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German Pages 363 Year 1968
JüRGEN WELP
Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung
Schriften zum Strafrecht Band 9
Vorangegangenes Tun als Grundlage einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung
Von
Dr. Jürgen Welp
DUNCKER & HUMBLOT /
BERLIN
Alle Rechte vorbehalten @ 1968 Duncker & Humblot, Berlln 41
Gedruckt 1968 bei BUchdruckerei Bruno Luck, Berlln 65 Prlnted In Germany
Meinen Eltern
Vorwort Die vorliegende Schrift ist aus meiner Dissertation hervorgegangen, die der Juristischen Fakultät der Ruprecht-Karl-Universität in Heidelberg vorgelegen hat1 . Mein besonderer Dank gilt meinem verehrten Lehrer, Herrn Professor Dr. Wilhelm Gallas, der die Arbeit angeregt und während vieler Jahre wissenschaftlich betreut hat. Dank schulde ich auch der Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg für die Gewährung eines großzügigen Druckkostenzuschusses und der Fritz-Thyssen-Stiftung für ein Dissertationsstipendium. Schließlich danke ich meiner Frau, die das Manuskript hergestellt und die Last der Korrekturen getragen hat. Dossenheim, im Juli 1968
Jürgen Welp
1 Die Arbeiten von Alfons van Gelder, Die Entwicklung der Lehre von der sogen. Erfolgsabwendungspflicht aus vorangegangenem Tun im Schrifttum des 19. Jahrhunderts, Eine kritische Darstellung, Dissertation Marburg, 1967 und von Klaus Pjleiderer, Die Garantenstellung aus vorangegangenem Tun, Strafrechtliche Abhandlungen, N.F., Bd. 2, Berlin 1968 sind während der Drucklegung erschienen; sie konnten daher nicht mehr berücksichtigt werden.
Inhaltsverzeichnis Einleitung .............................................. . .... . ......... I. Zum ProblenlStand ............................................. H. Abgrenzungsfragen ............................................. !l1. Refonnprobleme ............................................... IV. Gang der Untersuchung ........................................
15 15 17
22 23
Erstes Kapitel
A.
B. C.
D.
E. F.
G.
Dogmengeschichte Die Feuerbach-Spangenbergsche Rechtspflichttheorie ................. I. Darstellung ..................................................... 11. Kritik .......................................................... III. Anfänge der Ingerenz .......................................... Die Kausalität des Andershandeins (Luden) ......................... Die Ingerenz-Theorien (Temme, Krug, Glaser, Adolf Merkei) ........ I. Darstellung .................................................... 1. Temme ...................................................... 2. Krug ........................................................ 3. Glaser ...................................................... 4. Adolf Merkel ................................................ 11. Kritik... .............. ... ... .. . . .. ... ... .. .... ... ... .. .. . . .. ... 1. Zur Kausalität der Vorhandlung ............................ 2. Dolus vel culpa subsequens .................................. Die Interferenz-Theorien (v. Buri, v. Berger, Binding, Hälschner u. a.) I. Der Kausalbegriff .............................................. II. "Äußere" und "innere" Kausalität ....................... . ...... III. Interferenz und Ingerenz ...................................... IV. Bindring ....................................................... Die Unterlassung als fremdpsychische Ursache (Geyer, Aldosser u. a.) Rechtskausalitätstheorien (v. Bar, Kohler u. a.) ...................... I. v. Bar.......................................................... 11. Kohler ......................................................... Rechtspflichttheorien ............................................... 1. Die fonnelle Rechtspflichttheorie ............................... 1. Darstellung ................................................. 2. Kritik .......................................................
25 26 26
28 29
30 32 33 33
34 36 38 40 41 43 45 45 46 52 53 55 57 57 59 61 61 61 63
10
Inhaltsverzeichnis
H. Die materielle Rechtspflichttheorie (Sauer und Kissin) .......... l. Darstellung ................................................. 2. Kritik ....................................................... H. Die Garantenlehre (Nagler) ........................................ I. Darstellung .................................................... I!. Kritik ......................................................... 1. Die Rechtsprechung ................................................ 1. Die Rechtsprechung des Königlichen Ober-Tribunals ............ I!. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts .......................... l. Fahrlässiges Unterlassen: Die Verkehrssicherungspflicht .... 2. Vorsätzliches Unterlassen .................................... 3. Betrug durch Unterlassen ....................... . . . . . . . . . . . .. 4. Entziehung durch Unterlassen ............................... 5. Nichthinderung fremder Straftaten .......................... 6. Unterlassungsmomente der Begehung ....................... IH. Die Nachkriegsrechtsprechung .................................. l. Fahrlässiges Unterlassen: Verkehrssicherungspf1icht und Halterhaftung .................................................. 2. Vorsätzliches Unterlassen .................................... 3. Nichthinderung fremder Straftaten .......................... 4. Unterlassungsmomente der Begehung ........................ IV. Zusammenfassung
66 66 68 70 70 72 75 75 78 80 81 82 82 83 86 87 89 90 92 100 101
Zweites Kapitel
Handeln und Unterlassen
103
A. Herkömmliche Abgrenzungstheorien ................................ 104
1. Die Körperbewegung .......................................... H. Der "soziale Sinn" .............................................. B. Handeln und Energieeinsatz ........................................ 1. Methodische Postulate .......................................... H. Das Energiemoment ............................................ IH. Einzelheiten: Kraftentfaltung und Bewegun'g ................... C. "Schwierigkeiten" .................................................. I. Sukzession der Verhaltensformen .............................. H. Koinzidenz der Verhaltensformen .............................. IH. Fremdpsychische KaIIlsalität .................................... D. Dolus vel culpa S'llbsequens vel praecedens ......................... I. Die "nachfolgende" Schuld ..................................... l. Dolus subsequens und dolus post factum .................... 2. Zur Perpetuierlichkeit der "Handlung" ...................... 3. Stellungnahme .............................................. H. Die "vorangehende" Schuld - Exkurs .......................... l. Versari in re illicita und dolus indirectus .................... 2. Actio vel omissio libera in causa vel in omittendo ...........
104 104 109 109 110 112 116 116 118 123 124 124 125 126 130 132 132 134
Inhal tsverzeichnis
11
Drittes Kapitel
Die Gleicl1steUungsproblematik
140
A. Die rechtsstaatliche Problematik .................................... 140
1. NuILum crimen sine lege ........................................ 141
H. Die rechtsstaatIiche Problematik der Bestrafung gesetzlich ungeregelter Unterlassungsdelikte ................................. 143 IH. Methodische Folgerungen ....................................... 146 B. Induktionsversuche ................................................. I. Der "Wille des Gesetzgebers" ................................... H. "Echtheit" und "Unechtheit" der Unterlassungsdelikte .......... IH. Einzelfälle gesetzlich geregelter unechter Unterlassungsdelikte .. 1. Hausfriedensbruch (§ 123 Abs. I StGB) ....................... 2. Aussetzung (§ 221 Abs. I StGB) .............................. 3. Herbeiführung von Brandgefahr (§ 310 a Ziff.2 StGB): Handlungshaftung ................................................
150 150 152 153 153 155 157
IV. Echte Unterlassungsdelikte als Induktionsbasis? ................ 162 V. Ergebnis ....................................................... 163 C. Rechtswidrige Vorhandlungen ...................................... 163 I. Die Deftzienz der Unterlas'SlUng: "Kausalität" und "Bewirkung" .. 1. "Reale"und "hypothetische" Kausalität ...................... 2. Folgerungen ............ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. H. Zur Bedeutung des Energiemomentes als tertium einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung ..............................
165 166 170 171
1. Die Täterposition ............................................ 173 2. Die Opferposition ............................................ 174
IH. Die Handlungsäquivalenz der Unterlassung ..................... 177 1. Die Opferposition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 178 2. Die Täterposition ............................................ 189 IV. Zusätze ........................................................ 1. Zur Kausalität der Vorhandlung ............................. 2. Zur Adäquanz der Gefährdung .............................. 3. Zur Rechtswidrigkeit der Vorhandlung ......................
194 194 201 205
D. Rechtmäßige Risiko-Vorhandlungen ................................ 209 1. Vorbemerkungen ............................................... 209 1. Zum Begriff der Risiko-Vorhandlung ........................ 209 2. "Akzessoris'che" und "komplementäre" Sicherungsvorkehrungen 212
11. Die Bewirkensäquivalenz des Unterlassens komplementärer Sicherung ...................................................... 1. Die Opferposition ............................................ 2. Die Täterposition .......................................... 3. Zur Adäquanz der Gefährdung .............................. 4. Sicherungs- und Rettungspflichten ...........................
214 215 221 226 229
Inhaltsverzeichnis
12
IH. Die Betriebseröffnung .......................................... 1. Die Betriebseröffnung als Veranlassung fremder Risiko-Handlungen ...................................................... 2. Die Betriebseröffnung als Veranlassung arbeitsteiligen Zusammenwirkens ............................................. 3. Die VerkehrssicherungspflIcht .............................. IV. Zur Frage des "Herrschaftsbereichs" ............................ 1. Herrschaftsbereich und Ingerenz ............................ 2. Ein Anwendungsfall ........................................ 3. Zur Frage der sog. Zustandshaftung ......................... V. Schlußbetrachtung .............................................. E. Gerechtfertigte Vorhandlungen ..................................... I. Der Meinungsstand ............................................ 11. Fallkonstellationen ............................................. 111. Stellungnahme ................................................. Viertes
236 238 241 249 249 254 259 262 265 266 267 271
Kapite~
Die Nichthinderung fremder Taten A. Veranlassung und Förderung freier (volldeliktischer) Vorsatztaten I. Vorsätzliche Teilnahme als Vorhandlung? ...................... H. Fahrlässige Teilnahme als Vorhandlung? ....................... 1. "Fahrlässige Anstiftung" als Vorhandlung? .................. 2. "Fahrlässige Beihilfe" als Vorhandlung? ..................... IH. "Psychische" und "physische" Mitwirksamkeit .................. IV. Zur Frage des "Regreßverbotes" ................................ B. Veranlassung und Förderung unfreier und fahrlässiger Taten ...... I. Die Veranlassung unfreier Vorsatztaten ......................... H. Die Veranlassung "eingeschränkt freier" Vorsatztaten .......... HI. Die Veranlassung unvorsätzlicher Taten ........................ IV. Anwendungsfälle .............................................. 1. Die Gastwirtshaftung ....................................... 2. Die Veranlassung einer Selbsttötung ........................ Fünftes
235
274 279 280 283 286 290 293 299 301 301 306 310 316 316 320
Kapite~
Unterlassungsmomente der Begehung
321
A. Zur Struktur der Begehungstat .................................... 322 B. Anwendungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 335
Literaturverzeichnis
343
Sachverzeichnis ........................................................ 359
Ahkürzungsverzeichnis Abh. AG
ALR
AöR AT BayObLG BB BGB BGH BGHSt BGHZ BT BVerfG BVerwG DAR Diss. DJZ DR DRiZ DtStrR. DVBl. El962 FamRZ GA GaststG GG GS GVBl. HannRpflg. HESt HRR
JMBINRW
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JZ KG KRG Lb. LG LK
= Abhandlungen = Amtsgericht
=
Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten
=
Allgemeiner Teil
= Archiv des öffentlichen Rechts
= Bayerisches Oberstes Landesgericht = Betriebsberater
= Bürgerliches Gesetzbuch = Bundesgerichtshof = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Strafsachen = Entscheidungen des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen Besonderer Teil Bundesverfassungsgericht Bundesverwaltungsgericht = Deutsches Autorecht = Dissertation Deutsche Juristenzeitung Deutsches Recht Deutsche Richterzeitung Deutsches Strafrecht Deutsches Verwaltungsblatt Regierungsentwurf eines Strafgesetzbuchs mit Begründung (Bundestagsdrucksache IV/650) = Ehe und Familie, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht Goltdammers Archiv für Strafrecht = Gaststättengesetz = Grundgesetz = Der Gerichtssaal = Gesetz- und Verordnungsblatt = Hannoversche Rechtspflege = Höchstrichterliche Entscheidungen, Sammlung von Entscheidungen der Oberlandesgerichte in Strafsachen Höchstrich.terliche Rechtsprechung = Justizministerialblatt für das Land NordrheinWestfalen Juristische Rundschau Juristische Schulung Juristische Wochenschrift Juristenzeitung Kammergericht = Kontrollratsgesetz = Lehrbuch = Landgericht = Strafgesetzbuch, Leipziger Kommentar
14
Abkürzungsverzeichnis
LM LZ Mat. MDR MonSchrKrim. MonSchrKrimBiol. MonSchrKrimPsych.
N.
NArchCrimR. NiedersRpflg. Niederschriften
NJW OGH
=
OGHSt OLG Oppenhoff PrOberTrib. Recht RG RGRechtspr. RGSt RGZ SchlHA. SJZ StGB StpO StrR. StudB. StVG StVO StVZO VAE VerkMitt. VersR.
VRS Z ZAkDR ZPO ZStW
=
= = = =
Nachschlagewerk des Bundesgerichtshofs, herausgegeben von Lindenmaier - Möhring Leipziger Zeitschrift Materialien zur Strafrechtsreform Monatsschrift für deutsches Recht Monatsschrift für Kriminologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalbiologie und Strafrechtsreform Monatsschrift für Kriminalpsychologie und Strafrechtsreform Fußnote Neues Archiv des Criminalrechts Niedersächsische Rechtspflege Niederschriften über die Sitzungen der Großen Strafrechtskommission Neue Juristische Wochenschrift Deutscher Oberster Gerichtshof für die britische Zone Entscheidungen des Obersten Gerichtshofs für die britische Zone in Strafsachen Oberlandesgericht Die Rechtsprechung des Königlichen Obertribunals (und des Königlichen Oberappellationsgerichts) in Strafsachen Königliches (preußisches) Obertribunal Das Recht Reichsgericht Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Schleswig-Holsteinische Anzeigen Süddeutsche Juristenzeitung Strafgesetzbuch Strafprozeßordnung Strafrecht Studienbuch Straßenverkehrsgesetz Straßenverkehrsordnung Straßenverkehrszulassungsordnung Verkehrsrechtliche Abhandlungen und Entscheidungen Verkehrsrechtliche Mitteilungen Versicherungsrecht, Juristische Rundschau für die Individualversicherung Verkehrsrechts-8ammlung, Entscheidungen aus allen Gebieten des Verkehrsrechts Zivilsachen Zeitschrift der Akademie für deutsches Recht Zivilprozeßordnung Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft
Einleitung I. Zum Problemstand
Die Bereicherung, die die Lehre von den Unterlassungsdelikten im letzten Jahrzehnt mit den Arbeiten von Grünwald, Armin Kaufmann, Androulakis, E. A. Wolff u. a. erfahren hatt, ist vor allem ihren systematischen Problemen zugute gekommen. Hierüber ist die wissenschaftliche Behandlung der "axiologischen" Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte, die den "dogmatischen" Fragen entgegengesetzt zu werden pflegt, in den Hintergrund getreten, nicht zuletzt aus Skepsis gegenüber der Möglichkeit verifizierbarer Einsichten!. Für die praktische Rechtsanwendung liegt das Schwergewicht indessen gerade hier; denn unter der Herrschaft des "nullum crimen sine lege" ist sie Postulaten ausgesetzt, denen beim gegenwärtigen Rechtszustand nur durch die Ausbildung exakter Auslesekriterien genügt werden kann. Insofern bedarf eine dieser Aufgabe gewidmete Untersuchung keiner weiteren Legitimierung. Ein Teilbereich der Gleichstellungsproblematik ist der Dogmengeschichte seit 150 Jahren unter dem Topos der "Pflichten aus vorangegangenem Tun" bekannt, während ihre Bezeichnung als Ingerenz erst auf Nagler zurückgeht3 • Bezugspunkt dieser - von dem Verbum "ingerere" abgeleiteten - Terminologie ist die "Einmischung"4, nämlich die Tangierung des fremden Rechtskreises durch eine gefährliche Vorhandlung. Seine völkerrechtliche Entsprechung findet dieser Be1 Gr'Ünwald, Das unechte Unterlassungsdelikt ~ Seine Abweichungen vom Handlungsdelikt, Dissertation Göttingen, 1956; Armin Kaufmann, Die Dogmatik der Unterlassungsdelikte, 1959; Androulakis, Studien zur Problematik der unechten Unterlassungsdelikte, 1963; E. A. Wolff, Kausalität von Tun und Unterlassen, 1965. ! Während Armin Kaufmann (a.a.O., S. XVI, 241, 280) einen Fundus strafbarer Fälle voraussetzt und im übrigen die Griinwaldsche Skepsis gegenüber generalisierenden Doktrinen teilt, läßt Androulakis selten die Intention zur Lösung "rein juristischer" Probleme der Unterlassung erkennen. Grundzüge einer Gleichstellungstheorie entwirft jedoch E. A. Wolff. - Den heutigen Stand der "axiologischen" Diskussion bietet vor allem Blei, H. MayerFestschrift, S. 119 ff. 3 Nagler, GS 111 [1938], 26 et passim. 4 Maurach, AT, S.516; vgl. auch H. Mayer, Studienbuch, S.78. Die im Begriff des "ingerere" enthaltene "Aufnötigung" bezog sich nach den Intentionen Naglers nur auf die Beeinträchtigung des fremden Gutes, nicht aber auf die Eigenart der Garantieposition ("Garant wider Willen") selbst.
Einleitung
16
griff in der Intervention als "Einmischung" in die Angelegenheiten fremder Staaten5 , ein Zusammenhang, der der französischen Völkerrechtslehre im Terminus der "ingerence" als Synonym von "intervention"6 und den romanischen Umgangssprachen im allgemeinen geläufig isF. Für diese Ingerenz gilt das eingangs Bemerkte in besonderem Maße; obwohl ihr mehrfach und noch in jüngster Zeit bescheinigt worden ist, zu den "ungelösten Problemen" zu zählen8, stand eine monographische Untersuchung bis zum Jahre 1961 aus. An der Perplexität der durch sie aufgeworfenen Fragen entzündete sich deswegen vorzüglich die aphoristische Kunst: daß etwa der Fluch der bösen Tat (Vorhandlung) fortzeugend Böses (die Unterlassung) gebäre.9, oder daß mit der Vorhandlung A gesagt sei, worauf das B der Erfolgsabwendung folgen müsse lO • Mit anderen Wendungen ist ob ihrer Landläufigkeit wenig zu beginnen; daß die Ingerenz aus den Grundgedanken des Rechts "unmittelbar emporgewachsen" seiH, "unmittelbar aus dem Gerechtigkeitsempfinden" folgei!, nach "allgemeinen Rechtsgrundsätzen"13 "selbstverständlich" sei, "keiner Begründung bedürfe" und "sich rational nicht ganz erklären" lassel 4, dürfte den gesuchten Aufschluß über Gründe und Grenzen der Strafbarkeit wohl noch kaum enthalten. Dazu Dahm, Völkerrecht, Bd. I, S. 205 ff. o Vgl. Bry, Precis elementaire de Droit international public, 5. Aufl., Paris, 1906, S. 150; Pradier-Fodere, Traite de Droit international public, Bd. I, Paris, 1885, S. 550 ("L'intervention ... n'est autre chose, en effet, que l'ingerence dans les affaires interieures ..."); Fauchille, TraUe de Droit international public, Bd. I, Paris, 1922, S. 538 f.; Cavare, Le Droit international public positif, Bd. H, Paris, 1962, S.546; Delbez, Les principes generaux du Droit international public, Paris, 1964, S.289 (Für diese Nachweise danke ich Herrn Dr. Christian Tomuschat, Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht, Heidelberg); vgl. auch Forsthoff, Dt. Verfas.sungsgeschichte d. Neuzeit, 1961, S.91. - Bei Dahm, Völkerrecht, Bd. IH, 1961, S.21O erscheint die Ingerenz hingegen im Zusammenhang der Lehre vom völkerrechtlichen Delikt durch Unterlassen, mithin in einer von der deutschen strafrechtlichen Terminologie abgeleiteten Bedeutung. 1 Französisch: "ingerence" (vgl. Paul Robert, Dictionnaire alphabetique et analogique de la langue fran!;aise, Bd.4, Paris, 1959); italienisch: "ingerenza" (vgl. BuUe-Rigotini, Wörterbuch der italienischen und deutschen Sprache, Bd.1, 9. Aufl., Leipzig, 1939); spanisch: "ingerencia" (vgl. Slaby-Grossmann, Wörterbuch der spanischen und deutschen Sprache, Bd. 1, Leipzig, 1932). 8 Vgl. v. Alberti, Rechtswidrige Unterlassungen, S. 22 f.; Frank, § 1 Anm. IV; Welzel, JZ 1958, 495; Blei, a.a.O., S.120, 135; H. Mayer, a.a.O., S.79. BRotering, es 34 [1883], 218. 10 Kahler, Studien, Bd. I, S. 59. 11 Sauer, Grundlagen, S.461; NahstoU, Diss. 1951, S.l06. 12 Granderath, S. 131. 13 RGSt 75, 275; RG DR 1943, 893; BGHSt 14,27. 14 Nahstoll, a.a.O., S. 96 f. 5
Einleitung
17
Während daher eine monographische Behandlung der Ingerenz noch vor wenigen Jahren als Desiderat von einiger Wichtigkeit gelten konnte, haben inzwischen Granderath und Rudolphi diesem übelstand mit gründlichen und umfangreichen Arbeiten abgeholfen15 • Wenn nunmehr eine weitere diesem Thema gewidmete Untersuchung vorgelegt wird, so rechtfertigt sich dies vor allem mit ihrer von den früheren Arbeiten abweichenden Grundkonzeption, nicht zuletzt auch mit gewissen Erweiterungen und unterschiedlichen Akzentuierungen. Sollte das Neben- und Gegeneinander der verschiedenartigen Ansichten der zukünftigen Auseinandersetzung eine breitere Basis bieten, so hätte auch die vorgelegte Arbeit ihr Ziel erreicht. D. Abgrenzungsfragen
Die Abgrenzungsfragen, vor die sich eine solche Untersuchung gestellt sieht, gehen vor allem in zwei Richtungen.
1. Auf der einen Seite verzichtet die Arbeit auf alle Erwägungen, die die Zumutbarkeit des Normgehorsams zum Gegenstand haben16 • Diese Einschränkung hat den - hier nicht zu begründenden - Satz zur Prämisse, daß die Unzumutbarkeit das Unrecht einer als Handlungsäquivalent ausgewiesenen Unterlassung ebensowenig berührt wie das der Handlung selbst 17 • In dem Maße, in dem das Programm einer Typisierung des Unterlassungsunrechts nachfolgend realisiert wird, entsteht die bekannte Indizwirkung des Typus, die allen außerhalb seiner selbst gelegenen "Umständen des Einzelfalls" eine über die Gegenindizierung hinausgehende Funktion versagt. Ist der Unrechtstypus vollständig umschrieben, kann eine Korrektur lediglich Fragen der Schuld und damit einen disparaten Gegenstand betreffen. Auch unter diesem Aspekt wirft die Ingerenz freilich dann besondere Probleme auf, wenn schon die Vorhandlung für sich strafbares Tun ist 18 • Denn sofern die Erfolgsabwendung hier nicht strafbefreiender Rücktritt vom Versuch der Vortat ist, wird der Unterlassende 15 Granderath, Die Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung aus einem vorangegangenen gefährdenden Verhalten bei den unechten Unterlassungsdelikten, Dissertation Freiburg, 1961; Rudo~phi, Die Gleichstellungsproblematik der unechten Unterlassungsdelikte und der Gedanke der Ingerenz, 1966. 16 Dazu Henke~, Mezger-Festschrift, S. 249 ff. (276 ff.); ders., Recht und Individualität, S. 63 ff.; Annin Kaufmann, a.a.O., S. 151 ff.; Ganderath, S.l04ff. 17 So We~ze~, JZ 1958,495; Armin Kaufmann, a.a.O., S.152; a. A. vor allem Henke~, Mezger-Festschrift, S. 280 f., 306; ders., Recht und Individualität, a.a.O. 18 Vgl. etwa RGSt 73,52 (57); BGHSt 5,187 (190); 11,353.
2 Welp
Einleitung
18
mit der Erfüllung der Pflicht vielfach zu seiner Entdeckung beitragen und dadurch die Gefahr einer Strafverfolgung vergrößern. Die übliche petitio principii, die Welzel aufgedeckt hat l9 , daß nämlich eine "neue" Schuld vorausgesetzt statt begründet wird20 , erschöpft diese Problematik ebensowenig wie das vermeintliche "Verschulden" des Unterlassenden, das sich nach § 54 StGB gerade auf die Kollision und nicht nur auf die strafbare Vorhandlung zu beziehen hätte. Gefordert ist vielmehr eine Abwägung der widerstreitenden Interessen, deren Einzelheiten hier keiner Erörterung bedürfen21 • 2. Auf der anderen Seite endet die Reichweite der hier verfolgten Problematik an den Fragen, die der Besondere Teil des Strafgesetzbuchs der Unterlassungslehre aufgibt. Denn da der Ansatz der Gleichstellungsfrage - wie zu zeigen sein wird - lediglich auf die Konstituierung derjenigen Kriterien abzielen kann, die die Unterlassung als Äquivalent des Tuns hinsichtlich seiner Bewirkensqualität erweisen, bleiben alle nicht durch das energievolle Bewirken des Erfolges berührten Aspekte der Tatbestandsmäßigkeit außerhalb der hier angestellten überlegungen. Diese Aspekte betreffen die besondere modale Umschreibung bestimmter tatbestandsmäßiger Handlungen und Erfolge. Abgekürzt wird diese mögliche Defizienz der Unterlassung im folgenden als eine von der Bewirkensäquivalenz verschiedene Modalitätsäquivalenz bezeichnet. a) Zunächst kann der besondere Begehungstatbestand die Handlung nicht lediglich durch ihre Bewirkensqualität, sondern darüber hinaus durch zusätzliche Modalitäten objektiver oder subjektiver Art charakterisieren. Hierdurch entsteht die von Gallas aufgeworfene Frage, ob und unter welchen Umständen eine dem Tun qua Bewirken generell gleichwertige Unterlassung auch diejenige spezielle Färbung aufweist (Modalitätsäquivalenz), die das Gesetz zur Voraussetzung der Strafbarkeit des aktiven Tuns oder seiner Qualifizierung gemacht hat22 . Diese weitere Prüfung erübrigt sich nur dann, wenn der einzelne Tatbestand ein reines Erfolgsdelikt vertypt23 ; denn in diesem Fall erschöpft sich der Tatbestand in der Kausalrelation. Im übrigen entsteht jedoch immer die von der Bewirkensäquivalenz theoretisch und
Welzel, JZ 1958,496. Außer den in N.18 gegebenen Nachweisen noch RGSt 72,19; BGHSt 1, 266 (269); BGH NJW 1964,732 (insoweit in BGHSt 19,167 nicht abgedruckt). 21 Vgl. Welzel, a.a.O.; ferner Granderath, S. 112 ff. 22 GaHas, Niederschriften, Bd.12, S. 80 ff.; ferner Armin Kaufmann, a.a.O., S. 288 ff.; Rudolphi, S. 59 ff. 23 GaHas, a.a.O., S.82; Rudolphi, S. 60 H. 19
20
Einleitung
19
praktisch isolierbare Frage nach der Modalitätsäquivalenz der Unterlassungu . So ist beispielsweise jede Form der vorsätzlichen Todesverursachung als Totschlag tatbestandsmäßig, mag die Handlung nun in einem Erschießen, Erstechen, Vergiften etc. bestehen; und folglich ist mit der Bewirkensäquivalenz zugleich die Tatbestandsmäßigkeit der Unterlassung bejaht, ohne daß es auf eine zusätzliche Modalitätsäquivalenz noch ankäme. Ob aber diejenige Modalität des Tötens, die "zur Verdeckung einer Straftat" geschieht (Mord i. S. des § 211 StGB), durch (generell gleichwertiges) Unterlassen der Lebensrettung bei Nichtaufdeckung einer Straftat verwirklicht werden kann, bedarf weiterer überlegung 25 • Oder: Die Nötigung "mit Gewalt" (§ 240 StGB) ist der generell gleichwertigen Nichtbeseitigung bereits getroffener Anstalten nur "unter Umständen", etwa dann modal vergleichbar, wenn sich der Unterlassende "einem ausdrücklich gestellten Verlangen zuwider (!) weigert, eine von ihm getroffene, fortwirkende Maßnahme aufzuheben"26. Oder: Die Nichtherausgabe einer rechtmäßig oder doch straflos erlangten Urkunde durch den Verpflichteten ist erst dann ein "Unterdrücken" oder "Beiseiteschaffen" i. S. der §§ 133, 274 Ziff.1, 348 Abs. II StGB, wenn der Täter auf eine Abmahnung nicht reagiert27 • Ebensowenig ist das bloße Behalten einer gutgläubig gekauften oder in Verwahrung genommenen Sache nach erlangter Kenntnis ihrer Herkunft schon ein "Ve:'heimlichen" im Sinne der Hehlerei2B . Und: Das Unterlassen der Rückforderung eines nicht in Bestechungsabsicht gegebenen Darlehns ist noch kein "Anbieten" wer "Gewähren" von Vorteilen im Sinne der Bestechungstatbestände29 • Etc. U Besteht die Handlungsmodalität in der Förderung der Handlung eines anderen, so hat das generell gleichwertige Unterlassen stets den Unwert einer aktiven Beihilfe. "Denn auch die Beihilfe durch positives Tun setzt keine besonderen Handlungsmodalitäten voraus, ist vielmehr, da sie durch jede Art der kausalen Mitwirksamke.it verwirklicht werden kann, ein reines Erfolgsdelikt." (GalZas, a.a.O., S.80; zust. Rudolphi, S.63) - Ein Beispiel bietet die Straßenverkehrsgefährdung; denn "Täter einer Straßenverkehrsgefährdung nach § 315a Abs. I Ziff.2 StGB [a. F. = § 315c Abs. I Ziff. la StGB n. F.] kann nur sein, wer sich selbst aller oder wenigstens eines Teiles der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeuges bedient, die für seine Fortbewegung bestimmt sind" (BGHSt 18,6; vgl. auch BGHSt 14,24 und OLG Celle VRS 15, 417). 25 Dazu BGHSt 7,287; 15,291. Ferner Armin Kaufmann, a.a.O., S. 289 f.; Jescheck, JZ 1961, 752 f.; Krumme, bei BGH LM Nr.29 zu § 211 StGB; Fuhrmann, JuS 1963, 19 ff.; GrünwaZd, JuS 1965,313. 28 BayObLG NJW 1963, 1261. 27 Vgl. RGSt 10,391; 12,247; BGHSt 3,82 (87 ff.). 28 BGHSt 2, 135 (137). 29 BGHSt 16,40: "Ein Vorteilgeber, der seine Forderung gegen den Be-
2'
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b) In engem Zusammenhang mit den Handlungsmodalitäten steht die Problematik der Erjolgsmodalitäten, die von dem Begehungstatbestand vorausgesetzt werden. Sofern nämlich einer möglichen Perpetuierlichkeit des Erfolges kein über die Schaffung des betreffenden "Zustandes" hinausgehender Unwert zukommt, ist das Unterlassen bloße Nicht-Wiedergutmachung und damit niemals Modalitätsäquivalent. Die Ambivalenz der Handlungs- und Erfolgsmodalitäten zeigt sich am Beispiel des Begriffs der "Flucht" in § 142 StGB. Versteht man sie als "Hinweg-Bewegung"30, so ist das Unterlassen der Rückkehr nach strafloser Entfernung vom Unfallort vordergründig deswegen nicht tatbestandsmäßig, weil die Handlungsmodalität durch Unterlassen nicht verwirklicht werden kann. Einsichtig wird diese Auslegung jedoch erst dann, wenn man mit Schröder den tatbestandsmäßigen Erfolg der Flucht in der Abwesenheit erschöpft sieht31 ; denn da dieser "Zustand" durch das weitere Fernbleiben nicht verschlechtert wird, hat der actus contrarius der Flucht lediglich den Charakter unterlassener Wiedergutmachung. Die Schwierigkeiten liegen freilich gerade in der Frage, unter welchen Voraussetzungen dem "Wachstum der Dauer"32 keine Unrechtssummierung entspricht. Sieht man die Varietät der gesetzlichen Erfolgstypen durch das klassische Schema der Zustands- und Dauerdelikte erschöpft, so beruht die Entscheidung auf der Faustregel, daß ein Dauerdelikt dann anzunehmen ist, wenn es für den Betroffenen "je länger - je schlimmer" wird. So etwa bei der Freiheitsberaubung und den Delikten gegen die Erziehungsgewalt, da die durch sie geschützten Güter sich in der Zeit verwirklichen und daher mit der zunehmenden Dauer ihrer Beeinträchtigung summativ betroffen werden33 ; ähnlich bei der Körperverletzung, sofern kontinuierlich amten bisher nicht in Bestechungsabsicht gestundet hat, sich aber später dazu entschließt, die Forderung nunmehr gegen unsachliche Bevorzugung weiter zu stunden, macht sich der aktiven Bestechung erst dadurch schuldig, daß er ddeses Ansinnen an den Beamten heranträgt." 30 Roth-Stielow, NJW 1963, 1189. Die abweichende Judikatur ist bei Schröder (NJW 1966, 1001 f.) verzeichnet. Zum Ganzen auch Schmidhäuser. JZ 1955, 433 ff. . 31 Schröder, a.a.O., S. 1002 f.; vgl. auch Schönke-Schröder, Vorbem. Rd.Nr.123 a. 32 Engisch, Weltbild, S.85. 33 Vgl. RGSt 37,162 (165): Die angeklagte Mutter hatte der Behörde alle Angaben über den Aufenthaltsort ihrer der Fürsorgeerziehung unterstehenden Tochter verweigert. Die "Fortdauer des rechtswidrigen Zustandes" machte das Vorenthalten des Kindes zu einem "Entziehen", denn das Erziehungsrecht der Fürsorgebehörde wurde hierdurch summativ beeinträchtigt. - Freilich verbürgt der Dauerdeliktscharakter nicht schon per se die Modalitätsäquivalenz; denn es bleibt die Frage der HandlungsmodaUtäten. So kann man unter dem "Entziehen" ein "Trennen und zwar eigentlich durch Ziehen dessen, was man trennen will" (RGRechtspr. 10,78) verstehen.
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Schmerz empfunden wird 34 • Andererseits ist die Veränderung oder Unterdrückung des Personenstandes in § 169 StGB mit dem unrichtigen Registereintrag "vollendet"; da das Unterlassen einer Berichtigung folglich bloße Nicht-Wiedergutmachung ist, entfällt die Modalitätsäquivalenz35 • Es liegt auf der Hand, daß die Bestimmung dieser Modalitäten zur Problematik des Besonderen Teils gehört. Aus diesem Grunde liegt auch das Allgemeine des Besonderen, nämlich die "Typen der Tatbestandsmäßigkeit" (Erik Wolf), jenseits dessen, was mit der gegenwärtigen Arbeit sinnvoll intendiert sein kann. Diesem Umstand wird im folgenden dadurch Rechnung getragen, daß die Thesen der Untersuchung vorzüglich an reinen Erfolgsdelikten demonstriert werden. 3. Einer Einschränkung bedarf die Themenstellung schließlich noch im Hinblick auf die Konstituierung der Ingerenz als sachlich spezialisiertes, von anderen Gleichstellungsgründen unterschiedenes Zurechnungskriterium. Ihre näheren Konturen können sich naturgemäß erst mit dem Fortgang der Untersuchung ergeben. An dieser Stelle ist sie lediglich von demjenigen Phänomen abzugrenzen, dessen "Wesensgleichheit mit dem vorangegangenen Tun"36 vielfach bemerkt worden ist, der sogenannten Vbernahme 37 • Tertium comparationis ist die Kausalität eines der Unterlassung vorangehenden Verhaltens; während diese bei der Ingerenz die unbestrittene Grundlage jeder Gleichwertigkeitsfrage bildet, ist sie als Vbernahmekausalität Gegenstand verzweigter, in die Anfänge der Dogmengeschichte zurückreichender Kontroversen. Soweit eine Übernahmekausalität verlangt wird, ist ihr Modus die Unterbrechung rettender, und zwar fremdpsychischer Kausalverläufe. Eine solche Konstellation ist freilich auch bei der Ingerenz denkbar. Der Gegensatz der beiden Figuren liegt jedoch in der Einverständlichkeit, die die Position des Übernehmers kennzeichnet, dem Täter der Vorhandlung als einem "Garanten wider Willen" aber gerade abgeht. Hieraus entsteht eine eigentümliche Problematik, die es geboten erscheinen läßt, die Übernahme einer gesonderten Untersuchung vorzubehalten. Gewisse Unschärfen, die dieses Verfahren vor allem bei den in einer "Betriebseröffnung" bestehenden Vorhandlungen mit sich bringt, werden hierbei in Kauf 34 Das Unterlassen der Scllmerzlinderung oder ihre Verzögerung ist demnach Modalitätsäquivalent der aktiven Ges'lUldheitsbeschädigung; vgl. RGSt 67,412; 73,389; 75,68; 75,160; EGH LM Nr.6 zu § 2-30 StGB; BGH NJW 1961, 2068. 35 Vgl. OLG Hessen (Kassel) HESt 2,259. 36 Stree, H. Mayer-Festschrift, S.157. 37 Dazu vor allem Stree, a.a.O., S. 145 ff.; ferner Mezger, Lehrbuch, S. 143 ff.; Blei, H. Mayer-Festschrift, S. 119 ff. (121 ff.); Welzel, Dt.StrR., S.208.
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genommen, um so bereitwilliger, als Stree die übernahmeproblematik jüngst eingehend abgehandelt hat. 111. Reformprobleme
Eine Stellungnahme zu den drängenden Reformproblemen der unechten Unterlassungsdelikte ist im Rahmen der vorgelegten Arbeit gleichfalls nicht möglich. Bekanntlich spannen sich die rechtspolitischen Vorstellungen von der Beibehaltung des gegenwärtigen Rechtszustandes über eine "Basisvorschrift" oder die Fixierung der einzelnen Garantiepositionen im Allgemeinen Teil bis zur Lösung im Besonderen Teil38 • Da eine isolierte, von den übrigen Gleichstellungsgründen absehende gesetzgeberische Behandlung der Ingerenz nicht möglich ist, setzt eine Entscheidung dieser Alternativen Einsichten voraus, die das vorgegebene Thema übersteigen und auch nicht sinnvoll vorausgesetzt werden können. Insofern bleibt es dem Beurteiler überlassen, die hier erzielten Ergebnisse in sein rechtspolitisches Konzept selbst einzufügen. Allerdings gerät bereits der Ansatz der hier verfolgten Fragestellung in einen gewissen Widerspruch zu der vor allem von Grünwald vertretenen Ansicht, daß eine den Postulaten des Art. 103 Abs.II GG genügende Regelung im Allgemeinen Teil nicht möglich sei39 • Denn da eine dem geltenden Recht gewidmete Betrachtung notwendig zu allgemeinen Resultaten gelangen muß, das Maß ihrer Allgemeinheit aber zugleich ihre Regelungsfähigkeit im Allgemeinen Teil bezeichnet, impliziert die Lehre Grünwalds den Satz, daß eine auf Allgemeinheit ihrer Ergebnisse angewiesene Untersuchung mangels der von Art. 103 Abs.II GG geforderten Bestimmtheit notwendig mit negativen Aussagen enden müsse. - Soll jedoch die Regelung der Unterlassungsstrafbarkeit im Besonderen Teil nicht das Ergebnis gesetzgeberischer Willkür sein, so verlangt auch die kasuistische Methode nach allgemeinen Prinzipien, die die Unterscheidung strafwürdigen und nicht strafwürdigen Unterlassens allererst ermöglichen. Insofern kann die gegenwärtige Untersuchung jedenfalls Maximen bieten, deren sich auch die Anhänger der Grünwaldschen Lösung ohne Verlust ihrer 38 Vgl. Grünwald, Diss.1956, S. 72 ff.; ders., ZStW 70 [1958], 412 ff.; Armin Kaufmann, a.a.O., S. 287 ff. (dort auch S.282 N. 188a, 286 f.); Henkel, Mon SchrKrim.44 [1961], 182 et passim; Granderath, S. 254 ff.; Busch, v. WeberFestschrift, S. 192 ff.; AndrouLakis, S. 223 ff. Ferner die Beratungen der
Großen Strafrechtskommission in Bd.12 der "Niederschriften" (1959). Vgl. auch die Berichte über die Strafrechtslehrertagung 1967 in Münster: JZ 1967, 710 (Arzt); NJW 1968,27 (Meyer); JuS 1968,49 (Küper). 39 Grünwald, a.a.O., S.77; ders., zstw 70,424.
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Position bedienen können. Und zudem ist es nicht einzusehen, warum eine generelle Einsicht nicht auch allgemein sollte normiert werden können. Grünwald räumt dies für die Ingerenz wohl selbst ein, wenn er sie für "begrifflich geeignet" hält, "mit allen Tatbeständen verbunden zu werden"40. Offenbar erschöpft sich der Gegensatz in der Modalitätsäquivalenz, die allerdings einer Generalisierung unzugänglich ist. Sofern man dieses Problem nicht der Auslegung überlassen will, wäre es widerspruchsfrei möglich, die Voraussetzungen einer Bewirkensäquivalenz im Allgemeinen Teil, die einer Modalitätsäquivalenz aber im Besonderen Teil zu regeln. Letzteres könnte nach dem Vorbild des Vergehensversuchs dadurch geschehen, daß die Unterlassungsstrafbarkeit und besondere Voraussetzungen einer Modalitätsäquivalenz bei allen anderen als den Erfolgsdelikten von einer ausdrücklichen Statuierung abhängig gemacht würden4oa. Ob ein solches Verfahren realisierbar ist, braucht an dieser Stelle nicht entschieden zu werden. Prinzipielle Einwendungen gegen die Berechtigung der hier eingenommenen Fragestellung ergeben sich aus der Grünwaldschen Konzeption jedenfalls dann nicht, wenn man die Probleme der Modalitätsäquivalenz isoliert und den Ansatz auf die Konstituierung einer Bewirkensäquivalenz der Unterlassung beschränkt. Ob auf diese Weise den rechtsstaatlichen Postulaten Genüge geleistet werden kann, wird füglich erst am Ende der Untersuchung entschieden werden können. IV. Gang der Untersuchung
Der Gang der Untersuchung ist in Kürze folgender: Den Beginn der Arbeit bildet ein dogmengeschichtliches Kapitel, das die Entwicklung der Ingerenz von den Anfängen der Dogmatik im Werk Feuerbachs bis zur Garantenlehre Naglers verfolgt (1. Kap. A.-H.). Da dieser Teil neben der Darstellung der historischen Lösungsversuche ihre Kritik umschließt, eröffnet sich zugleich der Katalog der "Zugangstopoi", der das Verständnis der gegenwärtigen Situation erleichtert und wichtige Einsichten des Folgenden bereits vorwegnimmt. Im Anschluß daran wird die Judikatur - beginnend mit der Rechtsprechung des Preußischen Obertribunals - ausgebreitet, die den Gang der Darstellung fortan begleitet (1. Kap. I.). Grundlegende Be-
Grünwald, ZStW 70,428. 40a Gesetzestechnisch stimmt dieser Vorschlag mit dem von Hellmuth Mayer (Strafrechtsreform für heute und morgen, S.110; Studienbuch, S.80 Nr.14; vgl. auch Karl Peters, ZStW 77 [1965], 498 f.) unterbreiten überein. In der Sache ist er von ihm dadurch unterschieden, daß er die Regelungsfähigkeit und -bedürftigkeit im Besonderen Teil nur hinsichtlich der Begehungsmodalitäten in dem oben gekennzeichneten Sinn anerkennt. 40
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deutung beansprucht so dann die Unterscheidung der Verhaltensformen (2. Kap. A.-C.). über eine exakte Arbeitsweise hinaus werden hier vermöge der Ambivalenz mancher Konstellationen gewisse Fragen der weiteren Untersuchung bereits im Umriß beantwortet. Auch ermöglicht erst diese Unterscheidung eine Stellungnahme zu den Problemen der sog. culpa subsequens (2. Kap. D.). Der Ansatz der Gleichstellungsfrage ergibt sich aus dem Postulat des "nullum crimen sine lege" (3. Kap. A.). Dieses verweist zunächst auf eine Induktion der Gleichstellungskriterien durch Analyse gesetzlicher Anwendungsfälle (3. Kap. B.). Da dieser Weg nicht zum Ziel führt, ist eine Deduktion auf die Herstellung einer Entsprechung zum positiven Tun angewiesen. Das hierbei gefundene Abhängigkeitsverhältnis (E. A. Wolf!) wird zunächst im Hinblick auf die rechtswidrigen Vorhandlungen entfaltet und auf das Unterlassen übertragen (3. Kap. C.). Die Erweiterungen gelten den verkehrsrichtigen und den gerechtfertigten Vorhandlungen (3. Kap. D.-E.). Besondere und weitläufige Probleme wirft so dann diejenige Kategorie der Vorhandlungen auf, die in der Veranlassung oder Förderung fremder Straftaten besteht. Dieser Konstellation ist ein eigenes Kapitel (4. Kap.) gewidmet, das freilich schon deswegen manchen Anfechtungen ausgesetzt sein wird, weil seine Prämissen, vor allem das sog. Regreßverbot, keineswegs als gesichert gelten dürfen; mehr als beiläufige Erörterungen konnten diesen Fragen indessen regelmäßig nicht gewidmet werden. Den Abschluß bilden Betrachtungen zur Struktur der aktiven Begehungstat (5. Kap.); die IngerenzKonstruktion bewährt sich hier an den Phänomenen, die das Zeitmoment der Unterlassung mit sich bringt.
Erstes Kapitel Dogmengeschichte Dogmengeschichte versteht sich für eine dogmatische Rechtswissenschaft von selbst. Als "Problemgeschichte" stellt sie den Katalog denkbarer Fragestellungen und der zugehörigen Lösungsversuche. Mit der Formulierung der historischen "Topoi" ermöglicht sie zugleich ein tieferes Verständnis des gegenwärtigen Problemstandes1 • Eine Darstellung der Ingerenz-Problematik hat dabei mit der Schwierigkeit zu rechnen, daß die "gefährlichen Vorhandlungen" in untrennbarem Zusammenhang mit der Strafbarkeit unechter Unterlassungen im allgemeinen stehen. Diesem Umstand wird im folgenden dadurch Rechnung getragen, daß die Nichthinderung selbst verursach1 Die rechtsvergleichenden Arbeiten, die sich mit der Behandlung der unechten UnterlaSSlUIlgsdelikte im allgemeinen (Vgl. Gräsel, Unterlassungsdelikte, 1909; Androulakis, S. 190 ff.; Jescheck, ZStW 77 [1965], 109 H.; ferner Separovic, ZStW 77 [1965], 149 H.) und der Ingerenz-Problematik im besonderen (Granderath, S. 8 ff.) befassen, haben folgende Ergebnisse erbracht: Das dem deutschen Rechtskreis zusammen mit der Schweiz am nächsten stehende österreichische Recht anerkennt die verpflichtende Wirkung gefährlicher Vorhandlungen (Jescheck, a.a.O., S.140 f.; Granderath, S. 8; Gräsel, a.a.O., S. 25 ff.) ebenso wie das schweizerische (Jescheck, a.a.O., S.141 ff.; Granderath, a.a.O.) und das holländische Recht (Gräsel, a.a.O., S. 48 f.). Dasselbe gilt im wesentlichen für Italien und Griechenland (Androulakis, S. 195 ff., 202 ff.), sowie für das moderne jugoslawische Recht (Separowie, a.a.O., S. 149 ff. [154]; ferner Jescheck, a.a.O., S. 143 f.). - Die Eigenarten des angelsächsischen RechtskreiBes lassen eindeutige Aussagen kaum zu. Das englische Recht kennt zwar - im Zusammenhang der allgemeinen Sorgfaltspflicht - eine "legal duty to take positive action" aus gefährlichemund strafbarem Vorverhalten (Jescheck, a.a.O., S. 121; ferner Gj'anderath, S. 12); die Praxis scheint jedoch von einer allgemeinen Anerkennung dieses Grundsatzes weit entfernt zu sein (Vgl. Androulakis, S. 199 f.). Ähnliches gilt für das amerikanische Recht, das gleichfalls legal duties aus "factual situations" kennt (Jescheck, a.a.O., S.139 f. und Granderath, S.13). Im "Model Penal Code" ist die Ingerenz - wie auch im argentinischen Entwurf 1960 (Vgl. Mattes, ZStW 75 [1'963], 322 f.) ausdrücklich normiert (R. M. Honig, ZStW 75 [1963], 74). - Erwähnt sei noch die eigentümliche Stellung des französischen und belgischen Rechts. Während hier das ältere Recht die als Verpflichtungsgrund verstandene Ingerenz ausdrücklich anerkannte (Androulakis, S. 190 f.; Gräsel, a.a.O., S. 4 ff.), führte die "Erkenntnis von der Nichtursächlichkeit der Unterlassung im naturwissenschaftlichen Sinn" unter der Autorität von Gar~on zur Straflosigkeit aller unechten Unterlassungen (Vgl. Jescheck, a.a.O., S. 117 f., 130 f., 144 H. [146 f.]; ferner Gräsel, a.a.O., S. 15 f. und Androulakis, S. 191 ff.).
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
ter Erfolge als Teilfrage der Gleichwertigkeit von Handeln und Unterlassen im ganzen verstanden und dargestellt wird. Auf diese Weise wird zugleich der eigene Ansatz der Gleichstellungsfrage (3. Kap.) vorbereitet und erleichtert. Die Kritik der dargestellten Lehren beschränkt sich in der Regel auf deren "intrasystematische Folgerichtigkeit" (Arm in Kaufmann). Soweit hierbei Probleme "offen" bleiben, sind sie in den folgenden Kapiteln der Arbeit behandeW a.
A. Die Feuerbach-Spangenbergsche Rechtspftichttheorie I. Darstellung Während das römische und das ältere deutsche Recht2 über die systematisch-unverbindliche Einteilung der Verbrechen in "delieta commissionis vel omissionis" und gelegentliche Kasuistik, vor allem im Zusammenhang der Tötungsverbrechen und der "negativen Teilnahme" (concursus negativus), nicht hinausgekommen war3 , rückt die Eigenart der Unterlassungsverbrechen mit dem Aufkommen der naturrechtlich inspirierten Systeme deutlich in den Vordergrund. Als einer der ersten hat wohl Westphal (1785) allgemein die Frage nach den Voraussetzungen strafbaren Unterlassens aufgeworfen4. Er findet sie in den "besonderen Pflichten", die der Unterlassende zur Abwendung des Erfolges "auf sich" gehabt haben müsse: "Wo dergleichen besondere Pflichten nicht sind, da ist die Comißio kein VerbrechenS." Ihre klassische Form hat diese Auffassung durch Feuerbach erhalten6• In
§ 24 seines Lehrbuches bestimmt er: "So ferne ein anderes Subject ein Recht
1a Die im folgenden nachvollzogene Periodisierung der Dogmengeschichte wird von den Einwänden Armin Kaufmanns (Dogmatik, S. 243 N. 16) nicht berührt; denn da gegenwärtig die Geschichte der "axiologischen" Gleichstellungsproblematik in Frage steht, vermögen die "dogmatischen" Ansätze zu ihrer Lösung keinen Einfluß auf die Periodisierung zu gewinnen. 2 Für das römische Recht sind Glaser, Abhandlungen, Bd. I, S. 326 ff.; Aldosser, UnterlasSlUI1gen, S. 125 ff. und R. Honig, Heilfron-Festschrift, S. 63 ff. heranzuziehen. Das ältere deutsche Recht wird bei Glaser, a.a.O., S.339ff.; Geib, Lehrbuch, Bd. H, S. 184 ff. (187 ff.); Clemens, Unterlass,ungsdelikte, S. 6 ff.; Wilhelm Schwarz, Kausalität, S. 3 ff.; Schaffstein, Allgemeine Lehren, S. 56 ff. und Nagler, GS 111 [1938], 7 ff. dargestellt. Wenn sich hier auch nirgends Belege für eine Behandlung der Ingerenzproblematik finden lassen, so bleibt zu bedenken, daß sie ihrer ambivalenten Stellung halber unter abweichenden dogmatischen Aspekten - etwa dem Versari-Gedanken versteckt sein mag. 3 Vgl. Schaffstein, a.a.O., S. 56, 59. Ganz im Banne der Verbrechenshinderung sehen das UnterlaSSlUllgsproblem noch Püttmann, Adversariorum juris universi H, 1778, p.209 sqq; Kleinschrod, Grundbegriffe 1,1794, S. 296 ff;. v. Quistorp, Grundsätze I (6), 1796, S. 77 ff.; Meister, Principia juris (4), 1805, p.45; Stübel, Tatbestand, 1805, S. 55 ff.; Tittmann, Handbuch I (1), 1806, S. 81 f., 280 ff.; Salchow, Lehrbuch, 1807, S. 45 f. Vgl. ferner v. Grolmann, Grundsätze (3), 1818, S. 25 f. und Roß hirt, Lehrbuch, 182'1, S. 65 ff. 4 Westphal, Criminalrecht, 1785, S.13. 5 a.a.O.; vgl. auch S. 56 f.
A. Die Feuerbach-Spangenbergsche Rechtspflichttheorie
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auf wirkliche Äußerung unserer Tätigkeit hat, in so ferne gibt es Unterlassungsverbrechen ... Weil aber die ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers nur auf Unterlassungen geht; so setzt ein Unterlassungsverbrechen immer einen besonderen Rechtsgrund (Gesetz oder Vertrag) voraus, durch welchen die Verbindlichkeit zur Beg e h u n g begründet wird. Ohne diesen wird man durch Unterlassung kein Verbrecher7 ." An die Stelle dieses Dualismus' setzt SpangenbergS, nach Winckler 9 wohl der zweite Autor, der den Unterlassungsdelikten eine selbständige Arbeit gewidmet hat, ein um die "besonderen Verhältnisse" vermehrtes "Trifolium". Er bleibt zunächst ganz in den durch Feuerbach eröffneten Bahnen, wenn er - da die "Sphäre des Strafrechts" ursprünglich nur auf Unterlassungen geht - einen "besonderen Rechtsgrund" zur Strafbarkeit der Unterlassung verlangtl 0 • An erster Stelle steht auch bei ihm das positive Gesetz mit seinen "polizeilichen Rücksichten", das in erster Linie die heute sogenannten echten Unterlassungsdelikte zum Gegenstand hat l l . Unter die Vertragskategorie faßt er ungeschieden echte und unechte Unterlassungsdelikte; Hauptanwendungsfall ist der Vertrag des Staatsdieners12 • Die Masse der unechten Unterlassungsdelikte im heutigen Sinne fällt nun in die dritte, mit der zweiten sich vielfach überschneidende Gruppe der "besonderen rechtlichen Verhältnisse", deren Anerkennung als "besonderer Rechtsgrund" ein dringendes praktisches Bedürfnis verlange13• Diese Verhältnisse knüpfen zwischen den Menschen ein "besonders inniges Band ... , vermöge welchem dieselben einander ganz vorzüglich zugetan sein müssen, und sich gegenseitig zu dem möglichsten Schutz und Beihülfe verpflichtet sind"14. Als Beispiele kennt Spangenberg vor allem Ehe, Verwandtschaft und Vormundschaft, das Soldaten- und Untertanenverhältnis etc. 15 • Die zeitgenössische Dogmatik hat diese Lehren weithin rezipiertl 6 • 6 Kritische Darstellungen der Feuerbach - Spangenbergschen Lehren finden sich bei Krug, Commentar, 4. Abtlg., Abhandlungen, Bd. II, S. 26 ff; Luden, Abhandlungen, Bd. II, S. 226 ff.; Glaser, a.a.O., S. 370 ff.; Aldosser, Unterlassungen, S. 5 f.; Landsberg, S. 229 ff.; Clemens, a.a.O., S. 3 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 5 ff.; Rudolphi, S. 5 ff. 7 Feuerbach, Lehrbuch (2), 1803, S. 24 f.; noch fast wörtlich übereinstimmend Lehrbuch (11), 1832, S. 22 f. - Die Grundzüge dieser Lehre finden sich auch schon in Lehrbuch (1), 1801, S. 13 f. Vgl. dazu Clemens, a.a.O., S. 9 f.; W. Schwarz, a.a.O., S.5; Nagler, GS 111 [1938], 11; Wrede, Diss. Hamburg, 1955, S.26. Ferner Feuerbach, Lehrbuch (2), S.185, 240 ff., 437. - Zu dem Verhältnis der beiden Verpflichtungsgründe bemerkt Landsberg (S.282) treffend: "Die Gesellung von Gesetz und Vertrag ist dabei in demselben Sinne aufzufassen, wie man von der Entstehung z. B. der Obligationen e lege und e contractu redet; d. h. so, daß die Verpflichtung entweder unmittelbar aus dem Gesetze, oder mittelbar aus diesem, durch Vermittlung eines rechtlich bindenden Vertrages hervorgeht." 8 NArchCrimR. 4 [1821], 527 ff. S De crimine ommissionis, 1776. 10 a.a.O., S. 528 f. 11 a.a.O., S. 532 ff. 12 a.a.O., S. 543 ff. 13 "Wenn nicht eine Lücke in dem System des Strafrechtes schmerzlich gefühlt werden soll." (a.a.O., S.538) 14 a.a.O., S. 539. 15 a.a.O. 16 Vgl. vor allem Henke, Handbuch I, 1823, S. 395 ff.; Wächter, Lehrbuch I,
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
11. Kritik Die Kritik hat nun mit vollem Recht immer wieder darauf hingewiesen, daß es willkürlich sei, "wenn die Gleichstellung dessen, was nicht geschehen ist, mit dem was geschehen ist, durch das Widerrechtliche des Benehmens eines bestimmten Menschen gerechtfertigt werde I7 ", daß nicht einzusehen sei, warum die "Verletzung einer staats- oder zivilrechtlichen Pflicht andere als zivil- oder staatsrechtliche Nachteile nach sich ziehen solleiS", daß insbesondere die Vertragskategorie teils zu weit und teils zu eng sei, um die strafwürdigen Fälle zu erfassen l9 . Mit einem Wort: daß die in dieser Weise als rechtswidrig ausgewiesene Unterlassung mangels "Pönalsanktion" kein Verbrechen sei 2o • Zudem zeigt sich, daß die Ingerenz in diesem System keinen Raum hat. Denn es gibt kein "bürgerliches Gesetz", welches die Abwendung selbst verursachter Gefahren zur Pflicht macht; ebensowenig läßt sich ohne Fiktionen ein Vertrag zwischen dem Täter und dem Gefährdeten konstruieren. Die Ingerenz paßt auch nicht in die Spangenbergschen "besonderen rechtlichen Verhältnisse", die nur "konstante Solidaritätsverhältnisse21 " zum Gegenstand haben.
Es sollte hierbei jedoch nicht vergessen werden, daß es jedenfalls für
Feuerbach in erster Linie um eine formale Harmonisierung der Unter-
lassungsdelikte mit seinem Verbrechensbegriff ging: Ist das Verbrechen "Rechtsverletzung", d. h. Verletmmg der dem anderen je zustehenden Rechte im subjektiven Sinn, so setzt auch das strafbare Unterlassen in der Person des Verletzten "ein Recht auf wirkliche Äußerung unserer Tätigkeit" voraus. Eine Aussage über den Umkreis tauglicher Garanten enthält § 24 des Feuerbachschen Lehrbuchs auch dann nicht, wenn man den Unterlassenden vom "objektiven Recht" her sieht; denn insofern gibt er lediglich die naturrechtlich-liberale Präzisierung der aus dem Gesellschaftsvertrag herzuleitenden Bürgerpflichten: Die "ursprüngliche Verbindlichkeit des Bürgers" und damit die "Sphäre des Strafrechts" geht nur auf Unterlassungen 22 • 1825, S.153 N.88; Martin, Lehrbuch (2), 1829, S. 152 f., 168 ff.; Heffter, Lehrbuch, 1833, S. 97 N. 2, Bauer, Lehrbuch (2), 1833, S. 100; ders., Abhandlungen I, 1840, S.424. Auch Breidenbach, Commentar I, 1, 1842, § 2 zu Art. 2 HessStGB (S.219) verlangt die aus Straf- oder "bürgerlichen Gesetzen" hergeleitete Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung. Gleichwohl nennt er (a.a.O., N. 2 sub 4) einen Ingerenz-Fall: C verhindert nicht, daß der arglose D, der mit der geladenen Pistole des C spielt, diese "zum Scherz" an die Stirn setzt und abdrückt. Breidenbach scheint "die Materie ... noch nicht ganz aufgeklärt zu sein" (a.a.O., S.220); vgl. ferner noch KöstHn, System AT, 185,5, S. 211 f., 294 ff. 11 Glaser, a.a.O., S.373. 18 a.a.O.; v. Bar, Causalzusammenhang, S. 90 f. 19 Krug, a.a.O., S.26; Glaser, a.a.O., S.376; Luden, a.a.O., S.227, 229 ff. 20 Luden, a.a.O., S. 238. 21 Vogt, ZStW 63 [1950/51], 401. 22 Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang bei Schröter, Handbuch I, 1818, S.117 f., der die "besondere Verbindlichkeit zum Handeln" deswegen verlangt, weil "im unbedingten Naturzustande eine unterlassende Rechtsverletzung überhaupt gar nicht gedacht werden kann". Ähnliche Gedanken klingen auch bei Stübel, Thatbestand, 1805, S. 55 f.; Henke, Handbuch I, 1823, S. 396 und Spangenberg, a.a.O., S. 528 f., 531 an.
A. Die Feuerbach-Spangenbergsche Rechtspflichttheorie
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111. Anfänge der Ingerenz Wenn man somit die Ingerenz in einer nur formal abgrenzenden Theorie nicht wird vermissen können, so kann es gleichwohl nicht Wunder nehmen, daß die ersten kasuistischen Ursprünge in diese Zeit fallen. Als "Entdecker" gilt Stübel, der im Rahmen seiner der Teilnahme gewidmeten Schrift23 im Jahre 1828 die Frage erörtert hatte, ob in der Unterlassung der Verbrechenshinderung eine "negative Mitwirkung zu einem Verbrechen" zu sehen sei 24 ; da hierzu nur eine "Tugendpflicht" bestehe, könne diese Frage nur dann bejaht werden, wenn die Nichthinderung von Verbrechen durch ein spezielles positives Gesetz zu einem "Polizeivergehen" erhoben worden sei 25 . Nur beiläufig und zur Abgrenzung erwähnt er so dann die "Unterlassungen, welche eigene besondere Verbrechen sind, da durch sie Rechte verletzt werden"26. Von ihnen heißt es: "Es gibt allerdings Fälle, in denen Jemand, vermöge eines besonderen Verhältnisses, oder einer vorhergehenden Handlung desselben, zu einer Handlung rechtlich verpflichtet ist. So machen sich z. B. Eltern, wenn sie ihren Kindern die zur Erhaltung des Lebens notwendige Pflege versagen, und diejenigen, welche einen anderen in einen Zustand versetzt haben, in welchem er ohne ihre Hilfe um das Leben kommen muß, des Verbrechens einer Tötung schuldig. Man denke sich den Fall, daß Jemand einen Anderen einsperrt und ihm die erforderlichen Lebensmittel zu reichen unterläßt27." Vorhergehende Handlungen, vorzüglich solche, durch welche jemand in einen hilfebedürftigen Zustand versetzt wird, sind nun in der Tat die ingerenten Vorhandlungen der heutigen Lehre. Sieht man davon ab, daß Stübel ihre Verpflichtungswirkung lediglich am Beispiel der Lebensgefährdung demonstriert und eine volldeliktische Freiheitsberaubung die Funktion der Vorhandlung übernimmt28, so scheint hier in der Tat zum ersten Mal die Ingerenz-Problematik erkannt und ausgesprochen zu sein 29 . Nun hieße es, die Virulenz dieses Gedankens verkennen, wollte man mit einer verbreiteten Meinung annehmen, daß sich keine früheren Belege beibringen ließen 3o • Bedenkt man die Neigung der gemeinrechtlichen Doktrin, die omissio kasuistisch zu behandeln31 , ferner den Umstand, daß die Unterscheidung echter und unechter Unterlassungs delikte erst auf Luden zurückgeht, so kann es nicht verwundern, wenn schon eine flüchtige Durchsicht der seit 1800 erschienenen einschlägigen Werke gleich zwei frühere Fundstellen erbracht hat. 23 24 25 26 27 28
über die Theilnahme mehrerer Personen an einem Verbrechen etc., 1828. a.a.O., S. 58 f. a.a.O., S. 60. a.a.O., S. 61. a.a.O., S. 61. Daß Stübel die Verpflichtungswirkung auf strafbare oder doch wenigstens rechtswidri~ Vorhandlungen habe beschränken wollen (so: Clemens, a.a.O., S.14 und Granderath, S.7, 149 N.l), läßt sich der beiläufigen Bemerkung kaum entnehmen. 29 Die von Stübel (a.a.O., S. 61 N.48) für seine Ansicht in Anspruch genommenen Autoren behandeln diese Fra~ nicht. 30 Clemens, a.a.O., S.14; Nagler, GS 111 [1938], 26 N.60; Vogt, ZStW 63 [1950/51], 385; Nahstoll, Diss.1951, S.93; Armin Kaufmann, Dogmatik, S.241 N.I0; Granderath, S.7; Androulakis, S.I84; Jescheck, ZStW 77 [1965], 113; Rudolphi, S. 6 f. 31 Siehe o. S. 26.
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
So erwähnt Stübel selbst im Jahre 1805 32 einen von der Wittenberger Juristenfakultät begutachteten Fall, in dem ein Rittergutsbesitzer der fahrlässigen Tötung für schuldig erachtet wurde, weil er einen seiner Arbeiter auf dem Eise so gestoßen hatte, daß dieser einen gefährlichen, wenn auch an sich nicht tödlichen Bruch davongetragen hatte, den der Mann aus Armut oder Unerfahrenheit nicht hatte auskurieren lassen und daran gestorben war. Das von Stübel geteilte Votum ging dahin, daß der Rittergutsbesitzer als Urheber des Bruches "verbunden gewesen [sc. sei], den Verunglückten von der Verwahrlosung des Schadens möglichst abzuhalten"33. Einen anderen Fall erwähnt Oerstedt in seinen 1818 erschienenen "Abhandlungen": "Es ist auch nicht selten, daß ein rechtswidriger Erfolg durch zusammengesetzte positive und omissive Handlungen, die ein unteilbares Ganzes ausmachen, hervorgebracht wird. Wenn z. B. Jemand einem anderen eine an sich nicht tödtliche Wunde zufügt, und ihn dann in einem hülflosen Zustande verläßt, worin dieser umkommt, und nach dem, was von dem Verwunder vorauszusehen war, umkommen mußte, so kann es wohl keinen Zweifel leiden, daß eine vorsätzliche Tödtung begangen ist 34 ." Man mag sich mit diesen Beispielen begnügen. Sie beweisen hinreichend, daß der Ingerenz-Gedanke keiner "Entdeckung" und keines Gerüsts zu seiner systematischen Bewältigung bedarf, um für kasuistisches Denken unmittelbar einleuchtend zu sein.
B. Die Kausalität des Andershandelns (Luden) Die Kritik der Rechtspfiichttheorien hatte Luden35 zu der überzeugung geführt, daß die Verletzung einer gesetzlich, vertraglich oder in anderer Weise begründeten Rechtspflicht als solche kein Verbrechen begründen könne 36 . Diese Einsicht eröffnet sich ihm gerade auch im Hinblick auf die Ingerenz, bei der es jedoch "nach Analogie unserer Gesetze" keinem Zweifel unterliegen könne, daß "Jeder, der Anlagen macht, oder Handlungen vornimmt, die zwar an und für sich erlaubt sind, aber für andere Menschen, wenn sie nicht gewarnt und davon in Kenntnis gesetzt sind, Gefahr bringen, die Verpflichtung habe, zwar nicht jene Handlungen zu unterlassen, wohl aber, andere Menschen davon in Kenntnis zu setzen, so daß er in Beziehung auf den Erfolg, der aus der unterlassenen Warnung hervorgegangen ist, als Urheber angesehen wird"37. 32 Stübel, über den Thatbestand der Verbrechen, 1805. 33 a.a.O., S. 226 f.; der zitierte Text steht wiederum im Zusammenhang der "negativen Teilnahme" durch unterlassene Verbrechenshinderung. 34 Oerstedt, Abhandlungen aus dem Gebiete der Moral und Gesetzgebungsphilosophie I, 1818, S. 311. 35 Luden, Abhandlungen I, 1836, S. 467 ff.; 11, 1840, S. 219 ff.; Handbuch I, 1847, S. 217 ff., 359 ff. Darstellung und Kritik seiner Lehren flnden sich vor allem bei Krug, Commentar, 4. Abtlg., Abhandlungen 11, S. 28 ff.; Glaser, a.a.O., S. 379 ff.; v. Bar, Causalzusammenhang, S. 91 ff.; Aldosser, a.a.O., S. 6 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 6 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 8 fi.; Rudolphi, S.7 ff. 36 Abh. 11, S. 226 ff. Die Rolle der Rechtspjlicht in seinem System bleibt unklar; vgl. Abh. 11, S. 226 gegenüber Abh. I, S. 471 f. und Handbuch, S. 361 N.7. In Abh. I, S. 470 f. wurde die Pflicht zur Hinderung fremder Verbrechen mit der Begründung verneint, daß hier kein Kausalzusammenhang bestehe. Vgl. Krug, a.a.O., S.2'9; v. Rohland, a.a.O., S. 10. 31 Abh.lI, S.247.
B. Die Kausalität des Andershandelns
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Sein eigener Ansatz zur Lösung des Unterlassungsproblems führt über die wichtige Unterscheidung "echter" und "unechter" Unterlassungsdelikte, die vielfach als seine bleibende Leistung angesehen wird. Die "Unterlassungsverbrechen im eigentlichen Sinne" sind durch die Verletzung eines "Praeceptivgesetzes" gekennzeichnet, welches die Vornahme einer Handlung ausdrücklich und bei Strafe gebietet, ohne aber die Verletzung subjektiver Rechte oder den Eintritt eines Schadens zum Gegenstand zu haben38• Als bloße Nichterfüllung einer "obligatio ad faciendum" setzen sie in der Tat einen Rechtsgrund im herkömmlichen Sinne voraus 39 und fallen in die Klasse der "Gesetzesverbrechen"4o, da hier der "nächste" und der "entferntere" Grund der Strafbarkeit allein das gesetzliche Gebot selbst ist41 • Die andere Gruppe der Unterlassungsdelikte hingegen wird durch "Unterlassungshandlungen" begangen, welche ein "Prohibitivgesetz" verletzen und auf die Beeinträchtigung fremder subjektiver Rechte gerichtet sind 42 . Sie gehören zu den "Rechtsverbrechen", welche schon durch das allgemeine Gesetz des "neminem laede" verboten sind, da hier der "entferntere" Grund der Strafbarkeit die Richtung auf die Verletzung subjektiver Rechte, der "nähere" aber das Verbot der Begehungstatbestände ist. Sie bedürfen daher auch keiner besonderen "Pönalsanktion"; so fällt etwa die Tötung durch Unterlassung "wie jede andere Handlung, welche die gleiche Richtung hat, unter das Strafgesetz, welches von der Tötung handelt, und braucht ebenso wenig hervorgehoben zu werden, als es einer besonderen Erwähnung bedarf, daß man nicht nach einem anderen stechen oder schießen oder eine andere Handlung ähnlicher Art gegen ihn begehen dürfte"43. Die Frage nun, wann eine "Unterlassungshandlung" die Richtung auf die Verletzung fremder subjektiver Rechte "erkennen" lasse, beantwortet Luden, indem er den Unterschied zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten sowie zwischen Handeln und Unterlassen für "formell" erklärt 44 . Da jedes Gebot ein Verbot enthalte et vice versa, werde "im Falle eines Begehungsverbrechens sowohl, als eines Unterlassungsverbrechens eine an der e Ha n d 1 u n g begangen ... , als diejenige, welche nach dem Willen des Gesetzes begangen werden mußte"45. Da weiter "jede Tätigkeit von der anderen Seite aus als Untätigkeit, und umgekehrt diese als jene angesehen werden kann"46 und der Mensch "als gar nicht handelnd ... juristisch gar nicht gedacht werden" kann 47, nimmt er auch bei jeder Unter38 Abh H, S. 119 f., 223, 242. 39 Abh. I, S. 468, 473. 40 Dazu Abh. H, S" 169 ff. (173). U Abh. H, S. 221 f., 169. 42 Abh. H, S. 169 ff., 220. 43 Abh. 11, S. 245 f.; vgl. auch Abh. I, S. 473. 44 Abh. H, S.220; vgl. dazu Glaser, a.a.O., S.380; v. Rohland, a.a.O., S.7; Binding, Nonnen 11, 1 (2), S.521 N.7 und Annin Kaufmann, Dogmatik, S.4 N.12. 4S Abh.lI, S. 221; Hervorhebung vom Verf. 46 Abh.lI, S. 223; vgl. auch Abh. I, S.470, 473. 47 Abh. 11, S. 221.
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
lassung zugleich eine "andere Handlung" vor48 : "Denn während er das eine unterließ, muß er notwendig etwas anderes getan haben, und das muß immer eine positive Handlung gewesen sein, sollte sie auch in bloßem Zusehen oder in einer Ortsentfernung bestanden haben. Und die s e positive Handlung ist alsdann die alleinige Ursache des ver b re c her i sc h e n Er f 0 I g e s 49." Anderenfalls der "Mensch für etwas verantwortlich gemacht werden würde, das nicht aus seiner Tätigkeit oder aus seiner Handlung hervorgegangen wäre"50. Seit Krug hiergegen eingewendet hatte, daß danach der Säugling am Strümpfestricken gestorben sei, wenn die Mutter, statt ihm Nahrung zu reichen, Strümpfe gestrickt habe 51 , ist man sich über die Unhaltbarkeit der Lehre Ludens einig. Sie verkennt nicht nur den Unterschied zwischen Handeln und Unterlassen, sondern übersieht vor allem, daß die "andere Handlung" gänzlich außerhalb des auf die Verletzung gerichteten Bewirkungszusammenhanges bleibt und bei Annahme dieses Prinzips zudem jede Unterlassung ohne Rücksicht auf irgend welche einschränkenden Kriterien vermöge der Kausalität der "anderen Handlung" ein Verbrechen wäre 52 • Die mißglückte Verschiebung des Kausalproblems in die Positivität der anderen Handlung hätte hier nun keiner Erwähnung bedurft, wenn sie nicht in der Folge zu einer Reihe von Theorien geführt hätte, die den Nachweis einer Kausalität der Unterlassung durch den Rückgriff auf eine "vorhergehende Handlung" zu führen suchten und damit die bisher kaum recht erkannte Ingerenz zum Zentralproblem der unechten Unterlassungsdelikte erhoben. Luden hat auf diese Weise einen kaum zu überschätzenden Einfluß auf die Unterlassungsdogmatik des 19. Jahrhunderts gewonnen53•
C. Die Ingerenz-Theorien (Temme, Krug, Glaser, Adolf Merkei) Denn wenn die Ludensche Konzeption vor allem an der fehlenden Kausalität zwischen der zur Zeit der Unterlassung vorgenommenen Handlung und der Verletzung des betreffenden Gutes gescheitert war, so mochte es für eine "Epoche des naturwissenschaftlichen Kausaldenkens 54 " naheliegen, den Nachweis einer "echten", Veränderungen 48 In Abh. I, S. 469 f. wird das Verbrechen der Mutter, die ihr Kind verhungern läßt, ebenfalls damit begründet, daß ihre "unterlassende Handlung" von der anderen Seite aus betrachtet eine positive Handlung sei. Sodann wird aber darauf abgehoben, daß "zwischen dem Nichrtdarreichen von Nahrungsmitteln ... und dem Entziehen (!) derselben ... kein Unterschied" sei. Die "andere Handlung" ist somit echte Tötungshandlung, gegen die die Unterlassung abgewogen wird. 49 Abh. I, S.474; Hervorhebung dort. Vgl. auch Abh. II, S. 225 f. 50 Abh. II, S. 221. 51 Krug, Commentar, 4. AbtI., Abhandlungen II, S.30. 52 VgI. dazu Krug, a.a.O., S.32; Glaser, a.a.O., S. 382 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 8 f.; v. Bar, a.a.O., S.93; Träger, Unterlassungsdelikte, S. 30 f.; W. Schwarz, a.a.O., S. 11 53 VgI. die Würdigungen in den oben N.35 genannten Schriften. 54 Jescheck, ZStW 77 [1965], 114.
c. Die Ingerenz-Theorien
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der Außenwelt bewirkenden "Auslösungskausalität55U durch Rückgriff auf ein anderes wirkliches Tun des Unterlassenden unter Beweis zu stellen. Da das normale Begehungsdelikt Koinzidenz von Verursachung und Schuld aufweist 56 , bot sich hierbei eine vorhergehende Handlung des Unterlassenden an. I. Darstellung
Diesen Weg sind vor allem Temme, Krug, Glaser und Adolf Merkel gegangen 51 . Den von ihnen vertretenen Theorien ist gemeinsam, daß sie als "Kausalitätslösungen"58 die Unterlassungsproblematik mit Hilfe der Kausalität der Vorhandlung zu erschöpfen suchen; sie mögen dieserhalb als "Ingerenz-Theorien" bezeichnet werden. Hat doch Nagler die als Verpflichtungsgrund verstandene Ingerenz das "lebenskräftige Glanzstück" dieser Lehren genannt59 • Ihre einzelnen Variationen seien zunächst dargestellt6o • 1. Temme
Als erster findet Temme61 die Kausalität der Unterlassung in einer vorausgegangenen Handlung. Da tatbestandsmäßige Erfolge nur durch positive Tätigkeit bewirkt werden können und bloßer Untätigkeit diese Eignung auch bei bestehender Rechtsverbindlichkeit zum Handeln nicht zukommt, ist für die unechten Unterlassungsdelikte "immer ein positives Verhalten gefordert, mit w eIe h e m in Ver bin dun gauch die Unterlassung das Verbrechen hervorbringen kann, so daß dann das Verbrecherische des Verhaltens immer in einer positiven Tätigkeit 55 Engisch, Weltbild, S.135. Vgl. Binding, Normen 11, 1 (2), S. 511 ff. 51 Weitere Nachweise bei W. SchwaTz, a.a.O., S.20 N.49-57. 58 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 266 ff. 59 GS 111 [1938], 26 f. N.60. Vgl. auch v. AlbeTti, Verbotsverletzende Unterlassungen, S.8; KantoTowicz, Unechtes Unterlassungs- und unbewußtes Fahrlässigkeitsdelikt, S. 9 f. 49; Armin Kaufmann, a.a.O., S.268 N.130. 60 Zusammenfassende Darstellungen finden sich bei Landsberg, S. 7 ff.; Aldosser, a.a.O., S. 13 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 10 ff.; Träger, a.a.O., S. 31 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S.13 ff.; Rudolphi, S. 9 ff. 61 Temme, Lehrbuch des Preußischen Strafrechts, 1853, S. 262 ff.; ders., Lehrbuch des Gemeinen Deutschen Strafrechts, 1876, S. 112 f. - Mit Ausnahme von GlaseT, Abhandlungen, S.394 N. 131 haben schon die zeitgenössischen Autoren seinen Beitrag übersehen, obwohl Temme die Grundzüge der Ingerenz-Theorie 2 Jahre vor Krug entworfen hatte. 56
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seinen Grund hat"62. Handeln und Unterlassen bilden dabei ein "Ganzes"83. Nicht wegen ihrer verpflichtenden Wirkung, sondern vermöge ihrer effektiven Kausalität wird die gefährliche Vorhandlung auf diese Weise zum notwendigen Requisit jeder Begehung durch Unterlassen. Wie dabei das "Ganze" positiven und negativen Verhaltens zu denken ist, bleibt ungeklärt. 2. Krug
Auch Krug 64 folgt Luden in der überzeugung, daß sich die Unterlassungsfrage auf das Kausalproblem reduziere; denn ohne Kausalzusammenhang gebe es keine Imputation65 . Da reine Untätigkeit" = 0" ist und somit "nie und nimmermehr" Ursache eines Erfolges sein kann 66, setzt sie voraus, daß sie mit "Handlungen ... , welche mit dem Erfolge im Causalverhältnis stehen, in Verbindung tritt"61. Das vermißte Kausalstück findet Krug in einer vorhergehenden Handlung des Unterlassenden, zu deren "Bestandteil" die Unterlassung werde 68 . Zwar obwalte hier das "eigentümliche Verhältnis", daß der dolus nicht der "Begleiter" der Handlung, sondern erst "der den Erfolg derselben vermittelnden Unterlassung" zu sein pflege69 . Das Fortwirkenlassen des Geschehens begründe jedoch den notwendigen "juristischen Zusammenhang", durch welchen der Wille zum dolus werde10 , denn dieser müsse nicht notwendig schon "mit dem Beginne" der den Erfolg verursachenden Handlung eingetreten sein11. 62 Lehrbuch, 1853, S.264; Hervorhebung dort. 63 a.a.O.; in Lehrbuch, 1876, S. 112 f. wird diese Ansicht offenbar beibehalten. 64 Krug, Commentar zu dem Strafgesetzbuch für das Königreich Sachsen, 1855, 1. Abtlg., S. 81 ff., 2. Abtlg., S. 172 f.; 4. Abtlg. (Abhandlungen II), S. 21 ff., 61 f. - In seinen "Studien", 2. Abtlg., 1838, S. 52 ff. hatte sich Krug noch mit einer "speziellen Verpflichtung" zu positiver Tätigkeit begnügt, die u. a. auch auf "stillschweigender übernahme" beruhen konnte; denn wenn ich "Jemanden in eine Lage versetze, in welcher er ohne meine Hilfe zu Schaden kommen muß" und ihm diese nicht gewähre, so bin ich für den Erfolg verantwortlich (a.a.O., S. 55). - Darstellung und Kritik der Lehren Krugs finden sich bei Glaser, Abhandlungen I, S. 392 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 10 ff.; Aldosser, a.a.O., S. 13 ff.; Träger, a.a.O., S. 32 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S.13 ff. 85 Commentar, a.a.O., S. 32 ff. (4. Abtlg.). 68 a.a.O., S. 33. 61 a.a.O., S. 34. 68 a.a.O., S. 34; vgl. auch Comm. 1. Abtlg., S. 83. 69 Comm. 4. Abtlg., S. 43. 10 a.a.O., S. 36. 71 a.a.O., S. 61.
c.
Die
In~renz-Theorien
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Während sich nun Temme folgerichtig mit dem Nachweis einer wirklichen Kausalität begnügt hatte, fordert Krug zusätzlich, daß sich der Unterlassende durch die kausale Vorhandlung zur Abwehr des eingetretenen Erfolges verpflichtet haben müsse. Im Gegensatz zu Feuerbach ist dabei freilich eine Pflicht "spezieller" Art gefordert, "d. h. eine solche, vermöge deren darauf gerechnet werden muß, daß in Hinsicht auf ein bestimmtes, zum Voraus erwartetes oder besorgtes Ereignis eine bestimmte positive Handlung von dem Verpflichteten, und gerade von diesem, in dem entscheidenden Momente vorgenommen werde"72. Soweit die Pflicht auf einem "förmlichen Dienstversprechen" oder einem "Privatversprechen" beruht, ergibt sich diese Einschränkung für Krug aus dem Gedanken, daß nur die Verletzung einer speziellen Pflicht Ursache eines Erfolges sein könne 73 , da sich die Rechtsgenossen nur hier im Vertrauen auf den "verpflichteten Mann" einer Gefahr aussetzten74 • Ob neben dieser psychischen Kausalität der Ausschluß anderer Bewerber durch übernahme der Verpflichtung zur Bejahung der Kausalität ausreicht, bleibt hingegen offen75 . Die Verpflichtung zur Gefahrenabwehr kann aber auch auf einer solchen Handlung beruhen, "aus welcher ihrer Natur nach eine Verpflichtung zu speziellem positiven Handeln hervorgeht"76. Das sind zunächst die "gemeingefährlichen Handlungen", deren Urheber "eo ipso" mit Vorsicht zu verfahren und daher auch mögliche Nachteile für Dritte tätig abzuwenden habe77 • Wer etwa eine "Pulvermine" entzünde, müsse jeden Herannahenden warnen, da der mögliche Unfall durch die Vorhandlung verursacht seil8. Dasselbe gelte für Handlungen, durch die einem einzelnen eine bestimmte Gefahr bereitet werde. So habe die Mutter, welche ihr Kind verhungern lasse, dieses "durch ihre vorausgegangenen H a n d I u n gen ... in ein hülfloses Dasein gerufen"79; wenn sich jemand in einer Wohnung mit einer nur von außen zu öffnenden Tür unvorsichtig einschließe, so sei der Wohnungsinhaber verantwortlich, weil ihm "die Beschaffenheit des Schlosses, eventuell die übernahme einer Wohnung mit so beschaffenem Türschlosse als Handlung anzurechnen ist"80. 72 a.a.O., S. 38. 73 a.a.O., S. 36, 39. 74
a.a.O., S. 35 f. So habe z. B. der Weichensteller den Lokomotivführer
77
a.a.O.
durch die übernahme seiner Stellung zum Antritt der Fahrt bewogen. 75 Vgl. das Beispiel S. 38 f. 76 a.a.O., S. 39.
78 a.a.O., S. 40. 79 a.a.O.; Hervorhebung dort. 80 a.a.O., S. 41; vgl. ferner a.a.O., S. 61 f.: Jemand bemerkt, daß vom Herd-
feuer, das er angezündet hat, eine Kohle abspringt und in einen Haufen Späne fällt: Brandstiftung durch Unterlassen. 3·
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
Zusammengefaßt ergibt sich somit, daß eine strafbare unechte Unterlassung nur dort anzunehmen ist, wo der Unterlassende die zum Erfolg führenden Naturkräfte entweder "direkt", nämlich durch Ingangsetzen, oder "indirekt", nämlich durch Hervorrufen von Vertrauen auf seine abwehrende Tätigkeit, kausal bewirkt hat81 . Wo keine derartige Beziehung besteht, wird der Mensch auch dann nicht zum Urheber des Erfolges, wenn er der einzige ist, der ihn abwehren könnte82 .
