück hatte, so liegt die Schuld größtenteils daran, daß H e l m h o l t z , obwohl er gewisse Übertreibungen des Kantschen Denkens bekämpfte, in dieser Grundfrage der Sinnesphysiologie K a n t s Einfluß unterlegen ist. Er selbst faßt den Mechanismus der Empfindungen folgendermaßen auf: »Unsere Empfindungen sind Wirkungen, welche durch äußere
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Ursachen in unseren Organen hervorgebracht werden, und wie eine solche Wirkung sich äußert, hängt natürlich ganz wesentlich von der Art des Apparates ab, auf den gewirkt wird. Insofern die Qualität unserer Empfindung uns von der Eigentümlichkeit der äußeren Einwirkung, durch welche sie erregt ist, eine Nachricht gibt, kann sie als ein Z e i c h e n derselben gelten, aber nicht als ein A b b i l d . Denn vom Bilde verlangt man irgend eine Art der Gleichheit mit dem abgebildeten Gegenstände, von einer Statue Gleichheit der Form, von einer Zeichnung Gleichheit der perspektivischen Projektion im Gesichtsfelde, von einem Gemälde auch noch Gleichheit der Farben. Ein Zeichen aber braucht gar keine Art der Ähnlichkeit mit dem zu haben, dessen Zeichen es ist. Die Beziehung zwischen beiden beschränkt sich darauf, daß das gleiche Objekt, unter gleichen Umständen zur Einwirkung kommend, das gleiche Zeichen hervorruft, und daß also ungleiche Zeichen immer ungleicher Einwirkung entsprechen." 1 Zum Beweis für diese Auffassung von der Natur der Empfindungen führt H e l m h o l t z die Tatsache an, daß die Zeichen und Symbole ausreichen, um uns die Gesetzmäßigkeit in den Vorgängen der Außenwelt erkennen zu lassen. »Da gleiches in unserer Empfindungswelt durch gleiche Zeichen angezeigt wird, so wird der naturgesetzlichen Folge gleicher Wirkungen auf gleiche Ursachen auch eine ebenso regelmäßige Folge im Gebiete unserer Empfindungen entsprechen." Nachdem H e l m h o l t z der Auffassung K a n t s beigetreten war, daß die Qualitäten der Empfindung die Form unserer Anschauung bilden, war er auch zur Annahme des a p r i o r i s t i s c h e n Ursprungs des Kausalitätsprinzips gezwungen. 2 1
„Physiologische Optik", 2. Aufl., Berlin 1896, S. 586. D i e Herausgeber der 3. Auflage haben seitdem beschlossen, diese Lehre von den Z e i c h e n ganz wegzulassen. * In Wahrheit steht der empirische Ursprung unseres Kausalitätsbegriffs außer Zweifel. Es ließe sich nachweisen, daß dieser Ursprung in erster Linie aus der Wahrnehmung der Empfindungen zweier Sinnesorgane von verschiedener Bestimmung stammt, die sich gegenseitig kontrollieren. Die Wahrnehmung einer Ursache folgt oft der Wahrnehmung der Wirkung n a c h und die Wahrnehmungen von Ursache und Wirkung finden oft in u m g e k e h r t e r Reihenfolge ihres wirklichen Geschehens statt. Wir hören ein fernes Geräusch, b e v o r wir mit den Augen dessen Ursache entdecken.
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Trotz des großen und berechtigten Ansehens, daé H e l m h o l t z in der Sinnesphysiologie besaß, w u r d e seine rein metaphysische Anschauung n u r mit großen Vorbehalten a u f g e n o m m e n . E w a l d H e r i n g , A d o l f F i c k und viele andere lehnten eine solche Einmischung der reinen Spekulation in das Gebiet der exakten Wissenschaft kategorisch ab; sie konnte das P r o b l e m der E m p f i n d u n g , statt es zu lösen, n u r verdunkeln. Die Tatsache, daß die gleichen Gegenstände der Außenwelt bei uns die gleichen E m p f i n d u n g e n auslösen und u n s nach H e l m h o l t z »die A b b i l d u n g der Gesetzmäßigkeit in den Vorgängen der wirklichen W e l t " g e b e n , beweist nichts zugunsten der Auffassung der E m p f i n d u n g e n als „Zeichen". Im Gegenteil, sie spricht f ü r die entgegengesetzte Hypothese, d a ß d i e E m p f i n d u n g e n u n s g e treue Bilder der Objekte der Außenwelt geben. W e n n diese Zeichen und Symbole uns annähernd genaue Daten über die äußeren Gegenstände liefern sollen, so ist man zu der A n n a h m e gezwungen, daß in unserem Geiste eine Anschauung der Formen und Eigenschaften existiert, welche die Bedeutung dieser Zeichen erklärt. Bei der tatsächlichen unendlichen Mannigfaltigkeit der Objekte, welche Gesichtsempfindungen auslösen, müßte unser Geist also die A n s c h a u u n g von Milliarden bestimmter Formen besitzen, die sich auf ebenso viele Zeichen beziehen. Man denke einmal an den Geistesinhalt eines L i n n é , C u v i e r , D a r w i n oder eines modernen Asien- oder Afrikaforschers! N u n aber verwarf H e l m h o l t z mit Recht die K a n t i s c h e Vorstellung von der Existenz irgend eines I n h a l t s im Verstände. Z u m Ersatz f ü r diesen Inhalt griff er zunächst zu den E m p f i n d u n g e n der Augenbewegungen, d a n n , als das Fehlen der Muskelempfindungen erwiesen war, zu den angeblichen Innervationsempfindungen. Wie weiter oben erwähnt w u r d e , hat er in der letzten Auflage seiner » Tatsachen der W a h r n e h m u n g " auch hierauf verzichtet. Übrigens erinnere ich an eine von allen Physiologen anerkannte Tatsache, die niemand schärfer betont hat, als H e l m h o l t z selbst. Diese Tatsache widerlegt die Hypothese von den „Zeichen" völlig. U n s e r V e r s t a n d ist g ä n z l i c h m a c h t l o s , u n s e r e w i r k l i c h e n S i n n e s t ä u s c h u n g e n zu b e e i n f l u s s e n o d e r zu berichtigen. Dies gilt sowohl f ü r die optischen wie f ü r alle anderen Sinnestäuschungen, insbesondere f ü r die Täuschungen über die Richtung, die aus dem Ohrlabyrinth k o m m e n .
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In meinem » O h r l a b y r i n t h " konnte ich mit Hilfe der graphischen Methode ein ganzes Kapitel (Kap. V) den mannigfachsten Experimenten widmen, welche diese Machtlosigkeit des Geistes gegenüber unseren Sinnen beweisen. Ja diese Machtlosigkeit hat uns weiter oben (§ 6), anläßlich der A b g r e n z u n g zwischen den seelischen Funktionen und den geistigen Leistungen, als sicheres Kriterium zur Unterscheid u n g der Sinnestäuschungen und der Irrtümer des Urteils gedient. Wir sehen den Mond in Gestalt einer flachen Scheibe, obwohl wir ihn uns als Kugel denken. Ebenso nehmen wir die Sonne nach wie vor als gelbe Scheibe wahr, obwohl wir ihre wirkliche Gestalt im Geiste haben (E. H e r i n g ) . Trotz K o p e r n i k u s , G a l i l e i und N e w t o n sehen wir die Sonne Tag f ü r Tag auf- und untergehen und verfolgen ihren Lauf am Himmel. Ebenso machtlos ist unser Geist zur Berichtigung der zahllosen optischen Täuschungen, die wir in unseren Laboratorien bei physiologischen Experimenten willkürlich hervorbringen. Diese Unfähigkeit des Geistes, unsere falschen E m p f i n d u n g e n in den Hirnzentren zu berichtigen, m u ß a u f d e m B a u u n d d e n funktionellen Eigenschaften dieser Zentren selbst ber u h e n , u n d k e i n e s w e g s auf d e n F e h l e r n des V e r s t a n d e s . Da wir richtig d e n k e n , sind es in der Tat die beschränkten Fähigkeiten unserer Ganglienzellen, die sich unseren Gedanken nicht anpassen können. W i e ich weiter oben auseinandergesetzt habe, gilt ein gleiches f ü r die Ganglienzentren, denen wir unsere G e m ü t s b e w e g u n g e n verdanken. Unser Geist ist machtlos, unsere G e f ü h l e zu verändern, selbst wenn ihre Ursachen eingebildet und dem Geiste als solche bekannt sind. So entlockt eine Sterbeszene, die von einem großen Schauspieler gut gespielt wird, uns leichter Tränen als ein wirklicher Tod im Krankenhause. Ein gleiches gilt vom Lesen eines Werkes der Phantasie. Alle diese Tatsachen zwingen uns zwei allgemeine Schlüsse auf: 1. Die E m p f i n d u n g e n sind keine Zeichen oder Symbole, die der Verstand uns a priori gibt oder a posteriori deutet, sondern vielmehr w i r k l i c h e B i l d e r d e r A u ß e n w e l t , die unser Leben lang unauslöschlich bleiben können. 2. Die angeblichen G r e n z e n unseres Verstandes sind in Wirklichkeit nichts als G r e n z e n der Hirnzentren, der unserem Geiste dienenden Organe.
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Der letztere Schluß rechtfertigt auch die Notwendigkeit, den Geist von den Hirnfunktionen zu trennen, und spricht zugunsten der dualistischen Auffassung von Leib und Geist im Sinne von D e s c a r t e s und L e i b n i z . Es ist hier nicht der Ort, auf die zahlreichen Beobachtungen und Experimente einzugehen, welche die höhere Sinnesphysiologie gesammelt hat und durch welche die Übereinstimmung oder Ähnlichkeit zwischen unseren Empfindungen und den Gegenständen der Außenwelt bewiesen ist. Ich will nur von den Sinnesorganen reden, dem wir unsere drei Richtungsempfindungen verdanken. Meine Forschungen über die Bogengänge des Ohrlabyrinths, die in drei sich rechtwinklig schneidenden Ebenen liegen und denen wir die Anschauung der drei Grundrichtungen des Raumes verdanken, hatten seit 1878 meine Aufmerksamkeit auf eine derartige Übereinstimmung gelenkt. Der Ausbau meiner Theorie hat diese Vermutungen vollauf bestätigt, und die Vorstellung des D e s c a r t e s s c h e n Koordinatensystems in unserem Bewußtsein sollte sie schlagend beweisen. Entsprechende Beziehungen zwischen der Natur der äußeren Erreger und der unserer Gehörempfindungen existieren in dem Organ des Zeit- und Zahlensinnes in der Schnecke. Die verschiedenen Schwingungszahlen der Schallwellen, welche die auf verschiedene Töne abgestimmten Nervenfasern des C o r t i s c h e n Organs erregen, liefern uns Tonempfindungen von verschiedener Höhe. Dieser Stufenfolge danken wir unsere Zahlen- und Zeitvorstellungen. 1 Für das Auge erinnere ich an die Entdeckung der Farbkörper in den Zellen der Netzhaut ( B o h l ) und des Sehpurpurs ( K ü h n e ) , sowie an die Feststellung photochemischer und elektrischer Prozesse in der Netzhaut während des Sehvorganges. Die Optogramme, die K ü h n e auf der Netzhaut von Fröschen und Kaninchen gewonnen hat, stellen in Wirklichkeit photographische Proben dar. Nicht minder lehrreich sind in dieser Hinsicht die roten oder rosa Substanzen, die der Netzhaut entnommen sind; sie bleichen im Lichte aus und werden nur im Auge selbst wieder farbig, wenn die Netzhaut auf Pigmentzellen ruht. Die große Geschwindigkeit, womit die Bilder auf der Netzhaut sich verändern, erheischt natürlich eine schwindelhaft schnelle Abwicklung der chemischen Prozesse. Dieselbe photographische 1
Siehe Kap. II, § 7.