3. Glaser Auch Glaser8 3, dem die Ingerenz-Theorie ihre klassische Formulierung verdankt, sucht das Unterlassungsproblem durch die Einführung eines wirklichen Kausalzusammenhanges zu lösen. Da der Tatbestand eines Begehungsdelikts voraussetzt, daß zwischen dem menschlichen Verhalten und dem Erfolg das Verhältnis von Ursache und Wirkung besteht84, kommt ein Unterlassen dann nicht als verbrecherisch in Betracht, "wenn erster Anstoß und Verlauf jener Kette von Ursachen, an deren Ende der strafbare Erfolg steht, ganz außerhalb des Bereichs seines [sc. des Menschen] wirklichen Tuns liegen und der Erfolg nur in so ferne durch sein Tun und Lassen bedingt ist, als er den Eintritt hätte hindern können"85. Strafbares Unterlassen setzt vielmehr voraus, daß der Erfolg durch eine frühere Handlung des Unterlassenden (mit)verursacht worden ist86 . Dem Einwand, daß seine Lehre auf die Anerkennung des dolus subsequens hinauslaufe, begegnet Glaser nun mit der Erwägung, daß die Wechselbeziehungen zwischen dem Menschen und der Außenwelt zu mannigfaltig seien, als "daß sie ohne Nachteil für die richtige Erkenntnis der Sache der schroffen Antithese: Ha n deI n - U n t e r las sen unterworfen werden könnten"87. Es sei vielmehr unrichtig, das menschliche Verhalten in zwei Teile aufzuspalten, da es doch wesensmäßig eine 81 a.a.O., S. 42 f. 82 a.a.O., S. 41. 83 Glaser, Abhandlungen aus dem österreichischen Strafrecht, Bd. I, 1858, S. 289 ff.; Artikel Unterlassungsverbrechen, in: v. Holtzendorffs Rechtslexikon, Bd.lI, 2 (3), 1881, S. 932 ff.; Studien zum Entwurf des österreichischen Strafgesetzes über Verbrechen und Vergehen, 1870, S. 96 ff. - Darstellung und Kritik seiner Lehren bei v. Bar, Causalzusammenhang, S. 93 ff.; ders., Gesetz und Schuld 11, 1907, S.250; v. Rohland, Unterlassung, S. 14 ff.; Aldosser, a.a.O., S. 14 ff.; Träger, a.a.O., S. 32 ff.; Binding, Normen 11, 1 (2), S. 525 ff., 529 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 17 ff. Vgl. ferner Landsberg, S. 7 ff. 84 Abhandlungen, S.293, 297, 374; bei Holtzendorff, S.934 et passim. 85 Abhandlungen, S. 298. 86 Passim; vgl. auch Studien, S.97. 87 Abhandlungen, S.296; Hervorhebung dort.
c. Die Ingerenz-Theorien
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Einheit darstelle88 : "Von dem Augenblicke angefangen, wo der Mensch zu dem Objekt der Verletzung in eine tatsächliche Beziehung tritt, bis zu dem, wo der Bestand oder Nichtbestand der Verletzung von seiner Willkür völlig unabhängig geworden ist, - in dieser ganzen Zeit bildet sein positives und negatives Verhalten ein Ganzes ... Indem der Dolus in die getroffenen Vorbereitungen hineintritt ... , gibt er ihnen rückwirkend den verbrecherischen Charakter, d. h. er stellt sie mit den in böser Absicht getroffenen Vorbereitungen gleich89 ." Erst wenn die Verletzung "Ereignis" geworden, d. h. die für den Unterlassungsbegriff konstitutive Abwendungsmöglichkeit entfallen ist, stiftet ein jetzt eintretender Dolus die beschriebene Einheit von Handeln und Unterlassen nicht mehr90 • Mit größerer Klarheit als Krug zieht Glaser die Konsequenzen, die sich aus seinem Ansatz für die Frage der "besonderen Rechtspflicht" ergeben. Da sie an der objektiven Beschaffenheit des Verhaltens nichts zu ändern vermögen, sind sie belanglos91 • Selbst bei "positiver Anordnung" des Gesetzes könnte man den Unterlassenden nur so behandeln, als hätte er den Erfolg verursacht; "aber man kann darum allein noch nicht behaupten, daß er ihn herbeigeführt habe"92. Vielmehr geht es bei der Begehung durch Unterlassen lediglich um die "Verpflichtung eines Jeden, sich so zu verhalten, daß sein Benehmen nicht zu einem verbrecherischen Erfolg Ursache gebe"93, d. h. um die Pflicht, das Verbotene zu unterlassen. Es ist nun freilich kein Zufall, daß eine "spezielle" Pflicht zur Erfolgsabwendung in den meisten Fällen kausaler Vorhandlungen besteht. Indessen: "Nicht weil ein bestimmter Mensch die Verpflichtung hatte, einen Unfall abzuwenden, wird dieser als von ihm herbeigeführt angesehen, sondern deshalb, weil er durch übernahme jener Verpflichtung einen Stand der Dinge herbeiführte, in welchem allerdings die bloße Unterlassung schon ausreichte, um das Eintreten des Unfalls unvermeidlich zu machen94 ." Die Verpflichtungsübernahme erscheint so als eine "den Unfall fördernde Tätigkeit"95, wenn und soweit hierdurch andere von eigener Hilfeleistung abgehalten worden sind96 oder sich im Vertrauen auf den Unterlassenden in Gefahr begeben haben 97 • 88 a.a.O., S. 300. 89 a.a.O., S. 301; bei Holtzendorff S.936. 90 Bei Holtzendorff S.937; Abhandlungen, S.302. 91 Abhandlungen, S.308, 311 et passim. 92 a.a.O., S. 309 f. 93 a.a.O., S.393, 398; bei Holtzendorff, S. 934 f. 94 Abhandlungen, S. 313. 95 a.a.O., S. 318, 398. 96 a.a.O., S. 316 ff. (322, 324). 97 a.a.O., S. 311.
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Die Unbeachtlichkeit besonderer Rechtspflichten ergibt sich auch daraus, daß es durchaus Fälle gibt, in denen "unser eigenes früheres Verhalten einen Zustand herbeiführt, in welchem die Zurückhaltung eines Beistandes, den wir zu leisten ... nicht (!) verpflichtet sind, geradezu als Herbeiführung eines bestimmten übels erscheint"98. Das gilt besonders für die Krugschen Vorhandlungen, die ihrer "Natur" nach verpflichten sollen99 ; denn bei ihnen ist lediglich "der Causalnexus ganz klar ... ; hier entspringt der Erfolg aus unserem positiven Tun, und eine Schwierigkeit zeigt sich nur dann, wenn die positive Handlung in eine Zeit fällt, in welcher wir nicht in dolo waren"100. 4. Adolf Merkel Mit Krug und Glaser stimmt schließlich Adolf Merkel101 in der Kausalitätsfrage überein. Da ein jedes Kommissivdelikt voraussetzt, daß "die verletzende Veränderung ihre wirkende Ursache im Verhalten des Täters" habe 102 , "isoliertes Nichthandeln" dieser Bestimmung aber deswegen nicht genügt, weil hier das Geschehen "von unserem gesamten Dasein unabhängig" istl°3, können "nur Unterlassungen solcher Handlungen bei der Begehung von Kommissivdelikten als relevant erscheinen, von welchen der Unterlassende die Integrität der Interessen des Anderen in irgend einer Weise abhängig gemacht hat"104. Eine solche Abhängigkeit des Opfers schafft der Unterlassende dann, wenn er das nicht gerettete Gut entweder selbst in Gefahr gebracht oder die Sorge für seine Erhaltung übernommen hatte. Abweichend von seinen Vorgängern sucht Merkel der Gefahr eines dolus subsequens nun dadurch zu entgehen, daß er auch die subjektive Tatseite auf die kausale Vorhandlung zurückbezieht. Da das Verbot der Begehungstatbestände stets das Gebot einschließt, die drohenden Folgen tätigen HandeIns durch ergänzende Tätigkeit abzuwenden105, 98 a.a.O., S. 375 f. 99 Siehe o. N.76. 100 Abhandlungen, S.397. Im übrigen sei es Krug nicht gelungen, eine Rechtspfiicht zur Abwendung der aus einem erlaubten Verhalten entstehenden unglücklichen Folgen nachzuweisen (a.a.O.). 101 Adolf Merkel, Kriminalistische Abhandlungen, 1867, Bd. I, S. 76 ff., Bd.lI, 1, S. 136 ff., 145 ff.; Lehrbuch d. dt. StrR., 1889, S. 38 ff., 93 ff.; Jur. Encyclopädie, 1885, § 735. - Darstellung und Kritik seiner Lehren bei Aldosser, a.a.O., S. 30 ff.; v. Buri, GS 21 [1869], 192 ff.; ders., Causalität, S.18 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 34 ff.; Binding, Normen II, 1 (2), S. 522 ff. (526 ff.); Träger, a.a.O., S. 37 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 22 ff. 102 Abh. I, S. 79 f. 103 a.a.O.; Abh. 11, S.121, 136; Lehrbuch, S. 96 f., 114. 104 Abh. I, S. 80 ff. 105 Lehrbuch, S. 38 f., 113; vgl, auch Abh. I, S. 89 f.
C. Die Ingerenz-Theorien
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sind beliebige, "an sich" rechtmäßige Handlungen nur unter der Bedingung komplementärer Abwendung erlaubV 06 • Insofern ist die Vornahme der unterlassenen Handlung "ergänzende Bedingung der Rechtmäßigkeit" der Vorhandlung107 • Da eine allgemeine Verantwortlichkeit nur für das besteht, was der Mensch in der fremden Rechtssphäre in "zurechenbarer Weise" bewirkV 08 , genügt die bloß objektive Kausalbeziehung nicht, um das Unterlassen zum Urheberschaft begründenden "Bewirken" zu stempeln 109 • Vielmehr wird "Voraussehbarkeit" des Erfolgseintritts zur Zeit der Vorhandlung verlangt: "Wenn ... die der Unterlassung vorausgehende Tätigkeit aller Voraussicht nach Interessen Dritter nicht gefährdet, wenn nach dem allgemeinen Maßstabe, nach welchem wir die Grenzen unserer Rechts- und Freiheitssphäre zu beurteilen haben, eine rechtliche Verantwortlichkeit sich in ihr nicht begründet, wie sollen da ihre Folgen den Handelnden zum Verbrecher stempeln können? Die nachfolgende Unterlassung erscheint für sich betrachtet, als rechtlich indifferent, als ein juristisches Null, und in jener positiven Tätigkeit geht ihr ein weiteres Null voraus, von dem sie keine Bedeutung ableiten kann 110 ." Mit dieser Einschränkung der strafrechtlichen Haftung hofft Merkel die Ingerenz-Theorie zugleich vor den "unmöglichen Konsequenzen" zu retten, die ihr seit Krug und Glaser anhafteten111 • Der Waffenfabrikant, der das von ihm hergestellte Gewehr als Mordwerkzeug erkenne, der Architekt, der das von ihm standfest erbaute Haus nach einem Erdbeben vom Einsturz bedroht, der Gläubiger, der seinen Schuldner ins Wasser gehen sehe, sie alle seien nicht Urheber der von ihnen nicht abgewendeten Erfolge, da die Vorhandlungen im Rahmen der einem jeden gezogenen Freiheitssphäre geblieben seien112 • Nicht nur die Kausalität und die (bedingte) Rechtswidrigkeit sind somit nach Ansicht Merkels auf die Vorhandlung zu beziehen, sondern auch die Schuld ist als eine "eventuell eintretende" bereits in ihr beschlossen, wenn Vorhersehbarkeit der Handlungsfolgen verlangt wird 113 • Da die Vorhandlung somit Träger der Unwerteigenschaften 106 a.a.O. So sind gewerbliche Tätigkeiten, Hausbau, Operationen etc. nur unter der Bedingung rechtmäßig, daß die eventuellen nachteiligen Folgen abgewendet werden (a.a.O). 107 Lehrbuch, S. 112; vgl. auch Jur. Encycl. § 735. 108 Abh. I, S.77. 109 a.a.O., S. 84. 110 a.a.O., S. 82 f.; vgl. ferner Lehrbuch, 115 f.; in Jur. Encycl. § 735 wird Erkennbarkeit der faktischen und rechtlichen (!) Tragweite der Vorhandlung verlangt. 111 Abh. I, S. 85 ff. 11Z a.a.O., S. 86; Lehrbuch, S. 116. 113 Abh. I, S. 84 f., 86 f.
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ist, die das Unterlassen zum Verbrechen machen, geht nach Merkel auch der Einwand des dolus subsequens fehl; denn "der Vorsatz wird sich als ein hinterdreinkommender in Wahrheit nur betrachten lassen, wenn die vorausgegangene Wirksamkeit ihren für das Recht entscheidenden Charakter ... bereits vorher gehabt hätte, was '" nicht der Fall ist, weil sie diesen Charakter vielmehr erst durch die bezügliche Unterlassung gewinnt" 114. Freilich muß der Vorsatz eingetreten sein, "so lange der Bestand oder Nichtbestand der zum Begriff des Verbrechens gehörigen Verletzung von der Willkür... abhängig erscheint" 115. Einer besonderen Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung bedarf es auch nach der Merkelschen Lehre nicht; denn "die verbrecherische Urheberschaft begründet sich . " nicht in der Rechtspflicht, sondern umgekehrt die Rechtspflicht in der eventuellen verbrecherischen Urheberschaft"116. Da die Verschiedenheit zweier Vorgänge von unterschiedlichem kausalen Gewicht durch die Pflichtwidrigkeit nicht in Wegfall gebracht werden kann117 , kommt es auf eine bestehende Rechtsverbindlichkeit nicht an, mag sie sich auch vielfach aus zivil- oder staatsrechtlichen Verhältnissen ergeben. Im übrigen besteht eine solche Pflicht nach Ansicht Merkels auch bei der im Sinne der Rechtspflichttheorien verstandenen Ingerenz, sofern die eingetretenen Folgen nach Beschaffenheit und Tragweite der Vorhandlung zur Zeit ihrer Vornahme erkennbar waren; "irgendeine nachträgliche auf Grund einer zufälligen Verkettung von Umständen hervortretende Gefahr" genügt dagegen auch hier nicht, um eine Abwehrverpflichtung zu begründen11B • 11. Kritik
Die Aktualität der Ingerenz-Theorien beruht auf der von ihren Anhängern einhellig vertretenen Prämisse, daß als Verbrechen nur ein solches Verhalten gelten könne, das den tatbestandsmäßigen Erfolg aktiv bewirkt habe; denn da sich diese Einsicht nur einer Analyse der tatbestandsmäßigen Handlung erschließen kann, muß eine Unterlassung, die dieselbe Kausalstruktur wie jene aufweist, auch eo ipso unter das Verbot des entsprechenden Begehungstatbestandes fallen und dem Handeln "gleichwertig" sein119 • Da dieser Nachweis - ent114 Lehrbuch, S. 94 f. 115 Abh. II, S. 188. 118 Abh. I, S.89; vgl. ferner Abh. I, S.80, 88; Abh.lI, S. 145 ff.; Lehrbuch,
S. 40, 112 f., 114 f. 117 Lehrbuch, S. 40. 118 a.a.O., S. 115 f.
119 Vgl. Armin Kaufmann, Dogmatik, S.266.
C. Die Ingerenz-Theorien
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gegen Armin Kaufmann 120 - nicht durch eine Erweiterung des generellen Tatbestandsmerkmals Kausalität, sondern durch Einbeziehung der für das Handeln charakteristischen Bewirkensqualität der Vorhandlung geschieht, unterscheiden sich die unechten Unterlassungsdelikte von den Begehungsdelikten nur durch das abweichende zeitliche Verhältnis von Schuld und Verursachung: Koinzidenz beim Han-
deln, Sukzession beim Unterlassen!21.
1. Zur Kausalität der Vorhandlung
In objektiver Hinsicht mag ein Vorzug der Ingerenz-Theorie darin gesehen werden, daß der Rückgriff auf die Kausalität der Vorhandlung den Umkreis strafbaren Unterlassens prinzipiell ebenso exakt abgrenzt wie die Tatbestandsbeschreibung des Begehungsdelikts; sie genügt damit dem rechtsstaatlichen Gebot des "nullum crimen sine lege" in offenbar vorbildlicher Weise 122 • Freilich liegt darin zugleich ihre Schwäche; denn es müssen alle Fälle straflos bleiben, bei denen keine für den Erfolg kausale Vorhandlung auffindbar ist. Die IngerenzTheorie verkürzt damit den Bereich des für strafwürdig Gehaltenen in schwer erträglicher Weise 123 • Die "in bewußtlosem Zustand geschwängerte uneheliche Mutter", die ihr Kind verhungern läßt, Kinder, die ihre Eltern in Lebensgefahr umkommen lassen etc., mit diesen Parade fällen wird seit je das Unzureichende des angenommenen Prinzips dargetan. Darüber hinaus bereitet der Nachweis der Kausalität in den sog. übernahmefällen eigentümliche Schwierigkeiten124 • Denn wenn das Amt oder der Dienst in der guten Absicht angetreten wurde, allen evena.a.O., S.243. Vgl. v. Rohland, a.a.O., S. 22. - Nur Krug gerät daher mit seinem Ausgangspunkt in Konflikt, wenn er neben der Kausalität der Vorhandlung eine spezielle Pflichtwidrigkeit verlangt. Denn die darin liegende syncretistische Rückkehr zu Feuerbach und Spangenberg (vgl. Glaser, Abhandlungen, S. 393 ff.; v. Rohland, a.a.O., S.12; W. Schwarz, a.a.O., S.17; ferner Geßler, Begriff und Arten des Dolus, S. 254 f.) setzt seine Lehre bei Beibehaltung der selektiven Funktion der Vorhandlung entweder dem Odium "doppelter Rechtswidrigkeit" aus oder würdigt die Kausalität zu einem Requisit herab, das nur zur Beruhigung des durch Luden geweckten dogmatischen Gewissens bestimmt sein kann. 122 Vgl. Armin Kaufmann, a.a.O., S. 267 f. 123 Glaser, Abhandlungen, S.398; v. Rohland, a.a.O., S. 33 f.; Landsberg, S. 9; v. Bar, Gesetz und Schuld II, S. 250; Träger, a.a.O., S. 32,38; W. Schwarz, a.a.O., S.16; Nagler, GS 111 [1938], 20; Armin Kaufmann, a.a.O., S.268; Granderath, S. 58; Rudolphi, S.14. 124 Dazu v. Rohland, a.a.O., S.20, 29 ff.; Landsberg, a.a.O., S.l1 N.l; v. Bar, a.a.O.; Träger, a.a.O., S.38; Binding, Normen II, 1 (2), S.517, 524 f., 529, 532 ff., 560 f., 572 f.; W. Schwarz, a.a.O., S. 15 f., 20. 120 121
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tuellen Unglücksfällen nach Kräften zu wehren, so scheint die Vorhandlung für unbefangenes Denken weit eher sichernden als gefährdenden Charakter zu besitzen. Binding hat daher den Anhängern der Ingerenz-Theorie entgegengehalten, daß sie "den Arzt für den Grund der Krankheit" hielten, wenn sie den "unschuldigen" übernahmeVorhandlungen Ursachenqualität beilegtenl25 . Eine Begründung dieser Ansicht findet sich bei Glaser l26 • Durch die übernahme des Amtes würden entweder dritte hilfswillige Personen davon abgehalten, ihrerseits das Amt zu übernehmen und die unterlassene Handlung zu vollziehen; oder der Gefährdete (bzw. seine Aufsichtsperson) lasse sich durch das Vertrauen auf die Tätigkeit des übernehmers dazu bestimmen, sich der Gefahr auszusetzen oder andere Vorsichts maßnahmen zu unterlassen l27 . Da Urheber eines Erfolges auch der sei, welcher die ihm entgegenstehenden Hindernisse ausräume, verursache die übernahme-Vorhandlung den Erfolg und verbinde sich mit der nachfolgenden Unterlassung zu der bekannten Einheit1 28 . Folgt man zunächst dieser Ansicht, so scheiden alle die übernahmeHandlungen als taugliche Vorhandlungen aus, durch die "rettende Kausalverläufe" nicht mit der erforderlichen Sicherheit "unterbrochen" worden sind. Wenn also an die Stelle des übernehmers kein geeigneter Ersatzmann getreten wäre und die gefährliche Veranstaltung gleichwohl stattgefunden hätte; oder wenn der Ersatzmann in der fraglichen Situation ebenfalls versagt hätte; und wenn sich auch niemand im Vertrauen auf den übernehmer einer Gefahr ausgesetzt hat, weil er von dessen Tätigkeit nichts wußte oder auf sein Glück vertraute: so bliebe der übernehmer straflos l29 . Nimmt man daran keinen Anstoß und glaubt man ferner, einen konkreten Strafprozeß mit dem nur hypothetisch zu führenden Nachweis der Erfolgsverhinderung durch den Ersatzmann belasten zu können, so bleibt die zweifelhafte Frage nach der Kausalität der "Unterbrechung rettender Kausalverläufe"130, die sich von dem Bewirken durch "einfaches Tun" dadurch unterscheiden, daß der Erfolg dort durch Naturkräfte oder das Handeln Dritter vollständig erklärt wer125 Binding, a.a.O., S. 561, 525. 126 Glaser, Abhandlungen, S. 314 ff.; ders., bei Holtzendorft, a.a.O., S. 395 f. 127 Ähnlich auch GeßleT, a.a.O., S. 246 f., 255 f., der den Kausalbegriff notfalls in einem "ausgedehnteren Sinn" nehmen will. 128 a.a.O., S. 314. 129 Vgl. v. Rohland, a.a.O., S.30; TrägeT, a.a.O., S.35; Binding, a.a.O., S. 533; W. SchwaTZ, a.a.O., S.20. 130 Dazu zuletzt E. A. Wolft, S. 28 ff.; ferner Armin Kaufmann, a.a.O., S. 195 ff.; Ranft, JUS 1963, 340 ff.
C. Die Ingerenz-Theorien
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den kann. Daß es sich hierbei um eine gegenüber dem Bewirken durch Tun schwächere Kausalform handelt, ergibt sich in den übernahmeFällen daraus, daß der Dienstantritt wegen der "Ferne" zu dem unfallträchtigen Geschehen selbst bei Vorsatz des Täters noch keinen Versuch begründet, obwohl dieser "alles seinerseits Erforderliche" getan hat1 31 ; hingegen ist die vorsätzliche gefährdende Vorhandlung unter denselben Voraussetzungen stets schon beendeter Versuch i. S. des § 46 Ziff. 2 StGB. Wie man sich hier nun auch entscheidet, jedenfalls wird man der Ingerenz-Theorie entgegenhalten dürfen, daß sie den Dualismus gefährdender und sichernder Vorhandlungen unterschätzt, wenn sie einseitig von den eigentlichen Ingerenz-Fällen ausgeht1 32 • Dies mag indessen Veranlassung sein, ihre Tragfähigkeit für eine als Teil der Gesamtproblematik unechten Unterlassens verstandene Ingerenz erneut zu untersuchen l33 • Es bleibt zu bemerken, daß Temme, Krug und Glaser, die im Gegensatz zu A. Merkel allein die Kausalität der Vorhandlung zur Konstituierung des Unterlassungsverbrechens benötigen, folgerichtig jedes einschränkende Kriterium schuldig bleiben und auf diese Weise auch die unglückliche Verkettung ganz ungewöhnlicher Kausalverläufe zusammen mit der späteren Unterlassung zum Verbrechen stempeln müssen l34 •
2. Dolus vel culpa subsequens Keine geringeren Schwierigkeiten bereitet die subjektive Tatseite. Denn da Temme, Krug und Glaser Vorsatz oder Fahrlässigkeit zur Zeit der Abwendungsmöglichkeit verlangen, geraten hier Verursachung und Schuld überall in ein vom Begehungsdelikt abweichendes Verhältnis zeitlicher Sukzession, das gemeinhin als dolus vel culpa subsequens bezeichnet wird l35 • Während dies bei Krug ganz unvermittelt hervortritt, verdecken Temme und Glaser l36 diese Beziehung durch Annahme einer "Einheit", bei der sich die Schuld wenigstens teilweise 131 Wollte man anders entscheiden, so könnte die "tätige Reue" offenbar nur in der Amtsniederlegung bestehen. Ungereimt wäre es auch, bei nachfolgender Aktivität des übernehmers durch einfaches Bewirken nur dieses strafrechtlich zu bewerten. Vgl. v. Buri, GS 21 [1869], 196 und v. Rohland, a.a.O., S. 29 f., 32. 132 Vgl. v. Rohland, a.a.O., S.34; Binding, a.a.O., S.517, 520. 133 Vgl. unten 2. Kap. D. 134 v. Bar, Causalzusammenhang, S.96; v. Rohland, a.a.O., S.23. 135 Dazu unten 2. Kap. D. 1311 Schon vor ihnen hatte Oerstedt, Abhandlungen I, 1818, S. 311 seinen Ingerenz-Fall mit der Erwägung lösen wollen, daß der Erfolg hier "durch zusammengesetzte positive und omissive Handlungen, die ein unteilbares Ganze" ausmachen, hervorgebracht werde; vgl. oben N.34.
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mit einer Handlung "im weiteren Sinne" überschneidet1 37 . Hiermit ist indessen solange nichts gewonnen, als die Einheit lediglich durch die der culpa subsequens eigentümliche Abwendungsmöglichkeit konstituiert wird; denn da sich die Kausalität der Vorhandlung in jedem Falle auf die Unterlassung auswirkt und von dieser nicht getrennt werden kann, bleibt das Verhältnis zeitlicher Sukzession von Verursachung und Schuld bestehen. Ob mithin die Annahme einer Einheit "eine Vorstellung zu ungeheuerlicher Art [sc. ist], daß sie kein Wort der Widerlegung verdient"138 und als "Fiktion " "unserer strafrechtlichen Anschauung durchaus widerstreitet"139, ist mit der Frage nach einer Anerkennung des dolus (vel culpa) subsequens identisch. Auch Glaser vermeidet ihn daher nicht140. Nur A. Merkel konnte das normale Verhältnis zeitlicher Koinzidenz von Schuld und Verursachung dadurch herstellen, daß er die Schuld als bedingte - "Es gilt hier was von bedingten Geschäften"141 - in der Vorhandlung nachzuweisen suchte, allein um den Preis einer "Ungeheuerlichkeit"142; denn wenn sich der Handelnde nach Merkel bei der Vorhandlung gesagt haben muß, er wolle diese schuldhaft begangen haben, wenn er den als möglich vorauszusehenden Erfolg später nicht abwende (wozu er einstweilen entschlossen ist143), so entbehrt dies nicht nur jeglicher psychischer Realität, sondern würdigt das Schuldurteil durch seine Abhängigkeit von einer potestativen Suspensivbedingung zu einem technischen Kunstgriff herab. Ob schuldhaft oder schuldlos gehandelt wurde, bleibt auf diese Weise - unter Umständen auf Jahre hinaus - in der Schwebe und läßt die Vorhandlung als ein Mittelding erscheinen, deren endgültige Qualifizierung von dem zufälligen Eintritt einer späteren Abwendungsmöglichkeit abhängt 144 • Es bleibt also dabei, daß die culpa sub sequens "als ein vergessener Nachtrag" das eigentliche Zentralproblem der hier besprochenen Leh137 Vgl. Ortmann, Allgemeine Deutsche (= Holtzendorffs) Strafrechtszeitung 13 [1873], 472. 138 Träger, a.a.O., S. 35 f. 139 v. Bar, Gesetz und Schuld II, S.250; vgl. auch Aldosser, a.a.O., S.26 u. W. Schwarz, a.a.O., S. 20 f. 140 Ebenso v. Rohland, a.a.O., S.23, 26; Landsberg, S.8; Binding, a.a.O., S. 522 f., 530 f.; W. Schwarz, a.a.O., S.17, 20 f.; Armin Kaufmann, a.a.O., S. 268; Granderath, S. 58. 141 MerkeI, Abhandlungen I, S.87. 142
Landsberg, S. 9.
143 Vgl. v. Buri, Causalität in ihren strafrechtlichen Beziehungen, S.19; ders., GS 21 [1869], 193 ff. 144 Vgl. F. O. Schwarze, Commentar, Exkurs VII, S.51; Aldosser, a.a.O., S. 33 f.; v. Rohland, a.a.O., S. 37 ff.; Binding, a.a.O., S. 526 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 23 f.
D. Die Interferenz-Theorien
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ren und in gewisser Weise auch der Ingerenz-Problematik im heutigen Sinne ist1 45 .
D. Die Interferenz-Theorien (v. Buri, v. Berger, Binding, Hälschner u. a.) Die von Landsberg im Anschluß an v. Berger 146 sogenannten InterferenzTheorien 147 suchen die Strafbarkeit unechten Unterlassens ebenso wie die
zuletzt besprochenen Autoren dadurch zu begründen, daß sie der Unterlassung eine der Begehung entsprechende Kausalstruktur zusprechen und auf diese Weise die Unterlassungs- in Begehungsdelikte verwandeln l48 . Dem allgemein übernommenen Postulat zeitlicher Koinzidenz von Schuld und Verursachung suchen sie im Gegensatz zu den Ingerenz-Theorien durch den Nachweis einer Kausalität in der Unterlassung selbst zu genügen.
I. Der Kausalbegriff Zur Bewältigung dieser Aufgabe dient ihnen ein Kausalbegriff, für den
Bindings Lehre repräsentativ ist149 • Jede Veränderung der Außenwelt ist so lehrt Binding 150 - das Produkt eines Kampfes der zum Erfolg hin-
führenden (positiven) mit den ihm entgegenwirkenden (negativen) Bedingungen. Verursachen kann der Mensch daher sowohl durch Stärkung der positiven als auch durch Schwächung der negativen Bedingungen, denn der Erfolg tritt stets ein als Folge der "überlegenheit der zum Erfolg wirkenden über die ihn hindernden Bedingungen"151. Da Verursachung eine 145 v. Bar, Causalzusammenhang, S.l11. Es ist schwer verständlich, wenn Rudolphi (S. 11 f.) gerade diese Frage als bedeutungslos abtut. Das vermeintliche Schuldproblem der culpa subsequens betrifft in erster Linie die Struktur des durch Ingerenz bezeichneten Fragenbereichs und gewinnt auf diese Weise eine kaum zu überschätzende Bedeutung für den Ansatz der Garantenfrage im heutigen Sinne. Aus diesem Grunde wird R. mit seiner beiläufig geäußerten Kritik (a.a.O., N. 25 a) auch den Vorstellungen Lampes nicht gerecht. - Zum Ganzen unten 2. Kap. D. 148 v. Berger, Grünhuts Zeitschrift 9 [1882], 743; Landsberg, a.a.O., S.44. 147 v. Buri, GS 21 [1869], 189 ff.; ders., über Causalität, 1873, S. 96 ff.; ders., GS 2'7 [1875], 25 ff.; ders., GS 28 [1876], 161 ff. (178 ff.); ders., Abhandlungen, 1878, S. 93 ff.; ders., ZStw 1 [1881], 400 ff.; ders., Die Causalität, 1885, S. 14 ff.; ders., GS 56 [1899], 418 ff.; v. Berger, a.a.O., S. 734 ff.; Binding, Normen !l, 1 (2), S. 517 ff.; Hälschner, Dt. Strafrecht I, S. 234 ff. Ferner Janka, österr. StrR., 1884, S. 72 ff.; ähnlich auch Bünger, ZStw 6 [1886], 291 ff.; Fischer, ZStW 23 [1903], 459 ff. Weitere Nachweise bei W. Schwarz, a.a.O., S. 31 ff. Kritische Darstellungen finden sich bei Aldosser, a.a.O., S. 34 ff.; v. Bar, Gesetz und Schuld II, S. 150 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 53 ff., 60 ff., 102 ff., 108 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 31 ff.; Rudolphi, S. 15 ff.; vor allem Landsberg, S. 54 ff. u. Träger, a.a.O., S. 17 ff., 44 ff. 148 Vgl. v. Rohland, a.a.O., S.53 und Armin Kaufmann, a.a.O., S.244, 266. 149 Die folgende Darstellung zeichnet nur die groben Umrisse der Theorie. Die zahllosen Nuancen sind bei den in N.147 erwähnten Autoren vermerkt. 150 Normen I (2), 1890, S. 111 ff.; II, 1 (2) 1914, S. 481 ff. 151 Normen I, S.115.
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
"Veränderung des Gleichgewichts" zwischen positiven und negativen Bedingungen ist, stehen sich beide Möglichkeiten wesensmäßig gleich i52 . Eine Verursachung durch Vernichtung oder Schwächung negativer Bedingungen ergibt sich für die Interferenz-Theorien nun auch bei der Unterlassung. Denn als eine die tatbestands mäßige Veränderung der Außenwelt hindernde Bedingung erscheint ihnen der WHle des Unterlassenden, diesen Erfolg durch seine Tätigkeit abzuwenden 153. Wäre dieser ursprünglich vorhandene Hemmungswille wirksam geworden, hätte der Unterlassende mithin seine Handlung vorgenommen, so wäre der eingetretene Erfolg ausgeblieben. Da der ursprüngliche Hemmungsentschluß durch den Unterlassungswillen als seinen actus contrarius (psychische Aktivität) aufgehoben wird, ist dieser innere Vorgang für den Außenweltserfolg kausal: Wer "in sich den neuen Willen erweckt, das Gegenteil von dem früher Gewollten zu wollen, [sc. der] unterdrückt ... hierdurch seinen früheren Willen und hiermit zugleich die causa, welche ihn dazu antreiben mußte, der Entwicklung des schädlichen Erfolges entgegenzutreten. Die Verhinderung der Entwicklung einer entgegenwirkenden Ursache ist aber gleich einer mitwirkenden Ursache und darum erscheint die Umänderung des ursprünglichen Willens in sein Gegenteil zugleich kausal"154. Die Ausschaltung des psychischen Hemmungsapparates als "interne Handlung in ihrer Wirkung auf den äußeren Kausalitätenverlauf"155 ist in Wahrheit "die Handlung ... , welche durch die Unterlassung maskiert wird"156. Hinter der "stillen Außenseite der Unterlassung"157 als einem nur scheinbaren Nichts verbirgt sich in Wahrheit der höchst aktive Kampf der "Strömungen" und "Gegenströmungen", der als interne Handlung den äußeren Erfolg verursacht; die Unterlassung ist daher "ihrer Substanz nach getarnte Aktivität"158. 11. "Äußere" und "innere" Kausalität
Gegen diese "reine" Spielart der Interferenz-Theorie mag nun zunächst mit vollem Recht eingewendet werden, daß die "positive innere Ablehnung" der vom Täter aktuell erkannten Abwendungsmöglichkeit nur in den wenigsten strafwürdigen Fällen psychische Realität besitzt und beim unbewußt fahrlässigen unechten Unterlassungsdelikt per definitionem ausgeschlossen ist 159 ; daß der dennoch vollzogene innere 152 a.a.O., S. 116. 153 Besonders deutlich bei v. Buri, GS 27, 26; Hälschner, a.a.O., S. 234 f., 241 ff.; Janka, a.a.O., S.74. 154 v. Buri, GS 21, 199 f.; vgl. auch· v. Berger, a.a.O., S.743: "Von einem Bewirken durch Unterlassen kann ... nur die Rede sein, wenn das ... untätige Verhalten eines Menschen eine Interferenzersche~nung ist ... Der innere Akt ist ... eine Ursache oder Bedingung des Ereignisses, indem dieses, wenn er wegfiele, auch nicht stattfände." 155 Binding, Normen II, 1 (2), S. 555 f. 156 a.a.O., S.567. 151 Landsberg, a.a.O., S. 55. 158 Nagler, GS 111 [1938], 19. 159 Vgl. etwa Aldosser, a.a.O., S.70; v. Rohland, a.a.O., S.58, 81; Landsberg, S. 79 ff et passim; Träger, a.a.O., S. 18 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 36' v. LisztSchmidt, S. 171; Armin Kaufmann, a.a.O., S. 75 ff., 268; ders., v. W~ber-Fest schrift, S. 207 ff., passim.
D. Die Interferenz-Theorien
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Kampf konsequent auch dort zur Strafbarkeit führen müßte, wo ein Extraneus einen durch welche philanthropischen Motive auch immer entstandenen Abwendungsimpuls niedergerungen hat1 60 ; daß ferner die Isolierung der "Strömungen" und "Gegenströmungen" eine nur theoretisch vollzieh bare Abstraktion des einheitlichen Motivationsprozesses darstellt1 6 \ die sich zumindest jeder praktischen Beweisbarkeit entzieht1 62 ; daß schließlich ein voll entwickelter Abwendungswille nicht aktiv niedergerungen, sondern lediglich nicht weiter gespeist zu werden brauche, somit nicht einmal psychische Aktivität erforderlich sei, um die gegenteilige Motivationslage zu erzeugen 163 • Der Haupteinwand richtet sich jedoch gegen die Gleichsetzung des durch die Hinderung äußerer rettender Kausalverläufe vermittelten Bewirkens mit rein inneren Vorgängen164 • Wenn es richtig ist, daß das Wesen aktiven Tuns in der Entfaltung von Energie besteht, die auf die äußere Körperlichkeit der Dinge einzuwirken bestimmt ist1 65 , so ist ein rein innerer Vorgang eben kein solches Wirken; die InterferenzTheorie scheitert insofern an einer einfachen quaternio terminorum 166 • Nun ist diese Einsicht dadurch in ein gewisses Zwielicht geraten, daß Armin Kaufmann die Kausalfrage neuerdings auf eben diejenigen 160 Mit der Folge, daß "ein Mensch, dem es zur zweiten Natur geworden ist, Bedrängten beizuspringen, wenn er sich '" hinreißen ließe '" seinen kräftigen menschenfreundlichen Impuls zu unterdrücken, bestraft würde" (v. Berger, a.a.O., S. 771). Vgl. Ortmann, GS 26, 442 ff.; v. Buri, ZStW 1, 401; v. Bar, a.a.O., S. 2'51; Träger, a.a.O., S. 19 u. a. 161 Vgl. dazu W. Haensel, Strukturanalyse des Wollens, S. 83 ff., auf den sich jetzt auch Armin Kaufmann, v. Weber-Festschrift, S.222 N.35, beruft. 162 v. Liszt-Schmidt, a.a.O. 163 Aldosser, a.a.O., S. 69; Armin Kaufmann, a.a.O., S. 268 f.; ferner Landsberg, a.a.O. 164 So unisono Geyer, Krit. Viert. Jahr. Sehr. 24 [1882], 242; ders., Grundriß, S.124; Aldosser, a.a.O.; v. Rohland, a.a.O., S.78 et passim; v. Bar, a.a.O., S.251, 253; Träger, a.a.O., S.59; W. Schwarz, a.a.O., S. 35, 37, 46; Kantorowicz, Unechtes Unterlassungs- und unbewußtes Fahrlässigkeitsdelikt, S. 11 f.; v. Liszt-Schmidt, a.a.O.; Granderath, S.60; E. A. Wolft, S.34. - Schon Stübel (Theilnahme, 1828, S.10) hatte prophetisch bemerkt: "Obgleich die Selbstbestimmung, etwas nicht zu tun, auch eine Handlung ist, so besteht doch darin eine innere und mithin keine That. Sie wirkt nicht unmittelbar eine Veränderung außer dem Handelnden und eine Erscheinung der Sinnen-
welt."
Vgl. dazu unten 2. Kap. B. v. Buri (GS 27, 26 u. über Causalität, S.98) hatte als tertium comparationis Fälle fremdpsychischer Beeinflussung heranziehen wollen: "Wie man ... einen fremden Willen beeinflussen und hierdurch kausal werden kann, so noch vielmehr seinen eigenen Willen. Derjenige mithin, welcher, sich selbst beeinflussend, den zur Abwendung des abwendbaren Erfolges erforderlichen Willen nicht in sich aufkommen läßt ... , entäußert sich einer Kausalität für den Erfolg" (GS '2fl, 26). Daß es sich hierbei indessen um disparate Gegenstände handelt, bedarf kaum der Begründung. 165 166
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Interna zurückbezogen hat, die den Gegenstand der Interferenz-Theorien bildenl67 . Kaufmann geht mit Engisch von der "modernen Problemstellung"168 aus, wonach die Unterlassung als Nichteinsatz von Energie, deren Erbringung den Erfolg abgewendet hätte, mit dem Erfolg in der Relation gesetzmäßiger Beziehung steht und daher für ihn "kausal" ist l69 . Insofern unterscheiden sich Handlungen und Unterlassungen also nicht. Hiermit ist das Problem der Kausalität für Kaufmann indessen keineswegs erledigt; denn festgestellt wurde bisher lediglich, daß ein" EIe m e n t des Unterlassungsbegriffs, nämlich das Ausbleiben einer bestimmten (der unterlassenen) Handlung, ... kausal für Ereignisse oder für den Nichteintritt von Ereignissen" sein kann 170. Die für die strafrechtliche "Verhaltenslehre" allein legitime Frage richte sich auf die "K aus a 1 i t ä t des Me n s c h e n " 171, nämlich nach seiner Kausalität für sein Verhalten! Es sei daher weiter zu fragen: "Ist der Mensch ursächlich für das Ausbleiben der unterlassenen Handlung, für das Fehlen eines entsprechenden Energieeinsatzes I72 ?" Dies sei zu verneinen; "denn ich kann den Unterlassenden ,hinwegdenken', ohne daß das Unterlassene 173 entfiele; am Fehlen des Energieeinsatzes, an der Negation der Handlung, ändert sich nichts dadurch, daß der handlungsfähige Mensch vorhanden ist oder fehlt. E s gib t keine Kausalbeziehung zwischen dem Unterlassen den und der u n t e r 1 ass e n e n Ha n d 1 u n g "174. Hingegen sei es "selbstverständlich", daß der Handelnde für seine Handlung ursächlich sei, da er sie ja bewirke 175 • Daß diese Frage niemals problematisch werde, liege daran, daß man mit der Ursächlichkeit der Handlung für den Erfolg zugleich auch die Ursächlichkeit des Menschen für seine Handlung bejaht habe; denn: "Wäre er für seine Handlung 167 Dogmatik, S. 57 ff. (61 ff.); v. Weber-Festschrift, S.219 N.29, 220 in und bei N.33; vgl. auch Grünwald, H. Mayer-Festschrift, S.286, 289. 168 Dogmatik, S. 58; v. Weber-Festschrift, S.219 N.29. 169 Dogmatik, S.61; v. Weber-Festschrift, a.a.O. 170 Dogmatik, S.61 u. 62. 171 a.a.O.; Hervorhebung dort. Dies ist zugleich die "einzige [sc. Frage], die :z.u stellen Sinn hat" (S. 64). 172 Dogmatik, S.6I. 173 Nachdem Engisch (JZ 1960, 190) hiergegen eingewendet hatte, daß ein Unterlassen ohne einen Unterlassenden nicht vorstellbar sei, zumal dann nicht, wenn man mit Kaufmann die Handlungsfähigkeit in den Begriff der Unterlassung aufnehme, präzisiert Kaufmann seine Ansicht jetzt dahin, daß bei dieser Denkprozedur zwar nicht das Unterlassen entfalle, wohl aber (wie im Text) das "Unterlassene" (v. Weber-Festschrift, S.214 in und bei N.2·9). Und: "Denke ich ... den Unterlassenden hinweg, so entfällt damit (zwar die Unterlassung, weil diese ohne Unterlassenden nicht denkbar ist, aber) keineswegs der Erfolg" (a.a.O., S. 220 N. 33). 174 Dogmatik, S. 61; Hervorhebung dort. 175 a.a.O., S.63.
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nicht ursächlich, so hätte er nicht gehande}t176." Es werde mit der Kausalfrage immer erst dort eingesetzt, wo der unmittelbar einsichtige (Final- und) Kausalzusammenhang (im Inneren des Täters) ende und die Ursächlichkeit zweifelhaft werde177 • Zusammengefaßt: "Für die Kausalität des Unterlassenen ist der Unterlassende nicht kausal178." Folgt man dieser Auffassung, so läßt sich die Interferenz-Theorie jedenfalls nicht mit der Disparität äußerer und innerer Vorgänge ad absurdum führen; denn wenn der Mensch - und damit doch sein Wille179 - "innerlich" für seine Handlung und über sie für den Außenweltserfolg kausal ist, so wäre die Struktur dieser Kausalität und damit die Frage zu erforschen, warum nur der auf Handeln gerichtete Wille verursachen kann. Bemerkenswert ist nun zunächst, daß bereits 1881 die von Kaufmann aufgeworfene Frage durch Hälschner erörtert - und im gegenteiligen Sinne entschieden worden ist180• Denn während dieser beim Handeln eine Einwirkung des Willens auf die motorischen Nerven annimmt (und daher wohl die "Kausalität des Menschen für seine Handlung" i. S. Kaufmanns bejahen würde181), verursacht die Unterlassung selbst an sich nichts. Als "Ergebnis" der inneren Interferenz-Handlung ist sie aber selbst "verursacht": "Das durch die negative Handlung Verursachte ist ... das Unterlassen selbst182." Um diesen erstaunlichen Widerspruch zu lösen, muß man sich zunächst vergegenwärtigen, daß es auch beim Handeln - und hier ungleich häufiger als beim Unterlassen - zu einer Interferenz-Erscheinung kommen kann, dann nämlich, wenn sich der Handlungsentschluß als das Produkt eines Kampfes der zum tatbestandsmäßigen Erfolg a.a.O., S.64. a.a.O. In der v. Weber-Festschrift, S.220 N.33 weist Kaufmann die Bedenken Engischs (a.a.O.) gegen eine Kausalität zwischen Handelndem und Handlung ausdrücklich zurück. Wenn sie aber zu Recht bestünden, so bliebe es dennoch dabei, daß sich beim Begehungsdelikt die "Ursächlichkeit des Menschen durch seine Willensbetätigung" nicht in Frage stellen lasse, da ja beim Wegdenken des Handelnden der Erfolg anders als bei der Unterlassung entfalle. 178 Dogmatik, S. 62; vgl. dort auch S.314. 179 Dies dürfte Kaufmann (a.a.O., S.61) selbst einräumen, wenn er die mögliche Kausalität eines "Unterlassungswillens" erörtert und auch hier zu dem Ergebnis gelangt, daß sich dieser hinwegdenken ließe, ohne daß sich am Fehlen des Energieeinsatzes etwas ändern würde. Worauf die Kausalfrage sonst bezogen werden könnte (auf die Entität Mensch?), ist nicht zu erkennen. 180 Hälschner, Dt. Strafrecht I, 1881, S. 234 ff. 181 S.234. 182 S.239; vgl. ferner S. 235 f., 239, 244. 176
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drängenden kriminellen Antriebe über die aktuell vorhandenen abhaltenden rechtsfreundlichen Motive darstellt183, 184. Solange der Täter bei dieser entschlossen rechtsfeindlichen Gestimmtheit verharrt, unterscheidet sich diese Interferenz nicht von der Unterlassungsinterferenz; denn beide sind ihrer Entstehung und ihrem Inhalt nach bloße Motivationslagen. Wenn der Täter in der kritischen Situation nun handelt, d. h. die psychische Energie in physische umsetzt, so soll nach Kaufmann ein Kausalprozeß abgelaufen sein, hingegen nicht, wenn er unterlassen hat. Diese Vorstellung ist indessen unvollziehbar. Sieht man davon ab, daß die Annahme einer zeitlichen Sukzession, welche von der Kausalkategorie vorausgesetzt wird, für diejenigen ihre Bedenken hat, die wie HaenseP85 - den Willen als "Motivation im Stadium der Vollendung" definieren, so verfällt man jedenfalls einer quaternio terminorum, wenn der Kausalbegriff in gleicher Weise auf das physische Geschehen der realen Körperwelt und auf die eigenpsychischen Vorgänge der selbstverantwortlichen Person bezogen wird. Die Veränderung der äußeren Wirklichkeit durch den sich in der Tat final verwirklichenden Handlungswillen und die autonome Selbstbestimmung dieses Willens gehören kategorial verschiedenen "Schichten" an. Während der zuerst genannte Vorgang als unmittelbares Bewirken mit Hilfe der empirischen Kausalgesetze vollständig erklärt werden kann, entzieht sich die Motivation des Menschen vermöge seiner Eigenverantwortlichkeit einer Deutung, die den Willensbildungsprozeß nach Art der Mechanik vorstellen möchte. Die Festlegung, die der Mensch im Kampf der Motive erfährt, ist nicht die heteronome Determiniertheit der Körperwelt, sondern autonome Motiviertheit. Mithin ist auch die Handlung selbst nicht kausal-mechanisch verursacht, sondern motiviert. Wäre es anders, so hätte man - die Einleitung der Interferenzerscheinung als "Defektsbegründungshandlung" und die Motiviertheit als "Defektzustand" genommen - jedes Begehungsdelikt als nach Art der actio libera in causa konstituiert zu verstehen 186. 183 Vgl. auch v. Rohland, a.a.O., S. 82,105; W. Schwarz, a.a.O., S. 35, 47; Grünwald, H. Mayer-Festschrift, S. 285 f. 184 Es ist daher nicht zutreffend, wenn Armin Kaufmann (Dogmatik, S. 78
N.215a; v. Weber-Festschrift, S.221) der Interferenz-Theorie entgegenhält, sie könne die Unterlassungen nur um den Preis in Handlungen verwandeln, daß s.ie die (echten) Handlungen in Unterlassungen verwandele. Denn daß es der Handelnde unterlassen habe, die kriminellen Handlungsantriebe zu unterdrücken, ist duplex negatio gegenüber der wirklichen Niederkämpfung der rechtsfreundlichen Unterlassungsmotive und somit affirmatio, nämlich rechtsfeindliche Motivierung. 185 Vgl. oben N. 161. 186 Vgl. dazu unten S. 134 ff. Ferner E. A. Wolff, S. 20 f.: "Das Tun ist nicht selbst kausal-mechanisch bedingt, sondern das Ergebnis eines frei gefassten, auf die Zukunft gerichteten Handlungsentschlusses." Dort auch S. 55 bei und in N.52.
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Wollte man nun mit Armin Kaufmann das Verhältnis des Menschen zu seinem Tun gleichwohl einem inhaltlich vom unmittelbaren Bewirken nicht unterschiedenen Kausalbegriff unterwerfen, so ließe sich dieselbe Beziehung beim Unterlassen jedenfalls nicht bestreiten; denn auch das Unterlassen ist motivierte Tat187 und braucht vom Handeln sub specie Interferenz nicht geschieden zu sein. Ist dasjenige Verhältnis, welches die Tat als die "Seine" des Täters erscheinen läßt 1BB , mit der Kausalität erschöpfend umschrieben, so läßt sich die Unterlassung nicht als bloße Kausalnegation auffassen; denn anderenfalls wäre sie als Tat des Unterlassenden nicht begreifbar. Wie die Relation von Tat und Täter daher auch beschaffen sein mag: sie ist mit der Beziehung zwischen Handlung und äußerem Erfolg nicht, oder doch jedenfalls nicht vollständig identisch. Daß es Kaufmann gelingt, den Handelnden hinwegzudenken, um dessen Handlung entfallen zu sehen, besagt daher nichts weiter, als daß jener eben gehandelt hat. Dieselbe Prozedur läßt sich beim Unterlassen mit demselben Ergebnis wiederholen. Daß der Erfolg im ersten Falle eingetreten, im zweiten hingegen ausgeblieben wäre, beruht dabei auf der Bewirkensqualität des HandeIns. Es bleibt somit dabei, daß die Interferenz-Theorie an der Disparität äußerer Kausalprozesse und innerer Motivationsvorgänge scheitertl B9 ,190. 1B7 Vgl. AndrouZakis, S. 81: "Das ,Unterlassene' ist der Lasser; die Unterlassung ist des Unterlassers. Die Unterlassung ist sogar ,des Unterlassers' in einem anderen, strengeren Sinne als die Tat (die Handlung) ,des Täters' ist ... " - Engisch (JZ 1962, 190) scheint gleichwohl auch unter diesem Aspekt eine Differenzierung für möglich zu halten. Vgl. auch E. A. WoZft, S.55 N.52. 1BB Vgl. Engisch, a.a.O. IB9 Ortmann (GA 23 [1875], 279 f.) ging mit der Gleichsetzung so weit, daß er die Lehre von der "Unterbrechung des Kausalzusammenhanges" durch das freie Handeln Dritter auf die Unterlassung übertragen wollte, da "zwischen Ursache und Ursache kein Unterschied" bestehe und die "kausale Unterlassung der kausalen positiven Handlung in jeder Hinsicht gleichsteht" (a.a.O., S.280). Wer etwa mit Tötungsvorsatz einen Felsen auf die Schienen rolle, sei nur wegen versuchter Tötung strafbar, wenn der ungetreue Bahnwärter Rettungsmaßnahmen bewußt unterlassen habe und daher für das Unglück "kausal" geworden sei. Ähnliche Formulierungen bei Binding, Normen II, 1, S.534, 560. 190 Man dürfte wohl in der Annahme nicht fehlgehen, daß die Kaufmannsche Lehre in erster Linie der Stützung seiner These dienen soll, es gebe mangels Kaus'alität des Menschen für seine Unterlassung keine" f i n a I strukturierte Unterlassung" (Dogmatik, S. 57; Hervorhebung dort); denn wenn man der Unterlassung (!) "e c h t e Kausalität vindiziert" - und das ist nach K. offenbar bereits die Gesetzmäßigkeitsrelation Engischs - so wendet man sich "mittelbar" gegen seine Ansicht. Wenn daher mü Kaufmann Handeln und Unterlassen für die Folgen im "echten" Sinne kausal sind, so muß der Unterschied an anderer Stelle zu finden sein. Diese
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m. Interferenz und Ingerenz Fragt man nun nach der Rolle, die die gefährliche Vorhandlung im Zusammenhang dieser Lehre einnimmt, so ergibt sich für sie keine innere Berechtigung. Auch als rein tatsächliches Indiz für die beim gefährlichen Handeln gefaßten Hemmungsimpulse, deren Niederringung Voraussetzung der Interferenzerscheinung ist, versagt sie dort, wo eine bloß unbewußte Gefährdung erfolgt istt 91 . Gleichwohl hat ihr v. Buri bei seinen Bemühungen, die "reine" Interferenz-Theorie vor ihren praktischen Unzuträglichkeiten zu bewahren, eine Bedeutung eingeräumt, die ihrer Funktion innerhalb der Glaserschen Lehre weithin entsprichtt 92. Denn obwohl der Ursächlichkeit der inneren Handlung durch die "Aufhebung des Willenszusammenhanges mit der vorausgegangenen causalen Handlung"193 keine zusätzliche Qualität beikommt, erlangt die Unterlassung auf diese Weise über ihre nur "ethische Bedeutung"194 den "strafrechtlichen Charakter": "Ist es nun auch theoretisch richtig, daß jede schuldhafte Unterlassung, die Pflicht zur Abwendung mag sich herschreiben, woher sie will, durch ihre Causalität die Haftbarkeit für den Erfolg nach sich zieht, so liegt es doch am Tage, daß durch die uneingeschränkte praktische Anwendung dieses Satzes, welcher am Ende auch die Verletzung einer lediglich ethischen Pflicht zur Abwendung in sich schließt, das Gebiet der Strafbarkeit allzuweit ausgedehnt werden würde195." Um dies zu verhindern, setzt v. Buri an die Stelle des durch welche philanthropischen Regungen auch immer motivierten Abwendungswillens den durch die Vorhandlung angeregten Abwendungswillen196. Der Kreis der zu solcher Motivation tauglichen Vorhandlungen wird dabei ohne Rücksicht auf die Vorhersehbarkeit des Erfolges bestimmt1 97 ; belanglos ist auch, ob die Vorhandlung unter dem Einfluß von Zwang oder im Stande der Unzurechnungsfähigkeit begangen wurde198. Denn auch das nur "objektive Unrecht" begründet die Abwendungspflicht, weil der Handelnde die Gefährdung nicht zur Verletzung werden lassen darf199. Anders ist nur dann zu entscheiden, "wenn die vorausgegangene causale Tätigkeit auch dem Erfolg gegenüber berechtigt erscheint, dieselbe also auch dann nicht hätte Schwierigkeiten lassen sich indessen auch für die referierte Auffassung vermeiden, wenn die Möglichkeit finaler Steuerung auf die "Bewirken" genannte Art der "echten Kausalität", d. h. auf das positive Tun, beschränkt wird. Vgl. auch Kaufmann selbst, in: v. Weber-Festschrift, S.220. 191 Es sei denn um den Preis eines "versari in re licita". 192 Vgl. v. Rohland, a.a.O., S.57. 193 GS 21, 213. 194 über Causalität, S. 100. 195 GS28, 178f.; ders., GS21, 214; GS27, 26f.; über Causalität, S.99; Abhandlungen, S. 110 ff.; ähnlich auch Hälschner, a.a.O., S. 242 ff. u. Janka, a.a.O., S. 76. 196 GS 21, 197. 197 v. Buri, über Causalität, S.99; GS 21, 197, 201 f., 211 f.; Abhandlungen, S. 111; Die Causalität, S. 15; ZStW 1, 401. 198 GS 21, 197. 199 a.a.O. Ähnlich Hälschner, a.a.O., S. 239 ff. Für Ortmann, Allgemeine
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zu unterbleiben brauchen, wenn selbst der Erfolg bei ihrer Vornahme vorausgesehen gewesen wäre"200. Bei alledem bleibt die Interferenzerscheinung der entscheidende Verursachungsakt 201 . Da nun nicht einzusehen ist, welchen Vorrang die Ingerenz unter den anderen "Rechtsgründen" einnehmen kann, endet v. Buri schließlich bei der Unterlassung als "Unterdrückung des Pflichtbewußtseins"202, womit im wesentlichen der bereits durch Feuerbach und Spangenberg erreichte Stand der Unterlassungsdogmatik gewonnen ist. Der formale Gewinn, die frühere extensive Begründung der Strafbarkeit unechten Unterlassens durch Nachweis der "kausalen" Interferenz in eine Restriktion verwandelt zu haben, ist freilich unbestreitbar.
IV. Blnding Auch die Konzeption Bindings ist durch das Bestreben gekennzeichnet, die praktisch zu weit geratene Interferenz-Theorie durch die Einführung einschränkender Kriterien zu mildern 203. Und auch bei ihm übernimmt die Vorhandlung diese Funktion, denn "nur durch Nichthemmen seI b s tge set z t e r Kausalitäten ... [sc. ist] Verursachung durch sogen. (!) Unterlassung möglich"204. Im Gegensatz zu den Ingerenz-Theorien behauptet sich die Vorhandlung als "notwendige Voraussetzung " 205 strafbaren Unterlassens jedoch nicht in ihrer kausalen Bedeutung für den nicht abgewendeten Erfolg, da dies auf eine Verkehrung des zeitlichen Verhältnisses von Schuld und Verursachung hinauslaufen würde208 . Auch als Grundlage einer Rechtspflicht kommt sie nicht in Betracht, denn "das ,Muß' ist .. , nur eine Konsequenz meines bisherigen kausalen Wirkens ... ein ,Muß' vom Standpunkt der Kausalitätsbetrachtung aus, und hat daher mit dem Recht gar nichts zu tun"207. "Deshalb ist es grundverkehrt, nach den Rechtsgründen seiner Entstehung zu forschen 208.'' Ihre innere Berechtigung soll die Vorhandlung vielmehr bei der Anwendung der Bindingschen Kausalkonzeption erweisen. Hierzu werden die Unterlassungsfälle zunächst in die "eigentlichen" oder "echten" übernahmedeutsche Strafrechtszeitung 13 [1873], 471 ergibt sich die Abwendungsverpflichtung daraus, daß "jeder, der eine positive Handlung vornimmt, rechtlich verbunden [sc. ist], dafür zu sorgen, daß sie nicht eine Verletzung fremder Rechte nach sich ziehe". Allerdings muß sie Handlung "im Rechtssinne", d. h. "zurechenbare Tat" gewesen sein (GS 26, 452 ff.), womit die im Stande der Unzurechnungsfähigkeit begangenen Taten ausscheiden (Allg. dt. StrZ., a.a.O., S.453). 200 GS 28, 179; 21, 211 f. (Notwehr). 201 GS 27, 26 f.; über Causalität, S.100; ZStW 1, 409. Ausdrücklich auch Janka, a.a.O., S.76. 202 GS 56, 445 f. 203 Normen H, 1 (2), S. 567 ff. 20' S. 588; Hervorhebung vom Verf. Ferner S. 556 f., 558 f., 606 et passim. 205 S.557. 208 S. 521 ff. 207 S.549. 208 S.550.
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fälle einerseits und jene "scheinbarer Konkurrenz von Verursachung und culpa subsequens" andererseits eingeteilt209 . Die Kausalität der auf eine übernahmevorhandlung folgenden Unterlassung begründet Binding mit deren "doppeltem Charakter"; denn indem sie die Gefahr "zur Hälfte hindert, zur Hälfte fördert"210, ist die übernahme zugleich positive und negative Bedingung. Einerseits wirft sich der übernehmer zum "persönlichen Garanten" auf und wirkt durch die Bereitschaft des psychischen Hemmungsapparates als abhaltende Bedingung211 . Andererseits ist die übernahmehandlung aber auch positive Bedingung, insofern offenbar, als durch sie andere von der übernahme abgehalten oder aber veranlaßt werden, sich im Vertrauen auf das Funktionieren des Garanten der Gefahr auszusetzen 212 . Handelt der Garant nun im entscheidenden Augenblick nicht, so tritt der Erfolg nach Wegfall der negativen Bedingung infolge des übergewichts der positiven ein 213 . Durch die Unterlassung als "willentliche Aufhebung der bisherigen willentlichen Hemmung" wird der Erfolg "bewirkt", nämlich durch die Befreiung der bisher durch den Gegenwillen gebundenen Kräfte 214 , womit die "durchaus kommissive Natur" der Unterlassung in das rechte Licht rückt 215. Der syncretistische Charakter dieser Lehre folgt aus der Bestimmung der übernahmevorhandlung als negativer Bedingung. Besteht diese Negativität in der Manifestierung des Abwendungswillens, so ist zunächst nicht einzusehen, warum diese bei anderen die Erwartung künftigen Handelns erregt haben muß; denn entscheidender Verursachungsakt bleibt die "lediglich der Innenwelt des Verbrechers angehörige Tatsache", daß dieser seinen ursprünglichen Abwendungswillen vernichtet216 . Der "objektive Wert" der Erwartung Dritter kann daher allenfalls eine Kausalität der Vorhandlung selbst begründen. Und zudem ist die vorgestellte Balance positiver und negativer Bedingungen durch die nur psychisch und autonom vorhandene Hemmungsbereitschaft von Anfang an und nicht erst seit Aufgabe des Hemmungsentschlusses gestört. Vollends systemwidrig ist aber nun die Behandlung, die Binding den Ingerenzfällen angedeihen läßt. Er legt zwar dar, daß jedes Verletzungsverbot das sekundäre Gebot involviere, die rechtsverletzenden Folgen der bisherigen kausalen Wirksamkeit zu hindern 217 ; denn gefährliche Handlungen seien nur unter der Bedingung erlaubt, daß der Handelnde die von ihm erzeugte "mögliche Ursache" nicht zur "wirklichen" werden lasse 218, wobei 209 S. 517 ff., 546 ff., 599 ff. 210 S.577. 211 S. 553 ff., 537, 56l. 212 S.554. 213 S.555. 214 S.557. 215 S.550. 216 Ortmann, GS 26 [1874], 442. 217 Normen I, S.111, 117 f.; vgl. auch S.55. 218 a.a.O., S.118. Vgl. auch Normen II, 1 S.604: "Das rechtliche Verbot der Verursachung hat durchaus nicht den sinnlosen Sinn, die Setzung jeder positiven Bedingung eines schädlichen Erfolges zu untersagen; nur soll der Täter nicht diesen den Sieg über die negativen verschaffen."
E. Die Unterlassung als fremdpsychische Ursache
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es gleichgültig bleibt, ob die Vorhandlung bewußt oder unbewußt gefährdete und ob sie schon für sich rechtswidrig war oder nicht219 ; ausgenommen ist nur der Fall der vis absoluta22o . Trotzdem und in direktem Widerspruch zu seiner Ablehnung des dolus sub sequens rechnet B-inding die Ingerenzfälle nicht den Kommissivdelikten durch Unterlassung, sondern dem "Begehungsunrecht" zu, "da die Nichthinderung des Eintritts schuldlos verursachter Erfolge zu einem Unterlassungsunrecht nicht gestempelt ist"221. Andererseits ist aber die Unterscheidung der "echten" Kommissivdelikte durch Unterlassung und der Ingerenz-Fälle nur "im Interesse der Vollständigkeit und übersichtlichkeit", sowie aus Gründen der "Praktikabilität" erfolgt 222 . Es gehe letztlich nur um eine terminologische Frage, da auch bei den ausgeprägtesten Begehungsdelikten Unterlassungmomente mitspielten und die Mischungsverhältnisse überaus zahlreich seien223. Diese neuerlichen Friktionen folgen für Binding wohl wieder aus seinem eigentümlichen Kausalbegriff, mit dessen Hilfe sich überhaupt kein negativer Charakter der gefährlichen Vorhandlung erkennen läßt; denn auch Binding übersieht nicht, daß der Erfolg hier allein durch die gefährliche Vorhandlung "positiv" bewirkt wird, womit die Unterlassung ihres kausalen Charakters entraten muß22( Ortmann hat hieraus die allein mögliche Konsequenz gezogen: die Ingerenz-Fälle bleiben straflos, da taugliche Vorhandlung nur sein kann, was nicht schon selbst das übergewicht der positiven Bedingungen herbeiführt 225 . Wenn Binding dieses Ergebnis zurückweist und sich schließlich wie v. Buri den Rechtspflichttheorien annähert, so ist damit der Boden der Interferenz-Theorien verlassen226 .
E. Die Unterlassung als fremdpsychische Ursache (Geyer, Aldosser u. a.) Wenn der von den "Kausalitätslösungen" geforderte Nachweis eines realen Bewirkenszusammenhanges zwischen Außenweltserfolg und Unterlassung daher nicht auf eigenpsychische Interferenzerscheinungen gestützt werden kann, so bleibt die Möglichkeit, ihn durch Rückgriff auf fremdpsychische Vorgänge herzustellen. Diesen Weg sind Geyer und Aldosser gegangen 227 . "Nur indem die Unterlassung in der Seele eines dieselbe wahrnehmenden beseelten Wesens, sei es Mensch oder Tier, den Reiz zu einer Tätigkeit 219 Normen H, 1, S.603, 605 f. 220 S. 605 f. 221 S.600. 222 S.608; vgl. auch S. 517 ff. 223 S.607. 224 S. 534, 560, 572, 578. 225 GS 26, 449 f.; 27, 213 f. 226 Vgl. Binding, Normen H, 1, S.603: "In allem Handeln liegt das Bestreben des Handelnden, seine Tätigkeit streng innerhalb der Grenzen seines Zweckes, und wenn er Gemeinsinn hat, auch innerhalb der Schranken des Rechts zu halten. Und wenn er letzteres nicht von selbst will, sos 0 11 er es ... " (Hervorhebung vom Verf.). 227 Geyer, Krit. Vierteljahresschrift 24 [1882], 237 ff.; ders., Grundriß, 1. Hälfte, 1884, S. 124 f.; Aldosser, Unterlassungen, 1882, S. 81 ff. Weitere Nachweise und Kritik bei v. Rohland, a.a.O., S. 47 ff.; v. Bar, Gesetz und Schuld H, S. 254 f.; Träger, Unterlassungsdelikte, S. 39 f., 41 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 25 ff.
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veranlaßt, welche den Erfolg herbeiführen hilft, kann sich ein Kausalzusammenhang herstellen zwischen diesem und der Unterlassung228." Solche psychisch wirkenden Unterlassungen heißen "konkludente Unterlassungen" und verursachen den Erfolg dadurch, "daß sie selber die Ursache zu einem diesen Erfolg fördernden Verhalten eines psychischen Einflüssen zugänglichen lebenden Wesens werden"229. Wenn etwa ein Mensch in einen Abgrund stürze, so sei eine in der Nähe befindliche Person für dessen Tod dann ursächlich geworden, wenn jener auf die unterlassene Warnung gerechnet habe; die Kausalität liege hier in der konkludenten Unterlassung selbst23o. - Freilich sind in solchen Situationen auch (konkludente) Handlungen denkbar, wie Geyer einräumt 231 . - Als Motivationsgrundlage für die fremdpsychische Erwartung kommt auch die Erfolgsabwendungspflicht zu ihrem Recht232 . Wogegen zunächst einzuwenden wäre, daß hiernach alle Fälle straflos zu bleiben hätten, in denen der Erfolg ohne fremdpsychische Vermittlung eintritt, weil entweder lediglich Vorgänge der anorganischen oder organischen Natur beteiligt sind oder weil sich das handelnde Subjekt keiner Gefährdung seiner selbst oder eines Dritten bewußt ist und daher auf keine Rettungshandlung rechnen kann23s ; das aber ist praktisch das Gros der Unterlassungsfälle234 . Darüber hinaus wird dieser Lehre stets entgegengehalten, daß eine (fremd)psychische Wirksamkeit der Unterlassung mit ihrer sonstigen physischen Unwirksamkeit in Widerspruch stehe235. Hierin besteht in der Tat das höchst zweifelhafte Hauptproblem dieser Lehre; denn da psychische Kausalität nur über menschliches Verstehen "wirkt", dieses aber auch an rein negative Größen anknüpfen kann, scheint sich die Möglichkeit eines echten Bewirkens durch Unterlassen zu ergeben. Wenn man indessen den Kausalbegriff auf fremdpsychische Vorgänge überhaupt anwenden Will238 , so wird man ihn (als Bewirken) auf solche Vorgänge beschränken müssen, in denen das fremde Verständnis durch eine Aktivität des Partners an228 Geyer, KritViertJSchr, S. 242. 229 a.a.O.; vgl. ferner Grundriß, S. 124 u. Aldosser, a.a.O. 230 Geyer, KritViertJSchr, S.242; Grundriß, S.125; Aldosser, S. 94 ff. 231 a.a.O. 232 Grundriß, S. 125. 233 Vgl. v. Rohland, a.a.O., S. 47 f.; v. Bar, a.a.O., S. 254; W. Schwarz, a.a.O., S.26f. 234 Aldosser (a.a.O., S. 101 ff.) hatte sich daher um eine Erweiterung bemüht. Hiernach erscheinen die "vom Menschen beherrschten Körper und Verhältnisse" (S.110) als "Ausgangspunkt" schädigender Kausalverläufe von ihm ebenso beherrscht "wie der eigene Körper" (S. 109). Das Wirkenlassen solcher in ihrem Ursprung beherrschten Kausalverläufe ist daher "Willensobjektivation" der "erweiterten Person" (S. 109 f.), das Unterlassen Kommissivdelikt (S.112, 124). - Welche Auffassung als Kausalitätslösung bereits mit der Bemerkung Trägers (S. 40) widerlegt wird, daß Wirkenlassen und Wirken eben nicht identisch sind (vgl. auch v. Rohland, a.a.O., S.51; v. Bar, a.a.O., S.255; W. Schwarz, a.a.O., S. 28 f.). Soweit sich hier der später von Träger entwickelte Gedanke einer Haftung für den "Herrschaftsbereich" ankündigt, bleiben die Auslesekriterien undifferenziert. 235 v. Rohland, a.a.O., S.49; v. Bar, a.a.O., S.254; Träger, a.a.O., S.42; W. Schwarz, a.a.O., S.27. 236 Vgl. unten 4. Kap.
F. Rechtskausalitätstheorien
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geregt worden ist. Jedoch kann diese Frage hier offen bleiben, um so mehr, als die Ingerenz im System der hier besprochenen Auffassung keine Funktion zu erfüllen vermag. F. BechtskausaIitätstheorien (v. Bar, Kohler u. a.) Während die von Luden bis zu Geyer und Aldosser entwickelten Theorien mutatis mutandis ihr Anliegen darin gesehen hatten, eine "echte", "naturwissenschaftliche", dem Tun vergleichbare Kausalität der Unterlassung darzutun, verzichtet die nunmehr darzustellende Rechtskausalitätstheorie auf solche Versuche. Ausgangspunkt ihrer überlegungen ist der Gedanke, daß das Unterlassen keine dem Tun vergleichbare Kausalstruktur aufweise; eine "Kausalität" der Unterlassung ist daher nur in einem übertragenen, der Eigenart rechtlichen Denkens verpflichteten Sinne denkbar. I. v.Bar So findet zunächst v. Bar das Repertoire der Kausaltheorien i. e. S. mit den Versuchen der Ingerenz- und Interferenz-Theorien erschöpft237 • Für ihn steht fest: "Rein naturalistisch oder mechanisch ist eine reine Unterlassung ... nicht kausaI 238 ." Jedoch kann diese Einsicht nicht dazu führen, auf die Kausalität als Requisit strafbaren Unterlassens überhaupt zu verzichten; vielmehr kennt v. Bar einen "Kausalzusammenhang im rechtlichen Sinne", der nach Maßgabe der "Regel des Lebens" oder der "Regel des Verkehrs" festzustellen ist239 • Die sich "aufdrängende Anschauung des Lebens, der das Recht die Anerkennung nicht versagen kann", läßt auch die Unterlassung unter bestimmten Voraussetzungen als kausal erscheinen; sie ist für den nicht abgewendeten Erfolg - wenn nicht im "natürlichen", so doch im "rechtlichen" Sinne - kausal, wenn man sagen kann: "Hier fehlt etwas, das wir mit gutem Grunde erwarten durften 240 ." Mit anderen Worten: es kommt darauf an, ob das unterlassene "Tätigwerden gleichsam selbstverständlich" war. "Die Annahme einer Kausalität der Unterlassung beruht also auf einem ethischen Urteile 241 ." Der auf diese Weise in seine Rechte eingesetzte gesunde Menschenverstand erweist sich nun freilich im Detail gegenüber den früheren 237 v. Bar, Causalzusammenhang, 1871, S. 90 ff.; ders., Grünhuts Zeitschrift 4 [1887], 21 ff.; ders., Gesetz und Schuld H, 1907, S. 244 ff. - Darstellung und Kritik bei Aldosser, a.a.O., S. 35 ff.; v. Rohland, a.a.O., S. 41 ff.; Träger, a.a.O., S. 60 ff.; W. Schwarz, a.a.O., S. 64 ff.; Rudolphi, S. 20 ff. 238 Gesetz u. Schuld, S. 268. 239 a.a.O., S. 258 f.; Grünhuts Zeitschrift 4, S. 49 f.; Causalzusammenhang, S. 99, 101 f., 107 f. 240 Gesetz u. Schuld, S. 258 f. 241 a.a.O., S. 260 f.
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Lösungsversuchen als anfällig und vermittelt der v. Barschen Lehre so ihren syncretistischen Charakter. "Selbstverständlich" ist die abwendende Tätigkeit zunächst dann, wenn sie auf eine vorangegangene Handlung folgt, welche nur unter dieser Voraussetzung eines Komplements "als eine der Regel des Lebens entsprechende ... angesehen werden kann"242. Dies ist dann der Fall, wenn jemand "die schädlichen Folgen eines an sich fehlerhaften (schuldhaften) Verhaltens" nicht abwendet 243 , nicht aber bei einem "völlig fehlerlosen, eine komplementäre Tätigkeit nicht erfordernden Verhalten"; denn die "Ansprüche der Moral können, mit dem rechtlichen Zwange versehen, unsinnig werden"244. Im Ergebnis beruht die hierdurch "gebotene (ideale) Erweiterung des Kausalzusammenhanges - man könnte sie fingiert nennen" schließlich doch wieder auf dem dolus subsequens Glaserscher Provenienz245 . - Andererseits zeigt die v. Barsche Lehre eine deutliche Hinneigung zu den Interferenz-Theorien246 . Denn die Abwendung ist auch dort "selbstverständlich", wo das "Untätigbleiben gegenüber dem in den Verhältnissen liegenden Antriebe zum Handeln entweder auf einem diesen Antrieb hemmenden besonderen Entschlusse, oder auf einem nachlässigen Vergessen '" beruht"; dies in dem "ethischen Sinne, daß wer in solcher Situation nicht den Antrieb zum Handeln empfindet (also fahrlässig tätig zu werden unterläßt) ... als ein den ethischen Anforderungen nicht entsprechender, als ein schlechter, ein strafwürdiger und strafbedürftiger Mensch erscheint"247. - Auch die Theorie der psychisch wirkenden Ursachen kommt via "Regel des Lebens" zu ihrem Recht; denn in anderen Fällen hängt die Kausalität der Unterlassung davon ab, ob die Verpflichtungsübernahme etc. "tatsächlich das Vertrauen" bei anderen erregt hat, der Unterlassende werde sich entsprechend seiner Verpflichtung verhalten 24B . So bleibt es schließlich dem Beurteiler überlassen, welchem der dargestellten Aspekte er den Vorrang einräumen oder ob er sich bei der gleichfalls nicht vergessenen "Rechtspflicht"249 beruhigen will. Originalität kann die v. Barsche Theorie daher nur insofern beanspruchen, als sie die materiellen Auslesekriterien als Voraussetzung einer Kausalität im Rechtssinne postuliert250 . 242 Causalzusammenhang, S.99; Grünhuts Zeitschrift 4, S.51. 243 Gesetz u. Schuld, S. 267; Causalzusammenhang, S. 100. 244 Gesetz u. Schuld, S. 268. 245 a.a.O., S. 268 f.; Kausalzusammenhang, S. 109 ff. (116 ff.). 246 Vgl. Träger, a.a.O., S.64; W. Schwarz, a.a.O., S.66. 247 Gesetz u. Schuld, S. 260, 269. 248 a.a.O., S. 262 f.; Causalzusammenhang, S. 101 f. 249 Gesetz u. Schuld, S. 261, 263. 250 Zu v. Rohland vgl. Träger, a.a.O.; W. Schwarz, a.a.O., S. 69 f.; Rudolphi, S.21.
F. Rechtskausalitätstheorien
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11. Kohler
Mit dem Ausgangspunkt dieser überlegungen stimmt auch Kohler überein251 ; denn auch er stellt dem "bloßen Naturkausalismus" einen "Kausalismus der sozialen Ordnung" gegenüber 252 . Die menschliche Ordnung ist dadurch charakterisiert, daß sie die natürlichen durch künstliche Faktoren vermehrt, und zwar durch "Posten" zur Verhütung von Schäden. Die menschliche Ordnung gleicht so einer "Maschinerie", in welcher jedes "Rad", als welche die "Posten" auch umschrieben sind, seine eigene Bedeutung hat. Wer eine in dieser Weise in die soziale Ordnung eingefügte Tätigkeit unterläßt, "der nimmt damit ein Rad aus dem Getriebe der sozialen Ordnung heraus, und damit wirkt er causierend". Er kann daher nicht anders beurteilt werden als ein Dritter, der den Posten gewaltsam an der Erfüllung seiner Aufgaben hindert 253 • Unter welchen Umständen ein Mensch auf einen solchen "Posten" gestellt ist, erscheint als "Frage der historischen Kulturentwicklung"254. Die bloße Auferlegung von akzessorischen "Zufallspflichten" wie der Pflicht zur Anzeige von Verbrechen genügt jedenfalls nicht; denn "das System gesellschaftlicher Fürsorge [sc. baut] seinen Kalkül nicht hierauf". Pflichten außerhalb der "speziellen Postenverteilung" genügen somit nicht 255 . Die hiermit geforderte "spezielle Fürsorge bezüglich des einzelnen Falles" erweist nun zunächst die vertragsmäßige übernahme der Postenfunktion als Hauptfall der "causativen" Unterlassung 256 : "Wären diese Personen überhaupt nicht auf der Welt, so wären andere Personen da, welche auf deren Posten stünden und auf deren Pflichterfüllung die ganze Einrichtung gegründet wäre 257 ." Freilich hat dieses "Argument von dem Nichtgeborensein" nur eine relative Berechtigung; denn "wenn jemand eben geboren ist, [sc. sind] die Causalverhältnisse so zu beurteilen ... , wie sie sich nunmehr, mit Rücksicht auf seine Existenz entwickelt haben"258. Aus diesem Grunde hat der Posten für den nicht abgewendeten Schaden auch dann einzustehen, wenn ein Ersatzmann nicht hätte gestellt werden können oder wenn dieser weniger tauglich und daher nicht in der Lage gewesen wäre, das nicht verhinderte Ereignis abzuwenden. - Eine weitere "Klasse von Pflich251 Kohler, Studien aus dem Strafrecht I, 1890, S. 45 ff. vgl. W. Schwarz, a.a.O., S. 67 f.; Rudolphi, S. 21 ff. 252 a.a.O., S. 45. 253 a.a.O., S. 45 f. 254 S.47; dazu die Würdigung von Rudolphi, S.22. 255 a.a.O., S. 48 f. 256 S.53. 257 S.55. 258 a.a.O., S.57.
Zur Kritik
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ten" entsteht durch die gefährlichen Vorhandlungen, die sich in zwei verschiedenen Erscheinungsformen darstellen259 . Einmal gibt es gleichsam sozialübliche gefährliche Handlungen, die der menschlichen Gesellschaft freilich dann ungefährlich sind, wenn sie einer ständigen Regulierung und Beaufsichtigung unterworfen werden, wie etwa eine Sprengung, das Abreißen eines Hauses oder der Betrieb einer Droschke 260 . Und zum anderen kann die Abwendungsverpflichtung das "natürliche Correlat" eines schuldhaft begangenen Delikts sein. Der Täter des Delikts muß die hilflose Lage des Opfers hier deswegen beseitigen, weil "die menschliche Gesellschaft ... jeden übeltäter vor sein Opfer [sc. stellt] ... ; die Gesellschaft baut darauf, denn sie kann nicht jedem übeltäter einen Polizeimann nachsenden, damit derselbe sich sofort des hilflosen Opfers annimmt"261. Da Kohler eine "naturalistische" Kausalität der übernahmevorhandlung nicht voraussetzt, ruht der "Causalismus der sozialen Ordnung" auf anderen Prinzipien als dem des "Naturcausalismus". Offenbar handelt es sich hierbei um die Kategorie der sozialen Erwartung 262 . Daß auf diese Weise die soziale Bedeutung der erwarteten Handlung und ihrer Unterlassung in eindrucksvoller Weise sichtbar wird, kann nicht in Abrede gestellt werden. Man denke etwa an den Streik als "kollektive Arbeitsunterlassung" : "Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will." Aber eine eigentliche Begründung der Postenhaftung steht gleichwohl noch aus. Denn da die Erwartung nicht als "psychisch" wirkende, über den Ausschluß des Rechtsgutsträgers oder eines hilfswilligen Dritten verlaufenden Kausalität, sondern als "Wahrscheinlichkeitsregel"263 des sozialen Verlaufs gemeint ist, bleibt die Frage, was denn von Rechts wegen füglich erwartet werden darf. Zudem mag sich ja der Rechtsgenosse auf die Enttäuschung seiner Erwartung einstellen264 . Auch ist es nicht recht einzusehen, welche Funktion die Kategorie der Erwartung bei den Ingerenzfällen behaupten soll. Wenigstens bei der Klasse der aus einem "Delikt" entstehenden Pflichten kann ja von einer Erwartung nur in dem allgemeinen Sinne die Rede sein, daß rechtstreues Verhalten erwartet werde; was offenbar auf einen Zirkelschluß hinausläuft. Von Bedeutung bleibt der Ansatz der Rechtskausalitätstheorien. Da die Unterlassung naturalistisch gesehen nicht kausal ist, gleichwohl 259 260 261 262 263 264
a.a.O., S. 59 ff. a.a.O., S. 59 f. a.a.O., S. 60 f.
Vgl. E. A. Wolft, Kausalität, S.39. E. A. Wolft, a.a.O. E. A. Wal!!, S.40.
G. Rechtspflichttheorien
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aber auf ein Kausalitätsäquivalent nicht verzichtet werden kann, bezeichnet "Rechtskausalität" völlig zu Recht den Ausgangspunkt einer "Gleichstellungsfrage" und zugleich das tertium comparationis, nämlich den Naturkausalismus. Das damit aufgeworfene Problem kann nur mit Hilfe einer wertenden Betrachtungsweise gemeistert werden. In dieser Einsicht mag man die eigentliche Wendung erblicken, die v. Bar und Kohler der Dogmatik der unechten Unterlassungsdelikte gegeben haben265 • In diesem reduzierten Gehalt weisen sie auch dem "axiologischen" Teil der vorliegenden Arbeit den Weg. G. Rechtspftichttheorien Mit dem Aufkommen des von Beling inaugurierten dreiteiligen Verbrechensaufbaus stellte sich zusätzlich die dogmatische Aufgabe, den Sitz der axiologischen Ausleseproblematik zu lozieren. Die Anhänger der nunmehr darzustellenden sog. formellen und materiellen Rechtspflichttheorien stimmen in dieser Standortfrage insofern überein, als sie die Ebene der Rechtswidrigkeit als se des materiae erkennen. I. Die formelle Redttspßidtttheorie 1. Darstellung
Und zwar zunächst die Anhänger der sog. formellen Rechtspflichttheorie, die durch die Namen Beling, M. E. Mayer, R. v. Rippel, Frank, v. Liszt-Schmidt, Mezger u. a. repräsentiert ist266 • - Nun könnte man annehmen, daß die dogmatische Standortfrage von den axiologischen Problemen unabhängig sei. Für die genannten Autoren folgt die Lozierung jedoch aus einer bestimmten Auffassung über die Kausalität der Unterlassung, eine Frage mithin, die für die Anhänger der sog. Kausalitätslösungen mit der Gleichstellungsproblematik identisch war. Mit der Interdependenz der dogmatischen und axiologischen Probleme kündigt sich somit eine neuartige Auffassung des Kausalproblems an, die schon v. Buri angedeutet hatte, wenn er resignierend die StrafbarRudotphi, S. 22. Vgl. Beting, Lehre vom Verbrechen, 1906, S. 164 f., 224 f., 257; ders., Grundzüge (11), 1930, S. 38 f.; M. E. Mayer, AT d. dt. StrR. (2), 1923, S.151, 189 ff.; R. v. Hippel, Lehrbuch d. dt. StrR. II, 1930, S.160 ff.; Frank, StGB (18), 1931, § 1 Anm. IV; v. Liszt-Schmidt, Lehrbuch d. dt. StrR. I (26), 1932, S. 172 f.; 189 ff.; Mezger, Lehrbuch (3), 1949, S. 136 ff. - Darstellung und Kritik bei Schaffstein, Gleispach-Festschrift, S. 70 ff.; Drost, GS 109 [1937], 9 ff.; Nagter, GS 111 [1938], 76 ff.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 246 f., 262 ff.; Rudolphi, S. 27 ff. Ferner Grünwatd, Diss. Göttingen 1957, S. 38 ff. 265
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keit unechten Unterlassens beibehalten wollte, obwohl man "wohl auf deren Ursächlichkeit verzichten" müsse 267 . So sind sich die Anhänger der formellen Rechtspflichttheorie darin einig, daß die Kausalität der Unterlassung in Wahrheit unproblematisch sei. Löse man sich von der Vorstellung, daß Kausalität wirkende, reale Kraft im Sinne der naturwissenschaftlichen causa efficiens sei und betrachte man sie geisteswissenschaftlich als Form des Denkens und Erkennens, so sei die Unterlassung für einen nicht abgewendeten Erfolg dann kausal, wenn dieser bei Vornahme der unterlassenen Handlung ausgeblieben wäre. Da Handeln und Unterlassen unter dem Kausalaspekt nicht geschieden seien, bestehe "Tatbestandsidentität"268. Die Unterschiede der beiden Verhaltensformen treten somit erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit in Erscheinung. Obwohl beim Handeln von der Tatbestandsmäßigkeit eines Verhaltens "Indizwirkung" (M. E. Mayer) hinsichtlich der Rechtswidrigkeit ausgeht, tritt dieses Verhältnis bei der Unterlassung in die umgekehrte Folge von Ausnahme und Regel: Eine tatbestandsmäßig kausale Unterlassung ist nur dann rechtswidrig, wenn sie eine Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung verletzt269 . Die axiologische Gleichstellungsproblematik reduziert sich für die Anhänger der formellen Rechtspflichttheorie somit auf die Konstituierung tauglicher Rechtspflichten. Dies führt zu dem bekannten "Trifolium"270 von Gesetz, Vertrag und vorangegangenem Tun. Die Gesetzeskategorie umfaßt das "gesamte öffentliche und Privatrecht" mit Einschluß der Verordnungen, Dienstbefehle und des Gewohnheitsrechts 271 • Vor allem das Familienrecht wird so zu einer wichtigen strafrechtlichen Rechtsquelle. Freilich muß die gesetzliche Pflicht den "erweislichen Sinn" haben, "eine strafrechtliche Haftung für den Erfolg begründen zu wollen. Es genügt mithin nicht das bloße Bestehen der Pflicht, selbst dann nicht, wenn diese Pflicht auferlegt ist, damit Erfolge dieser Art abgewendet werden. Oder anders ausgedrückt: es bedarf in allen Fällen, in denen ein Kommissivverbrechen durch Unterlassung mit strafrechtlicher Haftung für den Erfolg angenommen werden soll, des besonderen, im Wege der Auslegung des Gesetzes usw., zu gewinnenden Nachweises, daß die Begründung der Pflicht zugleich ein strafrechtliches Haftbarmachen für den Erfolgseintritt in sich 267 268
269 270 271
v. Buri, GS 56 [1899], 448.
Beting, Lehre v. Verbrechen, S.224 bei u. in N.1. Statt aller Beting, a.a.O., S. 165; M. E. Mayer, a.a.O., S. 190 f. Vogt, ZStW 63 [1950/51], 385. Mezger, a.a.O., S. 138 f.
G. Rechtspflichttheorien
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schließt": eine "äußerst schwierige und bisher noch nicht befriedigend gelöste Frage"272. Neben dem Gesetz kommen vor allem der zivil- und öffentlichrechtliche Vertrag, Auftrag und Geschäftsführung ohne Auftrag als Rechtsquelle der Abwendungsverpftichtung in Betracht273 • Geläuterte Rechtsauffassung führt freilich auch hier zu der Einsicht, daß das Bestehen der Vertragspflicht allein nicht genügt. Vielmehr muß - der heute als Übernahme bezeichnete Gesichtspunkt - hinzukommen, daß sich der Vertragsgegner auf die zugesagte Hilfe verlassen und im Vertrauen auf sie seine Rechtsgüter einer Gefahr ausgesetzt oder andere Sicherungsvorkehrungen unterlassen hat274 • Als dritter Verpflichtungsgrund kommt schließlich auch die Ingerenz zu ihrem Recht, die von der ganz überwiegenden Meinung als Gewohnheitsrecht legitimiert wird, wenn auch die an die rechtliche Qualität der Vorhandlung zu stellenden Anforderungen umstritten sind275 . Nur Landsberg hatte den Versuch unternommen, diesen Verpflichtungsgrund mit der Gesetzeskategorie dadurch zu harmonisieren, daß er ihn aus Polizeiverordnungen und ähnlichen Bestimmungen zu induzieren suchte 276 .
2. Kritik Betrachtet man zunächst die systematische Konzeption der formellen Rechtspflichttheorie, so stößt man auf eine charakteristische Antinomie, die als "doppelte Rechtswidrigkeit" alsbald bemerkt worden ist277 • Denn wenn Handeln und hypothetisch kausales Unterlassen tatbestandsmäßig identisch sind, so ist nicht einzusehen, warum bei der Unterlassung eine doppelte Rechtswidrigkeit verlangt wird, "jene all272 273 274 275
a.a.O., S. 140 f. a.a.O., S. 143 f. a.a.O., S. 144. statt aller Mezger, a.a.O., S. 145. 276 Landsberg, S. 267 ff. Wie sehr sein Standpunkt der Rechtspflichttheorie verhaftet ist, zeigt sein Vorschlag, die strafrechtliche Problematik der Ingerenz de lege ferenda durch Aufnahme einer Bestimmung in das BGB (!) zu lösen, wonach jedermann zur Abwendung selbst verursachter Gefahren verpflichtet sein solle. Konsequenter läßt sich die Forderung nach einer aUßerstrafrechtlichen Rechtspflicht kaum vertreten. Dazu Paul Merkel, Unterlassung, S. 37 f.; Träger, a.a.O., S. 101 f.; Granderath, S.126. 277 Vgl. Schaffstein, a.a.O., S. 87 f.; Nagler, a.a.O., S.74, 82; Doldi, Diss. Kiel 1950, S. 11; Vogt, a.a.O., S.386, 390; Schnause, Diss. Köln 1953, S.17; Wrede, Diss. Hamburg 1955, S.85. Ferner Sauer, Grundlagen, S.456; ders., Frank-Festgabe I, S.215; Kissin, Rechtspflicht, S. 46 ff.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 263; E. A. Wolff, S.35 bei und in N.8.
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gemeine, die sich aus der Erfüllung des Strafandrohungsbestandes ergibt, und eine besondere, die in der Verletzung einer besonderen Rechtspflicht zur Erfolgsabwendung besteht"278. Mit anderen Worten: entweder ist "die Kommission durch Unterlassung doppelt oder gar nicht widerrechtlich"279. Nun ist der Grund dieser Friktion leicht einzusehen. Er besteht in einer schlichten, auf den Begriff der "Kausalität" bezogenen quaternio terminorum. Nimmt man nämlich Kausalität einmal als bloße "Form des Erkennens" und bezeichnet man auch das Verhältnis von Handlung und eingetretenem Erfolg als Kausalität, so umfaßt der Begriff hier neben der "Gesetzmäßigkeitsbeziehung" zugleich den Umstand, daß der Handelnde den Erfolg aktiv, real und kraftvoll bewirkt hat und eben deswegen Täter ist! Bezeichnet man zum anderen auch die Unterlassung als kausal, sofern der Erfolg durch die unterlassene Handlung abgewendet worden wäre, so umfaßt der Begriff Kausalität nur die Gesetzmäßigkeitsbeziehung unter Ausschluß der naturwissenschaftlichen Wirkensqualität. Denn daß diese dem Unterlassen abgeht, steht seit Aufgabe der Ingerenz-Theorien außer Zweifel. Mag daher auch schon die bloße gesetzmäßige Folge der Erscheinungen Kausalität heißen, so bleibt es doch dabei, daß die kausale Unterlassung ein Merkmal nicht aufweist, das dem Handeln eigen ist: nämlich den aktiven, realen, kraftvollen, naturwissenschaftlichen Energieeinsatz in Richtung auf das geschützte Rechtsgut. Nun würde die genannte quaternio terminorum lediglich einen terminologischen Fehlgriff implizieren, wenn nicht aus der durch den Terminus "Kausalität" verdeckten Diversität von aktivem Bewirken und passivem Unterlassen Folgerungen gezogen würden, die sich nur dann halten ließen, wenn Handeln und Unterlassen in derselben Beziehung zum Erfolg stünden. Diese Folgerung betrifft aber gerade die Standortfrage. Denn will man das Unterlassungsdelikt in striktem "Parallelismus" zum Begehungsdelikt aufbauen, so muß die prinzipielle Wertdifferenz der beiden Verhaltensformen an irgendeiner Stelle des Deliktsaufbaus in Erscheinung treten. Die Ebene der Rechtswidrigkeit könnte dieser Ort nur dann sein, wenn auch der Tatbestand des Begehungsdelikts deswegen keine Indizfunktion auszulösen vermöchte, weil er zugunsten der bloßen Gesetzmäßigkeitsrelation um die aktive Wirkensbeziehung vermindert wäre, wenn man mit anderen Worten die Scheidung der Verhaltensformen erst auf der Ebene der Rechtswidrigkeit vorzunehmen und die Täterschaft erst hier entweder infolge der Wirkensbeziehung oder infolge einer äquivalenten Gesetzmäßigkeitsrelation zu konstatieren hätte. Ein solches Verfahren wäre 278 Schaffstein, a.a.O., S. 88. 279
Nagler, a.a.O., S.82.
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ebenso widerspruchsfrei 280 wie mit einem Tatbestandsbegriff unvereinbar, der den Tatbestand als Träger aller den Unrechtstypus konstituierenden Merkmale betrachtet281 ; denn die bloße Gesetzmäßigkeitsrelation läßt ja die Frage noch offen, ob die betreffende Person Täter war, weil sie entweder Energie zur Verletzung des Gutes aktiv eingesetzt (d. h. gehandelt) oder solche Energie zu seiner Rettung nicht aufgebracht (d. h. unterlassen) hatte und im zweiten Falle als Garant anzusehen war. - Es zeigt sich somit, daß die axiologische Gleichstellungsproblematik von den dogmatischen Ansätzen zu ihrer Ortung zunächst unabhängig ist. Bei der Beurteilung der formellen Rechtspflichttheorie darf man somit davon absehen, daß die Lozierung der Gleichstellungsfrage nur um den Preis eines sinnentleerten Tatbestandsbegriffs auf der Ebene der Rechtswidrigkeit möglich ist. Um so deutlicher tritt ihre Ungereimtheit darin zutage, was schon Glaser gegen die entsprechende Feuerbachsche Konzeption eingewendet hatte, daß es nämlich willkürlich sei, "wenn die Gleichstellung dessen, was nicht geschehen ist, mit dem, was geschehen ist, durch das Widerrechtliche des Benehmens eines bestimmten Menschen gerechtfertigt werde"282. Es ist "uneingeschränkt falsch"283, das strafrechtliche Gleichstellungsproblem mit Erwägungen zivilistischer oder öffentlich-rechtlicher Natur lösen zu wollen. Denn "daß die Nichterfüllung bürgerlich-, disziplinar-, völkerrechtlicher oder sonstiger Verpflichtungen an sich bloß die von jenen Rechtsgebieten selbst dargebotenen Wirkungen auslösen können, lehrt schon die einfachste überlegung"284. Weder genügt jede Rechtspflicht, noch ist eine solche im geschriebenen Recht überall dort nachzuweisen, wo eine strafrechtliche Haftung eintreten soll. Auch ist die zivilrechtliche Ungültigkeit eines Vertrages gegenüber dem durch tatsächliche übernahme der vertragsmäßigen Position geschaffenen Stand der Dinge offenbar ohne Bedeutung. - Die Einzelheiten dieser Einwendungen brauchen hier nicht wiederholt zu werden. Sie zeigen hinreichend, daß die formelle Rechtspflichttheorie weder in ihrer theoretischen Konzeption noch in ihren praktischen Ergebnissen zu überzeugen vermag. 280 Es ist daher keineswegs so, als sei die genannte Antinomie "zwangsläufig", wie Schaffstein (a.a.O., S.87) meint. Dies gilt auch gegen Armin Kaufmann, a.a.O., S. 252 f., 260, der die im Text benannte quaternio nicht erkennt. 281 Vgl. etwa Gallas, ZStW 67 [1955], 19. 282 Glaser, Abhandlungen I, S.373; vgl. auch oben S.28. 283 Nagler, es 111 [1938], 11. 284 Nagler, a.a.O., S. 23 f.; vgl. auch Höpfner, ZStW 36 [1915], 104ff.; Schaffstein, a.a.O., S.73, 75 f., 80 et passim; Grünwald, a.a.O., S. 51 ff., 69; ders., ZStw 70 [1958], 414 ff.; Rudolphi, S. 29 f. 5 Welp
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11. Die materielle Rechtspfticbttheorie (Sauer und Kissin)
Ebenso wie die zuvor besprochenen Autoren wollen auch Sauer und Kissin die axiologische Gleichstellungsproblematik auf der Ebene der Rechtswidrigkeit verhandeln; den dargestellten Antinomien jener Lehre hoffen sie durch eine Wendung zum Materiellen zu entgehen285 . 1. Darstellung
Beide Autoren gehen von der Annahme aus, daß der Kausalbegriff nicht als reale, den Dingen innewohnende, schaffende Kraft, sondern als Denkform im juristischen Sinne zu verstehen sei. "Im Verstande, nicht in den Dingen selbst liegt dasjenige, was die aufeinanderfolgenden Erscheinungen miteinander verknüpft286 ." In diesem Sinne verstanden, kann die Kausalkategorie auch an das "natürliche Nichts" der Unterlassung angelegt werden287 . Auf der Ebene der Tatbestandsmäßigkeit besteht zwischen den beiden Verhaltensweisen kein Unterschied; und folglich sind beide auch "formell" rechtswidrig288 . Damit scheint das Dilemma der "doppelten Rechtswidrigkeit" unvermeidlich, wenn nicht jede (hypothetisch) kausale Unterlassung strafbar sein so1l289. Gleichwohl ist die Ebene der Rechtswidrigkeit sedes materiae; denn nur hier kann die Wert differenz der beiden Verhaltensformen in Erscheinung treten 290 . Der vermeintliche Widerspruch löst sich in der Annahme, daß sich das Wesen der Rechtswidrigkeit nicht darin erschöpft, formeller Verstoß gegen eine Rechtsnorm zu sein291 ; vielmehr ist "rechtswidrig" auch materiell als Attribut einer Handlung zu verstehen, die dem Mehr-Nutzen-als-Schaden-Prinzip widerspricht292 . Dieses "juristische Grundgesetz" wendet Kissin auch auf die unechte Unterlassung an. Da die Rechtsnorm als Kreuzungspunkt widerstreitender Interessen eine Kollision löst, besteht die Aufgabe zunächst darin, diese auch bei der Unterlassung nachzuweisen. Kissin sieht die 285 Sauer, Grundlagen d. Strafrechts, 1921, S. 447 ff.; ders., Frank-Festgabe
I, 1930, S. 202 ff.; ders., GS 114 [1940], 279 ff.; Kissin, Rechtspfticht zum Handeln, 1933. - Darstellung und Kritik bei W. Schwarz, a.a.O., S. 103 ff.; Schaffst ein, a.a.O., S. 89 ff.; Armin Kaufmann, a.a.O., S. 247 f., 264 ff.; Rudolphi, S. 31 ff. 286 Kissin, S. 29.
Sauer, Allg.StrRLehre (3), 1955, S. 90. 288 Kissin, S. 14 f., 29 f., 43. 289 Sauer, Grundlagen, S.456; ders., Frank-Festgabe I, S.215; Kissin, S. 43 ff. 290 Sauer, a.a.O.; ders., GS 114, 290 ff.; Kissin, S.14, 38, 43 ff. 291 Sauer, Grundlagen, a.a.O.; Kissin, S.43 ff. (49). 292 Sauer, a.a.O.; Kissin, S. 50 ff. 287
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Kollision in dem Widerstreit des durch die Norm angerichteten "Schadens" im Vergleich mit dem durch ihre Erfüllung gestifteten "Nutzen"293. Während der Schaden in der Einbuße an Handlungsfreiheit auf seiten des verpflichteten Subjekts besteht, bestimmt sich der Nutzen nach dem Wert des zu rettenden Gutes. Daraus ergibt sich folgende Relation: die Annahme eines unechten Unterlassungsdelikts entspricht nur dann "richtigem Recht", wenn die Einbuße an Handlungsfreiheit durch den mit der unterlassenen Handlung anzustrebenden Vorteil überwogen oder doch wenigstens aufgewogen wird 294 . Dies ist dann der Fall, wenn besonders hochwertige Rechtsgüter auf dem Spiele stehen oder wenn die durch das Gebot bewirkte Einschränkung der Handlungsfreiheit nicht schwerer wiegt als die durch das entsprechende Verbot bedingte295 • Bei der Durchführung dieser Grundsätze zeigen sich freilich wiederum Einschläge der formellen Theorie. Während Sauer annimmt, daß dem Mehr-Nutzen-als-Schaden-Prinzip immer schon dann genügt sei, wenn der Täter "den schädlichen Erfolg durch vorherige aktive Tätigkeit selbst näher gerückt" habe 296 und so die eigentliche Begründung schuldig bleibt, sucht Kissin die Brücke zum Ausgangspunkt seiner Erwägungen durch die überlegung herzustellen, daß der eingetretene Erfolg bei der Ingerenz vom "Dasein" des Unterlassenden abhängig sei 291 • Da die Rechtsordnung nur verlangen könne, daß der einzelne "im Endergebnis" keinen Schaden anrichte, werde die Handlungsfreiheit des Verpflichteten hier nur dann nicht über das von dem entsprechenden Verbot bedingte Maß hinaus beeinträchtigt, wenn nicht die Bewirkung eines Vorteils verlangt werde, "der nicht entstanden wäre, wenn der Betreffende nicht inmitten der Gemeinschaft lebte"298. Bei der Ingerenz sei der Erfolg hingegen vom Dasein des Unterlassenden abhängig. Eine übermäßige Freiheitsbeeinträchtigung sei dann nicht zu besorgen, wenn der Erfolg durch die Vorhandlung adäquat verursacht worden sei299 • Das vorangegangene Tun dürfe deswegen nicht "rechtlich farblos"300 oder "rechtlich indifferent"301 sein, sondern es müsse "die nahe Wahrscheinlichkeit" für den Erfolgseintritt begründet haben 302 und selbst %93
Kissin, S.74.
294 a.a.O., S. 83. 295 a.a.O., S. 99. 296 Sauer, Grundlagen, S. 459.
291 298
299 300 301 302
5'
Kissin, S. 102. Kissin, S. 101.
a.a.O., S. 105. Sauer, Grundlagen, S. 459. Sauer, Frank-Festgabe I, S.216. Kissin, S. 105.
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schon die "allgemeine Tendenz auf einen rechtlich unerwünschten Erfolg" erkennen lassen303 , d. h. selbst schon materiell rechtswidrig sein304 . Bei adäquater Verursachung des Erfolges sei dies stets anzunehmen. Dagegen sei ein "Verschulden" nicht gefordert, da sich die materielle Rechtswidrigkeit nach dem "realen Zweck" der Handlung bestimme305 . Zusammengefaßt: "Hat der Täter durch positives Tun materiell rechtswidrig die allgemeine Tendenz zu einem Schaden gesetzt, m. a. W. die adäquate Kausalität zu ihm ins Laufen gebracht, ohne damit den strafrechtlichen Tatbestand zu verwirklichen, so ist dessen Verwirklichung durch Unterlassung beim Vorliegen der materiellen Rechtswidrigkeit auch ohne Verstoß gegen eine spezielle Rechtspflicht strafbar306 ." Neben die Ingerenz als Ausschnitt aus dem Bereich materiell rechtswidrigen Unterlassens tritt als weiterer Gleichstellungsgrund die "eigenartige rechtlich-soziale Stellung des Täters", die ein besonderes Verhältnis zum Verletzten begründet 307 . Die Einzelheiten ergeben sich aus dem "Geist der Gesamtrechtsordnung", wobei eine gewisse Unsicherheit der Grenzen unvermeidlich ist308 . "Konkrete Lebenslagen"309 und die "individuelle Besonderheit des Einzelfalles"310 gelangen so zu ihrem Recht. Die Parallele zu den Ingerenz-Fällen geht nach Kissin in den Übernahmefällen allerdings nicht soweit, daß ein Kausalzusammenhang zwischen Übernahme und eingetretenem Erfolg verlangt würde; es genügt vielmehr, daß die Rechtsordnung auf die Pflichterfüllung in solchen Lagen generell vertraut 311 • 2. Kritik
Faßt man zunächst wieder die Standortfrage ins Auge, so zeigt sich, daß auch Sauer und Kissin die Friktionen der formellen Rechtspflichttheorie nicht zu vermeiden vermögen312 . Denn auch wenn man das nur "in mente" sich vollziehende logische Notwendigkeitsurteil Kausalität nennt, diese mithin auch der Unterlassung konzediert, bleibt es die "in re" befindliche reale Kraft, die den Handelnden zum Täter macht. Das "in mente" gedachte Urteil findet daher einmal seine Entsprechung Sauer, Grundlagen, S. 460. Sauer, a.a.O.; Kissin, a.a.O. 305 Sauer, a.a.O.; ders., Frank-Festgabe I, S. 218 f.; ders., GS 114, 299. 306 Sauer, Grundlagen, a.a.O. 307 Sauer, Frank-Festgabe I, S. 215, 219, 221; Kissin, S. 117. 308 Sauer, a.a.O., S. 223, 225. 309 Sauer, GS 114, 305. 310 Sauer, Frank-Festgabe I, S. 225. 311 Kissin, S. 110 f. 312 Ebenso Armin Kaufmann, a.a.O., S. 266. 303 304
G. Rechtspflichttheorien
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in einem realen Prozeß, während es sich das andere Mal im Denken erschöpft. Mithin bleibt es die bereits gerügte quaternio terminorum, wenn auch das "kausale" Unterlassen für formell rechtswidrig gehalten wird. Folglich ist das von Sauer und Kissin angewendete Verfahren nicht Einschränkung einer an sich bestehenden formellen Rechtswidrigkeit, sondern deren Begründung 313 • Dann aber stellt sich die Frage, ob die Lehre von der materiellen Rechtswidrigkeit das zu leisten imstande ist, was ihr hier zugemutet wird. Denn während sie gewöhnlich zur atypischen Einschränkung bestehender Strafnormen herangezogen wird 31 4, dient sie hier allererst zur Konstituierung der Strafnorm, was freilich durch die Fingierung einer formellen Rechtswidrigkeit der "kausalen" Unterlassung verdeckt wird. Nur "krasser Rationalismus" kann aber glauben, daß eine solche Aufgabe mit Hilfe einer derart konkretisierungsbedürftigen Formel bewältigt werden könnte 315 • Daher bietet die hier referierte Lehre weniger eine Lösung als eine Frage316, die sich einstweilen lediglich im Vorfeld rechtspolitischer überlegungen bewegt. Denn folgerichtig müßte das Mehr-Nutzen-als-Schaden-Prinzip dazu führen, die Nichtrettung besonders hochwertiger Güter stets als unechtes Unterlassungsdelikt zu bestrafen. Daß dies mit dem geltenden Recht unvereinbar wäre, bedarf kaum der Begründung. Auch die Schadensseite der genannten Formel vermag lediglich zu rechtspolitischen Maximen allgemeinster Art zu gelangen. Denn versteht man unter der nachteiligen Einbuße an Handlungsfreiheit, die mit der Auferlegung der Norm verbunden ist, empirisch meßbaren Entschluß- und Durchführungsaufwand, so führt die Frage nach der Gleichwertigkeit notwendig zum Einzelfall und versagt dort, wo eine Interferenzerscheinung nicht nachweisbar ist. Generell wird sich hier nur sagen lassen, daß die Unterdrückung eines Handlungsentschlusses in aller Regel weniger Anstrengung verlangen wird als die Fassung eines Rettungsentschlusses, denn während das Verbot jede andere Betätigungsmöglichkeit bestehen läßt, schließt sie das Gebot aus. Der übergang zu der konkreten Gleichstellungsproblematik durch Einführung pflichtbegründender Positionen bleibt so willkürlich. Wenn der Unterlassende etwa im Falle der Ingerenz auch den Erfolgseintritt zur Zeit der Vorhandlung vorhersehen konnte, die Beeinträchtigung der Handlungsfreiheit mithin überschaubar war317, so ist doch nicht zu Schaffstein, a.a.O., S.90; Annin Kaufmann, a.a.O., S.265. Vgl. dazu neuestens etwa Klug, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 249 ff.; Heinitz, daselbst, S. 266 ff. 315 Vgl. Schaffstein, a.a.O., S. 93. 316 Annin Kaufmann, a.a.O., S.265. 317 Vgl. Rudolphi, S.32. 313
314
Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
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erkennen, warum gerade dieser Umstand seine Unterlassung als Handlungsäquivalent erscheinen lassen soll. Das "material Unrechtmäßige des früheren Zustandes"318, das auf die spätere Unterlassung fortwirkt 319 , führt schließlich über den dolus sub sequens nicht hinaus32o . So hat man sich letztlich damit zu begnügen, daß die Ingerenz als "Forderung der Gerechtigkeit"321 aus den Grundgedanken des Rechts "unmittelbar emporgewachsen" ist 322 . H. Die Garantenlehre (Nagler) I. Darstellung Zu einer neuartigen Konzeption sowohl der dogmatischen als auch der axiologischen Fragen ist Nagler mit seiner inzwischen zur herrschenden Lehre avancierten Garantenlehre gelangt323 • Das Ziel seiner Bemühungen richtet sich auf die Konstituierung einer Theorie, die die unechte Unterlassung durch Angabe der sachlichen Auslesekriterien als der Handlung gleichstehend und mithin als "Handlungsäquivalent" erscheinen läßt324 • Denn nur wenn es gelingt, die strafbare Unterlassung "als Handlung im Sinne des Tatbestandes" zu erweisen325 , ist das Ausleseverfahren nicht "Gesetzeserweiterung"326, sondern "Tatbestandsberichtigung im Wege zweckorientierter, ausdehnender Textdeutung"327; und nur dann wird enthüllt, "was noch immer dem Willen der Gesetzgebung entsprach, aber aus technischen Gründen nicht zum klaren Ausdruck gekommen war"328. Da die Rechtspflichttheorien Belingscher Provenienz dem Odium der "doppelten Rechtswidrigkeit" verfallen, glaubt Nagler die Wertdifferenz der beiden Verhaltensformen ohne dieses Dilemma nur dann zum Ausdruck bringen zu können, wenn der Tatbestand als Sitz der GleichSauer, Frank-Festgabe I, S.216. Kissin, S. 106. 320 Diesem Einwand glaubt Kissin (S. 107) durch Hinweis auf die "Kausa318
319
lität" der Unterlassung zu entgehen; was eben auf die bezeichnete quaternio terminorum hinausläuft. 321 Sauer, GS 114, 305. 322 Sauer, Grundlagen, S. 461. 323 Nagler, GS 111 [1938], 1 ff.; ders., in: LK I (6), S. 61 ff.; Nagler - Mezger, in: LK I (8), S. 33 ff.; zur Kritik Dahm, ZStW 59 [1940], 138 ff.; Vogt, ZStW 63 [1950/51], 393 ff.; Böhm, Diss. 1957, S.92; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 248 ff.; Androulakis, S. 182 f., 247 f.; Rudolphi, S. 45 ff. 324 Nagler, GS 111, 2, 69. 325 a.a.O., S. 53. 326 Nagler - Mezger, a.a.O., S.34. 327 Nagler, GS 111, 61. 328 a.a.O.
H. Die Garantenlehre
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stellungsfrage erkannt werde: "Der richtige Standort ist die Tatbestandshandlung, wenn anders es sich wirklich um die Erfüllung eines Begehungstatbestandes handelt 329 ." Nur an dieser Stelle weiche der Aufbau des unechten Unterlassungsdelikts von dem des Begehungsdelikts ab, während der "Parallelismus" im übrigen vollkommen gewahrt sei330 . Insbesondere sei die Kausalität der Unterlassung nicht mit dem Gleichstellungsproblem identisch. Denn wende man sich von der "naturwissenschaftlichen" Bestimmung dieses Begriffs ab und verwerfe man das "verwüstende Axiom: aus nichts wird nichts", so habe man unter Kausalität der Unterlassung den in einem "hypothetischen Ergänzungsverfahren" festzustellenden Bedingungscharakter der Passivität zu verstehen; kausal sei eine Unterlassung dann, wenn der Erfolg beim "Hinzudenken" der unterlassenen Gegenwirkung ausgeblieben wäre 331 . Der Inbegriff der Bedingungen, unter denen die Passivität als Handlungsäquivalent erscheint, heißt Garantenstellung 332 • Welches ist nun die "Brücke", die das "Zwischenglied" von Handeln und Unterlassen herstellt und diese als "getarnte Aktivität" kenntlich macht333 ? Zunächst das Strafgesetz selbst, das die Parallelisierung in einigen Bestimmungen ausdrücklich vornimmt334 . Eine Analyse dieser Fälle zeigt, daß das Gesetz "den Unterlassenden in besonderer Art, nämlich als Gar a n t e n für den Nichteintritt des Erfolges [sc. kennzeichnet], dem es mithin obliegt, rechtsfeindliche Energien unschädlich zu machen"335. Und: "Die deutsche Gesetzgebung macht mithin die Gleichstellung der Passivität mit der positiven Tätigkeit von einem b e s 0 n der e n P f I ich t ver h ä I t n i s abhängig, vermöge dessen der Täter zur Abwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges durch Parierung der entgegengesetzt wirkenden Kräfte berufen oder bestellt worden ist336 ." 329 Nagler, GS 111, 51 et passim. 330 a.a.O., S. 54. 331 a.a.O., S. 28 ff.; Nagler - Mezger, a.a.O., S.41. 332 Nagler, GS 111, 59 et passim. Schon vor ihm hatten Löffler (Schuldformen, 1895, S.131), Binding (Normen II 1 (2), 1914, S.553 et passim) und Boldt (ZStW 55 [1936],45 f.) diesen Begriff in vergleichbarem Sinn gebraucht. Zur militärisch-moralischen Begriffsgeschichte des Wortes Posten, mit dem vor allem Kohler (Studien I, 1890, S. 45 ff. [46] das hier gemeinte Verhältnis umschreibt, vgl. Hirzel, Der Selbstmord, Archiv für Religionswissenschaft, Bd.11 [1908], S.273 bei und in N.3 (= Sonderausgabe Darmstadt, 1967, S.61). 333 GS 111, 54, 58, 69. 334 a.a.O., S. 59. 335 Nagler, GS 111, 59; Hervorhebung dort. 336 a.a.O.; Hervorhebung dort.
Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
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Dieser Gedanke beansprucht über die gesetzlich geregelten Einzelfälle hinaus allgemeine Gültigkeit. Als Handlungsäquivalent erweist sich eine Unterlassung überall dort, wo Menschen Träger einer "Hemmungsfunktion" sind, deren "besondere Aufgabe" es ist, im "sozialen Mechanismus" als "Schutzinstanzen" feindlichen Kräften entgegenzuwirken 337 • "Die Passivität äußert sich als Handlungsäquivalent in der Form des Nichtfunktionierens der Hemmungsinstanz bei der Entwicklung des rechtswidrigen Erfolges. Feindliche Kräfte tragen den Angriff gegen den Rechtswert vor, aber die vorgesehene Abwehrfront versagt, so daß die erforderliche und bereitgestellte Gegenwirkung ausfällt: die in Gang gesetzten positiven Bedingungen zum Erfolg werden nicht a bpariert338 •" Dies bedeutet, daß der Schutz funktion eine Rechtsverbindlichkeit zugrunde liegen muß, die sich nach sozialethischer Würdigung als "Garantieposition" darstellt. Neben den durch das Gesetz unmittelbar auferlegten Pflichten kommt vor allem die rechtsgeschäftliche übernahme bestimmter Schutzfunktionen in Betracht, wobei nicht die Gültigkeit des Vertrages, sondern die "tatsächliche Einordnung in den Sozialprozeß" entscheidend ist339 • Aber nicht die konkrete psychologische Erwartung des Funktionierens, sondern das abstrakte Vertrauen der Rechtsgemeinschaft begründet die Garantieposition340 • Neben diese bei den Gruppen tritt die Ingerenz, bei der die Rechtsordnung auf andere "Vorgänge des Soziallebens" zurückgreift341 • Hier müsse auch die "schuldlose" Eröffnung einer Gefahrenquelle ausreichen342 • Ist der Unterlassende in dieser Weise Garant für das bedrohte Rechtsgut, so fügt sich sein Verhalten "völlig und zwanglos in den Rahmen der Begehungsverbrechen" ein 343 ; das auf Unterlassung schädlicher Aktivität gerichtete Verbot umfaßt hier auch die Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges 344 •
n
Kritik
Betrachtet man zunächst wieder die Frage nach dem Standort der Gleichstellungsproblematik, so zeigt sich, daß das Neue der Naglerschen 337 338 339 340 341 342 343 344
a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O., a.a.O.,
S. 60 f. S.69. S. 62 f. S. 68. S. 62. S. 26 f. S. 69. S. 60 f.
H. Die Garantenlehre
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Lehre nicht eigentlich in der Tatbestandskonzeption, sondern in der Bestimmung der Garantenstellung als "ungeschriebenes Tatbestandsmerkmal" besteht345 • Zu dieser Auffassung hatte das Bestreben geführt, den "Gleichschritt mit den sonstigen Begehungsverbrechen" herzustellen und auf diese Weise die Friktion der "doppelten Rechtswidrigkeit" zu vermeiden 346 . Identifiziert man jedoch die hypothetische Kausalität der Unterlassung mit der effektiven Bewirkensqualität des Handeins, so kehrt der ursprüngliche Widerspruch in anderer Gestalt wieder. Denn sind Handeln und Unterlassen "in gleicher Weise" für den eingetretenen Erfolg kausal, "so ist eben mit der Feststellung der Verursachung des tatbestandsmäßigen Erfolges der Begehungstatbestand erfüllt"347; für "zusätzliche" ungeschriebene Tatbestandsmerkmale ist kein Raum. Die "doppelte Rechtswidrigkeit" macht sich so in einer Verdoppelung der Anforderungen an tatbestandsmäßiges Verhalten bemerkbar348 ; wiederum eine Folge der quaternio des Terminus "Kausalität"349. Auch für Nagler ist dieser Widerspruch jedoch dann vermeidbar, wenn hypothetische und effektive Kausalität als disparate Gegenstände erkannt und in die Gleichstellungsfrage einbezogen werden350 . Die Garantenstellung ist in diesem Falle kein zusätzliches, sondern ein an die Stelle des aktiven Energieeinsatzes tretendes Tatbestandsmerkma}351. Gegen den sachlichen Gehalt der N aglerschen Lehre läßt sich nun vor allem einwenden, daß die Garanten-Formel als solche zunächst nur 345 Vgl. Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 249 f.; ferner Doldi, Diss. Kiel 1950, S. 23 ff.; Maurach, AT, S.509; Rudolphi, S.46. 846 Nagler, GS 111, 74. 347 Armin Kaufmann, a.a.O., S. 252. 348 Ebenso Armin Kaufmann, a.a.O., S. 260 f. 349 Bezeichnenderweise glaubt Nagler ebenso wie Kissin (vgl. oben N.320) dem dolus subsequens durch Hinweis auf die hypothetische Kausalität der Unterlassung zu entgehen. 350 Dies verkennt Armin Kaufmann (a.a.O., S. 253), nach dessen Ansicht Nagler konsequenterweise auch eine Garantenstellung für den Handelnden fordern müsse, was freilich sinnwidrig sei. - Der Widerspruch ist jedoch schon dann ausgeräumt, wenn man den Handelnden immer vermöge seiner Aktivität als "Garanten" ansieht und auf diese Weise die Defizienz der Unterlassung (ausgleichungsbedürftiges Fehlen der Aktivität) kenntlich macht. Vgl. dazu unten S. 165. 351 Die weiteren "normlogischen" Einwände gegen die Naglersche Konzeption bedürfen hier keiner Behandlung. Immerhin darf angemerkt werden, daß die Frage nach einer Identität von Begehungs- und Unterlassungstatbestand (Armin Kaufmann, a.a.O., S. 251 ff. [254 f.]) eine Explizierung dessen vermissen läßt, was unter "Tatbestandsidentität" (Beling) zu verstehen ist. Wird die Identität durch die "Normlogik" hergestellt, so ist es allerdings selbstverständlich, daß der Unterlassungs- ein anderer als der Begehungstatbestand ist.
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
eine Metapher darstellt, die das Gleichstellungsproblem eher umschreibt als löst, zu einer Entscheidung praktischer Einzelfälle mithin wenig beiträgt352 • Denn das hinter der GarantensteIlung verborgene "besondere Pflichtverhältnis" bleibt ja selbst als heuristisches Prinzip die Antwort auf die eigentliche Frage schuldig, welche Pflichten denn nun den "speziellen" Sinn haben, volle strafrechtliche Haftung für den eingetretenen Erfolg zu begründen. Freilich kann diese Kritik nicht darüber hinwegtäuschen, daß Nagler mit dem Garantengedanken mehr als eine bloße Tautologie gelungen ist. Denn einmal bedingt die Tatbestandslösung gleichsam automatisch die richtige Frage nach der Unterlassung als gleichwertigem Handlungsäquivalent; und zum anderen ist die Nähe der Schutzfunktion ein sachliches, wenn auch durch sozialethische Wertungen ausfüllungsbedürftiges Kriterium. Aber es ist doch unverkennbar, daß die Formulierung des GarantenBegriffs bei Nagler ebenso wie schon bei Kohler 353 in erster Linie auf die vertragsmäßige übernahme einer Schutzfunktion zugeschnitten ist. Denn vor allem hier ist ja dem Garanten das Rechtsgut deswegen in die Hand gegeben, weil sein Träger es im Vertrauen auf die Hilfe der Gefahr ausgesetzt oder andere Sicherheitsvorkehrungen unterlassen hat. Und vor allem läßt sich nur hier sagen, daß der Garant zu seiner Aufgabe "berufen oder bestellt", "vorgesehen" oder "bereitgestellt" worden sei354 • So ist es Nagler denn auch nicht gelungen, die Ingerenz in den Begründungszusammenhang seiner Lehre einzufügen355 . Denn es ist nicht einzusehen, inwiefern die Vorhandlung eine "Schutzinstanz für den beschirmten (!) Rechtswert"356 sollte begründen können. Der "Garant wider Willen" ist weder "bestellt" noch "berufen", weder "vorgesehen" noch "bereitgestellt". Seine Verpflichtung erschöpft sich in einem einzigen Akt und ist Ausdruck einer der Zustandshaftung antinomisch entgegengesetzten Handlungshaftung. Kein "konstantes Solidaritätsverhältnis", sondern eine anti soziale Gefährdung ist der Grund dieser Abwendungsverpflichtung 357 • So erweist sich der Garantengedanke für die Ingerenz als fruchtlos. Nagler gibt sich denn auch mit ihrer gewohnheitsrechtlichen Begründung zufrieden 358 . Die Entscheidung bleibt dem Gesetzgeber überlassen, 352 Vgl. etwa Dahm, a.a.O., S. 138 ff.; Vogt, a.a.O., S.381, 393 f.; Grünwald, Diss. Göttingen 1956, S. 71; ders., ZStW 70 [1958], 413 f., 422; Rudolphi, S. 48 f. 353 Vgl. Nagler, GS 111, 60; dazu Rudolphi, S. 47 f. 354 Nagler, a.a.O., S.59, 69. 355 Ebenso Vogt, a.a.O., S. 394; vgl. auch Dahm, a.a.O., S.140. 356 Nagler - Mezger, a.a.O., S.35. 351 Vgl. Vogt, a.a.O., S. 399 ff. 358 GS 111, 27; Nagler - Mezger, a.a.O., S.38.
I.
Die Rechtsprechung
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der auch die rechtmäßige Vorhandlung als Verpflichtungsgrund anerkennen solle359 ; denn hierfür spreche "schlechterdings alles"360. Womit die Verpflichtung freilich "ins Unermeßliche" ausgedehnt ist361 .
J. Die Rechtsprechung Hervorragende Bedeutung beansprucht schließlich der Anteil, den die Judikatur zur praktischen Entfaltung des Ingerenz-Gedankens beigetragen hat. Denn da die verpflichtende Wirkung vorangegangener Aktivität der gesetzlichen Basis entbehrt, hat sich jede Gleichstellungstheorie mit dem Gewicht einer Rechtsprechung auseinanderzusetzen, die sich selbst als "gewohnheitsrechtlich" verfestigt oder doch wenigstens als "ständig" versteht 362 . Ihre Entwicklung wird daher im folgenden nachzuzeichnen sein363 . I. Die Reclttsprechung des Königliclten Ober-Tribunals
Da das heutige Strafgesetzbuch in der negativen "Behandlung" der unechten Unterlassungsdelikte mit seinem Vorläufer, dem Preußischen Strafgesetzbuch vom 14.4.1851, übereinstimmt, wird dieser überblick mit der Praxis des preußischen Königlichen Ober-Tribunals zu beginnen haben364 . In der Grundkonzeption steht dieses Gericht der Feuerbachschen Lehre nahe, wenn es die Strafbarkeit der unechten Unterlassung davon abhängig macht, daß die verletzte Person "ein Recht auf Tätigkeit" gehabt haben müsse, "wobei indeß ein besonderer Rechtsgrund, Gesetz oder Vertrag, vorausgesetzt werde, wodurch die Pflicht zum Handeln begründet werde"365. 359 GS 111, 120. 360 a.a.O., S.27.
RUdolphi, S. 49. 362 Vgl. RGSt 46, 337 (343); 58, 130 (132 f.); 74, 283 (285); 75, 271 (273); OLG Hamm HESt 2, 242 (243); OGHSt 2, 11 (14); 3, 1 (3); BGHSt 4, 20 (22); BGH LM Nr. lO Vorbem. vor § 47 StGB - Täterschaft durch Unterlassen -; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938. Weitere Nachweise unten S. 147 f. N. 34 f. 363 Vgl. auch Rudolphi, S. 73 ff. 364 Vollständig berücksichtigt wurden die in der von Oppenhoff herausgegebenen Sammlung "Die Rechtsprechung des Königlichen Ober=Tribunals (und des Königlichen Ober=Appellations=Gerichts) in Strafsachen" (Bd.1 bis 20, Berlin 1861-1879) veröffentlichten Entscheidungen, andere nur vereinzelt. Da diese Judikatur die Rechtsprechung des Reichsgerichts nachhaltig beeinflußt hat, heute indessen meist übergangen wird, erstreckt sich die folgende Darstellung auf alle Entscheidungen, die unechte Unterlassungsdelikte zum Gegenstand haben. 365 GA 7 [1859], 551; vgl. auch GA 10 [1862], 57; Oppenhoff 1, 199; 2, 32; 11, 78. Vgl. dazu auch Landsberg, S. 232 ff. 361
Erstes Kapitel: Dogmengeschichte
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Freilich zeigt die geringe Zahl der entschiedenen Unterlassungsfälle 366 und eine gewisse Skepsis gegenüber der Möglichkeit einer "Begehung durch Unterlassung" 367, daß das Ober-TribunaL von einer uneingeschränkten praktischen Judizierung dieses Grundsatzes weit entfernt war. Zum "festen Bestand" der strafbaren Fälle gehört zunächst die Stellung der Eltern hinsichtlich der körperlichen Integrität ihrer Kinder (GA 8 [1860], 128,667; Oppenhoff 6,361; 16,219), wobei die Rechtspflicht aus dem Gesetz (ALR II, 2, § 90 f.) hergeleitet wird368 • Dagegen bedeutet es offenbar die Anwendung der Vertragskategorie, wenn die Strafbarkeit des Arztes hinsichtlich der Gesundheit seiner Patienten mit dessen "besonderer Berufspflicht" begründet wird (GA 10 [1862], 57; Oppenhoff 2,32; 10,203; 11,78). In denselben Zusammenhang gehört die Haftung des Bauunternehmers und des Baumeisters für Fehler des Gebäudes, die auf mangelnde Beaufsichtigung der Arbeiter zurückgehen (Oppenhoff 7,105; 8,552; 20, 147), des Steigers und des Betriebsführers für die Sicherheit im Bergwerk (Oppenhoff 15, 458; 18, 370), des "Dampfkesselwärters" für die Sicherheit dieser Anlage (Oppenhoff 7, 292); zugleich klingt hier bereits der Gedanke einer Haftung für den gefährlichen Betrieb an. Bemerkenswert ferner die "Beihilfe durch Unterlassen" seitens des Commis und des Dienstboten gegenüber Prinzipal und Herrschaft für die Wegnahme von Sachen durch Dritte (Oppenhoff 1, 199; 16, 613) und vor allem die aus der MonopolsteIlung des Gastwirts (ALR II, 8, § 437) abgeleitete Haftung für Gesundheitsschäden abgewiesener Gäste 369 • Obwohl nun das Ober-Tribunal keinen Versuch macht, die Ingerenz der Gesetzes- oder Vertragstheorie unterzuordnen und obwohl jedes Wort der Begründung fehlt, bejaht das Gericht die Strafbarkeit auch solcher Fälle. In der Hauptsache geht es dabei um Fälle fahrlässiger Tötung, bei denen die Pflicht zur Abwendung des Erfolges implicite auf die heute sog. Verkehrssicherungspflicht gestützt wird. So die Pflicht zur Abdeckung eines Brunnens auf einem privaten Grundstück Aufgefunden wurden 25 Entscheidungen. Beim Betrug wurde die Möglichkeit einer Begehung durch Unterlassen zunächst schlicht zurückgewiesen; vgl. GA 2 [1854], 126, 833; Oppenhoff 4, 37; 11, 185. Die Entscheidungen Oppenhoff 4, 37; 5, 538; 6, 136; 7, 107, 471, 715; 9, 77; 11, 185; 13, 189 betrafen Fälle "konkludenten Tuns", bei denen die Unterlassung mit Handlungen "in Verbindung" trat. Später waren es dann die "Rücksichten der Redlichkeit im Geschäftsverkehr" (Oppenhoff 10, 478; 14, 679; 16, 58) und "Amtspflichten" (Oppenhoff 13, 635; 19, 248), die eine Pflicht zur Offenbarung begründen sollten. 368 Auch die Stiefmutter hat die Unzucht ihrer Stieftochter im eigenen Hause bei Strafe der Kuppelei zu verhindern; vgl. GA 6 [1858], 843 und 366
367
Oppenhoff 1, 466. 369 GA 7 [1859], 551: Ein Gastwirt hatte einen Schneider in strenger
Winternacht abgewiesen, dem darauf beide Füße abgefroren waren. Vgl. dazu P. Merket, Begehung durch Unterlassung, S. 53 f.
I. Die Rechtsprechung
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(Oppenhoff 12, 480), zur Verschließung einer Luke in einer Privatbrücke (Oppenhofj 7, 642), zur Absicherung eines Schachtes an einer Baustelle (Oppenhoff 15, 808), zur Absicherung einer in einen Bierkeller führenden tiefen Treppe (Oppenhoff 15, 842). Träger dieser Pflicht ist zunächst der Eigentümer (Oppenhoff 15, 842, 808), ferner, wer die Verkehrssicherung vom Eigentümer vertragsmäßig übernommen hat (Oppenhofj 7, 642: der "Mühlenbescheider"), aber auch, wer die Verwaltung nur "wirklich führte"37o. Hervorzuheben bleibt, daß in den Fällen Oppenhofj 15, 808, 842 Personen verunglückt waren, die die Baustelle bzw. die Brauerei unbefugt betreten hatten; während hier bestraft wurde, hatte die Unvorsichtigkeit des Brückengängers in Oppenhoff 7, 642 zum Freispruch geführt371 .
Außer diesen Fällen unterlassener Verkehrssicherung enthält die Rechtsprechung des Obertribunals nur noch einen weiteren Fall vorhergehender Aktivität des Unterlassenden. In Oppenhofj 15, 856 hatte ein Fleischermeister seinen Gesellen zu einem Zeitpunkt mit der Einfuhr von Schafen beauftragt, als mit der Verhängung eines seuchenpolizeilichen Verbots allgemein gerechnet wurde. Später wurde die entsprechende Regierungsverordnung verkündet, ohne daß der Fleischer den bevorstehenden Grenzübertritt seines gutgläubigen Gesellen verhinderte. Das Gericht bejahte eine Strafbarkeit des Metzgers gern. § 318 Abs. I StGB mit der Begründung, daß er ein "ohne Dolus handelndes Werkzeug" "benutzt", nämlich nach erlangter Kenntnis "die noch mögliche Hinderung der Ausführung verabsäumt" habe. Somit erweise sich der Einwand des Imploranten, "daß er nicht wegen einer positiven Handlung, sondern wegen einer bloßen Unterlassung für strafbar erklärt sei, als hinfällig". Zusammengefaßt: Trotz offener Friktion mit der für maßgeblich gehaltenen Gesetzes- und Vertragskategorie anerkennt das Königliche Ober-Tribunal die Ingerenz als Verpflichtungsgrund. Die entschiedenen Fälle betreffen - mit einer Ausnahme - die unterlassene Verkehrssicherung, wobei sich der Vorwurf - wiederum mit der erwähnten Ausnahme - stets gegen ein fahrlässiges Verhalten richtet. Begründungen dieser Praxis finden sich nicht. 370 Oppenhoff 12, 480 f.: " ... die strafrechtliche Verantwortlichkeit für Hand1ungen oder Unterlassungen aus dieser Verwaltung [sc. hing] nicht von dem Rechte zu derselben, sondern davon ab, wer sie wirklich führte." 371 In Oppenhoff 14, 35 f. hatte der Angeklagte in einem auch anderen zugänglichen Raum seines Hauses ein geladenes Gewehr zurückgelassen, mit dem später ein Junge einen anderen fahrlässig tötete. Der Sachverhalt dieser Entscheidung läßt nicht erkennen, ob sich der Vorwurf gegen ein Handeln (Aufhängen des Gewehres) oder ein Unterlassen (Nichtbeaufsichtigung) richten soll, was von den Umständen abhängt. Im zweiten Fall gehört auch dieses Urteil in den obigen Zusammenhang.
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Erstes Kapitel: Dogmengeschichte 11. Die Rechtsprechung des Reichsgerichts
Ebenso wie das Ober-Tribunal bejaht das Reichsgericht die Möglichkeit einer Begehung durch Unterlassen dann, wenn eine "Rechtspflicht" zum Handeln bestand, während eine bloß "sittliche Pflicht" nicht genügen soU372 • Rechtliche Verbindlichkeiten gründen sich primär auf "Gesetz und Vertrag"373, wobei die tatsächliche übernahme der Vertragspflichten bereits in RGSt 10, 100 als selbständiges Zurechnungskriterium erkannt wird374 . Neben diesen Dualismus tritt nun aber auch für theoretische Einsicht explizit als dritter Verpflichtungsgrund die
Ingerenz.
So erwähnt das Gericht bereits im Jahre 1884 beiläufig die "vorhergehende Tätigkeit" als Grund einer Rechtspflicht; "das Unterlassen wird zum Handeln ... , wenn durch eine vorhergehende '" Tätigkeit des Unterlassenden ein Handeln geboten ... ist 37S ." In RGRechtspr.10, 74 wird dieser Grundsatz dann Grundlage der Entscheidung; hier hatte eine Mutter ihr Kind auf Grund eines vorläufigen Vergleichs mit dem Vater zu sich genommen und weigerte sich nach Entziehung des Sorgerechts, den Aufenthaltsort des Kindes bekanntzugeben. Ihre Strafbarkeit gem. § 235 StGB wurde mit der Erwägung bejaht, daß sie "in Folge eines vorausgegangenen eigenen Thuns ... zur Abwendung des dem Strafgesetz zuwiderlaufenden Erfolges verbunden" gewesen sei, nämlich wegen der vorangegangenen übernahme des Kindes (a.a.O.). Die Evidenz dieses Prinzips führt in den gleichartigen Fällen RGSt 37,162; 38, 123; 46, 25 zur vollen Anerkennung der Ingerenz neben einer "sonst bestehenden Rechtspflicht" (RGSt 21, 67). Und in RGSt 46, 337 (343) ist es bereits "ständige Rechtsprechung", daß eine Rechtspflicht auch dann besteht, "wenn durch die eigenen Handlungen des Täters eine dem Gesetze widersprechende Lage oder '" solche Verhältnisse geschaffen worden sind, die in ihrer Fortentwicklung den rechtsverletzenden Erfolg herbeiführen"376. Nach zwei weiteren Urteilen (RGSt 51, 9; 57, 193) 372 So ausdrücklich RGRechtspr. 1,35 f.; RGSt 39,397; 64,273; 70,151; 74, 309. Abw. RGSt 30, 125 und die nationalsozialistisch beeinflußten Entscheidungen RGSt 69, 321; 73, 389. - Berücksichtigt wurden die in der "Rechtsprechung des Deutschen Reichsgerichts in Strafsachen", Bd.l-lO, München und Leipzig 1879-1888 und in den "Entscheidungen des Reichsgerichts in Strafsachen", Bd.I-77, Leipzig (Berlin), 1880-1944 veröffentlichten Entscheidungen, andere nur vereinzelt. 373 Vgl. nur RG GA 45 [1897], 275; RGSt 39,397 und die übersichten in RGSt 64,273; 70,151. 374 Vgl. ferner RGSt 17,260; 70,151; 74,309. 375 RGSt 11,153 = RGRechtspr. 6,643. - Hier ließ ein Hofwärter Diebe bei ihrem Einbruch in eine Scheune untätig gewähren, was er ihnen zuvor zugesagt hatte. Es ging daher um Beihilfe durch Tun. 376 Diese "Ständigkeit" belegt das Gericht nur mit RGSt 24,339, wo der Ingerenz-Satz zwar angewendet, nicht aber expliziert wird.
I. Die Rechtsprechung
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ist die Ingerenz zum "Gewohnheitsrecht" avanciert (RGSt 58, 130 [132 f.]) und behauptet sich seitdem unangefochten als Entscheidungsgrundlage 377 und obiter dictum378 • Hervorzuheben ist nun zunächst, daß manche Entscheidungen die Ingerenz den anderen Rechtspflichten durch ein disjunktives Oder entgegensetzen379 , was offenbar darauf zurückgeht, daß sie sich dem Dualismus Gesetz-Vertrag nur um den Preis einer Anerkennung "stillschweigender Gebote der Rechtsordnung" (RGSt 64, 276) einfügt. Hierfür finden sich vor allem zwei Begründungen. Zunächst heben einige Entscheidungen hervor, daß zur "Handlung im strafrechtlichen Sinne" nicht nur "das formelle Tun mit Ausschluß seiner Wirksamkeit, sondern auch diese letztere" gehöre; "die Handlung dauert darum solange, als ihre Wirksamkeit dauert, mag auch das formelle Tun bereits in einem früheren Zeitpunkt zu Ende gekommen sein" (RGSt 18,96 = RGRechtspr. 10, 500). Das Unterlassen ist hier "Fortführung eines bisherigen HandeIns" (RGSt 57, 193 [197]), sofern der durch die Aktivität begründete Zustand oder die Gefahr noch "fortdauert"380 und daher durch die Unterlassung lediglich "aufrecht erhalten" zu werden braucht (RGSt 51,9 [12]). Wenn das Unterlassen auf diese Weise mit dem Handeln "in Verbindung" tritt (RGRechtspr. 10,74 [79]), so fehlt zur Adoption der Ingerenz-Theorie Glaserscher Provenienz nur noch die von RGSt 20, 131 (135) aufgestellte These, daß "die hier in Frage kommende Rechtspflicht '" keine andere [sc. ist], als sie unmittelbar aus der jede vorsätzliche Verursachung ver bi ete nd e n Norm folgt"381. - Als weitere Begründung - vor allem in den späteren Entscheidungen - dient die Feststellung der "ständigen", "festen" und "gewohnheitsrechtlichen" Anerkennung der Ingerenz382 . Bei der näheren Umgrenzung dieses Prinzips besteht zunächst nur darüber Einigkeit, daß ein "vorausgegangenes eigenes Tun" des Un377 So explizit in RGSt 58, 244; 60, 77; 66, 71; 70, 225; 73, 52; 74, 38, 283; 75, 71; RG JW 1932, 801; RG DR 1942, 1782; 1943, 893; RG HRR 1941, 216. 378 Vgl. nur RGSt 58, 130 (132 f.); 64, 273 (276). 379 Vgl. etwa RGRechtspr. 10, 74; RGSt 21, 67; 38, 123; 58, 244. Auch in ROSt 46, 337 (343); 58, 130 (132 f.) klingt dieser Gegensatz noch an. 380 Vgl. etwa RGSt 37,162 (165); 38,123 (126f.); 46,25 (2I7f.); 60,77. 381 a.a.O.; Hervorhebung dort. ....... Beim Betrug durch Schweigen will das Gericht eine Rechtspflicht zur Offenbarung dann anerkennen, "wenn sie sich nach den Grundsätzen von Treu und Glauben aus einem vorherigen ... Tun" ergebe (RGSt 70, 151 [155] m. weiteren Nachw.); denn dieser Grundsatz beherrsche nicht nur die Vertragsverhältnisse, sondern das ganze Recht (a.a.O.). 382 RGSt 46, 337 (343); 58, 130 (132 f.); 70, 151 (154); 74, 283 (285); 75, 271 (273); RG JW 1932,801. Vgl. auch RGSt 68, 99 (104).
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terlassenden zu verlangen sei383 ; jedoch erkennt RGSt 68,99 (104) auch eine vorausgegangene Unterlassung als taugliches Vorverhalten an. übereinstimmend wird auch verlangt, daß dieses eigene Verhalten eine "Gefahr" herbeigeführt haben müsse3 84 , womit indessen solange nicht viel gewonnen ist, als die Gefährlichkeit nur zur Umschreibung der Möglichkeit des Erfolgseintritts im Zeitpunkt der Unterlassung, nicht aber prädikativ zur Eingrenzung des Kreises "gefährlicher" Vorhandlungen dient. Gleichgültig soll es nach Ansicht des Gerichts sein, ob der Unterlassende die Gefahr durch sein Vorverhalten allererst geschaffen oder nur vergrößert hat (RGSt 64, 273 [276]; RG JW 1932,801), ob er bereits mit der Vorhandlung selbst einen rechtswidrigen Zustand geschaffen und dann aufrechterhalten hat oder ob dieser Zustand erst später eintritt385 , ob dies bewußt oder unbewußt (RGSt 58,130 [132f.]; RG HRR 1941,216), mit oder ohne "Verschulden"386 geschehen ist. Ohne Belang bleibt auch die Schuldform der nachfolgenden Unterlassung (RG JW 1932,801)387. Die näheren Konturen der Ingerenz ergeben sich indessen weniger aus den abstrahierenden "Leitsätzen", als aus der Beurteilung der konkreten Fälle. 1. Fahrlässiges Unterlassen: Die Verkehrssicherungspflicht
Eine zahlenmäßig große Gruppe der veröffentlichten Entscheidungen entfällt auch hier3 88 auf die unterlassene Verkehrssicherung. So geht es in RGRec.l-J.tspr. 7,226, 638; RGSt 14,362; 30,222; 32,233 um die Pflicht des Hauseigentümers zur Beleuchtung des Treppenhauses, 383 RGRechtspr. 10,74; Rast 24,133 (140); 37,162 (165); 38,123 (126 f.); 46,337 (343); 51,9 (12); 58,244 (246); 73,52 (57); 64,273 (276); RG JW 1932,801. 384 RGSt 64,273 (276); 68,99 (104); 73, 52 (57); 74, 283 (285); 75, 271 (275); RG JW 1932,801; RG HRR 1941,216; RG DR 1942,1782; 1943,893. 385 Diese Differenzierung, mit der gewisse "Typen der Tatbestandsmäßigkeit" (Erik Wolf) angesprochen sind, findet sich in Rast 37, 16~ (165); 38,123. Mit der ersten Gruppe sind Delikte gemeint, "welche sich in jedem Moment reproduzieren" und bei denen sich der Täter "im permanenten Zustande des Delikts" befindet; vgl. Kgl.Ober-App.-Gericht bei Oppenhoff 10, 159 (161) und RGSt 14,214 (216). 386 So RG JW 1932,801 im Hinblick auf die "Verkehrsgefahr". Die abweichenden Formulierungen in RGSt 46, 25 (27 f.); 60,77 betreffen Eigenarten der dort entschiedenen Fälle. Weiter will bedacht sein, daß das "Verschulden" der Fahrlässigkeitsdelikte auch Verletzung der objektiven Sorgfalt bedeuten kann. 387 Die "nahe und dringende" oder "drohende" Gefahr, von der RGSt 66, 71; 73, 52 (57) sprechen, betrifft dagegen lediglich Eigenarten der entschiedenen Fälle. Dazu auch Lackner, JZ 1967, 516 und unten S. 201 f. 388 Vgl. oben S. 76 f.
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in dem Personen bei Dunkelheit zu Schaden gekommen waren. Diese Pflicht gründet sich auf den Umstand, daß der "Hauseigentümer in Ausnutzung seines Eigentums Mitbewohner aufnimmt und dadurch oder auf andere Weise einen Ver k ehr in dem Hause herstellt" 389, mithin auf die Verkehrseröffnung. Dasselbe gilt für die Abdeckung einer Grube auf einem privaten Grundstück (RGSt 6,64). Um Verkehrssicherungspflichten geht es aber auch dort, wo die Pflicht zur Beseitigung einer Gefahr auf dem Betrieb eines Gewerbes beruht, etwa eines Sägewerks (RGSt 10,6), einer Kalksteingrube (RGSt 15,58), einer Zementfabrik (RGSt 16, 290), eines Tiefbauunternehmens (RGSt 19,204) oder einer sonstigen Fabrik (RG GA 45 [1897], 275). Während in diesen Fällen der auf einen sachlichen und vergegenständlichten "Herrschaftsbereich" radizierte "Betrieb" als Inbegriff einer Fülle verschiedener Handlungen die Funktion der "Vorhandlung" übernimmt, geht es in anderen Entscheidungen um vereinzelte, aber gleichwohl mit typischen Gefahren verbundene Betätigungen, etwa das Benutzen der Straße mit Pferd und Wagen (RG JW 1932, 801), das Aufdecken eines Schachtes (RGSt 57,148), das Aufstellen einer Wanne mit kochender Lauge (RGRechtspr. 3,641). Träger der Verkehrssicherungspflicht ist zunächst der Eigentümer oder Inhaber des Hauses oder des Betriebs als derjenige, der den Verkehr oder Betrieb eröffnet oder fortgesetzt hat, aber auch, wer die Pflicht von diesem de jure (RGRechtspr. 7,638) oder de facto (RGSt 6, 64) übernommen hat; ebenso, wer den Schacht aufgedeckt, die Lauge hingestellt oder das Fuhrwerk gefahren hat. 2. Vorsätzliches Unterlassen Fahrlässige Nichtabwendung der mit einer meist typisierbaren Tätigkeit verbundenen Gefahren war das Kennzeichen der soeben besprochenen Fallgruppe. Steht die vorsätzliche Nichtabwendung der den vitalen Rechtsgütern des Menschen drohenden Gefahren in Frage, so bedingt der Wert des nicht geretteten Gutes offenbar keine Differenzierung nach dem Maß der Typizität der Vorhandlung. Wer einen anderen dadurch um seine Freiheit gebracht hat, daß er ihn versehentlich eingeschlossen (RGSt 24,339: der "klassische" Ingerenz-Fall) oder eine falsche Anzeige gegen ihn erstattet hat (RG HRR 1935,471), muß ihn bei Vermeidung der Strafe wegen Freiheitsberaubung alsbald wieder befreien. Wer die körperliche Integrität 389 RGSt 14,362 = RGRechtspr. 8,629; Hervorhebung dort. RG JW 1932, 801 spricht daher auch von "Verkehrsgejahr".
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eines neugeborenen Kindes durch einen Abtreibungsversuch (RG JW 1930, 1595) oder dadurch gefährdet hat, daß er die Mutter kurz vor der Geburt vom "bewohnten Anwesen" "aufs freie Feld" geführt hat, wo es ihr "am menschlichen Beistand wie auch an gegenständlichen Vorkehrungen gebrach" (RGSt 66,71), muß das Leben des Kindes retten und haftet wegen vorsätzlicher Tötung durch Unterlassen, wenn er die Pflicht in Kenntnis der Umstände nicht erfüllt. In diesen Zusammenhang gehört auch RGSt 60, 77, wo der Täter fahrlässig eine Brandgefahr herbeigeführt und sodann vorsätzlich nicht abgewendet hatte.
3. Betrug durch Unterlassen Beim Betrug durch Schweigen ist das Reichsgericht dagegen zurückhaltender. Die unvorsätzliche, nämlich nicht im Hir.blick auf den späteren Verkauf vorgenommene Verdeckung von Mängeln der Kaufsache verpflichtet zwar ebenso zur Aufdeckung (RGSt 20,144) wie die irrtümliche Behauptung, der versicherte Gegenstand sei verbrannt (RGSt 70, 225). Hingegen soll weder die unvorsätzliche Erregung eines Irrtums über die eigene Kreditwürdigkeit (RGSt 31,208) noch unrichtige Angaben über die Hilfsbedürftigkeit gegenüber dem Wohlfahrtsamt (RGSt 65, 211) dieselbe Wirkung haben390 •
4. Entziehung durch Unterlassen Bei einer weiteren Fallgruppe dient die Ingerenz zur Begründung der Pflicht, ein Kind bei Vermeidung der Strafe der Entziehung gern. § 235 StGB herauszugeben oder seinen Aufenthaltsort mitzuteilen. So wurde in RGRechtspr. 10, 74 die geschiedene Mutter gegenüber dem nunmehr allein sorgeberechtigten Vater, in RGSt 24, 133 der alte gegenüber dem neuen Vormund, in RGSt 37,162; 46,25 die Mutter gegenüber dem Jugendamt bei bestehender Fürsorgeerziehung dann für verpflichtet gehalten, wenn sie die Unauffindbarkeit des Kindes durch vorhergehende Aktivität verursacht hatten, nämlich durch Aufnahme des Kindes infolge eines vorläufigen Vergleichs (RGRechtspr. 10,74), durch Fortschicken und Verdingung des Kindes bei fehlendem "Unrechtsbewußtsein" (RGSt 37,162), aber auch durch die vorherige Amtsführung des entsetzten Vormundes 391 • Fehlt eine solche Vor390 Ratio der letzten (unklaren) Entscheidung dürfte freilich der Gedanke sein, daß der einmal zu Buch geschlagene Irrtum bei Rentenzahlungen nicht in eternum fortwirkt. 391 RGSt 24, 133, wo es somit um die na,chwirkenden Pflichten früherer Amtsführung, nicht aber um eine Gefährdung geht.
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handlung, so steht das Unterlassen der Mitwirkung bei der Auffindung des Kindes dem Entziehen auch dann nicht gleich, wenn der Unterlassende Inhaber der elterlichen Gewalt war392 •
5. Nichthinderung fremder Straftaten Eine Sondergruppe bilden ferner die mit dem Jahre 1936 einsetzenden Entscheidungen über die "Meineidsbeihilfe durch Unterlassen", in denen die Ingerenz zur Begründung einer Rechtspflicht zur Verhinderung fremder Straftaten bei Vermeidung einer Haftung wegen "Beihilfe durch Unterlassen" bemüht wird. Die Grundlagen dieser Entwicklung finden sich in der Rechtsprechung des Reichsgerichts zur Kuppelei durch Unterlassen der Hinderung fremder Unzucht; denn da die aktive Kuppelei der Sache nach eine selbständige unter Strafe gestellte Beihilfehandlung zu einem rechtlich mißbilligten - wenn auch straflosen - Verhalten ("Unzucht") darstellt, geht es auch bei der Kuppelei durch Unterlassen um die Nichthinderung einer fremden (Haupt-)Tat. Die Grundsätze, die sich aus der Masse dieser Entscheidungen herauskristallisieren lassen, besagen: Der Vermieter oder Hauseigentümer, der den (prostituierten) Mieterinnen gutgläubig Räume überlassen hatte, muß deren Unzucht nach erlangter Kenntnis als "Hausherr" verhindern 393 . Dieselbe Pflicht trifft die Eltern gegenüber den Kindern, und zwar uneingeschränkt, wenn diese die Unzucht in der elterlichen Wohnung ausüben394, wobei der " Rechtsgrund " gegenüber volljährigen Kindern im "Hausrecht"395, gegenüber Minderjährigen in der "Erziehungsgewalt" gefunden wird; da die Erziehungsgewalt nicht auf den häuslichen Herrschaftsbereich beschränkt ist, besteht die genannte Pflicht gegenüber Minderjährigen auch dann, wenn diese außerhalb der elterlichen Wohnung der Unzucht nachgehen (RGRechtspr. 7,33). Dasselbe gilt für das Verhältnis der Ehegatten zueinander 396 , da sie die "Rechtspflicht zu ehelicher 392 RGSt 46, 25, das im übrigen RGSt 37, 162 zustimmt (a.a.O., S.30). In RGSt 38, 123 war dagegen ein Tun Gegenstand der Entscheidung, nämlich das Verstecken des Kindes und unwahre Angaben gegenüber der Polizei. 393 Vgl. etwa RGRechtspr. 1, 61, 402, 680, 828; 2, 447; 7, 552; 10, 703. RGSt 58, 244 (246) interpretiert diese Rechtsprechung als AnwendungsfaU der Ingerenz, da der Vermieter durch sein vorausgegangenes Tun, nämlich "durch überlassung der Mieträume eine Lage geschaffen ... [sc. habe], die nach der weiteren Entwicklung der Verhältnisse die Unzucht begünstigt"! 394 RGRechtspr. 7, 34; RGSt 16, 49; 30, 125; 77, 125; RG GA 60 [1913], 445; 61 [1914], 509; RG Recht 1914,289; RG LZ 1916,245; 1919,650; RG JW 1914,365; 1926,1184 m. krit. Anm. von Träger. 395 Einschränkend aber RGSt 67,310. 39& Vgl. etwa RGSt 22,332; 39,29; 48,196; 58,97; 58,226; 72,19; RG GA 39 [1892], 435; 41 [1893], 274; 50 [1903], 394; RG JW 1923,378 m. Anm. von Merket
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Treue" tragen 397 • Die Pflicht der Gastwirtin zur Verhinderung der Unzucht ihrer Kellnerinnen folgt dagegen aus ihrer Stellung als "Konzessionsinhaberin "39B. Auf dieser Grundlage wird die Pflicht zur Verhinderung fremder Straftaten alsbald zu einer geläufigen Erscheinung. So haben Aufsichtspersonen für die Wegnahme von Sachen durch Dritte einzustehen399 , Dienstherren für Straftaten ihrer Dienstboten (RG GA 39 [1892],443), Schiffsoffiziere für Zolldelikte der Mannschaft (RGSt 71, 176), Vorstandsmitglieder einer Genossenschaft für Taten des Aufsichtsratsvorsitzenden (RGSt 49,239; vgl. auch RGSt 45,210), Versicherungsnehmer und Versicherte (!) für Taten gegen die versicherten Gegenstände (RGSt 64,273; 71,193; vgl. aber auch RGSt 43,342), Großmütter für vorsätzliche Tötungsdelikte ihrer Töchter gegen den Enkel, zumal als "Haushaltungsvorstand"40o, und schließlich der "stellvertretende Adjutant des SA-Standartenführers" für die Unfallflucht des Fahrers (RGSt 69, 349). Überblickt man diese Rechtsprechung, so erscheint es in der Tat nur folgerichtig, nunmehr auch die Ingerenz zur Begründung einer Rechtspflicht hinsichtlich fremder Straftaten heranzuziehen. In RGSt 70, 82ff. (=JW 1936,658 mit Anm. v. Neubert) freilich wurde die Pflicht eines Prozeßbevollmächtigten, der die Aufforderung der Gegenseite, den Zeugen zur Wahrheit zu ermahnen, schroff zurückgewiesen hatte, noch mit der "standesrechtlichen Ehrenpflicht eines Rechtsanwaltes" und der Wahrheitspflicht der Parteien gern. § 138 ZPO begründet. Bereits in RGSt 72,20 (=JW 1938,557 mit Anm. v. Schaffstein) ergibt sich aber die Rechtspflicht der Ehefrau, im Scheidungsverfahren den Meineid ihres Liebhabers zu verhindern, aus einer vorangegangenen Verabredung - die deswegen nicht aktive Teilnahme sein sollte, weil der Zeuge den Tatentschluß "ohne Beeinflussung ... vollständig allein" ge faßt hatte! - und "vor allem" daraus, daß sie "als Ehefrau den jugendlichen Liebhaber so stark in ein ehebrecherisches Verhältnis an sich gezogen [sc. hatte], daß dieser nun alles für sie zu tun bereit 391 RGSt 22,332; vgl. auch RG GA 39 [1892], 435. Dagegen reicht eine eheähnliche Gemeinschaft nicht aus: RGRechtspr. 7, 515. 39B RG JW 1929, 1467 mit zust. Anrn. von W. Mittermaier. Vgl. auch RG GA 53 [1906], 164 (Eheleute - Dienstmädchen). 399 RGRechtspr. 4,885; RGSt 53,292; vgl. auch RGRechtspr. 6, 643 = RGSt 11,153. In denselben Zusammenhang gehört die Judikatur über Hehlerei und Begünstigung durch Unterlassen seitens der Aufsichtspersonen, Wohnungsinhaber etc.; vgl. etwa RGSt 53,108, 179; 58,299; RG JW 1931, 1576 m. Anm. von H. Mayer; einschränkend RGSt 57, 242. 400 RGSt 64, 316; 72, 373 = ZAkDR 1939, 244 rn. Amn. von Kohlrausch. Ferner RGSt 39,397; RG LZ 1916,404; RG HRR 1933, 1624; RGst 56, 168.
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war"; was dem Gericht lediglich als Anwendung des Satzes erscheint, daß derjenige, der "es unterläßt, eine Gefahr abzuwenden, die er selbst geschaffen hat, ... strafrechtlich so angesehen [sc. wird], wie wenn er den Erfolg durch sein Handeln herbeigeführt hätte" (a.a.O.). Eine solche Gefahr wird nun nach der ursprünglichen Ansicht des Reichsgerichts bereits dadurch begründet, daß die Partei eines Zivilprozesses eine falsche Zeugenaussage in Gegenwart des Zeugen bekräftigt (RGSt 74, 38=DR 1940,637 mit Anm. v. Mezger), daß sie ihn für ihren unrichtigen Klagevortrag benennt401 , daß der Angeklagte auf die Frage des Richters (!) erklärt, der Zeuge möge vereidigt werden (RG DR 1942, 1782), daß eine wahre Behauptung der Gegenseite bestritten und dadurch die Vernehmung des meineidigen Zeugen veranlaßt wird 402 . - Da sich das Reichsgericht nun schließlich doch nicht der Einsicht verschließen kann, daß es "in der Entscheidung des Zeugen selbst [sc. liegt], ob er seiner Zeugnispflicht gemäß die Wahrheit sagen soll oder nicht" 403, wird später verlangt, daß zu den genannten Handlungen "irgend etwas hinzutritt, das geeignet ist, diese Entscheidung des Zeugen im Sinne eines Meineids zu beeinflussen" (RGSt 75,273); dieses "Etwas" wird in der Zwangslage gefunden, vor die der Zeuge gestellt ist, wenn er bei wahrheitsgemäßer Aussage eine unehrenhafte (RGSt 75, 274) oder strafbare (RG DR 1941, 1838) Handlung eingestehen müßte, vor allem daher den Ehebruch mit der Partei. Wobei angemerkt werden darf, daß die dem Unterlassenden drohende Gefahr der Strafverfolgung wegen derselben Handlung seine Freiheit nach Ansicht des Reichsgerichts jedenfalls nicht so weit beeinträchtigt, daß ihm die Hinderung der Falschaussage durch Offenbarung der Wahrheit nicht zugemutet werden könnte; "denn die Rechtsordnung muß verlangen, daß man - wenigstens in der Regel eher Sühne für begangenes eigenes Unrecht auf sich nimmt, als tatenlos neues Unrecht von einem anderen Volksgenossen begehen läßt, das man in seinem Ursprunge schon selbst gefördert hat"404. Wenn die spätere Partei des Scheidungsprozesses den Zeugen durch den als Scheidungsgrund anerkannten Ehebruch in die Gefahr bringt, diesen abzustreiten und auf diese Weise der Auflösung der Ehe entgegenzuwirken, so ist es nun nicht einzusehen, warum hierdurch nicht auch die Gefahr anderer Straftaten soll geschaffen werden können. Dieser Gedankengang führt das Reichsgericht in RGSt 73, 52 (57) zu dem Verdikt, daß der Ehebruchspartner den Mord des verheirateten 401 402 403 404
RGSt 74,283 (285) = DR 1940, 2057 m. Anm. von Schickert. RG DR 1943,748: Strafverfahren; RG DR 1943,893: Scheidungsprozeß. RGSt 75,271 (273 f.); RG DR 1941,1837. Vgl. RGSt 72,20 (23); ferner RGSt 72,19; 73,52 (57); RG DR 1942,1782;
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Teils an seiner Frau deswegen verhindern müsse, weil sich dieser "gerade deshalb zu dem Mord an seiner Ehefrau entschlossen habe, weil er wohl an ihrer Stelle die Angeklagte zur Ehefrau begehrte, und daß er auf diesen Weg gekommen sei, weil sich die Angeklagte auf das ehebrecherische Verhältnis mit dem Mann eingelassen, ihm wiederholt zum Ehebruch Gelegenheit gegeben, ihn vielleicht sogar (!) immer wieder dazu gereizt und dadurch die Leidenschaft des Mannes entfacht habe, die ihn dazu getrieben haben könnte, durch Ermordung der Ehefrau das Hindernis der Vereinigung mit der Angeklagten aus dem Wege räumen zu wollen". Auch diese Deduktion gibt sich als Konkretisierung des Grundsatzes, "daß eine Rechtspfiicht besteht, die drohende Gefahr eines rechtswidrigen schädlichen Erfolges, die durch eigenes Verhalten entstanden ist, selbst wieder abzuwenden"405. 6. Unterlassungsmomente der Begehung
Eine weitere Sondergruppe innerhalb der Ingerenz-Entscheidungen bilden diejenigen Fälle, bei denen der "Unterlassungsvorsatz" unverändert auf dasselbe Ziel gerichtet ist, wie der schon bei Vornahme der Vorhandlung gegebene Begehungsvorsatz. Da die Bestrafung wegen vorsätzlicher Begehung in aller Regel von einem auf dasselbe Ziel gerichteten nachfolgenden Unterlassen unabhängig ist, betreffen die hier zu referierenden Entscheidungen vor allem strukturelle Fragen der Begehung, nämlich die zeitliche Ausdehnung der aktiv begonnenen und passiv fortgesetzten Tat, etwa im Hinblick auf den Verjährungsbeginn, den Stichtag einer Amnestie, die Bestimmung des milderen Gesetzes (RGSt 57, 193), des Begehungsortes (RGSt 3, 316), die Abgrenzung von Beihilfe und Begünstigung bzw. Hehlerei (RGSt 71, 187). Gerade auf diese Fragen ist die Aussage bezogen, daß die Handlung nicht schon mit Abschluß des "formellen Tuns", sondern erst mit dem Ende seiner Wirksamkeit beendet sei 406 . Vergleichbar sind diejenigen Fälle, bei denen der auf das identische Ziel gerichtete Unterlassungsvorsatz gegenüber dem Begehungsvorsatz insofern eine Modifizierung erfährt, als der angestrebte Erfolg bei Beginn der Handlung erlaubt und erst hernach, aber vor Erfolgseintritt verboten worden war 407 . So hatten die Angeklagten in RGSt 18, 96; 20, 131 politische Flugschriften zur Post gegeben bzw. den Text eines für eine politische Veranstaltung werbenden Inserats bei einer Expedition 405 a.a.O.; vgl. auch RGSt 64, 370: fahrlässige Tötung durch argloses Beschaffen von Gift, mit dem der Ehebruchspartner seine Frau ermordete. 406 RGSt 18, 96. 407 Vgl. auch die Entscheidung bei Oppenhoff 15, 856 (oben S. 77).
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abgeliefert, worauf die betreffende Aktion verboten wurde (Gesetz wider die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie vom 19.10.1878); in RGSt 51, 9 (12) hatte der Angeklagte seine amerikanische Filiale vor Ausbruch des ersten Weltkrieges mit dem Export von Hölzern nach England beauftragt, was alsbald verboten wurde. In keinem Falle unternahmen die Angeklagten etwas, um die Wirkungen der ursprünglich erlaubten Betätigungen zu beseitigen; und in allen Fällen wurden sie mit der Erwägung bestraft, daß ihr Tun bei bestehender Abwendungsmöglichkeit noch nach dem Inkrafttreten des Verbots "fortgedauert" habe 408 • 111. Die Nachkriegsrechtsprechung
Die als Grundlage der reichsgerichtlichen Rechtsprechung erkannte formalistische Dreiteilung der Rechtspflichten in solche aus Gesetz, Vertrag und vorangegangenem Tun bleibt zunächst auch in der Nachkriegsjudikatur erhalten, wobei die Anerkennung der Ingerenz als Gewohnheitsrecht (BGHSt 2, 150 = LM Nr.2 zu § 212 StGB mit Anm. von Geier = JZ 1952, 370 mit Anm. von GaUas) ihre Reduktion auf den rechtsquellenmäßig einwandfreien Dualismus Gesetz - Vertrag erlaubt. Eine gegenläufige Tendenz basiert auf der Garantenlehre Naglers, die sich die Rechtsprechung ausdrücklich oder stillschweigend zu eigen macht409 , und zwar auch hinsichtlich der dogmatischen Konsequenzen, die sich aus der "Tatbestandslösung" für die Irrtumsproblematik ergeben (vgl. BGHSt [GS] 16, 155 = LM Nr.44 zu § 59 StGB mit Anm. von Busch). Die hierdurch eingeleitete Materialisierung der formalistischen Dreiteilung führt zunächst zur Auflösung der Gesetzeskategorie. So ist etwa die Familie nicht als gesetzliche, sondern als "engste und natürlichste Gemeinschaft" Entstehungsgrund der Garantenpflichten (BGHSt 19, 167 = LM Nr.54 zu § 211 StGB mit Anm. von Krumme); womit die Möglichkeit eröffnet ist, die "Grundgedanken der Rechtsordnung" (BGH, a.a.O.) einerseits zur Anerkennung anderer als gesetzlich geregelter Gemeinschaften natürlicher Verbundenheit zu bemühen UO und andererseits tatsächlich zerfallene Gemeinschaften als mögliche Rechtsquelle auszuschließen 411 • Ähnliches gilt für die - durch Vgl. in diesem Zusammenhang auch ROSt 37,131. Vgl. etwa BGH NJW 1954,1047 = JR 1954,269 mit Anm. von Heinitz; KG VRS 12, 372 (380, 383). 410 Vgl. außer BGHSt 2,150 auch OLG Celle, HannRpflg. 1947, 33 (häusliche Gemeinschaft); BGH JR 1955,104 mit Anm. von Heinitz (die durch Verlöbnis bestärkte tatsächliche Gemeinschaft des Lebens); BGH NJW 1959,1979 (Fahrgemeinschaft); KG VRS 10, 138 (Soziusfahrer). 411 BGHSt 6,322 = LM Nr.9 Vorbem. zu § 47 StGB mit Anm. von Werner (zerfallene Ehegemeinschaft). 408
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die Grundsätze von "Treu und Glauben" ohnehin modifizierte (BGHSt 6,198) - Vertragskategorie. Nicht die zivilistische Gültigkeit des Vertrages, sondern die "tatsächliche übernahme eines Pflichtenkreises in einem bestimmten Lebensbereich" (OLG Celle NJW 1961, 1939) ist der Entstehungsgrund der Garantieposition412 • Die Ingerenz selbst bleibt von diesen Wandlungen zunächst unberührt. Grundlage ihrer Geltung ist die "ständige"413 oder "gewohnheitsrechtliche"414 Anerkennung durch Rechtsprechung und Lehre. Auf dieser formalen Basis erschöpfen sich denn auch die meisten der hier zu referierenden Entscheidungen darin, ein vorangegangenes Tun oder Unterlassen (OLG Bremen NJW 1957, 72) - festzustellen, durch das die Gefahr einer Rechtsverletzung geschaffen worden ist. Gleichgültig soll es hierbei sein, ob die Gefahr durch das Vorverhalten geschaffen oder nur verstärkt worden ist415 , ob dies bewußt oder unbeWUßt416 , mit oder ohne "Verschulden"417 geschehen war. Auch die Rechtmäßigkeit der Vorhandlung ist für die Abwendungsverpflichtung ohne Belang, denn "auch rechtmäßiges Tun, durch das eine Gefahrenlage geschaffen wird, kann zu weiterem Eingreifen verpflichten" (BGHSt 3,205): "ein gerade im Verkehrsrecht lebendiger Rechtsgedanke 418 ." Ferner bleibt auch die Vorhersehbarkeit der nicht abgewendeten Schadensfolge ohne Bedeutung (OGHSt 3, 3). Die auch von der Rechtsprechung nicht übersehene "Gefahr uferloser Ausweitung strafrechtlicher Vorschriften" und die Einsicht, daß "nicht jeder Beitrag" zur Entstehung der Gefahrenlage die Garantieposition zu begründen vermag419 , verschafft der Naglerschen Lehre nun schließ412 Vgl. ferner OLG Hamm HESt 2,285; BGHSt 7,211 = LM Nr.27 zu § 222 StGB mit Anm. von Sarstedt = JR 1955,270 mit Anm. von Eb. Schmidt; BGH MDR 1956,10 (Dallinger); BGHSt 19,286 = LM Nr.50 zu § 222 StGB mit Anm. von Geier. 413 OGHSt 3, 3; BGH LM. Nr.l0 Vorbem. zu § 47 StGB; BGHSt 4, 22; 19,154; BayObLG NJW 1953,556; OLG Schleswig SchlHA 1958,341; OLG Düsseldorf VerkMitt. 1960, 17. 414 OLG Hamm HESt 2,243; BGHSt 2,153; KG VRS 12,380; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938. 415 OLG Ramm, a.a.O.; BGHSt 14,230; BGH LM Nr.l0 Vorbem. zu § 47 StGB; OLG Ramm VRS 20,213; BGH NJW 1953,1399. Vgl. auch BGHSt 19, 154. 416 OGHSt 3, 3; BGHSt 2, 283; 4, 218; 11, 355; 14, 230; BGH LM Nr.l0 Vorbem. zu § 47 StGB; OLG Köln JMBINRW 1952,81. m BGHSt 11,355; 19,154; BGH LM Nr.1O Vorbem. zu § 47 StGB; KG VRS 13,472; OLG Köln a.a.O.; OLG Bremen NJW 1957,72. 418 KG VRS 12,380; vgl. auch BGHSt 2,230; BGR VRS 17,427; KG VRS 13,472. 419 BGH NJW 1954,1047. Vgl. ferner LG Essen NJW 1952,116; BayObLG NJW 1953,556; BGH MDR 1956,271; OLG Schleswig SchlHA 1958,341; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938.