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Platte, die das Bild aufgenommen und es den Nervenzentren übermittelt hat, muß sich im selben Augenblick automatisch erneuern, um ein neues Bild aufnehmen zu können. Man begreift leicht, welche großen Schwierigkeiten sich der objektiven Erforschung dieser Netzhautbilder und der chemischen Prozesse der Wiederherstellung der Netzhaut entgegenstellen. Man denke sich einen automatischen, sich selbst regulierenden Kinematographien, der mit wunderbarer Schärfe alle Bilder, die an seiner Linse vorbeiziehen, abbildet und immerfort selbst die lichtempfindlichen Platten erneuert, nachdem er sie in guter Ordnung in den Archiven des Hirns niedergelegt hat. Werden nun die auf der Netzhaut fixierten Bilder in derselben Form den Ganglienzentren des Sehnervs übermittelt, um dort die zur Wahrnehmung bestimmte Empfindung hervorzurufen, oder findet die Empfindung schon in der Netzhaut infolge des bildlichen Eindruckes statt, und müssen wir diese Empfindung, die sich hernach den Wahrnehmungszentren mitteilt, jedesmal auf die Netzhaut projizieren, wenn wir uns das ursprüngliche Bild vorzustellen wünschen? Die Tatsache, daß wir, selbst nach Zerstörung der Netzhaut, einmal wahrgenommene Bilder wieder hervorrufen können, steht zu keiner dieser beiden Möglichkeiten in völligem Widerspruch. Da die Vorstellung dieser Empfindungen in unserem Gedächtnis aufbewahrt wird, so kann sie beliebig hervorgerufen werden. Die erstere Möglichkeit, als die einfachere, ist als die wahrscheinlichere anzusehen; sie läßt sich leichter mit unseren Kenntnissen von der Sinnesphysiologie vereinbaren. Früher zweifelte man an der Möglichkeit einer direkten Übertragung der Bilder der „äußeren Gegenstände durch die Nervenfasern. Heute, wo wir das Telephon, den Phonographen, die Farbenphotographie ( L i p p m a n n ) , den Kinematographen ( M a r e y ) , die Übertragung von Bildern und Zeichnungen auf elektrischem Wege usw. kennen, ist man anderer Ansicht geworden. Nach so vielen wunderbaren Entdeckungen, die unsere Anschauungen von den physikalischen Erscheinungen wesentlich erweitert haben, erscheint die Photographie der äußeren Gegenstände auf der Netzhaut und die direkte Übermittelung unserer Bildempfindungen an unsere Ganglienzentren durch die Nervenfasern nicht mehr als unwahrscheinlich noch für unseren Verstand als unfaßlich. E. H e r i n g , der stets die Einheitlichkeit, oder besser die Einheit der psycho-
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physischen Prozesse in der Netzhaut wie in den Hirnzentren vertreten hat, versuchte mehrfach festzustellen, o b den qualitativen Verschiedenheiten der Nervenzentren nicht eine Verschiedenheit der sie verbindenden Nervenfasern entspricht. Eine solche Verschiedenheit der Nervenleitungen erscheint uns nicht m e h r als sehr zweckmäßig, seit wir sehen, wie die gleichen Metalldrähte das Spiel eines Orchesters, die menschliche Stimme oder die F o r m von Bildern und Zeichnungen mit mathematischer Genauigkeit auf besonders eingestellte elastische Platten oder auf kompliziertere, zweckentsprechende Apparate übertragen. In der Physiologie herrscht noch heute die Lehre, daß man nur die Zentralendung des Sehnervs durchzuschneiden und mit der peripheren E n d u n g des G e h ö r n e r v s zu verbinden brauchte, und umgekehrt, um den D o n n e r zu s e h e n und den Blitz zu h ö r e n . Es ist durchaus richtig, d a ß , wenn eine derartige V e r b i n d u n g des Sehnervs mit dem G e h ö r n e r v a u s f ü h r b a r wäre, der Schall, der an unser Trommelfell schlägt, eine heftige Lichtempfindung auslösen könnte, so gut wie jede mechanische E r r e g u n g des Sehnervs; aber sicherlich w ü r d e diese E m p f i n d u n g dem Blitz so wenig gleichen, wie eine durch die Erregung der Netzhaut hervorgerufene G e h ö r s e m p f i n d u n g dem Donnergeräusch gleichen würde. Die N e t z h a u t b i l d e r können von den Ganglienzentren der Gehörsphäre so wenig e m p f u n d e n oder perzipiert werden, wie die T o n h ö h e n von den Zentren der Gesichtssphäre. Der Erfolg derartiger Kreuzungen zwischen Nerven, die zu Muskelfasern von verschiedener Funktion f ü h r e n , entscheidet nichts über die Art, wie die Sinnesorgane sich im Fall einer K r e u z u n g verhalten w ü r d e n . Wie m u ß sich in unserem Bewußtsein die Reihenfolge der W a h r n e h m u n g e n und Vorstellungen vollziehen, wenn die E m p f i n d u n g e n wirklich die m e h r oder minder genauen Abbilder der äußeren Erreger darstellen? L e i b n i z , der die Grenzen unseres Verstandes weiter ausdehnte, als seine Vorgänger, insbesondere bis zur W a h r nehmung, formulierte das Problem folgendermaßen: »Man m u ß einr ä u m e n , daß die W a h r n e h m u n g und was von ihr abhängt, durch mechanische Ursachen, d. h. durch Figuren und Bewegungen, nicht zu erklären ist. N ä h m e man eine Maschine an, die durch ihre Einrichtung G e d a n k e n , G e f ü h l e und W a h r n e h m u n g e n erzeugt, so kann man sie sich größer oder in den gleichen Verhältnissen denken, so daß man hineingehen könnte, wie in eine Mühle. Dies ange-
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n o m m e n , wird m a n , wenn man sie sich von innen ansieht, nur Teile finden, die gegeneinander stoßen, aber nichts, was eine Wahrn e h m u n g erklärte" (Monadologie). Gesetzt, ein Physiologe vertaut mit den Fortschritteen der Sinnesphysiologie sowie der neuesten technischen und mechanischen Entdeckungen dränge in d i e M a s c h i n e r i e u n s e r e s G e h i r n s e i n w i e i n e i n e M ü h l e und begänne die Abfolge der psychischen Vorgänge von der Erregung der Netzhaut bis zur W a h r n e h m u n g der Gesichtseindrücke im Bewußtsein zu erforschen, so wird er zunächst auf der Netzhaut das verkehrte Bild des belichteten äußeren Gegenstands erblicken, das in seinen Umrissen im großen und ganzen genau wäre. Darauf gelangt das Bild durch die Nervenfasern in die entsprechenden Ganglienzentren der Gesichtssphäre. Vor seiner Perzeption wird dieses Netzhautbild auf das Koordinatensystem projiziert, das wir der Tätigkeit des Ohrlabyrinths verdanken; dort wird seine Gestalt präzisiert und lokalisiert, und das umgekehrte Bild wird aufrecht gestellt. Die Lokalisierung und Aufrechtstellung der komplizierteren Bilder wird oft ihre vorangehende Projektion auf das äußere Objekt nötig machen, begleitet von einigen Bewegungen der Augäpfel, die der Bogengangapparat dirigiert. Die Perzeption des so berichtigten Bildes findet im Nullpunkt des Koordinatensystems statt, der nach meiner Theorie dem Sitz des Ichbewußtseins entspricht. Befindet sich der äußere Gegenstand im Augenblick der Perzeption in Bewegung, so wird diese Bewegung während der P r o jektion der Bilder auf das Koordinatensystem erkannt. „Auf dieses System", schrieb ich 1878, „übertragen wir die Zeichnung, die den gesehenen Raum darstellt, d. h. das Bild unseres Gesichtsfeldes. So oft diese Zeichnung ihre Lage gegenüber dem Koordinatensystem verändert, haben wir eine Bewegungsempfindung. O b die Verä n d e r u n g durch eine wirkliche Bewegung der äußeren Gegenstände oder n u r durch eine Ortsveränderung der Netzhaut stattfindet, die W i r k u n g bleibt die gleiche: wir sehen den Gegenstand sich bewegen." Die Bewegung des Bildes wird in unserem Gedächtnis wie in einem Kinematographen fixiert. Die zahlreichen Erscheinungen des Gesichtsschwindels, die durch die verschiedensten Ursachen entstehen, haben die Richtigkeit dieser Erklärung vollauf bestätigt. 1 1 S. meine „Recherches expérimentales sur les fonctions des canaux semi-circulaires", Paris 1878; „Ohrlabyrinth", Kap. II.
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Leib, Seele und Geist
Die Abfolge aller dieser seelischen Vorgänge ¿emahnt den Beobachter an die kunstvolle Tätigkeit eines geschickten Photographen in seinem mit allen vervollkommneten Apparaten ausgestatteten Laboratorium, einschließlich der Apparate, die zur elektrischen Fernphotographie, zur Kinematographie usw. dienen. Die Aufrichtung des umgekehrten Netzhautbildes gemahnt ihn an den gleichen Vorgang mit Hilfe eines einfachen Prismas in der Dunkelkammer des Photographen. Er wird das tadellose Arbeiten der verschiedenen Teile dieser Maschine bewundern, wird die ungemeine Überlegenheit des wunderbaren Hirnmechanismen, die Feinheit und unvergleichliche Kompliziertheit ihres Funktionierens bewundern. Die vollendetsten Erfindungen der modernen Mechanik werden ihm im Vergleich dazu wie Kinderspielzeuge erscheinen. Doch in dieser wunderbaren Maschinerie wird er nichts finden, was seinen Verstand überstiege. Erst in dem Augenblick, wo der menschliche Verstand zum Zweck der Bildung von Begriffen, Urteilen und allgemeinen Ideen die angehäuften Wahrnehmungen und Vorstellungen zu verwerten beginnt, stößt sich der Physiologe, der in das Funktionieren der Gehirnmaschinerie eingedrungen ist, an den Schranken seiner sinnlichen Erfahrung. D i e g a n z e M a c h t s e i n e s s i n n l i c h e n E r k e n n t n i s v e r m ö g e n s v e r s a g t , s o b a l d e r in d a s G e b i e t d e s G e i s t e s e i n z u d r i n g e n v e r s u c h t . Das bisher mechanische Problem wird transzendental und hängt nur noch von d e r r e i n geistigen Erkenntnis ab. Der menschliche Geist unterliegt der mechanischen Gesetzmäßigkeit nicht; auch die volle Einsicht in die Grenzen unserer Sinne vermag den in seinem Fassungsvermögen und in seinen Fähigkeiten unbegrenzten Geist in keiner Weise zu beeinflussen. Die verschiedenen Leistungen und Kundgebungen des Geistes sowie deren Verkettung sind das Einzige, was unseren Sinnesorganen und ihren Hirnzentren zugänglich bleibt. Aber zur Ableitung der Denkgesetze wie zur Aufdeckung ihrer Übereinstimmung mit den Gesetzen der sinnlich erfaßbaren physikalischen Welt ist das Zusammenwirken der beiden — sinnlichen und geistigen — Erkenntnisse unerläßlich. Die in unserem Gehirn aufgespeicherten Schätze unserer sinnlichen Erfahrung liefern unserem Geiste feste Grundlagen zur Ableitung der Gesetze und zur etwaigen Feststellung ihrer Richtigkeit. Die Gesetze der Logik können nur dann Anspruch auf absolute Richtigkeit erheben, wenn die sinnliche Er-
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fahrung ihre Wahrheit kontrolliert hat. Die E u k l i d i s c h e Geometrie muß als die vollkommenste logische Schöpfung gelten, eben weil ihre Gesetze jahrtausendelang durch alle astronomischen Beobachtungen, alle physikalischen und mechanischen Experimente bestätigt worden sind. Wie wir weiter oben (Kap. I) sahen, dankt sie diese Vorzugsstellung dem sinnlichen Ursprung ihrer Axiome und Definitionen. Die harmonische Übereinstimmung zwischen den beiden Quellen unserer Erkenntnis, der sinnlichen Erfahrung und der Tätigkeit des Geistes, die zu allen Zeiten den Gegenstand endloser philosophischer Diskussionen, Behauptungen und Spekulationen gewesen ist, findet ihre natürliche Erklärung in der Theorie der Empfindungen und Wahrnehmungen der Außenwelt, so wie ich sie hier entwickelt habe. Sobald diese Elemente unserer sinnlichen Erfahrung uns die Abbilder der wirklichen Welt und der sich in ihr vollziehenden Erscheinungen liefern, müssen die Gesetze, die unser Geist aus diesen Gegebenheiten ableitet, in völliger Übereinstimmung mit den mathematisch genauen Gesetzen stehen, die bei der Schöpfung gewaltet haben und die alle Naturerscheinungen beherrschen. Eine andere erfreuliche Folge der Auffassung, daß die Empfindungen getreue Abbilder der äußeren Gegenstände sind, ist die Beendigung der ewigen Spekulationen über die Realität der Welt, welche die Psychologie seit Jahrhunderten in ihrer Entwicklung hemmen. Ein •Ende hat ferner die wunderliche Annahme, daß das Licht, die Töne, die Gerüche und die anderen Erreger unserer peripherischen Sinnesorgane nicht wirklich existieren und nur Produkte unserer Empfindungen sind. Schon zur Zeit G a l i l e i s entsprach diese Idee der menschlichen Eitelkeit mehr als den Anforderungen der strengen Logik. Das Argument, daß die Lichtstrahlen auf die Haut anders wirken als auf die Netzhaut, oder daß die mechanischen und elektrischen Erregungen der Netzhaut eine unbestimmte Lichtempfindung hervorufen, war schon lange vor den M a x w e l l - H e r z s c h e n Entdeckungen hinfällig. Die Sonne wird nach wie vor die Erde beleuchten, selbst wenn jede Spur von Lebewesen von ihr verschwunden ist, so gut wie sie jetzt andere unbewohnte Trabanten beleuchtet. Indem Moses die Erschaffung des Lichtes vor die der Pflanzen, Tiere und Menschen setzte, traf er durchaus das Rechte. Ohne das Sonnenlicht war und ist auf Erden kein Leben möglich. Die Netzhaut empfängt und empfindet das Licht, sie bringt es nicht hervor. Ein Gleiches gilt für die anderen Sinnesorgane.