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lich auch im Bereich der Ingerenz einen gewissen Einfluß, vor allem im Hinblick auf die Nichtabwendung fremder Straftaten. So wollen das Bayerische Oberste Landesgericht und - ihm folgend - die Oberlandesgerichte Oldenburg und Schleswig nur ein solches Tun als taugliches Vorverhalten anerkennen. "das nach der allgemeinen Lebens-auffassung eine natürliche Verantwortlichkeit für die Entstehung der Gefahrenlage begründet"420. Andere Entscheidungen verlangen eine "sozialethische Beziehung" der von Nagler gemeinten Art, welche durch die Vorhandlung begründet worden sein müsse 421 • Will man sich nun nicht von BGH MDR 1956, 271 (Dallinger) auf eine Würdigung "aller (!) Umstände des Einzelfalles" verweisen lassen, so ist die Frage einer begrifflich exakten Umgrenzung der Ingerenz mit diesen Formulierungen freilich eher aufgeworfen als beantwortet. Es bleibt jedoch bemerkenswert, daß sich unter dem Einfluß der Garantenlehre eine Auflockerung des apodiktisch gehandhabten Satzes von der pflichtbegründenden Wirkung gefährlichen Tuns vollzieht, die vor allem im Bereich der Nichthinderung von Straftaten zu erheblichen Einschränkungen geführt hat (s. u. S. 99 f.). Im einzelnen bietet die Nachkriegsrechtsprechung ein differenziertes Bild.
1. Fahrlässiges Unterlassen: Verkehrssicherungspflicht und Halterhaftung Bei der unterlassenen Verkehrssicherung beschäftigt die Rechtsprechung zunächst wieder die Nichtabwendung der durch die Verkehrseröffnung auf einem Grundstück entstehenden Gefahren, wie etwa die Verletzung der Streupflicht422 . Mit der Zunahme der Motorisierung verlagert sich jedoch der Schwerpunkt dieser Kriminalität auf den Straßenverkehr. Hier gilt der bereits erwähnte "gerade im Verkehrs recht lebendige Rechtsgedanke", daß auch eine an sich erlaubte Vorhandlung zur Abwendung aller Gefahren verpflichtet, die hieraus für die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs entstehen können (KG VRS 12, 381; 13, 472); so verpflichtet etwa - um aus der unübersehbaren Fülle der einschlägigen Judikatur einige Beispiele herauszugreifen - eine Straßensperre im Zuge von Bauarbeiten zur Schaffung ausreichender Warn- oder Ausweichvorkehrungen (KG VRS 12, 372) oder die Aufstellung einer Meßstange zur Kenntlichmachung des Hindernisses (KG VRS 13, 472). Um die Nichtabwendung der dem Verkehr 420 421 422
BayObLG a.a.O.; OLG Oldenburg DAR 1957,300; OLG Schleswig a.a.O. BGH NJW 1954,1047; KG VRS 11,359; 12,383. OLG Celle NJW 1961, 1939.
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von einer nicht verkehrs bezogenen Handlung drohenden Gefahren ging es auch in einem Urteil des OLG Hamm (VRS 20, 212), in dem der angeklagte Bauer durch das Lösen der Zaundrähte die Gefahr für das Entlaufen eines Kalbes geschaffen hatte. Eine typisch wiederkehrende Vorhandlung ist das Ingangsetzen eines Kraftfahrzeugs durch den Fahrer, der nach Kräften dafür zu sorgen hat, daß die von dem Fahrzeug ausgehenden Gefahren abgewendet werden, und zwar auf Grund seiner Teilnahme am Straßenverkehr als einem "vorangegangenen, den Verkehr gefährdenden Tun" (BGH VRS 14,199; 17,426). So hat er vor allem die dem Verkehr durch den jeweiligen Standort des Kraftfahrzeugs drohenden Gefahren abzuwenden, etwa durch Weiterfahren, Beleuchtung oder Absicherung gegen das Weiterrollen423 • Dasselbe gilt für die Gefahren, die dem Straßenverkehr dadurch entstehen können, daß fahruntaugliche Dritte das Fahrzeug in Betrieb nehmen424 • Da freilich die letztgenannte Gefahr weniger auf das Fahren als auf den "Betrieb" des Kraftfahrzeugs im weiteren Sinne zurückzuführen ist, leitet diese Pflicht zur Verantwortlichkeit des Halters über, von dem sich die Haftung des Fahrers insofern durch "übernahme" ableitet. Der Kraftfahrzeughalter hat in jeder Weise für die Betriebssicherheit des Fahrzeugs zu sorgen, insbesondere den Fahrer zu überwachen (BGHSt 2,226) und die Inbetriebnahme durch fahruntaugliche Fahrer zu verhindern 42 4, was eben darauf beruht, daß er durch den "Betrieb" des Kraftfahrzeugs einen "Gefahrenzustand" geschaffen hat, der zur Abwendung der "Verkehrsgefahr" verpflichtet (BGHSt 2,230). Dasselbe gilt für den Betrieb einer Eisen- oder Straßenbahn425 • In diesen Zusammenhang gehört schließlich auch die Haftung des Tierhalters 426 • Neben der schon durch das "Halten" vorverursachten Gefahr kommt dabei weiteren Einzelhandlungen nur bestärkende Bedeutung zu.
2. Vorsätzliches Unterlassen Während die soeben besprochene Fallgruppe die fahrlässige Nichtabwendung der von regelmäßig verkehrsbezogenen Handlungen aus423 OLG Hamm VRS 28, 145. BGHSt 4, 360 = LM Nr.20 zu § 222 StGB mit Anm. von Kohlhaas = NJW 1954,41 mit Anm. von Hartung; BGH VRS 17,424; OLG Hamm HESt 2,283. - BGHSt 19,371 = LM Nr.9 zu § 315 a Abs. I Ziff.2 StGB mit Anm. von Krumme. 424 BGH NJW 1959,1979; BGH VRS 14,197; 20,282; OLG Hamburg NJW 1964, 2027. Einzelheiten unten sub c). 425 Vgl. BGHSt 6,1 und BGHS,t 11,162, die übernahmefälle zum Gegenstand haben. 428 Vgl. OLG Köln JMBINRW 1952,81; OLG Bremen NJW 1957,72; OLG Neustadt GA 1964, 185.
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gehenden Gefahren zum Gegenstand hatte, betrifft eine weitere Gruppe die vorsätzliche Nichtabwendung der durch nicht weiter typisierbare Vorhandlungen verursachten Gefahren. Hier beginnt das eigentlich kontroverse Gebiet. Ist die Vorhandlung freilich selbst ein vorsätzliches - d. h. hier: mit dem Willen auf Herbeiführung eines anderen als des nicht abgewendeten, aber gleichfalls tatbestandsmäßigen Erfolges begangenes - Delikt wie Körperverletzung (OGHSt 1, 357; BGHSt 14, 282 = LM Nr. 11 zu § 330 c StGB mit Anm. von Krumme und Rezension von Oehler in JuS 1961, 154 ff.) oder Abtreibung (BGHSt 15,345), so scheint die Entscheidung freilich dann eindeutig zu sein, wenn der das opus illicitum vollbringende Täter zugleich fahrlässig hinsichtlich des später vorsätzlich nicht abgewendeten Erfolges gehandelt hat. So hatte der Angeklagte in OGHSt 1, 357 den Tod des anderen Bäckergehilfen dadurch verursacht, daß er ihn vorsätzlich verletzte und dabei fahrlässig außer acht ließ, daß sein Gegner in die Teigmaschine fallen und darin ersticken könnte (§ 226 StGB). Das vorsätzliche Unterlassen der Lebensrettung war Tötungsäquivalent, weil er seinen Arbeitskollegen "durch sein rechtswidriges und schuldhaftes Verhalten, die Körperverletzung, in die lebensgefährliche Lage gebracht hatte" (OGH, a.a.O., S. 359). Dasselbe gilt für das obiter dictum in BGHSt 14,284. In BGHSt 15, 345 hatte der Täter eine Abtreibung vorgenommen und dabei die zur Erhaltung des Lebens der Mutter erforderliche Sorgfalt nicht beobachtet. Als er nachträglich die Lebensgefahr erkannte, unternahm er nichts zur Rettung. Eine Bestrafung wegen (versuchten) Totschlags durch Unterlassung erschien dem Bundesgerichtshof als selbstverständlich. Die eigentlich kritischen und umstrittenen Fälle ereignen sich wieder im Straßenverkehr. In BGHSt 7,287 (= LM Nr.29 zu § 211 StGB mit Anm. von Krumme; ferner BGH VRS 13, 120) hatten alkoholisierte Autofahrer Menschen angefahren und schwer verletzt liegen lassen, obwohl sie annahmen, daß ihr Leben bei sofortiger Hilfe noch zu retten gewesen wäre. Die Abwendungsverpflichtung wird in diesen Urteilen sehr beiläufig mit "vorangegangenem Tun" begründet, ohne daß selbst auf die Rechtswidrigkeit der Vorhandlung qua Gefährdung und qua fahrlässige Tötung hingewiesen würde 427 • Womit nun allerdings in aller Schärfe die Frage aufgeworfen ist, ob auch eine verkehrsgerechte, d. h. wegen Einhaltung des erlaubten Risikos rechtmäßige Vorhandlung eine Garantenstellung ohne Rücksicht auf die Schuldform der Unterlassung zu begründen vermag. Gerade hierum geht es bei der gegenwärtigen Diskussion des Ingerenz-Gedankens. 427
Für BGHSt 7,287 hat derselbe Senat dies in BGH GA 1958,111 nach-
geholt.
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3. Nichthinderung fremder Straftaten Die allgemeine Zunahme der Bestrafungen wegen unechten Unterlassens macht sich in der Nachkriegsjudikatur vor allem bei der Nichthinderung fremder Straftaten bemerkbar. Die durch eine Vorhandlung verursachte Gefahr, daß eine andere Person eine strafbare Handlung begehen könnte 428 , soll dabei im folgenden wiederum auf dem Hintergrund der durch andere "Rechtsgründe" vermittelten Pflicht zur Repression krimineller Betätigung gesehen werden. a) Modell der Garantenpflichten zur Hinderung fremder Straftaten429 ist die eheliche Gemeinschaft, die zur Hinderung von Taten aller Art verpflichtet, wie der Abtreibung430 , der Blutschande431 , des Meineids432 , des "Schwarzbutterns"433, der beabsichtigten434 oder versehentlichen 435 Selbsttötung. Was einem mit Hellmuth Mayer4 36 auch dann als Wiedereinführung der "nationalsozialistischen Sippenhaftung" erscheinen kann, wenn die Pflicht auf die eheliche Wohnung als den "besonderen Herrschaftsbereich der Ehegatten" radiziert wird 437 . Dieselbe Wirkung haben Verwandtschaftsverhältnisse, wie die Beziehung des Sohnes zum Vater4 38 , der Mutter zur Tochter439 , des Schwiegersohnes zur Schwiegermutter44o , und sonstige enge Lebens428 Die Rechtsprechung unterscheidet hier nicht immer klar, ob der Unterlassende für die von dem Täter ausgehende oder für die dem geschützten Rechtsgut drohende Gefahr einzustehen hat; vgl. aber BGHSt 19,295 (297) = LM Nr.l zu § 138 StGB mit Anm. von Hengsberger. 429 Die Rechtsprechung zur Kuppelei durch Unterlassen der Hinderung fremder Unzucht beruht unverändert auf den reichsgerichtlichen Grundsätzen; vgl. BGH LM Nr.3 zu § 180 SilGB; BGHSt (GS) 6,46; 6,167; BGH LM Nr. 3 zu § 181 Abs. I Ziff.2 StGB; BayObLG MDR 1952,312. 430 BGH NJW 1953, 591; mit abw. Begründung auch OLG Oldenburg NiedersRpflg 1951,74. 431 BGH FamRZ 1956,8I. 432 Nach BGHSt 6,322 = LM Nr.9 Vorbem. zu § 47 StGB mit Anm. v. Werner freilich dann nicht, "wenn die Ehegatten tatsächlich getrennt und in Scheidung leben". 433 OLG Celle HannRpflg 1947,50. 434 BGHSt 2,150; 7,268; alle weiteren Nachweise bei Gallas, JZ 1960,649 ff., 686 ff. 435 OLG Oldenburg NiedersRpflg 1951,74. 436 Mat. I, 1954, S.275; ders., Studienbuch, S.79. 437 BGHSt 6,324. Vgl. auch BGHSt 2,135; BGH MDR 1956,271; OLG Celle HESt 1,109 (Hehlerei durch Unterlassen). 438 BGHiSt 19, 167 = LM Nr.54 zu § 211 StGB mit Anm. von Krumme, wo es freilich um die dem Vater drohende Gefahr ging. 439 OGHSt 1, 87. 440 BGHSt 13, 162 = LM Nr.2 zu § 216 StGB mit Anm. von Martin (Selbsttötung).
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gemeinschaften, wie das Verlöbnis441 oder eine langwährende häusliche Gemeinschaft 442 • b) Neben diesen "konstanten Solidaritätsverhältnissen" (Vogt) behauptet sich nun auch die durch vorherige Gefährdung des Täters vermittelte Garantenpflicht, und zwar zunächst in unerhörter Schärfe. Vor allem der Oberste Gerichtshof für die Britische Zone hat hier für eine ständige Erweiterung der strafrechtlichen Haftung gesorgt. So wurde in OGHSt 2, 63 der Mitläufer-Fall par excellence im Geist der Zeit entschieden. Ein "SS-Untersturmführer" war mitgegangen, als andere den "Defaitisten" 0 illegal aus einem Gefängnis geholt und ohne weiteres Verfahren erschossen hatten. Die Garantenstellung des Mitläufers wurde damit begründet, daß er die Aktion eben durch sein "Mitgehen" (a.a.O., S. 66) und dadurch gefördert habe, daß er als Uniformträger die Herausgabebereitschaft der Gefängnisbeamten vergrößert habe: "Mitgegangen, Mitgefangen, Mitgehangen!" - Kaum weniger weitgehend die Bestrafung eines Mannes wegen Verbrechens gegen die Menschlichkeit (KRG 10 Art. II 1 c), der die Anzeige eines Kommunisten durch seine Frau dadurch gefördert haben sollte, daß er selbst früher diesen Plan gefaBt, dann aber wieder aufgegeben hatte443 • Gegenüber diesen Entscheidungen nimmt es sich fast schon als Rechtswohltat aus, daß die "stumme Billigung" eines nicht selbst veranlaBten Geschehens (entwürdigender Umzug mit einem Sozialdemokraten) als solche jedenfalls kein Unmenschlichkeitsverbrechen darstellt (OGHSt 1, 229). Und weiter: Ein Angeklagter, der einen Synagogenverwalter an die Brandstelle geführt hatte, wo er sich als "Brandstifter" verantworten sollte, wurde von OGHSt 2, 11 wegen eines durch Unterlassen begangenen Unmenschlichkeitsverbrechens bestraft, weil er den Verwalter nicht vor den Mordtaten der fanatisierten Menge geschützt hatte. Ein Kreisleiter der NSDAP hatte in BGHSt 2,279 (=LM Nr. 1 zu § 125 StGB mit Anm. v. Martin) eine antijüdische Hetzkundgebung veranstaltet und sodann Ausschreitungen des Mobs nicht gehindert; Beihilfe zum Landfriedensbruch wurde mit der Begründung bejaht, daß er durch sein vorangegangenes Tun die Gefahr der Ausschreitungen geschaffen habe. 441 BGH JR 1955, 104 mit Anm. von Heinitz; BGH LM Nr. 12 zu § 212 StGB (Selbsttötung). 442 OLG Celle HannRpflg 1947,33. Vgl. auch noch BGH NJW 1951,204 (Versicherungsvertrag) und OLG Schleswig NJW 19'54,285 (einschränkend). 443 Vgl. auch BGHSt 5, 187 (19Q), wo erwogen wird, ob die Garantenpflicht zur Hinderung eines Diebstahls schon aus der "Beteiligung an den früheren [sc. anderen] Diebstählen" abzuleiten sei.
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Die Äußerung, es müsse etwas "geschehen", schafft nach OGHSt 3, 1 (3) die Gefahr, daß der Gesprächspartner ein bäuerliches Anwesen anzündet und verpflichtet daher zur Abwendung; ebenso die Verabredung, "daß die Geburt geheim bleiben und niemand anders zur Hilfe zugezogen werden" solle zur Hinderung der Tötung des Kindes durch die Mutter (OLG Celle HannRpflg 1947,33); ferner: der Versuch einer Abtreibung schafft die Gefahr, daß die Mutter das lebend zur Welt gekommene Kind tötet (BGH LM Nr. 10 Vorbem. zu § 47 StGB); die arglose Hingabe eines Taschenmessers schafft die Gefahr, daß der Empfänger einen Dritten damit tötet und verpflichtet daher zur Verhinderung der Tat oder doch wenigstens zur Abwendung der Folgenm . Die Mitnahme eines 16jährigen Mädchens im eigenen PKW begründet die Gefahr, daß diese an einer einsamen Stelle von den Mitfahrern vergewaltigt wird und überantwortet den Fahrer der Strafe wegen Beihilfe zur Notzucht (BGHSt [GS] 16, 155=LM Nr. 44 zu § 59 StGB mit Anm. von Busch). Und schließlich verpflichtet die (arglose) Hingabe eines Stricks, den Verlobten von der damit ausgeführten Selbsttötung abzuhalten445 • c) Bei der "Meineidsbeihilfe durch Unterlassen" judizieren die Obergerichte zunächst wieder die reichsgerichtlichen Grundsätze, wonach "vorangegangenes Prozeßverhalten", nämlich Zeugenbenennung und wahrheitswidriges Bestreiten, aber auch außerprozessualer Druck, zur Hinderung des Zeugenmeineids verpflichten446 • Auch der Bundesgerichtshof hat sich diese Rechtsprechung zu eigen gemacht, freilich gegen den Widerstand einiger Instanzgerichte447 • Die wichtigste innerprozessuale Gefährdung des Zeugen sieht das Gericht in seiner Benennung für eine als unwahr erkannte Tatsache448 und in seiner durch wahrheitswidriges Bestreiten veranlaßten Vernehmung449 • Einige Entscheidungen schränken die Abwendungsverpflich444 BGHSt 11,353 (355) = LM Nr.9 zu § 330c 3tGB mit Anm. von Martin. Dazu auch Wetzet, JZ 1958,494 ff. 445 BGH LM Nr. 12 zu § 212 StGB bescheinigt dem Landgericht, daß es die Rechtspflicht "auch auf Grund vorangegangenen Tuns" "in rechtlich einwandfreier Weise" bejaht habe. 446 Vgl. OGHSt 2, 161; OLG Hamm HESt 2, 242. Aber auch OLG Hamm HESt 2,241 = MDR 1948, 92 mit Anm. von Meister. 447 Vgl. LG Essen NJW 1952,116; LG Göttingen NJW 1954,73-1; OLG Köln NJW 1957,34; OLG Bremen NJW 1957,1246. Teils wird hier die Zumutbarkeit der Abwendung, teils die Kausalität des Bestreitens für die Vernehmung bezweifelt. Das OLG Köln verlangt allgemein eine "inadäquate" Gef-ahr. 448 BGHSt 1,22 = LM Nr. 1 zu § 153 StGB mit Anm. von Krumme; BGHSt 4,217. 449 BGHSt 3,18 = LM Nr.7 zu § 154 StGB mit Anm. von Krumme; BGHSt 4,217.
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tung freilich dadurch ein, daß sie eine taugliche Prozeßvorhandlung nur dann anerkennen, wenn der Zeuge durch die Offenbarung der Wahrheit "schwere Nachteile" zu gegenwärtigen hat, wie die zu besorgende Gefährdung der eigenen Ehe (BGHSt 1, 28), die Gefahr einer Strafverfolgung oder die Notwendigkeit, unehrenhafte Handlungen zugeben zu müssen (BGHSt 3, 19). Die zu erwartende Trübung der Freundschaft mit der benachteiligten Prozeßpartei läßt dagegen die Abwendungsverpflichtung ebenso unberührt wie Vorwürfe der Partei oder die Notwendigkeit, sich eines nur leicht unehrenhaften Verhaltens bezichtigen zu müssen450 • Aber auch ein außerprozessuales Verhalten vermag dem Zeugen gefährlich zu werden, nämlich die Unterhaltung persönlicher Beziehungen mit ihm (BGHSt 4, 219), insbesondere die Fortsetzung des ehebrecherischen Verhältnisses nach seiner Benennung durch die Gegenseite, die Abgabe eines Eheversprechens oder die Mitteilung der eigenen unwahren Aussage (BGHSt 14, 229=LM Nr. 60 zu § 154 StGB mit Anm. von Martin), und zwar auch dann, wenn vereinbart worden war, daß der Zeuge die Aussage verweigern sollte (BGHSt 14,232). Dieser Judikatur stehen andere Entscheidungen gegenüber, die sich um eine Einschränkung der Haftung bemühen. So hatten bereits BGHSt 2,129 (= LM Nr.9 zu § 154 StGB mit Anm. von J(agusch) und Anm. von Schmidt - Leichner in NJW 1952, 512) und BGH NJW 1958, 956 (=LM Nr. 53 zu § 154 StGB mit Anm. von Martin) bloßes Bestreiten des gegnerischen Klagevortrags dann nicht als taugliches Vorverhalten anerkannt, wenn die Partei versucht hatte, den Zeugen zur Aussageverweigerung zu bestimmen. Da der Zeuge seine Tat prinzipiell "allein zu verantworten" habe (BGHSt 4,328), komme es darauf an, ob er durch die Prozeßhandlung in eine Gefahr der Falschaussage versetzt worden sei 451 • Womit die von BGHSt 2,134; 4,219; 14,230 erkannte "Versuchung" des Zeugen offenbar ausgeschlossen werden soll. Einen gewissen Abschluß dieser Entwicklung bildet die Entscheidung BGHSt 17,321, in der - unter ausdrücklicher Aufgabe von BGHSt 3, 18 - die durch wahrheitswidriges Bestreiten veranlaßte Vernehmung des von der Gegenseite benannten Zeugen als solche nicht als ausreichend angesehen wird. Erforderlich sei vielmehr das 450 BGHSt 1,28. Vgl. auch noch BGHSt 4,172; 4,244; 6,322; BGH NJW 1958,956. 451 BGHSt 4,327 = LM Nr.26 zu § 154 StGB mit Anm. von Jagusch = JZ 1954, 165 mit Anm. von Lay; BGH NJW 1958,956 = LM Nr. 53 zu § 154 StGB mit Anm. von Martin.
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Hinzutreten "weiterer Umstände", wie die Fortsetzung des ehebrecherischen oder ehewidrigen Verhältnisses während des Scheidungsverfahrens. Der Sinn dieser Einschränkung besteht offenbar darin, typisiertes Vorverhalten zugunsten einer Würdigung der Gesamtumstände aufzugeben. Ob der Zeuge nicht nur "versucht", sondern darüber hinaus "gefährdet" worden ist, läßt sich nur auf Grund einer Bewertung der zwischen ihm und der Partei bestehenden Beziehungen entscheiden. Was freilich der Rechtssicherheit kaum zuträglich sein dürfte. Es bleibt hinzuzufügen, daß die - jedenfalls zunächst - als ausreichend angesehene Gefahr einer Strafverfolgung des Zeugen die Zumutbarkeit der Abwendung durch die Partei auch dann nicht beseitigt, wenn diese sich selbst derselben Gefahr aussetzen müßte; denn in die strafrechtlich geschützte Rechtsordnung darf nicht durch "neues Unrecht" eingegriffen werden452 • d) Während die bisher referierten Entscheidungen die (vorsätzliche) Nichthinderung vorsätzlicher Taten zum Gegenstand hatten, geht es bei einer Serie weiterer Entscheidungen um die Nichtabwendung fahrlässig begangener Delikte. Die praktisch wichtigste Fallgruppe betrifft die Haftung des Kraftfahrzeughalters, die auf der durch den "Betrieb" des Kraftfahrzeugs geschaffenen Gefahrenlage beruht und zur Abwendung aller "Verkehrsgefahren" verpflichtet (BGHSt 2,230). "Verkehrsgefahr" ist nun auch die Möglichkeit, daß ein fahruntauglicher Fahrer den Wagen in Gang setzen und auf diese Weise strafbare Handlungen begehen könnte453 • Die Rechtsprechung hat daher keinen Zweifel, daß der Halter solche Taten auf Grund seiner "Haltereigenschaft" abzuwenden verpflichtet ist 454 und anderenfalls wegen unechten Unterlassens als fahrlässiger Nebentäter der von dem Fahrer begangenen fahrlässigen Verletzungsdelikte (§§ 222,230 StGB) zu bestrafen ist. Dasselbe gilt für die von dem Fahrer begangenen übertretungen nach §§ 1 StVO, 2 StVO a.F. (jetzt Vergehen gern. § 316 StGB n.F.)455, nicht aber für dessen fahrlässige Straßenverkehrsgefährdung nach § 315 a Abs. I 452 BGHSt 3,19. Vgl. auch OLG Hamm HESt 2,242; BGHSt 4,178; BGH NJW 1964,732 (insoweit in BGHSt 19, 167 ff. nicht abgedruckt). 453 Die wenigsten der hier zu referierenden Entscheidungen unterscheiden freilich zwischen Tun und Unterlassen. Daß das "überlassen" des Fahrzeuges, d. h. Aufforderung zum Fahren, übergabe der Schlüssel etc., über die Psyche des Fahrers wirkende Handlungen sind, sollte nach der im 2. Kap. gegebenen Bestimmung nicht zweifelhaft sein. 454 BGHSt 3,175; 14,27; 15,1; 18,6; BGH VRS 12,51; 13,470. 455 BGHSt 14,24 = NJW 1960,924 mit Anm. von Hartung gegen OLG Celle VRS 15,417; vgl. ferner OLG Hamburg NJW 1964,2027.
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Ziff. 2 StGB a.F. (jetzt § 315 c Abs. III StGB n.F.); denn Täter einer Straßenverkehrsgefährdung kann nur sein, "wer selbst alle oder wenigstens einen Teil der wesentlichen technischen Einrichtungen des Fahrzeugs bedient, die für die Fortbewegung bestimmt sind"456, was als Paraphrase für die Ungleichwertigkeit der Tatmodalitäten von Tun und Unterlassen zu gelten hat. - Neben der durch "Halten" bezeichneten Vorhandlung weisen einige Entscheidungen ergänzend auf andere Vorhandlungen des Halters hin, etwa die Einladung zum Trinken und das Freihalten (BGHSt 3, 178; BGH VRS 13,470). Auf derselben Grundlage beruht die Haftung des "verantwortlichen" Fahrers, der, "ohne Halter zu sein, die tatsächliche Verfügungsgewalt über ein Kraftfahrzeug besitzt" (OLG Hamburg NJW 1964, 2027) und dem die "Sorge für das Leben der ihm anvertrauten Fahrgäste" obliegt (BGH VRS 14,199). Denn da die Inbetriebnahme des Fahrzeugs durch einen dritten (fahruntauglichen) Fahrer weniger durch das vorangegangene Fahren als durch das "Halten" des Fahrzeugs verursacht ist, geht es bei der Pflicht des Fahrers zur Hinderung von Straftaten um die vom Halter abgeleitete Verantwortlichkeit 457 • Auch der Fahrer ist daher bei Vermeidung einer Bestrafung wegen fahrlässiger Verletzung oder Gefährdung verpflichtet, die Ingebrauchnahme des Fahrzeugs durch einen fahruntauglichen Dritten zu verhindern 458 . Höchst zweifelhaft und umstritten ist es nun, ob auch eine an die Stelle des "Haltens" tretende Einzelhandlung einen Dritten qua Ingerenz in die Gefahr zu bringen vermag, als Fahrer eines Kraftfahrzeugs strafbare Handlungen zu begehen. Als solche kommen vor allem das Ausschenken von Alkohol, das Einladen, Freihalten, Mittrinken und Mitfahren in Betracht. - Einigkeit besteht hier zunächst darüber, daß die bloße Zechgemeinschaft keine Abwendungsverpflichtung begründet 459 ; denn "einer so losen und jeder sittlichen (!) Bedeutung entbehrenden Verbindung, wie sie die Zechgemeinschaft ist, fehlt es an der mit Recht von Nagler verlangten sozialethischen Beziehung"46o. 456 BGHSt 18,6; bei vorsätzlicher Gefährdung bleibt hiernach freilich (vorsätzliche) Teilnahme möglich. 457 Aus diesem Grunde besteht die Abwendungsverpflichtung auch nicht gegenüber dem Halter selbst. Vgl. OLG Karlsruhe JZ 1960,178 mit Anm. von Welzel; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938. 458 Vgl. nur BGH VRS 14,197; 20,282; OLG Hamburg NJW 1964,2027. In diesen Zusammenhang gehört auch die "Fahrergemeinschaft" (BGH NJW 1959, 1979).
459 BayObLG NJW 1953,556; BGH NJW 1954,1047 = JR 1954,269 mit Anm. von Heinitz; KG VRS 10,138; 11,357; OLG Oldenburg DAR 1957,300; OLG Schleswig SchlHA 1958,341. Vgl. aber auch BGHSt 3,178; 14,27; BGH VRS 13,470. 460 BayObLG a.a.O.; BGH NJW 1954,1047; OLG Schleswig a.a.O. 7 Welp
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Wurde aber der Fahrer zu weiterem Trinken "ermuntert", d. h. wurde er eingeladen, freigehalten oder wurde ihm "betont zugetrunken" und wurde er dadurch veranlaßt, entgegen seiner früheren Absicht weiteren Alkohol zu sich zu nehmen, so entsteht die Abwendungsverpflichtung des Zechgenossen dennoch 461 • Dieselbe Wirkung hat das Mitfahren, sofern der Fahrer hierdurch in seinem Entschluß zum Antritt der Fahrt bestärkt worden ist462 • Besondere Aufmerksamkeit hat weiter das als Vorhandlung angesehene Ausschenken von Alkohol durch den Gastwirt gefunden. Hier hatte der Bundesgerichtshof zunächst verlangt, daß ein Gastwirt, "der einem länger verweilenden Kraftfahrer so viel Alkohol ausschenkt, daß dieser völlig fahrunfähig wird", die Fortsetzung der Fahrt bei Vermeidung strafrechtlicher Haftung wegen fahrlässiger Verletzung verhindere; zumutbar sei selbst die Verständigung der Polizei gegenüber einem Stammgast463 • In dem entschiedenen Fall hatte ein Kraftfahrer, der bei einem Blutalkoholgehalt von 3,06 %0 zurechnungsunfähig war 464 , einen Fußgänger tödlich verletzt. Begründet wird die Abwendungsverpflichtung mit der durch das Ausschenken geschaffenen Gefahr, daß der Gast als Kraftfahrer strafbare Handlungen begehen werde (a.a.O.). - Ungeteilte Zustimmung hat dieses Urteil freilich auch in der Rechtsprechung nicht gefunden. Zwar hatten sich das Kammergericht (VRS 11,357) und das OLG Düsseldorf (VerkMitt 1960, 17) dem Bundesgerichtshof in Fällen angeschlossen, in denen der Fahrer nur fahrunfähig, nicht aber unzurechnungsfähig war 465 • Hingegen wollte das OLG Karlsruhe (JZ 1960, 178 mit Anm. von Welzel) die Abwendungsverpflichtung erst dann bejahen, "wenn ein besonders hoher Grad von Fahruntüchtigkeit offensichtlich ist, so daß es geradezu die Fürsorge des Gastwirtes (!) für den Gast gebietet, an dessen 461 BayObLG a.a.O.; BGHSt 14,27; BGH NJW 1954,1048; OLG Oldenburg DAR 1957,300; OLG Oldenburg NJW 1961, 1938. - Als Zech"gemeinschaft" hat demnach eine Versammlung von Trinkern zu gelten, zu der keiner den anderen eingeladen hat, bei der jeder für sich bezahlt und nur so viel Alkohol zu sich nimmt, wie er aus eigenem Antrieb, nämlich unbeeinflußt durch Zutrinken und andere animierende Handlungen wollte. 462 KG VRS 10, 138 (Soziusfahrer) ; 11, 357. Ein Unterlassen kommt hier freilich nur dann in Betracht, wenn der fördernde Charakter des Mitfahrens erst nachträglich erkannt oder erkennbar wurde; dies ist in keiner der beiden zitierten Entscheidungen festgestellt! 463 BGHSt 4,20 = LM Nr.5 Vorbem. zu § 47 StGB mit Anm. von Hülle = NJW 1953,551 mit Anm. von v. Weber. 464 Der sinnentstellende Druckfehler ("zurechnungsfähig") a.a.O., S. 20 ist in 'BGHSt 8,426 berichtigt. Vgl. auch die in demselben Verfahren ergangene weitere Revisionsentscheidung BGH VRS 8,447. 465 Die zivilrechhlichen Konsequenzen dieser Judikatur hat das LG Heilbronn (NJW 1954,922 mit Anm. von v. Weber) gezogen: der Gastwirt haftet neben Fahrer und Halter für den eingetretenen Schaden!
1. Die Rechtsprechung
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Stelle zu handeln, weil das Schicksal des Gastes ihm in die Hand gegeben ist". Das OLG Oldenburg (NJW 1961, 1938; vgl. auch OLG 01denburg DAR 1957,300) suchte hingegen die für notwendig gehaltene Einschränkung der Gastwirtshaftung dadurch zu erreichen, daß in Fällen, in denen "sich die Mitverursachung erst über das auf einem selbstverantwortlichen Entschluß beruhende, rechtswidrige und schuldhafte Handeln eines Dritten auswirkt", nur die Schaffung einer "unangemessenen (inadäquaten) Lage oder einer besonderen, gesteigerten, Gefahr" verpflichten solle. Weil es "niemand wünschen kann", daß der Gastwirt "gleichsam zum Vormund oder Hüter seiner Gäste bestellt wird", ist nun auch der Bundesgerichtshof in einer als "Einschränkung von BGHSt 4, 20" bezeichneten Entscheidung aus dem Jahre 1963 auf eine gemäßigte Linie eingeschwenkt (BGH8t 19, 152 = LM Nr. 1 zu GaststG mit Anm.). Der Ingerenz-Gedanke sei zwar grundsätzlich anzuerkennen, dürfe jedoch nicht auf "jedes sozialübliche und von der Allgemeinheit gebilligte Verhalten" angewendet werden (a.a.O., 8.154). Da § 16 Abs. I Ziff. 3 GaststG nur den Alkoholausschank an Betrunkene untersage, d. h. an Personen, welche durch "besondere körperlichgeistige Ausfallerscheinungen" äußerlich auffallen, brauche sich der Gastwirt solange nicht um das Verhalten seiner Gäste zu kümmern, als diese noch fähig seien, "selbstverantwortlich" zu handeln (a.a.O.). Habe die Trunkenheit diese Grenze jedoch "offensichtlich" überschritten, sei mit anderen Worten "der sichere Bereich des § 51 Abs. II 8tGB" verlassen und könne dies an Hand "äußerer Anzeichen" festgestellt werden, so müsse der Gastwirt einschreiten und habe andernfalls für die von dem Gast angerichteten Erfolge strafrechtlich einzustehen (a.a.O., 8. 155 f.). Womit nun in der Tat 466 eine in ihren Auswirkungen noch kaum abzusehende Wende vollzogen ist. Denn daß eine Gefährdung des anderen, die wegen dessen Eigenverantwortlichkeit bloße "Versuchung" ist, keine Abwendungsverpflichtung begründet, geht über die von BGH8t 17,321 bei der Meineidsbeihilfe durch Unterlassen geforderten "weiteren Umstände" noch hinaus. 8elbst eine "inadäquate Gefähr466 Wie Rudolphi, S. 78 f. mit Recht bemerkt. Ob damit freilich die Ingerenz "auf ein rechtswidriges Verhalten" beschränkt werden soll (a.a.O.; Hervorhebung dort), ist keineswegs sicher. Denn wenn man die durch § 16 Abs. I Ziff.3 GaststG begründete Rechtswidrigkeit heranzieht, verfällt man lediglich dem alten Versari-Gedanken. Daß aber das Ausschenken des Alkohols rechtswidrig i. S. der Verletzungstatbestände war, deren Nichtabwendung dem Täter zum Vorwurf gemacht werden soll, hängt nicht nur von der Unzurechnungsfähigkeit des Gastes, sondern auch von der Vorhersehbarkeit dieses Zustandes zur Zeit der Vorhandlung und von der Vorhersehbarkeit der Trunkenheitsfahrt und ihres Erfolges ab. Vgl. unten S. 316 ff.
7"
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Erstes Kapitel: Dogmengeschdchte
dung", die den anderen zur Begehung einer Straftat bestimmen könnte, begründet nur dann eine Abwendungsverpflichtung, wenn durch sie die Freiheit der Willensbildung oder -betätigung aufgehoben worden ist. Man wird abzuwarten haben, ob diese einschränkende Tendenz auch außerhalb der Gastwirtshaftung zu Korrekturen des IngerenzPrinzips führen wird467 •
4. Unterlassungsmomente der Begehung Als letzte Fallgruppe seien wieder diejenigen Entscheidungen erwähnt, die sich mit der Struktur der aktiv begonnenen und passiv fortgesetzten Begehungstat befassen. Schwierigkeiten bereitet hier vor allem die Frage der Verjährung fahrlässiger Begehungsdelikte, deren Erfolg unter Umständen erst viele Jahre nach Abschluß der Aktivität eintritt. Während das Bayerische Oberste Landesgericht (NJW 1959, 900 = JR 1958,468) die Verjährung in jedem Falle mit dem Eintritt des Erfolges beginnen lassen will, stellt sich das Landgericht Stade in einer sorgfältig begründeten Entscheidung (NJW 1958, 1311) auf den Boden der sog. Tätigkeitstheorie und fragt daher nach dem Augenblick, von dem an das Unterlassen der wegen des vorhergegangenen fahrlässigen Verhaltens gebotenen Abwendung nicht mehr vorwerfbar ist. Dieselbe Frage entsteht bei der Verjährung vorsätzlicher Taten468 , bei der Bestimmung der Begehungszeit, im Hinblick auf den Stichtag eines Straffreiheitsgesetzes469 und der Anwendung des Jugend- bzw. Erwachsenenstrafrechts 470 • Ähnliche Probleme ergeben sich bei der Frage nach Tateinheit bzw. -mehrheit, wenn eine weitere strafbare Handlung während der Nichtabwendung des durch die andere Handlung geschaffenen Zustandes begangen wird471 • 467 Erwähnt sei schließlich noch die zweifelhafte Entscheidung BGHSt 3, 203 (= LM Nr.12 zu § 222 StGB mit Anm. von Krumme). Hier hatte der Angeklagte die Zuschüttung eines auf bahneigenem Gelände unbefugt angelegten Pfades veranlaßt. Da die Bewohner eines Behelfsheimes einen nicht ausreichend gesicherten Ersatzweg angelegt hatten, stürzte ein Kind in eine Einbruchsstelle und verletzte sich tödlich. Eine Ha.ftung des Angeklagten wurde verneint; denn "der rechtmäßig Handelnde braucht nicht dafür einzustehen, daß auf Grund der von ihm befugtermaßen geschaffenen Sachlage durch rechtswidriges Handeln verantwortlicher Dritter [sc. der Bewohner des Behelfsheims] eine Gefahr herbeigeführt wird" (a.a.O.). Was in diesem Zusammenhang indessen nur dann von Bedeutung wäre, wenn die Dritten den Tod des Kindes dadurch verursacht hätten, daß sie selbst diesen Weg einzuschlagen pflegten. Näher dürfte es liegen, die Problematik des Falles in der eigenen Unvorsichtigkeit des Verletzten zu sehen; vgl. die bereits oben S.77 zitierte Judikatur. 46B Vgl. OGHSt 2, 291; BGHSt 11, 345; 16, 207; OLG Köln MDR 1957, 371; OLG Celle MDR 1958,361; OLG Stuttgart NJW 1962,2311. 469 BGHSt 11, 119; LG Kassel NJW 1956,35; OLG Hamm NJW 1958, 1314. 470 BGH JR 1954,271. 471 Vgl. etwa BGHSt 8,216; 16,316; 18,26; 18,29; 18,40.
I. Die Rechtsprechung
101
Auch für die zweite, in diesen Zusammenhang gehörende Fallgruppe (vgl. oben S. 86 f.) findet sich ein Beispiel: In BGH NJW 1953, 1838472 hatte der Angeklagte gutgläubig eine Spedition von der Genehmigungsfreiheit der von dieser getätigten Interzonentransporte überzeugt. Als er die Genehmigungspflichtigkeit erkannte, unternahm er nichts, um die fortdauernden Fahrten zu verhindern. Seine Strafbarkeit wurde mit der Erwägung bejaht, daß er die "Gefahr einer bestimmten Rechtsverletzung geschaffen" habe und folgeweise zur Abwendung verpflichtet gewesen sei. Auch hier ging es somit um die Einheit des nur durch die Verbotskenntnis modifizierten Vorsatzes. IV. Zusammenfassung
überblickt man die hier ausgebreitete Fülle der Judikatur zu Fragen der Ingerenz auf dem Hintergrund der von Feuerbach zu Nagler sich vollziehenden Wandlung, so zeichnet sich in den gröbsten Umrissen eine Änderung in der dogmatischen Begründung des Prinzips ab. Während die Rechtsprechung die Eigenart dieser Fälle zu Beginn der dargestellten Zeitspanne noch kaum erkannt und allenfalls eine Harmonisierung mit den Mitteln der Ingerenz-Theorie Glaserscher Provenienz versucht hatte, tritt später die gewohnheitsrechtliche Begründung in den Vordergrund. Womit die Verpfiichtungswirkung gefährlicher Vorhandlungen nun zwar rechtsquellenmäßig legitimiert schien, in ihrem Umfang aber gleichwohl problematisch blieb. So sah sich denn auch die N achkriegsrechtsprechung immer häufiger zu Einschränkungen des als Gewohnheitsrecht vermeintlich geltenden Satzes veranlaßt, deren Tendenz deutlich auf eine materielle und am Einzelfall orientierten Würdigung der konkreten Umstände in ihrer "sozialethischen" Bedeutung abzielt. Als Fortschritt wird diese Entwicklung freilich nur der gelten lassen können, dem die strikte Bindung des Strafrichters an das geschriebene Strafgesetz als anachronistisch erscheint. Wo der Richter auf "die ("alle"!) Umstände des Einzelfalles" verwiesen wird, bewegt er sich notwendig in dem ihm unzugänglichen Bereich analoger Rechtsfindung und weicht dem "Schmerz der Grenze" (Hellmuth Mayer) durch ständige Erweiterung der für strafwürdig gehaltenen Fälle aus. Freilich liegt dies vor allem an der gesetzlichen Behandlung der Frage, der sich kaum die Einsicht abringen läßt, daß unechtes Unterlassen unter gewissen Voraussetzungen überhaupt dem Tun gleichgestellt werden sollte. Auch dieser Umstand kann indessen nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Bestrafungen wegen unechten Unterm Insoweit in BGHSt 5, 28 ff. nicht abgedruckt.
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Erstes Kapitel: Dogmengeschdchte
lassens im allgemeinen und aus Gründen der Ingerenz im besonderen im Berichtszeitrawn gewaltig zugenommen und gar zur Konstituierung der bis dato unbekannten Fallgruppe der Nichthinderung fremder Straftaten wegen vorhergegangener Gefährdung ("Versuchung") des Haupttäters geführt haben. Weder der in seiner uferlosen Weite niemals judizierte Gewohnheitssatz noch die Einzelfallgerechtigkeit der Nachkriegsjudikatur genügen daher per se den Mindestanforderungen, die im Rechtsstaat an die Berechenbarkeit und Kontrollierbarkeit strafgerichtlicher Spruchtätigkeit gestellt werden müssen. Außer der halbwegs konsolidierten Fallgruppe der unterlassenen Verkehrssicherung und den strukturellen Fragen der Begehung ist hier alles zweifelhaft und umstritten, mit einem Wort, dem höchst wechselhaften "Takt" der Gerichte überlassen. So besteht das Ergebnis einer mehr als hundertjährigen Praxis, die jeder Versuchung zu begrifflich-exakter Umgrenzung der Ingerenz hartnäckig widerstanden hat, in fühlbarer Rechtsunsicherheit und einer Fülle unbeantworteter Fragen. Bei dieser Situation wird man allen Reformversuchen, die das legislatorische Problem anders als durch Enumeration der Voraussetzungen strafbaren Unterlassens zu lösen suchen, mit Skepsis entgegentreten müssen.
Zweites Kapitel
Handeln und Unterlassen Die Dogmengeschichte der Ingerenz hat gezeigt, daß die verpflichtende Wirkung gefährlicher Vorhandlungen ganz überwiegend als Problem der unterlassungsweisen Erfüllung der auf Begehung zugeschnittenen Tatbestände verstanden wird. Seit d.en Arbeiten von Krug, Glaser und Adolf MerkeP läßt sich diese Prämisse nun nicht mehr durch ihre unmittelbare Evidenz begründen; denn die Ingerenz beansprucht in dem geläufigen Dualismus von Handeln und Unterlassen eine eigentümliche Doppelstellung: während das unechte Unterlassungsdelikt im Normalfall einen durch täterfremde Kräfte bewirkten Erfolg voraussetzt2 , geht diese Wirksamkeit bei den Ingerenz-Fällen wie auch bei den Begehungsdelikten von dem Täter selbst aus. Für ein ganzheitlich-intuitives Denken mag es daher naheliegen, die strafwürdigen Fälle den Begehungsdelikten zuzuschlagen und ihre sachliche Problematik unter deren dogmatischen Aspekten abzuhandeln. Nun hat eine Erörterung dieser zuletzt von Lampe 3 wieder aufgenommenen Problematik - sie wird in diesem Kapitel unten sub D. behandelt - damit zu rechnen, daß die Abgrenzung von Handeln und Unterlassen seit den Arbeiten von Eberhard Schmidt 4 im Grundsatz fragwürdig geworden und bis heute umstritten geblieben ist5 • Die Bestimmung der differentia specifica der bei den Begriffe ist jedoch Voraussetzung der Frage nach dem systematischen Standort der Ingerenz-Problematik und besitzt zudem eine eminent praktische Bedeutung. Die Arbeit wird sich daher zunächst der Abgrenzungsfrage um Vgl. oben 1. Kap. C. "Die ,Prähistorie' der Unterlassungsdelikte besteht bekanntlich darin, daß erfolgsfördernde Kräfte immer schon am Werk sind" (Androulakis, S. 94; Hervorhebung dort). Vgl. auch Arthur Kaufmann, H. Mayer-Festschrift, S.105: Unterlassen ist "Indienstnehmen von Fremdkarusalität". 3 Lampe, Ingerenz oder dolus subsequens?, ZStW 72 [1960], 93 ff. 4 Arzt im Strafrecht, 1939, S. 75 f.; MonSchrKrimBiol. 33 (1942), 85 ff.; Strafrechtspraktikum (3), 1949, S. 6 f.; Lehrkommentar zur StPO I (2), 1964, Rd.-Nr.375 (S. 211). 5 Aus letzter Zeit: Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 183 ff.; Arthur Kaufmann, dortselbst, S. 200 ff.; Roxin, ZStW 74 [1962], 411 ff.; Androulakis, S. 52 ff.; Ranft, JuS 1963, 340 ff.; Spendel, JuS 1964,14 ff.; Bertel, JZ 1965, 53 ff. 1
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
so mehr zuzuwenden haben, als die Ambivalenz mancher Konstellationen bereits Rückschlüsse auf die Gleichwertigkeitsfrage zuläßt. A. Herkömmliche Abgrenzungstheorien I. Die Körperbewegung
Die herrschende und zunächst von keiner Seite angefochtene Lehre stellte mit dem Merkmal der Körperbewegung auf das äußerlich Sichtbare der menschlichen Handlung ab 6 und gewann hiermit ein Kriterium, das in offenbar idealer Weise die Identifizierung jedes menschlichen Verhaltens ermöglichte; denn ob ein Mensch in einer bestimmten Situation eine Körperbewegung vorgenommen oder eine solche unterlassen hat, läßt sich in einem Raum-Zeit-System auf Grund wertfreier Beobachtung des sichtbaren Geschehens höchst eindeutig erkennen. Mit dieser einleuchtenden Bestimmung hatte es für lange Zeit sein Bewenden. So konnte Eberhard Schmidt noch 1932 lapidar das Tun als die "mittels willkürlicher ... Körperbewegung erfolgte Verursachung ... eines Erfolges"7, Unterlassen als "willkürliche Nichtvornahme einer Körperbewegung"8 definieren. Eine Zeit, der die Abkehr von den Rudimenten naturwissenschaftlichen Denkens bei der juristischen Begriffsbildung zum Leitwort geworden war 9, mußte nun Anstoß an der naturalistischen Wertfreiheit des genannten Abgrenzungskriteriums nehmen; an seine Stelle sollte ein Begriff treten, der sich an den geisteswissenschaftlichen Wertkategorien legitimieren könnte. 11. Der "soziale Sinn"
Als einer der ersten hat sich wiederum Eberhard Schmidt der Wertfreiheit des überkommenen Kriteriums kritisch angenommen 10 • Da das Recht es nicht mit "beliebig aus dem Geschehensganzen isolierbaren Körperbewegungen", sondern mit menschlichen Handlungen in 6 Nachweise bei Eb. Schmidt, Arzt, S.75 N.29, 79 N.33; vor allem Beling, Lehre vom Verbrechen, 1906, S.9; ders., Grundzüge (11), 1930, S.12; Finger, Lehrbuch, Bd. I (2), 1904, S.273, 286; R. v. Hippel, Dt.StrR., Bd.2, 1930, S. 126 f.; Meyer - Allfeld, Lehrbuch (9), 1934, S. 101. 7 v. Liszt - Schmidt, S. 161. 8 a.a.O., S. 170. 9 Erinnert sei an die programmatischen Schriften von Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930; Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935; Mittasch, Die Auswirkungen des wertbeziehenden Denkens in der Strafrechtssystematik, 1939. 10 Erstmals im "Arzt im Strafrecht", 1939, S. 75 f.; vgl. ferner die in Note 4
A. Herkömmliche Abgrenzungstheorien
105
ihrer "sozialen Sinnhaftigkeit" zu tun habe, müsse dieser soziale Sinn sich auch bei der Unterscheidung der bei den Verhaltensformen bewähren. "Ob für die Beurteilung eines Verhaltens der Gesichtspunkt ,positiver Erfolgsherbeiführung' (und damit dann der Tatbestandsverwirklichung durch sogen. ,positives Tun') oder der Gesichtspunkt der ,Nichtabwendung des Erfolges' (und damit dann der Tatbestandsverwirklichung durch sogen. ,Unterlassen': unechte Unterlassungsdelikte) zu verwenden ist, richtet sich nicht nach dem äußeren Bilde des Verhaltens, sondern nach dem sozialen Sinn, den es erfüllt. Nicht ,Bewegung des Körpers' ... einerseits, ,Nichtbewegung', ,Stillehaltung' andererseits sind maßgebend, vielmehr muß geprüft werden, was den sozialen Sinn eines Verhaltens ausmacht l l ." Von diesem Standpunkt aus wird die Körperbewegung in der Tat doppeldeutig. Denn einerseits kann sich nach dieser Meinung der soziale Sinn einer aktiven Erfolgsbewirkung in einem Unterlassen verfangen. Wenn etwa die Mutter Fliegengift auf den Boden stellt und ihr Kind davon trinkt1 2 , oder der Arzt bei einer Operation den Tod des Patienten verursacht1 3 , so liegt der soziale Sinn nach Eb. Schmidt im Unterlassen der Erfolgsabwendung. Andererseits kann die Anschauung der sozialen Sinnhaftigkeit eines menschlichen Verhaltens dieses auch gegebenen Nachweise. Eine eingehende Darstellung und Kritik seiner Lehre findet sich bei Grünwald, Diss. 1957, S. 28 ff. - Schon vor ihm hatte Hellmuth Mayer, StrR.d.dt.Volkes, 1936, S. 213 ff. eine "wertende" Unterscheidung von Handeln und Unterlassen gefordert. Es gehe nicht um die Unterscheidung von Bewegung und Nicht-Bewegung, sondern um den Wertungsunterschied als positiv oder negativ (S.214). Nur für ein "verkehrtes analytisches Denken" (S.215) sei das Verhalten einer Mutter, die ihr Kind verhungern lasse, eine Unterlassung, während es sich unter Wertaspekten als "Handlung" darstelle (vgl. jetzt auch Studienbuch, S. 75 f.). Bei der Grenzziehung sei von den von der Allgemeinheit als positives Tun gewerteten Verhaltensweisen auszugehen und zu fragen, wann der einzelne in ähnlich "inniger" Weise mit dem schadensstiftenden Vorgang verbunden sei (a.a.O.). Nicht die "naturalistische Struktur der Handlung" als Tätigkeit oder Untätigkeit (H. Mayer, Strafrecht, 1953, S.I11, 113), sondern ein am Sprachgebrauch orientiertes Werturteil entscheide. - Mit der im Text referierten Ansicht stimmt Mayer nur in der Ablehnung naturalistischer Begriffsbildung überein. Denn da für den Begriff der Unterlassung nur Verhaltensweisen von Personen übrig bleiben, die mit dem schadensstiftenden Vorgang nicht innig verbunden sind, umfaßt der Begriff "Handlung" alle strafbaren Fälle. 11 Eb. Schmidt, Arzt, S. 78 f.; vgl. ferner MonSchrKrimBiol. 33 [1942], 88 f. und neuestens Lehrkommentar zurstPO I (2), Rd.-Nr.375 (S.211). - Neuestens sucht auch Geilen (JZ 1968, 151) der Problematik der OrgantransplantaUon dadurch Herr zu werden, daß er das Abstellen der Reanimierungsmaschine seinem "sozialen Sinn" nach als Unterlassen versteht; dagegen weiter im Text. 12 Arzt, S. 79 und Strafrechtspraktikum, S. 6 f. 13 Arzt, S. 78 ff., 159 ff. et passim; MonSchrKrimBiol. 33 [1942], 85 ff.
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
dann als Tun ausweisen, wenn der Erfolg durch täterfremde Kräfte aktiv bewirkt worden ist14 , mit der Folge, daß es auf seine GarantensteIlung für das bedrohte Rechtsgut nicht mehr ankommt. Nun wird diese Lehre bereits mit der Erwägung widerlegt, daß ein in sich so undifferenziertes und konkretisierungsbedürftiges Merkmal wie das des sozialen Sinnes überhaupt nicht imstande ist, verifizierbare Unterscheidungen von einiger Genauigkeit zu ermöglichen. So zeigt denn auch die Erörterung der kritischen Novokain-, Ziegenhaarund Radfahrerfälle, daß auf dieser Grundlage keine Verständigung möglich ist. Schon Engisch hatte daher die Befürchtung geäußert, daß der Begriff des "sozialen Sinnes" weit eher der "natürlichen Intuition" als exakter Erkenntnis zugänglich seP5. Man wird im übrigen in der Annahme nicht fehlgehen, daß es Eb. Schmidt bei dieser Theorie um eine Harmonisierung der Abgrenzungsfrage mit der gleichfalls von ihm begründeten sozialen Handlungslehre ging. Diese beruht auf der Überzeugung, daß menschliches Handeln nicht primär vom "Individualstandpunkt" des handelnden Ichs, sondern vom "Sozialstandpunkt" des jeweils anderen her zu verstehen und zur Grundlage des Systems zu machen seP6. Insofern bemüht sich die soziale Handlungslehre um einen Handlungen i. e. S. und Unterlassungen umfassenden systematischen Grundbegriff, der dem Charakter des menschlichen Verhaltens als sozialer Leistung oder Fehlleistung gerecht werden soll. Schon hieraus ergibt sich indessen, daß die soziale Handlungslehre als solche zu der fraglichen Unterscheidung der beiden Formen menschlichen Verhaltens nichts beizutragen vermag. Denn weder sie noch eine irgend anders geartete Handlungslehre kann daran vorbeigehen, daß die aktive Erfolgsbewirkung durch positiven Energieeinsatz in einem Teil der strafbaren Fälle - die Körperbewegungstheorie definiert diese als "Tun" - tatsächlich zur menschlichen Handlung gehört. Ob man ihr Wesen in dieser aktiven Wirksamkeit erschöpft sieht, ob man "soziale" oder "finale" Aspekte einbezieht, in jedem Falle verbleibt die "natürliche" Wirksamkeit aktiven Bewirkens dem Handlungsbegriff. Jede Berufung auf die von Eb. Schmidt u. a. behauptete Notwendigkeit "sozialer" Betrachtungsweise geht daher in die Irre, wenn daraus 14 Diese letzte - von Eb. Schmidt selbst nicht gezogene - Konsequenz ergibt sich zwingend aus seiner Prämisse. 15 MonSchrKrimPsych. 30 [1939], 414. Ähnlich verwirft Roxin, ZStW 74 [1962], 418, 426 die getroffenen Unterscheidungen als "irrationales Gefühlsurteil". 16 Maihofer, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 158; vgl. auch Jescheck, dortselbst, S. 139 ff.
A. Herkömmliche Abgrenzungstheorien
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die Forderung nach einer auf die "soziale Sinnhaftigkeit" Bedacht nehmende Unterscheidung von Handeln und Unterlassen hergeleitet wird17 • 111. Wertungstheorien Das Unbehagen an den vermeintlich naturalistischen Unzulänglichkeiten der Körperbewegungstheorie hat eine Reihe von anderen Autoren zu Abgrenzungsvorschlägen inspiriert, die mit Eb. Schmidt in der Forderung nach wertender Unterscheidung der Handlungsformen übereinstimmen, im übrigen aber eigene Wege gehen. So will Mezger an die Stelle der "von rein äußerlichen Anhaltspunkten her"18 gewonnenen "Tatsachen-" eine "Wertungsfrage"19 setzen, die darauf geht, "wogegen der rechtliche Vorwurf sich jeweils richtet"20. Diese Verhaltensform stehe "im Vordergrund"21. Auch Maurach warnt vor einer "Einzelwertung" der fraglichen Vorgänge und will bei grundsätzlicher Skepsis gegenüber einheitlichen Grundsätzen 17
Nur diesem Mißverständnis ist es zu verdanken, daß vielfach Nagler,
v. Hippel und Sauer für die Gegenmeinung in Anspruch genommen werden.
So hatte Sauer, Grundlagen, S. 418 f. das "natürliche" Handeln qua Körperbewegung zwar in "das gänzlich abseits liegende Gebiet der Naturwissenschaften" verwiesen. Auch ihm ging es indessen nur um einen Handlungsbegriff i. w. S. Vgl. auch noch Sauer, in Frank-Festgabe I, S. 212 und GS 114 [1940], 295. - Wie der Text auch Böhm, Diss. 1957, S.24 und Arthur Kaufmann, H. Mayer-Festschrift, S. 102 ff. IS JZ 1958, 281. 19 a.a.O. und StudB. AT (9), 1960, S.76; zust. Zimmermann, NJW 1952, 1322. 20 StudB., a.a.O. 21 JZ 1958, 281. - Man wird es kaum als Empfehlung dieser Ansicht gelten lassen können, wenn Blei (in Mezger-Blei, StudB. AT (10), 1963, S.74f.) bei wörtlicher übernahme der von Mezger, StudB. AT (9), 1960, S. 76 geschriebenen Sätze in dem bekannten Ziegenhaarfall (RGSt 63, 211; dazu unten S. 120 f.) zu dem der Mezgerschen Ansicht diametral entgegengesetzten Ergebnis kommt! Heißt es bei Mezger (a.a.O.): "Da aber der Vor w u r f gegen den Angeklagten sich nicht etwa gegen das Verarbeitenlassen von chinesischen Ziegenhaaren überhaupt, sondern nur gegen die Hingabe unter U n t e r las s u n g der Des i n f e k t ion richtet, muß der Fall aus s c h 1 i e ß 1 ich unter dem Gesichtspunkt des Unterlassungsdelikts geprüft und entschieden werden" (Hervorhebung dort), so schreibt nunmehr Blei (a.a.O., S. 75): "Da der Vor w u r f sich aber nicht gegen das Verarbeitenlassen von chinesischen Ziegenhaaren überhaupt, sondern gegen die Begründung der Seuchengefahr durch Aus gab e der Ziegenhaare und n ich t gegen eine b 1 0 ß e U n t e r las s u n g der Des i n f e k t ion richtet ... , ist die Tat allein unter dem Blickwinkel einer Begehung durch akt i v e s Tun zu würdigen" (Hervorhebung dort). Und unisono: "D i e Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungstat ist also keine Tatsachen-, sondern eine Wertungsfra g e" (Mezger, a.a.O., S.76; Mezger - Blei, a.a.O., S.75; Hervorhebung dort). In der 11. und 12. Auflage des studB. AT (1965, 1967) hat Blei seine Ansicht und ihre Begründung beibehalten (S.79). - Nach allem hat es den Anschein, daß bei der "Wertung" eine gewisse Kontingenz unvermeidlich ist.
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
jeweils der Lösung den Vorzug geben, "die den bei Begehung und Unterlassung häufig verschieden gearteten Unrechts gehalt der Tat voll ausschöpft"22. In ähnlichem Sinne richtet sich der Bundesgerichtshof gegen die "formale überbetonung" einzelner Verhaltensweisen und läßt es jeweils auf den "Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit" ankommen 23 . Andere Autoren stehen der grundsätzlichen Unterscheidbarkeit von Handeln und Unterlassen weniger skeptisch gegenüber, anerkennen jedoch zweideutige Fälle, in denen das Schwergewicht der rechtlichen Beurteilung meist beim aktiven Tun liege 24 . Als Bestimmung des Artunterschiedes der beiden Verhaltensformen lassen sich die referierten Ansichten nun nicht verstehen; denn da der "rechtliche Vorwurf" als Rechtswidrigkeits- und Schuldurteil die vollzogene Scheidung der beiden Begriffe bereits voraussetzt 25, liefen sie auf eine bloße Tautologie hinaus. Versteht man jene Lehren hingegen als Formulierung von Kriterien, die eine Auswahl unter den nach anderweiten Maßstäben identifizierten Handlungen und Unterlassungen ermöglichen sollen, so tragen sie zu der Abgrenzungsfrage offenbar nichts bei 26 . Denn wenn ein "Gesamtkomplex" menschlichen Verhaltens Handlungen und/oder Unterlassungen umfaßt, so kann eine Auswahl nach dem Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit nur dort stattfinden, wo vorwerfbare Handlungen und/ oder Unterlassungen zusammentreffen. Dies aber ist Aufgabe der Konkurrenzlehre. Schließlich legen manche Formulierungen die Deutung nahe, daß einer Wertung des Verhaltens als Tun im Zweifel dann der Vorzug zu geben sei, wenn mit Hilfe anderer Kriterien deswegen keine Eindeutigkeit zu erzielen ist, weil dasselbe Verhalten sowohl als Tun wie auch als Unterlassen erscheint: in dubio pro commissione21 • Falls nun die behauptete Zweideutigkeit nicht eine solche der Theorie selbst ist, 22 AT, S.494. BGHSt (GS) 6, 59; vgl. auch BGHSt 11, 1 und OLG Stuttgart FamRZ 1959, 74. 24 Exner, Frank-Festgabe I, S. 586; Schänke - Schröder, Vorbem. Rd.-Nr.95; vgl. auch Granderath, S. 30 f.; Androulakis, S. 52 ff.; ähnliche Formulierungen bei SpendeI, Eb. Schmidt-Festschrift, S.194 und Arthur Kaufmann, dortselbst, S. 212; gegen die Ausführungen von Baumann, Lehrbuch (3), 1964, S. 217 f., 212 f. vgI. Roxin, ZStW 74 [1962],417 N.22. 25 Ebenso Grünwald, Diss. 1957, S. 21 ff.; Böhm, Diss. 1957, S.17 ff. (23); Roxin, a.a.O., S. 415, 417 f. 26 Man vergleiche etwa Schönke - Schröder, Vorbem. Rd.-Nr.95 mit Rd.Nr. 27 a. 21 So vor allem SpendeI und Arthur Kaufmann, a.a.O.; Modifizierungen bei SpendeI, JuS 1964, 14 ff.; gegen die im Text wiedergegebenen Formulierungen auch Roxin, a.a.O., S.415. 23
B. Handeln und Energieeinsatz
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bleibt nur die Möglichkeit, daß ein und dasselbe Verhalten unter noch zu klärenden Voraussetzungen zugleich als Tun und als Unterlassen angesehen werden darf. Dann aber kann die Eliminierung einer Verhaltensform wiederum nur mit Hilfe heteronomer Konkurrenzgesichtspunkte erfolgen; insofern bieten diese Formulierungen nichts Neues. Denkbare Rückschlüsse von der Strafbarkeit oder Straflosigkeit des als Tun angesehenen Verhaltens auf seine Straflosigkeit oder Strafbarkeit qua Unterlassung enthalten das gesuchte Abgrenzungskriterium gleichfalls nicht, sondern setzen es voraus. B. Handeln und Energieeinsatz I. Methodische Postulate
Der Ansatzpunkt für eine Lösung der streitigen Abgrenzungsfrage ergibt sich aus einer methodischen Besinnung. Die Definition eines Begriffes durch Angabe des genus proximum und der differentia specifica geschieht im Wege analytischer Abstraktion, d. h. unter Absehung von unwesentlichen Merkmalen des zu definierenden "natürlichen" Stoffes. Jede Definition sieht sich daher sogleich auf die Frage nach dem "Wesen" ihres Gegenstandes verwiesen. Diese aber läßt sich offenbar nur mit Hilfe materialer Gesichtspunkte beantworten, denn "ohne ein Prinzip der Auswahl verliert die Trennung des Wesentlichen vom Unwesentlichen ihren Sinn"28. Der leitende Gesichtspunkt, von dem aus die Wesensbestimmung allererst ihren Sinn gewinnt, läßt sich nicht dem natürlichen und daher begrifflich amorphen Stoff als definiendum selbst entnehmen, sondern bedarf einer Legitimierung an außerhalb seiner selbst liegenden materialen Gesichtspunkten 29 . Insofern ist der Kritik an der Körperbewegungstheorie zuzugeben, daß geisteswissenschaftliche Begriffsbildung teleologisch, d. h. mit Rücksicht auf die leitenden Wert- und Zweckgesichtspunkte derjenigen besonderen Wissenschaft zu erfolgen hat, in deren Dienst die Definition stehen soll; der betreffende Begriff ist daher von demjenigen Bedürfnis abhängig, welches seine Konstituierung verlangt30 • Aus dieser methodischen Gewißheit ergibt sich nun aber keineswegs die von manchen Autoren gezogene Folgerung, daß das mit der Be28
Rickert, Lehre v. d. Definition (3), 1929, S.40 et passim.
29 Rickert, a.a.O., S.37, 41; Grilnhut, Begriffsbildung u. Rechtsanwendung
i. StrR., 1926, S.12 et passim; vgl. auch Lask, Ges. Schriften I, 1923, S.320, 323, auf den sich Spendet, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 191 N.38 beruft, ferner Engisch, Weltbild, S. 9 ff. 30 Rickert, a.a.O., S. 31, 41; GTÜnhut, a.a.O., S. 12.
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
wegung vordergründig in die Erscheinung tretende Moment schon deswegen zur Begriffsbildung ungeeignet sein müsse, weil es abmessendem Beobachten zugänglich ist. "Denn das Sichtbare trügt nur oberflächlich" (Hans Henny Jahnn). Der vermißte "soziale Sinn" wird sich auch in einem solchen Kriterium verfangen, sofern es dem nächsten systematischen Leitgesichtspunkt genügt, in dessen Dienst die Unterscheidung von Handeln und Unterlassen stehen SOll31. Die Untersuchung wird sich daher dieser Frage zuzuwenden haben. 11. Das Energiemoment
Die realobjektive Körperwelt als Bestand von Materie unterliegt in der Zeit Veränderungen, die der "Satz vom Grund" als Wirkungen von Ursachen begreifen läßt, wenn die Wirkungen nach den empirisch erkannten Kausalgesetzen aus den Ursachen vollständig erklärt werden können32 . Hierbei setzt die Hervorbringung einer Veränderung der realobjektiven Körperwelt eine gleichfalls dieser realobjektiven Welt zugehörende Kraft als Ursache voraus, da jene das Medium ihrer Wirksamkeit ist33 . Somit setzt jede Veränderung der Körperwelt eine reale, nämlich in dieser Welt wirkende und bewirkende Kraft voraus, deren Vermögen als Energie bezeichnet werden kann34 . Betrachtet man nun den Menschen in seiner Beziehung zu jenen Veränderungen der realobjektiven Außenwelt, die im Hinblick auf seine Leistungen und Fehlleistungen Erfolge genannt werden, so ergibt sich offenbar ein Dualismus. Denn entweder wirft sich der Mensch in der Weise zum Urheber dieser Erfolge auf, daß er selbst Kausalverläufe in Gang setzt oder abändert35 . Oder er verhält sich gegenüber anderweit in Gang gesetzten Kausalverläufen bei möglicher Kenntnis seiner Interventionsmöglichkeiten rein passiv. Da der "Einbruch" in die kausal determinierte Körperwelt nur durch Einwirkung auf die "äußere Wirklichkeit" der Dinge geschehen ~ann36 und somit die Freisetzung 31 Auch Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 192 f. und JuS 1964, 14 wendet sich gegen eine Umdeutung der "Realitäten"; ähnlich auch Arthur Kaufmann, H. Mayer-Festschrift, S.102. 32 Zum folgenden E. A. Wolff, S. 11 ff. 33 Ähnlich Aldosser, Unterlassungen, S. 81 f. Vgl. auch E. A. Wolff, S.60: "Indem wir den einen Zustand als notwendige Folge des vorhergehenden Zustandes denken, erklären wir die Veränderung als Wirkung einer Kraftentfaltung" ; vgl. dort auch S. 12 N. 4. 34 Vgl. Aldosser, Unterlassungen, S. 81 ff.; Peterson, Untätigkeit und Energie, 1911, S.1O et passim; Androulakis, S.53 bei und in N. 172; ferner unten S.I71 ff. 35 Vgl. E. A. Wolff, S.9, 21. 36 E. A. Wolff, S.28; dort auch S.12 N.4.
B. Handeln und Energieeinsatz
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körperlicher37 Energie voraussetzt, läßt sich der Unterschied der beiden Fallgruppen durch die Begriffe "positiver Energieeinsatz" und Aktivität einerseits, "Nichteinsatz von Energie" und Passivität andererseits umschreiben. Hinter dieser Differenz der menschlichen Beziehungen zu Außenweltserfolgen verbirgt sich ein Unterschied "fundamentaler" Art38 • Denn während man den Menschen im Falle bloßer Passivität aus dem Geschehensablauf "hinwegdenken" kann, ohne daß sich an der Gestaltung der realobjektiven Wirklichkeit irgendetwas änderte 39 , weist die Änderung der Welt bei einer Aktivität des Menschen stets schon auf ihn selbst zurück. Dieser Bezug ist in der sog. Indizwirkung tatbestandsmäßigen "HandeIns" und dem herkömmlichen Dualismus des Verbrechenssystems bereits mitgedacht und erscheint in der Tat als "selbstverständlich"40; denn der Mensch ist bei der Handlung "in einem unvergleichlichen Sinne Urheber des Geschehens, d. h. eben jener, der solches Geschehen als sein Geschehen, seinen Vollzug in Szene setzt"41. Es wäre nun offenbar sinnwidrig, die Begriffe von Tun und Unterlassen anderen als den beschriebenen Grundgegebenheiten zuzuordnen. Denn wenn der aktive Einbruch in die kausal festgelegte Welt vermöge der Bewirkensqualität der energievollen Kraftentfaltung stets schon auf seinen Urheber zurückweist und den Erfolg als "sein Werk" erkennen läßt, während die Änderung der Außenwelt bei bloßer Passivität des Menschen nur mit Hilfe besonderer Zurechnungskriterien mit ihm verbunden werden kann, so unterscheidet das Merkmal des "positiven Energieeinsatzes" die Verhaltensformen teleologisch mit Rücksicht auf denjenigen "fundamentalen" Wertgesichtspunkt, der sich in dieser Bewertung durchsetzt. Handeln kann somit als diejenige Verhaltensform definiert werden, durch die positive Energie in Richtung auf ein Gut eingesetzt wird, während Unterlassen als dasjenige Verhalten gilt, bei dem eine solche 37 Die Interferenz-Energie genügt als bloßes Internum des denkenden Menschen dieser Anforderung nicht. 38 So auch E. A. WoZft, S.35, 52, der sich im übrigen um einen umfassenden, d. h. auch das dem Tun gleichwertige Unterlassen einschließenden Bewirkensbegriff bemüht. Vgl. auch Arthur Kaufmann, a.a.O., S. 104. 39 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 57 ff. (61 ff.) u. E. A. Wolff, S.35. 40 Armin Kaufmann, S. 63. - Es geht an dieser Stelle nicht um die bereits berührte Frage, ob der Mensch für sein Handeln im Gegensatz zum Unterlassen "kausal" ist (vgl. oben S. 47 ff.), gemeint ist vielmehr die "Verweisung", die von dem realen Außenweltserfolg vermöge des aktiven Bewirkens auf die Handlung (und damit auf ihren Urheber) zeigt. 41 otto Janssen, Das Bewirkensgefüge der menschlichen Handlung und das Problem der Freiheit, 1958, S.7; zitiert nach Androulakis, S.81 bei N.295.
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
Energie gegenüber einem anderweit in Gang gesetzten Kausalverlauf nicht aufgebracht wird42 ,43.
III. Einzelheiten: Kraftentfaltung und Bewegung Die Einzelheiten dieser Bestimmung ergeben sich aus dem angenommenen Prinzip. Da der Einsatz von Energie an der Bewegung sichtbar wird 44, erschöpft die eingangs referierte Körperbewegungstheorie praktisch das Gros der Fälle, was ihre Zugkraft hinreichend erklären mag. Hat sich der Täter daher auf ein gleichsam punktuelles Eingreifen in die Außenwelt beschränkt, so ist sein Verhalten an der Körperbewegung 42 Welzel (Dt. StrR., S.196) stimmt mit dem Text wohl auch methodisch überein, wenn er die Unterscheidung der Verhaltensformen auf deren Kausalität bezieht: "Hat der Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg ... ver urs ach t, ist ein Begehungsdelikt verwirklicht. Fehlt dagegen dem deliktischen Verhalten die Kausalität für den Erfolg, kommt nur ein Unterlassungsdelikt in Betracht" (Hervorhebung dort). Vgl. auch LackneTMaassen, vor § 1 Anm. I 1 b, wonach der Unterlassende dadurch vom Handelnden unterschieden ist, daß jener "nicht in einen Kausalverlauf eingreift". Ähnlich SchwaTz - DTeheT, vor § 1 Anm. D. Ferner AndToulakis, S.55: "Der Mensch nimmt gegenüber einer an ihn im Rahmen seiner Situation adressierten Energieeinsatzmöglichkeit Stellung, indem er sie entweder annimmt und sich für ihre Verwirklichung einsetzt oder es vorzieht, sie nicht anzunehmen, sich gegen sie auflehnt. Bei Annahme und Einsatz der entsprechenden Energie handelt der Mensch; bei Zurückweisung und Nichteinsatz der (der Annahme) entsprechenden Energie läßt der Mensch die in Frage stehende Handlung. Handeln und Lassen, Handlung und ,Lassung', sind die zwei Grundmodi des menschlichen Verhaltens als durchgeführter Stellungnahme an einer im Rahmen der Situation aktualisierten Energieeinsatzmöglichkeit" (Hervorhebung dort). 43 Auch Engisch, MonSchrKrimPsych. 24 [1933], 237 ff.; MonSchrKrimBiol. 30 [1939], 414 ff. (424) bestimmt Handeln als "Energieeinsatz in einer bestimmten Richtung" und Unterlassen als "Nichteinsetzen von Energie". Er folgert dies aus der "größeren Zurückhaltung", mit der das Recht Handlungen gebiete. Denn da bei der Verbotserfüllung stets unendlich viele weitere Betätigungsmöglichkeiten offen blieben, während bei der Gebotserfüllung alle anderen Handlungsmöglichkeiten entfielen, könne das Recht den einzelnen nicht über Gebühr mit Geboten in Anspruch nehmen. "Das Leben jedes Menschen stellt gewissermaßen eine Handlungslinie dar, bei der unendlich vieles links und rechts als nicht getan, als unterlassen liegen bleiben muß und darf und in jedem Augenblick ein und nur ein einziges Tun als zu vollziehend auszuwählen ist" (MonSchrKrimBiol. 30 [1939], 423). Engisch verkennt jedoch, daß sich die Zurückhaltung in der Auferlegung von Geboten erst dann konstatieren läßt, wenn die Verhaltensformen zuvor begrifflich unterschieden worden sind. Denn Engisch selbst hat dargelegt, daß sich die Begriffe von Handeln und Unterlassen nicht aus den Begriffen von Verbot und Gebot deduzieren lassen, sondern umgekehrt eine Norm dann Verbot ist, wenn das anbefohlene Verhalten Unterlassen und dann Gebot, wenn es Tun ist (MonSchrKrimPsych. 24 [1933],239; MonSchrKrimBiol. 30 [1939], 424; JZ 1962, 189). - Vgl. auch Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 257: "An der Handlungsnatur des Gesollten erweist sich die Norm als Gebot, an der Unterlassungsnatur des Sollensinhalts als Verbot." 44 Engisch, MonSchrKrimBiol. 30 [1939], 423 N.28.
B. Handeln und Energieeinsatz
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als "Tun" erkennbar, weil es den Erfolg bewirkt hat oder zu bewirken geeignet war. Freilich wird der Energieeinsatz an der Bewegung lediglich sichtbar; trifft er auf einen körperlichen Widerstand, so ist die "regungslose" Kraftentfaltung nach der hier vertretenen Lehre gleichfalls Tun. Will etwa ein Mörder sein Opfer erwürgen, so ist Bewegung nur diejenige Tätigkeit, die in der Verengung des Griffs besteht; ist aber die Tat in der Weise zu einem "Stillstand" gekommen, daß der jetzt erreichte Zustand der Beklemmung lediglich aufrechterhalten werden muß, um den Erstickungstod des Opfers herbeizuführen, so verbirgt sich hinter der "Regungslosigkeit" eine vielleicht besonders intensive Form der Kraftentfaltung 45 • Zusammen mit der Bewegung bildet diese daher vermöge der Kontinuität der aufgebrachten Energie eine "natürliche Einheit", die in toto und in jedem ihrer Momente Tun ist. Aus diesem Grunde ist die Aufgabe der Kraftentfaltung auch nicht Gegenaktion (§ 46 Ziff. 2 StGB), sondern Unterlassung der Aktion selbst (§ 46 Ziff.l StGB). Bei ausschließlichem Gebrauch der natürlichen Kräfte der menschlichen Physis wird dies als selbstverständlich gelten können. Werden diese jedoch durch Kräfte der außermenschlichen Natur, insbesondere aber durch technische Vorkehrungen potenziert, so ergeben sich Übergangsformen des menschlichen Verhaltens, die die hier getroffene Unterscheidung als gekünstelt und lebensfremd erscheinen lassen könnten. Dieses Phänomen beruht auf der Diskrepanz, die zwischen der menschlichen Steuerungstätigkeit und dem durch heteronome Energien des technischen Potentials bewirkten Effekt besteht46 • Man denke an den Fall, daß eine elektrische Kreissäge entweder durch das einmalige Herumlegen eines Kippschalters in Gang gesetzt oder aber durch kontinuierlichen Druck auf einen mit einem Federwiderstand versehenen Knopf in Gang gehalten werden muß. Nach dem Vorangegangenen ist das Tun im ersten Fall mit der Bewegung abgeschlossen, während es im zweiten Fall vermöge der Kontinuität der Kraftentfaltung fortdauert. Kommt nun eine Person zu Schaden, deren Verletzung zur Zeit des Ingangsetzens der Maschine "riskiert" 45
Ähnliche Beispiele bei Hellmuth Mayer, StrR.d.dt.Volkes, 1936, S. 214 f.;
ders., StrR. AT, 1953, S. 113 f.; ders., Studienbuch, S.76.
46 Gegenwärtig steht weder die Problematik der eine "soziale Sinneinheit" bildenden "Verhaltenskomplexe" noch die Doppeldeutigkeit "komplexen" fahrlässigen Verhaltens zur Erörterung. Denn in beiden Fällen erschwert nicht das Energiekriterium, sondern entweder seine Komposition mit Passivität oder seine Ambivalenz die Identifizierung des betreffenden Verhaltens. Vgl. dazu unten sub C. Im Einzelfall überschneiden sich diese Aspekte freilich, wie etwa beim "Autofahren".
8 Welp
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
werden durfte, so wird der verantwortliche Arbeiter in Fall 2 wegen eines fahrlässigen Begehungsdelikts zur Rechenschaft gezogen, wenn er die gehörige Aufmerksamkeit später hat fehlen lassen. In Fall 1 kommt hingegen nur ein fahrlässiges Unterlassungsdelikt in Betracht, weil das Tun im Rahmen des erlaubten Risikos blieb. - Dieselbe Erscheinung ergibt sich beim Betrieb der modernen technischen Verkehrsmittel. Wenn ein Zug oder eine Straßenbahn durch Betätigung der notwendigen Schalter, Hebel, Räder etc. auf eine bestimmte Geschwindigkeit gebracht worden ist und nunmehr "von selbst", d. h. durch den Antrieb der keiner weiteren Steuerung bedürfenden heteronomen Energien, in Bewegung bleibt, so kann ein Unfall, der zur Zeit des Ingangsetzens riskiert werden durfte, nur auf ein Unterlassen des Zugführers zurückgeführt werden 47 • - Unerschöpfliches Anschauungsmaterial bietet vor allem der Betrieb eines Kraftfahrzeugs. Während frühere Generationen das "Antreiben eines Automobils"48 als ModeUfall einer rechtmäßigen Vorhandlung im Sinne der Ingerenz betrachtet und die strafrechtliche Verantwortlichkeit daher an das Unterlassen geknüpft haben 49 , scheint man heute eher geneigt zu sein, bei einer "Gesamtwertung des Verhaltens" dem positiven Tun den Vorzug zu geben50 • Die zuletzt genannte Ansicht verdient auch in aller Regel deswegen Beifall, weil die gängige technische Konzeption der Kraftfahrzeuge eine kontinuierliche Einwirkung auf den Antriebs- und Lenkmechanismus (Schalthebel, Gaspedal, Lenkrad) bedingt, das "Inganghalten" nach erfolgter "In47 Nicht zu beanstanden ist aber BGHSt 8,8 (10), wo der durch überhöhte Geschwindigkeit verursachte Unfall einer S-Bahn zutreffend auf die (aktive) Beschleunigung des Zuges zurückgeführt wird: "Das Fahren, insbesondere das zu schnelle Fahren, ist für unbefangene Betrachtung kein Unterlassen, sondern ein Tun. Allenfalls könnte man ein Unterlassen darin sehen, wenn jemand, der zunächst erlaubterweise (I) schnell gefahren ist, bei einer nunmehr einsetzenden Gefahr die Geschwindigkeit nicht vermindert. Aber so lag es hier nicht. Der Angeklagte hatte aus dem Halten heraus (I) die Geschwindigkeit auf das erlaubte und dann über das erlaubte Maß hinaus gesteigert. Das läßt sich nicht ohne Zwang als ,Unterlassen' auffassen." Verwirrung stiftet dann freilich der weitere Gedanke (vgl. oben N.46), daß "einheitliche Lebensvorgänge, die nur als Ganzes aufgefaßt und verstanden werden können", bei einer Aufspaltung - "etwa Schnellfahren als unterlassenes Langsamfahren, Fahren als unterlassenes Halten" - "sinnwidrig" zerrissen würden (a.a.O., S. 11 f.). - Wie hier entscheidet vor allem Kantorowicz, Unechtes Unterlassungs- und unbewußtes Fahrlässigkeitsdelikt, 1931, S. 42 f., ohne das Abgrenzungskriterium freilich zu explizieren; vgl. auch Landsberg, S. 42 f. 48 v. Liszt, Lb. (14/15), 1905, S.134; der Sache nach bereits die 5. Aufl., 1892, S. 139 und noch die 23. Aufi., 1921, S. 134 f. 49 Vgl. etwa Rotering, GS 34 [1883], 207, 213; Kohler, Studien I, 1890, S.60; Träger, Unterlassungsdelikte, S. 97; Höpfner, ZStW 36 [1915], 127; v. Alberti, Verbotsverletzende Unterlassungen, 1917, S.7; Frank, § 1 Anm. IV; Mezger, Lehrbuch, S.139; Hellmuth Mayer, Studienbuch, S.79; zweifelnd v. Bar Gesetz und Schuld II, S.267. 50 Canaris, JZ 1963, 656. Vgl. auch BGHSt 8,8; 11,50.