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Leib, Seele u n d Geist
Bei dem gegenwärtigen Stand unserer Kenntnisse kann von Identität zwischen Geist und Materie nicht die Rede sein, wie man die letztere auch immer definieren möge. Selbst L e i b n i z e n s Auffassung, wonach die Energie das Wesen der Materie ist, findet auf den Geist keine Anwendung, auch wenn man den Begriff der Energie im modernsten Sinne faßt. Getreu dem Prinzip der Arbeitsteilung zwischen Physiologen und Philosophen, das ich in diesem Kapitel aus methodologischen Gründen empfahl, enthalte ich mich jeder Erörterung über das Wesen des Geistes: H y p o t e s e s n o n f i n g o . Diese vierte N e w t o n sche Regel ist für jeden Physiologen bindend. Er kann nur die tatsächlichen L e i s t u n g e n d e s G e i s t e s u n d d i e B e d i n g u n g e n s e i n e r T ä t i g k e i t verzeichnen. Auf diesem Gebiete glaube ich bis an die äußerste Grenze unserer jetzigen Kenntnisse über den Geist gelangt zu sein, und ich fasse meine Anschauung in eine Formel zusammen, die ich meiner betreffenden physiologischen Arbeit entnehme: „Der Schöpfer herrscht, und sein Geist regiert."
Anhang zum dritten
Kapitel.
Die seelischen Verirrungen. § 1.
Spiritismus und Wissenschaft
Am Schluß eines Werkes, das der Differenzierung der seelischen Funktionen und insbesondere der schärferen Grenzbestimmung des geistigen Gebietes gewidmet ist, scheint es mir nötig, noch ein paar Worte über gewisse seelische Verirrungen, wie Spiritismus, Hypnotismus und andere, dem Geiste — oder den Geistern — zugeschriebene Erscheinungen anzufügen. Diese Erscheinungen, die früher lediglich von Marktschreiern, Abenteurern und Zauberkünstlern ausgenutzt wurden, haben seit der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts das Interesse gewisser gelehrter Kreise erregt, ja ihnen sogar als Studienobjekt gedient. Unter dem Vorwande, uralten Aberglauben zu bekämpfen, hat man diesen Studien einige Laboratorien und Kliniken geöffnet, und man hat nicht gezaudert, unglückliche, mit Wahnsinn geschlagene Kranke der ungesunden Neugier der Menge preiszugeben. Zwischen
Anhang zum dritten Kapitel
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Gelehrten und Klinikern einerseits und berufsmäßigen Hypnotiseuren, Spiritisten und Medien andererseits ist eine unerfreuliche Intimität eingetreten. Das Ergebnis davon war, daß der Wirkungskreis der letzteren bedeutend erweitert wurde und daß ihre marktschreierischen Praktiken den Stempel der anerkannten Wissenschaft erhielten, so daß der abgeschmackteste Aberglaube unter angeblich wissenschaftlichen Bezeichnungen einen unverhofften Aufschwung und große Verbreitung erfahren hat. Nachdem der Hypnotismus sich scheinbar vom Spiritismus getrennt hatte, nahm dieser, um sich ein respektables Aussehen zu geben, den Namen Psychismus an. Für die ernste Psychologie ist er darum nicht minder kompromittierend geblieben, ja er droht eine in jeder Hinsicht bedauerliche Verwirrung hervorzurufen. Es liegt mir fern, die Erscheinungen des Hypnotismus oder des Psychismus hier eingehend zu erörtern und ihre Täuschungen und Gefahren aufzudecken. Es fehlt mir zwar nicht an dem nötigen Material für eine derartige Darlegung: höchstens könnte die Überfülle an Dokumenten, die ich besitze, mir hinderlich werden. In der Tat nahm ich im Interesse der wissenschaftlichen Wahrheit mehrfach Gelegenheit, die Manipulationen von Spiritisten, die wegen ihrer Wundertaten einen Weltruf genossen, in der Öffentlichkeit oder in eigens eingesetzten Kommissionen zu entlarven. Da ich ferner dem Aufblühen des hypnotischen Aberglaubens in mehreren Pariser Kliniken nicht ohne Trauer beigewohnt hatte, so hatte ich Gelegenheit, diese Erscheinungen aus der Nähe zu studieren und die Täuschungen und oft kindlichen Betrügereien zu erkennen, auf denen sie gewöhnlich beruhten. Ich beschränke mich hier auf zwei bezeichnende Beispiele. Der erste Fall betrifft den berühmten D o u g l a s H o m e , den Erfinder des Tischrückens und Beschwörer der Klopfgeister, der im Anfang der zweiten Hälfte des letzten Jahrhunderts die Hauptstädte Europas durch seine Geschicklichkeit und die seltsamen Erscheinungen, die er hervorzubringen verstand, betörte. H o m e war in Wirklichkeit der Schöpfer und Bahnbrecher des heutigen Spiritismus in all seinen Spielarten. In Compiegne wie in Windsor und im Winterpalast regierte er den Geist der Herrscher, der Höflinge und der hohen Gesellschaft. Im Jahre 1853 schwoll die durch H o m e hervorgerufene Erregung in England derart an, daß dieser die englischen Gelehrten
208 herauszufordern wagte, an seinen Sitzungen teilzunehmen, die von ihm hervorgerufenen Erscheinungen zu prüfen und den Nachweis zu führen, daß sie durch das Spiel bekannter physischer Kräfte zustande kämen. Die E r r e g u n g ' wurde so stark, daß die englische Presse den berühmtesten Physiker der Zeit, F a r a d a y , fast einstimmig zur Annahme dieser Herausforderung zu bewegen suchte. Er lehnte es ab; aber nachdem er in seinem Laboratorium einige Experimente gemacht hatte, erklärte er in den „Times", daß H o m e nichts als ein geschickter Zauberkünstler sei und daß die Wunder des Tischrückens ganz einfach durch absichtliche oder unbewußte Bewegungen der auf dem Tische liegenden Hände hervorgerufen würden. 1 F a r a d a y s Erklärung erregte einen Sturm des Unwillens in der Presse. Heftige Angriffe, verleumderische Anschuldigungen wurden gegen den Gelehrten erheben, der mit Recht das höchste Ansehen in der wissenschaftlichen Welt genoß. Im Winter 1871 tauchte H o m e nach sehr langer Abwesenheit wieder in Petersburg auf, knüpfte dort seine alten Beziehungen von neuem an und wurde, dank der noch lebendigen Erinnerung an seine früheren Wunderleistungen, auch diesmal .das Orakel der vornehmen Welt. Seine mysteriösen Sitzungen im Winterpalais im Beisein des Zaren A l e x a n d e r II. bildeten den allgemeinen Gesprächsstoff und erregten ernste Besorgnis bei den wenigen russischen Patrioten, die in die hohe Politik eingeweiht waren. Ein Professor der Chemie von der Petersburger Universität, B o u t l e r o f f , der diesen Sitzungen beiwohnte, unterstützte H o m e s Herausforderung, indem er sich für die Wirklichkeit der unerklärlichen Erscheinungen verbürgte, die jener hervorgerufen zu haben behauptete. Diese Parteinahme verursachte Aufsehen und große Erregung in der gelehrten Welt. Gelegentlich einer Fakultätssitzung wurde B o u t l e r o f f deswegen heftig zur Rede gestellt. In der Hoffnung, diesen 1
Nachstehend der Auszug aus einem Privatbrief, den F a r a d a y damals in seiner Entrüstung an seinen Freund, Professor S c h ö n b e i n , richtete: »Wie abergläubisch, ungläubig, irreligiös, vermessen, feig und lächerlich ist unsere Welt, wenn es sich um den menschlichen Geist handelt! Welch ein Haufen von Widersprüchen und menschlicher Dummheit! Wenn ich den Durchschnittswert vieler mir begegnender Personen nehme, die ich für normal halte, so m u ß ich zugeben, daß ich den Hund in allem, was Gehorsam, Anhänglichkeit und Instinkt betrifft, vorziehe. . . Doch verraten Sie das keinem." Zitiert nach den psychographischen Studien über F a r a d a y von O s t w a l d in den „Annalen der Naturphilosophie", Bd. VIII, 1909.
Anhang zum dritten Kapitel
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peinlichen Zwischenfall zu beenden und auch unserm Kollegen die Augen zu öffnen, schlug ich vor, H o m e s Herausforderung anzunehmen, und erklärte mich bereit, alle Verantwortung zu tragen, falls einige Gelehrte sich mit mir zu einer Prüfungskommission zusammentun wollten. T s c h e b y s c h e f f , Professor der Mathematik und korrespondierendes Mitglied der Pariser Akademie, der Physikprofessor P e t r o u s c h e w s k i sowie der Professor O w s i a n i k o f f boten mir ihre Beihilfe an. Ferner zog ich den Dr. P e l i k a n , Direktor der Medizinalabteilung im Ministerium des Innern, zu unserer Kommission hinzu. Eine Vorverhandlung fand bei dem letzteren statt, um mit H o m e s Vertretern, dem Baron N i k o l a s M e y e n d o r f und A l e x a n d e r A k s a k o w , die Bedingungen für die Untersuchung der spiritistischen Erscheinungen festzustellen. H o m e bestand darauf, daß die Kommission nur aus acht Mitgliedern einschließlich seiner beiden Zeugen bestehen dürfte. Da B o u t l e r o f f schon als Anhänger des Spiritismus anzusehen war, so wären vier Spiritisten in der Kommission gewesen. Auch die anderen von ihm geforderten Bedingungen waren höchst bedenklich. Alle Anwesenden sollten sich um einen Tisch setzen und die Hände darauf legen; die Türen sollten geschlossen und die Sitzung durch keinen Zuruf von draußen gestört werden. Die Luft im Zimmer sollte kühl sein und die Temperatur 14° R nicht übersteigen. P e t r o u s c h e w s k i , der gegen die Anwesenheit von H o m e s Zeugen und gegen die von diesem gemachten Vorschriften protestierte, verließ uns; erst nach langer Diskussion brachte ich endlich eine Einigung zustande, nachdem ich das Recht ausgewirkt hatte, H o m e zu fesseln, falls die Art der Erscheinungen es erheischte. Nachfolgend das Protokoll der ersten Sitzung: Anwesend: die Herren P e l i k a n , Direktor der Medizinalabteilung; T s c h e b y s c h e f f , O w s i a n i k o f f und B o u t l e r o f f , Professoren an der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, C y o n , Professor an der Universität zu St. Petersburg, H o m e und seine Zeugen, A k s a k o w und Baron v o n M e y e n d o r f . Die Sitzung wurde eröffnet am 10. März 1871 912 Uhr abends in einem Saale des Physikalischen Laboratoriums der Universität zu St. Petersburg; die Temperatur des Raumes betrug 14 bis 15° R. In der Mitte desselben befand sich ein Tisch mit grüner Tuchdecke. Auf C y o n s Frage, ob der Stoff, aus dem der Tisch bestand, Einfluß auf die Entstehung der zu prüfenden Erscheinungen hätte, E.V. C y o n ,
Gott und Wissenschaft. Bd. 2.