B. Handeln und Energieeinsatz
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gangsetzung" mithin "immer wieder erneuerte Kräfte" des Fahrers voraussetzt51 • Auch hier sind freilich Konstellationen denkbar, bei denen der Fahrer überhaupt (!) keinen Einfluß auf die Bedienungsvorrichtungen nimmt. überblickt man die Behandlung dieser Fälle, so befremdet vor allem die Akzentuierung des technischen Details (z. B. Kippschalter - Druckkontakt), die in dem merkwürdigsten Gegensatz zur funktionellen Gleichwertigkeit der auf die Bedienung bezogenen Verhaltensweisen zu stehen scheint. Es wäre in der Tat unverständlich, wenn den geschilderten Minima auch im Ergebnis der praktischen Fallbeurteilung Folge zu geben wäre. Das ist jedoch nicht der Fall! Denn wie Kantorowicz treffend erkannt hat, entspricht der Belanglosigkeit der Verhaltensdifferenz eine solche der Bewertungsdifferenz52 • Betrachtet man nämlich das fragliche Verhalten als Tun, so ergibt sich die Sorgfaltspflicht aus dem "neminem laede"; betrachtet man es als Unterlassen, so folgt die Pflicht zur Erfolgsabwendung aus dem vorangegangenen Tun, d. h. dem Ingangsetzen53 ! Sobald daher bei der Steuerung heteronomer, technisch organisierter Energien feststeht, daß etwas nicht geschehen ist, was zur Vermeidung von Rechtsgutsverletzungen hätte geschehen sollen, ist das betreffende Verhalten ohne Rücksicht auf seine Identifizierung immer auch schon als fahrlässiges Delikt erkannt. Wenn die Unterscheidung der Verhaltensformen hier somit keine eigentlich "praktische" Bedeutung hat, ist die Behandlung der minimalen Verhaltensdifferenz als quantite negligeable hinreichend erklärt: "Die genaue Untersuchung, ob die strafrechtliche Ursache in einem Handeln oder in einem Unterlassen besteht, erfolgt ... nur deshalb nicht, weil von vornherein darüber Klarheit besteht, daß das etwaige Nichthandeln beim Vorliegen von Fahrlässigkeit bestimmt die Ursachenqualität eines HandeIns besitzt54 ", d. h. Handlungsäquivalent ist. Das Befremden über die vermeintliche Sinnwidrigkeit der hier getroffenen Unterscheidung führt daher nicht zu einer Korrektur des 51
BGHSt 11,50 (zu § 248 b StGB). Vgl. auch Engisch, Untersuchungen,
S. 294 f.
52 Kantorowicz, a.a.O., S. 42 ff. Divergenzen sind freilich dann möglich, wenn die Bedingungen einer "Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung" beim Tun anders als beim Unterlassen gewertet werden. 53 "Aus dem Ingangsetzen des Wagens" will meinen: aus dem Inganghalten durch aktives Tun - "folgert die Fahrlässigkeitsbetrachtung die Sorgfalts- und überwachungspflicht ... ; aber auch für die Wertung des Nichthandelns als Unterlassen ist das Ingangsetzen des Wagens, das voraufgegangene Tun, wesentlich" (Kantorowicz, a.a.O., S. 43 f.). 54 Kantorowicz, a.a.O., S.43. Vor allem im Bereich der zivilistischen "Verkehrspflichten" ist die Konfundierung von Tun und Unterlassen eine gewohnte Erscheinung; vgl. einstweilen v. Caemmerer, Juristentags-Festschrift II, 1960, S. 71 ff. (74 f.) und unten S. 242 N. 289.
B'
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Abgrenzungskriteriums; wohl aber vermittelt es der folgenden Untersuchung eine kaum zu überschätzende Einsicht. Denn wenn der Geringfügigkeit der Verhaltensdifferenz bei der Steuerung technisch organisierter Energien eine Geringfügigkeit der Bewertungsdifferenz entspricht, so bilden die genannten Fälle offenbar einen Grundstock "fragloser" Gleichwertigkeit von Handeln und Unterlassen, die einer vergleichenden Analyse als tertium comparationis und der Klasse rechtmäßiger Vorhandlungen im Bereich der Ingerenz als Orientierungspunkt dienen können55 ! C. "Schwierigkeiten" Mit dem Vorangegangenen ist die Problematik der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen nicht erschöpft. Vor allem Sukzession und Koinzidenz der Verhaltensformen bereiten viel erörterte "Schwierigkeiten" . I. Sukzession der Verhaltensformen Das Energiekriterium schließt zunächst nicht aus, daß mit seiner Hilfe identifizierte Verhaltensformen deswegen einen "Verhaltenskomplex" bilden, weil sie sich in zeitlicher Sukzession auf denselben Erfolg beziehen. Da die Kategorien der Konkurrenzlehre eine Mehrheit volldeliktischer Betätigungen voraussetzen, stellt sich hier vorab immer die Frage, ob alle in Betracht kommenden Verhaltenskomponenten volle Deliktsqualität aufweisen. Das hiermit geforderte Eliminierungsverfahren bereitet nun vor allem bei einer Gruppe der Ingerenz-Fälle charakteristische Schwierigkeiten. Denn sofern die Vorhandlung nur unter der Bedingung späterer Überwachung und Regulierung "riskiert" werden durfte, stellt sich die Frage, ob das Unterlassen komplementärer Sicherung nicht schon das vorangegangene Tun als volldeliktische Betätigung erscheinen läßt56 • Man wird zu unterscheiden haben, ob die Sicherungsmaßnahme schon mit der Vornahme der "an sich" erlaubten Aktivität verbunden werden konnte oder nicht. Wenn etwa aus Anlaß von Bauarbeiten eine Grube ausgehoben oder ein Schacht aufgedeckt wird und es deswegen zu einem Unfall kommt, weil das komplementäre Abstützen der Erdwände oder das Zudecken des Schachtes nach beendeter Arbeit versäumt wurde 51, so scheidet die Vorhandlung als Komponente eines VerVgl. unten 3. Kap. D. Vgl. bereits v. Bar, Grünhuts Zeitschrift 4 [1887], 51 f.; ferner v. Bar, Causalzusammenhang, S. 99 und Kohler, studien I, S. 59 f. 57 RGSt 19, 204; 57, 148. 55
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c. "Schwierigkeiten"
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haltenskomplexes deswegen aus, weil sie wegen Einhaltung des erlaubten Risikos rechtmäßig war; denn die Erdwände konnten nicht schon beim Ausheben abgestützt und der Schacht nicht zugleich aufund zugedeckt werden. Es bleibt indessen die Frage, ob dies auch dann zu gelten hat, wenn der betreffende Arbeiter schon bei Vornahme der Aktivität nicht an derartige Maßnahmen gedacht hatte. Parallel zu entscheiden ist auch der bekannte Fall des Dienstmädchens, das eine Wanne mit kochender Scheuerlauge auf dem Hausflur in Gegenwart eines kleinen Kindes unbeaufsichtigt zurückläßt58. Hängt hingegen jemand ein ungeladenes Gewehr auf oder füllt er Gift in eine unbeschriftete Flasche59 , so wird man das Tun als fahrlässig anzusehen haben. Wenn der Täter nun aber in den beiden zuletzt genannten Fällen bei Vornahme der Aktivität fest zu gehöriger Aufsicht entschlossen und fähig war? - Die Frage bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung. Immerhin sollte festgehalten werden, daß die Problematik eines Einflusses der nicht in äußeren Vorkehrungen realisierten Sicherungsbereitschaft auf die Wertung des Tuns als rechtmäßig oder rechtswidrig bei der Gleichstellungsfrage wiederkehren muß! Denn die "fraglose" Gleichwertigkeit der auf rechtmäßiges Tun folgenden Unterlassung beruht in den obigen Beispielen doch offenbar auch auf der von der Sicherungsbereitschaft vorausgesetzten Bewußtheit der Gefährdung; jedenfalls läßt sich dieser Gedanke nicht ohne weiteres von der Hand weisen. Die Relation von Gefährdungsbewußtsein und konkludenter "übernahme" der Abwendungsverpflichtung ist denn auch ein gängiger Topos der Ingerenz6o . Verbleiben nach dieser Eliminierungsprozedur mehrere volldeliktische Verhaltenskomponenten, so entscheidet die Konkurrenzlehre über ihre weitere Behandlung. Nämlich: Das vollendete vorsätzliche Begehungs- oder Unterlassungsdelikt konsumiert das fahrlässige Begehungs- oder Unterlassungsdelikt; bei qualitativer Gleichwertigkeit volldeliktischer Handlungen und Unterlassungen desselben Unrechtstypus' bildet das Verhalten eine "Einheit"61; und ein fahrlässiges Begehungs- oder Unterlassungsdelikt steht zu einem versuchten Begehungs- oder Unterlassungsdelikt im Verhältnis der Realkonkurrenz 62 . Hiermit sind indessen noch nicht alle Zweifel behoben; denn es bleibt möglich, eine Mehrheit von Verhaltenskomponenten wegen der mit RGRechtspr.3, 64l. PrOberTrib. bei Oppenhoff 14, 35; RGSt 1,373. 60 Vgl. nur Frank, § 1 Anm. IV 2: "So wird eine Verpflichtung zur Schadensabwendung stillschweigend dadurch übernommen, daß jemand bewußtermaßen eine gefährdende Handlung vollzieht." 61 Dazu unten 5. Kap. 62 BGHSt 7,287; BGHSt 8,220 und Krumme in der Anm. zu BGH LM Nr.29 zu § 211 StGB; a. A. Maurach, AT, S.494. 58
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
ihnen verfolgten einheitlichen Zwecksetzung zu einer "sozialen Sinneinheit" zu verbinden, etwa die ärztliche Operation vermöge des Heilzwecks oder das Autofahren vermöge des "Fortbewegungszwecks" . Eine solche Betrachtungsweise erklärt auch treffend den spezifischen Sinn des jeweiligen Verhaltens und seine soziale Einschätzung; hiermit ist seine Bedeutung jedoch auch erschöpft. Denn einmal setzt die juristische Wertung eine Identifizierung des Verhaltens als Tun oder Unterlassen eben voraus; insofern bewegt sich die Einheitsvorstellung im Vorfeld rechtlich undifferenzierter Anschauungen. Und zum anderen besteht weder die Möglichkeit noch die Notwendigkeit, einen Verhaltenskomplex einheitlich entweder als Tun oder als Unterlassen zu qualifizieren, wenn er de facto aus beidem besteht. Wenn etwa gesagt wird, die ärztliche Operation sei im Hinblick auf die Vermeidung nachteiliger Erfolge "Unterlassung"63, so macht sich darin die Vorstellung bemerkbar, daß mit der Identifizierung eines Verhaltens ein bestimmter "sozialer Sinn" verbunden sei, der bei der ärztlichen Heiltätigkeit verfehlt werde, wenn man diese als "Tun" betrachte. Diese Annahme trifft jedoch nicht zu; aus der Zuordnung der Begriffe von Handeln und Unterlassen zu Außenweltserfolgen ergibt sich vielmehr, daß die Unterscheidung lediglich auf die Kausalfrage abzielt, insofern "wertfrei" und daher gegen jeden sozialen Sinn unempfindlich ist. - Es gibt somit keinen "Verhaltenskomplex", der sich nicht auf eine Mehrheit identifizierter Verhaltenskomponenten reduzieren und den Bewertungskategorien der Konkurrenzlehre unterwerfen ließe M • Zeitliche Sukzession verschiedener Verhaltensformen bereitet der hier vertretenen Abgrenzungstheorie daher keine unüberwindlichen Schwierigkeiten65 . 11. Koinzidenz der Verhaltensformen
Weitere "Schwierigkeiten" der Abgrenzungsfrage liegen nach Ansicht mancher Autoren in der eigentümlichen Doppeldeutigkeit einzelner Fallkonstellationen, die auch das Energiekriterium bisweilen als ambivalent erscheinen lassen66 . Da die Vornahme einer Handlung nicht in die Unterlassung ihrer Nichtvornahme umgedeutet werden kann (duEb. Schmidt, Arzt im Strafrecht, S. 78. Ebenso Böhm, a.a.O., S.17ff. (18,23); Roxin, a.a.O., S.417f.; vgl. auch Kantorowicz, a.a.O., S.42. 65 Mit dem Text stimmen Grii.nwald, a.a.O., S. 21 f. und Böhm, a.a.O., S.24 N.81 weithin überein. 60 Zum folgenden Grii.nwald, a.a.O., S. 22 ff.; Böhm, a.a.O., S. 17 ff.; Spendel, Eb. Schmidt-Festschrift, S.183 ff.; Arthur Kaufmann, a.a.O., S. 200 ff.; Roxin, a.a.O., S. 413 ff.; Androulakis, S. 52 ff. 63 M
c. "Schwierigkeiten"
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plex negatio affirmatio est), muß es sich dabei um Situationen handeln, bei denen eine Koinzidenz von Tun und Unterlassen dadurch hergestellt wird, daß das als unterlassen angesehene Verhalten von dem Tun "getragen"67 und mithin dessen Eigenschaft ist. Diese Bestimmung trifft in der Tat auf alle fahrlässigen Begehungsdelikte zu; denn da der strafrechtliche Vorwurf hier immer die Nichteinhaltung der objektiv erforderlichen Sorgfalt zum Gegenstand hat, enthält jede Fahrlässigkeitswertung das vielfach bemerkte "Unterlassungsmoment"68. Etwa: Eine Hebamme bewirkt deswegen eine Infektion der Mutter mit Kindbettfieber, weil sie es unterlassen hatte, ihre Hände vor der Geburt zu desinfizieren 69 . Oder: Ein Bauer verursacht deswegen die Körperverletzung oder den Tod eines Arbeiters, weil er es unterlassen hatte, die Transmissionswelle der Dreschmaschine vor der Benutzung zu verkleiden70 . Es ist mit dem Vorangegangenen auch nicht unverträglich, die Unterlassung des sorgfältigen Gegenstücks der fahrlässigen Handlung zum Objekt selbständiger rechtlicher Beurteilung zu machen71 • Indessen ergibt ein solches Verfahren in aller Regel deswegen keine Koinzidenz volldeliktischer Verhaltensweisen, weil die Sorgfaltspflicht nur im Hinblick auf die Vornahme der Handlung und nicht unabhängig von ihr besteht; so ist in den genannten Beispielen die Desinfektion nur im Hinblick auf die Geburtshilfe und die Verkleidung der Welle nur im Hinblick auf den Betrieb der Dreschmaschine verlangt. Man kann sich deswegen mit einer "Komplexität" menschlichen Verhaltens abfinden, ohne die Eindeutigkeit des Energiekriteriums in Zweifel ziehen zu müssen72 . Vor allem aber ist es "ausgeschlossen, die strafrechtliche Haftung dadurch zu umgehen, daß man die Tat ihrem sozialen Handlungssinn nach als Unterlassungsdelikt versteht"73. Aus diesem Grunde ist auch die von Androulakis, S.64. 68 Vgl. Radbruch, ZStW 24 [1904], 346 f.; zu Dohna, ZStW 'J:7 [1907], 333 ff.; Kantorowicz, a.a.O., S. 41 ff. et passim; Henkel, Mezger-Festschrift, S.283, 289; Grünwald, a.a.O., S. 21 ff.; Böhm, a.a.O., S.21; Boldt, zStw 68 [1956], 346 f.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S.167 ff., 180 ff.; Spendel, a.a.O., S.193; Arthur Kaufmann, a.a.O., S.212; Roxin, a.a.O., S.415; Androulakis, S. 132 ff. (m. weiteren Nachw.); Jescheck, ZStW 77 [1965], 145; Wessels, JZ 1967, 450. 69 RG GA 38,354. 70 RGSt 3, 208; 22, 173. 71 Vgl. Grünwald, a.a.O., S. 24 f.; Roxin, a.a.O., S. 415 f.; a. A. wohl Böhm, a.a.O., S.23. 72 Die von Androulakis (S. 52 ff.) formulierte "Komplexität" menschlichen Verhaltens als "dritter, derivierter Modus (neben dem Handeln und dem Lassen)" (S.57), berührt den Text offenbar nicht; denn da das Unterlassungsmoment der Begehungsfahrlässigkeit "als Faktor der Komplexität zugleich ,Begehungsmoment'" ist, kann es "auf keinen Fall in ein Delikt ,umgewandelt' werden" (S. 139 f.). Vgl. auch die oben N.42 referierte Äußerung. 73 Roxin, a.a.O., S. 415; vgl. auch Spendel, a.a.O. und JuS 1964, 15. 67
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
Grünwald zur Vermeidung von Unstimmigkeiten geforderte Garanten-
steIlung aus "nebenhergehendem gefährlichen Tun" gegenstandslos 74 • Nichts anderes gilt für die problematischen Fälle fehlender "Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung" . Nämlich: Ein Apotheker gibt eine phosphorhaltige Arznei aus, ohne auf einer Erneuerung des Rezepts zu bestehen. Da diese jedoch wahrscheinlich erfolgt wäre, hätte die Phosphorvergiftung des Patienten auch in diesem Falle nicht vermieden werden können75 • Oder: Ein Arzt verwendet an Stelle des lege artis gebotenen Novokains zur Betäubung Kokain. Der Patient wäre jedoch infolge seiner besonderen Konstitution auch bei Verwendung von Novokain gestorben76 • Ferner: Ein Fabrikbesitzer übergibt seinen Arbeitern nicht desinfizierte chinesische Ziegenhaare zur Bearbeitung. Die Milzbrandinfektion wäre infolge der Unvollkommenheit der Desinfektionsmethoden möglicherweise auch bei sorgfältigem Verhalten eingetreten77 • Und: Ein LKW-Fahrer überholt einen Radfahrer mit zu geringem Seiten abstand. Infolge seiner Trunkenheit wäre dieser jedoch auch bei Einhaltung des angemessenen Abstandes von dem Anhänger überfahren worden 78 • - Die genannten Fälle stimmen darin überein, daß die Täter den tatbestandsmäßigen Erfolg durch aktiven Energieeinsatz bewirkt und daher gehandelt haben, nämlich durch Aushändigung der Arznei, durch die Kokaininjektion, die übergabe der Ziegenhaare und das überholen des Radfahrers78a • Zugleich haben sie die Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt unterlassen, nämlich die Rückfrage beim behandelnden Arzt, die Novokaininjektion, die Desinfektion der Ziegenhaare und die Einhaltung des gebotenen Seitenabstandes. Da es sich hierbei jedoch nur um das jeder Fahrlässigkeitswertung eigene Unterlassungsmoment handelt, ändert sich an dem Begehungscharakter der Verhaltensweisen nichts. Die Eigenart der Fälle besteht vielmehr darin, daß der Erfolg auch bei Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt mit verschieden hoher Sicherheit eingetreten wäre. Wenn hieran die Frage geknüpft wird, ob und unter welchen dogmatischen Aspekten eine fehlende "Kausalität der Sorgfaltspflichtverletzung" Einfluß auf die Strafbarkeit des betreffenden Tuns zu gewinnen vermag, so wird der Handlungscharakter des Verhaltens hierbei vorausgesetzt. Die Pro74 Grünwald, a.a.O., S.25; gegen ihn Roxin, a.a.O., S.418; Androulakis, S.64; ferner Böhm, a.a.O., S.21. 75 RGSt 15, 151. 76 RG 1 D 555/26; mitgeteilt bei Exner, Frank-Festgabe I, S.583, 587 f. 71 RGSt 63, 211. 78 BGHSt 11,1 = LM Nr.40 zu § 222 StGB m. Anm. v. Hülle = JZ 1958, 280 f. m. Anrn. v. Mezger. Vgl. auch RGSt 63,292 und BGHSt 10,369. 7Ba a. A. Baumann, StrR. AT, S.220 für RGSt 63,211.
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blematik der behandelten Fallgruppe bedarf daher an dieser Stelle keiner weiteren Erörterung 79 • Denkbar (und keineswegs selten) ist es freilich, daß die Pflicht zur Unterlassung der vorgenommenen Handlung nicht nur aus dem jedermann geltenden "neminem laede", d. h. aus dem Begehungsverbot, herrührt, sondern darüber hinaus durch eine Garantenstellung des Handelnden gleichsam verstärkt ist; denn das Begehungsverbrechen ist für den Garanten "in beiden Ausführungsformen" vollziehbar80 • Man denke an den Fall, daß die Mutter, die Garantin für das Leben ihres Kindes ist, dieses aktiv tötet.
Schopenhauer hat die Eigenart dieser Konstellation in seiner Rechtslehre als "doppelte Ungerechtigkeit" umschrieben81 • Und auch das geltende Recht scheint eine derartige Quantifizierung bei der Bemessung seiner Strafrahmen bisweilen vorauszusetzen, wenn es das Handeln des Garanten gegenüber dem Handeln des Extraneus qualifiziert (vgl. etwa § 223 Abs. II gegenüber Abs. I, § 181 Abs. I Ziff. 2 gegenüber § 180 StGB). Freilich zeigen andere Bestimmungen die umgekehrte Erscheinung; denn mitunter hat das Handeln des Garanten gegenüber dem des Außenstehenden gewissermaßen eine "Halbierung" zur Folge, wenn die Höhe der Strafrahmen in Betracht gezogen wird (vgl. §§ 218 Abs. I, 247,263 Abs. V gegenüber §§ 218 Abs.III, 242, 246, 263 Abs. I StGB). Das beschriebene Phänomen ist daher offenbar weniger eindeutig, als es zunächst schien. So versagt der Gedanke des Verrats, den Schopenhauer als leitend herausstellt82, bei den Fahrlässigkeitsdelikten83 ; und so scheiden die Ingerenz-Fälle für eine "Verdoppelung" des Unrechts 79 Roxin (a.a.O., S. 419 ff.) hat die vielfältigen Lösungsversuche einer eingehenden Kritik unterzogen. Seither vor allem E. A. Woltt, S. 25 ff.; Klaus Ulsenheimer, Das Verhältnis zwischen Pflichtwidrigkeit und Erfolg bei den Fahrlässigkeitsdelikten (dazu Roxin, ZStW 78 [1966], 214 ff.); vgl. auch Wessels, JZ 1967 451 f. 80 Nagler, GS 111 [1938],61. 81 Schopenhauer, Werke Bd. III (ed. Frhr. v. Löhneysen), 1962, S.753: "Diese doppelte Ungerechtigkeit hat statt, wo jemand ausdrücklich die VerpfliChtung übernommen hat, einen anderen in einer beeti.mmten Hinsicht zu schützen, folglich die Nichterfüllung dieser Verpflichtung schon Verletzung des anderen, mithin Unrecht wäre; er nun aber noch überdies jenen anderen eben darin, wo er ihn schützen sollte, selbst angreift und verletzt" (Hervorhebung dort). - In die strafrechtliche Literatur hat Sturm (Rechtswidrigkeit der Unterlassung, 1895, S. 39 ff.; Strafbare Unterlassungen, 1905, S. I, 28) diese Äußerung eingeführt. 8! Schopenhauer, a.a.O.: Ein "Verrat", "welcher der Abscheu der Welt ist" und vor dem "gleichsam die Götter ihr Antlitz verhüllen". 83 a. A. freilich Sturm, Strafbare Unterlassungen, S. 28. Aber wie sollte hiernach die Qualifizierung der vorsätzlichen aktiven Körperverletzung durch den Garanten (§ 223 Abs. II StGB) mit der undifferenzierten fahrlässigen Körperverletzung (§ 230 StGB) harmonisiert werden können?
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
schon deswegen aus, weil sie - im Gegensatz zu den "konstanten Solidaritätsverhältnissen" (Vogt) - auf "antisozialer" Gefährdung des anderen beruhen84 . Mithin sind die tragenden Gesichtspunkte zu differenziert, als daß sie mit den hier erarbeiteten konstruktiven Mitteln erkennbar gemacht werden könnten. Im übrigen bedarf diese Frage hier auch keiner weiteren Erörterung; denn die wirkliche oder vermeintliche Verdoppelung des Unrechts läßt sich in keinem Fall durch Annahme einer Koinzidenz von Tun und Unterlassen des Garanten erklären. Gegenüber dem Tun der Mutter, die ihr Kind aktiv tötet, ist das Unterlassen der Nichttötung duplex negatio und somit affirmatio, nämlich Tun. Wäre es anders, so könnte das Unterlassen eines Garanten niemals dem Tun eines Garanten gleichwertig sein - mit der Folge, daß die §§ 223 Abs. II, 181 Abs. I Ziff. 2 StGB durch Unterlassen nicht verwirklicht werden könnten; denn da die Garanteneigenschaft hier immer schon für die Gleichwertigkeit des Unterlassens mit dem Tun des Extraneus "verbraucht" wäre, könnte sie nicht "doppelt" zu Buch schlagen. Hatte sich das Abwendungsgebot im Augenblick der Handlung des Garanten freilich bereits zu einer konkreten Hilfspfiicht verdichtet (Die Mutter tötet ihr ertrinkendes Kind aktiv), so läßt sich ohne Widerspruch zu dem Vorangegangenen von einem "Unterlassungsdelikt durch Begehung"85, mit dem gleichen Recht aber auch von einem "Begehungsdelikt durch Unterlassung" reden. Eine solche Koinzidenz der Verhaltensformen ist mit den Mitteln der Abgrenzungstheorie weder zu beseitigen, noch entstehen durch sie "praktische Schwierigkeiten", die eine weitere Erörterung rechtfertigen könnten86 • 84 Diese Einsicht ergibt sich für Sturm (Rechtswidrigkeit der Unterlassung, 8.41) folgerichtig aus seiner Ableitung der Ingerenz aus dem Begehungs-
verbot: "Der Begriff des Verrats, welcher verlangt, daß ein auf den Posten gestellter Mensch das Gegenteil seiner Pflicht tut, kann hier niemals vorliegen, weil es sich um die Verletzung der allgemeinen (!) Bürgerpflicht handelt." 85 Androulakis, 8.152 ff. 86 Zu den zweideutigen Konstellationen rechnen Zimmermann (NJW 19·52, 1321 f.) und Ranft (JuS 1963, 340 ff.) auch die Fälle der Hinderung rettender KausalverZäufe durch Ausschaltung hilfswilliger Personen. Wenn A den ertrinkenden X retten will, B aber sein Boot festhält, so liegt die körperliche Aktivität in diesem Festhalten. Das von Ranft hierin gesehene "Nichtüberiassen des Bootes" (a.a.O., 8. 341) ist als Unterlassen des überlassens duplex negatio und daher Tun. Ranft untersucht denn auch in der Folge lediglich die Frage, ob an das genannte Verhalten die "Rechtsfolgen" eines Tuns oder eines Unterlassens anzulegen seien, d. h. ob die Unterbrechung rettender Kausalverläufe durch positives Tun ohne Rücksicht darauf eine Täterschaft des Handelnden begründe, ob der ausgeschlossene Dritte Garant für das Gut war, das er retten wollte. Vgl. in diesem Zusammenhang außer Ranft selbst auch Armin Kaufmann, Dogmatik, 8. 60 ff. und E. A. Wolft, 8.28 ff.
c. "Schwierigkeiten"
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111. Fremdpsychische Kausalität
Es sei schließlich noch angemerkt, daß gewichtige und mit den Mitteln der hier erarbeiteten Abgrenzungstheorie allein nicht zu behebende Probleme auf dem Gebiet der von manchen Deliktstypen und den Teilnahmeformen vorausgesetzten fremdpsychischen Kausalität liegen. Denn da das Energiemoment im Hinblick auf die Veränderungen der realobjektiven Körperwelt konstituiert wurde, beansprucht es für das geistige Phänomen des menschlichen Verstehens auch dann keine unmittelbare Geltung, wenn eine durchgängige seinsmäßige Disparität determinierenden Bewirkens und motivierender Beeinflussung fremder Freiheit in Abrede gestellt wird s7 . Eine Unterscheidung der Verhaltensformen setzt daher hier eine Phänomenologie des Verstehens und seiner Beeinflussung voraus, die im gegenwärtigen Zusammenhang füglich nicht erwartet werden kannas. Daß auch die Praxis die eigenartigen Schwierigkeiten dieser Konstellation nicht übersieht, zeigen etwa die zahlreichen Fälle, in denen fahruntüchtigen Fahrern das Steuer eines Kraftfahrzeugs "überlassen" wird. Da die Kausalreihe hier als Motivationszusammenhang über den Willen des Fahrers vermittelt ist, begründet die mit dem überlassen festgestellte Aktivität (übergabe der Fahrzeugschlüssel, Freigabe des Fahrersitzes etc.) nicht schon per se die Verantwortlichkeit des überlassenden. Damit dieser etwas "überlassen" kann, muß hinzukommen, daß das fragliche Fahrzeug seinem Herrschaftsbereich zugeordnet ist, er etwa als Halter8 9 oder eingesetzter Substitut des Halters90 das Fahrzeug einem Dritten überlassen hat. Denn da die fremdpsychische Wirksamkeit des Tuns stets dieselbe ist, kann es anders nicht erklärt werden, daß Personen freigesprochen worden sind, die das Steuer dem Halter selbst "überlassen" hatten 9!. Es ist deswegen auch verständlich, wenn manche Entscheidungen die Annahme positiven Tuns 92 um den Hinweis vermehren, daß der überlassende auf Grund seiner Herrschaft über den Wagen zur Überwachung des fahruntüchtigen Fahrers verpflichtet gewesen sei93 • 87
Einiges dazu unten S. 274 ff.
Engisch, v. Weber-Festschrift, S. 247 ff. und Bockelmann, Eb. SchmidtFestschrift, S. 437 ff.; ders., NJW 1961, 1934 f. in der Anm. zu BGHSt 16,120 (Spätwette) haben diese Fragen für den Betrug untersucht. 88
BGHSt 14,24; 18,6; BGH VRS 12,51; 13,470. BGH NJW 1959,1979; OLG Hamburg NJW 1964,2027. 91 OLG Karlsruhe JZ 1960,178 mit Anm. von Welzel, a.a.O., S.179 f.; Bindokat NJW 1960,2318 ff.; OLG Oldenburg NJW 1961,1938. 92 BGH VRS 4,527; 12,51; BGHSt 18,6. 93 BGH VRS 12,51; 13,470. Vgl. auch BGHSt 14,27, wo das überlassen selbst als "vorausgegangenes Tun" erscheint. 89 90
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
Indessen können diese Fragen hier nicht weiter verfolgt werden94 • Die "soziale Sinnbedeutung" des Verhaltens, die auch an dieser Stelle wieder ihre zweifelhafte Abgrenzungsfunktion behauptet95, wird zu ihrer Lösung wenig beitragen können.
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens Dürfen die Unterschiede der Verhaltensformen nunmehr vorausgesetzt werden, so stellt sich die Frage nach dem zeitlichen Verhältnis von Verursachung und Schuld mit unverminderter Dringlichkeit. Denn die von Lampe wiederbelebten Ingerenz-Theorien hatten bereits gezeigt, daß das vorangegangene Tun als Teil einer Begehungseinheit verstanden werden kann, deren einzige Besonderheit in dem vom Normalfall abweichenden Verhältnis zeitlicher Sukzession von Verursachung und Schuld besteht96 • Da es für das Folgende von ausschlaggebender Bedeutung ist, ob die Ingerenz-Problematik unter den dogmatischen Aspekten der Begehungs- oder der Unterlassungsdelikte abgehandelt wird, läßt sich die Frage nach dem zeitlichen Verhältnis nicht länger umgehen. Offenbar kann diese Relation prinzipiell dreifach sein97 • Während sich das "normale" Begehungsdelikt durch zeitliche Koinzidenz von Verursachung und Schuld auszeichnet ("culpa interveniens")98, geht die letztere bei der sog. culpa praecedens voran99 ; hierdurch entsteht die Problematik des "versari in re iHicita" und der "actio libera in causa"lOO. Die für die Ingerenz kritische Konstellation liegt in dem umgekehrten Verhältnis, das als dolus vel culpa subsequens allgemein geläufig ist lOl . L Die "nachfolgende" Schuld
Die Kritik der Lehren Krugs, Glasers und Adolf Merkels hatte ergeben, daß diese jedenfalls nicht mit dem Anspruch auftreten können, Vgl. auch unten S. 236 ff., 274 ff. BGH NJW 1953, 1924; KG JR 1961,271. Vgl. oben S. 43 ff. 91 Binding, Normen 11, 1 (2), S. 511 ff., 515 f. 98 Kuttner, Kanonistische Schuldlehre, 1935, S.225. 99 Kuttner, a.a.O., S. 105. Die Paraphrase von Binding (a.a.O., S. 609): "Die Schuld ist zur Zeit der Tat scheinbar nicht mehr vorhanden." 100 Einiges dazu unten sub 11. 101 Wiederum Binding (a.a.O., S.516): "Die Schuld ist zur Zeit der Tat scheinbar noch nicht vorhanden." - Zur Terminologie sei bemerkt, daß v. Weber NArchCrimR. 7 [1825], 564 (zitiert nach Lampe, ZStW 72 [1960], 93 f. N.2) und Tittmann, Handbuch I (1), 1806, 252 f. das Handeln mit Vorbedacht als "dolus antecedens seu ex proposito", den dolus subsequens auch als "dolus ex re" oder als "dolus consequens" bezeichnen. 94 95 96
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens
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die Gesamtheit strafwürdigen unechten Unterlassens zu erschöpfen. Denn einmal ließen die Übernahmevorhandlungen manche Zweifel offen; und zum anderen blieb stets ein ungelöster Rest von Fällen, die keine für den Erfolg kausale Vorhandlung aufwiesen, von einer unangefochtenen communis opinio aber gleichwohl für strafwürdig gehalten werden102 . Das mit "dolus vel culpa subsequens" bezeichnete Problem stellt sich daher an dieser Stelle nur noch insofern, als mit seiner Hilfe die eigentlichen 1ngerenz-Fälle gefährdender Vorhandlungen bewältigt werden sollen. Die zeitliche Sukzession von verursachender Vorhandlung und Nichtabwendungsschuld scheint hier von vornherein jeder Ansicht im Wege zu stehen, die die 1ngerenz über den dogmatischen Leisten der Begehungsdelikte schlagen will. Hiermit fällt zugleich die früher ausgekiammerte103 Entscheidung über die 1ngerenz-Theorien in toto. 1. Dolus sub sequens und dolus post factum
Bemerkenswert ist hierbei zunächst, daß diese Frage während ihrer mehr als hundertjährigen Geschichte kaum jemals eine zusammenhängende Untersuchung erfahren hat104. Denn daß das "Koinzidenzprinzip" als "fundamentaler Rechtssatz"105 eine "allgemeine Regel"106 abgebe, die die culpa subsequens als Fiktion erscheinen lasse, welche "mit der Natur der Dinge ganz im Widerspruch" stehe107 und daher als "Unsinn"10B zu "perhorrescieren" seP09, bietet die gesuchten Aufschlüsse110 wohl noch kaum. Zudem werden manche der Stellungnah102 Vgl. oben S. 41 ff. 103 Vgl. oben S. 44 f. 104 Eine Ausnahme macht vor allem Lampe, ZStW 72 [1960], 93 ff.; ferner v. Rohland, Strafbare Unterlassung, S. 23 ff. 105 Träger, Unterla'ssungsdelikte, S.32. 106 Granderath, S.116. 107 Aldosser, Unterlassungen, S. 29. lOB AndrouZakis, S. 218. 109
Landsberg, S. 6 f.
110 Mit beiläufigen Bemerkungen begnügen sich auch Hälschner, StrR. I, S. 239 f. N.2; Geyer, Grundriß, S.124; v. Liszt - Schmidt, Lehrbuch, S. 171; Grebe, Rechtspflicht, S.3·9; Nagler, GS 111 [1938], 74f.; Mezger, 5.341; Wegner, StrR. AT, S.150; Maurach, AT, S. 222 f.; Baumann, Lehrbuch, S.380; Schönke - Schröder, § 59 Rd.-Nr.15; Lackner - Maassen, § 59 Anm. 11. 2. Nicht weiter führt auch Binding, Normen 11, 1 (2), S. 52'5 f.: " ... der dolus, der etwas Schuldloses hinter sich und Nichts vor sich hat, kann sich an etwas Tatsächliches nicht anheften: ihm ist die dolose Handlung abhandengekommen, und er steht mit dem Erfolg in keiner weiteren Beziehung, als daß er sich daran vergnügt"; und: "Gerade weil der dann eintretende dolus sich in keiner Handlung mehr verwirklicht, sondern vor sich nur das Nichts hat, wird er nach hinten gestoßen. Allein dies läßt ihn immer zwischen Himmel und Erde ..." (a.a.O., S.531).
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
men noch dadurch entwertet, daß sie unter dem Begriff des dolus subsequens ungeschieden den Unterlassungsvorsatz, der auf eine kausale Vorhandlung folgt, und den "dolus" post factum, nämlich die Freude über den eingetretenen und jetzt nicht mehr abwendbaren Erfolg verstehen. Es liegt auf der Hand, daß hiermit disparate Gegenstände einem einheitlichen Urteil unterworfen werden111 • Bei dieser Situation darf es als verdienstlich gelten, daß Lampe die Problematik des dolus subsequens in jüngster Zeit wieder aufgenommen hat112 • Sein - der einhelligen Ansicht diametral entgegengesetzter - Lösungsversuch erfordert eingehende Kritik113 •
2. Zur Perpetuierlichkeit der "Handlung" Lampes Ansatz führt über den "Umweg" (S.98) einer Widerlegung zweier gegen den dolus (!) sub sequens erhobenen Einwände. Wenn zunächst gesagt werde, der nach Abschluß der wirkenden Tätigkeit eintretende Vorsatz könne offenbar nur der sich anschließenden Untätigkeit angehören, so gehe man dabei von der "Prämisse" (a.a.O.) aus, daß der Vorsatz "Bestandteil von Handlung oder Unterlassung" sei, wie dies von den Anhängern der finalen Handlungslehre - freilich um den Preis bloßer Quasivorsätzlichkeit des Unterlassungswillens behauptet werde. Betrachtungen zur "ontischen (und ontologischen) Strukturverschiedenheit von (natürlichem) Vorsatz und Finalität" führen L. jedoch zu der Einsicht (S.99-103), daß der "Vorsatz ein gegenüber der Finalität selbständiges und daher von Handlung und Unterlassung unabhängiges Tätermerkmal ist" (S. 103), mit der Folge, daß der Unterlassungswille "wirklicher Vorsatz" sein kann, "nicht unterschieden von dem der Begehungsdelikte" (S. 99), nämlich "reflexive '" Vereinigung der Subjektivität des Selbst mit der Objektivität des Seins" (S. 102). Wogegen zunächst zu erinnern wäre, daß die Widerlegung dieses Einwandes - wie Lampe einräumt - keine Begründung der eigenen 111 Lampe, a.a.O., S.93-96. Weder die "ratihabitio" als Freude über den eingetretenen Erfolg (vgl. Rein, Criminalrecht der Römer, 1844, S. 194 f.; Binding, a.a.O., S.604, 558 N.28) noch der in der "Hast und Hitze des Handelns" gefaßte affektive Vorsatz (vgl. v. Weber, a.a.O., S.576; zitiert nach Lampe, a.a.O., S. 93 f. N.2) sind Gegenstand der folgenden überlegungen. Androutakis, S. 145 f. umschreibt den dolus post factum, d. h. die Erfolgsbilligung nach Wegfall der Abwendungsmöglichkeit, als "Bruch der Parallelität zwischen dem (die Wirklichkeit) Nichtverändern und der Nichtveränderung der Wirklichkeit". Während das Unterlassungsverhalten "abgeschnitten" werde, setze die prozedierende Wirklichkeit ihren "Kurs" in Richtung auf das endgültige Nichtverändertworcl.ensein fort. 112 Lampe, ZStW 72 [1960], 93 ff. 113 Vgl. auch Androutakis, S. 32 f. N.66, 217 ff.; Armin Kaufmann, v. WeberFestschrift, S. 222 f. N.36; E. A. Wotff, S.41 N.20; Rudotphi, S. 11 f. N. 25 a.
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens
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Ansicht abgibt, da in jedem Fall die für den dolus subsequens vernichtende Aussage möglich bleibt, der Vorsatz - wenn schon nicht Bestandteil von Handlung oder Unterlassung - gehöre jedenfalls "an die Spitze" der Handlung. Zudem ist nicht recht einzusehen, warum die von L. attackierte Auffassung "Prämisse" der eigentlich thematischen Aussage sein soll, daß der der Tätigkeit nachfolgende Vorsatz nur der späteren Untätigkeit angehören könne. Denn auch wenn der Vorsatz als Bestandteil der Unterlassung bloßer Quasivorsatz ist, gelingt die "reale Vereinigung der Subjektivität des Selbst mit der Objektivität des Seins" (S. 102) bei den durch den dolus subsequens gedeuteten Ingerenz-Fällen jedenfalls dann, wenn man mit L. annimmt, daß der Vorsatz "solange durch eine finale Handlung verwirklicht werden [sc. kann], wie er (als gesetzter Zweck) seine Beziehung zur Objektivität als Seiendem und beherrschbar Sein-Könnendem zu finden, wie er den durch das Subjekt in Gang gesetzten Prozeß des Werdens (die Handlung) mit der Subjektivität in der Reflexion zu vereinigen vermag" (S. 104f.), wenn der Täter mit anderen Worten so lange "handelt", als er den durch die Vorhandlung angestoßenen Kausalverlauf als abwendbar erkennt 114. Kann der einer Vorhandlung nachfolgende Vorsatz im Gegensatz zu den (übrigen) Unterlassungsfällen durch eine "Handlung" final verwirklicht werden, so muß er sich auch für die Anhänger bloßer Quasivorsätzlichkeit als echter Begehungsvorsatz erweisen. Das aber ist thema probandum und nach allem offenbar mit der zweiten von Lampe erörterten Frage identisch, ob der Vorsatz nicht jedenfalls "an die Spitze" der Handlung gehöre (S. 103ff.). Hier konzediert L. zunächst, daß mit der Glaserschen Rückwirkungsfiktion nichts gedeutet sei, da "Fiktionen auf dem Gebiete des Strafrechts gefährlich und, weil meistens mit dem Schuldgedanken unvereinbar, nicht brauchbar" seien (S. 103). Man bedürfe jedoch keiner Fiktion, wenn die "Handlung auch während des Laufs der Kausalreihe noch fortdauert, bis der Erfolg eingetreten ist"115; denn dann folge der Vorsatz zwar der Körperbewegung, nicht aber der "Handlung" nach, durch die er noch verwirklicht werden könne (S. 103). 114 WelzeZ, Dt. StrR., S.68 will den dolus subsequens freilich ganz im Sinne der von Lampe bekämpften Ansicht damit ausräumen, daß er den Vorsatz für das finale "Element der Handlung" erklärt, das bei Begehung der Tat vorliegen müsse. Vgl. auch E. A. WoZff, S.41. Zum Unterlassungsvorsatz Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 66 ff., 110 ff., 309 ff.; ders., v. WeberFestschrift, S. 207 ff. m. Nachw.; E. A. Wolf!, S. 45 ff.; ferner die nach Abschluß des Manuskripts erscl1ienene Arbeit von Lampe, ZStW 79 [1967], 476 ff. 115 Ob Lampe das Handlungsende auf den Zeitpunkt des Erfolgseintritts (so das Zitat) oder der Unabwendbarkeit datieren will (vgl. weiter im Text), wird nicht eindeutig ges'agt.
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Ein solches Fortdauerungsvermögen der Handlung will L. nun damit begründen, daß er die Auffassung, die die "Finalität als ... Tatbestandselement" anerkennt, für die "Abgrenzung von Handlung und Unterlassung" fruchtbar zu machen sucht (S. 104). Denn wenn die h. L. mit der Körperbewegung auf das "äußerlich Sichtbare" abstelle, müsse sie sich den "Vorwurf eines allzu veräußerlichten Naturalismus" gefallen lassen, da die Willkürlichkeit, die die traditionelle Handlungslehre allein als subjektives Tatbestandsmerkmal anerkenne, den "sozialen Sinn" der finalen Handlungen verfehle (S. 103). "Finale Handlungen" sind dabei solche, "bei denen die Körperbewegung lediglich Mittel zum Zweck ist" und deren sozialer Sinn als "Nacheinander von Ursachen und Wirkungen" nur durch die Einbeziehung des mit der Körperbewegung verfolgten "weiteren Zwecks" erschlossen werden kann (S. 103f.); sie stehen damit im Gegensatz zu den "nur willkürlichen Handlungen", die als "Gleichzeitigkeit von Ursachen und Wirkungen" diesen Sinn "in sich selbst tragen" (S. 104). Da nun die Finalität lediglich die weitere Besonderung der Willkürlichkeit ist, besteht zwischen den beiden Handlungskategorien kein struktureller Unterschied; woraus folge, daß die "finalen Handlungen", die ebenso wie die "nur willkürlichen" nur durch Einbeziehung des verfolgten Zwecks sozial-sinnhaft verstanden werden könnten, mit Abschluß der Körperbewegung "nur ihren (beherrschbaren) Urs ach e n, nicht auch ihren (beherrschbaren) Wir k u n gen nach abgeschlossen sind" (S.104; Sperrungen dort). Wenn jemand ein Tier erschießen wolle, so sei nicht das Schießen schlechthin, sondern auch der Tod Inhalt seines Willens; erst zu diesem Zeitpunkt116 sei seine Handlung abgeschlossen. Zusammengefaßt: "Der Täter ha n deI t solange, als er die Wirkungen seiner körperlichen Aktivität in ihren Ursachen beherrscht hat; nur die Beherrschung des übrigen Kausalgeschehens unterfällt dem Begriff der U n t e r las s u n g" (a.a.O.; Hervorhebungen dort). Trete der Vorsatz innerhalb dieses Zeitraums auch nach Abschluß der Körperbewegung ein, so sei er "nicht nur Billigung des vorgängigen Tuns", sondern "durch Handlung verwirklichter Vorsatz" (S.105). a) Unklar bleibt hieran zunächst, worin der Gegensatz von "willkürlichen" und "finalen" Handlungen bestehen soll; denn Handlungen, die den zu verwirklichenden Zweck "in sich selbst" tragen, gibt es nur für ein Wertsystem, das die stets verfolgten weiteren Zwecke mit Hilfe seiner besonderen Kategorien als unbeachtlich ausscheidet 117 • So Vgl. oben N. 115. Die von Lampe, a.a.O., S. 104 N. 35 für seine Ansicht in Anspruch genommene Textstelle bei Aristoteles sagt nichts anderes. Es heißt dort (NE. I, 1, 1094 a; Akad.-Ausg. ed. Grumach, Bd. 6 [Dirlmeier], 1956) zwar, daß zwischen Ziel und Ziel ein Unterschied bestehe, je ob das "reine Tätig116 117
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens
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kann das Strafrecht aus kriminalpolitischen Gründen bei den sog. kupierten Erfolgsdelikten von den subjektiv zu erstrebenden Außenweltserfolgen tatbestandsmäßigen Handeins absehen, ohne daß sich deswegen sein finaler Charakter änderte. Nichts anderes gilt für die "reinen" Tätigkeiten wie etwa Tanz oder Gymnastik, an die Lampe zu denken scheint; denn ihre Besonderheit besteht lediglich darin, daß die verfolgten weiteren Zwecke nicht der Kausalitätenwelt, sondern idealen Bereichen angehören. Es ist daher irreführend, wenn es L. als Manko der "traditionellen Handlungslehre" hinstellt, den "sozialen Sinn" der finalen Handlungen zu verfehlen. Da diese den Willen mit der Willkürlichkeit nur "in seiner Kausalität auslösenden Funktion"118 erfaßt, bleibt sein Inhalt auch bei den "nur willkürlichen" Handlungen unberücksichtigt. Sofern sich daher "sozialer Sinn" in den verfolgten Zielen verfängt, verkennt ihn die traditionelle Handlungslehre in jedem Falle. b) Es ist daher auch aussichtslos, die finale Handlungslehre für die hier erörterte Frage in Anspruch nehmen zu wollen119 . Daß menschliches Handeln zielgerichtet und der von ihm ausgelöste Kausalprozeß daher final determiniert ist, kann gewiß nicht bestritten werden. Hieraus folgt indessen nichts für die von Lampe behauptete Perpetuierlichkeit der finalen Handlung qua Handlung. Da der Täter die Wirklichkeit mit Abschluß seiner körperlichen Aktivität determiniert hat, überdauert seine Aktivität nur der von ihm ausgelöste Kausalverlauf, der ex tune als sein "Werk" und ex nunc als abwendbar erscheint. Ob daher die Finalität der Vorhandlung die körperliche Aktivität zusammen mit der auf dasselbe Ziel gerichteten und daher qualitativ gleichwertigen Unterlassung zu einer Einheit verbindet (dolus perpetuus), läßt sich aus der einheitlichen Zielsetzung nicht entsein" oder das "Ergebnis des Tätig-Seins: das Werk" erstrebt werde. Dieser Unterschied aber ist "gleichgültig" (a.a.O.); denn "ein Schreiten ins Endlose, somit ein leeres und sinnloses Streben" (NE., a.a.O.) ist nur dann zu befürchten, wenn jede Wahl als "im Hinblick auf ein weiteres Ziel" getroffen verstanden wird. Wenn daraus für Aristoteles ("horror infiniti") das Postulat eines "obersten Gutes" folgt, "das wir um seiner selbst willen erstreben, während das übrige nur in Beziehung auf dieses Endziel gewollt wird" (NE., a.a.O.), so hat diese "Notwendigkeit des Haltmachens" (Dirlmeier in Anm. 5, 7 a.a.O., S. 267 f.) in der Teleologie der Zwecke mit den "willkürlichen Handlungen" Lampes doch wohl nichts zu tun. - Vgl. auch Welzel, Dt. StrR., S. 33 f. 118 Gallas, ZStW 67 [1955], 2. 119 Vgl. schon oben S. 106 f. Der Vorwurf des "allzu veräusserlichten Naturalismus" (S.103) geht auch hier fehl; denn die Körperbewegung behauptet mit der referierten Modifizierung ihre Abgrenzungsfunktion auch bei Lampe unangefochten (So 105 und ZStw 71 [1959], 588). Zudem hatte Lampe selbst den "naturwissenschaftlichen" Kausalbegriff mit dem juristischen in eins gesetzt (ZStW 71 [1959], 598 fi.). 9 Welp
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rätseln, da diese ohne Verständnisverlust auch durch Addition beider Verhaltensweisen begriffen werden kann 120. c) Dies aber unterstellt, bleibt Lampe doch jede Begründung dafür schuldig, warum die auf einen anderen als den nicht abgewendeten Erfolg gerichtete Finalität der Vorhandlung die Einheit dann soll stiften können, wenn der Täter seine ursprüngliche Fehlvorstellung korrigiert und nichts zur Abwendung des neuen Erfolges unternimmtl2l • Wenn etwa A den B fahrlässig verletzt und die sodann erkannte Todesgefahr vorsätzlich nicht abgewendet hat, so war die Finalität der Vorhandlung auf einen rechtlich neutralen Zweck gerichtet (z. B. auf Autofahren); da sie somit den nicht abgewendeten Todeserfolg eben nicht umfaßte, fällt sie als Einheitsstifterin aus. Es bleibt als Perpetuierungsmoment lediglich die Kausalität der Vorhandlung und mithin eine Konstruktion, die in keinem Punkt über den Glaserschen dolus subsequens hinausführt.
3. Stellungnahme Es ist auch kaum verständlich, welchem Anliegen die durch den dolus subsequens konstituierte Einheit von Vorhandlung und nachfolgender Unterlassung überhaupt gerecht werden soll. Wenn Lampe zunächst einen Vorzug seiner Lehre darin erblickt, daß durch sie die bekannte dualistische "Spaltung" der Unrechtsbegründung bei den unechten Unterlassungen - Ingerenz als "Asozialisierung" einerseits, sonstige Garantenpflichten als "Sozialisierung" andererseits 122 - überwunden werde (S. 98), nämlich durch die Eliminierung der Ingerenz als Unterlassungsproblem, so ist dies allerdings unbestreitbar. An ihre Stelle tritt indessen eine kaum einfacher zu überwindende Kluft innerhalb des Handlungsbereichs; denn da die Fortdauer des Kausalverlaufs zur Konstituierung der Einheit nicht genügen kann 123 , stellt sich mit unverminderter Dringlichkeit die praktisch entscheidende Frage, welchen Vorhandlungen die Eignung zukommen soll, Element der kriminellen Einheit zu sein. Wenn z. B. A den B in Notwehr rechtmäßig verletzt hat und nun, da zu seiner Verteidigung nichts mehr erforderlich ist, dessen Tod nicht abwendet, so ist es ersichtlich dasselbe, ob man nach der verpflichtenden Kraft der rechtmäßigen Vorhandlung (Ingerenz als Garantenpflicht) oder nach ihrer möglichen Zugehörigkeit zu der durch den dolus subsequens begründeten Ein120 121 122 123
Dazu unten 5. Kap. Das bemerkt Androulakis, S.218.
Vogt, ZStW 63 [1950/51],381 ff. (399 ff.).
Vgl. Androulakis, a.a.O. und E.A. Woltt, S.41 N.20.
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens
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heit fragt1 24 . Wie sich aber die hier anzustellenden differenzierten Gleichwertigkeitserwägungen ohne durchgängigen Bruch mit der einförmigen Bewirkungsfrage der Begehungsdelikte sollten harmonisieren lassen, bleibt ungeklärt. Selbst wenn man sich nun hiermit abfinden wollte, wenn man ferner keinen Anstoß daran nähme, daß sich die eine Handlung unter Umständen über Jahre hinaus erstrecken könnte125 , daß man bei wiederholt eintretender und vergehender Abwendungsmöglichkeit verschiedene Intervalle derselben Handlung anzunehmen hätte, daß schließlich - da es ja von der Aufmerksamkeit des Täters abhängt, ob er den Zeitpunkt der Abwendungsmöglichkeit verpaßt oder nicht in der ganzen Zwischenzeit kein Urteil darüber möglich ist, ob der Täter noch "handelt" oder nicht, so scheitert die Annahme eines einheitlichen Begehungsdeliktes doch daran, daß sich die Beurteilung aller rechtlich erheblichen Fragen nach Unterlassungsgrundsätzen richtet126 • Es ist vom Standpunkt der kritisierten Ansicht aus zunächst nicht einzusehen, warum der Täter im Augenblick der Unterlassung nicht nur den bevorstehenden Erfolgseintritt, sondern auch die Abwendungsmöglichkeit erkannt haben muß127. Denn bei Annahme einer Einheit sind mit der Kausalität und dem "Wollen des Erfolges" alle Tatbestandsmerkmale gegeben. Freilich ist der so verstandene dolus subsequens kein "Verwirklichungswille"12B; dies wird er indessen auch nicht durch die Einbeziehung des Bewußtseins, den Erfolg jetzt abwenden zu können. Dasselbe zeigt sich an den Kollisionsfällen 129 . Wenn A auf seinem Grundstück eine Grube ausgehoben und dabei fahrlässig verkannt hat, daß der kurzsichtige Briefträger hineinstürzen und sich verletzen wird, so ist er, wenn er dies später erkennt, wegen vorsätzlicher Körperverletzung durch Unterlassen dann nicht strafbar, wenn er die als möglich und aussichtsreich erkannte Warnung unterläßt, um das Leben seines in das Schwimmbassin gefallenen Kindes zu retten. Auch hier kommt es somit allein auf die 124 Lampe (a.a.O., S. 106) überschätzt daher die Leistungsfähigkeit seiner Konstruktion bei weitem, wenn er die praktischen Probleme durch sie überwunden glaubt. Die "durchaus eigenen Scllwierigkeiten", die er für sich befürchtet, sind in Wahrheit mit jenen identisch und keineswegs - wie Lampe meint ~ durch Zumutbarkeitserwägungen zu bewältigen. - Vgl. auch Rudolphi, S. 11 f. N. 25a. 125 Vgl. Träger, Unterlassungsdelikte, S.33; vor allem bei Fahrlässigkeitsdelikten keine Seltenheit! 126 Ähnlich v. Rohland, Unterlassung, S. 26, 39; Landsberg, S.9; vgl. auch Androulakis, a.a.O. und E. A. Wolff, a.a.O. 127 Ähnlich schon v. Buri, Causalität (Beilageheft zu GS 'Bd. 37), 1885, S. 18. 128 Armin Kaufmann, v. Weber-Festschrift, S. 218 ff. 129 E. A. Wolff, a.a.O. 9·
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Unterlassung an. Dasselbe gilt für alle anderen praktisch erheblichen Verhältnisse wie Entschuldigung, Täterschaft und Teilnahme, Konkurrenzen, Verjährung etc. Wenn somit das Verhalten desjenigen, der ein selbst in Gefahr gebrachtes Gut nicht rettet, in jeder Hinsicht wie eine Unterlassung zu behandeln ist, so wird man es füglich auch für eine solche halten dürfen. Nur die als mögliche Grundlage einer Garantenpflicht verstandene Ingerenz vermag die entstehenden Fragen befriedigend zu lösen130• 11. Die "vorangehende" Schuld -
Exkurs
Wenn sich die Untersuchung nunmehr der umgekehrten Konstellation einer culpa praecedens zuwendet, so wachsen hierdurch dem Problem des dolus subsequens keine neuen Einsichten zu. Indessen gibt die folgende Darstellung Gelegenheit, einige Begriffe einzuführen, die sich im folgenden als unentbehrlich erweisen. 1. Versari in re illicita und dolus indirectus
Eine der Verursachung vorangehende Schuld kannte das ältere kanonische Recht bei der Zurechnung der Taten Geisteskranker 131 •
Denn wenn ein Kanon der Synode von Worms bestimmte "Si quis insaniens aliquem occiderit, si ad sanam mentem pervenerit, levior ei penitentia iniungenda est", suchte das Streben nach einer concordia discordantium canonum diesen Satz mit dem Schuldprinzip dadurch in Einklang zu bringen, daß die Geisteskrankheit1 32 als schuldhaft gesetzte Ursache für die spätere Untat verstanden wurde: "Die aktuale Schuld, die nicht vorhanden ist, soll hier durch eine vorangegangene Schuld ersetzt werden, so daß die an sich unzurechenbare Handlung um dessentwillen zurechenbar wird, weil ihre Ursache, die Geisteskrankheit, die Folge eines Verschuldens darstellt133." Anklänge des Gedankens einer "actio libera in causa" verflüchtigen sich freilich sogleich zur höheren Gerechtigkeit religiöser Wertvorstellungen, wenn man erfährt, daß die Geisteskrankheit schon dann als verschuldet galt, 130 Frank, § 1 Anm. IV 2 scheint dennoch zu befürchten, daß die Garantenkonstruktion die Gefahr des dolus subsequens nicht zu bannen vermöge. Gegen ihn GrandeTath, S. 117 ff. 131 Nachweise bei M. Müller, Ethik und Recht, 1932, S. 46 ff. und Kuttner, Kanonistische Schuldlehre, 1935, S. 102 ff., 110 ff. 132 Ähnliches gilt für die Trunkenheitsdelikte; vgl. Dahm, Strafrecht Italiens, 1931, S.252, 254 f.; M. MüHeT, a.a.O., S.104; Kuttner, a.a.O., S. 119 ff. 133 Kuttner, a.a.O., S. 103 f.
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wenn sie als Sündenstrafe ex occulto iudicio Dei über den Täter verhängt worden war 134 • In das weltliche Strafrecht ist die culpa praecedens als Lehre vom "versari in re illicita" - Vers anti in re illicita imputantur omnia, quae sequuntur ex delicto - und als dolus indirectus eingegangen135. Denn da der Täter für die zufälligen Folgen eines opus illicitum wegen seiner Schuldbeziehung zu einer anderen als der zugerechneten Tat einzustehen hat, ist das "einmalige Mindestmaß vorhergehender Schuld"136 offenbar ein Relikt der culpa praecedens137 . Sieht man davon ab, daß der Versari-Gedanke auch zur Strafbarkeit derjenigen Abirrungsfälle führte, bei denen der Erfolg durch eine an sich strafbare Vorbereitungshandlung herbeigeführt wurde138, so wird die "Einheit" von opus illicitum und weiterem Erfolg hier in Umkehrung der culpa subsequens gleichsam "von vorwärts" gestiftet. Obwohl nun der Gedanke, daß, wer "überhaupt in Schuld" ist139 , für alle unglücklichen Folgen seiner ursprünglichen Missetat einzustehen hat, nichts weiter als die "Verschleierung von Erfolgshaftung durch eine Scheinschuld"140 darstellt, läßt sich das Versari-Prinzip - wie vielfach bemerkt worden ist - im geltenden Recht überall dort nachweisen, wo ein Verhalten wegen seiner typischen Gefährlichkeit für weitere Erfolge mit einer das in der Gefährdung enthaltene Schuldrnaß übersteigenden Strafe bedroht ist1 41 . Das gilt vor allem für die 134 Vgl. Engelmann, Schuldlehre der Postglossatoren, 1895, S. 210 f.; M.Müller, a.a.O., S.74, 77, 90, 92; Kuttner, a.a.O., S.104f. - Wie Kuttner, a.a.O., S. 187 ff., 229 gegen Löffler, Schuldfonnen I, 1, 1895, S. 138 f., 150 f.; Engelmann, a.a.O., S. 211 f., Loening, KritViertJahresschrift, 3. Folge, II (1896), 245 und Dahm, a.a.O., S. 259 nachgewiesen hat, ging es hierbei auch im kano-
nischen Recht um eine echte Schuldfrage, da die Zurechnung der unglücklichen Folge eines opus illicitum nicht nur Irregularität, d. h. ein promotionsrechtliches Ordinationsverbot, sondern Deposition, d.h. die mit einem Vorwurf verbundene Entziehung des Weihegrades zur Folge hatte. 135 Nachweise bei Kollmann, ZStW 35 [1913], 46 ff. und Kuttner, a.a.O., S.185ff. 138 Dahm, a.a.O., S. 260. 137 So: Engelmann, a.a.O., S.213; Loening, a.a.O., S. 232 ff.; Dahm, a.a.O., S.257, 259; M. Müller, a.a.O., S. 101 ff.; Kuttner, a.a.O., S. 208 ff. 138 Vgl. Löffler, a.a.O., S. 157; Kuttner, a.a.O., S. 207. Die hier vorausgesetzte zeitliche Differenz von opus illicitum und weiterer Folge besteht in solchen Fällen nicht. 139 Engelmann, a.a.O., S. 211. 140 Kuttner, a.a.O., S. 208. 141 Dazu Dahm, a.a.O., S.261; M. Müller, a.a.O., S.102; vor allem Boldt, ZStW 55 [1936], 46 f. 53 ff. - Die landläufige Kritik des Versari-Gedankens übersieht freilich häufig, daß er ursprünglich nur restriktive Funktion besaß; vgl. Löffler, a.a.O., S.141, 147 ff.; Engelmann, a.a.O., S. 211 f.; zu Dohna, ZStW 32 [1911], 330 ff.; Kollmann, a.a.O., S. 66 ff., 104 f.; Binding. Normen IV, S. 115; Boldt, a.a.O., S.46.
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sog. erfolgsqualijizierten Delikte, die sich auch nach Einführung des § 56 StGB durch das 3. StrRÄG wegen ihrer exorbitanten Strafdrohungen nicht lediglich als Summe von Grund- und Folgedelikt verstehen lassen 142 • Auch im Bereich der Strafzumessungsgründe hat der BGH dem Versari-Gedanken ein breites Anwendungsfeld eingeräumt 143 • 2. Actio vel omissio libera in causa vel in omittendo
Während die genannten Fälle der heutigen Dogmatik nun als mehr oder minder gravierende Ausnahmen vom Schuldprinzip und daher als Abnormitäten erscheinen, behauptet sich die culpa praecedens unangefochten im Institut der actio libera in causa 144 ; denn wenn die im schuldausschließenden "Defektzustand " unfrei vorgenommene actio 145 auf einen Zeitpunkt "zurückbezogen" wird, in dem der Täter die erfolgsverursachende Handlung noch nicht vorgenommen, sondern nur eine "causa" für sie gesetzt hatte, so fallen Schuld und Verursachung auseinander. a) Die seit langem herrschende Lehre glaubt diese Friktion freilich dadurch zu vermeiden, daß sie die "Defektbegründungshandlung" , d. h. das Sich-Betrinken etc., als die "entscheidende" Erstursache ansieht, durch welche die Letztursache, nämlich die unfreie actio des Täters, und damit unter der Herrschaft der Bedingungstheorie der tatbestandsmäßige Außenweltserfolg selbst, verursacht werde. Da sich der Täter gleichsam als Werkzeug und Instrument seiner selbst zur Ausführung vorgefaßter Pläne benutze, verschiebe sich der Schwerpunkt des Unrechtsvorwurfs auf die Defektbegründungshandlung. Auf 142 Vgl. etwa Löffler, a.a.O., S. 200 ff.; KoHmann, a.a.O., S.79; Kuttner, a.a.O., S.208; Boldt, a.a.O., S. 49 ff.; ders., ZStW 68 [1956], 356; Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 1961, S. 246; NoH, ZStW 76 [1964],711; Hardwig, GA 1965,97 ff.; vgl. ferner die Beratungen der großen Strafrechtskommission in Bd. 2 der "Niederschriften", 1958, S. 234 ff. - Die Rechtsprechung hatte sich bekanntlich auch hier mit der Aquivalenztheorie begnügt (vgl. noch BGHSt 1,332). Nacll Einführung des § 56 StGB sieht sie das "Schuldprinzip" nunmehr verwirklicht (Vgl. BGHSt 10, 35 [38]; 14, 110 [113]). Dazu unten S. 206 ff. 143 BGHSt (GS) 10, 259. De lege ferenda will freilich § 60 Abs. 11 E 1962 die Zulässigkeit einer Strafschärfung auf die "verschuldeten Auswirkungen der Tat" beschränken. 144 Die Gemeinsamkeiten sind bei Dahm, a.a.O., S. 252, 254 f.; M. MüHer, a.a.O., S. 65 f., 107 und Kuttner, a.a.O., S.107, 116 ff. (119), 223 f. nachgewiesen; vgl. auch Krause, H. Mayer-Festschrift, S. 306 f. 145 Die Defektbegründungshandlung kann auch eine Unterlassung (actio libera in omittendo) sein, wenn sich der Täter dem Einfluß des Rauschmittels nicht entzieht, etwa berauschende Gase oder übermächtige visuelle Eindrücke ungehindert auf sich wirken läßt. Die "Garantenstellung für sich selbst" ergibt sich dabei aus der Unteilbarkeit der autonomen Person, die hier für ihre Körperlichkeit stets einzustehen hat. Vgl. dazu auch unten S. 154 f.
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens
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diese Weise erscheint die actio libera in causa lediglich als "Scheinausnahme vom Schuldgrundsatz"146. - Diese Konstruktion läßt sich indessen nicht ohne Widersprüche durchhalten. b) Das zeigt sich zunächst an ihren praktischen Konsequenzen. Wenn sich A betrinkt, um im Rausch eine bestimmte tatbestandsmäßige Handlung zu begehen, sein Plan jedoch aus irgendwelchen Gründen nicht zur Ausführung kommt, so müßte er je nach seiner Willensrichtung wegen versuchten Mordes, Hochverrats, Diebstahls etc. bestraft werden, obwohl sich seine Absicht bisher lediglich im Griff nach der Flasche manifestiert hat147 • Denn da er mit der Berauschung den "entscheidenden" Kausalverlauf in Gang gesetzt hat, ist nach dieser Ansicht die unmittelbare Tatausführung (d. h. das Setzen der Letztursache im Defektzustand) nur ein weiteres Glied des Kausalverlaufs, den der Täter mit der Defektbegründung aus der Hand gegeben hat. Hieraus ergibt sich zugleich, daß der Versuch mit erreichter Schuldunfähigkeit immer auch schon "beendet" (§ 46 Ziff. 2 StGB) ist, da die Willensbestimmung durch das Defektmittel alles ist, was der Täter als das "Seine" frei zu tun hat1 48 . Das bedeutet aber für den Rücktritt, daß der Täter auch dann, wenn er den Rauschzustand - etwa durch die Einnahme von Ernüchterungsmitteln - tätig (!) aufhebt, strafbar bleibt, weil sich die Willensänderung, die es nach dem Ansatz der Theorie an sich nicht geben kann, von seinen ursprünglichen Intentionen aus stets als "Fehlschlag" des Versuchs darstellt 149. 148 Maurach, AT, S. 372. Die weiteren Nachweise finden sich bei Maurach, JuS 1961, 373 ff. und Krause, a.a.O., S. 305 ff.; vor allem: v. Liszt - Schmidt, S.242; Frank, § 51 Anm. V; Wegner, StrR. 1951, S.82; Mezger, Lehrbuch, S. 281 f.; Baumann, Lehrbuch, S. 339 f.; Welzel Dt. StrR., S.151; SchönkeSchröder, § 51 Rd.-Nr.36; Bertel, JZ 1965,53 f.; BGHSt 17,333 (334) u. OLG DÜSlSeldorf NJW 1962, 684. Die ältere Literatur ist bei Katzenstein, Strafloligkeit der a.l.i.c., 1901 und Mezger, a.a.O., S.282 N. 6 nachgewiesen. 147 Vgl. Maurach, JuS 1961,374,376 ff.; Bertel, a.a.O., S.54 N.I0; a. A. Schönke - Schröder, § 43 Rd.-Nr.17. In dem vergleichbaren Fall der mittelbaren Täterschaft beginnt der Versuch freilich auch nach Ansicht von Schröder (a.a.O., Rd.-Nr. 16) schon mit der Einwirkung auf das nicht eigenverantwortliche Werkzeug; vgl. auch Schröder, JuS 1967, 2'95 N.49. 148 Maurach, a.a.O., S.379 will hier ohne nähere Begründung stets § 46 Ziff.l StGB anwenden und gerät dadurch in Widerspruch zu seinem Ansatz; denn wenn das letzte Teilstück des Handlungskontinuums (beendeter Versuch) in schuldunfähigem Zustand begangen werden kann, so läge darin nur dann kein Widerspruch zum Schuldgrundsatz, wenn das Schlußstück für die strafrechtliche Zurechnung bedeutungslos wäre. Da sich die Lage des Täters jedoch insofern verschlechtert, als er jetzt das Risiko eines Abwend'llngsfehlschlags trägt, trifft diese Annahme nicht zu. Vgl. auch unten 5. Kap. 149 Die strafbefreiende Wirkung des Rücktritts ist zwar nach dem Gesetz nicht von der Zurechnungsfähigkeit des Täters, sondern lediglich von der Freiwilligkeit abhängig (vgl. Bertel, a.a.O., S.54; Schlegel, NJW 1968, 25). Wird jedoch die Aktion als zwangsläufiges Produkt der bestehenden Ursachenkonstellation angesehen, so ist es die Gegenaktion nicht minder.
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Daß also dieselbe einförmige Handlung des Sich-Betrinkens je nach der Willens richtung Versuch jedes beliebigen Delikts sein kann und der Täter auch dann bestraft wird, wenn er seinen Plan aufgibt und den Rausch ausschläft: das sind die praktischen Konsequenzen dieser Ansicht, die das Gericht der Geständnisfreudigkeit des Täters in vollkommener Weise ausliefert. Diese Friktionen beruhen auf der Gleichsetzung der - durch das Rauschmittel freilich versteinerten - eigenpsychischen Kausalität mit dem Ablauf täterfremder Kausalverläufe, der schon die InterferenzTheorie zum Opfer gefallen war150 • Daß zunächst auch das heteronome überspielen von Hemmungsimpulsen ebenso wie die Unterdrückung von Rettungsimpulsen als bloßes Internum des denkenden Menschen allenfalls sein späteres Verhalten, nicht aber den Außenweltserfolg bewirkt, wird dadurch ad oculos demonstriert, daß das im Defektzustand beobachtete Verhalten ein aktives Tun sein muß, wenn der Erfolg ohne Rücksicht auf eine Garantenstellung als Werk des Täters gelten soll! Denn wenn sich A in einen Rausch versetzt, um im Stande der Unzurechnungsfähigkeit die Weichenstellung zu unterlassen, so hängt seine strafrechtliche Verantwortlichkeit für das Unglück offenbar davon ab, ob er als Weichensteller Garant oder Extraneus war151 • Es ist aber nicht einzusehen, warum dieselbe Handlung (das Sich-Betrinken) den Erfolg nur dann verursachen soll, wenn das intendierte Verhalten ein Tun ist1 52 • Auch wenn der Handlungsentschluß - was keineswegs die Regel sein dürfte - durch das Defektmittel versteinert wird, bleibt daher das Setzen der Letztursache als das "Seine" erforderlich; solange der Täter noch bei sich mit seinem Plan umgeht, liegt die Verbrechensausübung noch allein bei ihm und ist in Wahrheit noch nichts entschieden. Die von der herrschenden Lehre angestrebte Erstreckung der in der Defektbegründungshandlung lediglich manifest gewordenen culpa praecedens auf das Setzen der Letztursache kann daher nur dort gelingen, wo der Täter die "natürliche" Fähigkeit zu finaler Steuerung seiner Aktivität wenigstens partiell aufhebt und den Erfolg durch 150 s. oben S. 46 ff. Krause, a.a.O., S. 312 bemerkt hingegen, daß es ohne Bedeutung sei, ob sich eine Abweichung "im äußeren Geschehen oder psychisch auf Seiten des Täters" abspiele, obwohl dieser hier "im Zeitpunkt ~ ein anderer als im Zeitpunkt t 1" ist. 151 H. L.; vgl. Maurach, a.a.O., S.377; Bertel, a.a.O., S. 53 ff. 152 Bertel, a.a.O., S.54 N. 15 glaubt die Defektbegründungshandlung, durch die sich jemand die Erfolgsabwendung unmöglich macht, ohne Rücksicht auf die Garantenstellung des Täters nur dadurch vom Tötungsverbot (!) ausnehmen zu können, daß er den "Rechtswidrigkeitszusammenhang" in Abrede stellt. Da diese Handlung den Erfolg - wie gezeigt ~ jedoch nicht bewirkt, sind seine Bemühungen gegenstandslos.
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bloße Fall- oder Reflexbewegungen herbeiführen will1S3 • Da der durch die Einnahme des Rauschmittels in Gang gesetzte Kausalverlauf hier nicht über den Willen des Täters, sondern über seine Körperlichkeit verläuft, verursacht die Defektbegründungshandlung nicht nur eine Interferenzerscheinung, an deren Ende die "Handlung" des Täters steht, sondern sie bewirkt den Erfolg, indem sie den Körper heteronomen Fallkräften aussetzt; nur hier läßt sich somit sagen, daß sich der Täter als "Werkzeug oder Instrument seiner selbst" benutze 154 und nur hier hat er mit der Ausschaltung seiner Steuerungsfähigkeit alles "Seine" zur Erfolgsbewirkung getan (mit den bereits dargestellten Folgen für Versuch und Rücktritt). c) Ähnliches gilt für die Fälle der "omissio libera in causa"lS5, wobei als Beispiel der Fall dienen möge, daß sich der Bahnwärter betrinkt, um im schuldausschließenden Rausch - bei fortbestehender Handlungsfähigkeit - die Weichenstellung zu unterlassen. Umstritten ist hier zunächst, ob das "Wesentliche" derartiger Fälle in einem Tun oder einem Unterlassen besteht1s6 • Daß das Sich-Betrinken eine positive Handlung, nämlich aktiver Energieeinsatz in einer bestimmten Richtung ist, läßt sich nun nicht bestreiten; diese Handlung bewirkt indessen nur die Trunkenheit des Täters, nicht aber den tatbestandsmäßigen Erfolg, wie wiederum die Straflosigkeit des "handelnden" Extraneus zeigt. Die strafrechtliche Wertung folgt daher den für das Unterlassen geltenden Maximen157• Die bei der actio libera in causa versuchte Reduktion der Kausalität der actio auf die Defektbegründungshandlung versagt bei der omissio libera in causa nun schon deswegen, weil der Erfolg hier überhaupt 153 Gedacht ist hierbei nicht an die vielfach erörterte Aufhebung der Handlungsfähigkeit bei bestehender Abwendungsverpfiichtung (vgl. etwa Krause, a.a.O., S. 311, 315 und weiter im Text), sondern an die Aufhebung der "Unterlassungsfähigkeit". - Entgegen Maurach, a.a.O., S.378 sind solche Beispiele auch denkbar: Der Ladenschwengel begibt sich in den Porzellanladen des verhaßten Prinzipals und betrinkt sich dort inmitten der wertvollsten Stücke, um sie beim Verlassen durch die vorausgesehenen Torkelbewegungen zu zerstören. 154 Ebenso Maurach, a.a.O., S. 374, 377, ohne hieraus jedoch die im Text dargestellten Konsequenzen zu ziehen. Vgl. auch Krause, a.a.O., S.312. 155 Androulakis, S. 152 ff. (156). Wird der Defekt durch ein Unterlassen begründet, entzieht sich der Täter etwa nicht dem übermächtigen Einfluß vorhandener Umweltsfaktoren, so kann von einer omissio fibera in omittendo gesprochen werden. Zur hierbei vorausgesetzten Garantenstellung "für sich selbst" vgl. unten S. 154 bei und in N. 69. lS8 Vgl. etwa v. Liszt - Schmidt, a.a.O., S. 242 einerseits und Mezger, a.a.O., S. 281 f. N.5 andererseits. 151 Ähnlich Maurach, a.a.O., et passim. Allgemein zur Problematik der "Unterlassungsdelikte durch Begehung" Androulakis, a.a.O. (m. Nachw.).
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Zweites Kapitel: Handeln und Unterlassen
nicht vom Täter bewirkt wird, weder durch die actio noch durch die unfreie omissio. Die Frage kann daher nur sein, ob schon das SichBetrinken ein beendeter Unterlassungsversuch, genauer: das Unterlassen eines Versuchs, die gebotene Weichenstellung vorzunehmen 158 , um dessentwillen darstellt, weil der Täter zur Zeit des "tempus utile" unzurechnungsfähig war. Sieht man von den Kontroversen ab, die sich an die Frage einer Unterscheidbarkeit des unbeendeten und beendeten Unterlassungsversuchs knüpfen 159, so kann die Antwort hier nicht anders ausfallen als beim normalen unechten Unterlassungsdelikt: Wenn eine "versuchte Unterlassung" erst dann in Betracht kommt, wenn der Täter den kritischen Zeitpunkt der nach seiner Meinung letzten Abwendungschance ungenutzt hat verstreichen lassen 160, so gilt auch hier nichts anderes, wo sich der Unterlassungswille lediglich in einer Handlung materalisiert. Die Entsprechung zur "actio" libera in causa setzt sich allerdings fort, wenn mit der Defektbegründungshandlung über bloße Unzurechnungsfähigkeit hinaus der Ausschluß der Handlungsjähigkeit intendiert ist und daher im kritischen Zeitpunkt mangels Abwendungsmöglichkeit keine Unterlassung vorliegt (der Bahnwärter betrinkt sich so, daß er im kritischen Zeitpunkt bewußtlos ist und die Weichen stellung daher nicht "unterlassen" kann). Da das Rettungsgebot stets auch den Inhalt hat, "sich die Handlungsfähigkeit bis zum Zeitpunkt des Eingreifens zu erhalten" (resp. sie wiederherzustellen)161, liegt in der Handlung, durch die sich der Täter die Gebotserfüllung unmöglich macht, stets schon das Unterlassen eines Gebotserfüllungsversuchs 162 . Die Besonderheit derartiger Fälle besteht lediglich darin, daß das tempus utile durch das Verhalten des Täters manipulierbar ist und durch die Defektbegründungshandlung als ein der Gebotserfüllung praktisch widersprechendes Verhalten vorverlegt wird 163. Es besteht 158 Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 221 ff. 159 Vgl. statt aller Armin Kaufmann, a.a.O., S. 210 ff. 160 So: Armin Kaufmann, a.a.O. 161 Armin Kaufmann, a.a.O., S.211; ähnlich auch Kissin, Rechtspflicht zum Handeln, S. 32 f. - Die "normlogisclle Frage", ob der handelnde Unterlasser hier nur gegen das Rettungsgebot (Armin Kaufmann) oder gegen ein aus dem Gebot abgeleitetes und daher sekundäres, nur dem Garanten zugängliches Verbot verstößt und daher ein "Begehungsdelikt" (BeTtel, a.a.O., S.55), genauer: ein "Unterlassungsdelikt durch Begehung" (Androulakis, a.a.O., S. 156) verwirklicht, bed·arf in diesem Zusammenhang keiner Erörterung. 162 Ebenso Armin Kaufmann, a.a.O. 163 a. A. Maurach, a.a.O., S. 377 f., nach dessen Ansicht der Versuch auch hier erst mit dem Eintritt der letzten AbwendungSchanCe beginnt, obwohl der Täter diese nicht mehr wahrnehmen kann. Besteht der intendierte Defekt im Ausschluß der Handlungsfähigkeit, beginnt der Versuch nach Meinung von Schönke - Schröder (§ 43 Rd.-Nr.17) mit dem Eintritt der Handlungsunfähigkeit; ob dasselbe auch bei den übrigen Defekten gelten soll, wird nicht deutlich.
D. Dolus vel culpa subsequens vel praecedens
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daher keine Notwendigkeit, die Handlungsfähigkeit für den kritischen Augenblick zu fingieren l64 . d) Wenn sich der Widerspruch zum Koinzidenzprinzip daher in keiner Weise aufheben läßt, ergibt sich die Alternative, die kritischen Fälle der actio vel omissio libera in causa vel omittendo entweder straflos zu lassen l65 oder aber die "Kraft des langen Willens" (Nietzsche)166 einer culpa praecedens anzuerkennen. Sie ist an dieser Stelle nicht zu entscheiden. Offenbar spielt bei der gegenwärtig geübten Praxis der Gedanke mit, daß es dem Täter nicht erlaubt sein könne, die Strafdrohungen des Gesetzes durch jederzeit wiederholbare Manipulationen zu überspielen l67 . Eine dogmatische Erfassung dieser Problematik steht indessen - heute wie früher - aus.