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210 antwortete H o m e , daß der Stoff des Gegenstands ihn! völlig gleichgültig sei. Dann nahmen alle Anwesenden um den Experimentiertiseh Platz und die g r ü n e Tuchdecke wurde entfernt. Der Tisch bestand aus einer über 2 m langen u n d etwa 1 m breiten Glasplatte, die frei auf den vier Füßen des hölzernen Gestells ruhte. Darunter war ein weißes Tuch ausgebreitet. Auf dem Glastische standen zwei Leuchter, die den inneren Raum erleuchteten, sodaß die Füße aller Anwesenden sichtbar waren. Diese saßen in folgender Reihenfolge: H o m e saß zwischen T s c h e b y s c h e f f u n d C y o n , ihm gegenüber O w s i a n i k o f f , rechts und links von diesem P e l i k a n und B o u t l e r o f f ; A k s a k o w u n d M e y e n d o r f nahmen die beiden Tischenden ein. Auf H o w e s A u f f o r d e r u n g legten die Anwesenden ihre Hände auf die Tischplatte. W ä h r e n d der ganzen Sitzung haben sie alle Anweisungen H o m e s über die Lage ihrer H ä n d e , über die Notwendigkeit, ihre Aufmerksamkeit durch Gespräche, die dem Gegenstand fern lagen, zu zerstreuen, usw. befolgt. Fünfzehn bis zwanzig Minuten nach E r ö f f n u n g der Sitzung machte H o m e die Anwesenden auf ein sichtbares Beben des Tisches aufmerksam, das sich auch den Flammen der daraufstehenden Lichter mitteilte. C y o n erklärte dieses Beben durch das Zittern der auf den Tisch gelegten H ä n d e und behauptete, daß er selbst leichte Kontraktionen in den Muskeln der Mittelfinger und der kleinen Finger verspürte. H o m e ließ diese Erklärung nicht gelten; im Gegenteil betrachtete er dieses Beben als das Vorzeichen der bevorstehenden Erscheinungen. Nach Verlauf einiger Zeit hörte das Beben des Tisches auf, was H o m e zugab. Kurz darauf lenkte er die Aufmerksamkeit auf die Beschleunigung seines Pulses. Nach P e l i k a n s Z ä h l u n g zeigte sein Puls in der Tat 100 Schläge. Doch gleichzeitig trat auch bei mehreren der Anwesenden eine E r h ö h u n g der Pulsfrequenz ein. Der G r u n d war leicht einzusehen (die Temperatur hatte sich erhöht). P e l i k a n stellte bei C y o n ebenfalls eine Frequenz von 100 Schlägen, bei O w s i a n i k o f f eine von 95 Schlägen in der Minute fest. Dreißig bis vierzig Minuten darauf erklärte H o m e , einen Luftzug zu spüren, der nach ihm die gleiche Bedeutung wie das Beben des Tisches hatte. C y o n führte diesen Luftzug auf eine offene Ofenklappe zurück, die er einfach schloß.
A n h a n g z u m dritten Kapitel
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Hierauf behauptete H o m e , schwaches Klopfen im Tische zu hören; die anderen Anwesenden vernahmen nichts davon. Eine Stunde nach E r ö f f n u n g der Sitzung war keine Erscheinung eingetreten, weder am Tische, noch im Zimmer. H o m e riet nun, den Versuch zu machen, das Gewicht des Tisches durch den Willen der Anwesenden zu vergrößern. C y o n hängte den Tisch an einem Dynamometer aus dem physikalischen Kabinett auf, welche Art des W ä g e n s große Präzision besaß. Das Gewicht des Tisches mit den daraufliegenden H ä n d e n betrug ungefähr 65 P f u n d ; dieses Gewicht nahm trotz dem Willen H o m e s und der Anwesenden nicht zu. Eine andere entsprechende W ä g u n g , die B o u l t e r o f f veranstaltete, blieb gleichfalls erfolglos. Die Kommissare blieben noch bis 11H U h r um den Tisch sitzen, doch es trat keine der Erscheinungen ein, die bei derartigen Sitzungen f ü r gewöhnlich stattfinden sollen. Infolgedessen trennten sich die Anwesenden unter der Verabredung, daß die nächste Z u s a m m e n k u n f t am 11. März um 8 U h r abends stattfinden sollte. Alle Vorbereitungen f ü r die Sitzung waren auf Verlangen der Kommission von C y o n ausgeführt worden. Die Wahl des Lokals, die Beschaffenheit des Tisches und der Wägeinstrumente waren durch ihn bestimmt worden, so daß weder H o m e noch seine Zeugen etwas von den Einzelheiten der A n o r d n u n g wußten. Alle an den Saal, in dem die Sitzung stattfinden sollte, anstoßenden Zimmer waren am Morgen des 10. geschlossen und von C y o n , der die Schlüssel behielt, versiegelt worden. Dieses Protokoll wurde unterzeichnet von P e l i k a n , O w s i a n i k o f f , T s c h e b y s c h e f f , C y o n u n d Boutleroff. A k s a k o f f und M e y e n d o r f veröffentlichten dieses Protokoll ohne Ermächtigung der Kommission. Die E r r e g u n g , welche diese Veröffentlichung hervorrief, war groß und rief eine Preßpolemik hervor, die durch das Eingreifen einer s e h r h o h e n Persönlichkeit peinlich wurde. Als Mitglied der Kommission hielt ich es trotzdem f ü r notwendig, diesem Protokoll einige Erklärungen folgen zu lassen, die in der »Petersburger Z e i t u n g " erschienen. Ich gebe sie hier auszugsweise wieder. «Es war aus vielen G r ü n d e n wünschenswert, daß die von H o m e hervorgerufenen Erscheinungen der P r ü f u n g m a ß g e b e n d e r Persönlichkeiten unterworfen w u r d e n , die an wissenschaftliche Beobachtungen gewöhnt und imstande waren, neue Tatsachen zu unter14*
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suchen und zu erfassen. Jede Erscheinung, die au^ dem gewöhnlichen Rahmen herausfällt, ja im Widerspruch zu den physikalischen Oesetzen zu stehen scheint, muß die Aufmerksamkeit des Naturforschers erregen. Der bloße Verdacht, daß die fragliche Erscheinung das Produkt taschenspielerischer Geschicklichkeit sei, enthebt den Naturforscher nicht der Pflicht, sie zu prüfen. Indem dieser den Betrug enthüllt und verbreitete Irrtümer zerstört, fällt er nicht aus seiner Rolle, welche darin besteht, die wahren Ursachen der natürlichen oder künstlich hervorgerufenen Erscheinungen zu suchen. »Die Prüfung der Erscheinungen des Spiritismus hatte ferner das Oute für sich, daß sie die Erforschung der psychischen Faktoren ermöglichte, mit deren Hilfe die Scharlatane zu jeder Zeit das Publikum zu blenden wußten und selbst geistig hochstehenden Personen Vertrauen in ihre wunderbare Kraft einzuflößen vermochten. „ Die Kommission von Gelehrten, die H o m e so lebhaft gefordert hat, ist also in St. Petersburg zusammengetreten und hat ihm die Gelegenheit geboten, die Erscheinungen, die er hervorzurufen behauptet, einer strengen Prüfung zu unterziehen. »Nach dem Mißerfolge der ersten Sitzung hat die Kommission auf H o m e s ausdrücklichen Wunsch beschlossen, sich am 11. März abermals zu vereinen. Am Abend desselben Tages entschuldigte sich H o m e , wegen Krankheit nicht erscheinen zu können; am nächsten Tage bat er uns, die Sitzung auf den 14. März anzuberaumen; aber auch diesmal entschuldigte er sich mit plötzlicher Krankheit. Am 15. abends traf ich H o m e im Theater: er sah kerngesund aus, sagte mir aber, daß er keine Sitzung mehr abhalten könnte, da er fühlte, daß seine spiritistischen Fähigkeiten unter dem Einfluß des Wetters nachließen. Am 16. März reiste er plötzlich nach London ab. Wie man sieht, war die Niederlage vollkommen. „Im Verlaufe der Polemik, die nach Veröffentlichung des Protokolls entstand, bemühten sich H o m e s Zeugen, seinen Mißerfolg auf Rechnung des Olastisches zu setzen, der für die Kundgebung psychischer Kräfte ungünstig sei. Das trifft insofern zu, als ein Glastisch, der alles, was darunter geschieht, zu sehen gestattet, in der Tat wenig vorteilhaft ist für Kunstgriffe, die vor allem mit Hilfe der Füße geschehen müssen. Überdies hatte H o m e selbst zii Anfang erklärt, daß der Stoff, aus dem der Tisch bestand, ihm einerlei sei. . . Die Kommission bestimmte nichtsdestoweniger, bei
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der nächsten Sitzung einen Holztisch zu benutzen; doch H o m e zog es vor, zu verschwinden. «Was den Mißerfolg des Experiments der Vergrößerung des Tischgewichtes betrifft, so behauptete H o m e , daß die Aufhängung des Tisches am Dynamometer zu kompliziert sei; es war trotzdem die einzige Art zur Vermeidung von Irrtümern, die sicher vorgekommen wären, wenn man den Dynamometer in der Hand gehalten hätte. Kurz, alle Vorbeugungsmaßregeln gegen die gewöhnlichen Kunstgriffe verhinderten zugleich die Kundgebung der Erscheinungen, die hervorzubringen H o m e sich berühmte. Das genügt für den Nachweis, daß die fraglichen Erscheinungen in der Tat nur Taschenspielerkünste waren. »Angesichts dieses kläglichen Mißerfolges fragt man sich, wie H o m e dreißig Jahre lang ungestraft alle Welt täuschen konnte, wo es doch nur der einfachsten Vorsichtsmaßregel, einen Glastisch zu benutzen, bedurfte, um ihm jede Möglichkeit zur Wiederholung seiner Zauberkünste zu benehmen. »Die von den Spiritisten hervorgerufenen und von vertrauenswürdigen Zeugen bestätigten Erscheinungen beschränken sich darauf, daß man in einem fast stets mit einem grünen Tuche bedeckten Tische, an dem alle Teilnehmer sitzen, von Zeit zu Zeit schwache Schläge verspürt: die Anwesenden fühlen plötzliche Berührungen in Kniehöhe, die Damen fühlen sich am Rocke gezupft, der Tisch neigt sich zur Seite, erhebt sich ein wenig oder beginnt sich zu drehen. H o m e s komplizierteres Kunststück besteht darin, das Gewicht des Tisches, auf dem die Hände der Teilnehmer liegen, nach seinem Willen zu vergrößern oder zu verringern. Bei einiger Geschicklichkeit kann der erste beste diese Taschenspielerkunststücke wiederholen. Das Klopfen geschieht mit den Füßen, oder, was einfacher ist, durch den Druck eines in der Tasche verborgenen Apparates. Die Täuschung über den Herkunftsort der Klopftöne ist leicht erklärlich: Jedermann kennt die auf der Bühne hervorgerufenen Effekte, wenn man ein Echo oder eine ferne Stimme vortäuschen will. Die Berührungen der Kniee, das Zupfen an den Röcken und die Bewegungen des Tisches können durch unmerkliche Hand- und Fußbewegungen erzeugt werden, ohne irgend ein besonderes Werkzeug. Die Gewichtsveränderungen des Tisches entstehen aus der Erhöhung oder Verringerung des Druckes der daraufliegenden Hände oder daraus, daß der Tisch mit den Knieen ge-
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Leib, Seele u n d Geist
halten wird. Man kann sein Gewicht durch stärkeren Fingerdruck ohne Mühe beträchtlich vergrößern, ohne daß die Teilnehmer das Bewußtsein haben, daß die Spannung ihrer Finger zunimmt. . . »Damit aber diese Erscheinungen gelingen, muß die Aufmerksamkeit der Anwesenden durch irgendwelche Unterhaltungen und durch unnötige, irreführende Vorsichtsmaßregeln abgelenkt werden; und vor allem muß die Einbildungskraft der Teilnehmer durch Erzählungen von den Wundern des Spiritismus erregt werden, so daß die einfachsten Erscheinungen einen Schauder auslösen. Alle diese Eigenschaften besitzt H o m e in hohem Maße, und darin liegt seine Macht. Als Taschenspieler mittelmäßig, ist er ein feiner Psychologe. Er redet von den unmöglichsten Dingen mit solcher Sicherheit, er erzählt die angeblichen, von ihm vollbrachten Wunder so ohne jeden Anschein der Überredung, daß die Mißtrauischesten anfangs einen Verrückten und nicht einen Scharlatan vor sich zu haben glauben. Von seiner angeblichen Beschwörungskraft spricht H o m e nur ungern, als ob er sich einer solchen Schwäche schämte. »Wie weit die Kunstgriffe der Spiritisten zur Hervorrufung eines ganz besonderen Seelenzustandes beim Publikum gehen können, sodaß dieses die geschicktesten und gewöhnlichsten Taschenspielerkünste für Wunder ansieht, das haben die Brüder D a v e n p o r t , H o m e s Nebenbuhler im Spiritismus, gezeigt. Ihre Kunst beruhte auf der sehr einfachen Berechnung, daß ein Mensch, der zum ersten Male vor einer zahlreichen Menge öffentlich auftritt, naturgemäß sehr verlegen ist. Durch Besichtigung des geheimnisvollen Schrankes, des Fußbodens, durch Prüfung der Festigkeit des Strickes usw. verwirrt man ihn derart, daß er, um seine Verlegenheit loszuwerden, beim Fesseln der Zauberkünstler die Knoten macht, die diese ihm wie zufällig und ohne besondere Absicht angeben. Im Jahre 1867 hatte ich in Leipzig Gelegenheit, einen der D a v e n p o r t s zu fesseln. Ohne auf seine Angaben zu hören, schlang ich ihm einen laufenden Knoten um den Hals und befestigte den Strick, indem ich seine Hände und Füße fesselte, derart an dem Stuhle, daß er sich bei der geringsten Bewegung erdrosselt hätte. Totenbleich blieb D a v e n p o r t eine halbe Stunde lang unbeweglich in dem Schranke sitzen, bis sein Bruder kam und ihn befreite. »Weder H o m e s Niederlage noch die Erklärung seiner Kunstgriffe werden die Meinung seiner überzeugten Anhänger ändern. Doch ich hoffe, daß die, welche in spiritistischen Kreisen verkehren,
A n h a n g z u m dritten Kapitel
215
in meiner Erklärung H a n d h a b e n g e n u g finden werden, um die Taschenspieler zu entlarven. W e n n es auch schwer ist, jemanden vom Spiritismus zu heilen, so kann man doch verhindern, daß diese Ansteckung sich ausdehnt, indem man dem P u b l i k u m die nötigen Vorsichtsmaßregeln einschärft, die im Verkehr mit Spiritisten zu beachten sind. Deshalb erscheint es mir auch angebracht, noch ein paar W o r t e über die Maßregeln zu sagen, die f ü r die zweite geplante Sitzung H o r n e s getroffen wurden. Diesmal hatte ich mein anatomisches Amphitheater zum Schauplatz gewählt. Der Seziertisch, der f ü r die Experimente benutzt werden sollte, war aus Holz, jedoch so hoch, daß man die F ü ß e der Teilnehmer sehr gut beobachten konnte, auch wenn man sitzen blieb. H o m e hatte erklärt, es sei ihm gleich, o b die Hände, statt den Tisch selbst zu berühren, auf elastischen Kissen lägen, u n d so hatte ich f ü r die H ä n d e G u m m i blasen mit verborgenen Pfeifen anfertigen lassen. Der geringste Druck auf diese Blasen hätte ein furchtbares Pfeifen verursacht. « W e n n alle Teilnehmer an spiritistischen Sitzungen entsprechende Vorsichtsmaßregeln ergriffen, so kann man sicher sein, d a ß H o m e u n d seinesgleichen außerstande wären, die geringsten Kunstgriffe anzuwenden. Aber die wichtigste Vorsichtsmaßregel in solcher U m g e b u n g besteht darin, daß man niemandem traut, selbst den eignen Organen nicht. Das Vergnügen, sich über seine Mitmenschen lustig zu machen und sie aufs Glatteis zu führen, reicht oft hin, um zum Mitschuldigen des Spiritisten zu werden. Ferner darf man nicht vergessen, daß auch Leute, die es sonst ehrlich meinen, sobald sie blind an die W u n d e r des Spiritismus glauben, nicht davor zurückschrecken, dem Medium zu helfen, nur um die Zweifler zu überzeugen. Auch die Anwesenheit von Frauen trägt viel zum Gelingen solcher Sitzungen bei. W e n n die Spiritisten beider Geschlechter sich nicht mehr zusammenfänden, so würden diese Sitzungen bald ein Ende haben. » Z u m Schluß erlaube ich mir einen wohlmeinenden Rat an die Gläubigen des Spiritismus. Seit einiger Zeit haben die Medien die Gewohnheit, ,Memoiren' zu hinterlassen, in denen sie ihre Anhänger grausam verspotten u n d die sehr einfachen Mittel beschreiben, mit deren Hilfe sie die wunderbarsten Wirkungen hervorbrachten. D e r G e d a n k e , in den Memoiren eines H o m e auf die Nachwelt zu kommen, wird vielleicht hinreichen, um die Begeisterung einer großen Zahl von Neulingen abzukühlen."