164 So aber Maurach, a.a.O., S.378. Und sich mit § 330 a StGB zu begnügen! 166 Zitiert nach Androulakis, S.218. 167 Vgl. auch Krause, a.a.O., S.309, der die Strafbarkeit der actio libera in causa wohl in ähnlichem Sinne als Ausfluß eines "übergeordneten Gedankens" denkt, "den man als ,Mißbrauch' (Schröder) von Rechten bezeichnen könnte". 165
Drittes Kapitel
Die Gleichstellungsproblematik Wenn sich Handeln und Unterlassen durch die aktive Energie unterscheiden, die im einen Falle mit Richtung auf das geschützte Rechtsgut entfaltet, im anderen hingegen zu seiner Rettung nicht aufgebracht wird (2. Kap. A.-B.), wenn ferner der Wille des Handelnden seine Aktivität zeitlich durchdringen muß (2. Kap. D.), so gehört die mit "Ingerenz" bezeichnete Konstellation zeitlicher Folge von Energieentfaltung und kriminellem Willen in den Unterlassungsbereich. Der gegenwärtige Zustand des Strafgesetzbuchs, das die Voraussetzungen einer Gleich(un)wertigkeit des Unterlassens nur im Besonderen Teil und ohne Intention auf Vollständigkeit (vgl. etwa §§ 99 Abs.lI, 100 c, 109 Abs. I, 121 Abs. I, 123 Abs. I, 218 Abs. I, 221, 223 b, 340 f., 343, 346 f., 357 StGB, 15, 16 Abs. I, 17, 30 Abs.lI, 31 Abs. 11 WStG etc.) regelt, wird daher auch für die Frage nach einer Gleichwertigkeit des auf eine Vorhandlung folgenden Unterlassens zum Problem. Dieses weist zunächst und vor allem einen verfassungsrechtlichen Aspekt auf. A. Die rechtsstaatliche Problematik Denn während das aktive Tun vermöge der Kraftentfaltung stets schon auf seinen Urheber als den "Täter" zurückweist, dessen Tat der gesetzlichen Tatbestandsumschreibung entspricht, bedarf es hierfür bei der Unterlassung weiterer Zurechnungskriterien. Da diese gesetzlich nicht fixiert sind, eröffnet jede Bestrafung unechter Unterlassungen die Möglichkeit eines Konflikts mit der verfassungskräftigen Maxime des "nullum crimen sine lege" (Art. 103 Abs.1I GG; Art. 7 MRK; § 2 Abs. I StGB). Dieser Grundsatz hat jedoch den Ausgangspunkt einer dem geltenden Recht gewidmeten Untersuchung zu bilden; denn da er als "echtes" Grundrecht jede staatliche Gewalt bindet!, verfehlt eine Gleichstellungstheorie, die sich um die Voraussetzungen der Bestrafung unechter Unterlassungen bemüht, in dem Maße das als Recht Geltende, als sie die individuelle Freiheitssphäre über die durch Art. 103 Abs.1I GG gezogenen Schranken hinaus einengt 2 • 1 2
Rd.-Nr. 98, 101. Man wende nicht ein, daß der Verfassungsgeber in Kenntnis der hier
Maunz - Dürig, Art. 103
A. Die rechtsstaatliche Problematik
141
I. Nullum crimen sine lege
Nun formuliert "nullum crimen sine lege" zunächst allgemein den Gedanken, daß es der Entscheidung des durch das souveräne Volk legitimierten Gesetzgebers vorbehalten bleibe, ein unter welchen Wertvorstellungen auch immer als materiell strafwürdig erachtetes Verhalten durch die gesetzliche Poenalsanktion auch formell zu diskriminieren und dadurch allererst zum Verbrechen zu machen3 • Indem die Richtermacht auf diese Weise eingeschränkt wird, bewirkt Art.l03 Abs. II GG Gewaltenteilung und sichert mit der Notwendigkeit einer Positivität gesetzlicher Entscheidung den relativen und fragmentarischen Charakter des Strafrechts4 • Darüber hinaus vermittelt das Prinzip des "nullum crimen sine lege" der Strafe als dem eminenten und schwerwiegendsten aller gegen die Individualsphäre gerichteten staatlichen Eingriffe die Teilhabe an der Erkennbarkeit und Kontrollierbarkeit staatlicher Machtemanationen5 • - Man hat hiergegen eingewendet, daß dieser Grundsatz - insoweit der Feuerbachschen Theorie des psychologischen Zwanges verhaftet weder auf das Schuldprinzip gegründet werden könne, da dieses ein Bewußtsein der Strafbarkeit nicht voraussetze, noch durch das Gebot der Rechtssicherheit getragen werde, da es kein schutzwürdiges IntereSse des Rechtsbrechers gebe, mit unberechenbaren Folgen seiner Tat nicht überrascht zu werden6• Indessen verkennt diese Argumentation das mit dem Postulat der Erkennbarkeit jeder staatlichen Machtäußerung Gemeinte. Denn obwohl Strafbarkeitskenntnis nicht zur Schuld behandelten Problematik den Begriff der "Tat" in Art. 103 Abs.II GG auf den zur Zeit des Inkrafttretens des Grundgesetzes allgemein üblichen Umfang der Bestrafung fixiert habe (dazu Eb. Schmidt, Niederschriften, Bd.2, S.267, 281; Granderath, S.134; abI. Bockelmann, Niederschriften, Bd.2, S.277). Denn einmal bietet die Entstehungsgeschichte des Art. 103 einer solchen historischen Interpretation keine Anhaltspunkte, da die unechten Unterlassungsdelikte weder im Rechtspfiegeausschuß noch im Hauptausschuß erwähnt worden sind (vgI. JöR n.F. 1 [1951], 741 ff. und H. Mayer, Mat. 1 [1954], S. 267 f.). Und zum anderen müßte diese Ansicht folgerichtig zu einem auf den 23.5.1949 fixierten case law führen, wobei auch die wegen ihrer Konzessionen an den Zeitgeist mit Recht kritisierten späten Entscheidungen des Reichsgerichts den Rang von leading cases gewinnen müßten. - Im übrigen zeigt schon eine grammatische Interpretation durch den Vergleich des Art. 103 Abs.II und 111, daß der Begriff der "Tat" nicht nur das positive Tun, sondern auch das Up.terlassen umfaßt (dazu Welzel, Niederschriften, Bd. 2, S. 275 und Eb. Schmidt, a.a.O., S. 275). S VgI. Grünwald, ZStW 70 [1958], 432; ders., ZStW 76 [1964], 13 f.; Busch, v. Weber-Festschrift, S.206; Androulakis, S.169, 176. 4 Dazu GaHas, Heidelberger Jahrbücher IX (1965), S. 14 f. 5 H. L.; vgl. statt aller Maunz - Dürig, Art. 103 Rd.-Nr. 106; Bemmann, JuS 1965, 335. 6 Grünwald, ZStW 76 [1964], 10 ff.
142
Drittes Kapitel: Die Gleich.s,tellungsproblematik
gehört7 und obwohl das Vertrauen des Täters, der im Bewußtsein der "materiellen Unrechtmäßigkeit" seines Verhaltens durch die Maschen des Gesetzes zu schlüpfen hofft, als Motivationsfaktor deswegen nicht schutzwürdig ist, weil ein solches Verhalten seiner Strafwürdigkeit halber unterbleiben sollte, ist die "Meßbarkeit aller staatlichen Machtäußerungen" Konstitutionsprinzip des Rechtsstaates, weil hier die individuelle Freiheit als grundsätzlich unbeschränkt und nur durch die Summe der einzeln und exakt nominierten Eingriffskompetenzen zu denken ist8 • Dieses "Verteilungsprinzip"9 und die daraus abzuleitende Forderung der Gesellschaft nach Berechenbarkeit10 und Kontrollierbarkeit staatlicher Machtentfaltung gelten daher mit unvergleichlichem Nachdruck auch für die Strafe als das eindrucksvollste Machtmittel des Staatesll . Daß es dem Täter auf diese Weise gelingt, die Lücke im Strafgesetz in sein Kalkül einzubeziehen, hat man als Nebenfolge jenes Prinzips hinzunehmen. Transparenz staatlicher Machtentfaltung differenziert sich nun im Strafrecht als Analogieverbot und Verbot unbestimmter Strafgesetze. Beide sind die durch die Gewaltenteilung bedingten Teilaspekte desselben Gedankens. Analogie bedeutet daher "unberechenbare" Entfernung vom Wortlaut der lex und Unbestimmtheit des Strafgesetzes Verzicht auf eine "berechenbare" lex. Strafgesetze müssen der praktischen Rechtsanwendung eine "feste und zuverlässige Grundlage" bieten, um jede dem Täter nachteilige Entscheidung durch bloße Auslegung des Wortlautes der lex verifizierbar zu machen12• H. L.; vgl. Schönke - Schröder, § 59 Rd.-Nr.117. Vgl. Maunz - Düng, Art.20 Rd.-Nr.86, Art.2 Rd.-Nr.47; Carl Schmitt, Verfassungslehre (3), 1957, S. 131. 9 Carl Schmitt, a.a.O. 10 Den Terminus der Berechenbarkeit hat die Deutsche Strafrechtliche Gesellschaft bei ihrem Beschluß aus dem Jahre 1931 verwendet; vgl. Hellmuth Mayer, Mat. I, 1954, S.263. 11 Vgl. Maunz - Dürig, Art.20 Rd.-Nr.87, Art. 103 Rd.-Nr.104; Bemmann, a.a.O., S. 339. 12 Vgl. H. Mayer, a.a.O., S.272; Maunz - Dürig, Art. 103 Rd.-Nr.l07; Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr.64; Grünwald, a.a.O., S. 6 f. - Die Begriffe von "Analogie" und "Auslegung" erscheinen im Text a,ls Funktion eines vorgegebenen Verständnisses des Art. 103 Abs. II GG, der als Postulat der Erkennbarkeit interpretiert wurde. Da die Schrift von Arthur Kaufmann, Analogie und "Natur der Sache", 1965 diesen Bezug zugunsten ontologischer Einsichten vernachlässigt, ist eine Auseinandersetzung nicht möglich. Gegen ihn wäre vor allem einzuwenden, daß sein Analogiebegriff (vgl. vor allem a.a.O., S. 29 ff.) einen spezifisch strafrechtlichen Sinn des Art. 103 Abs. II GG geradezu negiert. Die rechtsstaatliche Problematik der Bestrafung unechter Unterlassungen wird auf diese Weise verharmlost (a.a.O., S.20, 42; daz,u unten S. 150 N. 49; vgl. auch Androulakis, S. 172 ff., 178 f.). 7
8
A. Die rechtsstaaUiche Problematik
143
11. Die rechtsstaatliche Problematik der Bestrafung gesetzlich ungeregelter Unterlassungsdelikte
Es stellt sich daher die Frage, ob die gegenwärtig geübte Bestrafung der unechten Unterlassungen auf Bestimmungen des Strafgesetzes beruht, die die strafbaren Fälle so " eindeutig, plainly and unmistakably, precisement" beschreiben, daß keine "unerträglichen Zweifel" über den Umfang des strafbaren Verhaltens verbleiben 13 , ob dieser mit anderen Worten mittels "berechenbarer Auslegung" des Strafgesetzes erkannt werden kann.
Maurach bezweifelt freilich die Berechtigung dieser Fragestellung14 • Da auch die Willenssteuerung des Unterlassenden rechtserhebliches Verhalten und damit "Handeln" im Sinne des Gesetzes sei, bestimme dieses die Strafbarkeit unechten Unterlassens ebenso bestimmt wie bei den Begehungstaten, "wenngleich in einer die Haftung überdehnenden Weise". Daher diene die Einführung der Garantenstellungen "nicht zur verbotenen E r w e i t e run g, sondern zur gebotenen, gewohnheitsrechtlich statthaften Ein s c h r ä n k u n g der Täterhaftung"15. Wäre dies richtig, so ließe sich in der Tat nichts gegen eine gewohnheitsrechtliche Verfestigung der dem Täter günstigen Rechtsanwendungen vorbringen. Indessen kann von einer Einschränkung der Gesetze nur dort die Rede sein, wo der durch Auslegung zu ermittelnde Sinn die Strafbarkeit der als eingeschränkt ins Auge gefaßten Gesamtheit ergibt. Maurachs Auffassung ließe sich daher nur dann halten, wenn eine Interpretation des Strafgesetzes die Strafbarkeit jeder Unterlassung der Abwendung eines tatbestandsmäßigen Erfolges ohne Rücksicht auf eine wie auch immer zu begründende Garantieposition ergäbe. Richtig ist jedoch offenbar das Gegenteil! Man braucht hierzu nicht die kriminal- und gesellschaftspolitische Unerträglichkeit einer solchen mit den Strafdrohungen der entspre13 H. Mayer, a.a.O., S. 271 f. Dazu die Paraphrase von Androulakis, S.173: "Funktioniert die festgestellte Gleichheit innerhalb oder außerhalb des Begriffsurnfanges des Verbrechens, inner- oder außerhalb der Klasse derjenigen Geschehensabläufe, die durch die den kriminellen Erfolg bezeichnenden Worte des Gesetzes (Tötung eines Menschen, Körperverletzung, Freiheitsberaubung) gemeint werden können (,möglicher Wortlaut')? Hat sich die Wertvergleichung im Rahmen des ,zweifellos Gemeinten' gehalten oder wurden dabei auch die, sagen wir, ,zweifelhaft' gemeinten Fälle herangezogen? Pointierend: Gleichbewertung als Begriffszusammengehörigkeit oder als Gleichbewertung ,des Begriffs'?" (Hervorhebung dort). 14 Maurach, AT, S. 510. Auch nach Ansicht von Baumann (Lehrbuch, S. 224) mindern sich die rechtsstaatlichen Bedenken dann, wenn man (nach dem Vorbild der sog. Rechtspflichttheorien) eine Lösung der Gleichstellungsproblematik auf der Ebene der Rechtswidrigkeit suche. Vgl. auch Böhm, Diss. 1957, S. 25 f., 45 f.
15 a.a.O.; Hervorhebungen vom Verf.
144
Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
chenden Begehungstatbestände sanktionierten Rechtspflicht zur Nächstenliebe zu bemühen 16 • Schon die Existenz der sog. echten Unterlassungsdelikte, "die bis auf einen geringfügigen Rest überflüssig wären, wenn jede Nichtabwendung des tatbestandsmäßigen Erfolges den Unterlassenden als Täter des betreffenden Begehungsdeliktes strafbar machen würde"17, beweist, daß das Gesetz die Unterlassung des tatmächtigen quivis ex populo der entsprechenden Handlung nicht gleichgestellt wissen wollte. Demnach ist die Konstituierung der Garantenstellungen nicht Einschränkung des durch Auslegung erkannten Gesetzesinhalts, sondern Begründung der Strafbarkeit1 8 . Da alle das "Verdientsein des Strafübels" materiell begründenden Umstände unter dem Bestimmtheitsanspruch des Art. 103 Abs. II GG stehen19 , bleibt somit die Frage, ob die sachlichen Voraussetzungen der Garantenstellungen bei der gegenwärtigen Rechtslage mittels berechenbarer Auslegung aus dem Gesetzestext abgeleitet werden können oder nicht. Zugleich ergibt sich, daß die "axiologische" Gleichstellungsproblematik von den im ersten Kapitel dargestellten "dogmatischen" Ansätzen zu ihrer Bewältigung unabhängig ist, daß mit anderen Worten die staatsrechtliche Problematik der Bestrafung unechter Unterlassungen durch keinen dieser Lösungsversuche eo ipso beseitigt oder gemildert werden kann. Denn ob man etwa mit Beling die Gleichstellung bei Annahme von "Tatbestandsidentität" auf der Ebene der Rechtswidrigkeit durchführt20 ; mit Nagler die Unterlassung als "Handlungsäquivalent" einem durch ungeschriebene Tatbestandsmerkmale angereicherten Verbotstatbestand subsumiert21 ; mit Armin Kaufmann und Grünwald ungeschriebene "Garantengebotstatbestände" bildet22 , die staatsrechtliche Problematik bleibt stets dieselbe: ob nämlich die 16 Kahler, Studien I, S. 51: "Dies würde dazu führen, daß ... der Einzelne in eine Unmasse der bedenklichsten Situationen geraten kann, so daß ein Moment übereilter Unterlassung den unschuldigen Passanten zum Mörder stempeln könnte. Wer wollte da noch mit offenen Augen über eine belebte Straße oder durch einen von spielenden Kindern besetzten Park gehen, wenn er überall nach rechts und links zuzuspringen hätte, aus Furcht, daß man ihn eines Todesfalles für verantwortlich erklären würde?" - Vgl. auch v. Bar, Caus8llzusammenhang, S.98; Landsberg, 8.187 f.; Träger, Unterlassungsdelikte, S. 67 ff.; Nagler, GS 111 [1938], 20. 17 Welzel, Dt. StrR., S.201. 18 Vgl. auch Schaffstein, Gleispach-Festschrift, 8.90; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 265. 19 AndrouZakis, 8.248; Bemmann, a.a.O., S.336; Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr.9. 20 Vgl. oben 1. Kap. G. 21 Vgl. oben 1. Kap. H. 22 Armin Kaufmann, a.a.O., S.274; ders., JuS 1961, 173 ff.; Grilnwald, Diss., 1957, 8.38 ff. (44 f., 50 ff.); ders., zstw 70 [1958], 412 ff.
A. Die rechtsstaatliche Problematik
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besonderen Rechtswidrigkeitsmerkmale Belings, die ungeschriebenen Tatbestandsmerkmale des Naglerschen Verbotstatbestandes, die Merkmale des ungeschriebenen Garantengebotstatbestandes im Sinne von Arnim Kaufmann und Grünwald mit hinreichender Genauigkeit und Verifizierbarkeit aus dem Gesetzestext bestimmt werden können. Alle Lösungsversuche stehen daher unter dem Anspruch, neben dem Bezug auf das Rechtsgut und die Strafdrohung des "Verursachungstatbestandes" (i. S. von positivem Tun) auch die sachlichen Auslesekriterien im Hinblick auf diesen Tatbestand aus dem Gesetz herzuleiten23 • Dies gilt schließlich auch für die Lehre Hellmuth Mayers, der ähnlich wie E. A. Wolff - davon ausgeht, daß ein Unterlassen nur dann wie das entsprechende Tun bestraft werden könne, wenn dadurch "eine gute Wirklichkeit verschlechtert", nicht aber schon, wenn "eine schlechte Wirklichkeit nicht verbessert" werde2 4 • Nur im ersten Fall sei das Unterlassen "im Rechtssinn als echtes Tun" anzusehen, und nur insoweit habe die "Rechtssprache" das Unterlassen von vornherein in die Tatbestandsbeschreibung "einbezogen"25. Ob durch eine Unterlassung eine gute Wirklichkeit verschlechtert oder lediglich eine schlechte nicht verbessert wird, entscheidet der "natürliche" und "naive Lebenssprachgebrauch"26. - Daß ein solcher Sprachgebrauch in einigen Fällen strafwürdigen unechten Unterlassens besteht, wird man nicht bezweifeln können (die Mutter "tötet" ihr Kind, wenn sie es verhungern läßt). Bedenkt man jedoch, daß sich dieser eben wegen seiner "Naivität" durch jedes Akzidenz der konkreten Fallgestaltung düpieren läßt, so wird offenbar, daß der den Sprachgebrauch feststellende Richter insgeheim - und ohne Anleitung durch eine generalisierende Theorie! - eine Bewertung vollbringt, die ihrerseits unter dem Anspruch des Art. 103 Abs. II GG steht27 . Auch Hellmuth Mayer kann daher für seine Lehre mit keinem größeren Recht das in Anspruch nehmen, was er bei allen anderen Ansichten vermißt: die 23 Mit dem Text stimmen GaUas, ZStw 67 [1955), 26 N. 56 a und Armin Kaufmann, a.a.O., S. 282 ff.; ders., JuS 1961, 174 f. überein. Auch Grünwald, Diss. 1957, S. 68 ff., ders., ZStW 70 [1958), 412 ff. (423 f., 432) trägt seine
verfassungsrechtlichen Bedenken gegen jede Form der Bestrafung unechter Unterlassungsdelikte vor. Sinngemäß auch Jagusch, bei BGH LM Nr.26 zu § 154 StGB und Welzel, Dt. StrR., S. 202 f. Anderer Ansicht sind hingegen Arthur Kaufmann, JZ 1963, 506; ders., ZStW 76 [1964), 568; Mezger, Lehrbuch, S.I46 N.60; NahstoU, Diss.1951, S.97. Vgl. auch Busch, v. Weber-Festschrift, S.195. 24 H. Mayer, steR. d. dt. Volkes, 1936, S. 173 ff., 213 ff.; StrR. AT, 1953, 8.111 ff.; Mat. I, 1954, S.275ff.; Studienbuch, S.74ff. (81 f.); E. A. Wolff, S. 33 ff., 44 f. 25 StrR. AT, 8. 111, 113. 26 StrR. d. dt. Volkes, 8.213; StrR. AT, S.113; Mat. I, S.277; Studienbuch, S. 81 f. 27 Zur Kritik vgl. auch Welzel, Dt. StrR. (4), 1954, S. 161; Armin Kaufmann, 10 Welp
146
Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
kontrollierbare und berechenbare Ableitung der Garantenposition aus dem Gesetz. 111. Methodische Folgerungen
Ob nun die Bestrafung der gesetzlich ungeregelten unechten Unterlassungsdelikte dem verfassungskräftigen Bestimmtheitsgrundsatz genügt oder nicht, ist an dieser Stelle nicht allgemein zu entscheiden28 • Für die Ingerenz ergeben sich aus dem Prinzip des "nullum crimen sine lege" jedoch methodische Postulate, die für die weitere Untersuchung verbindlich sind. a) Es wird zunächst zu bedenken sein, daß sich berechenbare Auslegung und unberechenbare Analogie ebensowenig wie bestimmtes und unbestimmtes Strafgesetz begrifflich exakt, sondern nur graduell und quantitativ unterscheiden lassen29 • Sofern es daher in der Folge gelingt, die Ingerenz als vom Strafgesetz und seinen Verursachungstatbeständen impliziert und ihnen "immanent"30 zu erweisen, sofern diese Ableitung weiter ein gewisses Maß von Evidenz und Verifizierbarkeit aufzuweisen hat, wird eine benigna interpretatio des Art. 103 Abs. II GG ihren Geltungsanspruch als durch berechenbare Auslegung erkannt hinnehmen können31 . Nur bei diesem Verständnis der Verfassung - und bei "verfassungskonformer" Auslegung der Ansicht ihrer Interpreten - läßt sich der Satz halten, daß die Lösung des Gleichstellungsproblems ebenso wie andere Fragen des Allgemeinen Dogmatik, S.271 N.153, 281 f.; ders., JuS 1961, 176; Grünwald, ZStW 70 [1958], 417 N.13; Busch, a.a.O., S.194 f.; Androulakis, 8.172 N.8. 28 Zum Streitstand: Kraus, ZStw 23 [1903], 763 ff. (789 ff.) und Hellmuth Mayer, StrR. AT, S. 119 f.; Mat. I, S.275, 277 lehnen die gegenwärtige Praxis als verfassungswidrig ab. Auch Grünwald, Diss. 1957, 8.68 ff.; ders., ZStW 70 [1958], 418 N.18, 423 f.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 280 ff.; ders., JuS 1961, 176; Busch, a.a.O., S. 199 ff.; Oehler, JuS 1961, 154 und Welzel, Dt. StrR., S. 202 ff. hegen solche Bedenken. Ähnlich auch Welzel, Niederschriften, Bd.2, S. 275; Bockelmann, a.a.O., 8.277; Krille, a.a.O., S.278; v. Stackelberg, a.a.O.; GaHas, a.a.O., S.279; ferner Maunz - Dürig, Art. 103 Rd.-Nr. 112. Dagegen finden sich mit dem gegenwärtigen Rechtszustand ab Henkel, Recht u. Individualität, S. 63 ff.; Böhm, JuS 1961, 177; Arthur Kaufmann, JZ 1963,506; Baumann, Lehrbuch, S. 223 f.; Maurach, AT, S.510; Granderath, S.132. Vgl. auch Eb. Schmidt, Niederschriften, Bd.2, S.267, 281; ders., Anhang zu Bd.II der Niederschr., S.150; Jescheck, Niederschriften, Bd.2, S.276; Schwalm, a.a.O., S.273; Fränkel, Anhang, S.155. - Weitere Literatur bei Granderath, S. 133 N. 1. Vgl. auch Androulakis, S. 169 ff. (172 ff.). 29 Ebenso Hellmuth Mayer, Mat. I, 8.272; insofern ist daher Arthur Kaufmann (Analogie S. 31 et passim) in der Sache zuzustimmen. 30 Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr.29. 31 Daß der BGH recht weitherzig verfährt, zeigen die Entscheidungen BGHSt 18,77 (78); 18, 359 (362).
A. Die rechtsstaatIiche Problematik
147
Teils (Kausalität, Vorsatz etc.) Rechtsprechung und Lehre überlassen worden seien32 • b) Und nur soweit sich die Ingerenz - dem soeben aufgestellten Postulat entsprechend - berechenbarer Auslegung des Gesetzestextes erschließt, hat es einen Sinn, nach ihrer gewohnheitsrechtlichen Geltung zu fragen! Denn da Art. 103 Abs. II GG die Berechenbarkeit der Rechtsanwendung auf die lex scripta bezieht33, ist die vor 1945 allgemein übliche34 und auch heute noch gelegentlich versuchte35 Legitimation der Ingerenz durch longa consuetudo und communis opinio necessitatis nur unter der Voraussetzung nicht offener Bruch des verfassungsrechtlichen Gebotes, daß die Bestrafung der auf eine gefährliche Vorhandlung folgenden Unterlassung als von Text und Sinn des Strafgesetzes mitgemeint erwiesen wird. Die gewohnheitsrechtliche Begründung der Ingerenz erübrigt daher keineswegs eine im Blick
auf die Wertungen des Gesetzes zu gebende Ableitung; sondern sie spricht ihr als unvermittelte, nämlich nicht durch Auslegung vermittelte Begründung "damit gerade die Qualität einer gesetzlichen Bestimmung im Sinne des ,nullum crimen si ne lege'" ab 36 • Denn eine sich zu Ungunsten des Täters auswirkende Versteinerung ist im
32 Vgl. etwa Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr.29, 64; Maunz - Dürig, Art. 103 Rd.-Nr. 112. 33 Einhellige Ansicht; vgl. statt aller Maunz - Dürig, Art. 103 Rd.-Nr.106, 111 f.; Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr.11, 24 ff. 34 Vgl. etwa Träger, Unterlassungsdelikte, S. 102 ff.; R. v. HippeL, ZStw 36 [1915], 504; ders., Dt. StrR., Bd.2, S. 164 N.1; Bohne, JW 1932, 2722; GerLand, Dt. RStrR. (2), S.170; v. Liszt - Schmidt, S.191; AUfeLd, Lehrbuch (9), S. 113 f. N.47; Drost, GS 109 [1937], 16 f.; NagLer, GS 111 [1938], 22 f. Vgl. auch Frank, § 1 Anm. IV 2 und Niethammer, ZStW 57 [1937], 457. Ablehnend Höpfner, ZStW 36 [1915], 116 und M. E. Mayer, AT d. dt. StrR. (2), S. 192 N. 11. Kritisch auch Kantorowicz, Unechtes UnterlasSlUIlgs- und unbewußtes Fahrlässigkeitsdelikt, S.50. - Auch das RG hatte in RGSt 46, 337 (343); 74, 283 (285); 75, 271 (273) auf seine ständige und "feste" Rechtsprechung verwiesen und die Ingerenz in RGSt 58, 130 (132 f.) als "in der Rechtsprechung anerkanntes Gewohnheitsrecht" bezeichnet; vg!. auch RGSt 70, 151 (154). 35 NahstoH, Dis!>. 1951, S. 95 ff.; Wrede, Diss. Hamburg 1955, S.102; Granderath, S. 128 ff.; Fuhrmann, JuS 1963, 22; Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr. 29 (der noch in der 10. Auf!. [1961] auch in Anm. VI 2 e Vorbem. zu § 1 enthaltene Satz ist in den entsprechenden Zusammenhang der 11. Auf!. [1963], Rd.-Nr.77-80 Vorbem. vor § 1 und der 13. Auf!., Rd.-Nr. 119-123 freilich nicht mehr aufgenommen). Einschränkend Mezger, Lehrbuch, S.146; Schnause, Diss. Köln 1953, S. 57 ff.; vgl. auch Armin Kaufmann, Dogmatik, S.286. Aus der Rechtsprechung: Während OLG Hamm HESt 2,242 (243) und OLG Oldenburg NJW 1961,1938 die Ingerenz wiederum als Gewohnheitsrecht bezeichnen, verweisen OGHSt 2, 11 (14); 3, 1 (3) und BGHSt 4, 20 (22); BGH LM Nr.10 Vorbem. zu § 47 StGB - Täterschaft durch Unterlassung - lediglich auf die Anerkennung dieses Satzes. Einschränkend BayObLG NJW 1953, 556 und BGH MDR 1956,271 (DaHinger). Ablehnend HenkeL, MonSchrKrim. 44 [1961], 185. Kritisch auch Vogt, ZStw 63 [1950/51], 386. 36 HenkeL, MonSchrKrim. 44 [1961], 185.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Strafrecht nur insoweit zulässig, als diese durch berechenbare Auslegung gedeckt ist; hingegen unterwirft Art. 103 Abs. II GG jede dem Täter nachteilige Unberechenbarkeit der Rechtsanwendung - mag sie auf Mängeln des Gesetzes oder der Rechtsanwendung beruhen - dem Verdikt der Verfassungswidrigkeit. Solange freilich die Bestrafung unechter Unterlassungsdelikte von dem Nachweis einer außerstrafrechtlichen Rechtspflicht abhängig gemacht wurde, mochte die gewohnheitsrechtliche Legitimation der Ingerenz weniger bedenklich erscheinen. Denn es ist anerkannt, daß sich gewohnheitsrechtliche Bildungen anderer Rechtsgebiete auch zum Nachteil des Täters auswirken können, wenn das Strafrecht auf jene verweist37 • Mit dieser Begründung hatte denn auch Ger land eine Kollision mit dem Grundsatz des "nullum crimen sine lege" verneint 38 • Aber einmal hat die außerstrafrechtliehe Geltung der Ingerenz schon je in Zweifel gestanden, da niemand die Rechtsfolgen anzugeben vermochte, die sich an die Verletzung einer solchen Pflicht knüpfen sollen39 • Und zum anderen ist das ganze Fundament dieser Lehre durch die Erwägung erschüttert worden, daß die Verletzung einer außerstrafrechtlichen Pflicht eben auch lediglich außerstrafrechtliche Sanktionen zur Folge haben könne40 • Auch der praktischen Rechtsanwendung bleibt daher eine Ableitung des mit "Ingerenz" bezeichneten Haftungsgrundes nicht erspart. e) Indessen ist dem verfassungskräftigen Bestimmtheitsgrundsatz nicht schon damit genügt, daß die Geltung des Ingerenz-Prinzips als solche durch berechenbare Auslegung des Gesetzes legitimiert wird; vielmehr steht auch der Geltungsbereich der Verpflichtungswirkung gefährlicher Vorhandlungen unter diesem Anspruch. Denn wäre es anders, so bliebe es vermöge der unbestimmten Weite eines nur in seiner Allgemeinheit verifizierbaren Rechtssatzes schließlich doch dem die "Umstände des Einzelfalles" anschauenden Richter und seiner unberechenbaren Dezision überlassen, die Strafbarkeit unechten Unterlassens verbindlich zu begründen. Wird aber die Strafnorm vom Richter unter dem Eindruck des Einzelfalles gebildet, so führt dies wie Hellmuth Mayer treffend bemerkt hat 41 - zu einer "ständigen Erweiterung" der Strafbarkeit, da die Rechtsprechung bei jedem Vgl. Schönke - Schröder, § 2 Rd.-Nr.28; dort auch Rd.-Nr.19. Gerland, Dt.RStrR. (2), 1932, S.170 N.2: die gewohnheitsrechtliche Geltung der Ingerenz widerspreche deswegen nicht § 2 Abs. I StGB, weil das Strafrecht nur die rechtswidrige Unterlassung bestrafe. "Ob aber die Unterlassung rechtswidrig ist, ist keine Frage des Strafrechts." 39 Vgl. etwa Grilnwald, zStW 70 [1958], 421. 40 Vgl. oben S.65. 41 Hellmuth Mayer, Mat. I, S. 273 f. 37 38
A. Die rechtsstaatliche Problematik
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neuen Fall, der sich von den bisher entschiedenen um eine weitere Nuance entfernt, dem "Schmerz der Grenze" dadurch auszuweichen sucht, daß sie ihn für strafbar erklärt42 . Womit eben jener Zustand erreicht wäre, den "nullum crimen sine lege" zu verhindern sucht. Die Ergebnisse der folgenden Untersuchung können daher nur dann mit dem Anspruch auftreten, dem geltenden Recht anzugehören, wenn sie die Ingerenz als "anwendbare Rechtsnorm"43 erweisen, deren Umfang durch begrifflich exakte Formulierung so genau bestimmt ist, daß sie die Rechtsprechung hier wie überall sonst im Strafrecht auf ihre eigentliche Subsumtionsaufgabe zurückweist. Mit dieser Forderung ist jede Theorie als verfassungswidrig verworfen, die ihre Aufgabe lediglich darin sieht, der praktischen Rechtsanwendung ein "Vakuum" zu schaffen, um ihr auf diese Weise die "Chance" zu geben, "der Besonderheit der möglichen Fallgruppen und darüber hinaus sogar der rechtlich relevanten Individualität des Einzelfalles Rechnung zu tragen" (Henkel). Wenn der Praxis nur "unbestimmte Begriffe", "Generalklauseln", "Richtlinien", "Regulative" oder gar "Anhaltspunkte", "Haltepunkte" und "Hinweise" gegeben werden 44, wenn der Norminhalt bei den unechten Unterlassungsdelikten durch richterliche Dezision gebildet werden soll, wenn "vor dem richterlichen Urteil alles ungewiß" zu bleiben hat und der Tatbestand "seine verbrechenskonstitutive Bedeutung erst dadurch [sc. erhalten kann], daß ihm der Rechtsanwender seinen konkreten Inhalt verleiht"45, so hat es für eine dem Art. 103 Abs. II GG verbundene Spruchpraxis keine "Resignation"46, sondern - Freisprüche zu geben. Wo es "kein subsumtionsfähiges Begriffsgebilde", "keinen anwendbaren Rechtssatz" , sondern nur eine "Leitlinie" gibt, die den Richter nicht von der Aufgabe "entbindet", den "Rechtsgedanken im Hinblick auf den Einzelfall weiter zu modellieren (!), um zu sehen, ob sich daraus ein konkreter Richtsatz ergibt, der auf die vorliegende Fallgruppe paßt"47, dort gibt es unter der Herrschaft des "nullum crimen sine lege" kein Verbrechen. 42 H. Mayer, a.a.O., S.267; vgl. auch Grünwald, ZStw 76 [1964], 16; Busch, a.a.O., S. 200 f. - Henkel (MonSchrKrim. 44, 193), der die Schuld bei den naturrechtlichen Tendenzen der Rechtsprechung findet, verkennt, daß solche Strebungen vor allem dort wuchern, wo ihnen nicht durch begrifflich exakte Normen Einhalt geboten wird. 43 Diese Qualität spricht ihr Henkel, Recht und Individualität, S. 64 f. ab. Vgl. auch Henkel, MonSchrKrim. 44, 187 et passim. Vgl. Henkel, Recht und Individualität, S. 63 ff.; MonSchrKrim. 44,178 ff. (186 ff.); ferner Mezger-Festschrift, S. 276 ff. Vgl. auch Geilen, JZ 1965, 474. 45 MonSchrKrim. 44, 188 f. 46 a.a.O., S. 186. 41 a.a.O., S. 192; vgl. auch Mezger-Festschrift, S.281.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Mit keinem geringerem Nachdruck gilt das Vorangegangene auch für alle Lehrmeinungen, die die Gleichstellung des Unterlassens mit dem positiven Tun durch Sätze legitimieren wollen, deren unbestimmte Allgemeinheit sogleich der Einschränkung durch "alle Umstände des Einzelfalls" bedarf48 • Denn das Bestimmtheitspostulat des Art. 103 Abs. II GG bezieht sich - soweit es hier zur Erörterung steht - auf die Unrechtsbegründung in toto und nicht nur auf einen Teil ihrer Prämissen 49 • Die weitere Untersuchung steht somit unter dem Postulat, den Geltungsbereich der Ingerenz mit hinreichender Bestimmtheit aus denjenigen Prinzipien herzuleiten, die dem Gesetz für verifizierbare Auslegung immanent sind. B. Induktionsversuche I. Der "Wille des Gesetzgebers"
Herleitung der Ingerenz im Hinblick auf die Entscheidungen des positiven Gesetzes verlangt nun zunächst den Nachweis, daß die Bestrafung gesetzlich ungeregelter unechter Unterlassungsdelikte überhaupt seinem " Willen " entspricht. Mit den Mitteln logisch-grammatischer Interpretation läßt sich dabei keine Eindeutigkeit erzielen, da sich die bereits genannten Fälle gesetzlicher Gleichstellung ebensowohl als Ausnahmen von der generellen Straflosigkeit der Unterlassungen (argumentum e contrario) wie auch als gesetzestechnisch bedingte Beispiele ihrer Strafbarkeit (argumentum a simile) verstehen lassen. Daß der historische Gesetzgeber die Strafbarkeit unechter Unterlassungen mit den erwähnten Fällen nicht hat erschöpfen wollen, steht freilich außer Zweifel50 • Wenn sich seine Stimme gleichwohl nur 48 Vgl. etwa Boldt, ZStW 55 [1936], 45; v. Liszt - Schmidt, S.191; Mezger, Lehrbuch, S. 146 ff.; BGH MDR 1956, 271 (Dallinger). 49 Für Arthur Kaufmann (JZ 1963,506; Analogie, S. 20, 42) wird freilich auch das Vorangegangene als "späte Blüte der gesetzespositivistischen Begriffsjurisprudenz" erscheinen müssen (Analogie S. 42). Die Akzentuierung des "analogischen" Charakters jeder Subsumtion und die hierdrurch ermöglichte Fehldeutung des verfassungskräftigen Grundsatzes "nullum crimen sine lege", der mehr oder minder als antiquiertes Requisit positivistischen Denkens angesehen wird, führen Kaufmann zu einer intuitiven Wesensschau, die der hier verfolgten Fragestellung strikt zuwiderläuft. Die der Ingerenz-Problematik gewidmete Fallbesprechung, die Kaufmann und Hassemer in JuS 1964, 151 ff. veröffentlicht haben, zeigt denn auch in aller Deutlichkeit, daß auf dieser methodischen Grundlage keine Verständigung möglich ist. Das "topische" Denken, das dort gegen eine "rationale Methode" ausgespielt wird (a.a.O., S.153), führt in Wahrheit über den Appell an den gesunden Menschenverstand nicht hinaus. Vgl. auch die treffende Kritik von Rudolphi, S. 60 ff. 50 Diesen Nachweis hat Clemens, Unterlassungsdelikte, S. 46 ff. mit aller
B. Induktionsversuche
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"unerhört leise und dunkel"51 vernehmen läßt, so findet diese Abstinenz ihre Erklärung in den auch bei der gegenwärtigen Reform bemerkbaren Zweifeln an der Möglichkeit einer generellen gesetzlichen Regelung, ferner in dem Vertrauen auf den Takt der Gerichte und die Ingenuität der Wissenschaft. Will man dem Strafgesetz nicht blanke Willkür unterstellen - die Mutter, die nichts gegen eine ohne ihren Willen an ihr vorgenommene Abtreibung unternimmt, wäre nach § 218 Abs. I StGB ("zuläßt") strafbar, dagegen straffrei, wenn sie das lebend zur Welt gekommene Kind verhungern läßt - , so wird man diesen Willen auch aus dem Gesetz entnehmen können. - Wenn nun zwar einige, nicht aber alIe 52 gesetzlich ungeregelten Fälle der Nichtabwendung tatbestandsmäßiger Erfolge wie deren aktive Herbeiführung bestraft werden sollen, so fragt sich weiter, ob die danach notwendige Auslese der Gleichstellungskriterien mit der postulierten Berechenbarkeit aus dem Gesetz gewonnen werden kann. Hinblick auf die Entscheidungen des Gesetzes, an denen sich die Ingerenz als mögliches Gleichstellungskriterium zu legitimieren hat, bedeutet nun vorläufig Suche nach Bestimmungen, in denen der Gesetzgeber selbst die Gleichstellung aus Gründen der Ingerenz vorgenommen hat53 • Freilich kann ein solches Verfahren für sich allein niemals die "Notlage" der unechten Unterlassungen beseitigen, indem es der praktischen Rechtsanwendung einen "Gleichstellungsobersatz" (Böhm) liefert. Denn einmal reicht das gesetzliche Material jedenfalls bei der Ingerenz für eine solche Induktion nicht aus; und zum anderen formuliert eine Theorie, die aus den "einschlägigen Bestimmungen" ein "Prinzip" ableiten oder diese "analog verwerten" wilJ54, gerade den Widerspruch zu dem Grundsatz des "nullum crimen sine lege", wenn sie vereinzelter gesetzlicher Regelungsbeispiele zu bedürfen glaubt55 : Wenn keine Begehungsdelikte durch Induktion der Grundgedanken anderer Delikte entstehen können, so muß für die Unterlassungsdelikte dasselbe gelten. Dennoch sollte ein solches Verfahren als erste Orientierung und mögliche Kontrolle der anderweit begründeten Ergebnisse bei dem gegenwärtigen Rechtszustand, der auch den Akribie geführt. Vgl. auch Landsberg, S. 221 ff; Träger, Unterlassungsdelikte, S. 79; Nagler, GS 111 [1938], 12 ff. 51 Landsberg, S. 193. 52 Vgl. oben S. 143 f. 53 So schon Landsberg, S. 192 ff.; nach ihm Löffler, Grünhuts Zeitschrift 20 [1893], 767 ff. (768 f.); Finger, Lehrbuch, S. 292 f.; Nagler, GS 111 [1938], 55 ff. (59 f.); Vogt, ZStW 63 [1950/511. 396 f.; Böhm, JuS 1961, 179 ff. Kritisch Grebe, Rechtspflicht, S. 19 ff.; Androulakis, S. 174; E. A. Woltt, S.39 N.16. 54 Landsberg, S. 193. 55 Ähnlich Androulakis, a.a.O.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
geringsten gesetzlichen Anhaltspunkt zu einem wertvollen Argument werden läßt, nicht zurückgewiesen werden; nur wird es für sich allein dem Anspruch des Art. 103 Abs. II GG nicht genügen können. 11. "Echtheit" und "Unechtheit" der Unterlassungsdelikte
Freilich sieht sich dieses Verfahren sogleich der Mehrdeutigkeit dessen ausgesetzt, was unter "Echtheit" und "Unechtheit" eines Unterlassungsdelikts verstanden werden kann und verstanden wird 56 ; denn es gilt als sicher, daß nur das gesetzlich geregelte unechte Unterlassungsdelikt Rückschlüsse auf die Gleichstellungskriterien erlaubt57 . Indessen braucht die Problematik dieser Unterscheidung hier nicht in ihrer ganzen Breite entfaltet zu werden. Vielmehr eröffnet sich dem Folgenden ein mögliches Verständnis von Echtheit und Unechtheit aus der methodischen überzeugung, daß eine Begriffsbestimmung nur mit Rücksicht auf dasjenige Bedürfnis erfolgen kann, in dessen Dienst sie stehen solls8. Dieses ist die Suche nach Fällen gesetzlicher Gleichstellung von Handlungen und Unterlassungen, speziell aus Gründen vorausgegangener Aktivität des Unterlassenden. Als gesetzlich geregelte "unechte" Unterlassungsdelikte gelten daher im folgenden nur solche Fälle, in denen die Unterlassung einer Handlung ausdrücklich derselben Straf drohung unterworfen wird wie die auf die Verletzung desselben Rechtsgutes gerichtete vergleichbare HandlungS9 • Dagegen vermag die "Nähe" zum geschützten Rechtsgut oder zum Gefahrenherd für diese Fragestellung keine Abgrenzungsfunktion zu behaupten60 ; denn da dieses Merkmal allenfalls Ergebnis der beabsichtigten Analyse gesetzlicher Regelungsbeispiele sein kann, käme eine mit seiner Hilfe versuchte Auswahl des Untersuchungsmaterials einer Tautologie gleich. 66 Vgl. statt aller Armin Kaufmann, s. 272 ff. (275 H.) und Androutakis, S. 140 ff. (158 ff.). 57 Landsberg, S.194; dazu unten S. 162 f. 68 Vgl. oben S. 109 f. 59 Der Text stimmt mit der von Armin Kaufmann (S.277) gegebenen "axiologischen Abgrenzung" überein. Die "naheliegenden Gründe" (S. 275), aus denen Kaufmann noch einen zweiten Begriff der Unechtheit konstituiert (a.a.O. und S.315: unecht sind alle gesetzlich nicht geregelten Unterlassungsdelikte), sind freilich von dem hier eingenommenen methodischen Standpunkt aus gleichfalls legitim: Sie akzentuieren die rechtsstaattiche Problematik der Frage. - Von den Reflexionen über Echtheit und Unechtheit bei Androutakis (S. 142 ff.) ist der Text durch seinen "rein juristischen" Bezug getrennt. 60 So aber Androutakis, S.159; Jescheck, ZStW 77 [1965], 122 u. a.; abI. auch Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 275 f.
B. Induktionsversuche
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Einzelfälle gesetzlich geregelter unechter UnterIassungsdelikte
Nun gehören die gesetzlich geregelten unechten Unterlassungsdelikte, bei denen die Gleichstellung auf gefährlichem Vorverhalten des Unterlassenden beruht, offenbar zu den Raritäten. Näherer Betrachtung bedürfen der Hausfriedensbruch nach § 123 Abs. I StGB61, die Aussetzung gem. § 221 Abs. I StGB62, die Herbeiführung von Brandgefahr nach § 310 a Ziff. 2 StGB63 und die Übertretungen nach §§ 366 Ziff. 9 StGB, 41 Abs. I StV064. 1. Hausfriedensbruch (§ 123 Abs. I StGB)
Nach § 123 Abs. I StGB wird wegen Hausfriedensbruchs bestraft, wer in die fremdem Hausrecht unterliegenden Räume "widerrechtlich eindringt, oder wer, wenn er ohne Befugnis darin verweilt, auf die Aufforderung des Berechtigten sich nicht entfernt". Da die zweite Alternative von dem Täter positiven Energieeinsatz, nämlich das (aktive) Verlassen des geschützten Bereichs verlangt, vertypt das Gesetz insoweit ein Unterlassungsdelikt65 ; denn es ist gleichgültig, welches der gebotenen Handlung faktisch widersprechende Verhalten der Täter beobachtet: ob er bloß "bleibt", randaliert, Widerstand gegen seine Exmittierung leistet oder dergl. Da das Gesetz ferner das Unterlassen des Sich-Entfernens der Eindringungshandlung gleichstellt, handelt es sich für die hier vertretene Ansicht um ein "unechtes" Unterlassungsdelikt88 • Daß das Gesetz die Strafbarkeit des Unterlassens von einer Aufforderung des Berechtigten abhängig macht, ändert daran nichts; denn da dieses (vorsatzkongruente) Tatbestandsmerkmal alle Zweifel über die künftige Unbefugtheit des Verweilens ausschließen soll, hat es lediglich die Funktion, die mit "Eindringen" 61 Vgl. Landsberg, S. 198; Böhm, JuS 1961, 179 f. Ferner Armin Kaufmann, a.a.O., S. 277; Androulakis, S.146. 62 Vgl. Landsberg, S. 203 f.; Träger, Unterlassungsdelikte, S. 79 f.; Nagler GS 111 [1938], 59; Böhm, a.a.O.; Androulakis, a.a.O.; Separowi~, ZStW 77 [1965], 161. 63 Androulakis, a.a.O. 64 Androulakis, a.a.O. 65 H. L. Außer den in N. 66 Genannten noch v. Olshausen, StGB I (12), 1942, § 123 Anm.7; Frank, § 123 Anm.1I 2; Armin Kaufmann, JuS 1961, 174 N.5; Mezger - Blei, StudB. 11 BT (9), 1966, S. 122; Maurach, BT, S.I71, 174; Schönke - Schröder, § 123 Rd.-Nr.17; Lackner - Maassen, § 123 Anm.4.; a. A. Binding, Lehrbuch d. Gern. Dt. StrR. I (2), 1902, S. 123. 66 Definiert man das echte Unterlassungsdelikt als "Delikt ohne Erfolg", so trifft diese Bestimmung freilich auch auf das Verweilen des § 123 StGB zu. Vgl. Landsberg, S.198; Frank, a.a.O.; Maurach, a.a.O.; Baumann, Lehrbuch, S. 217; BGHSt 19,298; 21,225. Wie hier Armin Kaufmann, a.a.O., S.277; Böhm, a.a.O.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
gekennzeichnete Modalität der Begehung durch aktives Tun auch der Unterlassung zu sichern67 . Böhm ist nun der Ansicht, daß die Strafbarkeit des Verweilens deswegen auf dem Ingerenz-Gedanken beruhe, weil der Täter das Rechtsgut des Hausfriedens "durch vorausgegangenes Tun", nämlich durch das - zunächst berechtigte - "Betreten eines fremden Grundstücks" "in Gefahr" gebracht habe68 . - Aber zunächst erschöpft diese Interpretation nicht alle Fälle unbefugten Verweilens. Wenn A auf der Straße einen Schwächeanfall erleidet, von Passanten in das Haus eines Hilfsbereiten getragen wird und - wieder zu Kräften gekommen - nunmehr die Sommerfrische hier verbringen will, so erfüllt er nach der vergeblichen Abmahnung des Berechtigten die 2. Alternative des § 123 Abs. I StGB. Da in solchen Fällen keine gefährliche Vorhandlung ersichtlich ist, versagt die Deutung Böhms jedenfalls insoweit.
Aber auch wenn der Täter die befriedeten Räume "betreten" (etwa mit Einwilligung des Berechtigten, auf Grund eines Zwangsrechts, im Rausch oder dergl.) und daher gehandelt hat, beruht die Strafbarkeit des Verweilens nicht auf der Ingerenz. Denn die Vorhandlung schafft hier lediglich die faktische Voraussetzung dafür, daß der Täter durch sein "Dasein", nämlich seine körperliche Befindlichkeit in den fremden Räumen, zum Störenfried wird. Nicht weil er das Hausrecht aktiv in Gefahr gebracht hätte (d. h. weil sich der Täter später zu einem deliktischen Verhalten frei entschließen könnte!), sondern weil er sich von seiner "Anwesenheit" nicht anders als durch "Abwesenheit" zu distanzieren vermag, ist der Täter "Garant für sich selbst"69. Die in § 123 Abs. I StGB gemeinte Verantwortlichkeit beruht daher nicht auf einer durch Aktivität vermittelten Nähe zu einem gefährdeten Rechtsgut, sondern auf der nächsten Nähe zu sich selbst. Auf diese Weise rückt die irrtümlich für einen Anwendungsfall der Ingerenz angesehene Garantieposition in den weiteren Umkreis des Einstehen67 Vgl. bereits oben S. 18 f. Nach BGHSt 21,224 (225 f.) und Schröder, JR 1967, 304 H. kann freilich auch ohne Aufforderung zum Verlassen ein Eindringen durch Unterlassen dann begangen werden, wenn der Täter die Räume widerrechtlich-schuldlos betreten hatte. Eine solche Auslegung ist mit dem Text schwerlich vereinbar; denn wenn das Gesetz selbst die Voraussetzungen einer ModaHtätsäquivalenz der Unterlassung normiert, ist diese Entscheidung nicht weniger abschließend wie im Bereich der Begehungsdelikte. 68 Böhm, a.a.O., S. 180. 69 Nichts anderes gilt für die Gleichstellung des Fernbleibens (Unterlassen der Rückkehr) mit dem Verlassen der Truppe in den §§ 15, 16 Abs. I WStG. Auch hier schafft die rechtmäßige oder schuldlose Handlung lediglich die faktische Möglichkeit des Unterlassens, nicht aber die Gefahr, daß sich der Täter zur Fahnenflucht entschließen werde.
B. Induktionsversuche
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müssens für seine Körperlichkeit, die das Gesetz in den §§ 109 Abs. I StGB/17 WStG und § 218 Abs. I StGB vertypt hat: Ob sich der Wehrpflichtige/Soldat durch Verstümmelung selbst zur Erfüllung der Wehrpflicht untauglich "macht" oder sich durch einen Dritten hierzu untauglich "machen läßt", ist ebenso gleichgültig, wie es für die Strafbarkeit der Schwangeren belanglos ist, ob sie ihre Leibesfrucht selbst aktiv "abtötet" oder die Abtötung durch einen Dritten "zuläßt". Allein durch seine Psyche vermag sich der Mensch als "psychophysische Einheit" nie von seiner Physis zu distanzieren. 2. Aussetzung (§ 221 Abs. I StGB)
Ferner könnte daran gedacht werden, das hier gewählte induktive Verfahren auf den Tatbestand der Aussetzung gern. § 221 Abs. I StGB anzuwenden. Voraussetzung hierfür wäre, daß das Gesetz mit der Alternative des "Aussetzens" ein positives Tun, nämlich das räumliche Verbringen der hilflosen Person aus einem Zustand relativer Sicherheit in eine Lage konkreter Lebensgefahr 70 , unter Strafe stellte, dem mit dem "Verlassen" in hilfloser Lage ein vergleichbares Unterlassen gegenüberstünde. Dies wird von einer verbreiteten Ansicht angenommen, die in der zweiten Alternative des § 221 Abs. I StGB ein Unterlassungsdelikt vertypt sieht7 1 • Läßt man indessen die streitige Frage beiseite, ob das "Verlassen" auch durch ein anderes Verhalten als die Aufhebung der räumlichen Nähe zum Opfer seitens des Täters begangen werden könne, so verbietet das Gesetz offenbar eine Handlung, nämlich die Entfernungshandlung 72 ,73. Hiermit scheint die These vom Unterlassungs charakter der zweiten Tatbestandsalternative bereits widerlegt zu sein. Sie wird indessen verständlich, wenn der Kreis möglicher Täter eines Ver70 Kohlrausch - Lange, § 221 Anm. II; Schwarz - Dreher, § 221 Anm. 4 A; Schönke - Schröder, § 221 Rd.-Nr.6; Dreher, JZ 1966,581 mit weiteren Nach-
weisen. 71 Vor allem Binding, a.a.O., S. 62 f.; Schäfer, in: LK II, § 221 Anm. II 2 B; Maurach, BT, S.48; Welzel, Dt. StrR., S.284; ferner die in BGHSt 21, 47 N.l und bei Dreher, a.a.O., S. 580 Genannten. 72 Ebenso Landsberg, S. 203 f.; Schönke - Schröder, § 221 Rd.-Nr. 11; Dreher, a.a.O. 73 Daß der Anwendungsbereich des § 221 StGB hiermit erschöpft sei, vertreten Kohlrausch - Lange, § 221 Anm. IV; Schwarz - Dreher, § 221 Anm. 4 B; Dreher, a.a.O., S. 580 f. u. a. Hingegen halten Frank, § 221 Anm. III 2, SchönkeSchröder, § 221 Rd.-Nr. 7 a und BGHSt 21,48 f. ein "Verlassen" durch Unterlassen der Rückkehr seitens des abwesenden Täters, Schönke - Schröder, § 221 Rd.-Nr.7; Maurach, BT, S.48 u. a. auch ein "Verlassen" durch Unterlassen der Hilfe seitens des anwesenden Täters für tatbestandsmäßig. Vgl. auch RGSt 8,343; 38,377 und Welzel, a.a.O.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
lassens ins Auge gefaßt wird; denn im Gegensatz zum Normalfall des Begehungsdelikts kann hier nicht jedermann, sondern nur eine obhutspflichtige Person und damit ein Gamnt Täter der Entfernungshandlung sein74 • Wenn aber erst die Garantenstellung des Handelnden die Täterschaft begründet75, gewinnt das Verlassen konstruktive Ähnlichkeit mit dem als "Unterlassungsdelikt durch Begehung" bezeichneten Phänomen75a • Hiermit wird die Hilfspflicht der für ein Verlassen in Betracht kommenden Täter akzentuiert; denn da die verlangte räumliche Nähe zum Opfer nicht schon als solche Hilfe gegen die vorausgesetzte Gefahr ist, hat es keinen Sinn, das Verlassen anderen als solchen Personen zu verbieten, die auch bei Strafe zur Abwendung der Gefahr verpflichtet sind (Garanten). Unter diesem Aspekt ist deswegen das Verlassen eine selbständig unter Strafe gestellte und besondere Form der "omissio libera in causa" hinsichtlich der Hilfeleistung: Strafbar wegen Verlassens ist, wer sich als Garant das Helfen durch räumliche Entfernung vom Schutzbefohlenen unmöglich macht75b • Hieraus ergibt sich, daß der Begehungscharakter des Verlassens einer Induktion der Voraussetzungen strafbaren Unterlassens nicht prinzipiell im Wege steht; denn es wurde schon bemerkt, daß die strafrechtliche Würdigung der omissio libera in causa hinsichtlich der täterschaftlichen Merkmale den für das Unterlassen geltenden Maximen folgt7 5c • Auf dem Ingerenz-Gedanken könnte die Strafbarkeit des Verlassens freilich nur dann beruhen, wenn es voraussetzte, daß der Täter die Hilflosigkeit des Schutzbefohlenen stets durch eine dem Verlassen vorangehende (Vor-)Handlung verursacht hätte 75d • Nun kann man zwar niemand verlassen, in dessen Nähe man sich nicht zuvor begeben hat; diese - für die Entfernung allerdings stets notwendige - "Vorhandlung" braucht die abzuwendende Gefahr indessen nicht herbeigeführt zu haben. Wenn etwa die Eltern ihr Kind im Wald zufällig treffen und es dort in hilfloser Lage verlassen, sind sie gern. § 221 StGB strafbar, obwohl sie die Gefahr nicht herbeigeführt haben. Mithin löst diese Bestimmung die Garantenfrage nicht, sondern wirft sie mit ihrem Verweis auf die Obhutspflichtigen gerade 74 Maurach, BT, S.48; Schönke - Schröder, § 221 Rd.-Nr.1O; SchwarzDreher, § 221 Anm. 3.
75 Fälle, in denen die GarantensteIlung des Handelnden gegenüber dem Tun des Extraneus qualifizierende Wirkung besitzt, wurden oben S. 121 f. besprochen. 75a Dazu Androulakis, S. 152 ff. 75b Der kriminalpolitische Sinn einer solchen Tatbestandsfassung darf freilich bezweifelt werden; vgl. aber Dreher (a.a.O.) gegen BGHSt 21,44. 75C Vgl. oben S. 137 ff. 75d Vgl. Separowic, ZStW 77 [1965], 161.
B. Induktionsversuche
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erst auf. Zwar vermag auch die Ingerenz ein solches Verhältnis zu begründen 75e ; nur wird sie hierbei als konstituiertes Zurechnungskriterium bereits vorausgesetzt. Hieran ändert sich auch dann nichts, wenn man die erschwerenden Folgen des § 221 Abs. III StGB (schwere Körperverletzung oder Tod des Hilflosen) in die Betrachtung einbezieht. Soweit diese das Verlassen (und nicht das Aussetzen) qualifizieren, vertypt das Gesetz der Sache nach ein erjolgsqualifiziertes Unterlassungsdelikt (durch Begehung); denn die gravierenden Erfolge, deren Abwendung dem Täter in der Ferne unmöglich geworden ist, sind nicht durch die tatbestandsmäßige Handlung, sondern durch täterjremde Kräfte bewirkt worden (das im Wald verlassene Kind erfriert). Weder hindert dies indessen eine analoge Anwendung des § 56 StGB75:t, noch ergibt diese Konstellation die gesuchten Rückschlüsse auf die GarantensteIlung des Täters; vielmehr ist diese auch hier bereits vorausgesetzt. Eine Induktion ist deswegen nicht möglich.
3. Herbeijührung von Brandgejahr (§ 310 a Ziff. 2 StGB): Handlungshajtung Schließlich verdient § 310 a Ziff. 2 StGB in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. Hiernach wird jeder, der Waldflächen, Felder etc. "durch Verwenden von offenem Feuer oder Licht" vorsätzlich oder fahrlässig in Brandgefahr bringt, ebenso bestraft, wie derjenige, der denselben Erfolg durch "ungenügende Beaufsichtigung" von Feuer oder Licht herbeiführt. Die Pflicht zur Beaufsichtigung, deren Nichterfüllung der aktiven Verursachung der Brandgefahr gleichgestellt wird, trifft nun offenbar in erster Linie den, der das Feuer angezündet oder das Licht verwendet hat, und zwar eben deswegen, weil er das getan hat. Denn da er die Gefahrenquelle durch sein Tun eröffnet hat, ist er unter allen anderen auch zunächst einmal der "Nächste", der für ihre Eindämmung zu sorgen hat, und zwar auch dann, wenn das aktive Anzünden wegen Einhaltung des erlaubten Risikos (Erntefeuer oder dergl.) nicht rechtswidrig war. - Es bleibt freilich die mögliche Relativität dieser durch Ingerenz vermittelten 75e H. L.; vgl. Schönke - Schröder, § 221 Rd.-Nr.l0; Lackner - Maassen, § 221 Anm.3; Maurach, BT, 8.48; ferner BayObLG NJW 1953, 556 (gemein-
sames Zechen). In diesem Zusammenhang auch RG8t 66,71 (73), das die GarantensteIlung des leiblichen Vaters eines unehelichen Kindes aus § 221 8tGB herzuleiten sucht. 751 Die h. L. wendet hier § 56 8tGB unmittelbar an, ohne freilich die Eigenart der erörterten Fallkonstellation kenntlich zu machen; vgl. etwa BGH8t 21,49; Kohlrausch - Lange, § 221 Anm. V; Maurach, BT, 8.49; Welzel, Dt. 8trR.. S. 285.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblernatik
Nähe (wer sonst wenn nicht er?) zu bedenken: die "katastrophale" Gemeingefährlichkeit der drohenden Folgen kann dem Gesetzgeber Anlaß genug gewesen sein, den relativ "Nächsten" ohne Rücksicht auf das Maß der sonst zu verlangenden "absoluten Nähe" (Garant) als Hilfspflichtigen heranzuziehen. Ähnliches gilt für die Übertretungen nach §§ 366 Ziff. 9 StGB, 41 Abs. I StVO, wonach bestraft wird, wer Gegenstände, die die Sicherheit oder Leichtigkeit des Verkehrs gefährden oder sonst beeinträchtigen, in öffentlichen Verkehrsraum "bringt" (d. h. dort "aufstellt", "hinlegt" etc.) oder dort "liegen läßt". Die liegengelassenen Gegenstände sind von dem "Verantwortlichen ... unverzüglich zu entfernen" (§ 41 Abs. I S. 2 StVO). Verantwortlich für das Liegenlassen, d. h. das Unterlassen der Entfernung, ist, wer zum Wegnehmen verpflichtet ist75g ; das ist in erster Linie wiederum derjenige, der die verkehrsgefährdenden Gegenstände aktiv in den Verkehrsraum eingebracht hat 76 , und zwar eben deswegen. - Auch hier wird bei der Induktion eines Ingerenz-Prinzips Vorsicht geboten sein: die dem polizeilichen Rechtsgut der Sicherheit und Leichtigkeit des Verkehrs drohenden Gefahren können das Gesetz veranlaßt haben, anders als sonst jede beliebige kausale Vorwirksamkeit mit der Rechtspflicht zur Beseitigung der Gefahr zu komplementieren. Insofern könnte die hier analysierte Unterlassung nicht auf dem Garanten-Gedanken, sondern auf der polizeilichen "Handlungshaftung" beruhen. Dies bedarf näherer Ausführung. Die dem § 18 PrPVG entsprechenden Bestimmungen der heutigen Landespolizeigesetze (vgl. etwa § 6 Abs. I PolG B.-W.) sehen übereinstimmend vor, daß die "repressiv" tätig werdende Polizei die Beseitigung rechts- oder ordnungswidriger Zustände u. a. von demjenigen verlangen kann, der "den Zustand verursacht hat"; gegen ihn als den "Handlungsstörer" hat sie im öffentlichen Interesse notfalls ihre auf zwangsweise Realisierung der Polizeipflichtigkeit abzielenden "Maßnahmen" (vgl. §§ 19 ff., 32 ff. PolG B.-W.) zu richten. Während nun die Rechtsprechung diese "Handlungshaftung" im wesentlichen mit Hilfe der Äquivalenztheorie bewältigt und nur in Ausnahmefällen - vor allem bei Konkurrenz mehrerer Störer - einschränkend die Überschreitung einer "Gefahrengrenze", d. h. "Unmittelbarkeit" der Gefahrverursachung verlangt hatte77 , wurde ihr von der Lehre entgegen7Sg V gl. 76 Vgl.
Frank, § 366 Anrn. IX.
etwa KG VAE 1939,341; BGHSt 12,48; OLG Stuttgart NJW 1959, 254; ferner OLG München JW 1935,2984; KG VRS 13,472; OLG München VersR 1960, 187 (zust. BGH VerkMitt. 1961,23); weitere Nachweise bei Ftoeget - Hartung, Strassenverkehrsrecht, § 41 StVO Rd.-Nr. 4 ff. 77 Vgl. Drews - Wacke, Allgern. Polizeirecht (7), 1961, S. 220 ff., 223 ff.; Hurst, AöR 83 [1958], 48 ff.; Schnur, DVBl. 1962, 1 ff.
B. Induktionsversuche
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gehalten, daß bloß naturwissenschaftlich im Sinne der Aquivalenztheorie verstandene Kausalität endlos und für sich allein zur Begründung einer Haftung ungeeignet seFs. Es wurde daher versucht, die polizeiliche Haftung auf solche rechts- oder ordnungswidrigen Zustände zu beschränken, die bei Vornahme der die Haftung begründenden Handlung objektiv vorhersehbar gewesen waren, "weil die Rechtsordnung nur die Verursachung von voraussehbaren Erfolgen verbietet"79. Auf diese Weise schien die Adäquanztheorie den gesuchten "Rechtsgrund"80 für die Polizeipflichtigkeit des Handlungsstörers abzugeben: "Die adäquate Verursachung einer Störung soll deshalb zugerechnet werden und damit die Störerverantwortlichkeit begründen, weil der Betreffende sich nicht dem Recht gemäß verhalten hat: weil er sich rechtswidrig verhalten und eine Störung verursacht hat, darf ihn die Polizei als Störer in Anspruch nehmen"sl. Wogegen nun eingewendet wird, daß es dem Polizeirecht als einem System der "Erfolgshaftung" wesensmäßig nicht auf Verantwortung und Schuld, sondern auf die objektive Diskrepanz zwischen dem Interesse der Allgemeinheit und einer konkreten Situation ohne Rücksicht auf irgendeine subjektsbezogene Rechtswidrigkeitsrelation ankommes2 . Handlungshaftung bestehe auch dort, wo die Störung nicht auf ein inadäquates Mißverhalten zurückgehe83 , wenn etwa die Störung durch Epileptiker, Schlafende oder Ohnmächtige verursacht worden sei 84 . Erträglich sei dies deswegen, weil die Polizei lediglich "die Aufgabe des objektiven Gefahrenschutzes zugunsten der Staatsbürger" zu erfüllen und nirgends ein Werturteil über den Betroffenen zu fällen habe 85 . Nun vermag keine der von den kontroversen Ansichten gegebenen Begründungen zu überzeugen. Denn einerseits besteht das von den Anhängern der Adäquanztheorie empfundene dogmatische Bedürfnis zu Recht, die Polizeipfiichtigkeit des Handlungsstörers, deren Erfüllung mit erheblichen finanziellen Aufwendungen verbunden sein und notfalls zwangsweise durchgesetzt werden kann, mit den Grundprinzipien rechtlicher Zurechnung zu harmonisieren und dadurch allererst auf "Rechtsgrund" zu stellen. "Erfolgshaftung" benennt insofern eher ein Rudiment vergangen er Rechtsvorstellungen als eine Begründung. Wenn 78 Hurst, a.a.O., S.45, 49; Schnur, a.a.O., S. 1. Schnur, a.a.O; ferner Bock, Kausalität im Polizeirecht, S. 31 ff. (35 f.); Hurst, a.a.O., S. 55 ff. 80 Bock, a.a.O., S. 9. 81 Schnur, a.a.O., S.3. 82 Vgl. Drews - Wacke, a.a.O., S. 207 ff., 221 ff.; Hurst, a.a.O., S. 64 ff. 83 Hurst, a.a.O., S. 66. 84 Drews - Wacke, a.a.O., S.217. 85 Drews - Wacke, a.a.O., S. 222; Hurst, a.a.O., S. 49; Bock, a.a.O., S.25. 79
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
diese aber andererseits mit den Mitteln der Adäquanztheorie versucht wird, so um den Preis eines Bruchs mit der doch wohl bereits gewohnheitsrechtlich verfestigten Rechtsprechung. Und zudem betrifft die mit Hilfe der Adäquanz erzielte Diskriminierung zunächst nur die Vornahme der erfolgsverursachenden Handlung, nicht aber die Beseitigung des durch sie geschaffenen Zustandes. Gerade um Letzteres geht es aber dem Polizeirecht! Dies aber zeigt, daß die sog. polizeiliche Handlungshaftung in Wahrheit eine Unterlassungshaftung ist! Es geht nicht um die Frage, ob die den rechts- oder ordnungswidrigen Zustand verursachende Handlung zurechenbar ist, sondern ob der Täter der Vorhandlung für das Unterlassen der Beseitigung des durch sie geschaffenen Zustandes verantwortlich gemacht werden kann, und zwar "auf Grund seiner Beziehung zur Gefahrenlage" 86. Es ist keineswegs so, daß der Epileptiker, Ohnmächtige, Schlafende etc. "der Allgemeinheit gegenüber die Grenzen seiner Rechtssphäre" überschritte - wie Wacke meint87 -, wenn er unvorhersehbar einen polizeiwidrigen Zustand verursacht; denn als Bestimmungsnorm vermag das "als Vernunftwerk gedachte Gesetz"88 nur die Verursachung vorhersehbarer Folgen zu verbieten. Aber ob der Störer "der Allgemeinheit gegenüber befugt" war, sein "persönliches Verhalten ... so einzurichten ... , daß daraus eine die öffentliche Sicherheit oder Ordnung störende Gefahr hervorgeht"89, ob sein Verhalten mit anderen Worten rechtswidrig war oder nicht, erweist sich als belanglos gegenüber der anderen Frage, ob er den fortdauernden Zustand jetzt beseitigen muß und die Unterlassung dieser Handlung rechtswidrig ist. "Handlungshaftung" verbietet ebensowenig wie irgend eine andere Rechtsnorm die Verursachung unvorhersehbarer Erfolge, sondern sie gebietet die Beseitigung solcher Folgen, an deren Entstehung der Unterlassende kausalen Anteil hatte. Der Sache nach stellt diese Haftung daher einen umfassenden Anwendungsfall des IngerenzGedankens dar90 • Nun bietet freilich diese Konstruktion keine Lösung der Frage, welche Vorhand lungen die Störerverantwortlichkeit begründen. Aber 86 87
88 89
Hurst, a.a.O., S.49; Drews - Wacke, a.a.O., S.222. Drews - Wacke, a.a.O., S.205. Engisch, Kausalität, S.48. Drews - Wacke, a.a.O.
90 Insofern bietet das Untersuchungs ergebnis eine unzeitgemäße Rechtfertigung der Versuche Landsbergs (S. 267 ff.), die Ingerenz mit den außerstrafrechtlichen Rechtspflichten der Polizeiverordnungen zu begründen; denn für die der öffentlichen Sicherheit und Ordnung drohenden Gefahren bietet die polizeiliche Handlungshaftung in der Tat die von Träger (Unterlassungsdelikte, S. 101 f.) vermißte einheitliche Grundlage. Indessen setzt dieser Gedanke die Konzeption der formellen Rechtspjlichttheorie voraus; dazu oben 1. Kap. G.
B. Induktionsversuche
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sie eröffnet dieser Frage allererst den dogmatisch einwandfreien Zugang zu den Lösungstopoi, die die Unterlassungslehre zu ihrer Bewältigung bereithält. So entlastet etwa den Stör er die Unmöglichkeit der Beseitigung des polizeiwidrigen Zustandes91 ; Wegfall der Handlungsmöglichkeit aber ist Unterlassungstopos. So ordnet sich der Gedanke einer "wirtschaftlichen Unmöglichkeit"92 dem der Unterlassung zugehörigen Aspekt der Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens unter. Und so beruht der Ausschluß der Störerverantwortlichkeit bei einer auf hoheitliche Gestattung zurückgehenden Störung93 (z. B. Nutzungsverleihung) nicht auf der auch sonst irrelevanten Rechtmäßigkeit der Vorhandlung, sondern auf der Rechtmäßigkeit der Unterlassung. Wenn diese Topoi auch schon bisher Eingang in die Rechtsprechung gefunden haben, so mag dies für die "Logik der Sache" zeugen; ihre dogmatische Legitimierung erfahren sie indessen erst durch die Unterlassungskonstruktion. Offenbar impliziert die polizeirechtliche Handlungshaftung unter der Herrschaft der Äquivalenztheorie ein Verständnis der Polizei, das deren Funktion als subsidiär begreift94 . Weil die Allgemeinheit, deren Repräsentant die Polizei ist, nun einmal geschützt werden muß, wird der Handlungsstörer für jeden beliebigen Anteil zur Gefahrentstehung in Anspruch genommen. Denn gegenüber der Ferne der Allgemeinheit befindet er sich in einer relativ größeren Nähe zur Gefahr94a. Wenn die der Allgemeinheit drohende Gefahr abgewendet werden muß und hierfür nur entweder sie selbst oder der Handlungsstörer in Betracht kommt, so ist die Entscheidung zum Nachteil des Handlungsstörers einleuchtend; denn er hat mit der Entstehung der Gefahr mehr zu tun als die Allgemeinheit. Auf diesem Hintergrund wird die Fragwürdigkeit einer Induktion der Ingerenz aus den §§ 310 a Ziff. 2, 366 Ziff. 9 StGB, 41 Abs. I StVO sichtbar. Denn sofern die Vorhandlung hier eine latente Gefahr geschaffen hat, deren Beseitigung den Aufschub einer polizeilichen Abmahnung nicht verträgt, könnte das Gesetz schon die relative Störernähe zum Anlaß seiner Strafdrohung genommen haben. Eine solche Wertung wäre jedoch keiner Analogie zugänglich. Im Wege der Induktion kann daher weder ausgeschlossen noch begründet werden, daß die relative Störernähe bereits die absolute Garantennähe einschließt. Vielmehr kann eine solche Einsicht nur von einer Deduktion der Auslesekriterien erwartet werden. 91 Drews - Wacke, a.a.O., S. 284 f. 92 a.a.O .. S. 234 f. 93 Hurst, a.a.O., S. 57 ff.; Schnur, a.a.O., S. 5 f. 94 Auch Bock (a.a.O., S. 8) bemerkt das "Bestreben der Polizei, zur Erfüllung dieser Aufgabe [sc. der Gefahrenabwehr] nach Möglichkeit dritte Personen in Anspruch zu nehmen". 94a Vgl. dazu auch Baumann, Lehrbuch, S.231. 11 Welp
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik IV. Echte Unterlassungsdelikte als Induktionsbasis?
Zuvor könnte man jedoch noch daran denken, die sog. echten Unterlassungsdelikte auf Einschläge des Ingerenz-Gedankens hin zu überprüfen. Da diese freilich per definitionem95 keinen Bezug zu einer vergleichbaren Handlung aufweisen, können von einem solchen Verfahren von vornherein nur Ergebnisse negativer Art erwartet werden. Denn da der actus contrarius der durch das echte Unterlassungsdelikt gebotenen Handlung zunächst eine einem anderen Tatbestand unterfallende Handlung sein wird (etwa §§ 80, 89, 100, 211 f., 249/49 StGB im Verhältnis zu § 138 StGB; §§ 211 f., 303 StGB im Verhältnis zu § 330 c StGB) und die von einem echten Unterlassungsdelikt vorausgesetzte Pflicht nicht schon als solche Garantenpflicht sein kann96 , genügt die Qualität der von einem echten Unterlassungsdelikt etwa vorausgesetzten Vorhandlung gerade nicht zur Begründung einer Bewirkensäquivalenz. Sofern indessen solche echten Unterlassungsdelikte aufgefunden werden können, vermögen sie der Untersuchung Aufschlüsse negativer Art zu bieten; denn die dort vorausgesetzten Vorhandlungen sind eben zur Begründung der Garantieposition ungeeignet. Indessen scheitert ein solcher Induktionsversuch schlicht daran, daß derartige echte Unterlassungsdelikte eine "Nullklasse" bilden97 • Auch § 330 c StGB macht hiervon keine Ausnahme. Denn auch wenn man unter "bei" eine Verhältnis räumlicher Nähe, nämlich den "Bannkreis des Unheils" versteht98 , hat das damit vorausgesetzte Hinbegeben an den Unfallort mit dessen Verursachung nichts zu tun. - Wird jedoch der dem heutigen § 330 c StGB entsprechende § 232 E 1962 Gesetz, so ergibt sich in der Tat ein Hinweis negativer Art. Denn nach Abs. II dieser Vorschrift wird die unterlassene Hilfeleistung dadurch Vgl. oben S.152. H. L. Vgl. etwa Armin Kaufmann, Dogmatik, S.275, 285; Gallas, Strafrechtl. Verantwortlichkeit, S.51 N. 126; Schwarz - Dreher, Vor § 1 Anm. D I 5; Schönke - Schröder, Vorbem. Rd.-Nr. 138; Lackner - Maassen, Vor § 1 Anm. I 1 b dd. - Die abweichenden Entscheidungen RGSt 71,187 (189); 75, 160 (164 f.) werden schon mit der Existenz der echten Unterlassungsdelikte widerlegt, die bei dieser Interpretation überflüssig wären. Vgl. auch BGHSt 3,65 (66 f.); BGH JR 1956,347 m. Anm. v. Maurach, a.a.O., S. 348 ff. 91 Dies gilt auch für den Tatbestand des Auflaufs nach § 116 Abs. I StGB. Denn das Unterlassen der Entfernung setzt ebenso wie der Hausfriedensbruch zunächst keine Vorhandlung voraus. Wo eine solche aber gegeben ist, beruht die Pflicht zur Aufhebung des Verhältnisses räumlicher Nähe zu der Menge auf der "Verantwortlichkeit für sich selbst"; denn gefordert ist Distanzierung, die nur durch räumliche Entfernung geschehen kann. 98 GaZlas, JZ 1952, 398. Vgl. dazu auch Schönke - Schröder, § 330 c Rd.-Nr. 25 und BGHSt 2,296; 17,166. - Armin Kaufmann nennt diese Nähe eine "mikroskopische" GarantensteIlung (a.a.O., S. 276; vgl. auch S.223 bei N.320). 95
96
c. Rechtswidrige Vorhandlungen
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qualifiziert, daß der Täter "den Unglücksfall... verursacht" hat, es sei denn, die Tat würde nach anderen Vorschriften mit schwererer Strafe bedroht. Die Begründung rechtfertigt dies mit der Erwägung, daß derjenige, der die Gefahr selbst verursacht habe, "meist auch zur Hilfe mehr als alle anderen aufgerufen" sei, wenn auch "keineswegs immer" als Garant nach § 13 E 196299 • - Hieraus folgt einerseits, daß gefährliche Vorhandlungen eine Garantenstellung begründen können, denn sonst wäre die Subsidiaritätsklausel unverständlich10o ; und zum anderen haben nicht alle Vorhandlungen diese Wirkung, denn sonst wäre diese Bestimmung eben überflüssig.
V. Ergebnis Das Ergebnis der Induktionsversuche steht somit dem Pessimismus Landsbergs 101 näher als dem Optimismus des Böhmschen "Gleichstellungsobersatzes"102. Denn selbst bei Verwendung des § 232 E 1962 als Induktionsbasis steht für eine berechenbare Auslegung des Gesetzes lediglich fest, daß zwar einige, nicht aber alle gesetzlich ungeregelten Fälle unechter Unterlassungen wie die entsprechenden Handlungen bestraft werden sollen und daß eine solche Gleichstellung zwar bei einigen, nicht aber bei allen Fällen kausaler Vorwirksamkeit zu erfolgen hat. In diesem - sehr weiten - Rahmen wird die weitere Untersuchung nach anderen Möglichkeiten hinreichend bestimmter Einsichten zu suchen haben.
C. Rechtswidrige Vorhandlungen Die vorstehend versuchte Analyse gesetzlicher Anwendungsfälle des Ingerenz-Gedankens vermochte dem Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 99 Begründung, S.397. Ob freilich die "relative Störernähe", die hier angesprochen wird, ein legitimer Strafzumessungsgrund ist, bedürfte weiterer überlegung. - Nach Ansicht von Jescheck (ZStW 77 [1965], 125 f.) liegt die genannte Vorschrift auf der Grenze zwischen echten und unechten Unterlassungsdelikten, da sie von diesen die besondere Rechtspflicht, von jenen aber die Unmaßgeblichkeit des Außenerfolges entlehne. Mit dem hier eingeführten Begriff von Echtheit und Unechtheit steht diese Auffassung nicht in Einklang. 100 Androulakis, S. 274. Mit der generalisierenden Regelung der unechten Unterlassungsdelikte in § 13 E 1962 stimmt die Vorschrift des § 232 Abs. II E 1962 zumindest stilistisch nicht überein. Ein nicht zu unterschätzender Gewinn würde freilich darin liegen, daß die Notwendigkeit einer Differenzierung zwischen garantiebegründenden und strafschärfenden Vorhandlungen gesetzlichen Ausdruck gefunden hätte. Einer begrifflichen Fixierung der Ingerenz wäre hiermit gewissermaßen ein Ort geschaffen. 101 Landsberg, S.220: "So ist der positive Gewinn gleich Null." 102 Böhm, JuS 1961, 179 ff.
11*
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
103 Abs. II GG nicht hinreichend Rechnung zu tragen. Da die Möglichkeiten einer Induktion der Gleichstellungskriterien hiermit erschöpft sind, bleibt allein der Weg ihrer Deduktion. Es liegt auf der Hand, daß ein solches Verfahren unter der Herrschaft des "nullum crimen sine lege" Zweifeln ausgesetzt ist, die anders als durch eine benigna interpretatio der Verfassung nicht ausgeräumt werden können. Denn die geforderte Verifizierbarkeit stellt sich niemals more geometrico nach Art mathematischer Gewißheiten ein; vielmehr entspricht der Weitläufigkeit des Gedankengangs notwendig eine gewisse Kontingenz. Mit ihr wird man sich indessen unter der Voraussetzung abfinden können, daß das Bestimmtheitspostulat als methodisches Prinzip in den Ansatz der Gleichstellungsfrage aufgenommen wird; auf diese Weise ist jedenfalls ein verfassungskonformer Ansatz der Fragestellung erreicht. Denn der Grundsatz des "nullum crimen sine lege" weist die Untersuchung sogleich wieder auf das Gesetz zurück. Wenn sich aus ihm die Bedingungen der Strafbarkeit unechten Unterlassens nicht induzieren lassen, so verlangt der verfassungskonforme Ansatz jedenfalls, daß auch eine Deduktion der Gleichstellungskriterien von denjenigen Wertvorstellungen ausgeht, die sich für verifizierbare Auslegung als gesetzesimmanent erweisen. Dies bedeutet, daß eine dem Art. 103 Abs. II GG verbundene axiologische Untersuchung die Strafbarkeitsvoraussetzungen des unechten Unterlassens aus dem Wesen des krimineLlen Tuns selbst herzuleiten hat. Denn wenn dieses - wie nicht bezweifelt wird - stets schon auf seinen Urheber als den Täter zurückweist und den Erfolg als sein Werk begreifen läßt, so ist dabei ein Verhältnis impliziert, dessen Analyse diejenigen Merkmale zu nominieren hätte, die der Unterlassung als tertium comparationis dienen können. Nur wenn und soweit es gelingt, beim Unterlassen ein dem Tun analoges Verhältnis herzustellen, wird auch jenem die verfassungsmäßig postulierte Bestimmtheit zuteil, die diesem eignet. Daß diese verfassungskonforme Fixierung der Fragestellung alles andere als selbstverständlich ist, haben die dogmengeschichtlichen Betrachtungen hinreichend gezeigt. Mit ihr sind alle Lehrmeinungen verworfen, die der Problematik der unechten Unterlassungsdelikte anders als durch Gleichstellung der beiden Verhaltensformen Herr zu werden hoffen und diese anders als durch übertragung der beim Tun gefundenen Beziehung bewerkstelligen wollen. Rechtspolitische Maximen bleiben auf diese Weise von vornherein vom Gegenstand der Untersuchung ausgeschlossen; ihre Intention geht allein auf die Herleitung der Bedingungen einer Gleich(un)wertigkeit des Unterlassens mit dem positiven Tun.
Nagler hat das Programm einer solchen Lehre mithin sehr präzise dadurch umschrieben, daß er die Unterlassung als Handlungsäquivalent
C. Rechtswidrige Vorhandlungen
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erweisen wollte l03 • Selbstverständlich enthält dieses Wort nicht schon selbst die Lösung des Problems, sondern bezeichnet nur den Ausgangspunkt der zu diesem Ziel führenden Fragen. Und dieser Weg kann auch durch norm logische Erwägungen nicht verkürzt werden. Wenn etwa angenommen wird, daß das Abwendungsgebot bei der Ingerenz aus dem Verletzungsverbot abgeleitet sep°4, so ist diese Aussage nur unter der Voraussetzung nicht zu beanstanden, daß sie das Resümee einer sachlichen Begründung der Handlungsäquivalenz bildet. Nur sofern das Verletzungsverbot, das auf Unterlassen kriminellen Tuns gerichtet ist, das gesuchte Verhältnis aufweist, welches der Gleichstellung zum tertium comparationis dienen soll, kann aus ihm das Abwendungsgebot abgeleitet werden. Nur enthält dieser Gedanke die Lösung noch nicht selbst l05 , sondern erklärt lediglich die normlogischen Verhältnisse, wie sie bei einer anderweit sachlich begründeten Handlungsäquivalenz bestehen. Er enthebt deswegen auch das Folgende nicht der Notwendigkeit, die sachlichen Voraussetzungen einer Gleichwertigkeit des Unterlassens durch Rückgriff auf das beim Tun zu analysierende Verhältnis eigens zu begründen. Vorab sei noch eine terminologische Bemerkung erlaubt. Daß der Begriff des Garanten nicht auf alle PflichtensteIlungen, am wenigsten aber auf die Ingerenz paßt, hatten die dogmengeschichtlichen Betrachtungen bereits gezeigt l06 • Da er gleichwohl in die juristische Alltagssprache eingegangen ist, wird er auch im folgenden beibehalten. Er behauptet sich hier indessen nicht in seiner metaphorischen Bedeutung, sondern lediglich als Funktion einer anderweit begründeten Handlungsäquivalenz. Daß eine Person Garant sei, bedeutet daher lediglich im technischen Sinne, daß ihre auf ein bestimmtes Rechtsgut bezogene Unterlassung Handlungsäquivalent sei. Die sachliche Spezialisierung der Schutzfunktion ist hierbei immer schon vorausgesetzt. I. Die Defizienz der Unterlassung: "Kausalität" und "Bewirkung"
Das axiologische Ziel einer Begründung der Handlungsäquivalenz der Unterlassung setzt nun zunächst die Isolierung dessen voraus, was die Defizienz der Unterlassung gegenüber dem Tun ausmacht; denn da jene eben als die Nichtvornahme einer Handlung definiert ist, kann Nagler, GS 111 [1938], 69. Vgl. nur RGSt 20, 131 (135); Haupt, ZStW 2 [1882], 548; SchönkeSchröder, Vorbem. Rd.-Nr.119; Stree, H. Mayer-Festschrift, S. 155 f. 105 Vgl. E. A. Wolft, S.43 N.22, 45. 106 Vgl. oben 1. Kap. H.; ferner Vogt, ZStW 63 [1950/51], 381, 394 f.; Henkel, MonSchrKrim. 44 [1961], 178 N.1. Vgl. auch Rudolphi, S. 96 ff. (99 f.) und Stree, a.a.O., S. 145 N. 2. 103
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
die Gleichwertigkeit nicht unvermittelt, sondern nur durch Rückgriff auf dasjenige Merkmal hergestellt werden, das die ausgleichungsbedürftige Eigenschaft des positiven Tuns darstellt. Hieran wird sich die Analyse des von diesem Merkmal implizierten Verhältnisses knüpfen (sub 11.), das sodann auf das Unterlassen übertragen wird (lU.). Zuvor besteht die Aufgabe jedoch in der Nominierung des Mankos der Unterlassung gegenüber dem Tun. 1. "Reale" und "hypothetische" Kausalität
Die dogmen geschichtlichen überlegungen hatten bereits gezeigt, daß dieses Problem mit dem Streit um die "Kausalität" der Unterlassung in schwer entwirrbarer Weise belastet ist; denn wenn diese dem Unterlassen abgeht, so ist sie auch se des materiae. a) Nach den historischen Vorarbeiten kann an dieser Stelle unmittelbar in die Diskussion des gegenwärtigen Problemstandes eingetreten werden. Bekanntlich ist die "Kausalität der Unterlassung" Gegenstand verzweigter Kontroversen. Während die Mehrheit eine solche Relation entschieden bejaht107 , beharrt eine beachtliche Mindermeinung nicht weniger nachdrücklich auf dem gegenteiligen StandpunktlOB. Die Argumente pro et contra werden aus der Konzeption des Kausalitätsbegriffes geschöpft. Die Gegner einer Kausalität der Unterlassung trifft der Vorwurf, daß ihr Kausalbegriff naturwissenschaftlichem Denken verhaftet sei, wenn lediglich die mechanisch-dynamische Kraft der causa efficiens als "kraftausströmende" Ursache anerkannt werde. Auf diese Weise könne zwar die reale, erzeugende, den Dingen innewohnende Kraft der in der Natur sich vollziehenden Entwicklungsreihen als Real107 Vgl. M. E. Mayer, AT, d. dt. StrR. (2), S. 151; Sauer, Frank-Festgabe I, S.207; ders., Allg.StrRL. (3), S.90; R. v. Hippel, Dt.StrR., Bd.2, S. 158 ff.; Engisch, Kausalität, S. 29 ff.; ders., MonSchrKrimBiol. 30 [1939], 426 f.; ders., Kohlrausch-Festschrift, S. 162 f.; ders., Weltbild, S. 110 ff. (135); ders., JZ 1962, 190; ders., H. v. Weber-Festschrift, S. 264 f.; Frank, Anm. IV vor § 1; v. Liszt - Schmidt, S. 170 ff. (172); Eb. Schmidt, MonSchrKrimBiol. 33 [1942], 87 f.; ders., JR 1955, 270; ders., LK zur StPO Bd. I (2), 1964, Rd.-Nr.375 (S.211); Kissin, Rechtspflicht zum Handeln, S. 14 ff., 28 f.; Grebe, Rechtspflicht, S. 8 f.; Georgakis, Hilfspflicht, S. 19; Roeder, Dt.StrR. 1941, 105; Mezger, Lehrbuch, S. 133 ff. (136); Doldi, Diss. 1950, S. 6; Vogt, ZStW 63 [1950/51], 390; Schnause, Diss. 1953, S. 5 ff.; Wrede, Diss. 1955, S. 32, 43 ff.; Granderath, S. 66 ff.; Armin Kaufmann, Dogmatik, S.58, 60; Mezger - Blei, Studienbuch, AT, S. 81 f.; Maurach, AT, S. 499 ff.; Baumann, Lehrbuch, S. 221 f.; vgl. auch Androulakis, S. 83 ff. lOB Aus jüngster Zeit etwa Grünwald, Diss. 1957, S. 10 ff.; Lampe, zstW 71 [1959], 598 ff.; 73 [1965], 269; Arthur Kaufmann, Eb. Schmidt-Festschrift, S. 209 ff., 214; ders., H. Mayer-Festschrift, S. 102 ff.; Bockelmann, Eb. SchmidtFestschrift, S. 449 ff.; Welzel, Dt. StrR., S.206; Schönke - Schröder, Vorbem. Rd.-Nr.141; Schwarz - Dreher, Vor § 1 Anm. BIld 3; Lackner - Maassen, Vor § 1 Anm. I 1 c.