216
Leib, Seele und Geist
Die Veröffentlichung des Protokolls und meiner Studie „Spiritismus und Wissenschaft" in den Petersburger Zeitungen rief in Rußland ein gewisses Aufsehen und in England, wo der Spiritismus in all seinen Spielarten die meisten Anhänger hat, große Erregung hervor. Die englische Presse griff mich heftig an. Einige Blätter, wie der »Standard", hatten die volle Tragweite von H o m e s Niederlage begriffen und erklärten, daß dieser sich zur Wiederherstellung seines Rufes der Prüfung einer Kommission von englischen Gelehrten unterwerfen müßte, um sich von den Anklagen C y o n s , der a thorn in the side of the spirits geworden sei, zu reinigen. Von allen Seiten bestürmt, ging H o m e darauf ein. Eine Kommission trat zusammen, unter deren Mitgliedern der Astronom H i g g i n s , der Chemiker C r o o k e s und, wie ich glaube, der berühmte Zoologe A l f r e d W a l a c e waren. Soviel ich weiß, erschien damals kein Protokoll; die Einzelheiten der Sitzung sind mir also unbekannt. Aber H i g g i n s erklärte sich in einem Brief an die „Times« außerstande, die seltsamen Erscheinungen, deren Zeuge er gewesen, zu erklären. C r o o k e s war bekanntlich der erste, der die Geisterphotographien einführte. A l f r e d W a l a c e , der evolutionistische Nebenbuhler D a r w i n s , war auch einer der eifrigsten Verbreiter des Spiritismus. In seinem Werke „Die Wunder und der moderne Spiritismus", in dem die Wundertaten H o m e s einen großen Platz einnehmen, übergeht W a l a c e die Niederlage dieses Mannes vor der wissenschaftlichen Kommission von St. Petersburg völlig. Auch auf die Sitzung in London im Jahre 1871 nimmt er keinerlei Bezug. Dagegen steht auf Seite 223 des Werkes die kühne Behauptung: „ H o m e s Leben war im weitesten Sinne öffentlich. Zwanzig Jahre lang war er der Prüfung und dem nie beruhigten Verdacht zahlloser Wißbegieriger ausgesetzt. Trotzdem wurde nie ein Nachweis von Betrug geführt und nie ein Stück irgend eines Apparates oder Mechanismus gefunden." 1 In den zahllosen spiritistischen Schriften, in denen ich heftig angegriffen wurde, hat man stets vermieden, die Einzelheiten unserer Sitzung zu erwähnen. Offenbar fürchtete man, die Aufmerksamkeit auf den Glastisch und die anderen, von mir erdachten Maßregeln 1
Französische Übersetzung, Paris, Librairie des Sciences psychologiques.
Anhang zum dritten Kapitel
217
zur Vereitlung eines Betruges der Medien zu lenken. In den „Incidents of my life" hat H o m e , wie man mir versichert, nie auf den ernstesten »Zwischenfall" seines Lebens Bezug genommen. Zwei Jahre darauf, 1873, erschien D o u g l a s H o m e wieder in. St. Petersburg. T s c h e b y s c h e f f traf ihn und schlug ihm vor, der Kommission die beiden Sitzungen zu gewähren, die er ihr schuldig geblieben war. H o m e nahm das Anerbieten mit Freuden an, aber unter der ausdrücklichen Bedingung, daß ich nicht dabei sein sollte. , - C y o n ist den Geistern antipathisch; sie werden in seiner Gegenwart nie erscheinen," erklärte er. Infolgedessen traten auch T s c h e b y s c h e f f und die übrigen Mitglieder der Kommission zurück. Diese lächerliche Ausflucht hinderte nicht, daß H o m e einen anderen Gelehrten, den Professor der Zoologie an der Petersburger Universität, W a g n e r , einen begeisterten Evolutionisten wie W a l a c e , zum Spiritismus bekehrte. Ich muß gestehen, daß ich nicht der erste war, der H o m e entlarvte. Gleich nach der Veröffentlichung meines Aufsatzes über die Sitzung vom 10. März 1871 ließ der General Graf F l e u r y , früherer Gesandter in Petersburg, mir durch Dr. P e l i k a n die Einzelheiten einer Sitzung in Compiegne mitteilen, wo es ihm gelungen war, H o m e in flagranti zu ertappen. Bei dieser Sitzung waren der Kaiser, die Kaiserin, die Fürstin M e t t e r n i c h und einige andere Intime des Hofes zugegen. An dem Tische saß H o m e rechts neben der Kaiserin und links von ihr N a p o l e o n III. Dem Grafen F l e u r y , der H o m e gegenüber saß, fiel es auf, mit welcher Beharrlichkeit dieser die Unterhaltung so zu leiten wußte, daß die Kaiserin sich beständig zum Kaiser wenden mußte, um ihm Fragen zu stellen. Da der General F l e u r y einen Taschenspielertrick vermutete, so bat er um Erlaubnis, hinausgehen zu dürfen; er entfernte sich durch die Tür rechts von dem Tische, kehrte aber unvermerkt durch eine andere Tür zurück, die sich hinter H o m e befand. Da sah er, wie dieser einen Augenblick die Sohle seines rechten Fußes öffnete und seinen bloßen Fuß ein paar Augenblicke auf dem Marmorfußboden stehen ließ, um dann plötzlich mit rascher, außerordentlich behender Bewegung, die Hand der Kaiserin mit den Fußzehen zu berühren. Diese fuhr empor und rief: »Eine tote Kinderhand hat mich berührt!" Da trat der General F l e u r y vor und enthüllte, was er gesehen. Am folgenden Tage wurde H o m e
218
Leib, Seele und Geist
von zwei Polizisten in Calais zu Schiffe gebracht, mit der W e i s u n g , das G e s c h e h n i s geheim zu halten. 1 Zufällig traf ich H o m e
1 8 7 6 in einer Pension in Ciarens, wo
ich dank der Bosheit einer mit ihm befreundeten Amerikanerin sein T i s c h n a c h b a r wurde. er mich nicht und
Trotz seiner übernatürlichen Macht
richtete
ein
paar nichtssagende W o r t e an mich.
Als seine Freundin nach Tisch meinen Namen in O h n m a c h t und beklagte sich,
erkannte
daß
sie ihm
nannte,
fiel er
fast
seinen H schlimmsten
Feind, der ihn öffentlich zu entehren versucht hätte", vorgestellt habe. Sieben
oder
acht J a h r e
später starb H o m e
in völliger
Ver-
gessenheit. Kurzum,
die aufsehenerregende
des Schöpfers
Aufdeckung
der spiritistischen Praktiken
daß der Spiritismus
seine Verheerungen
der
Betrügereien
hat es nicht verhindert, bis
in die
Gelehrtenwelt
ausdehnte und sich Anhänger von der wissenschaftlichen Bedeutung eines C r o o k e s Da
ist
und W a l a c e
es
denn
gewann.
nicht zu verwundern,
wenn
die
berühmten
Sitzungen, in denen so viele Berufsgelehrte Frankreichs und Italiens sich
durch
ein gewöhnliches Medium wie E u s a p i a P a l a d i n o
trügen ließen,
be-
ohne ihre Kunstgriffe zu enthüllen, zur Verbreitung
des spiritistischen Aberglaubens
in den
Kreisen
ja selbst unter den
Universitätsprofessoren
beigetragen
Und
haben!
doch
der Intellektuellen,
und Akademikern,
hätte es genügt,
ein einziges
viel Mal
einen Glastisch zu benutzeil, um E u s a p i a s Macht zu brechen.
§ 2.
Spiritismus und Religion.
Es ist für den psychologischen U r s p r u n g des Spiritismus nicht belanglos, auf die eigenartige Tatsache hinzuweisen, tistische Aberwitz
namentlich
daß der spiri-
in protestantischen Ländern
und teils
auch in den höheren Schichten des orthodoxen Rußland gedeiht. Leipzig und
London
und
neuerdings
auch
Genf,
besonders
dessen theosophische Kreise, sind die Hauptzentren der spiritistischen 1 Man machte mich auf eine Darstellung dieses Vorfalls von Seiten der Fürstin M e t t e r n i c h aufmerksam, die vor einigen Jahren in einer kleinen Wiener Wochenschrift „Die W o c h e " erschien. Die Fürstin wohnte der Sitzung in Compiegne bei, ihre Darstellung deckt sich, mit Ausnahme unwichtiger Einzelheiten, mit der, welche mir der General F l e u r y gab.