C. Rechtswidrige Vorhandlungen
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grund eines physischen Seins erfaßt werden; zur Bewältigung rechtlicher Phänomene sei diese Kraftvorstellung indessen ungeeignet. Als einer Geisteswissenschaft gehe es der Rechtswissenschaft nur um die logisch-erkenntnistheoretische (gesetzmäßige) Verknüpfung zeitlich folgender Erscheinungen. Im Rechtssinne sei Kausalität lediglich eine Denkkategorie. Als solche setze sie nicht einen in re sich vollziehenden realen Prozeß, sondern nur einen in mente hergestellten logischen Bedingungszusammenhang als Realgesetzlichkeit zwischen Ursache und Wirkung voraus. Dieser sei auch bei der Unterlassung gegeben, die in ihrer logischen Struktur der Handlung gleichartig sei. - Dagegen: "Im eigentlichen Sinne ist Kausalität eine Kategorie des physischen Seins"109; Unterlassungen seien deswegen nicht kausal für den nicht abgewendeten Erfolg. b) Daß die referierte Kontroverse einem eminenten wissenschaftstheoretischen und methodischen Interesse begegnen muß, liegt auf der Hand. Als fundamentale Voraussetzung rechtlicher Verantwortlichkeit hat sich der Kausalbegriff jederzeit an den grundlegenden methodischen und systematischen Wertvorstellungen der Strafrechtswissenschaft zu legitimieren. Insofern ist der Gegensatz der Meinungen alles andere als bedeutungslos. Es ist indessen eine andere Frage, ob die genannte Kontroverse einen Einfluß auf die Gleichstellungsproblematik zu gewinnen vermag, die an dieser Stelle allein zu behandeln ist. Hier besteht nun unter den Anhängern und Gegnern einer Kausalität der Unterlassung volle Einmütigkeit darüber, daß die Abwendungsmöglichkeit zum Begriff der Unterlassung gehöre und daß diese der gesuchten Garantenstellung bedürfe, um Handlungsäquivalent und damit strafbare Tat sein zu können. Möge die Beziehung des Unterlassenden zum nicht abgewendeten Erfolg nun Kausalität genannt werden oder nicht! Es mehren sich deswegen die Stimmen, die dem Streit insofern - von seinem wissenschaftstheoretischen Aspekt abgesehen - jede andere als eine terminologische Bedeutung absprechen110 . Ist dies richtig, so darf eine Gleichstellungsdoktrin die ganze Frage füglich vernachlässigen; denn gefragt ist nicht nach einer terminologischen, sondern nach einer sachlichen Defizienz der Unterlassung gegenüber dem positiven Tun. Sind beide Verhaltensformen für den tatbestandsmäßigen Erfolg "kausal", so liegt das Manko der Unterlassung jedenfalls nicht in der Kausalität, sondern in einem anderen Merkmal, das alsbald zu nominieren wäre. Ist hingegen nur das Tun kausal, die Akausalität der Unterlassung jedoch von 109 Arthur Kaufmann, H. Mayer-Festschrift, S. 104. 110 Vgl. nur v. Liszt - Schmidt, S. 171; Lampe, ZStw 71 [1959], 600; Grünwald, GA 1959, 112 bei und in N. 34.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
bloß terminologischem Interesse, so kann die Kausalrelation gleichfalls nicht zum tertium comparationis einer sachlichen Gleichwertigkeit der Unterlassung taugen. Hierzu stehen freilich diejenigen Äußerungen in vollem Gegensatz, die die Kontroverse für weitere Probleme der unechten Unterlassung nutzbar zu machen suchen. Die Konsequenzen sollten sich zunächst auf die systematischen Fragen der unechten Unterlassungsdelikte beziehen. Bekanntlich hatten die sog. Rechtspflichttheorien eine "Tatbestandsidentität" (Beting) von Handeln und Unterlassen gerade durch die Annahme einer Kausalität der Unterlassung herstellen wollen; da die Verhaltensformen vermöge ihrer einförmigen Kausalrelation tatbestandsmäßig nicht geschieden seien, müsse die Ebene der Rechtswidrigkeit der Sitz der Gleichstellungsproblematik sein111 . Und Maurach hatte die rechtsstaatliche Problematik der Bestrafung unechten Unterlassens mit einer ähnlichen Erwägung aufheben wollen; da auch das Unterlassen rechtserhebliches Verhalten und damit "Handeln" im Sinne des Gesetzes sei, diene die Einführung der Garantenmerkmale nicht der Erweiterung, sondern der Einschränkung der Strafbarkeit112. c) Um bei dieser Situation zu einer Entscheidung zu gelangen, wird man die Beziehung des positiven Tuns zum Erfolg mit der des Unterlassens vergleichen müssen. Der Gegensatz der Meinungen wird insofern an den konträren Aussagen kenntlich, daß entweder das Verhältnis der beiden Verhaltensformen zum Erfolg durch "völlige Parallelität" gekennzeichnet seP13 oder daß die Unterlassung zumindest "nicht in gleichem Sinne" für den Erfolg kausal sei114 • Ob sich die behauptete Kausalität der Unterlassung unter dem axiologischen Aspekt als dieselbe wie die des Tuns darstellt, kann durch einen Vergleich nur dann entschieden werden, wenn die Beziehung des Tuns zum Erfolg als Prämisse gesetzt wird. Es sei also angenommen, daß die aktive Verursachung tatbestands mäßiger Erfolge immer schon per se, ohne Rücksicht auf eine eigens zu begründende "GarantensteIlung" des handelnden Täters, Täterschaft und Unrecht begründe, und zwar im vollen Gegensatz zum Unterlassen, das ein solches besonderes Zurechnungskriterium stets voraussetzt. - Ist dies - woran nach allem kein vernünftiger Zweifel bestehen kann - richtig, so stellt sich für die Anhänger einer Kausalität der Unterlassung die folgende entschei111 Vgl. oben S. 61 ff. 112 Vgl. oben S. 143 f. 113 Mezger - Blei, Studienbuch AT, S. 81 f. 11( Schönke - Schröder, a.a.O.; Bockelmann, a.a.O., S. 452; vgl. auch Androulakis, S.83: "Die Kausalität der Unterlassung hat mit dem Bewirken von Erfolgen nichts zu tun."
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dende Frage: Welches ist der Grund, daß das "kausale" Tun immer schon per se Unrecht ist, während das "kausale" Unterlassen zusätzlich nach einer GarantensteHung verlangt, um strafbare Tat sein zu können? Da die Kausalität nach dem Ansatz jener Theorien als Grund der Differenz auszuscheiden hat, kommt hierfür offenbar allein der Umstand in Betracht, daß der Handelnde den Erfolg "aktiv", "naturwissenschaftlich-real", "physikalisch-mechanisch", "dynamisch" und "kraftvoll" durch "Energieeinsatz" bewirkt hat, während das Unterlassen gerade durch die Negation eines Energieeinsatzes definiert ist. Indessen führen sich die Anhänger einer Kausalität der Unterlassung mit dieser Antwort ad absurdum. Denn sie kann nur um den Preis einer Konsequenz gegeben werden, die kaum je gezogen wird und von der füglich bezweifelt werden darf, ob sie mit hinreichender Klarheit erkannt wird. Wenn nämlich Handeln und Unterlassen sub specie Kausalität nicht geschieden sind, das Handeln aber gleichwohl und in vollem Gegensatz zum Unterlassen immer schon vermöge der energievollen Erfolgsbewirkung Unrecht ist, so muß die vom Tun ausgehende reale Kraftbeziehung ein von ihrer "Kausalität" verschiedenes (!) Merkmal sein. Dies ist jedoch undenkbar. Denn zunächst hat noch niemand einen von der Kausalität des Handeins verschiedenen und selbständigen systematischen Standort der Energieentfaltung anzugeben vermocht. Ferner müßte das "logische Notwendigkeitsurteil" an ein noch undifferenziertes "Verhalten" angelegt werden, da mit einer Identifizierung der Verhaltensformen das Energiemoment bereits notwendig impliziert ist. Dies würde indessen nicht nur die Konstituierung eines Verhaltensbegriffes voraussetzen, dessen Realität in Frage steht l15 ; sondern man hätte sich auch zu fragen, in welchem Sinn die herkömmlichen Kausalformeln an dieses undifferenzierte Verhalten sollten angelegt werden können. Vor allem aber ist die Trennung einer Struktur des physischen Seins, welche die Kraftbeziehung ist, von der auf sie bezogenen Reflexion nicht nachvollziehbar 116• "Daß man zwei Dinge gedanklich miteinander verbinden kann, sagt noch nichts darüber, daß sie in der Wirklichkeit auch miteinander verbunden sind 117 ." Während sich das in mente vollzogene logische Notwendigkeitsurteil beim Unterlassen im Denken erschöpft, findet es beim Handeln seine Entsprechung in re, nämlich im Ablauf eines realobjektiven Veränderungsprozesses. d) Wenn somit weder die Notwendigkeit noch die Möglichkeit einzusehen ist, den Realgrund des veränderten physischen Seins zugunsten 116
Vgl. Gallas, ZStW 67 [1955], 11. Vgl. BockeZmann, a.a.O.; Arthur Kaufmann, a.a.O.; Schönke - Schröder,
117
E. A. WoZft, S.35.
115
a.a.O.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
eines auf ihn bezogenen Urteils aus dem Kausalbegriff zu eliminieren, so umfaßt jedenfalls die Kausalität des Tuns auch die Kraftbeziehung. Wird dies angenommen, so wäre es ein schwerer terminologischer Mißgriff, auch die Beziehung der Unterlassung zum Erfolg stets schon als Kausalität zu begreifen. Es ist in höchstem Maße irreführend, verschiedene Gegenstände, nämlich die Kraftbeziehung und ihre Negation, derselben Nomenklatur zu unterwerfen, ohne die sachliche Differenz irgendwie kenntlich zu machen. Hierdurch wird sachlichen Irrtümern Vorschub geleistet, die sich bei genauerer Betrachtung als simple quaternio terminorum erweisen, wie etwa die vermeintliche "Tatbestandsidentität" der Rechtspflichttheorien118 • Und vor allem wird hierdurch gerade der Ansatz der Gleichstellungsfrage verdeckt.
2. Folgerungen a) Denn die gesuchte sachliche Defizienz der Unterlassung gegenüber dem Tun liegt selbstverständlich gerade in dem Energiemoment, das der Unterlassung abgeht und nur dem Tun eignet. Wird dieses zugunsten einer "Kausalität der Unterlassung" aus dem Kausalbegriff eliminiert und damit systematisch herrenlos, so bleibt unklar, welches Merkmal der Unterlassung als tertium einer Gleichwertigkeit dienen soll. Folgt man hingegen der hier vertretenen Ansicht und setzt man den Kausalbegriff mit der "Erhaltungs- und Auslösungskausalität"119 des energievollen Bewirkens in eins, so ist die Kausalität sedes materiae. Die Gleichstellungstheorie hat somit diejenigen Kriterien zu entwickeln, die die Kausalität des Tuns als Manko der Unterlassung ausgleichen. Insofern hat die Gleichstellungstheorie "KausaZitätslösung" zu sein. Als Synonym dieser Kausalität des Tuns (i. S. von Realgrund des veränderten physischen Seins) wird im folgenden auch der Begriff des Bewirkens gebraucht. Die Forderung Naglers nach einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung kann somit als Postulat ihrer Bewirkensäquivalenz präzisiert werden 120 • - Die Eignung der unterlassenen Handlung zur Erfolgsabwendung erscheint hingegen - wie allgemein üblich - als "hypothetische Kausalität" der unterlassenen Handlung (kurz: der Unterlassung). b) Aus dem Ansatz der Fragestellung ergibt sich zugleich der systematische Standort der Gleichstellungsproblematik. Denn wenn die Unterlassung Bewirkensäquivalent zu sein hat, um strafbare Tat sein zu können, so muß der dogmatische Gleichschritt mit dem positiven 118 119
120
Dies wurde bereits oben S. 63 ff., 68 f., 72 f. gezeigt. Engisch, Weltbild, S. 135. E. A. Wolff (S. 33 ff.) und - ihm folgend - Arthur Kaufmann (H.
c. Rechtswidrige Vorhandlungen
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Tun dort und nur dort vollzogen werden, wo auch die Bewirkensqualität des Tuns, d. h. seine Kausalität in dem oben bezeichneten Sinn, verhandelt zu werden pflegt. Dies aber ist die Ebene der Tatbestandsmäßigkeitl21 • Ist der Tatbestand "Träger des typischen Strafwürdigkeitsgehalts", d. h. "Verkörperung des Deliktstypus"122, so umfaßt er auch die sachlichen Voraussetzungen der Bewirkensäquivalenzl23 . Eine gegenteilige Annahme könnte nur entweder um den Preis eines um die Kausalrelation verminderten Begehungstatbestandes oder eines Bruchs der Parallelität zwischen Tun und gleichwertigem Unterlassen aufgestellt werden. Daß dieser Unterlassungstatbestand und der Begehungstatbestand
"verschiedene Tatbestände" und nicht "ein und derselbe Tatbestand"
sind124, ist nach dem Vorangegangenen evident. Normlogisch unterscheiden sich beide durch den Charakter der Norm als Verbot oder Gebot. Und axiologisch zeichnet sich der Unterlassungstatbestand dadurch aus, daß er "ringsum offen"125 ist und aus dem Begehungstatbestand eigens abgeleitet werden muß. Hierin besteht die weitere Aufgabe der Untersuchung. 11. Zur Bedeutung des Energiemomentes als tertium einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung
Mit der Nominierung der sachlichen Defizienz der Unterlassung gegenüber dem positiven Tun ist der Ansatz der Gleichstellung noch Mayer-Festschrift, S.104) weichen von dieser Terminologie insofern ab, als sie auch ein "Bewirken durch Unterlassen" kennen, während der Text den Begriff des Bewirkens dem positiven Tun vorbehält und beim Unterlassen eine bloße Bewirkensäquivalenz fordert. Ein sachlicher Gegensatz wäre hierin nur dann zu sehen, wenn das Bewirken 1. S. Wolffs ein mit der Energierelation nicht identisches tertium darstellte, das sowohl die Aktivität des positiven Tuns wie auch die Inaktivität (des Garanten) umfaßte. Dies ist in der Tat der Standpunkt Wolffs. Auch er leugnet indessen den "fundamentalen" Unterschied von Tun und Unterlassen nicht (vgl. S.35, 52). Mithin ist es zulässig, die Differenz der Verhaltensformen auch terminologisch dadurch zum Ausdruck zu bringen, daß die zu fordernde Qualität der dem T·un gleichwertigen Unterlassung als Bewirkensäquivalenz bezeichnet wird. Auch das Folgende strebt deswegen nicht nur nach einer "quantitativen", sondern auch nach einer "qualitativen" Gleichwertigkeit der Unterlassung. 121 Zur Dogmengeschichte dieser Frage vgl. Schweikert, Wandlungen der Tatbestandslehre, S. 19, 42, 110 f., 113, 118 f., 121, 126 f., 133; Roxin, Offene Tatbestände, S. 9 f., 31 ff.; Arthur Kaufmann, JZ 1963, 504 ff. Gegenwärtig vertritt vor allem noch Baumann (Lehrbuch, S. 224 f.) den Standpunkt der sog. Rechtspflichttheorien; dagegen oben 1. Kap. G. 122 Gallas, ZStw 67 [1955], 17. 123 Gallas, a.a.O., S. 26 und die h. L. 124 Armin Kaufmann, Dogmatik, S.254, 264, 274 et passim; ebenso Grünwald, Diss. 1956, S. 50 ff.; ders., ZStW 70 [1958], 413. 125 Armin Kaufmann, a.a.O., S. 282.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
nicht hinreichend vorbereitet; denn per abrupto gestellt, ist die Frage nach den Voraussetzungen einer Bewirkensäquivalenz der Unterlassung nicht lösbar. Da die Kausalität des Tuns gerade das Manko der einen Verhaltensform im Vergleich zur anderen bezeichnet, stehen sie unter diesem Aspekt zueinander im Verhältnis von a und non-a. Als Nichteinsatz von Energie bewirkt die Unterlassung eben keine Veränderungen der realen Außenwelt, sondern setzt die Wirksamkeit solcher realen Kräfte immer schon voraus. Allerdings zeichnet sich die auf eine Vorhandlung folgende Unterlassung unter den anderen Fällen einer möglichen Gleichwertigkeit dadurch aus, daß die vorausgesetzte Gefahr dem Gut nicht von täterfremden Kräften (Handlungen Dritter oder Naturereignissen), sondern von der vorausgegangenen eigenen Handlung des Unterlassenden selbst droht. Indessen führt auch dieser Gedanke nicht weiter; denn die Verbindung der Bewirkensqualität der Vorhandlung mit der Passivität der nachfolgenden Unterlassung zu einer "Einheit" führt - wie hinlänglich gezeigt wurde über den dolus subsequens nicht hinaus und unterliegt daher den bereits gegen ihn vorgebrachten Einwänden126• Die Frage nach den Voraussetzungen einer Bewirkensäquivalenz in der hier explizierten Form scheint daher sogleich an der Unvereinbarkeit des Bewirkens und seiner Negation zu scheitern. Indessen ist hiermit einstweilen nur dargetan, daß eine Gleichstellungslehre niemals eine Identität von Handeln und Unterlassen herzustellen vermag. Gefragt ist aber lediglich nach einer Äquivalenz der Unterlassung gegenüber dem Tun; deren Voraussetzungen müssen sich jedoch aus der Struktur des aktiven Tuns ergeben, wenn dem Postulat des "nullum crimen sine lege" und der dadurch geforderten "qualitativen" Gleichwertigkeit (E. A. Wolft) Genüge geleistet werden soll. Die Untersuchung hat sich daher zunächst der Strukturanalyse der Beziehung zwischen positivem Tun und Erfolg und damit der Frage zuzuwenden, welche Voraussetzungen in der Annahme impliziert seien, daß die aktive Energieentfaltung den Täter immer schon per se, nämlich ohne Rücksicht auf weitere Zurechnungskriterien (GarantensteUung) zum Täter mache. Denn nur auf diese Weise entsteht eine Relation, die zum tertium einer Gleichwertigkeit der Unterlassung taugen kann. Es geht daher um die Frage, warum der Handelnde immer schon eo ipso "Garant" ist1 26a, warum der Mensch beim Handeln "in einem unvergleichlichen Sinne Urheber des Geschehens" ist, das er als seinen Vollzug in Szene setzt" 127. Ihre Beantwortung war bei der Unterscheidung der 126 126a 127
Vgl. oben 2. Kap. D. Vgl. oben S. 73 N. 350. Vgl. oben S. 111 bei und in N.41.
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Verhaltensformen vorausgesetzt wordenl28 ; sie läßt sich an dieser Stelle nicht länger umgehen. Denn nur diese Antwort führt über die Antithese von Energieentfaltung und ihrer Negation hinaus. Die Intention geht hierbei nicht auf metaphysische Spekulation, sondern auf die Explizierung der Kriterien, die in der Annahme mitgedacht sind, daß die aktive Erfolgsbewirkung immer schon Unrecht sei. Im folgenden werden hierbei die Täter- und die Opfersituation als Teilaspekte desselben Gegenstandes unterschieden.
1. Die Täterposition Betrachtet man zunächst die Beziehung des handelnden Menschen zu dem von ihm verursachten Erfolg aus der Perspektive des Handelnden selbst, so steht zunächst dessen Determinationsvermögen in Frage l29 • Er steht der realobjektiven Welt als einem Bestand von Materie gegenüber, die in der Zeit Veränderungen unterliegt, welche der Satz vom Grund als Wirkungen von Ursachen begreifen läßt. Ihre Gesetzlichkeit ist die kausale Notwendigkeit; denn mit Ausnahme des Menschen ist die Welt in determinierter Notwendigkeit ihrer Veränderungsprozesse festgelegt. Dabei setzt die Hervorbringung einer solchen Wirkung eine gleichfalls dieser Welt angehörige Kraft als Medium ihrer Wirksamkeit voraus. Demnach kann der Mensch reale Veränderungen nur durch den Einsatz von Energie hervorbringen; dies ist ihm vermöge seiner Körperlichkeit möglich. Seine eigentliche überlegenheit über die kausal festgelegte Welt ist hiermit jedoch noch nicht gekennzeichnet. Vielmehr ist es die Kenntnis der empirischen Kausalgesetze, die dem Menschen die Einsicht in die Gesetzlichkeit der Veränderungsprozesse vermittelt und ihn hierdurch in den Stand setzt, seine Energie so einzusetzen, daß sie - zusammen mit den vorgefundenen Bedingungen - bestimmte vorgestellte Wirkungen hervorbringen wird. Die spezifisch menschliche überlegenheit ~steht in seiner Fähigkeit, sich solche Wirkungen bewußt zum Zweck zu setzen und durch seinen Willen zu realisieren. Die planmäßige Verwirklichung des gesetzten Zweckes geschieht final, nämlich von der Vorstellung des Erfolges her gesteuert. Dieses Determinationsvermögen bildet den eigentlichen Grund dafür, daß der final verwirklichte Erfolg als das "Werk" des Menschen verstanden und ihm unter der Voraussetzung seiner Freiheit als verantwortliches Wesen zugerechnet werden kann. Denn während jeder Kausalprozeß der determinierten 128 Vgl. oben S. 110 ff.; das dort Bemerkte erweist erst an dieser Stelle seine volle Berechtigung. 129 Zum folgenden E. A. Wol!!, S. 19 ff.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Welt lediglich die "zufällige Resultante der jeweils vorliegenden Ursachenkomponenten" ist130 und deswegen immer auf die vor ihm liegenden weiteren Faktoren in infinitum zurückweist, hat der final bewirkte Erfolg seinen endlichen Ursprung einzig in dem zwecktätigen Willen des Handelnden, mit dem eine neue Wirklichkeit anhebt zu sein. Unter diesem Aspekt der Beurteilung kann der Erfolg vollständig erklärt werden nur durch die Entschluß- und Tatkraft des Handelnden, seine auf überwindung der körperlich-innerweltlichen Widerstände bewußt gerichtete Initiative l3l • Die Fähigkeit des Menschen zu zweckbewußter Determination der kausal festgelegten Welt ist der eigentliche Grund dafür, daß der Erfolg sein Werk und er der Täter ist. Die Finalität des Menschen gewinnt auf diese Weise den Rang einer gegenüber der Kausalität neuen "Schicht" der Wirklichkeit l32 • Nun umschreibt die Fähigkeit des Menschen zu finaler Initiative eine Qualität, die untrennbar mit der Realisierung seiner Tatkraft verbunden ist und daher zunächst nur seiner Aktivität anhaftet; insofern steht der Bezug zu einer Bewirkensäquivalenz der Unterlassung noch aus. Er tritt erst dann hervor, wenn man nach der Entsprechung fragt, die das Determinationsvermögen auf seiten der eingetretenen Wirkung findet. Denn erst jetzt entsteht die gesuchte Relation, deren Analyse das tertium comparationis aufzudecken vermag.
2. Die Opferposition Gefragt ist somit nach der Beziehung zwischen Handlung und Erfolg, wie sie sich aus der Perspektive des betroffenen Opfers darstellt. Sieht man zunächst davon ab, daß das Unterbleiben der eingetretenen Wirkung möglicher Gegenstand eines rechtlichen Interesses, die Integrität des betreffenden Bereichs mithin "Rechtsgut" im weitesten Sinne ist, so besteht die Entsprechung der Finalität des Menschen in einer besonderen Verletzbarkeit des Gegenstandes. Diese wird nicht schon damit hinreichend erfaßt, daß der Gegenstand als Phänomen der Körperwelt im Spiel der natürlichen Kräfte seiner Umwelt gesehen wird; denn hiermit ist lediglich seine selbstverständliche Unterworfenheit unter die Kausalgesetze umschrieben, die in der Eignung der Handlung zu kausaler Wirksamkeit bereits mitgedacht ist. Vielmehr äußert sich seine Anfälligkeit gegenüber einer Finalität, die sich seine
Wetzet, Dt. StrR., S.30. VgI. auch Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 300 ff. (301) und Androulakis, S. 237 ff. (239) im Zusammenhang mit der Frage nach einer minderen Strafwürdigkeit der Unterlassung. 132 E. A. Wolft, S. 19 f. 130
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Vernichtung zum Zweck gesetzt hat, in seiner Eigenschaft, überhaupt "Gegenstand" zu sein, mithin zunächst rein phänomenologisch. Es ist ersichtlich ein Unterschied, ob etwa ein Baum durch einen Sturm entwurzelt oder von einem Holzarbeiter gefällt wird. Die Abhängigkeit von den Naturkräften seiner Umwelt ist in seiner Eigenschaft als einer den Kausalgesetzen unterworfenen Sache bereits impliziert; diese Unterworfenheit wird im Bereich des organischen Lebens durch Mutation der Anlagebedingungen in bestimmtem Umfang gesteuert. Hingegen umschreibt die Abhängigkeit des Gegenstandes vom Unterbleiben einer auf seine Vernichtung gerichteten finalen Initiative eine neue Dimension. Die Möglichkeit eines determinierenden Einbruchs in die Körperwelt erweist diese als Objekt menschlicher Willkür, gegen die es keinen wirksamen anlagemäßigen Schutz gibt. So ist der Baum zwar Objekt der Willkür des Holzfällers, nicht aber ist der Sturm Subjekt seiner Vernichtung, jener mithin auch nicht Objekt seines Wirkens. Nun vermittelt diese Betrachtungsweise solange nur phänomenologische Einsichten in die Unterworfenheit der Natur unter menschliche Zwecktätigkeit, als nicht der Gegenstand Objekt eines Interesses an seiner Integrität ist. Wird dieses Interesse von einer Person gehegt, so wird sich diese seinen Schutz angelegen sein lassen. Setzt sich nun ein anderer die Verletzung eines solchen Schutzobjektes zum Zweck, so überspielt seine Finalität zugleich die fremde Schutzbereitschaft, gewaltsam oder durch List, heimlich oder offen. Hiermit ist freilich einstweilen nicht mehr gesagt, als daß der Schutz in concreto unzureichend war. Der Betroffene mag sich in Zukunft wirksamer schützen, etwa Waffen tragen oder sein Gut verstecken. Die finale Ausschaltung der latenten Schutzbereitschaft des anderen läßt deswegen die gesuchte Relation noch nicht erkennen. Da sich Verletzer und Opfer selbständig gegenüberstehen, bleibt die Erkenntnis der besonderen Verletzbarkeit, die in der Ausschaltung der Schutzbereitschaft manifest wird, ohne Weiterung. Sobald aber das Interesse, dem die Schutzbereitschaft des Opfers gilt, als Gut von einem System anerkannt ist, dem die normative Erwartung des Unterbleibens verletzender Aktivität eignet, werden Verletzer und Opfer in dem Maße verbunden, als die Erwartung "gilt". Denn das dem Täter geltende Verbot begünstigt zugleich den Inhaber des Gutes, sei es auch nur mittelbar, als Reflex des Verbotes. Auf diese Weise wird die normative Erwartung des auf Schutz bestimmter Güter angelegten Wertsystems als eine faktische zugleich die des Gutsinhabers. Wenn es nun dem anderen gleichwohl gelingt, das geschützte Interesse zu verletzen, so überspielt er nicht nur einen unzureichenden Schutz, sondern er überspielt zugleich die Erwartung des Inhabers. Da diese auf das Ausbleiben finaler Aktivität seitens
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
des Verletzers gerichtet ist, diesem mithin deren Unterlassung angesonnen wird, entsteht zwischen beiden ein dialektisches Verhältnis. Dieses läßt sich nur dann hinreichend bestimmen, wenn man den Geltungsgrund der Erwartung hinzunimmt. Soweit die Erwartung durch die Verbote hergestellt wird, die im Besonderen Teil des Strafgesetzbuches strafrechtlich sanktioniert sind, hat E. A. Wolft dieses Verhältnis treffend als ein Vertrauensverhältnis charakterisiert 133 • Bestimmte Interessenpositionen sind für ein gedeihliches Zusammenleben so wichtig, daß sich das Recht nicht mit einer Zuteilung (Rechtsgut) begnügen kann, sondern ihre Integrität durch die schwerste aller Sanktionen schützen muß. Denn es ist gerade die Unberechenbarkeit einer fremden finalen Initiative, die alle faktischen Schutzvorkehrungen des Rechtsgutsträgers von bescheidenem Wert sein läßt. "Betrachtet man die erwachsenen Menschen und sieht man, wie gebrechlich der Bau des menschlichen Körpers ist ... , wie leicht es selbst dem Schwächsten ist, den Stärksten zu töten; so versteht man nicht, daß irgend jemand im Vertrauen auf seine Kraft sich anderen von Natur überlegen dünken kann I34 ." Und allgemeiner: Kein Mensch kann sich "abwehrbereit halten gegen alle äußerlich möglichen Angriffe eines anderen"135. Die besondere, dem fremden Determinationsvermögen korrelative Verletzbarkeit des Menschen, die das Maß seiner Unterworfenheit unter übermächtige Naturvorgänge bei weitem übersteigt, ist bei den strafrechtlich geschützten Gütern besonders evident; sie besteht gerade hinsichtlich der Fähigkeit des anderen, sich die Verletzung dieser Güter zum Zweck zu setzen. Hieraus folgt die Abhängigkeit des Rechtsgutsträgers vom Unterbleiben rechtsverletzender Aktivität l36 • Dieser Verletzbarkeit gilt die strafrechtliche Legalordnung. Um den einen zu schützen, wird dem anderen finale Aktivität bei Strafe verboten. Dem NichtTun-Dürfen entspricht auf seiten des Rechtsgutsträgers wegen der rechtlichen Geltung des Verbots ein Vertrauen-Dürfen auf das Ausbleiben des Verbotenen. Erst dieses erlaubt es dem Menschen, die Waffen des Naturzustandes abzulegen und in den status civilis einzutreten. "Es geht also hier um ein fundamentales, den inneren Frieden der Gesellschaft kennzeichnendes Verhältnis des einen zum anderen. Die Handlungen sind also nicht nur verboten, weil der Staat dieses oder jenes als ,Gut' anerkennt und für so wichtig hält, daß eine Sollensverletzung nicht ohne Reaktion sein kann, sondern damit der 133 E. A. worft, S. 41 f. Es ist sein Verdienst, diese Einsicht erstmals für die hier interessierenden Fragen nutzbar gemacht zu haben. 134 Thomas Hobbes, De cive (ed. Gawlick, Meiners PhB. 158) I 3. 135 E. A. worft, S.41. 136 E. A. worft, S.41.
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andere in Verhältnissen lebt, in denen sein Gut gesichert ist.1 37 " Zugleich verschlechtert das Vertrauen-Dürfen seine faktische Situation; denn nunmehr wird er seine Güter bereitwilliger dem anderen aussetzen, sich etwa ohne Waffen in seine Gesellschaft begeben. Unter der Herrschaft des strafrechtlich sanktionierten Verbots rechtsverletzender Aktivität entsteht somit eine gesteigerte Abhängigkeit vom Unterlassen des Verbotenen. Wenn somit der eine auf den anderen vertrauen darf, trifft ihn dieser in einer besonderen Abhängigkeit, wenn er dessen Rechtsgüter final verletzt. 111. Die Handlungsäquivalenz der Unterlassung
Ist die Defizienz der Unterlassung als ausgleichungsbedürftiges Fehlen der Energierelation, diese selbst als ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Opfer und Täter nunmehr erkannt, so besteht die Aufgabe der Gleichstellungstheorie darin, die Bedingungen aufzudecken, unter denen das durch finale Initiative überspielte Vertrauensverhältnis auch beim Unterlassen anzutreffen ist. Im folgenden wird diese Frage - der Themenstellung entsprechend - sogleich auf die Fälle des vorangegangenen Tuns spezialisiert. Hierbei ergibt sich - wie zu zeigen sein wird - die Notwendigkeit, den Ansatz der Fragestellung mit der rechtlichen Qualität der Vorhandlung zu modifizieren. Aus diesem Grunde bleiben von der folgenden Erörterung zunächst alle Fälle ausgeschlossen, in denen die Vorhandlung - für sich genommen - entweder aus einem besonderen Grunde gerechtfertigt (Notwehr, Notstand etc.) oder wegen Einhaltung des "erlaubten Risikos" rechtmäßig war138 • Gegenwärtig stehen daher nur Konstellationen auf dem Spiel, bei denen der Unterlassende den nicht abgewendeten Erfolg zuvor entweder rechtswidrig-adäquat oder aber inadäquat verursacht hatte, und zwar ohne Rücksicht darauf, ob die Vorhandlung zunächst eine als solche unabwendbare Verletzung (Körperverletzung) und erst sodann einen abwendbaren weiteren Erfolg (Tod) oder diesen unmittelbar zur Wirkung hatte. Die praktische Bedeutung dieser Fallgruppen soll hiermit nicht akzentuiert werden; insofern beanspruchen vielmehr die rechtmäßigen Vorhandlungen den Vorrang. Nur läßt sich der Sinn der zuvor explizierten Gleichstellungsfrage an den Fällen rechtswidriger und inadäquater Vorwirksamkeit prinzipieller entfalten; auch dürfen die hierbei gewonnenen Resultate einer breiteren Zustimmung sicher sein. 137 138
E. A. WoLtt, S.42. Dazu unten sub D. und E.
12 Welp
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Obwohl nun die Positionen von Opfer und Täter - wie hinlänglich gezeigt - in dem Abhängigkeitsverhältnis dialektisch aufeinander bezogen sind, lassen sie sich auch hier gedanklich isolieren und getrennt auf ihre Vergleichbarkeit mit der entsprechenden beim positiven Tun vorgefundenen Lage untersuchen139 • Freilich bleibt hierbei zu bedenken, daß auf diese Weise derselbe Gegenstand, nämlich das gegenseitige Abhängigkeitsverhältnis, lediglich aus verschiedenen Perspektiven betrachtet wird.
1. Die Opferposition Den Vorrang beansprucht zunächst die Frage nach einer Gleichwertigkeit der Unterlassung, wie sich diese aus der Perspektive des von der Verletzung betroffenen Opfers darstellt; denn die früheren Überlegungen hatten gezeigt, daß seine Position beim aktiven Tun durch die dem fremden Determinationsvermögen korrelative Abhängigkeit positiv gekennzeichnet war. Faßt man nun zunächst das Ziel der Überlegungen ins Auge, die auf die Herstellung einer solchen Gleichwertigkeit gerichtet sind, so läßt sich das Problem als Frage nach den Bedingungen umschreiben, unter denen das Opfer von der Vornahme der unterlassenen Handlung nicht minder oder doch vergleichbar abhängig ist wie vom Unterbleiben eines Tuns, das sich die Verletzung seiner Güter initiativ zum Zweck gesetzt oder deren Integrität bei der Verfolgung anderer Zwecke nicht gehörig bedacht hat. Eine unvermittelte Antwort ist auf diese Frage indessen nicht möglich; denn mit der Hilfsbedürftigkeit des Opfers steht seine Abhängigkeit von einer Rettung allemal außer Zweifel. Ob diese Abhängigkeit aber eine der Abhängigkeit vom Unterbleiben positiven Tuns vergleichbare Beziehung ist, kann sich nur durch den Rückgriff auf das vorgegebene Verhältnis erweisen, das vorab Täter und Opfer verbindet. Ist dieses eine Abhängigkeitsbeziehung und wird die unterlassene Handlung von ihr umfaßt, so ist die Unterlassung Handlungsäquivalent. Die Gleichwertigkeit ist mithin die Folge, die für die Unterlassung aus der vorgegebenen Abhängigkeitsbeziehung abzuleiten ist. Sind die sachlichen Kriterien dieser Beziehung konstituiert, so ergibt sich als Synonym der Gleichwertigkeit immer auch der Satz, daß das Opfer von der Vornahme der unterlassenen Handlung ebenso abhängig sei wie vom Unterbleiben der verbotenen Handlung. Die zuletzt genannte Formulierung hat daher gegenüber der Frage nach der Abhängigkeitsbeziehung selbst ebensowenig einen eigenen Sinn wie die nach der Berechtigung eines Vertrauens, das auf die Vor139
Vgl. auch Vogt, ZStW 63 [1950/51], 403; E. A. Wolft, S.42.
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nahme der unterlassenen Handlung bezogen ist. Vielmehr kann sich ein solches Vertrauen nur als Folge der Bewirkensäquivalenz einstellen und nicht als ihr Grund. Gefragt ist somit nach den Bedingungen, unter denen das zwischen Opfer und Täter bestehende Verhältnis als Abhängigkeitsverhältnis der beim positiven Tun vorgefundenen Beziehung vergleichbar ist. Im allgemeinen wird nun die Konstituierung differenzierter sachlicher Abhängigkeitskriterien deswegen eine weitläufige Aufgabe sein, weil die Gleichstellungstheorie darauf angewiesen ist, "aus der Rechtsordnung als ganzer solche Verhältnisse zu konkretisieren"14o. Hierbei wachsen die rechtsstaatlichen Bedenken um so mehr, je geringer das Maß der Evidenz ist, das die Ableitungskette aufzuweisen hat. So werden etwa die Fälle sog. "natürlicher Verbundenheit" weit größeren Zweifeln begegnen als die Konstellationen vertraglicher "Übernahme". Indessen nimmt die Ingerenz unter den übrigen Garantenpositionen offenbar eine Sonderstellung ein. Denn da dieser Typus lediglich durch die kausale Wirksamkeit einer nur unter dem Aspekt der nachfolgenden Unterlassung als Vor-Handlung erscheinenden Tat festgelegt ist, muß sich das Abhängigkeitsverhältnis hier aus dem positiven Tun selbst ergeben! Mithin werden sich im folgenden ähnliche Überlegungen aufdrängen wie sie schon bei der Analyse des verbotenen Tuns selbst angestellt wurden. Da dieses das tertium comparationis jeder Gleichwertigkeit abgibt, muß der Weitläufigkeit der Ableitung aller übrigen Garantenstellungen im Bereich der Ingerenz somit eine vergleichsweise stringente Deduktion gegenübertreten. Gestellt ist somit die Frage, unter welchen Voraussetzungen die Position des von den Folgen einer gefährlichen Vor-Handlung betroffenen Opfers derjenigen Abhängigkeit gleichwertig ist, die die Stellung des von einer kriminellen Handlung betroffenen Opfers auszeichnet. Da nun eine Handlung ihre Qualität als Vor-Handlung nicht durch eine in ihr selbst gelegene Eigenschaft, sondern durch den oft zufälligen Eintritt der späteren Abwendungsmöglichkeit gewinnt, könnte es scheinen, als sei die Gleichwertigkeitsfrage unter dem Aspekt der Opfersituation und damit einer den Erfolgsunwert akzentuierenden Betrachtungsweise bereits entschieden. Denn da die Vorhandlung Handlung ist und die Lage des betroffenen Gutes durch den bloßen Eintritt der Abwendungsmöglichkeit nicht verändert wird, scheint es, als sei die Opfersituation immer dann gleichwertig, wenn die Vorhandlung diejenigen Merkmale aufweise, die das Abhängigkeitsverhältnis auch bei dem für sich strafbaren Tun begründen. Mithin bestehe unter dem Teilaspekt einer Vergleichbarkeit der Opfersituation volle Identität zu dem beim positiven Tun vorgefundenen Verhältnis. 140
12·
E. A. Wolff, S.38.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Indessen führt dieser Gedanke noch nicht zum Ziel, da er lediglich die Abhängigkeit des Opfers vom Unterbleiben der Vorhandlung erneut formuliert. Es ist zwar richtig, daß das Opfer von der Vorhandlung in seiner besonderen Verletzbarkeit betroffen wurde und der Erfolg daher auch unter diesem Aspekt als Werk des Täters erscheint. Indessen steht diese Frage gegenwärtig nicht zur Erörterung. Denn wenn auch die Betrachtung der Opfersituation dem Erfolgsunwert verbunden ist, so muß doch der Bezug zu dem betreffenden Verhalten des Täters gewahrt bleiben, wenn dessen Verantwortlichkeit auf dem Spiele steht. Da die Ingerenz-Konstellation jedoch allein ein Unterlassen im Auge hat, umgeht der erwähnte Gedanke die allein problematische Frage, ob eine Abhängigkeit des Opfers auch dann noch bestehe, wenn es sich nach Abschluß der Vorhandlung deren bevorstehenden rechtsverletzenden Wirkungen gegenübersieht. Indessen ist hiermit der Weg zu einer Lösung bereits geebnet; denn nach dem Vorangegangenen geht es allein darum, den Wandel der Abhängigkeit des Opfers zu verfolgen, den diese innerhalb der Progression der Tat von der (Vor-)Handlung bis zum Erfolgseintritt durchläuft. Wenn es zutrifft, daß das Opfer zunächst vom Unterlassen solcher Handlungen abhängig ist, die die Verletzung seiner Güter zum Ziel haben oder auf deren Unversehrtheit nicht die gehörige Rücksicht nehmen, so muß diese Abhängigkeit auch später erhalten bleiben, wenn der Täter seinen Entschluß in die Tat umgesetzt und sich der Wirkungen seiner Aktivität entäußert hat; denn hierauf basiert gerade die Annahme, daß der Erfolg das Werk seiner Handlung sei! Wird das Opfer in seiner besonderen Verletzbarkeit betroffen, so tritt die Abhängigkeit gleichsam in ihre kritische Phase: die generelle Abhängigkeit von der Einhaltung der Verbotsnorm durch den anderen schlägt mit dessen Tat in konkrete Abhängigkeit um, unter der sich der Erfolg als Werk des Täters realisiert. Freilich tritt diese zweite Phase der Abhängigkeit (vom Nichteintreten der rechtsverletzenden Folgen einer Handlung) im Normalfall des Begehungsdeliktes nicht eigens hervor; denn da der Täter den Erfolg hier mit dem Abschluß seiner Aktivität aus der Hand gegeben hat, bleibt die Abhängigkeit des Opfers hernach als eine gegenwärtige, nämlich auf den Zeitpunkt der durch den Täter unabwendbaren Gefahr bezogene, ohne Subjekt. Die Abhängigkeit ist nunmehr beziehungslos, da das Opfer einseitig einer Gefahr preisgegeben ist, deren sich der Täter zwar in der Vergangenheit entäußert hat, mit der er aber jetzt, im Zeitpunkt der unabwendbaren Folgen, nicht mehr verbunden ist. Mithin kann in dieser Phase der Begehungstat nicht mehr von einer Abhängigkeitsbeziehung gesprochen werden, da der Täter aus dem gegenseitigen Verhältnis (Abhängigkeit vom Unterbleiben
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verbotswidriger Aktivität) mit dem Verlust seiner Herrschaft über das Geschehen ausgeschieden ist. Gleichwohl besteht die nunmehr einseitige Abhängigkeit des Opfers fort. Seine Position ist im Angesicht der drohenden Folgen nicht lediglich der Status der Fragilität, der sich an jeder, auch an der nicht von Menschenhand herrührenden Verletzung beweist. Vielmehr besteht seine Abhängigkeit im Hinblick auf das Eintreten rechtsverletzender Wirkungen, die ihm durch eine verbotswidrige Handlung bereitet worden sind. Mithin realisiert sich gegenwärtig seine besondere Verletzbarkeit, die durch das Vertrauen auf die Einhaltung des Verbots durch den anderen begründet ist. Und folglich ist die Opferposition, die von den rechtsverletzenden Wirkungen einer rechtswidrigen Handlung betroffen wird, qualitativ verschieden von bloßer Fragilität - wie die Strukturanalyse des positiven Tuns bereits gezeigt hatte. Nur deswegen, weil das Opfer mit der Verletzung in dieser besonderen Abhängigkeit angetroffen wird, steht der Erfolg nicht nur beziehungslos neben der Handlung, sondern ist ihr Werk und begründet so die Verantwortlichkeit des Täters. Vergegenwärtigt man sich diesen Ablauf der Begehungstat, so wird verständlich, wie die beschriebene einseitige (weil subjektlose) Abhängigkeit bei der Ingerenz zur Basis für die Gleichwertigkeit der Unterlassung aus der Perspektive des Opfers wird. Denn da jede Begehungstat das genannte Stadium durchläuft und die Ingerenz immer an diese Konstellation anknüpft, ist hiermit nicht weniger bewiesen, als daß der Täter der Vorhandlung das Opfer im Augenblick der Abwendungsmöglichkeit in einer Lage vorfindet, die durch eine auch dem positiven Tun immanente Abhängigkeit gekennzeichnet ist. Da die Vorhandlung nur unter dem Aspekt der späteren Abwendungsmöglichkeit des Täters als Vor-Handlung erscheint und die Abwendungsmöglichkeit als solche ohne Einfluß auf die wirkliche Lage des Opfers bleibt, ist dessen Situation mit dem Durchgangsstadium jeder Begehung identisch und mithin nicht bloße Fragilität, sondern Abhängigkeit vom Nichteintreten eines Erfolges, der durch die rechtsverletzende Voraktivität des Täters bereitet worden ist. Freilich bleibt die Frage, wie die Wendung der beziehungslosen Abhängigkeit des Opfers auf eine Rettungshandlung vorzustellen ist, als deren Subjekt der Täter der Vorhandlung auftritt, auf welche Weise mit anderen Worten die gegenseitige Beziehung restauriert werden könne, die eine Bewirkensäquivalenz voraussetzt. Indessen berührt dieses Problem lediglich die Stellung des Täters als Subjekt der beim Opfer vorgefundenen Abhängigkeit und damit den an dieser Stelle noch vernachlässigten Aspekt einer Gleichwertigkeit seiner
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Position 141 • Denn wenn das den bevorstehenden Wirkungen einer rechtswidrigen Aktivität ausgesetzte Opfer - wie zuvor begründet abhängig ist, so besteht dieser Zustand an sich im Hinblick auf jede Rettung, auf die durch den Täter der Vorhandlung ebenso wie auf die durch andere Personen, sofern ihnen nur die Abwendung möglich ist. Und mithin läßt sich die Frage isolieren, ob die Verwiesenheit des Opfers auf den der Rettung mächtigen Täter der Vorhandlung gerade diejenige Qualität aufzuweisen hat, die dessen Stellung auch bei der Urheberschaft des schon für sich strafbaren Tuns begründet. Gegenwärtig ist somit nur die eine Hälfte des zu einer Bewirkensäquivalenz führenden Weges zurückgelegt. Die Aufdeckung der Merkmale, die die Position des Opfers sachlich kennzeichnen, hatte es erlaubt, diese als einen Zustand der Abhängigkeit zu erkennen, welche strukturell der auch beim positiven Tun vorgefundenen entspricht, nicht aber auf das Unterbleiben der (Vor-)Handlung selbst, sondern auf den Nichteintritt ihrer Folgen und damit auf eine Rettung bezogen ist. Hiermit ist die Gleichwertigkeit der Opferposition prinzipiell hinreichend begründet. Mithin muß es möglich sein, nunmehr auch die an die rechtliche Qualität der Vorhandlung zu stellenden Anforderungen des näheren zu bestimmen, die eine Gleichwertigkeit der Opfersituation zur Folge haben. Hierbei geht es um die schon bei der Strukturanalyse des positiven Tuns verfolgte Frage, welche Merkmale es sind, die die Abhängigkeit des Opfers vom Unterbleiben des kriminellen Tuns ausmachen. Wenn dieser Ansatz im folgenden auf die Ingerenz-Konstellation übertragen wird, so entsteht hierbei nicht etwa eine Tautologie. Denn über den Zirkel, lediglich die Abhängigkeit vom Unterbleiben der Vorhandlung erneut zu formulieren, führt stets die zuvor begründete Annahme hinaus, daß die Abhängigkeit von der Rettung durch keine anderen Merkmale konstituiert sein könne wie jene vom Unterbleiben der Vorhandlung. Und mithin ist der Satz richtig, daß die Opfersituation immer dann der beim positiven Tun vorgefundenen Lage gleichwertig ist, wenn die Vorhandlung diejenigen Qualitäten aufzuweisen hat, die das Abhängigkeitsverhältnis, welches auf das Ausbleiben der Handlung bezogen ist, auch beim positiven Tun begründen. Dies bedeutet der Sache nach, daß die Vorhandlung rechtswidrig gesetzt worden sein muß, um eine Bewirkensäquivalenz zur Folge haben zu können; denn die Abhängigkeit besteht nur im Hinblick auf das Ausbleiben der Folgen einer Aktivität, die das durch eine 141
Dazu unten sub 2.
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Verbotsnorm begründete Vertrauen überspielt - wie zu zeigen sein wird. Sucht man dies an einzelnen Fallgruppen zu verifizieren, so bietet sich eine Typologie an, die ein zunehmendes Manko der Deliktseigenschaften der Vorhandlung durch ein subtraktives Verfahren herstellt. Auf diese Weise reiht sich im folgenden die vorsätzlich-schuldlose an die vorsätzlich-volldeliktische Vorhandlung, die fahrlässigschuldlose an die fahrlässig-volldeliktische Vorhandlung; den Beschluß bildet die inadäquate Gefährdung. a) Lag der nicht abgewendete Erfolg innerhalb der Finalität einer Vorhandlung, die vorsätzlich-volldeliktisch mit Intention auf die vorsätzlich nicht abgewendete Verletzung begangen wurde, so umfaßt die auf die Vornahme einer Rettungshandlung umgeschlagene Abhängigkeit jedenfalls die gesuchte Beziehung; denn die Vorhandlung ist hier ja bereits tür sich volldeliktisch-vorsätzliche Handlung, die allen Anforderungen kriminellen Verhaltens genügt. Da die Opfer situation nicht deswegen besser wird, weil der Täter in Konsequenz des einmal gefaßten Entschlusses später ebensowenig rettet, wie er anfangs das finale Angreifen unterließ, impliziert die volldeliktische Vorhandlung die Abhängigkeit des Opfers gleichsam zwangsläufig. Wenn der Ansatz der hier verfolgten Fragestellung richtig ist, bedarf diese Einsicht nicht einmal der zuvor versuchten Strukturanalyse des beim positiven Tun gefundenen Abhängigkeitsverhältnisses; denn auch wenn dieses nicht alle Deliktseigenschaften der volldeliktischen Tat voraussetzt: bei der gegenwärtig erörterten Fallkonstellation liegen sie jedenfalls vollständig vor. Allerdings wird man den praktischen Erkenntniswert dieser Aussage anzweifeln. Denn da die volldeliktisch-vorsätzliche Vorhandlung schon tür sich, nämlich ohne Rücksicht auf das nachfolgende Unterlassen, allen Anforderungen kriminellen Sich-Verhaltens genügt, wachsen ihr durch die Konstruktion eines auf dasselbe Ziel bezogenen äquivalenten Unterlassens offenbar keine neuen Unwerteigenschaften zu. Es wird indessen noch zu zeigen sein, daß diese Betrachtungsweise Einsichten in die Struktur der aktiven Begehungstat ermöglicht, die durchaus "praktisch" zu werden vermögen und deswegen über den Vorwurf des l'art pour l'art erhaben sind l 4%. b) Geht man einen Schritt weiter und vermindert man die Deliktseigenschaften der Vorhandlung um ihre Schuldqualität, denkt man jene mithin als eine zwar vorsätzlich-rechtswidrige, aber schuldlose Handlung, so entstehen zunächst die hinreichend bekannten Schwierigkeiten, die sich aus der unterschiedlichen Konzeption des Unrechts142
Vgl. unten 5. Kap.
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und Schuldbegriffes ergeben. Die Frage nach dem Vorsatz als einem (personalen) Unrechtselement bedarf indessen an dieser Stelle keiner Erörterung. Denn da gegenwärtig mit der Finalität der Vorhandlung ihre auf die Verletzung des nicht geretteten Gutes gerichtete Vorsätzlichkeit vorausgesetzt ist143 , bleiben nur die fast unstreitigen Konstellationen, in denen die Schuld ausgeschlossen ist, weil der Täter zur Zeit der Vorhandlung (infolge Geisteskrankheit, Trunkenheit oder jugendlichen Alters) unzurechnungsfähig war, im Notstand nach § 54 StGB oder im Nötigungsnotstand nach § 52 StGB handelte oder sich im schuldausschließenden Verbotsirrtum befand 144 • Es geht somit um die Frage, ob der Zustand der Verletzbarkeit, in den der Täter das Opfer mit seiner schuldlosen Vorhandlung versetzt hat, ein solcher der Abhängigkeit von einer Rettung ist. Die Antwort kann wiederum nur durch den Rückschluß aus dem beim positiven Tun gegebenen Verhältnis gewonnen werden. Es kommt somit darauf an, ob dort das zwischen Täter und Opfer bestehende Vertrauensverhältnis durch die Freiheit des Verletzers bedingt ist, die Verletzung zu unterlassen. Die frühere Analyse dieses Abhängigkeitsverhältnisses hatte bereits gezeigt, daß dieses neben der Finalität der Verletzung die Initiative und damit die Freiheit des Verletzers voraussetzt; die herrschende Lehre, die die Schuldqualität der Vorhandlung meist ohne weitere Begründung für unbeachtlich erklärtl'"', wird daher zumindest den theoretischen Schwierigkeiten dieser Konstellation nicht gerecht.
Es liegt indessen auf der Hand, daß zu der vorangegangenen Fallgruppe insofern kein Unterschied besteht, als der gesetzlich verordnete Schuldausschluß nicht auf konkreter Unfreiheit, sondern vermöge der Unmöglichkeit ihrer empirischen Exploration auf generalisierenden Vermutungen beruht1 46 • Sieht man hiervon jedoch ab, so sinkt der Mensch durch den Verlust seiner Fähigkeit zu normgemäßer Motivation noch nicht auf die Stufe des Tieres herab, sondern behält - als ein in höchstem Maße differenziertes und in seinen Antrieben vielfältig verborgenes Wesen - die Möglichkeit zu zweckbewußter Determination der Welt. Gleichwohl ist seine Tat ein Akt der Unfreiheit, der sich ex post - jedenfalls prinzipiell - als ein zwangsläufiges Ereignis erklären läßt. Setzt man daher den beschriebenen Defekt in das Vertrauenskalkül ein, so war das Vertrauen auf das Ausbleiben der unfreien Tat schlicht unberechtigt, ebenso unberechtigt, wie das Vertrauen auf das Ausbleiben eines Naturereignisses. 143 Die möglichen Divergenzen von Vorsatz und Finalität (dazu Gallas, Zstw 67 [1955], 43) bleiben hier außer Betracht. 144 Zu dieser Typologie auch unten S. 302 f. 145 Nachweise bei Rudolphi, S. 183 f. 146 Vgl. dazu Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 154 N.75.
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Die Erwägung, daß etwa ein Geisteskranker mit dem Ausschluß der durch rechtliches Sollen eröffneten Hemmungsfähigkeit besonders gefährlich sei und daß dieser Gefährlichkeit eine besondere Verletzbarkeit auf seiten des Opfers entsprechen müsse, führt deswegen nicht zum Ziel einer Bewirkensäquivalenz; denn die Verletzbarkeit geht als eine bloß faktische nicht auf ein berechtigtes Vertrauen zurück, an dem der Verletzer teilhätte. Wenn aber die "Abhängigkeit" vom Unterbleiben der schuldlosen Handlung bloßes Synonym der Fragilität des Opfers ist, kann auch dessen "Abhängigkeit" vom Nichteintritt der Wirkungen einer schuldlosen (Vor-)Handlung nicht die hier gesuchte Beziehung sein. Unmittelbar auf das Ausbleiben der unfreien Handlung kann das Vertrauen als ein berechtigtes somit nicht gerichtet sein. Aber es kann sich darauf richten, daß der andere eine Person sei, die den Anforderungen des Soziallebens gewachsen ist. Ein solches Vertrauen besteht in der Tat. In der Rechtsgemeinschaft ist der soziale Verkehr darauf angewiesen, den anderen als "Sozialperson" zu nehmen und ihm die zu normgemäßer Motivation erforderlichen Qualitäten zuzutrauen 147 • Denn anderenfalls müßte jenem die Teilnahme am Verkehr unmöglich gemacht, im Falle seiner konstitutionellen Untauglichkeit etwa für seine Sequestrierung gesorgt werden. Sein Anteil an dem hierdurch entstehenden Abhängigkeitsverhältnis entsteht eben durch seine Teilnahme am Verkehr, da gerade durch sie das Vertrauen geweckt wird, daß er den sozialen Anforderungen auch subjektiv genügen werde. Wenn somit das Vertrauen berechtigt ist, daß der andere als Sozialperson den Anforderungen des Verkehrs gewachsen sein werde, so ist mittelbar auch das Vertrauen auf das Ausbleiben einer defektbedingten Handlung berechtigt. Insofern besteht auf der Seite des Opfers auch bei schuldlos-finalen Vorhandlungen eine der bei volldeliktischem Tun vergleichbare Abhängigkeit. Da diese durch die schuldlose Vorhandlung überspielt wird, kommt auch hier eine Bewirkensäquivalenz in Betracht. 147 VgI. E. A. Wolff, S. 42: "Das schuldhafte Tun bildet ... nur einen Teil jener das Vertrauensverhältnis zerstörenden Fälle. Das Vertrauen ist im Recht auf typische Verbotsverletzungen bezogen. Man nimmt an, daß der andere ein ,ordentlicher Staatsbürger' ist, der die notwendige Aufmerksamkeit aufbringt und ein Mindestmaß an intellektuellen und praktischen Fähigkeiten besitzt. Bleibt jemand hinter diesem ordentlichen Staatsbürger zurück, dann kann es sein, daß er ohne subjektive Verbotsverletzung Handlungen ins Werk setzt, die ein ordentlicher Staatsbürger gerade deswegen nicht getan hätte, weil sie einem (den anderen vor Verletzungen schützenden) Verbot zuwiderlaufen. Diese schuldlosen Handlungen verletzen aber - wenn die Betroffenen ihn typisierender Betrachtung unterwerfen - nicht weniger das Vertrauen wie die schuldhaften Handlungen" (Hervorhebung dort). Ähnlich auch Rudolphi, S. 184.
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c) Geht man nunmehr zu den fahrlässig-volldeliktischen Handlungen über, so steht zunächst die Konkretisierung des eingangs analysierten Vertrauensverhältnisses im Hinblick auf solche Handlungen aus, die die später nicht abgewendete Verletzung bei Aufbringung der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt hätten vermeiden können; denn bisher ging es stets um das Vertrauen auf das Ausbleiben von Handlungen, die final auf die nicht abgewendete Verletzung gerichtet waren. Daß hierin kein prinzipieller Unterschied gelegen sein kann, ergibt sich daraus, daß auch die fahrlässige Handlung eine finale Handlung ist1 48 • Nur ist ihre Finalität auf einen rechtlich neutralen oder einen anderen als den nicht abgewendeten Erfolg gerichtet. Da nun die Eigenschaft der Handlung als einer fahrlässigen zum Inhalt hat, daß ihr Urheber den Erfolg bei seiner Zwecktätigkeit hätte vermeiden können, weil dieser objektiv voraussehbar war (intellektuelle Komponente) und auch nicht aus überwiegenden Gründen des öffentlichen Interesses riskiert werden durfte (normative Komponente), folgt das Vertrauensverhältnis aus der Abhängigkeit von fremder Sorgfalt. Man braucht nur an die Verhältnisse des modernen Straßenverkehrs zu denken, um das Ausmaß dieser Verwiesenheit einzusehen. Wer sich dem Verkehr aussetzt, muß dessen Gefahren auf sich nehmen. Könnte er sich nicht darauf verlassen, daß der andere die zum Schutz fremder Rechtsgüter speziell erlassenen oder aus dem Sorgfaltsbegriff zu konkretisierenden Anforderungen beachten werde, hätte er sich in seinem eigenen wohlverstandenen Interesse entweder mit massiven Schutzvorkehrungen zu umgeben oder auf die Teilnahme am Verkehr zu verzichten. Insofern besteht das Vertrauensverhältnis auch hier. Nimmt man nun zunächst an, daß auch die auf die fahrlässig-v 011deliktische Vorhandlung folgende Unterlassung fahrlässig geschieht, so ist die Gleichwertigkeit der Opferposition wiederum ebenso selbstverständlich wie "unpraktisch". Zwar wird die Situation des bedrohten Gutes nicht deswegen besser, weil der Täter auch die spätere Abwendungsmöglichkeit fahrlässig versäumt; da jedoch schon die Vorhandlung zur Bestrafung ausreicht, ermöglicht diese Annahme lediglich die bereits erwähnten Einsichten in die Struktur der fahrlässigen Begehung149 • Problematischer ist die Lage dann, wenn die fahrlässige Vorhandlung einer vorsätzlichen Unterlassung vorangeht. Denn mit dieser Konstellation entsteht die zweifelhafte Frage, ob die Abhängigkeit des Rechtsgutsträgers vom Unterbleiben rechtsverletzender Aktivität eine qualitativ verschiedene ist, je ob die Handlung auf die Verletzung 148 149
Zum folgenden We~ze~, Dt. StrR., S. 122 ff. Vgl. unten 5. Kap.
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des nicht geretteten Gutes final abzielte oder dieses nur vernachlässigte. Wäre die Frage zu bejahen, so käme ein vorsätzliches Unterlassen nur nach einer auf denselben Erfolg gerichteten vorsätzlichen Vorhandlung in Betracht. Es liegt auf der Hand, daß die Ingerenz hiermit ihre eigentlich praktische Bedeutung einbüßen müßte. Es ist nun nicht zu bestreiten, daß das Opfer von einer auf seine Verletzung final abzielenden Handlung jedenfalls in anderer Weise betroffen wird als durch eine nur fahrlässige Aktivität. Während es die Zweckbewußtheit dem Täter im ersten Fall erlaubt, sein Opfer durch die Länder und über die Jahre hinweg zu verfolgen, geschieht der Eintritt der Verletzung im zweiten Falle - wie vielfach bemerkt - zufällig, nämlich bedingt durch das Vorhandensein des bedrohten Gutes in der faktischen Reichweite der fahrlässigen Handlung. Insofern besteht in der Tat ein Unterschied. Aber unter dem Aspekt einer Vergleichbarkeit der Opfersituation und damit einer den Erfolgsunwert hervorkehrenden Betrachtungsweise ist diese Verschiedenheit eine nur quantitative 15O • Sie umschreibt eben nur die Finalität der vorsätzlichen Handlung, die der fahrlässigen Tat abgeht. Wenn das Opfer der Gefahr einer Einbuße an Rechtswerten im Augenblick der Abwendungsmöglichkeit tatsächlich ausgesetzt ist, bleibt es für seine Position gleichgültig, ob der schädigende Kausalverlauf mit Richtung auf die Verletzung seiner Güter oder auf andere Zwecke final überdeterminiert war. Seine spezifische Abhängigkeit bezieht sich lediglich auf das Ausbleiben der Folgen einer Aktivität, die Gegenstand des Verbotes ist, mag jene nun fahrlässig oder vorsätzlich gesetzt sein. Bei den vorsätzlichen Handlungen entsteht der Anschein einer besonderen Verletzbarkeit lediglich durch die Möglichkeit einer Heimtücke des Täters, die indessen im Begriff der Finalität nicht vorausgesetzt ist. Der verschiedenartigen Struktur vorsätzlicher und fahrlässiger Vorhandlungen entspricht somit ein nur quantitativer Unterschied in der Opfersituation. Das für die Abhängigkeitsbeziehung konstitutive Vertrauen auf das Unterlassen rechtsverletzender Aktivität bezieht sich gleichmäßig auf beide "Schuldformen"; und mithin gilt für die Abhängigkeit von einer Rettungshandlung dasselbe. d) Daß ferner das individuelle Zurückbleiben hinter den objektiven Anforderungen, die das Sorgfaltsgebot aufstellt, keinen Einfluß auf die Opfersituation zu gewinnen vermag, wurde bereits bemerkt (b). Die Notwendigkeit einer typisierenden Betrachtung ist hier besonders deutlich. Jede den einförmigen Verkehrsgefahren vorbeugende Regel erweckt - zumal im Straßenverkehr - das Vertrauen auf ihre Ein150
Näheres unten S. 193 f., 229 ff.
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haltung und beeinflußt auf diese Weise das eigene Verhalten in der nachhaltigsten Weise. Folglich muß hier von individuellen Defekten, die einem einzelnen Verkehrsteilnehmer anhaften, abgesehen werden dürfen. Insofern ergeben sich keine neuen Fragen. e) Die Klasse der schuldhaft oder schuldlos rechtswidrigen Handlungen ist mit dem Vorangegangenen erschöpft. Da die Fälle einer verkehrsrichtigen oder gerechtfertigten Vorwirksamkeit einstweilen ausgeschlossen bleiben sollen, steht gegenwärtig noch die inadäquate Gefährdung zur Erörterung. Denn da das Adäquanzurteil mit dem intellektuellen Moment der Fahrlässigkeitswertung identisch istl5l , müssen die verbleibenden Fälle durch die Negation der Adäquanzbeziehung zwischen Handlung und Erfolg gekennzeichnet sein. In der rechtlichen Bewertung dieser Konstellation unterscheiden sich bekanntlich die "personale" und die "kausale" Unrechtslehre darin, daß diese - vom Erfolgsunwert ausgehend - eine Rechtswidrigkeit annimmt, während jene - den Handlungsunwert akzentuierend - eine solche verneint152 • Für die hier gestellte Frage ist dieser Gegensatz indessen ohne Bedeutung. Denn da die Deliktseigenschaften der Vorhandlung nicht als solche, sondern lediglich im Hinblick auf die Vergleichbarkeit der Opfersituation untersucht werden, muß sich die Entscheidung aus der Sache selbst ergeben. Gerade der Aspekt des Opfers scheint nun eine Betrachtungsweise nahezulegen, die es allein auf den Erfolgsunwert ankommen läßt; denn auch der inadäquat verursachte Erfolg ist "rechtlich unerwünscht", eben weil die Integrität des fremden Bereichs von der Rechtsordnung als "Gut" anerkannt ist. - Indessen ist die besondere, durch das Abhängigkeitsverhältnis vermittelte Verletzbarkeit des Menschen nicht bloßes Synonym seiner Fragilität, die allerdings mit dem Drohen jeder Gefahr unter Beweis steht. Denn diese Anfälligkeit umschreibt lediglich die Unterworfenheit des Menschen unter die Kausalgesetze, die ihm als einem auch physischen Wesen zukommt. Aber das Vertrauen auf das Ausbleiben einer derartigen Verletzung ist solange eine bloß eitle Hoffnung, die sich an jedem Unglück als unbegründet erweist, als nicht der andere die Verletzung entweder subjektiv hätte vermeiden können oder als Sozial person unter dem Anspruch dieses Könnens stand. Denn da das Verbot als Grund des die Abhängigkeit vermittelnden Vertrauens das Können des Adressaten voraussetzt, die Inadäquanz der Gefährdung aber gerade mit der objektiven Unvorher151 Welzel, Dt. StrR., S.127; ders., Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S.16 N.32; eingehend dazu Rehberg, Zur Lehre vom ,erlaubten Risiko', S. 120 ff.; ferner Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht. 152 Vgl. Welzel, Dt. StrR., S. 122 ff.
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sehbarkeit das Nicht-Können der Sozialperson artikuliert, bestand in den hier gemeinten Fällen kein berechtigtes Vertrauen auf das Ausbleiben der unvorhersehbar rechtsverletzenden Aktivität. Das Opfer wird hier von der Kausalverkettung wie von einem bloßen Naturereignis betroffen, gegen das es sich selbst nach Kräften schützen mag. Weder besteht jedoch eine besondere Abhängigkeit, die die Voraussetzung einer Bewirkensäquivalenz des Unterlassens bildet, noch hat der Täter teil an der Hoffnung auf das Ausbleiben derartiger Unglücksfälle. Eine Bewirkensäquivalenz der Unterlassung scheitert an der Unvergleichbarkeit der Opfersituation. Die vorangegangenen überlegungen haben somit zu dem Ergebnis geführt, daß eine (eine der beim positiven Tun bestehenden vergleichbare) Abhängigkeit des Opfers von einer Rettung nur dort angenommen werden kann, wo seine Position durch eine rechtswidrige (i. S. von pflichtwidrig) Vorhandlung beeinträchtigt worden war. Denn da auch die beim positiven Tun bestehende Abhängigkeit vom Unterbleiben rechtsverletzender Aktivität lediglich durch das Vertrauen auf das Unterlassen einer verbotswidrigen Handlung konstituiert ist, muß die Abhängigkeit vom Nichteintritt ihrer Folgen und damit von einer Rettung durch dieselben Merkmale bestimmt sein. Mithin kann die Unterlassung des Täters nur im Falle einer rechtswidrigen Vorwirksamkeit Handlungsäquivalent sein; hierbei ist die Gleichwertigkeit seiner Position freilich schon vorausgesetzt.
2. Die Täterposition Betrachtet man die Abhängigkeit des Opfers vom Nichteintritt der Folgen einer Vorhandlung nunmehr aus der Perspektive des Täters, so geht es um die Frage, auf welche Weise dieser als Subjekt der zunächst beziehungslosen besonderen Verletzbarkeit des anderen mit diesem in einem Verhältnis verbunden werden kann, das die auch beim positiven Tun vorgefundenen Qualitäten aufweist. Die Antwort hierauf ergibt sich nicht schon aus den Betrachtungen zur Gleichwertigkeit der Opfersituation. Denn diese hatten zwar gezeigt, daß dessen Lage ein Zustand der Abhängigkeit vom Nichteintritt der Verletzung ist, der im Hinblick auf die Abwendungsmöglichkeit Dritter auch als Abhängigkeit von einer Rettungshandlung umschrieben werden kann und daß diese Abhängigkeit der beim positiven Tun bestehenden Abhängigkeit vom Unterbleiben der kriminellen Tat dann vergleichbar ist, wenn die Vorhandlung die Integrität der Güter des Opfers rechtswidrig gefährdet hatte. Aber warum gerade der Täter der Vorhandlung als Subjekt der Abhängigkeit des Opfers in ein Verhältnis sollte eingesetzt werden können, welches ihn mit dem Opfer
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verbindet, ist hiermit noch nicht einsichtig. Die naheliegende Antwort, daß er unter allen in Betracht kommenden Personen als Urheber der Gefahr jedenfalls der Nächste sei, der sie abzuwenden habe, überzeugt hiervon noch nicht. Denn es wurde bereits bemerkt, daß der Vergleich der Nähe verschiedener Personen lediglich ein "Differenzierungsproblem" ist, das auch die relative Nähe des polizeilichen Handlungsstörers umfassen kann 153 • Und auch der Verweis auf eine Reparationsverbindlichkeit, die als Pflicht zur Naturalrestitution das zivilistische Schadens ersatz recht beherrscht, wird allenfalls die Anhänger einer formellen Rechtspflichttheorie überzeugen können154 • Als Pflicht zur Wiedergutmachung nach eingetretener Verletzung setzt sie nicht nur den hier gesuchten Grund für eine Pflicht zur Abwendung der bevorstehenden Verletzung schon voraus, sondern ihr Standort in einem System des Schadensersatzrechts, dem die Konvertibilität der geschützten Güter mit Geldzahlungen immanent ist, weist die Reparationsverbindlichkeit auch als eine Erscheinung aus, der im Falle des Unterlassens mit der Rechtsfolge des Verzuges genügt ist, das hingegen für eine Bewirkensäquivalenz der Tat nichts aussagt154a • Vielmehr wird sich erst dann ein Zugang zu dieser Frage eröffnen, wenn man den Wandel der Abhängigkeit, den die Position des Opfers mit der Progression der Begehungstat durchläuft, zu dem Anteil des Täters an dieser Relation in Beziehung setzt. Die Abhängigkeit des Opfers wurde zunächst als Abhängigkeit vom Unterlassen der verbotswidrigen Handlung gedacht; dem entspricht die Verbindlichkeit des Täters, das Verbotene zu unterlassen. Hatte sich dieser der Wirkungen seiner verbotswidrigen Aktivität mit der Vornahme der Handlung entäußert, ohne jene durch die Möglichkeit zur Erfolgsabwendung in der Hand zu behalten, so blieb auf der Seite des Opfers eine beziehungslose Abhängigkeit vom Nichteintritt der Folgen erhalten, unter der sich die Gefahr zur Verletzung realisierte. Freilich war der Täter mit dem Verlust seiner Abwendungsmöglichkeit aus einer gegenwärtigen Beziehung zum Opfer ausgeschieden; gleichwohl blieb die sich realisierende Verletzung sein Werk, nämlich das Werk seiner vergangenen Handlung. Wenn nun die Abhängigkeit des Opfers vom Nichteintritt der rechtsverletzenden Wirkungen in die Abhängigkeit von der Vornahme einer Vgl. oben S. 158 ff. Ihnen bot freilich § 249 BGB eine willkommene gesetzliche Grundlage der Ingerenz. Vgl. Träger, Unterlassungsdelikte, S.96, 103; auch Loening, Grundriß, S.20 u. Höpfner, ZStW 36 [1915], 117; ferner M. E. Mayer, AT (2), S. 193; Kissin, Rechtspflicht zum Handeln, S. 118. Dazu auch Rudolphi, S. 28 bei und in N. 14. 154a Vgl. dazu im übrigen Larenz, AT d. dt. bürgerlichen Rechts, S. 68 ff. (70). 153
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Rettungshandlung umschlägt, so ist der der Abwendung mächtige Täter deswegen das Subjekt der hieraus entstandenen Beziehung zum Opfer, weil der jetzt bestehende Zustand der Gefahr nicht minder sein Werk ist wie der endlich eintretende Erfolg. Er ist es, der dem Opfer den Zustand der Abhängigkeit mit seiner verbotswidrigen Vorhandlung bereitet hat; und folglich ist er es auch, auf den das Opfer in seiner Abhängigkeit verwiesen und angewiesen ist. Weil die Abhängigkeit vom Nichteintritt der rechtsverletzenden Wirkungen einer Handlung das Durchgangsstadium jeder Begehung ist und dies von der Verantwortlichkeit für die Folgen eines kriminellen Tuns umfaßt wird, eben dieses Durchgangsstadium aber die Konstellation der Ingerenz dann ist, wenn der Täter den Erfolg abwenden kann, enthält jedes Begehungsverbot als Korrelat die Pflicht zur Erhaltung einer vorab rechtswidrig gefährdeten Gutsintegrität. Wenn die Verbotsnorm auf den Schutz des Gutes vor Angriffen gerichtet ist, die sich seine Verletzung initiativ zum Zweck setzen oder diese pflichtwidrig bei der Verfolgung anderer Zwecke nicht vermeiden, so liegt es in ihrer auf Gutsintegrität abzielenden Intention, die geschehene subjektive Verbotsverletzung solange mit einem komplementären Abwendungsgebot zu versehen, wie mit der Abwendungsmöglichkeit des Täters eine Chance für die Erhaltung des Gutes besteht. Der materielle Grund für die Ableitung des "sekundären" Abwendungsgebots aus dem "primären" Handlungsverbot liegt in der Abhängigkeitsbeziehung selbst. Das Verbot verbietet Handlungen, durch die das Opfer in seiner besonderen, durch das Vertrauen auf ihr Ausbleiben begründeten Verletzbarkeit betroffen wird. Die übertretung des Verbots versetzt das Opfer in einen Zustand konkreter Abhängigkeit, unter dem sich die Gefahr zur Verletzung realisiert. Diese ist das Werk des Täters, für das er einzustehen hat. Im Falle der Ingerenz ist die Abhängigkeit des Opfers auf die Vornahme der Rettungshandlung bezogen. Deren Subjekt hat der Täter deswegen zu sein, weil der Zustand der Abhängigkeit sein Werk ist. Dies zeigt zugleich, daß die wiederhergestellte Beziehung zwischen Opfer und Täter die dem positiven Tun entsprechende Relation ist; denn sie wurde durch den Rückgriff auf die auch beim Tun vorgefundene Abhängigkeit des Opfers einerseits und die dort gleichfalls angetroffene Verantwortlichkeit des Täters für sein Werk andererseits konstituiert. Und mithin ist dem Postulat nach einer Bewirkensäquivalenz der Unterlassung nunmehr genügt. Da die Verantwortlichkeit des Täters dialektisch auf die Abhängigkeit des Opfers bezogen ist, können die an die Qualität derVorhandlung zu stellenden Anforderungen keine anderen sein als die, welche die Abhängigkeit des Opfers begründen. Dies bedeutet, daß die Unterlassung immer dann, aber auch nur dann Handlungsäquivalent ist, wenn
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die Vorhandlung die Position des Opfers rechtswidrig beeinträchtigt hatte. Denn da auch die beim positiven Tun bestehende Abhängigkeit auf die Unterlassung verbotsverletzender Handlungen bezogen ist, besteht die Abhängigkeit von der Vornahme einer Rettungshandlung gleichfalls lediglich im Hinblick auf die Abwendung der Folgen einer solchen Aktivität. Der "Rückstoß" des mit der Vorhandlung enttäuschten Vertrauens kann nur dort zu einer Verantwortlichkeit führen, wo auch das ursprüngliche Vertrauen berechtigt war. Besondere Begründung bedarf dies im Falle der schuldlosen Vorhandlung. Die Verbindlichkeit des Täters ergibt sich hier parallel zu der abweichenden Konstituierung der Abhängigkeit des Opfers. Wenn diese hier nicht schon aus dem Vertrauen auf das Ausbleiben der "unfreien" Handlung hergeleitet werden kann, sondern als Folge der Teilnahme der schuldunfähigen Person am Verkehr entsteht154b, so ist die Abwendungsverpflichtung gewissermaßen der Preis, den der andere für seine Verkehrsteilnahme zu zahlen hat. "Auf sein richtiges Verhalten wurde vertraut, und es ist auch nicht ungerecht, daß er typisierender Betrachtung unterworfen wird; kann er doch seinerseits nach diesen typisierenden Betrachtungen seine Verhältnisse ausrichten155 ." Mit der zuvor gegebenen Ableitung ist dem eingangs aufgestellten Postulat nach einer qualitativen Gleichwertigkeit des Unterlassens mit dem positiven Tun für den Fall einer rechtswidrigen Vorwirksamkeit des Unterlassenden nunmehr genügt. Denn der Rückgriff auf das zwischen Opfer und Täter bestehende Abhängigkeitsverhältnis hatte es erlaubt, der Unterlassung die Teilhabe an derjenigen Qualität zu sichern, die auch die Strafbarkeit des positiven Tuns begründet. Die erarbeiteten Zurechnungskriterien sind daher nicht bloße Strafwürdigkeitserwägungen, sondern die Bedingungen einer Bewirkensäquivalenz der Unterlassung. Erfüllt diese die an die qualitative Gleichwertigkeit zu stellenden Anforderungen, so steht die Unterlassung zu dem nicht abgewendeten Erfolg in einem dem Bewirken analogen Verhältnis; sie erweist sich somit als von den auf aktives Tun zugeschnittenen Tatbeständen des Gesetzes mitgemeint. Eben dies wird gesagt, wenn die Wirkungsweise einer solchermaßen legitimierten Unterlassung als Entzug der dem Opfer zustehenden Rettungschance oder als Verschlechterung einer guten Wirklichkeit umschrieben wird155a • Ist dies zugestanden, so gewinnt auch der Begrüf des Unterlassungsvorsatzes einen dem Handlungsvorsatz des positiven Tuns entsprechenVgl. oben sub l. b). E. A. Wolff, S.42. 155a E. A. Wolff, S. 36 ff.; H. Mayer, StrR., 1953, S. 111.
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den Sinnl55b • Denn wenn die gleichwertige Unterlassung mit ihrer Bewirkensäquivalenz eine auch dem Tun eignende Qualität aufzuweisen hat, so ist der Unterlassungsvorsatz auf derselben Ebene ein dem Handlungsvorsatz entsprechender Verwirklichungswille, auf der die Unterlassung ein dem Tun äquivalentes Verhalten ist. Der Unterlassungsvorsatz, dem die Abwendungsmöglichkeit bei Kenntnis der die Bewirkensäquivalenz begründenden Umstände bewußt wird, durchdringt das Geschehen ebenso wie der Handlungsvorsatz, wenn er sich für ein Verhalten entscheidet, das es dem Opfer "zum Schlechten wendet" (E. A. Wolft). Mit der Begründung der Bewirkensäquivalenz der Unterlassung ist somit immer auch eine Substanz geschaffen, die Vorsatz und Fahrlässigkeit in gleicher, und zwar in einer dem positiven Tun entsprechenden Weise zugänglich ist. Zwar findet der Unterlassende zur Zeit der Abwendungsmöglichkeit die Wirksamkeit realer Kräfte immer schon als gegeben vor und bewirkt daher den Erfolg nicht selbst unmittelbar-real. Da das äußere Geschehen selbst auf die Verletzung hin angelegt ist, bleibt er auf die einfache Möglichkeitsalternative beschränkt, entweder den Dingen ihren Lauf zu lassen oder rettend einzugreifen, während sich der Handlungswille in einer Veränderung der Wirklichkeit realisiert. Diese Spannung vermag nun allerdings keine Gleichstellungstheorie zu überwinden, da sie dem "fundamentalen" Unterschied von Aktivität und Inaktivität entspricht. Da das Ziel einer solchen Lehre indessen lediglich auf die Herstellung einer Handlungsäquivalenz der Unterlassung gerichtet sein konnte, bleibt es möglich, daß der auf die Nichtabwendung der Verletzung gerichtete Unterlassungsvorsatz in dem Eintritt des Erfolges die Verwirklichung findet, deren Modus im Vorangegangenen behandelt worden ist. Mithin fügt sich die Differenz von Vorsatz und Fahrlässigkeit in den "Handlungs"unwert der Unterlassung in der dem positiven Tun entsprechenden Weise ein. Hieraus ergibt sich schließlich auch die Antwort auf die bereits gestreifte Frage, welche Bedeutung dem Wechsel der "Schuldformen" für die Position des Täters zukommt, wenn auf eine fahrlässige Vorhandlung vorsätzliches Unterlassen folgtl 55c• Die Zweifel an der Gleichwertigkeit des vorsätzlichen Unterlassens mit dem vorsätzlichen Tun entzünden sich hier an dem Umstand, daß die Entscheidung über Vorsatz oder Fahrlässigkeit der Unterlassung lediglich der Aufmerksamkeit des Täters verdankt wird, diese aber im 155b Dazu Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 66 ff.; ders., v. Weber-Festschrift, S. 207 ff.; Hardwig, zstw 74 [1962], 27 ff.; E. A, Wolff, S. 47 ff.; Grünwald, H. Mayer-Festschrift, S. 281 ff. 155C Vgl. oben S.187 und unten S. 229 ff. im Zusammenhang der RisikoVorhandlungen.