A n h a n g zum dritten Kapitel
219
Propaganda in Europa. Auch in Nordamerika sind es die protestantischen Staaten, wie z. B. Chicago, welche die meisten Anhänger H o m e s zählen. In dem oben zitierten Werke beziffert A l f r e d W a l a c e die Spiritisten Amerikas auf neun Millionen und die Englands auf drei Millionen. Seit der Veröffentlichung seines Werkes hat die spiritistische Ansteckung solche Verheerungen in diesen Ländern angerichtet, daß die Berechnung von W a l a c e der Wirklichkeit sehr wohl entsprechen kann, besonders wenn man in diese Oesamtzahl der Spiritisten alle die einbegreift, die unter verschiedenen Bezeichnungen, wie Psychisten, Metapsychologen, Myersschüler oder bloß Psychologen, ihre spiritistischen Verirrungen sowie ihren inbrünstigen Glauben an die übernatürlichen Fähigkeiten der Medien und an die Wirklichkeit der von diesen mehr oder minder absichtlich hervorgerufenen Erscheinungen verbergen. Die katholischen Länder sind von der spiritistischen Ansteckung fast völlig unberührt geblieben; unter den gläubigen und nach den Geboten ihres Glaubens lebenden Katholiken findet man keine Spiritisten. Die Gründe für diese Immunität sind zu verwickelt, um hier eingehend erörtert zu werden. Trotzdem sind einige von ihnen leicht zu erkennen. Sie sind von großer psychologischer Tragweite. Der katholische Kult befriedigt die Bedürfnisse des Mystizismus und des Glaubens an das Übernatürliche, die jedem phantasievollen Menschen eingeboren sind, durch Mittel, die den religiösen Glauben zu erheben und zu befestigen vermögen und die die Gläubigen vor den stets lächerlichen und oft grotesken Praktiken bewahren, welche die Medien und ihre Adepten benutzen. Die katholischen Frauen und vor allem die jungen Mädchen finden in den zahlreichen Kultübungen und in den verschiedenen frommen Werken eine Beschäftigung, die sie vor dem Müßiggang bewahrt. Sie besitzen ferner in ihren Beichtvätern wertvolle Ratgeber, deren Einfluß genügt, um sie vor den spiritistischen Verirrungen zu bewahren, die übrigens von der Kirche streng verurteilt werden. Die Auffassung, daß der menschliche Geist eine Ausströmung des Heiligen Geistes ist, den die Katholiken anbeten, schließt bereits die Annahme der Möglichkeit aus, daß die beschworenen Geister ihre Zeit unter Tischen oder in anderen ungenügend beleuchteten Gegenständen verbringen, daß sie die naiven Teilnehmer in die Kniee zwicken, Klopftöne hervorbringen oder
220
Leib, Seele und Geist
Albernheiten erzählen, die stumpfsinniger sind, als 'das dümmste Kindergewäsch. Die katholischen jungen Mädchen, die sich durch inneren Beruf oder mystische Strebungen zur Ehelosigkeit bewogen fühlen, finden ein Obdach in den Klöstern, wo edle Wirksamkeit und zahlreiche Gegenstände hoher Kontemplation, wie die Anbetung der Heiligen Jungfrau und des Herzens Jesu ihre mystischen Bedürfnisse in weitem Maße befriedigen. Der protestantische Kultus mit seinem kalten Formalismus, der Nüchternheit seiner Zeremonien und der Trockenheit seiner Lehre, bietet der hochgespannten Einbildungskraft wenig Anregung. Und so stellen denn auch die alten Jungfern und die kinderlosen Witwen dem Spiritismus die meisten Anhänger in den protestantischen Ländern. Vor etwa dreißig Jahren fiel mein Augenmerk zuerst auf die Immunität der Katholiken gegen den spiritistischen Aberglauben. Es war im Jahre 1882, als die Agitation gegen die Vivisektion in England und Deutschland, speziell in Sachsen, in voller Blüte stand. Damals forderte mich der Herausgeber der großen englischen Zeitschrift »The Contemporary Review" zum Eingreifen in den heftigen, damals in der Presse, in den öffentlichen Versammlungen und im Parlamente entbrannten Kampf der Gegner der Vivisektion gegen Physiologie und Physiologen auf. Ich nahm dieses Anerbieten um so freudiger an, als mein erst kürzlich erschienenes Werk: »Die Methodik der physiologischen Experimente und Vivisektionen", ein dickes Buch mit einem Atlas von fünfzig künstlerisch ausgeführten Tafeln, 1 den kriegslustigen Gegnern der Vivisektion als Hauptwaffe diente. Riesige Plakate mit angeblichen Abbildungen aus diesem Tafelwerke erschienen zunächst in verschiedenen illustrierten Zeitschriften und wurden danach in Hunderttausenden von Exemplaren an den öffentlichen Anschlagssäulen, in den Bahnhöfen, in allen Winkeln des Landes verbreitet. Der Titel dieses Plakats lautete: «The horrors of vivisection». Und unter den Abbildungen stand: «These engravings are reproduäions from Cyons cekbrated work ». Auf diesem Plakat befand sich in der Tat ein Dutzend Abbildungen aus meinem Atlas, Darstellungen der gebräuchlichsten Instrumente für Vivisektionen, anatomische Bilder der Lage der 1
Das Buch erschien 1876 in deutscher Sprache in Gießen bei Karl Ricker und in St. Petersburg.
Anhang zum dritten Kapitel
221
Drüsen, der Nerven des Herzens usw. bei den verschiedenen Tieren. Alle diese anatomischen Zeichnungen waren natürlich nach Tierl e i c h e n gemacht; überdies bot ihr Anblick nichts Furchtbares noch auch nur Peinliches. Dagegen standen über diesen Darstellungen wahrhaft widerliche Aufschriften, die von den Verbreitern f r e i erf u n d e n und meinem Werke zur Last gelegt waren. Das »Clou" des Plakats aber war der Gipfel der Geschmacklosigkeit. Am unteren Teil befand sich eine riesige Zeichnung, betitelt: The mute appeal of the poor monkey» (Der stumme Ruf des armen Affen); diese stellte einen auf den Seziertisch festgebundenen Affen dar, dessen Augen gen Himmel blickten und dessen Hände wie zum Gebet gefaltet waren! Um den Affen stand der Professor mit seinen Studenten, alle mit den Galgengesichtern englischer Verbrecher ausgestattet. Sie hielten Folterinstrumente in den Händen und krümmten sich vor Lachen. Die ganze Zeichnung war selbstredend frei erfunden; nichts dergleichen befand sich in meinem Atlas; außerdem hatte ich bis dahin noch nie an Affen operiert. Bei dieser Gelegenheit sah ich mir die Hunderte von Broschüren und Petitionen und die Bände der Parlamentsenquete etwas genauer an, und mir fiel die merkwürdige Tatsache auf, daß unter den Urhebern dieses Feldzuges sich viele bekannte Spiritisten befanden, von denen mich schon mehrere ein paar Jahre zuvor mit ihren Angriffen beehrt hatten, als ich die Kniffe des Spiritisten H o m e enthüllte. Ein noch lehrreicheres Zusammentreffen war dies, daß der geistige Leiter dieses Bundes der Spiritisten und Gegner der Vivisektion kein anderer war, als der Professor Z ö l l n e r aus Leipzig, mein alter Lehrer in der höheren Mathematik, 1 ein Gelehrter von wirklicher Bedeutung, also ein hervorragender Geist, der aber infolge zahlreicher Sitzungen mit dem Medium S1 a d e wahnsinnig wurde. Dieser S l a d e hatte ihn mit Hilfe einiger Bindfadenknoten (ähnlich denen, welche die Brüder D a v e n p o r t benützten) vom Vorhandensein der vierten Dimension überzeugt! 2 Z ö l l n e r s Buch war voll von zusammenhangsloser Abschweifungen über S l a d e s übernatürliche Macht, über die vierte Dimen1 2
Siehe weiter oben, Kap. II, § 7.
Übrigens war Z ö l l n e r mit erblicher Anlage zum Wahnsinn belastet. Bei einem Besuche in der Klinik der Berliner Charité machte mich Professor W e s t p h a l auf einen Bruder Z ö l l n e r s aufmerksam, der dort interniert war.
222
Leib, Seele und Geist
sion, über die Nichteuklidische Geometrie, über die 'Schönheit der Kantischen Philosophie usw., und es wimmelte von groben Anwürfen gegen seine alten Freunde, wie K a r l L u d w i g und mich, und zwar wegen meiner Experimentalforschungen über das Ohrlabyrinth, die er noch vor ein paar Jahren in L u d w i g s Laboratorium in Leipzig mit lebhaftem Interesse verfolgt hatte. Dieses Buch war die erste Kundgebung seines Wahnsinns. Ihm folgte eine noch heftigere Schmähschrift gegen mich, die er an den Reichstag gerichtet hatte; darin behauptete er, daß der nächste, der ein Attentat auf Kaiser W i l h e l m I. verübte, aus einem physiologischen Laboratorium hervorgehen würde! Diese Schmähschrift bildete das Entzücken der spiritistischen Kreise in Leipzig und England. War ich im Jahre 1871 «a thorn in the side of the spirits» gewesen, so ergab sich von selbst, daß ich im Jahre 1882 die Zielscheibe der Gegner der Vivisektion in den gleichen Ländern wurde. Übrigens blieb mir der falsche Ruf der Grausamkeit gegen die Tiere in denselben Kreisen aller anderen Länder, in denen sich der antivivisektionistische Wahn seitdem verbreitet hatte. Dieses seltsame Bündnis zwischen Spiritisten und Gegnern der Vivisektion erklärte mir indessen die eigentümliche Tatsache, daß die katholischen Länder, wie Frankreich, Italien und Spanien von beiden Geistesepidemien gleich verschont geblieben sind. Wie ich schon in einer Studie in der „Contemporary Review" hervorgehoben hatte, rekrutierten sich die Anhänger des Spiritismus fast durchweg aus Freidenkern und Atheisten. Ich gestattete mir sogar die Voraussage, daß, wenn die Bewegung gegen die Vivisektion in Frankreich je Wurzel schlüge, dies in den gleichen Kreisen geschehen müßte. Als Professor C o r n i 1 im folgenden Jahre eine Übersetzung meines Aufsatzes aus der „Contemporary Review" über die antivivisektionistische Bewegung in seinem » Journal de Médecine" veröffentlichte, konnte ich zu meiner Genugtuung in einer Fußnote feststellen, daß meine Vorhersage eingetroffen war. Die Liga der Vivisektionsgegner, die sich in Paris bildete, hatte zum Präsidenten C l o v i s H u g u e s und zählte unter ihre Ehrenmitglieder S c h o e l c h e r , A u r é l i e n S c h o l l , M a r i a D e r a i s m e , L o u i s e M i c h e l u. a. m. Erst kürzlich fand meine vor dreißig Jahren gemachte Vorhersage eine noch viel schlagendere Bestätigung. Sie ist von großer Bedeutung für die uns beschäftigende Frage, weil sie den psychologischen Ursprung aller dieser geistigen Verirrungen auf das Sinn-
A n h a n g z u m dritten Kapitel
223
fältigste dartut. Ebenso beweist sie, wie richtig meine Erklärung der Immunität der Katholiken gegen den Spiritismus war. Zwei kürzlich verstorbene, berühmte Philosophen, die beide von der Naturwissenschaft ausgegangen, beide anerkannte Materialisten waren, und zwar L o m b r o s o , ein Schüler von M o l e s c h o t t u n d B e g r ü n d e r der Kriminalanthropologie, sowie W i l l i a m J a m e s , ein pluralistischer Materialist unter der Maske des Pragmatikers, hatten sich vor ihrem T o d e öffentlich zum Spiritismus bekannt. Diese gelehrten Naturforscher, die ihr Leben lang die These von der Stofflichkeit der Seele vertreten u n d den Geist f ü r ein bloßes P r o dukt der Tätigkeit der Hirnganglien erklärt hatten, — diese Philos o p h e n , die aus ihrer Verachtung f ü r jede Offenbarungsreligion, ja selbst f ü r den Spiritualismus nie ein Hehl gemacht hatten, gaben ihren Freunden vor ihrem T o d e das feierliche Versprechen, daß ihre Geister zu einer bestimmten Zeit auferstehen u n d ihnen die Geheimnisse des Jenseits offenbaren w ü r d e n ! Ja, L o m b r o s o hat sogar die Person bezeichnet, durch deren Vermittlung er diese sensationellen Enthüllungen machen w ü r d e : es war das berüchtigte Medium E u s a p i a P a l a d i n o , das dank diesem Verteidiger des Verbrechertums seit Jahrzehnten zur wahren Gottheit der Spiritisten geworden ist. In dieser Hinsicht ist es nicht belanglos, an eine andere, diesmal wahre Enthüllung zu erinnern, nämlich die, woher diese Gottheit ihre Kenntnisse von den Mysterien der anderen Welt hatte. Sie war mit f ü n f z e h n Jahren Kindermädchen bei dem berüchtigten A k s a k o f f , dem D a l a i l a m a der Spiritisten gewesen, der bei der oben erzählten berühmten Sitzung in Petersburg einer der Zeugen von H o m e war! Übrigens sei erwähnt, daß ich in dem Augenblick, wo der Tisch auf H o m e s Geheiß leichter werden sollte, A k s a k o f f dabei ertappte, wie er mit seinen Fingern die Tischplatte von unten hob, als sie dem Befehle von H o m e nicht Folge leistete. In der Schule dieses A k s a k o f f hat die kleine neapolitanische Dienstmagd gelernt, Naturforscher und Philosophen zum besten zu haben! § 3.
Eine hypnotische Sitzung in Moskau.
Trotz scheinbarer Unterschiede beruhen Spiritismus und H y p n o tismus auf dem gleichen psychologischen Prinzip, der Suggestion, einem Prinzip, das so alt ist wie die Welt, da Eva es ja zuerst angewandt hat. Es ist stets die gleiche Geschichte: die Schlechtesten
224 und Durchtriebensten, wo nicht die Klügsten, suggestionieren die Naiven und Leichtgläubigen mit Hilfe mannigfacher Kunstgriffe. Im Anfang der Bewegung, als der Hypnotismus in einigen Kliniken Einlaß fand, waren die Ärzte meist nicht die Hypnotiseure der Kranken, sondern die Kranken hatten die Ärzte zum besten. Ich will hier nicht auf die peinlichen Vorfälle eingehen, die sich bei der Entstehung des medizinischen Hypnotismus ereigneten. Ich will n u r von einer merkwürdigen hypnotischen Sitzung berichten, die in Moskau vor einer Versammlung von Ärzten und Universitätsprofessoren stattfand. Der Hypnotiseur war ein gewisser F . . . ., der im Winter 1 8 8 6 / 8 7 durch seine angeblichen W u n d e r kuren g r o ß e s Aufsehen in jener Stadt erregte. Mein F r e u n d , der berühmte Publizist K a t k o f f , g a b mir die Einladung zu dieser Sitzung, über die ich am folgenden Tage in der „Moskauer Zeitung" folgendes berichtete: „Gestern abend fand im polytechnischen Museum in Gegenwart von Universitätsprofessoren, Ärzten u n d Vertretern der Presse eine Sitzung statt, in deren Verlauf H e r r F verschiedene hypnotische und mentevistische (?) Experimente ausführen und eine Kranke heilen sollte, die auf einem Auge völlig erblindet u n d auf dem anderen farbenblind war. „Bei E r ö f f n u n g der Sitzung erklärte der Präsident, daß eine Kommission von fünf Mitgliedern, die zum Studium der von Herrn F hervorgerufenen Erscheinungen eingesetzt war, ihren Auftrag gewissenhaft erfüllt hätte. D a n n stellte er den Hypnotiseur der Gesellschaft vor u n d drückte sein Bedauern aus, daß mehrere G e lehrte der Einladung nicht gefolgt wären. „Herr F , ein Mann von etwa 35 Jahren, mit ausdruckslosem Gesicht, trägt eine Brille mit dunklen Gläsern, die seine Augen völlig verbergen. Bekanntlich spielt der Blick eine große Rolle bei der H e r v o r r u f u n g der sogenannten hypnotischen Erscheinungen, u n d so überraschte es mich, daß er diese Brille trug. „Die Kranke,
deren
Heilung
uns versprochen war,
erschien
nicht. Aber F erklärte unerschütterlich, sie würde am nächsten Freitag vor 7 U h r abends geheilt sein. Hierauf erklärte er, am vorhergehenden Tage einem Studenten suggeriert zu haben, daß er um 7*/ 4 U h r nach dem Polytechnischen Museum gehen, dort nach dem Dr. P fragen und ihn bitten sollte, ihn in den Saal zu führen, wo die Versammlung stattfand. O W u n d e r ! U m 7 x / 4 U h r
A n h a n g z u m dritten Kapitel
225
erscheint der Student wirklich und wird in den Saal geführt. selben
Studenten
hatte
F
suggeriert,
sich
eine
Dem-
Stunde
nach
seiner Ankunft bei ihm vorzustellen, ihn bei der Hand zu nehmen, ihn zum Professor Ch
zu führen und den letzteren zu fragen,
welche Bewandtnis es mit dem Hypnotismus habe.
Die festgesetzte
Zeit war bereits um eine Viertelstunde überschritten und der Student, der sich in ein Gespräch mit seinen Nachbarn vertieft hatte, mußte die Suggestion
wohl vergessen haben.
Da wiederholte F
das
bekannte Wunder Mohammeds, der den Berg nicht zwingen konnte, zu ihm zu kommen: er ging selbst hin und holte den Studenten, nahm ihn bei der Hand und ließ ihn
neben
sich auf der
Bank
Platz nehmen. »Einige Minuten darauf verließ der Student in Begleitung von F
die Bank, trat auf den Professor Ch
zu und sagte ihm
den Satz, der ihm am Vorabend suggeriert war.
Danach ließ F
den Studenten in einem Lehnstuhle Platz nehmen, und nun begann die eigentliche Sitzung, die über eine Stunde währte. wovon?
W i r wären in Verlegenheit, es zu sagen.
Eine Sitzung
Da wir der Zu-
sammenkunft nur als einfache Vertreter der Presse beiwohnten,
so
können wir nichts tun, als getreu zu berichten, was wir sahen und welchen Eindruck wir hatten.
Und dieser Eindruck war der,
die ganze Sitzung nur den Zweck hatte, dem Studenten beizubringen.
daß
Gehorsam
Insofern war der Erfolg glänzend, und obwohl wir
den schneidigen Ton mißbilligten, in dem der Erzieher F
seine
Befehle gab, so müssen wir doch gestehen, daß der Student pünktlich gehorchte. „Sie schlafen.
Sagen Sie, daß Sie schlafen!
Hören S i e ?
Sagen
Sie, daß Sie schlafen!" schrie ihn F . . . . an. —— » Ich schlafe", wiederholte der Student. — den linken!
»Heben Sie den rechten Arm und senken Sie
Hören S i e ?
Führen Sie sofort meinen
Und der Student gehorchte.
Befehl
aus!"
Die Professoren, die Ärzte, die Ver-
treter der Presse, besonders die ersteren, gerieten angesichts dieses Wunders in Ekstase. » W i r wollen
hier
nicht
alle Befehle
des F
wiederholen,
denen der Hypnotisierte in einer Weise gehorchte, die alle Studentenaufseher mit Neid erfüllen könnte. würdige, seien hier erwähnt:
Nur einige,
»Wie heißen S i e ?
Ich befehle Ihnen, Sie heißen S t e p a n o f f alt!
Verstehen Sie mich? E. v. C y o n ,
besonders
und Sie sind fünf Jahre
Sie heißen S t e p a n o f f
Gott und Wissenschaft.
Bd. 2.
merk-
Wie alt sind S i e ? und sind fünf
226
Leib, Seele und Geist
Jahre alt!" — „Ich bin fünf Jahre alt und heiße S t e p a n o f f " , stammelt der Student. — »Spielen Sie mit dieser Puppe (er gibt ihm einen Bleistift). Verstehen Sie? Dies ist eine Puppe!" — »Ja, es ist eine Puppe!" — »Lachen Sie!" — Der Student lächelt. »Weinen Sie!" — Der Student macht eine traurige Miene. Ein Wunder! »Sie sind neun Jahre alt und können schreiben. Schreiben Sie Ihren Namen in großen Buchstaben!" Der Student schreibt. »Jetzt sind Sie zwanzig Jahre alt. Schreiben Sie Ihren Namen". Es geschieht. »Jetzt sind Sie sechzig Jahre alt; Ihre Hände zittern. Schreiben Sie Ihren Namen". Die Hände des Studenten beginnen zu zittern und er schreibt seinen Namen. »Sie sind hundert, hundertundzwanzig Jahre alt. Schreiben Sie Ihren Namen". Der Student schreibt wiederum seinen Namen, und alle Anwesenden, Professoren, Ärzte, Vertreter der Presse, erkennen sofort die Handschrift eines Greises von hundert, dann von hundertundzwanzig Jahren und geraten in Ekstase ob der wunderbaren Macht von F »Sie frieren, Sie zittern, schlagen Sie doch Ihren Kragen hoch!" Der Student schlägt seinen Kragen hoch und sagt, daß er friere. »Sie sind in einem Oarten; neben Ihnen blühen Blumen, Rosen. Riechen Sie an einer Rose. Sagen Sie, dies ist eine Rose!" schreit F , indem er ihm ein Salmiakfläschchen unter die Nase hält. Der Student riecht, schneidet ein Gesicht und zeigt sich zum erstenmal ungehorsam. „Dies ist Alkohol", sagt er, und niest heftig. » F . . . . läßt ihm seinen Willen und reicht ihm ein Stück Zitrone. »Dies ist ein Apfel. Ist er nicht gut? Sagen Sie, dies ist ein Apfel. Essen Sie ihn!" Der Student beginnt die Zitrone zu kauen und speit sie sofort wieder aus; er ist in Worten folgsamer als in Taten. »Von einem der Anwesenden aufgefordert, befiehlt F nun der Versuchsperson, den griechischen Vers herzusagen, den er ihr am gestrigen Tage suggeriert hatte. Diesmal weigert sich der Student hartnäckig, den Befehl auszuführen, sei es aus Mißachtung der klassischen Studien, sei es, weil er die Poesie nicht liebt. Umsonst hält F den Magneten auf den Schädelteil, in dem nach seiner Meinung der griechische Vers stecken mußte. Dann sagte er den Vers laut und langsam her, und oh Wunder! der Student betet die Worte schlecht und recht nach. »Aufgefordert, einen georgischen Satz zu wiederholen, ver-
Anhang zum dritten Kapitel
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weigert der Student völlig den Gehorsam, trotz der Auflegung des Magneten auf seinen Hinterkopf, in dem sich jedenfalls das Fach für die orientalischen Sprachen befindet, und trotz der klugen Vorsicht von F , der den Satz selbst laut vorgesagt hat. Besser gelang der Versuch beim Armenischen: auf F 's Geheiß stammelte der Student etwas, das mir wie reines Volapük vorkam, aber nach der Behauptung des geschickten Lehrers der Dialekt der verschlagenen Bewohner Kleinasiens war. „Danach befahl F dem Studenten noch, ihn vom Stuhle zu stoßen und sich selbst darauf zu setzen, was der Student mit sichtlichem Vergnügen tat. »Und nun erwachen Sie und behalten Sie keine Spur mehr von dieser Sitzung", sagte F zum Schlüsse. „Tragen Sie mir nichts nach, und wenn Sie mir begegnen, schlagen Sie mich nicht!" „Der Student stand auf, „ohne eine Spur zu behalten", und was noch erstaunlicher war, ohne jemanden zu schlagen. Er ging ganz ruhig auf seine Bekannten zu, und nun steckte er sich aus eigner Initiative eine Zigarette an und trank eine Tasse Tee." Man ersieht aus dieser Wiedergabe, wie leicht es für den ersten besten Possenreißer, der sich Hypnotiseur nannte, war, eine Versammlung von Gelehrten mit Hilfe kindlicher Betrügereien anzuführen, die noch alberner waren, als die gewöhnlichen Praktiken der berufsmäßigen Medien. Dank seiner Erfolge konnte F in ganz Rußland auftreten, überall Sitzungen abhalten und sogenannte Wunderkuren vornehmen. In mehreren Fällen mußten die Behörden einschreiten und die Sitzungen verbieten, da während der Vorführungen mehrere Ausbrüche von Wahnsinn erfolgt wafen. Diese Zwischenfälle hinderten den Mann aber nicht, seine Wunderkuren in Amerika fortzusetzen und dort, trotz mehrerer Todesfälle, sich den Ruf eines alle Krankheiten heilenden Hypnotiseurs zu erwerben. Im Winter 1892/93 lud mich Dr. E r n s t H a r t , damals Herausgeber des „British Médical Journal" ein, als Zeuge einer Reihe von hypnotischen Experimenten über die bekannten Versuchspersonen der Pariser Kliniken beizuwohnen. Anwesend waren L o u i s O l i v i e r , der berühmte Begründer der „Revue générale des Sciences", der Oberst R o c h a s und mehrere Ärzte. Gelegentlich dieser Sitzungen schrieb Dr. H a r t in seiner Zeitschrift eine Reihe von Aufsätzen, betitelt «The new Mesmerism», die in England, ja selbst 15*
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Leib, Seele und Geist
in den Vereinigten Staaten, großes Aufsehen erregten. Ich gab ihm auf seinen Wunsch folgende Bestätigung, die er veröffentlichte: „Ich bescheinige, daß die Experimente, denen ich beiwohnte, genau so stattfanden, wie Sie sie beschrieben haben. Die von Ihnen angewandten Methoden zur Aufdeckung der Betrügereien der Versuchspersonen, vor allem die Vertauschung der Puppen und die Ersetzung des Magneten und Wassergläser durch andere sind so einfach, daß man sich schwer vorstellen kann, wie die Ärzte, welche sich zu Aposteln dieses neuen Schwindels aufwerfen, in gutem Glauben handeln. Ich selbst habe mehrere Experimente nach der Art des Dr. L u y s vorgenommen und stets ohne Mühe die dabei benutzten Kunstgriffe aufgedeckt. Durch sie lassen sich nur d i e täuschen, die getäuscht sein wollen. Getäuschte oder Mitschuldige — dies scheint die Alternative für die Anhänger dieser Lehren zu sein, welche die Medizin nur in Mißkredit bringen und um Jahrhunderte zurückwerfen k ö n n e n . . . Ich bin vollkommen Ihrer Meinung über die Moralität der Personen, die sich zu diesen Fastnachtsscherzen hergeben" usw. Durch den Erfolg ermutigt, unternahm Dr. H a r t eine Reihe von Vorträgen in Chicago während der Weltausstellung zum Zweck der Bekämpfung des Spiritismus und Hypnotismus. Das sollte ihm übel bekommen, denn während einer Sitzung, wo er die Kunstgriffe und Betrügereien der Medien und der Hypnotiseure aufdeckte, wäre er von einem Auditorium fanatischer Spiritisten fast in Stücke gerissen worden. Mundus vult decipi!
Schlußbetrachtungen.1
Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft. Als ich im Begriffe stand, meine Rundfrage: „Wie vertragen sich die christlichen Religionen mit der modernen Wissenschaft?" 1 Die Rückkehr zu Gott durch die Wissenschaft sollte das vierte Kapitel dieses Bandes bilden. Ein schweres Leiden, das mich sieben Monate ans Bett gefesselt hat, zwingt mich, nur diese Schlußbetrachtungen hier zu veröffentlichen.
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zu veranstalten, zweifelte ich nicht an deren Ergebnis. Im Verlauf meiner Studien an verschiedenen deutschen, französischen und österreichischen Universitäten um die Mitte des verflossenen Jahrhunderts hatte ich rasch die Ü b e r z e u g u n g erlangt, daß der Atheismus, — der in Rußland unter dem Deckmantel des freien Denkens die höheren Schulen u n d die Universitäten, und zwar sowohl die Lehrkörper wie die Studenten in Bann schlug — hier beinahe unbekannt war oder doch nur in gewisse isolierte und beschränkte Kreise eindrang. Es war zu der Zeit, wo D a r w i n s „ U r s p r u n g der Arten" auf dem Kontinent Eingang fand. Die gelehrte Welt, die Interesse f ü r dieses Werk zeigte, sah damals ebensowenig, wie der Verfasser selbst, die ganze Tragweite dieses Werkes f ü r die philosophischen und religiösen Anschauungen voraus. Erst seit der Verbreitung dieser Lehre durch M o l e s c h o t t , B ü c h n e r und K a r l V o g t ergab sich als unvermeidliche Folge der transformistischen Entwicklungslehre der grobe Materialismus, besonders bei dem großen Publikum, dem jede Geisteskultur fehlte. Dagegen beeinflußten selbst H a e c k e l s popularisierende Schriften, trotz dem Aufsehen, das ihr erstes Erscheinen machte, die Lehrkörper der westeuropäischen Universitäten kaum. Hier verfolgte man die Entwicklung der evolutionistischen Theorien nach wie vor mit reichlich skeptischer Aufmerksamkeit. Erst seit den Ereignissen von 1870 begann ein gewisser U m schwung des öffentlichen Geistes an den Universitäten sich zu zeigen : ein Teil der jungen Gelehrten-Generation huldigte den materialistischen Doktrinen u n d dem Atheismus, der von den Anhängern des neuen Monismus systematisch gepredigt wurde. Die wahren Naturforscher dagegen, besonders die, welche tätigen Anteil an den staunenswerten U m w a n d l u n g e n der physikalischen, chemischen und biologischen Wissenschaften des 19. Jahrhunderts nahmen, blieben den Traditionen ihrer glorreichen Vorgänger größtenteils treu, wie es meine U m f r a g e beweist, deren Ergebnisse ich im 3. Kapitel des I. Bandes dieses Werkes mitgeteilt habe. Der Weg, den ich einschlug, um die Frage: „Wie verträgt sich Religion u n d Wissenschaft?" zu lösen, war vorgezeichnet. Es galt, ohne Parteilichkeit und nach unanfechtbaren, authentischen D o k u menten sorgfältig zu prüfen, welches die religiösen u n d philosophischen Überzeugungen der großen schöpferischen Gelehrten des letzten
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Leib, Seele und Geist
Jahrhunderts, namentlich seit der Wiedergeburt der Wissenschaften im 16. und 17. Jahrhundert waren. Als Beweise von unanfechtbarem Werte gelten ja nur die f ü r unsre sinnliche Erkenntnis bewiesenen oder beweisbaren Tatsachen. Die philosophischen und theologischen Kontroversen, ja selbst die wissenschaftlichen Diskussionen und Polemiken führen selten zu bündigen Ergebnissen. U n d so hat mich diese U m f r a g e denn doppelt befriedigt, erstens, weil ihre Ergebnisse meine kühnsten Erwartungen hinsichtlich der von mir vertretenen These übertrafen, und zweitens, weil die neuen Dokumente, die ich durch diese U m frage von allen Seiten erhielt, meine These nur erweitert und bestätigt haben, ohne daß eine einzige Polemik deswegen entstand, ohne daß von den G e g n e r n eine einzige Tatsache angeführt werden konnte, die als W i d e r l e g u n g oder Anfechtung meiner Behauptung hätte gelten können. Die W i r k u n g dieses Ergebnisses meiner U m f r a g e in philosophischen Kreisen war vielmehr Überraschung, ja sogar ein gewisses Erstaunen. Die G r ü n d e sind leicht begreiflich, wenn man sich der tiefen Kluft entsinnt, die seit der Wiedergeburt der Wissenschaften im 17. Jahrhundert zwischen Religion und Wissenschaft einerseits und der Philosphie andrerseits sich aufgetan hatte und deren psychologische Ursache wie bereits in der Vorrede zum ersten Bande von „Gott und Wissenschaft" dargetan haben. Mit dem Wachstum und der schwindelnden Entwicklung der exakten Wissenschaften seit dem Ende des 18. und im Verlaufe des 19. Jahrhunderts hat diese Kluft sich zum A b g r u n d erweitert. Erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts beginnt ein sehr beträchtlicher U m s c h w u n g sich in philosophischen Kreisen zu zeigen. Die verhängnisvollen, in der ganzen Welt sich zeigenden Folgen des Atheismus, der als »freies D e n k e n " den Geist des Publikums mehr und mehr beherrscht u n d eine geistige Anarchie herbeiführt, gewinnen allmählich Gestalt und drohen unter verschiedenen F o r m e n , von denen die literarische die gefährlichste ist, die zivilisierte Welt Katastrophen entgegenzuführen. Auch heute noch sind die Philosophen selten, deren Geist von einem echt religiösen Hauche berührt wird. Die religiöse Bewegung rührt mehr von der Voraussicht künftiger Katastrophen her, als von der richtigen Erkenntnis der tiefen Z u s a m m e n h ä n g e zwischen Religion und Wissenschaft und ihres gleichen U r s p r u n g s sowie der gemein-
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samen Ziele, die sie verfolgen. Der W u n s c h , die Kluft, die seit Jahrhunderten zwischen Religion u n d Philosophie besteht, zu überbrücken, besteht offenbar, aber die Mittel, die man zu dieser Ü b e r brückung vorschlägt, zeigen, daß man sich auf falschem W e g e befindet. So sieht man die Philosophen, besonders in Deutschland, bestrebt, den öffentlichen Geist mit der Religion auszusöhnen, in der Ü b e r z e u g u n g , daß es ihre erste Pflicht sei, die Hindernisse fortzuräumen, welche die m o d e r n e Wissenschaft dieser A u s s ö h n u n g angeblich in den W e g legt! Diese Hindernisse aber sind völlig imaginär. Die durch die Unwissenheit der einen, durch den Fanatismus und die Böswilligkeit der andern künstlich gezogenen Schranken zwischen Wissenschaft und Religion sind rein illusorisch. Die Resultate der genannten U m f r a g e zeigen im Gegenteil, daß die wahren Naturforscher in völliger Harmonie mit den Offenbarungsreligionen, insbesondere mit dem Christentum leben. Der wahre Weg, auf dem die Philosophie selbst zur Religion zurückkehren kann und soll, und auf dem sie vor allem den verirrten Geist des Publikums zu ihr zurückleiten muß, ist der W e g der Wissenschaft, den wir schon in unseren früheren Werken kurz angedeutet haben. (Siehe „ D a s O h r l a b y r i n t h als O r g a n der m a t h e m a t i s c h e n S i n n e f ü r R a u m u n d Z e i t " und auch „ L e i b , S e e l e u n d G e i s t " , Pflügers Archiv, 1909). Die definitive experimentelle Feststellung der großen und entscheidenden Bedeutung des Geistes als der am meisten charakteristischen Eigentümlichkeit des Menschen, die zwischen ihm und der Tierwelt eine absolute Scheidewand bildet, die durch keinerlei Transformationen und Evolutionen weggeschafft werden kann, erklärt, warum der Geist den Menschen zu Gott führen muß. Ja noch mehr, er m u ß ihn zum Christentum führen. Die christliche Religion ist die erste, welche die religiöse Bedeutung des Geistes, seinen göttlichen U r s p r u n g und seine Unsterblichkeit ausdrücklich anerkannt hat. Der Apostel P a u l u s war es, der in seinen Briefen an die Korinther diese Rolle des menschlichen Geistes zuerst präzisiert hat: „Es wird gesäet ein natürlicher Leib und wird auferstehen ein geistlicher Leib" „Wie es geschrieben stehet: Der erste Mensch, Adam, ward zu einer lebendigen Seele, und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht. Aber der geistliche Leib ist nicht der erste, sondern der natürliche, darnach der geistliche." (Korinther I, 15, 4 4 — 4 6 . Übersetzung von L u t h e r ) .
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Leib, Seele und Geist
Der Kirchenvater A u g u s t i n u s hat in seinem Sendschreiben an die Manichäer schon den Titel „Leib, Seele u n d Oeist" benutzt, den ich an die Spitze des vorigen Kapitels gestellt habe. A r i s t o t e l e s , der Begründer der Psychologie, war es, der den N u s zuerst hervorgehoben und seinen U r s p r u n g sowie die Art und den Moment seines Erscheinens im Embryonalleib des Menschen richtig erkannt und beschrieben hat: . . „während A r i s t o t e l e s aufs bestimmteste leugnet, daß im Samen und sogar noch im befruchteten Keim in den ersten Stadien der Entwicklung irgend eine Seele, sei es die vegetative, sei es die sensitive, sei es die intellektive, sich finde, u n d von der intellektiven behauptet, daß sie, die der eigentliche Zweck sei, auf welchen der ganze Erzeugungsprozeß abziele, zuletzt als Abschluß der Entwicklung von dem Fötus empfangen werde. Von diesem Augenblicke an hat der Fötus die spezifisch menschliche Natur gewonnen und ist Mensch g e w o r d e n . " 1 Die erste Differenzierung von Leib, Seele und Geist rührt also von A r i s t o t e l e s her. W e n n die Scholastiker, mit T h o m a s v o n A q u i n o an der Spitze, sich der A r i s t o t e l i s c h e n Lehre so eng angeschlossen haben, so geschah dies hauptsächlich seiner genialen Psychologie wegen. In der Kosmogonie konnte und mußte A r i s t o t e l e s i r r e n , weil ihm eben die Methoden u n d Mittel fehlten, um durch sinnliche E r f a h r u n g den Wert seiner Intuitionen zu kontrollieren. In der Psychologie dagegen haben ihn seine Intuitionen nie irre geführt, weil er hier, vom Geiste geleitet, seine eigenen seelischen Funktionen beobachten konnte. Die größten Naturforscher des letzten Jahrhunderts haben die Bedeutung dieses Geistes richtig erkannt und gewürdigt. K a r l E r n s t v o n B a e r hat in seinen meisterhaften Reden über Zielstrebigkeit im gleichen Sinne wie f r ü h e r L e i b n i z die Entelechien des Aristoteles zu Ehren gebracht. Er zitiert in einer dieser Reden mehrere glückliche Erörterungen und Beispiele, welche die wahre Bedeutung des Geistes so zu sagen ad oculos demonstrieren. K a r l E r n s t v o n B a e r erteilte bei dieser Gelegenheit d e n w o h l d u r c h d a c h t e n R a t , n i e ü b e r d e n G e i s t m i t 1
Diese Worte sind dem schönen Werke von F r a n z B r e n t a n o , („Aristoteles' Lehre vom Ursprung des menschlichen Geistes", Veit