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realen Geschehen keine Entsprechung findet. Wäre dieser Einwand stichhaltig, so könnte ihm offenbar nur durch differenzierende Anforderungen an die Qualität der für die Gleichwertigkeit vorsätzlichen und fahrlässigen Unterlassens tauglichen Vorhandlungen Rechnung getragen werden, in der Weise etwa, daß nur vorsätzliche Vorhandlungen zur Begründung der Gleichwertigkeit einer vorsätzlicher Unterlassung zugelassen würden. Indessen verbietet sich ein solches Verfahren für die hier verfolgte Fragestellung von selbst. Es wurde bereits bemerkt, daß dem verschiedenen Unrechtsgehalt vorsätzlicher und fahrlässiger (Vor-)Handlungen auf der Seite des Opfers lediglich eine quantitative Entsprechung im Maß der Abhängigkeit vom Unterbleiben solcher Handlungen zuteil wird; demnach ist es unter diesem Aspekt auch gleichgültig, ob das Opfer aus einer vorsätzlich herbeigeführten oder aus einer lediglich pflichtwidrig nicht vermiedenen Gefahr gerettet werden muß, da der Erfolg in beiden Fällen im Vollzuge der besonderen Verletzbarkeit des Opfers einzutreten droht. Und mithin gilt für die Täterposition dasselbe. Das Opfer wird in jedem der beiden Fälle in einer Situation der Abhängigkeit vorgefunden, in die es durch das Vertrauen auf das Ausbleiben der verbotswidrigen Handlung geraten ist, mag subjektiv die Form der Verbotsverletzung nun Vorsatz oder Fahrlässigkeit gewesen sein. Da diese Abhängigkeit nach Abschluß der Vorhandlung in eine Abhängigkeit von der Vornahme der Rettungshandlung, deren Subjekt der Täter ist, umschlägt, begegnet diesem eine Lage, in der sein Unterlassen objektiv den Wert eines Tuns hat. Diese Bewirkensäquivalenz steht als Substanz beiden Formen der subjektiven Verbotsverletzung offen, wie hinlänglich gezeigt wurde. Mithin ist es gleichgültig, welchen Handlungsunwert die Vorhandlung aufzuweisen hatte, sofern diese nur das Vertrauen auf das Unterbleiben verbotswidriger Aktivität überspielte. Daß der Zufall, der in der Wahrnehmung der Rettungsmöglichkeit gelegen ist, keine Entsprechung in dem objektiven Geschehen findet, ist lediglich die Folge des Umstandes, daß jedes Unterlassen den zur Verletzung führenden realen Prozeß immer schon voraussetzt. Die vorsätzliche Unterlassung ist daher auch dann Äquivalent eines vorsätzlichen Tuns, wenn die Gefahr durch die Vorhandlung lediglich fahrlässig gesetzt wurde. IV. Zusätze
1. Zur Kausalität der Vorhandlung a) Die Kausalität der Vorhandlung für den nicht abgewendeten Erfolg ist mit Hilfe der von der Äquivalenztheorie gegebenen Regeln festzustellen. Die Ingerenz nimmt auf diese Weise an allen Fragen teil, die
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die Anwendung der sog. Kausalitätsformel mit sich bringen. Da hierdurch indessen keine gerade ihr eigentümliche Problematik entsteht, bedarf dieser Punkt gegenwärtig keiner weiteren Erörterung. Nun werden allerdings zwei Formen des Bewirkens durch Tun unterschieden, jene eine, die in einem "einfachen Kausalzusammenhang" besteht, und die andere, die "über die Verhinderung eines Geschehens vermittelt ist"156. Die zuletzt genannte Form betrifft die streitige Frage der Unterbrechung rettender Kausalverläufe; da es jedoch auch hierbei um kein der Ingerenz eigentümliches Phänomen geht157, kann sich die Untersuchung mit der Aufstellung einer Relation begnügen: Soweit die Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufes - mag dieser in einem Naturvorgang, dem Handeln eines Garanten oder eines Extraneus bestehen - im Falle schuldhaften Bewirkens strafrechtliche Verantwortlichkeit begründet, ist sie auch taugliche Vorhandlung; und soweit sie keine Verantwortlichkeit begründet, führt auch die Wertung einer sich anschließenden Unterlassungsphase zu keinem anderen Ergebnis. Die Lösung der sachlichen Problematik dieser Konstellation wird hierbei vorausgesetzt. Über die Herstellung einer Entsprechung zum deliktischen Tun geht der Lösungsversuch Rudolphis freilich weit hinaus. Für ihn eröffnet sich der Zugang zu der angeschnittenen Problematik nicht - wie hier - über die Anschauung der verschiedenen Formen aktiven Bewirkens, sondern über das Requisit einer "Gebotenheit" der Garantenstellungl58. Während diese im Begriff der von der Gefahr vorausgesetzten "Hilfsbedürftigkeit" für die hier vertretene Ansicht jederzeit mitgedacht ist l59, behauptet sie bei Rudolphi offenbar eine selbständige Funktion; denn anders ist es nicht zu erklären, daß die Eignung der Vorhandlung zur Unterbrechung des rettenden Kausalverlaufs als eine "zusätzliche Voraussetzung" erscheintl6o . Hierauf soll es nur dann ankommen, wenn der rettende Kausalverlauf nicht in dem Handeln eines Garanten bestanden hätte 161 • Wenn beispielsweise ein Autofahrer eine Mutter ver156 E. A. Wolff, S.21, 28. 157 Im übrigen wird auf die Untersuchungen von Armin Kaufmann, Dogmatik, S. 195 ff. und E. A. Wolft, S. 29 f. verwiesen. Auf die Ingerenz hat Rudolphi (S. 112 ff.) diese Konstellation offenbar als erster übertragen; zu seiner Lösung weiter im Text. 158 Rudolphi, S. 112 (u... Fragen, wann im einzelnen das vorangegangene Tun eine Störung der primären sozialen Schutzordnung hervorgerufen hat und welches Maß diese Störung erreichen muß, um nach den Wertmaßstäben der Rechtsordnung eine Garantenstellung als ge bot e n erscheinen zu lassen"; Hervorhebung vom Verf.). 159 Vgl. unten N.240. 160 Rudolphi, S. 114; Hervorhebung dort. 161 a.a.O., S. 114 f. 13*
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letze und sich so dann nicht um deren Kind bemühe, das sich in ihrer Begleitung befunden habe, hafte er für ein diesem zustoßendes Unglück auch dann, wenn die Mutter selbst es nicht hätte verhindern können oder wollen. War die Aufsichtsperson des Kindes hingegen nicht Garant, so soll es gerade auf die Eignung der Vorhandlung zur Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufs, mithin auf die Abwendungsfähigkeit und -bereitschaft des Extraneus ankommen162 • Die Konsequenzen dieser Auffassung sind ebenso unabsehbar wie offenkundig falsch. Denn die Eignung der Vorhandlung zur Unterbrechung eines rettenden Kausalverlaufs begründet ja überhaupt erst deren Kausalität für den eingetretenen Erfolg und läßt sie allererst dem Typus der Ingerenz unterfallen! Die Grenze der Kausalität bezeichnet selbstverständlich auch die Grenze jeder möglichen Verantwortlichkeit qua Ingerenz, wenn diese als differenziertes Gleichstellungskriterium überhaupt einen Sinn haben soll. Für die gegenteilige Behauptung fehlt jede Begründung. Es ist auch eine ganz abwegige Vorstellung, daß der Täter der Vorhandlung "nach den gesetzlichen Wertvorstellungen" in die PflichtensteIlung des durch die Aktivität ausgeschlossenen Garanten sollte "einrücken" müssen163 • Dies könnte ja nur die absurde Folge haben, daß der Gefährdende die Position des Verletzten gewissermaßen "übernehmen" müßte, und zwar in toto! Daß also der unglückselige Kraftfahrer, der die Mutter getötet hat, nunmehr und für alle Zeiten an deren Stelle zu treten hätte, daß er als Mutter, Ehefrau, Sekretärin und in jeder anderen Position zu fungieren hätte, die jene einnahm. Mit dem Verzicht auf die Kausalität der Vorhandlung entfällt jede Möglichkeit zu einer Spezialisierung der Abwendungspflicht; die Ingerenz büßt auf diese Weise alle Konturen ein und verschwimmt in einer universellen Verantwortungsvorstellung, die mit einer stringent begründeten Bewirkensäquivalenz nichts gemein hat. Sofern man daher nicht die Beweisschwierigkeiten, die den nur hypothetisch zu führenden Nachweis einer Unterbrechung künftiger Rettung in der Tat belasten, für die Ansicht RudoZphis verantwortlich machen will, kann man ihren Grund wohl nur in dem gleichsam phänomenologischen Ansatz erblicken, der "mit Hilfe einer vornehmlich sinn erfassenden Betrachtungsweise den gesamten Rechtsstoff der unechten Unterlassungsdelikte" in den Griff zu bekommen hofft164 • Daß dies solange nicht gelingen kann, als sich die erschauten Strafwürdigkeitstypen nicht an den den "Stoff" überformenden Gleichstellungskriterien zu legitimieren vermögen, hatten bereits die Betrachtungen zum Grundsatz des "nullum crimen sine lege" gezeigt1 65 • 162 163 164
165
Vgl. die Beispiele a.a.O., S.113 sub 1. und 4. a.a.O., S. 114. a.a.O., S. 110. Vgl. oben 3. Kap. A.
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b) Daß die Vorhandlung den nicht abgewendeten Erfolg vermöge ihrer "naturwissenschaftlichen", mit Hilfe der Äquivalenztheorie festzustellenden Kausalität bewirkt haben müsse, ist das Fundament aller hier angestellten überlegungen; denn das die Bewirkensäquivalenz vermittelnde Abhängigkeitsverhältnis wurde gerade im Hinblick auf das Ausbleiben einer solchen rechtsverletzenden Aktivität konstituiert. Es läßt sich deswegen vorab ausschließen, daß auch eine "vorangegangene Unterlassung" taugliches Vorverhalten zu sein vermöge; denn ihr geht die verlangte Qualität per definitionem ab. Gleichwohl wird dies von einer verbreiteten Meinung angenommen. Sie geht auf eine Entscheidung des Reichsgerichts zurück166 und ist von der Wissenschaft meist ohne weitere Begründung - rezipiert worden167, freilich gegen den entschiedenen Widerstand einer Minderheit168 • Nach dem Vorangegangenen kann es sich hierbei nur um ein Mißverständnis handeln. aa) Es ist zunächst selbstverständlich, daß eine "Endunterlassung" nicht deswegen Handlungsäquivalent sein kann, weil sie auf eine "Vorunterlassung" folgt, die rechtlich bedeutungslos war. Denn diese creatio ex nihilo wäre nur um den Preis der Vorstellung zu bewerkstelligen, daß man in einem Zeitpunkt 2 deswegen zum Handeln verpflichtet sei, weil das in einem Zeitpunkt 1 nicht der Fall war. Möglich ist es allerdings, daß man heute eine Handlung vornehmen muß, zu der man gestern noch keine Pflicht hatte, daß man etwa für die Verkehrs sicherung auf einem Grundstück zu sorgen hat, das erst heute 166 RGSt 68,99 (104): Die Angeklagte hatte es einem gesetzlichen Verbot zuwider unterlassen, während mehrerer Jahre eine Vermögens(steuer)erklärung abzugeben, wozu sie auch ohne Aufforderung des Finanzamtes verpflichtet war. Als dieses Gebot im Jahre 1931 aufgehoben und dahin modifiziert wurde, daß eine Erklärung nunmehr nur noch auf ausdrückliche Aufforderung des Finanzamtes abzugeben sei, gab dde Angeklagte wie schon in den früheren Jahren keine Erklärung ab, obwohl ihr Vermögen den vermögenssteuerfreien Betrag überschritt. Eine Aufforderung hatte sie deshalb nicht erhalten, weil das Finanzamt von einer geringeren Höhe ihres Vermögens ausging. Eine Bestrafung wegen Vermögenssteuerhinterziehung durch Unterlassung kam nach Ansicht des Reichsgerichts deswegen in Betracht, weil das frühere pflichtwidrige Unterlassen den Irrtum des Finanzamtes herbeigeführt hatte. Zwar habe das RG "diesen Grundsatz [sc. der Ingerenz] bisher nur in solchen Fällen angewendet, in denen der Täter durch wirkliches Handeln eine Gefahr herbeigeführt hatte; doch ist der Grundsatz nach allgemeiner Regel (I) auch anwendbar, wenn der Täter die Gefahr durch eine Unterlassung herbeigeführt hat, obwohl er zum Handeln rechtlich verpflichtet war ..." (a.a.O.). 167 Drost, GS 109 [1937], 23; Dahm, ZStW 59 [1940], 177 N.98; Sauer, GS 114 [1940], 294; Wrede, Diss. 1955, S. 103; Maurach, AT, S. 516; SchönkeSchröder, Vorbem. Rd.-Nr.119; Schwarz - Dreher, Vor § 1 Anm. D I 4; Lackner - Maassen, Vor § 1 Anm. I 1 b dd; Rudolphi, S. 184 ff. mit eingehender Begründung. 168 Doldi, Diss. 1950, S. 62 ff. (66 f.); Granderath, S. 141 ff.; vor allem Androulakis, S. 215 f.
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erworben wurde. Mit der Vorunterlassung hat dies indessen nichts zu tun. Und es ist weiterhin kaum mehr als selbstverständlich, daß eine Rechtswidrigkeit der Vorunterlassung, die durch das Gebot eines echten Unterlassungsdelikts begründet ist, gleichfalls kein unechtes Unterlassungsdelikt für den Zeitpunkt der Endunterlassung produzieren kann 169 . Denn dies würde bedeuten, "daß jedes echte Unterlassungsdelikt mit Hilfe dieses Satzes von der pflichtbegründenden Wirkung eines vorangegangenen pflichtwidrigen Unterlassens in ein unechtes Unterlassungsdelikt umgewandelt werden könnte"170, womit die "Grenzen von echter und unechter Unterlassung völlig verwischt" würden 171 • Jede Unterlassung begreift den Unwert der Nichtabwendung desjenigen Erfolges, dem das Abwendungsgebot gilt, wenigstens nach Art der "omissio libera in omittendo" 172 in sich; folglich kann keine echte Unterlassung die Bewirkensäquivalenz einer nachfolgenden Unterlassung begründen, denn sonst wäre jene eben überflüssig. - Offenbar kann die hier zurückgewiesene Vorstellung überhaupt nur deswegen einen Anschein von Berechtigung gewinnen, weil sich die tatbestandsmäßige Situation in der Zeit zwischen Vor- und Endunterlassung geändert haben kann, die Gefahr sich etwa inzwischen vergrößert hat. So hätte etwa ein verunglückter Autofahrer im Zeitpunkt 1 nur verbunden, im Zeitpunkt 2 aber wegen des Blutverlustes schnellstens in ein Krankenhaus gebracht werden müssen. Indessen beruht die Hilfspflicht auch in dem späteren Zeitpunkt allein auf § 330 c StGB und nicht auf der vorangegangenen Unterlassung; alles weitere ist eine Frage der Konkurrenzlehre. Daß der Hilfspflichtige später mehr tun muß als zuvor, ist allein eine Funktion der progressiven Veränderung, die die tatsächliche Situation inzwischen durchlaufen hat. Die Pflicht endet daher in jedem Fall an dem Maß dessen, was das (echte) Gebot generell an Einsatz von dem Hilfspflichtigen verlangt. Gänzlich ungereimt aber wäre es, ihn nunmehr wegen seines früheren Unterlassens als Täter eines Tötungsdelikts zu bestrafen. bb) Mithin kommt die Vorunterlassung als taugliches Kriterium einer Gleichwertigkeit der Endunterlassung überhaupt nur dort in Betracht, wo schon die Vorunterlassung durch eine Garantenstellung des Unterlassenden als Handlungsäquivalent ausgewiesen ist. Und auch hier wird die Endunterlassung in aller Regel nur aus demselben Grund 169 Außer den in der vorangegangenen Note Genannten auch Rudolphi. S.185. 170 Rudolphi, a.a.O.; Hervorhebung dort. 171 Androulakis, S.216. 172 Hierzu oben S. 137 ff.
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dem Tun gleichwertig sein können wie die Vorunterlassung. Denn einmal setzen beide Unterlassungen das Wirken eines identischen Kausalverlaufs voraus, der über den zunächst eingetretenen Erfolg (Vorunterlassung) zu einer weiteren tatbestandsmäßigen Folge (Endunterlassung) führt; anderenfalls stehen Vor- und Endunterlassung beziehungslos nebeneinander. Und zum anderen haben jedenfalls die meisten Garantenstellungen Rettungspfiichten und damit Handlungen zum Inhalt, die das geschützte Gut in jeder Lage vor Schaden bewahren sollen, mag dies nun unmittelbar durch Rettung oder in anderer Weise geschehen. Daß in solchen Fällen die "zweite zu bekämpfende Gefahr nicht mit der ersten nicht abgewendeten identisch, sondern von dieser verschieden" ist173, bedeutet daher gegenüber der Identität der Abwendungsverpfiichtung nichts. Wenn etwa der Vater sein badendes Kind hat ertrinken lassen, so ist er nicht deswegen Täter eines Tötungsdelikts durch Unterlassen, weil er zuvor versäumt hatte, das Kind vor einem durch das Baden bedingten kräftigen Schnupfen zu bewahren; sondern weil er als Vater Garant für die körperliche Unversehrtheit und das Leben des Kindes war, in welchem Zusammenhang die Verletzung der beiden Güter auch immer stehen mochte. Mithin ist die Vorunterlassung für das Unrecht der Endunterlassung in solchen Fällen ohne jede Bedeutung174 • Ausnahmen könnten von dieser Regel nur dann zugelassen werden, wenn nicht alle Garantenstellungen solche Rettungspflichten zum Gegenstand haben sollten. Denn nur unter dieser Voraussetzung kann sich eine Konstellation ergeben, in der die Garantenpflicht, die das Unrecht der Vorunterlassung begründet, für eine Bewirkensäquivalenz der Endunterlassung deswegen nicht ausreicht, weil sie nicht auf Rettung gerichtet ist, die tatsächliche Situation aber gleichwohl eine solche Rettung verlangt. Nur in diesem Fall kann sinnvoll die Frage gestellt werden, ob die durch die Vorunterlassung verletzte Pflicht, die selbst keine Rettungspflicht ist, eine solche für die Endunterlassung produziert; denn anderenfalls wäre diese immer schon aus demselben Grund Handlungsäquivalent wie jene. Soll es nun eine Garantenpflicht geben, die nicht auf Rettung gerichtet ist, so kann sie offenbar nur eine Sicherung zum Gegenstand haben. Im ersten Fall würde sie "auf ein den Verletzungserfolg u nmittelbar abwendendes Tun (den rettenden Eingriff)" gehen, während sie im zweiten Fall Handlungen zum Inhalt hätte, "die schon die Gefahr einer Verletzung ausschließen sollen, im Interesse der Erfolgs173 174
Rudolphi, S.187. Ebenso Granderath, S.I43; Androulakis, S. 215 f.
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verhinderung also bereits in einem früheren Zeitpunkt einsetzen" 175. Während Sicherungspflichten lediglich auf die komplementäre Herabsetzung der mit einem Vorgang verbundenen generellen Gefahren gerichtet sind, zielen die Rettungspflichten auf die Abwendung derjenigen konkreten Gefahren, die im Vollzug der generellen Gefährlichkeit einzutreten drohen. Ob es Garantenstellungen gibt, die diese Bedingung erfüllen und lediglich auf Sicherung, nicht aber auch auf Rettung gerichtet sind, braucht an dieser Stelle nur im Hinblick auf die Ingerenz entschieden zu werden. Stützt sich die Bewirkensäquivalenz der Unterlassung hier auf eine rechtswidrige Vorhandlung, so ist die genannte Voraussetzung offenbar nicht gegeben. Wer einen anderen rechtswidrig gefährdet, trifft diesen in einer besonderen Verletzbarkeit, die durch das Vertrauen auf das Ausbleiben einer solchen Handlung hergestellt ist. Er hat deswegen dafür zu sorgen, daß sich die Gefährdung nicht zu einer Verletzung fortentwickelt, und zwar gleichviel, ob dies durch Beseitigung der generellen Gefahr oder durch Abwendung einer bereits eingetretenen konkreten Gefahr geschehen konnte; denn letztere ist lediglich durch den Zufall bedingt, daß ein Rechtsgut tatsächlich in den Wirkungsbereich der generell gefährlichen und darum verbotenen Handlung gerät176 • Wenn es aber Akzidenz der betreffenden Fallgestaltung ist, ob "gesichert" oder "gerettet" werden muß und wenn die rechtswidrige Vorhandlung zu beidem verpflichtet, so ist die Vorunterlassung (der Sicherung) für die Gleichwertigkeit der Endunterlassung (der Rettung) offenbar ohne Bedeutung. Hatte etwa der Täter im Stande der schuldausschließenden Trunkenheit Selbstschüsse an einem allgemein zugänglichen Ort ausgelegt, so mußte er diese unverzüglich wieder beseitigen (Sicherungspflicht). Kam er dieser Pflicht nicht nach, so war er je nach seiner Willensrichtung wegen vorsätzlicher oder fahrlässiger Körperverletzung durch Unterlassen strafbar, wenn ein Passant durch die Anlage verletzt wurde. Kam er nun nach eingetretener Verletzung hinzu und überließ er das Opfer einer als abwendbar erkannten Todesgefahr, so war er nicht wegen seiner Vorunterlassung Täter eines Tötungsdelikts durch Unterlassen, sondern auf Grund seiner rechtswidrigen Vorhandlung. Denn er wäre zur Abwendung des Todes durch Rettung des Verletzten auch dann verpflichtet gewesen, wenn ihm keine Vorunterlassung (der komplimentären Sicherung) zur Last gelegt werden konnte, weil etwa eine rechtzeitige Beseitigung der Selbstschußanlage unmöglich war. 175 Gallas, Strafrechtl. Verantwortlichkeit, S.32; Hervorhebung dort. Vgl. in diesem Zusammenhang auch Stratenwerth, ZStW 69 [1956], 61 f. 176 über "generelle" und "konkrete" Gefahr vgl. unten S. 202 N. 183, 226
N.259.
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Hiernach kommt eine unrechtskonstitutive Bedeutung der Vorunterlassung für die Endunterlassung nur noch im Bereich der rechtmäßigen Vorhandlungen in Betracht. Ob diese lediglich Sicherungs- und keine Rettungspflichten zum Gegenstand haben, wird noch zu entscheiden sein 177 • Da hiervon - wie dargelegt - die Möglichkeit einer selbständigen Bedeutung der Vorunterlassung abhängig ist, muß die endgültige Erörterung auch dieser Frage aufgeschoben werden178 • 2. Zur Adäquanz der Gefährdung
a) Der Begriff der Gefahr ist im Urteil über die Rechtswidrigkeit der Erfolgsverursachung mitgedachtt 78a • Als Prädikat der Vorhandlung bezieht er sich auf die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts und umschreibt somit eine Potentialität178b • Die scheinbare Antinomie von 171 Vgl. unten sub D. Schönke - Schröder, Vorbem. Rd.-Nr. 126 f. und Rudolphi, S. 187 f. erörtern die im Text behandelte Problematik an Fällen unterlassener Verkehrssicherung, die sie für einen Anwendungsfall nicht der
Ingerenz, sondern der (Zustands-)Haftung für einen "sozialen Herrschaftsbereich" halten (Schönke-Schröder, Vorbem. Rd.-Nr.124f.; Rudolphi, S.177); dazu unten S. 241 ff. - Das von Rudolphi vorgebrachte Beispiel (S. 187) ist überdies mit der Problematik der Unterbrechung rettender Kausalverläufe unnötig belastet. 178 Vgl. unten S. 229 ff. Um auf die Entscheidung RGSt 68, 99 zurückzukommen: Problematisch war hier zunächst, ob das Unterlassen der Vermögenserklärung unter der Herrschaft des alten, nicht von einer Aufforderung abhängigen Gebots eine Täterschaft wegen Vermögenssteuerhinterziehung durch Unterlassen begründet hätte. Selbstverständlich ist dies keineswegs; denn das Finanzamt hätte die Erklärung entweder erzwingen oder das Vermögen schätzen können. War dies der Fall, galt selbstverständlich auch für das Jahr 1931 nichts anderes. Hatte das Gebot aber den Sinn, bei überschreitung des steuerfreien Vermögensbetrages eine Bestrafung wegen Steuerhinterziehung durch Unterlassen zu begründen, so hatte sich der Rechtszustand nunmehr eben geändert; denn der nicht zur Erklärung aufgeforderte Steuerpflichtige konnte durch Unterlassen jetzt keine Steuerhinterziehung mehr begehen (so ausdrücklich RG, a.a.O., S. 103). Vielmehr sollte es nach dem Willen des Gesetzes der Ingenuität des Finanzamtes überlassen bleiben, welche Personen es zur Erklärung auffordern wollte. Der Rückgriff auf das alte Recht war daher unzulässig (ähnlich Granderath, S.l44; Rudolphi, S.186). Nur wenn die Neuregelung den Sinn gehabt haben sollte, daß die Finanzämter bei ihren Entschließungen über die Einforderung von Erklärungen die Kenntnisse zugrunde legen sollten, die sich aus den früheren Erklärungen ergaben, wäre eine abweichende Beurteilung geboten. Aber auch in diesem Falle folgte die Pflicht zur selbständigen Abgabe einer Erklärung nicht aus dem früheren Unterlassen, sondern aus derselben Norm, die dieses als pflichtwidrig erscheinen ließ, nämlich aus der fortwirkenden Kraft der alten Gebotsnorm. Die Entscheidung ist daher entweder unrichtig oder sie bedarf der Vorunterlassung nicht. 178a Dazu auch Granderath, S. 156 ff.; Rudolphi, S.119. Dagegen enthält das Merkmal der "Nähe" der Gefahr gegenüber dem Gefahrbegriff selbst keine selbständig faßbare Einschränkung; vgl. Lackner, JZ 1967, 516 gegen die entsprechende Formulierung des § 12 Ziff. 2 AE. 17Bb Zum folgenden Finger, Frank-Festgabe I, S. 233 ff.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Notwendigkeit des Erfolgseintritts und Notwendigkeit seines Ausbleibens178C wird in der durch die menschliche Unwissenheit erzwungenen ex-ante-Beurteilung überwunden. Da man von den zur Zeit der (Vor-) Handlung unerkennbaren Faktoren abzusehen hat, ist das Gefahrurteil ein "Kind unserer Unwissenheit"178d. Es ist darum nicht "subjektiver" Natur, sondern in dem Maße "objektiv", als in die Urteilsbasis das nomologische Wissen des modellhaften sorgfältigen Staatsbürgers einbezogen wird. Daß der Grad der durch die Vorhandlung gesetzten Gefahr dem Begriff der Adäquanz unterfallen müsse, hatte sich gleichfalls bereits aus dem Ansatz der Gleichstellungsfrage ergeben; denn hiermit ist lediglich der "intellektuelle" Aspekt der Fahrlässigkeitswertung bezeichnet179 • Erforderlich ist somit die "objektive, aber durch eine Betrachtung ex ante zu beurteilende Gefährlichkeit der Handlung" 180, die eine ausreichende generelle Begünstigung für Erfolge von der Art des eingetretenen aufzuweisen hat. Diese Einschränkung entspricht weithin der herrschenden Lehre l81 . Die Einzelheiten dieser Bestimmung dürfen hier vorausgesetzt werden. Das ex-ante-Urteil wird im Wege der "objektiv nachträglichen Prognose" unter Berücksichtigung des "ontologischen Wissens eines einsichtigen Beobachters", des "darüber hinausgehenden ontologischen Sonderwissens des wirklichen Täters" und des "nomologischen Höchstwissens" der Zeit vom Standpunkt des Täters aus gefällt l82 . Die "Umstände des Einzelfalls" gewinnen auf diese Weise eine weitläufige Bedeutung für die Fallbeurteilungl83 . b) Gesonderter Aufmerksamkeit bedürfen schließlich noch die Fälle, in denen die "Vorhandlung" deswegen kein vom Willen beherrschtes 178c "Bei vollständiger Genauigkeit des realen Wissens, bei idealem ontologischen Wissen und Besitz des nomologischen Wissens wäre Sicherheit der Erkenntnis gegeben. In der Idee gibt es nur Notwendigkeit des Werdens, der Veränderungen, keine Möglichkeit; nur Gewißheit, keine Zweifel" (Finger, a.a.O., S. 234 f.; vgl. auch Welzel, Fahrlässigkeit und Verkehrsdelikte, S.22). 178d Finger, a.a.O., S.237. 179 Vgl. oben S.188 bei und in N.151. 180 Grilnwald, ZStW 70 [1958], 429. 181 Nachweise bei Granderath, S. 158 f. 182 Welzel, a.a.O., S.16. 183 Zur Terminologie sei bemerkt, daß das Urteil über die Adäquanz der Gefährdung nicht notwendig die Aussage einschließt, daß eine "konkrete Gefahr" bestehe. Letzteres setzt vielmehr - wie Welzel (a.a.O., S. 22 f.) bemerkt hat - gleichsam ein "zweites Adäquanzurteil", gefällt aus der Sicht eines wirklich in den Bereich der Handlung geratenen Gutes, voraus und ist daher bloßes Akzidenz der Fallgestaltung. - Zur Frage der "Unmittelbarkeit der Gefährdung" vgl. unten S. 319 im Zusammenhang der "Nichthinderung fremder Straftaten".
c. Rechtswidrige Vorhandlungen
203
Verhalten ist, weil sie den Erfolg unter dem Einfluß von vis absoluta, als Krampf- oder Reflexbewegung, im Zustand der Bewußtlosigkeit etc. verursacht. Mit der Negation einer Adäquanzbeziehung zwischen Verursachungsakt und Erfolg ist diese Problematik nicht erschöpft; denn mit der Ausschaltung des Steuerungsvermögens entfällt bereits die Basis dieses Urteils, daß nämlich der Täter die mögliche Einsicht in die Gefährlichkeit nicht zum Anlaß einer Modifizierung des Handlungsvollzugs genommen hat, obwohl er dies konnte. Daß in diesen Fällen eine Strafbarkeit wegen Unterlassens der Erfolgsabwendung nach Behebung des Defekts auszuscheiden habe, entspricht der allgemeinen Meinung184 . Aber die vorgebrachten Begründungen tragen dieses Urteil nicht. Es ist zwar richtig, daß die beschriebenen unwillkürlichen Aktivitäten nicht "Handlung im Rechtssinne" sind185 ; daß die "reine Kausalität als solche niemals einen zureichenden Grund für irgendwelche Verantwortlichkeit des Menschen bilden" und ihm daher auch nicht "objektiv zur Person zugerechnet" werden kann, weil der Erfolg nicht Ausdruck des "Menschen in seiner Personenhaftigkeit" ist186 ; daß der durch vis absoluta Gezwungene "lediglich als verlängerter Arm des Zwingenden" diene, der Erfolg mithin auch nicht seine Tat seP87. Aber diese Argumentation verfehlt deswegen ihr Ziel, weil die Zurechnung der unwillkürlich verursachten Folge nicht qua Tun, sondern qua Unterlassen in Frage steht. Die polizeirechtliche Figur des Handlungsstörers hatte ja gerade gezeigt, daß auch die nur zufällig durch "reine" Kausalität herbeigeführte Folge Gegenstand einer Reparationsverbindlichkeit und damit eines Zurechnungsurteils zu sein vermag; denn auch die unwillkürlich bewirkte Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung wird ihrem Urheber "zur Person" zugerechnet, weil er ihrer Beseitigung näher als die Allgemeinheit ist188 • Notwendige Voraussetzung einer solchen Zurechnung ist allein die Reparabilität des Schadens, die gegenwärtig im Begriff der dem Unterlassen immanenten Abwendungsmöglichkeit stets mitgedacht ist. Auch die "Endlosigkeit" der Kausalität erfährt auf diese Weise eine recht bescheidene Begrenzung. 184 Vgl. Granderath, S. 138 ff. mit allen weiteren Nachweisen; ferner RudoZphi, S. 154 ff. Gegenteiliger Ansicht ist Kienapfel (JuS 1966, 286), der auch in
solchen Fällen nach einer "Adäquanz" der Gefährdung fragen will. 186
Granderath, S. 138. RudoZphi, S. 155.
187
Granderath, S. 139.
185
188 Vgl. bereits oben S. 158 ff.
204
Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Gleichwohl ergibt sich die Straflosigkeit der hier gemeinten Fälle bereits aus dem Ansatz der Gleichstellungsfrage. Die Strafbarkeit der unechten Unterlassung entsteht nicht aus dem Vergleich der größeren oder geringeren Nähe, in der sich dieser oder jener Täter zur Gefahr befindet, sondern aus ihrer Bewirkensäquivalenz. Diese setzt ein dem positiven Tun vergleichbares Abhängigkeitsverhältnis voraus, das nach dem früher Bemerkten nur durch das Vertrauen auf das Ausbleiben der rechtsverletzenden Aktivität konstituiert sein kann. Die Berechtigung dieses Vertrauens, das durch das strafrechtlich sanktionierte Verbot der Erfolgsbewirkung eröffnet wird, hängt von der Vermeidbarkeit des Erfolges durch den anderen ab. Wo dieser in seiner spezifisch menschlichen Eigenschaft zu zweckbewußter Determination der Welt gerade ausgeschlossen und selbst nur das Produkt der bestehenden Ursachenkonstellation ist, war das Vertrauen auf das Ausbleiben des Erfolges unberechtigt und der enttäuschten Hoffnung auf das Ausbleiben eines sonstigen nachteiligen Naturereignisses vergleichbar. Gerade hieran zeigt sich mit aller Deutlichkeit, daß die aus der Abhängigkeit folgende besondere Verletzbarkeit nicht bloßes Synonym der Unterworfenheit unter die Kausalgesetze ist, die dem Menschen allerdings wie jedem anderen Gegenstand der Körperwelt zukommt. Vielmehr wird der Mensch von der unwillkürlichen Aktivität des anderen wie von einem Zufall betroffen, gegen den er sich nach Kräften wie gegen jedes Naturereignis schützen mag; aber ein durch die Strafnorm begründeter Anlaß zum Vertrauen auf ihr Ausbleiben und damit eine Abhängigkeit bestanden hier nicht. Eben deswegen darf sich der Urheber des Kausalverlaufs nach Behebung des Defekts von dem Erfolg distanzieren: die Not des gefährdeten anderen ist nicht seine "Tat"; sie geht ihn de jure nicht mehr an als jeder "Unglücksfall" (§ 330 c StGB). - Der Unterschied zu den Fällen bloßer Schuldlosigkeit der Vorhandlung liegt auf der Hand; während das Determinationsvermögen hier erhalten blieb, ist es bei unwillkürlicher Voraktivität gerade ausgeschlossen. Aus diesem Grunde fehlt auch jede Basis für das Vertrauen, daß der andere als "Sozialperson" den Anforderungen des Verkehrs auch subjektiv gewachsen sein werde. Denn der andere fungiert hier überhaupt nicht als "Person", sondern nur in seiner bloßen Körperlichkeit, als Produkt einer zufälligen Ursachenkonstellation. Die Hoffnung, daß der andere als Person und damit als Sozialperson zur Vermeidung verbotswidriger Erfolge imstande sein werde, geht nur dann auf ein durch die Geltung der Norm begründetes Vertrauen zurück, wenn der andere mit einem periodisch wiederkehrenden Defekt (Epilepsie) zu rechnen hatte oder dieser intendiert wurde (Volltrunkenheit). Hierfür steht die juristische Denkform der (fahrlässigen) actio libera in causa bereit.
c. Rechtswidrige Vorhandlungen
205
3. Zur Rechtswidrigkeit der Vorhandlung Die Bestimmung der Anforderungen, die an die Vorhandlung als taugliches Kriterium einer Bewirkensäquivalenz der Unterlassung zu stellen sind, hatte sich nicht aus einer vorgegebenen Konzeption des Unrechtsbegriffs, sondern aus der Struktur des die Gleichwertigkeit konstituierenden Vertrauensverhältnisses selbst ergeben. Aus diesem Grunde erübrigten sich auch alle Stellungnahmen zum Begriff der Rechtswidrigkeit. Gleichwohl konnte festgestellt werden, daß die zur Voraussetzung einer Bewirkensäquivalenz erhobenen Kriterien sachlich dem Begriff des personalen Unrechts entsprechen, wie ihn die finale Handlungslehre vertritt. Denn verlangt wurde entweder eine auf den nicht abgewendeten Erfolg gerichtete unerlaubte Finalität der Vorhandlung oder die Außerachtlassung der zur Gutserhaltung objektiv erforderlichen Sorgfalt, während die inadäquate Gefährdung ausgeschlossen blieb. Da einmal der Vorsatz als tatbestandsrelevante Finalität für die genannte Lehre subjektives Unrechtselement ist und zum anderen die Adäquanz als intellektuelles Moment der Fahrlässigkeitswertung ebenfalls zum Unrecht gehört, besteht sachlich volle Konkordanz. Neben der Problematik, die die Anwendung der Adäquanztheorie mit sich bringt, entsteht nun bei der Bestimmung der Rechtswidrigkeit der Vorhandlung vor allem die Frage des versari in re illicita von neuem l89 ; denn vielfach ist bereits die Vorhandlung als fahrlässige 190 oder vorsätzliche, aber auf einen anderen als den nicht abgewendeten Erfolg gerichtete 191 Tat schon für sich strafbar. Die Unterlassungsstrafbarkeit hat in solchen Fällen allerdings eine besondere Überzeugungskraft für sich 192 ; aber es ist auch hier nicht die Strafbarkeit der Vorhandlung, die den Grund der Bewirkensäquivalenz abgibt. Denn zunächst bedarf die Rechtswidrigkeit der Vorhandlung offenbar keiner Norm, die die fahrlässige Erfolgsverursachung unter Strafe Vgl. bereits oben S. 133 f. und Schönke - Schröder, Vorbem. Rd.-Nr. 120 b. Vgl. RGSt 60,77: Durch das Betreten des Heubodens mit brennender Pfeife war eine fahrlässige Brandstiftung gern. § 309 StGB begangen worden; in Frage stand eine vorsätzliche Brandstiftung gern. § 306 StGB, begangen durch Unrerlassen des Löschens. 191 In OGHSt 1, 357 hatte der Bäckergehilfe seinen Arbeitskollegen vorsätzlich verletzt (§ 223 StGB) und sodarm in der Teigmaschine ersticken lassen (vgl. auch BGHSt 14,282 [284]); in BGHSt 15,345 hatte der Arzt eine Abtreibung vorgenommen (§ 218 Abs. III StGB), dabei das Mädchen fahrlässig verletzt und dann vorsätzlich nichts zur Rettung ihres Lehens unternommen. 192 Aus diesem Grunde ist sich Grünwald (JuS 1965, 313 f. bei und in N. 23) seiner Entscheidung in einem Falle vorsätzlicher Körperverletzung als Vorhandlung trotz seiner sonstigen Skepsis mit Recht sicher. 189 190
206
Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
stellt 193 ; anderenfalls könnten alle nur vorsätzlich begehbaren Tatbestände - wie etwa die Freiheitsberaubung oder die Sachbeschädigung - nur dann durch Unterlassen erfüllt werden, wenn schon die (schuldlose) Vorhandlung die Erfolgsherbeiführung intendiertem. Hierfür sind keine zwingenden Gründe ersichtlich. Vielmehr enthält jede strafbewehrte Verbotsnorm, die sich gegen vorsätzliche Begehung wendet, zugleich die Basis einer Wertung, die schon die fahrlässige Verletzung des geschützten Gutes als Unrecht erscheinen läßt, mag diese nun strafrechtlich sanktioniert sein oder nicht195 • Weil der Erfolgsunwert bei vorsätzlicher und fahrlässiger Verletzung derselbe ist, soll man bei seinen Handlungen die erkennbare Möglichkeit des Erfolgseintritts zum Anlaß gehöriger Sorgfalt nehmen und die Handlung entweder unterlassen oder den Handlungsvollzug modifizieren. Die rechtliche Abwertung des Erfolges durch ein Verbot, das sich die Gutsintegrität zum Gegenstand gesetzt hat, strahlt somit auf jeden Fall vermeidbarer Verursachung aus. Auch in den Fällen selbständig strafbarer Fahrlässigkeit ist es daher nicht die Strafbarkeit als solche, die die Grundlage für die Bewertung der Vorhandlung als rechtswidriger Aktivität auch im Hinblick auf den nicht abgewendeten Erfolg bildet, sondern das durch das Verbot konstituierte rechtliche Interesse an seinem Ausbleiben selbst. Und im übrigen müßte der zurückgewiesene Gedanke die Friktionen des versari in re illicita neu beleben, wenn auch auf einer anderen Ebene. Wie erinnerlich hatte der Versari-Gedanke im italienischen und gemeinen Recht die Funktion, bei schuldhafter Vollbringung eines "opus illicitum" die Zurechnung aller Folgen zu ermöglichen "quae sequuntur ex delicto". Die Dogmengeschichte hatte diesen Zusammenhang um so bereitwilliger als Schuldvermutung gedeutet, als der Versari-Gedanke im gemeinen Recht die Gestalt des dolus indirectus und damit offenkundig die Form eines Schuldproblems angenommen hatte. Hierbei wird - unterwirft man das Phänomen moderner Be193 Den entgegengesetzten Standpunkt hatte Sturm, Rechtswidrigkeit der Unterlassung, 1895, S.41, 43, 45 f. vertreten. In seiner späteren Abhandlung über die "Strafbare Unterlassung" (1905) genügte allerdings schon "irgendeine Norm des positiven Rechts" (S. 52), die an die Fahrlässigkeit der Vorhandlung eine Sanktion knüpfte, etwa § 823 Abs. I BGB, der die Freiheitsberaubung und die Sachbeschädigung auch bei bloßer Fahrlässigkeit einer Ersatzverpfiichtung unterwirft (a.a.O., S. 20 f.). 194 Entgegengesetzt etwa RGSt 24, 339 und OLG Hessen (Kassel) HESt 2, 259 (= NJW 1949,518) für Freiheitsberaubung und Personenstandsfälschung durch Unterlassen. 195 Die weitläufigen dogmatischen Voraussetzungen dieser Annahme können hier nicht abgehandelt werden. Zum Verhältnis von Verletzungsverbot und "Aufmerkswnkeitsgebot" vgl. etwa Armin Kaufmann, Lebendiges und Totes in Bindings Normentheorie, S. 110 H.
c.
Rechtswidrige Vorhandlungen
207
trachtung - das Wichtigste indessen übersehen; denn das VersariPrinzip erschöpft sich keineswegs in der Schuldvermutung, sondern es enthält allererst und vor der Schuldvermutung eine Unrechtsvermutung. Zunächst wird der Zusammenhang von opus illicitum und weiterer Folge als ein "Rechtswidrigkeitszusammenhang" gedacht und erst sodann wird die auf die Grundhandlung bezogene Schuld auch auf die weitere Folge erstreckt. Daß dies nicht nur ein dogmengeschichtliches Mißverständnis ist, zeigt hinlänglich die Redeweise, mit der Einführung des § 56 StGB sei das "Schuldprinzip" für die sog. erfolgsqualifizierten Delikte verwirklicht worden196. Dies ist nicht nur deswegen unrichtig, weil das erfolgsqualifizierte Delikt wegen seiner exorbitanten Strafdrohung nicht einfach als Summe von Grund- und Folgedelikt verstanden werden kann; sondern vor allem hat § 56 StGB das "Unrechtsprinzip" verwirklicht. Zunächst wird der Handlungsunwert auf die qualifizierende Folge durch Einführung der Adäquanz als restriktives Kriterium erstreckt und erst sodann stellt sich die Frage nach der individuellen Vorhersehbarkeit. Beachtet man dies, so wird verständlich, wie manche Autoren die Ingerenz als "ein Stück Haftung ohne Schuld"197 verstehen konnten. In einem subtilen Sinn wäre dies zwar dann richtig, wenn man mit der Begründung der Bewirkensäquivalenz der Unterlassung bei der selbständigen Strafbarkeit der Vorhandlung stehen bleiben wollte; denn ein "Unterlassungsvorsatz", der keine Bewirkensäquivalenz durchdringt, ist lediglich böse Gesinnung und insofern dem dolus subsequens verwandt. Aber gemeint ist das, was sich aus dem Vorangegangenen ergibt, daß nämlich die Ingerenz auf dem Fortwirken des Versari-Gedankens beruhe198 . Dies kann nur bedeuten, daß die Weise der Unrechtsbegründung dem Versari-Prinzip verhaftet sei; denn daß die "Schuld" zur Zeit der Unterlassung gegeben sein müsse, steht außer Zweifel. In dieser Form führt der Einwand auf die eingangs angeschnittene Frage nach der Bedeutung einer selbständigen Strafbarkeit der Vorhandlung zurück. Er wäre nur dann berechtigt, wenn die Rechtswidrigkeit der Vorhandlung schon aus dem Verstoß gegen irgendeine Verbotsnorm und unabhängig von dem eingetretenen Erfolg bestimmt würde. Denn nur in diesem Fall hätte der Täter den Erfolg deswegen als Garant abzuwenden, weil er einmal "im Unrecht versiert" hatte. Für die hier vertretene Ansicht verbietet sich ein solches Verfahren 196 So etwa BGHSt 10,35 (38); 14, 110 (113); weitere Nachweise oben S. 134 N.142. Vgl. auch Ver!. in JuS 1967,510. 197 Dahm, ZStW 59 [1940], 178; vor ihm Höp!ner, ZStW 36 [1915], 124 f. 198 So ausdrücklich Dahm, a.a.O.; vor allem Boldt, ZStW 68 [1956], 350 N.66.
208
Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
\"on selbst. Nicht die Verletzung irgend einer Norm, die im Hinblick auf den Erfolg bloße "Ordnungsvorschrift" ist, sondern die adäquate, außerhalb des "erlaubten Risikos" gelegene Erfolgsverursachung begründet das (personale) Rechtswidrigkeitsurteil; denn nur in diesem Fall ist das Vertrauen, das das Opfer auf das Ausbleiben rechtsverletzender Aktivität hegen darf, auf die Erhaltung des nicht geretteten Gutes bezogen. Die selbständige Strafbarkeit der Vorhandlung steht diesem Vertrauen freilich auch nicht im Wege. Wenn die Grundhandlung auf die Verletzung des einen Erfolges abzielt und dabei die zur Erhaltung eines anderen Gutes erforderliche Sorgfalt nicht aufbringt, mithin im Falle der sog. erfolgs qualifizierten Delikte nach § 56 StGB deren Tatbestand erfüllen würde, so ist die Unterlassung selbstverständlich Bewirkensäquivalent. Die besondere Überzeugungskraft der Entscheidung mag auf der "archetypischen" Kraft des Versari-Gedankens beruhen; ihre Ableitung hält jedoch differenzierteren Erwägungen stand199 • Ein gewisser Rest des alten Denkens ist freilich in der Bestimmung der Sorgfalt erhalten geblieben, mit der man beim opus illicitum zu Werk gehen müsse, um einen anderen verbotenen Erfolg zu vermeiden. Denn der "normative" Aspekt der Fahrlässigkeitswertung, die Bestimmung des "erlaubten Risikos", wird bei einer strafbaren Vorhandlung als quantite negligeable behandelt. Weil Voraussetzung der Zulässigkeit einer adäquaten Gefährdung ein "Handlungswert" sei, dieser der strafbaren Handlung aber abgehe, sei mit der Adäquanz auch bereits über die Rechtswidrigkeit der Gefährdung abschließend geurteiJt2°o. Mit anderen Worten: Weil es der Richter von sich weist, gleichsam mit den Wölfen zu heulen und die Sorgfalt des "ordentlichen" Brandstifters, Notzüchters etc. zu bestimmen, die dieser zur Vermeidung etwa eines Todeserfolges aufzubringen habe, wird diesem der Erfolg im Falle seiner objektiven Vorhersehbarkeit ohne weiteres zugerechnet. Für die Ingerenz-Problematik ist diese recht zweifelhafte Argumentation indessen nicht entscheidend. Denn auch wenn die für sich strafbare Vorhandlung trotz adäquater Gefährdung rechtmäßig 199 Hiermit soll nicht bestritten sein, daß die Ursprunge der Ingerenz dogmengescllichtlich möglicherweise im Versari-Gedanken liegen. Denn die konstruktive Ähnlichkeit der beiden Institute entsteht durch die zeitliche Diskrepanz von opus illicitum (Vorhandlung) und (nicht abgewendetem) weiterem Erfolg. Der archaische Zustand der Unterlassungsdogmatik im kanonischen und im frühen italienischen Recht (vgl. Kuttner, Kanonistische Schuldlehre, 1935, S. 43 ff.; Dahm, Strafrecht Italiens, S. 179 f.) mag die Abwendungsmöglichkeit hinsichtlich der Folge des opus illicitum übersehen haben; denn das Versari-Prinzip erübrigte eben eine solche Konstruktion. Das von Kuttner (a.a.O., S. 235 ff.) unterbreitete Material konnte diese Annahme freilich nicht bestätigen. 200 Rehberg, Zur Lehre vom ,erlalUbten Risiko', S.202.
D. Rechtmäßige Risiko-Vorhandlungen
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im Hinblick auf den weiteren tatbestandsmäßigen Erfolg zu sein vermöchte, weil es auch insofern ein "erlaubtes" Risiko gibt, bliebe der Gleichstellungstheorie hiermit ein weiteres Zurechnungskriterium, von dem im nächsten Abschnitt zu handeln sein wird. D. Rechtmäßige Risiko-Vorhandlungen I. Vorbemerkungen Die vorangegangenen überlegungen haben gezeigt, daß das Unterlassen der Abwendung eines tatbestandsmäßigen Erfolges seiner aktiven Bewirkung überall dort generell gleichwertig ist, wo der Unterlassende das nicht gerettete Gut durch eine Vorhandlung rechtswidrig gefährdet hatte. Daß der Anwendungsbereich des IngerenzGedankens hiermit nicht erschöpft ist, hatten indessen schon die Betrachtungen zur Unterscheidung der Verhaltensformen ergeben 201 • Denn vor allem bei der Steuerung heteronomer (nicht der menschlichen Physis zugehöriger) Energien treten Fälle einer "fraglosen" Gleichwertigkeit von Handeln und Unterlassen auf, die dem Rechtsempfinden derart unproblematisch scheinen, daß der "natürliche Sprachgebrauch" zu einer Konfundierung der Verhaltensformen neigt. Gerade dieses Phänomen gilt aber als sicheres Indiz einer Bewirkensäquivalenz 202 • Da unvorhersehbar (inadäquat) verursachte Erfolge als Gegenstand einer Abwendungsverpflichtung nach dem Vorangegangenen auszuscheiden haben, kommen gegenwärtig noch die rechtmäßigen Vorhandlungen in Betracht. Hierbei beschränkt sich die folgende Untersuchung einstweilen auf die Klasse derjenigen rechtmäßigen Vorhandlungen, bei denen das Risiko einer Verletzung trotz genereller Vorhersehbarkeit des Erfolges eingegangen werden durfte. 1. Zum Begriff der Risiko-Vorhandlung
Der gemeinsame dogmatische Nenner dieser Fälle ist der Begriff des erlaubten Risikos20 3 • Der Interessenkonflikt, der überall zwischen der individuellen Betätigungsfreiheit und einem umfassenden Rechtsgüterschutz besteht, wird durch eine außerstrafrechtliche Wertung Vgl. oben 2. Kap. B. III. H. Mayer, Strafrecht, 1953, S. 113 f. 203 Zum folgenden Engisch, Untersuchungen, S. 285 ff.; Welzel, Fahrlässigkeit u. Verkehrsdelikte, 1961; Rehberg, Zur Lehre vom ,Erlaubten Risiko', 1962; Kienapfel, Das erlaubte Risiko im Strafrecht, 1966. 201 202
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
dann zugunsten der Zulässigkeit einer gefährlichen Handlung entschieden, wenn diese einem durch Ziel oder Mittel (soziologisch) konstituierten Tätigkeitsbereich ("Betrieb") angehört, der einen "besonderen von der Rechtsordnung gebilligten (,objektiven') Zweck verfolgt"204. Eine solche Handlung ist trotz ihrer generellen Gefährlichkeit nach herrschender Lehre rechtmäßig205. Die für die Rechtmäßigkeit maßgeblichen Bewertungsfaktoren sind komplex und verlangen nach Abwägung aller Aspekte. Von besonderem Gewicht sind etwa die "größere oder geringere Bedeutung des erstrebten Zwecks" im Verhältnis zur "Bedeutung der Rechtsgutsverletzung"; "der Umfang, in dem der erstrebte Erfolg eintreten wird und der Umfang der drohenden Rechtsgüterverletzung"; ferner "die Wahrscheinlichkeit, mit der auf der einen Seite der erstrebte Erfolg zu erwarten ist, mit der auf der anderen Seite die riskierte Rechtsgutsverletzung droht" etc. 206 . Kommt es im Vollzug einer solchen riskanten Betätigung zu einer Verletzung, so ist das erfolgsverursachende Tun insofern rechtmäßig, als der Handlungsunwert entfällt; gleichwohl bleibt der Erfolgsunwert des "rechtlich unerwünschten" Schadensfalles erhalten. Aus diesem Grunde bedingt das Tun-Dürfen lediglich ein korrelatives Dulden-Müssen der generellen Gefährdung, nicht aber eine auf den Erfolgseintritt bezogene Duldungspflicht207 . Denn da die Verkehrs richtigkeit des Tuns kein Eingriffsrecht gewährt, sondern den Handelnden nur von dem als Bestimmungsnorm verstandenen Verbot freistellt, darf sich der Betroffene einer Einbuße an Rechtswerten jedenfalls dann erwehren, wenn der durch die Abwehr zu bewirkende Schaden nicht außer Verhältnis zur Größe der dem Betroffenen drohenden Gefahr steht (vgl. § 228 BGB). Es ist nun nicht zu verkennen, daß die rechtmäßige Risiko-Vorhandlung vor allem von den älteren Autoren als besonderes Problem der Ingerenz erkannt und gewürdigt worden ist. Sie verbirgt sich etwa hinter der von Krug und Glaser konstituierten Klasse derjenigen Vorhandlungen, die "ihrer Natur nach" verpflichten 208 . Bei Adolf Engisch, a.a.O., S.287. 205 Alles weitere bei Rehberg, a.a.O., S. 129 ff. Nach dessen Ansicht beseitigt die Einhaltung der für das Risiko gegebenen Regeln bei fortbestehender Rechtswidrigkeit lediglich die der "Tatverantwortung" (Maurach) angehörige Sorgfaltswidrigkeit. Da die Einhaltung der erforderlichen Sorgfalt indessen auch nach Rehbergs Ansicht (S. 152 ff., 158, 160) jedenfalls den HandLungsunwert aufhebt und die Ingerenz eben an diesen anknüpft, erübrigt sich hier eine Auseinandersetzung. 206 Engisch, a.a.O., S. 228 f.; ferner Rehberg, a.a.O., S. 188 ff. 207 Dazu Rehberg, a.a.O., S. 153 ff.; WeLzeL, a.a.O., S. 24 ff. 208 Krug, Commentar (4. Abtlg.), S. 39 f.; GLaser, Abhandlungen I, S. 375 f. Dazu oben S. 34 ff. 204
D. Rechtmäßige Risiko-Vorhandlungen
211
Merkel verlangt die Risiko-Vorhandlung nach "komplementärer" Abwendung, weil dieses Verhalten "ergänzende Bedingung der Rechtmäßigkeit" der nur "an sich" rechtmäßigen Handlung ist209 . Sie gehört in das System Bindings, wonach das "Verursachungsverbot" die Vornahme gefährlicher Tätigkeiten nur unter der "Bedingung" erlaubt, daß die Entwicklung der "möglichen" zur "wirklichen" Bedingung abgewendet werde21O • Derselbe Gedanke findet sich bei v. Bar211 , wird von Rotering einer eingehenden Untersuchung gewürdigt212 und wohl zuletzt bei Meyer-Allfeld verwendet213 . Das Ergebnis dieser Versuche besteht vor allem in einer Typologie der Gefährlichkeit. So kennen Krug und Rotering zunächst die Klasse der "gemeingefährlichen" Handlungen214 . Von ihnen unterscheidet Rotering die "absolut gefährlichen" Handlungen, die das bedrohte Rechtsgut bewußt gefährden und entweder nur bei bestehenden Sicherungsvorkehrungen vorgenommen werden dürfen oder - wo das wegen der Umstände nicht möglich ist - nach komplementärer Abwendung verlangen 215 • Ferner gibt es die "relativ ungefährlichen" Handlungen, bei denen der nicht außerhalb aller Wahrscheinlichkeit liegende Erfolg zur Zeit der Vornahme der Handlung nicht als möglich erkannt, die Gefährdung mithin unbewußt gesetzt wurde216 . Und schließlich unterscheiden sich von der zuletzt genannten Gruppe die "ungefährlichen Unternehmungen" durch einen noch geringeren Grad der Gefahr 217 . - Grund der Abwendungsverpflichtung ist das allgemeine Gefährdungsverbot, das die riskante Handlung eben nur "bedingungsweise" freigibt 218 . "Wir müssen bei jedem Unternehmen, welches Andere gefährden kann, zur Hand sein, in den Naturkausalismus eingreifen, die Bedingungen, wenn sie eine solche Richtung nehmen, in andere Wege ableiten"219. Denn der Gefährdende wird "so209 Adolf Merkel, Abhandlungen I, S. 87 ff.; ders., Jur. Encycl., § 735; ders., Lehrbuch, S. 39 f., 112 f. Dazu oben S. 38 ff. Vgl. auch Höpfner, ZStW 36 [1915], 117. 210 Binding, Normen I (2), S.l11, 117 f.; H, 1 (2), S.604. Dazu oben S. 54 f. 211 v. Bar, Causalzusammenhang, S.99; ders., Grünhuts Zeitschrift 4 (1877), 48 ff. ("komplementorische" Sicherungspflichten). Dazu oben S. 57 f. 212 Rotering, GS 34 [1883],206 ff.; ders., Zeitschr. f. Rechtspflg. i. Bayern II [1906], 54 ff. 213 Meyer - AHfeld, Lehrbuch (6), 1907, S.163; ähnlich noch AHfeld, Lehrbuch AT (9), 1934, S. 113 f. Zust. Paul Merkel, Begehung durch Unterlassung, S.36. Vgl. auch Klee, GA 62 [1916],421 ff. 214 Krug, a.a.O.; Rotering, Zeitschr. f. Rpflg. II, S.54. 215 Rotering, GS 34, 211. 216 Rotering, a.a.O. 217 Rotering, a.a.O., S.212. 218 Rotering, a.a.O., S.210; ders., Zeitschr. f. Rpflg. II, S. 55. 219 Rotering, GS 34, 207. 14'
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
lange als in der fremden Rechtssphäre wirkend gedacht", als die kausale Wirksamkeit seiner Handlung fortdauert; folglich ist es seine Pflicht, sich aus ihr "zurückzuziehen"220. Mit der nach Art der zivilistischen "Bedingung" gedachten Nötigung zur Vornahme der komplementären Handlung, einer Lieblingsvorstellung der Zeit, kann man sich als Erklärung nun nicht begnügen; denn der Bezug zu einer Gleichwertigkeit des Unterlassens bleibt einstweilen ungeklärt. Gleichwohl ist dieser Ansatz bedeutsam. Denn die Klasse der "absolut gefährlichen" Handlungen, die "mit dem Hintergedanken, im entscheidenden Augenblick einzugreifen" vorgenommen werden 221 , stimmt in ihrem Umfang und der Weise ihrer Konstituierung mit der heute bei dem Gedanken des erlaubten Risikos üblichen "Fall-Typologie"222 in eindrucksvoller Weise überein. Es überrascht deswegen auch nicht, wenn die einzelnen Arten tauglicher Vorhandlungen das Gros der Risiko-Handlungen praktisch erschöpfen. Die wichtigsten Risiko-Vorhandlungen sind nach Ansicht der erwähnten Autoren etwa Bautätigkeit, Droschkenbetrieb, gefährlich gewerbliche Tätigkeit im allgemeinen, Benutzung von Waffen, Giften, Sprengstoffen, Feuer und Licht, das Halten von Tieren, die Veranstaltung gefährlicher Experimente, das Ausheben einer Grube ete. Alle diese Handlungen verlangen nach komplementärer Abwendung und begründen auf diese Weise eine Haftung wegen unechten Unterlassens.
2. "Akzessorische" und "komplementäre" Sicherungsvorkehrungen Der Ansatz der Gleichstellungsfrage ergibt sich aus einer gleichsam phänomenologischen Betrachtung. Es ist dem Risiko-Gedanken immanent, daß das Recht bei seinem Streben nach Herstellung des "kompossiblen Maximums" gegenseitiger Interessen nur diejenige gefährliche Handlung erlaubt, die zur Erreichung des sozial gebilligten Zweckes notwendig ist. Hieraus folgt, daß unter verschiedenen Handlungen gleicher Tauglichkeit diejenige gewählt werden muß, die die fremden Interessen voraussichtlich am wenigsten gefährden wird, wobei vorausgesetzt ist, daß alle möglichen Handlungen und der mit ihnen verbundene Aufwand innerhalb der "Ökonomie der Güterverwaltung"223 liegen, d. h. mit dem verfolgten Zweck in einer vernünftigen Relation stehen.
Rotering, GS 34, 210. Rotering, GS 34, 212. 222 Boldt, ZStw 68 [1956],354. 223 Rotering, Zeitschr. f. Rpflg. II, S.54; vgl. auch Engisch, a.a.O., S. 304 f.; Rehberg, a.a.O., S. 188 ff., 202, 204, 206 et passim. 220
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Entscheidend ist nun, daß das Ausmaß der Gefährdung nicht nur von dem sorgfältigen Vollzug der Handlung selbst, sondern vielfach auch von dem Einsatz sichernder Gegenfaktoren abhängt. Diese Gegenfaktoren werden im folgenden akzessorische Sicherungsfaktoren genannt224 ; sie sind als Maßnahmen definiert, die - ohne den Sinn der betreffenden Handlung zu beeinträchtigen - von ihrem konkreten Vollzug gedanklich als Gegenaktion isoliert werden können und vor oder spätestens bei Vornahme der Handlung getroffen sein müssen. Wenn beispielsweise ein Bauer eine Dreschmaschine oder eine Kreissäge in Betrieb nehmen will, so muß er vorab für eine gehörige Verkleidung der Transmissionswelle oder des Sägeblatts sorgen225 • Wer eine Sprengung oder ein Feuerwerk veranstaltet, muß zuvor für den Schutz des Publikums durch Absperrungen oder dergl. sorgen226 etc. Da der Risiko-Gedanke - wie bemerkt - unter mehreren tauglichen Handlungen nur die relativ ungefährlichste freigibt, stempelt das Unterlassen verkehrs gerechter akzessorischer Sicherung das Tun zur fahrlässigen Handlung. Nun ist diese Erscheinung keine Eigenart der Unterlassungs-, sondern der Begehungsdelikte227 • Indessen wird der Zusammenhang der akzessorischen und komplementären, d. h. der nach Vornahme der Risiko-Handlung zu erfüllenden Sicherungspflichten sogleich erkennbar, wenn man bedenkt, "daß es sich" - wie Engisch treffend bemerkt 228 - "nach den Umständen des einzelnen Falles beurteilt", ob akzessorische Faktoren eingesetzt werden können oder ob komplementäre Sicherungen getroffen werden müssen! Wer einen Schacht aufdeckt und dies tun darf, kann ihn nicht zugleich wieder zudecken, sondern muß dies offenbar nachträglich tun229 • Wer eine Baugrube aushebt, kann nicht zugleich graben und die Wände abstützen, sondern muß dies später tun, dann nämlich, wenn eine bestimmte Tiefe 224 Blei, H. Mayer-Festschrift, S.142 N.114 spricht in ähnlichem Zusammenhang von "Begleit- oder Folgehandlungen" ; offenbar sind mit den ersteren die hier sog. akzessorischen, mit den letzteren die komplementären Sicherungen gemeint. 225 Vgl. RGSt 3,208; 10,6; 22,173; OLG München HRR 1936,1496. 226 Vgl. BGH (Z) VersR 1958, 850 f.; BGH (Z) NJW 1965, 197. 227 Vgl. oben S. 118 ff. Hiernach beeinträchtigt zunächst der Sorgfaltsmangel nicht den Hand~ungscharakter des Verhaltens; denn dieses "Unterlassungsmoment" ist lediglich der jeder Fahrlässigkeitswertung eigene Aspekt. Auch die Isolierbarkeit der Gegenaktion ändert daran nichts; denn die Pflicht zu akzessorischer (!) Sicherung besteht ja immer nur im Hinblick auf die Vornahme der Handlung und nicht unabhängig von ihr. - Insofern sind die Äußerungen Engischs (Untersuchungen, S. 293 ff.) nicht ganz unmißverständlich. 228 Engisch, a.a.O., S.294; Hervorhebung vom Verf. 229 Vgl. RGSt 57, 148.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
der Grube erreicht ist 230 etc. Vielfach liegen die Dinge auch so, daß der Gefährdende gleichsam wählen kann, ob er die Gefahr schon "vor" Vornahme der Handlung oder erst "nachher" beseitigen will! Das Dienstmädchen kann das kleine Kind entweder aus dem Hausflur entfernen, wenn es dort eine Wanne mit kochender Scheuerlauge absetzen will; es kann die Wanne aber auch in Gegenwart des Kindes absetzen, wenn es dieses hernach nur genügend beaufsichtigt und von der Lauge fernhält231 • - Wenn es nun in der Tat von den "Umständen des einzelnen Falles" abhängt, ob akzessorische oder komplementäre Sicherungen zu installieren sind, wenn diese mithin ohne substantielle Änderung des Unrechtsgehalts vertauscht werden können, so legt dieses "Phänomen" die mehrfach referierte Annahme nahe, daß die komplementäre aus der akzessorischen Sicherungspflicht, das Gebot aus dem Verbot abgeleitet ist! Offenbar hat man gegenwärtig einen weiteren Fall der "Fraglosigkeit" der Bewirkensäquivalenz vor Augen, der schon als (vermeintliche) "Verhaltensambivalenz" bemerkt wurde 232 • Es ist deswegen nicht ohne Berechtigung, wenn Klee das "Prinzip" der Gleichstellung auf diesem Wege finden zu können glaubte: "Dieses Prinzip wird sich ohne weiteres ergeben, wenn wir uns klarmachen, daß manche fahrlässige Verletzung durch Unterlassung kaum merklich übergeht in eine solche durch positives Tun, und diese letztere verursacht uns doch bei der Beantwortung der Zurechnungsfrage keinerlei Schwierigkeiten233 ." - Die Evidenz der Gleichwertigkeit enthebt die Untersuchung freilich nicht der Notwendigkeit, ihre Voraussetzungen zu explizieren. Hierbei wird zu bedenken sein, daß die Evidenz auf der Vertauschbarkeit akzessorischer und komplementärer Sicherungsfaktoren beruht. Mithin wird eine "fraglose" Gleichwertigkeit des Unterlassens nur dort angetroffen, wo der tatbestandsmäßige Erfolg als Folge der Nichterfüllung einer Sicherungspflicht eintritt. Ob dasselbe auch bei der Verletzung von Rettungspflichten233a zu gelten hat, ist hiermit noch nicht entschieden. 11. Die Bewirkensäquivalenz des Unterlassens komplementärer Sicherung
Die Methode zur Konstituierung der sachlichen Kriterien einer Bewirkensäquivalenz bedarf an dieser Stelle keiner weiteren Aufklärung. Im folgenden werden wiederum die Vergleichbarkeit der Opfer- und der Tätersituation als Teilaspekte derselben Problematik unterschieden. 230
Vgl. ROSt 19,204; BGHSt 19,286.
231 Vgl. RGRechtspr. 3,641. 232 Vgl. oben 2. Kap. C. 233 Klee, GA 62 [1916],42'2; vgl. 233a Zu diesen Begriffen oben
auch Engisch, a.a.O. S. 199 f. und unten S. 229 H.
D. Rechtmäßige Risiko-Vorhandlungen
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1. Die Opferposition Im Bereich der rechtswidrigen Vorhandlungen wurde die Bewirkensäquivalenz des Unterlassens durch ein Vertrauensverhältnis hergestellt (E. A. Wolft). Mit der Progression der Tat wandelte sich dieses über das Vertrauen auf das Ausbleiben der verbotenen Handlung und die Abhängigkeit vom Nichteintritt ihrer Folgen zur Abhängigkeit von einer Rettungshandlung. Die soziale Notwendigkeit und Richtigkeit des ursprünglichen Vertrauens auf das Ausbleiben der rechtswidrigen (Vor-)Handlung konstituiert den inneren Frieden der Rechtsgemeinschaft. Die durch dieses Vertrauen vermittelte besondere Verletzbarkeit des Menschen bildete die Basis für die Gleichwertigkeit des Unterlassens aus der Perspektive des von den Wirkungen der Handlung betroffenen Opfers. a) Hieraus ergibt sich, daß eine Handlungsäquivalenz des Unterlassens komplementärer Sicherung oder Rettung in einer den rec..~ts widrigen Vorhandlungen analogen Weise nicht begründet werden kann. Denn da die rechtmäßigen Risiko-Vorhandlungen aus Gründen des überwiegenden öffentlichen Interesses von der Rechtsordnung zugelassen und jeder Mißbilligung entzogen sind, werden sie täglich tausendfach vorgenommen. Niemand kann deswegen auf ihr Unterbleiben vertrauen234 • Eben dies war aber der sachliche Grund für die Gleichwertigkeit des Unterlassens nach rechtswidriger Gefährdung. Auch ein Vertrauen auf das Ausbleiben schädlicher Erfolge, zu denen es trotz aller Vorsicht im Vollzug der generellen Gefährlichkeit der betreffenden erlaubten Betätigung immer wieder kommt, besteht nicht. Jede Unfallstatistik, zumal die des modernen Straßenverkehrs, demonstriert das Gegenteil ad oculos. Um die gewünschte Parallele dennoch herzustellen, suchen einige Autoren das Vertrauensprinzi p235 nunmehr auf die Unterlassung der komplementären Sicherung oder Rettung selbst zu erstrecken. Da es kein Vertrauen auf das Ausbleiben der rechtmäßigen Risiko-Handlung geben könne, müsse es hier "schon ausdrücklich auf die Aktionen des Garanten, die Gefahr einzuschränken, bezogen" sein236 • Daß ein solches Vertrauen in der Tat vielfach besteht, kann nun nicht in Abrede gestellt werden; denn jedenfalls ist die nachträgliche komplementäre Sicherung gegen die mit der Vorhandlung verbundenen generellen Gefahren eine so gewohnte Erscheinung des täglichen Vgl. auch E. A. Wolff, S.43. Blei, H. Ma'Yer-Festschrift, S.142. 238 E. A. Wolft, S.43; ähnlich Böhm, Diss. 1957, S.83; Blei, a.a.O., S. 142 f. u. a. Ablehnend Granderath, S. 168. 234 235
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Lebens, daß sich der Verkehr auf sie nicht weniger als auf das Ausbleiben rechtswidriger Aktivität verläßt. Eine hinreichende Erklärung hierfür bietet die schon bemerkte Vertauschbarkeit akzessorischer und komplementärer Sicherungsfaktoren. Da das Unterlassen einer möglichen akzessorischen Sicherung das betreffende Tun selbst rechtswidrig machen würde und die Notwendigkeit einer Installierung komplementärer an Stelle von akzessorischen Sicherungsfaktoren bloßes Akzidenz der Fallgestaltung ist, besteht das Vertrauen in beiden Situationen. Auch kann gegen diese Begründung nicht eingewendet werden, daß das Vertrauen als konkreter Motivationsfaktor eine Fiktion sei. Zwar wird eine solche fremdpsychische Kausalität der Vorhandlung regelmäßig nur in den Fällen der "Betriebseröffnung" angetroffen 237 ; indessen kommt es hierauf für die referierte Meinung nicht an238 • Denn auch das Vertrauen auf das Ausbleiben einer rechtswidrigen Aktivität ist nur in den wenigen Fällen für die eingetretene Verletzung "kausal", in denen sich das Opfer im Vertrauen auf ihr Ausbleiben in eine Gefahr begeben oder eine andere Vorsorge unterlassen hatte. Zur Herstellung der Parallele zu den Fällen rechtswidriger Vorhandlungen würde es deswegen ausreichen, wenn ein von konkretem Vertrauen abstrahierendes generelles Vertrauen-Dürfen nachgewiesen wäre. Es bliebe dann lediglich die Frage, ob ein solches Vertrauen-Dürfen nicht nur auf komplementäre Sicherung, sondern auch auf komplementäre Rettung bezogen ist, wenn es trotz aller Sicherungen zu einer konkreten Gefahr gekommen ist. Indessen ist hierauf schon deswegen keine Antwort möglich, weil der nachvollzogene Gedankengang unvermeidlich in eine Tautologie führt. Das Vertrauen auf die Vornahme der unterlassenen Kompiementärhandlung kann immer nur die Folge und niemals der Grund der Handlungsäquivalenz sein. Denn auch das Unterlassen der Abwendung rechtswidrig verursachter Erfolge hatte sich nicht deswegen als ein dem Tun gleichwertiges Verhältnis erwiesen, weil der Betroffene auf die Vornahme der unterlassenen Handlung vertraut hätte; sondern er war von der Vornahme der Rettungshandlung abhängig, weil er auf das Ausbleiben der verbotswidrigen Vorhandlung rechnen durfte und von dieser mithin in seiner besonderen Verletzbarkeit getroffen wurde. Anlaß zum Vertrauen besteht nur dann, wenn das Gesollte gilt. Während die Geltung des Verbots vermöge seiner ausdrücklichen gesetzlichen Statuierung außer Frage steht, ist sie bei den Geboten thema probandum. Deren sachliche Voraussetzungen müssen mithin bereits konstituiert sein, bevor nach dem Vertrauen der Rechtsgemeinschaft auf die Befolgung des Gebotenen ge237 238
Dazu unten SlUb 111. Vgl. E. A. WOlff, S.40.
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fragt werden kann; denn ein Vertrauen, das in anderen Umständen als der Handlungsäquivalenz des Unterlassens begründet ist, darf de jure enttäuscht werden, ohne daß der Unterlassende der Bewirkensstrafe verfiele. Die Überzeugung der Rechtsgemeinschaft von der Richtigkeit des Gesollten wird sich deswegen bei der Unterlassung komplementären Tuns nur als Folge einer sachlich begründeten Gleichwertigkeit einstellen können, nicht aber als ihr Grund 239 • Die Gleichwertigkeit begründet das Vertrauen -
und nicht umgekehrt.
Die Gegenmeinung ist somit nicht nur außerstande, eine Handlungsäquivalenz des Unterlassens komplementärer Sicherung hinreichend zu begründen; sondern für sie muß es auch eine perplexe Frage bleiben, ob das Unterlassen komplementärer Rettung dem Tun gleichwertig ist oder nicht. b) Wenn es somit kein Vertrauen auf das Unterbleiben der rechtmäßigen Risiko-Vorhandlung gibt und auch ein Vertrauen auf die Vornahme der unterlassenen Sicherungs- oder Rettungshandlung für die Begründung einer Handlungsäquivalenz bloße Tautologie ist, so kann diese gegenwärtig - anders als bei der rechtswidrigen Vorhandlung - überhaupt nicht durch eine Vertrauensbeziehung hergestellt werden. Und auch hier kann eine der Risiko-Vorhandlung korrespondierende besondere Verletzbarkeit des Opfers nicht schon in der anfälligen Fragilität gefunden werden, die mit der Möglichkeit der Verletzung unter Beweis steht; denn hilfsbedürftig ist das Opfer auch dann, wenn die Gefahr inadäquat oder durch Naturkräfte verursacht wurde 240 • Vielmehr ist zunächst zu fragen, durch welche sachlichen Merkmale die der Risiko-Handlung korrespondierende Situation des Opfers ausgezeichnet ist, bevor ihre Vergleichbarkeit mit der beim positiven Tun gefundenen Abhängigkeit untersucht werden kann. Hierbei geht es um diejenige Abhängigkeit des Betroffenen, die Esser treffend den "sozialen Zwang zur Gefahrenhinnahme" genannt hat 241 und die als "Ubiquität der Gefahr" zur Kennzeichnung der Situation des Menschen in einer technischen Welt herangezogen wird 242 • 239 240
Vgl. aber E. A. Wotff, S. 42 f.
Es sei lediglich angemerkt, daß das Requisit der Hilfsbedürftigkeit den
dogmatischen Rahmen für die von Höpfner, ZStw 36 [1915], 123, 125 aufgeworfene Frage abgibt, welcher Einfluß dem Vorhandensein anderer Hilfsfähiger auf die Abwendungsverpflichtung des Garanten zukomme. Weil der Träger des bedrohten Rechtsgutes "sich selbst der Nächste" und daher näher als der fremde Garant ist, wird man die These aufstellen können, daß seine Abwendungsmöglichkeit die Hilfspflicht des Garanten ausschließt. Dazu Rudotphi, s. 119 f. Allerdings ist der Vergleich der Nähe lediglich ein Differenzierungsproblem; vgl. Androulakis, S.220. 241 Esser, Grundlagen und Entwicklung der Gefährdungshaftung, S. 103. 242 Nachweise bei Rehberg, a.a.O., S. 7 f.; vgl. auch Finger, Frank-Festgabe I, S. 242 f.
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
Hiermit ist zunächst gemeint, daß der Betroffene die Gefahr de jure hinzunehmen hat. Denn da das Recht die riskante Gefahrsetzung wegen der mit ihr verfolgten, auch im Interesse der Allgemeinheit gelegenen Zwecke erlaubt, die Risiko-Handlung mithin rechtmäßig ist, kann niemand "ihr Entstehen verhindern oder verbieten"243. Es wurde zwar bereits bemerkt, daß das dem Tun-Dürfen korrelative Dulden-Müssen lediglich die generelle, die konkrete Gefährdung aber jedenfalls dann nicht zum Gegenstand hat, wenn der drohende im Vergleich zu dem durch die Abwehr zu bewirkenden Schaden größer oder gleich groß ist244 • Die hierin gelegene Einschränkung des DuldenMüssens ist indessen vermöge der überlegenheit des Gefährdungspotentials für den Betroffenen regelmäßig ohne praktische Bedeutung. Hiermit tritt der zweite Aspekt des "sozialen Zwanges zur Gefahrenhinnahme" hervor. Der Betroffene hat nicht nur de jure keine Einwirkungsmöglichkeit auf das gefahrbringende Tun, sondern er ist ihm auch de facta unausweichlich ausgesetzt. Jedermann, der nicht das Dasein eines Oblomov führen und auf jede Teilnahme am Verkehr verzichten will, nimmt dessen Gefahren auf sich. Der Paradefall einer solchen Schutzlosigkeit ist der moderne Straßenverkehr. Niemand, der seine Wohnung verläßt, kann den hier allenthalben drohenden Gefahren durch eigene Vorsicht entgehen; er ist nicht nur in einem eminenten Sinn auf "verkehrsrichtiges" Verhalten der anderen angewiesen, sondern auch hilflos den Unfällen ausgesetzt, die sich infolge der generellen Gefährlichkeit des Straßenverkehrs trotz aller Vorsicht der Beteiligten immer wieder ereignen. Eben deswegen gilt die Verkehrsteilnahme als "riskant". Esser hat deswegen diese Abhängigkeit der Beteiligten mit vollem Recht ein "Gewaltverhältnis" genannt 245 . Zwar ist das quantitative Ausmaß der Gefahr nicht bei allen riskanten Betätigungen derart groß wie beim Straßenverkehr. Indessen beeinträchtigt dieser Unterschied die sachliche Qualität der Unterworfenheit nicht. Vielmehr liegt die besondere Verletzbarkeit des Betroffenen 243 Esser, Schuldrecht (2), S.934; ders., Gefährdungshaftung, S. 109; Larenz, AT d. dt. bürgerlichen Rechts, 1967, S. 78 f.; Böhm, a.a.O., S.84. - Auch Rudolphi bemerkt in diesem Zusammenhang die "mangelnde Einwirkungsmöglichkeit" des Rechtsgutsträgers (S.177), die er jedoch auf die Undurchdringlichkeit der fremden "Herrschaftssphäre" zurückführt; dazu unten sub IV. Die von ihm gegebene Begründung müßte folgerichtig zur Straflosigkeit der hier erörterten Fälle auch unter dem Aspekt "Herrschaft" führen. 244 Vgl. oben S.210. 245 Esser, Gefährdungshaftung, S.99; vgl. dort auch S. 109 und Schuldrecht, S. 934. Es kann Rudolphi (S. 178) daher nicht zugegeben werden, daß der einzelne die Folgen des riskanten Tuns selbst zu steuern vermöge. Neben den durch menschliches "Versagen" bedingten Unfällen stehen gegenwärtig allein die unglücklichen Folgen der sorgfältigen Risiko-Handlung zur Erörterung. Eine Entscheidungsfreiheit besteht hier nur hinsichtlich der Alternative Gefahrenhinnahme oder Verzicht auf Verkehrsteilnahme.
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in seiner Abhängigkeit vom Ausbleiben solcher Erfolge, die ein anderer trotz ihrer generellen Vorhersehbarkeit bewirkt hat. c) Ist die der Risiko-Handlung korrelative Verletzbarkeit des Opfers somit als "sozialer Zwang zur Gefahrenhinnahme" bestimmt, so stellt sich nunmehr die Frage nach der Vergleichbarkeit dieser Position mit der beim rechtswidrigen Tun gefundenen Abhängigkeit. Betrachtet man zunächst das faktische Moment der gegenseitigen Beziehung, so treten offenbar quantitative Unterschiede im Ausmaß der Unterworfenheit hervor. Denn einerseits sind die Gefahren, mit denen der einzelne zu rechnen hat, ungleich häufiger die Folgen erlaubter Betätigung der Umwelt als das Ergebnis rechtswidriger Aktivitäten. Auf der anderen Seite erscheint die rechtswidrige Handlung deswegen als gefährlicher, weil nur die erlaubte Betätigung in das soziale Kalkül einbezogen werden kann, jene aber ihrer Natur nach unberechenbar ist. Indessen bezieht sich der gegenwärtig angestellte Vergleich nicht auf die Wahrscheinlichkeit des Erfolgseintritts bei fahrlässigem und verkehrsrichtigem Verhalten; daß diese bei einer Ex-ante-Beurteilung im Falle des rechtswidrigen Handeins ungleich größer ist als beim erlaubten Tun, bedarf keiner Erörterung. Vielmehr geht es um die Frage, ob ein Unterschied im Ausmaß der Unterworfenheit dann erkennbar wird, wenn einerseits die Wirkungen eines fahrlässigen Tuns und andererseits die unglücklichen Folgen eines verkehrsrichtigen Verhaltens einzutreten drohen. Insofern ist die Opferposition auch quantitativ gleichwertig; denn das Unglück, das sich trotz aller gebotenen Vorsicht der Beteiligten ereignet, ist nicht minder unberechenbar als das fremde Versagen. Die Verschiedenheit der beiden Fallgruppen tritt jedoch an dem normativen Aspekt des "sozialen Zwangs zur Gefahrenhinnahme" hervor. Während der Betroffene bei rechtswidriger Gefährdung von seinem Notwehrrecht Gebrauch machen darf, hat er die mit der verkehrsrichtigen Handlung verbundene Gefährdung de jure hinzunehmen und würde sich dem Odium der Nötigung aussetzen, wenn er diese hindern wollte. Zwar darf er sich auch hier wehren, wenn die generelle Gefahr in eine konkrete umschlägt; indessen ist dieses (notstandsähnliche) Recht nicht nur rechtlich schwächer als die Notwehrbefugnis, sondern vermöge der Überlegenheit des Gefährdungspotentials auch praktisch bedeutungslos. Insofern scheint die Verletzbarkeit des Opfers über das beim rechtswidrigen Tun bestehende Ausmaß der Abhängigkeit noch hinauszugehen. Einer Harmonisierung der rechtswidrigen mit den verkehrs richtigen Handlungen steht jedoch noch immer entgegen, daß die Abhängigkeit dort durch das Vertrauen auf das Ausbleiben des verbotenen Tuns,
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Drittes Kapitel: Die Gleichstellungsproblematik
hier hingegen unmittelbar durch die Unterworfenheit unter die unglücklichen, wenngleich generell vorhersehbaren Folgen der riskanten Betätigung hergestellt ist. Offenbar kann diese Spannung, die den Unterschied in der rechtlichen Bewertung des fremden Tuns zum Ausdruck bringt und beim Vergleich der Täterposition noch einmal hervortreten wird, nur durch den Nachweis aufgehoben werden, daß die Gründe, die das Vertrauen bei den rechtmäßigen Handlungen ausschließen, für die Opferseite ohne Bedeutung sind. Nun ist das Vertrauen auf das Ausbleiben der Risiko-Handlung deswegen unberechtigt, weil diese erlaubt ist und daher zu den Alltäglichkeiten des Soziallebens gehört. Mithin müßten die für die Gestattung des verkehrsrichtigen Tuns entscheidenden Gründe die Opferposition unberührt lassen. Hinsichtlich ihrer intellektuellen Komponente stimmen die riskanten mit den rechtswidrigen Handlungen darin überein, daß der tatbestandsmäßige Erfolg generell vorhersehbar ist. Der Täter der Risiko-Handlung entgeht dem Verdikt der Fahrlässigkeit somit nicht wegen der Inadäquanz der Gefährdung, sondern allein aus normativen Gründen. Diese tangieren die Opferseite nun aber in der Tat nicht. Denn die Sozialnützlichkeit der verfolgten Zwecke kommt heteronomen Gegenständen, keinesfalls aber dem betroffenen Opfer zugute. Und mithin erfolgt die Gestattung der riskanten Betätigung allein auf Kosten seiner Sicherheit. Wenn es aber auf seiten der Gutsintegrität kein Komplement der Gefährdungserlaubnis gibt, so wird das Opfer von den Wirkungen eines riskanten Tuns qualitativ in derselben Weise wie von den Folgen einer fahrlässigen Handlung betroffen. Korrelat des Vertrauen-Dürfens auf das Ausbleiben der rechtswidrigen Aktivität ist auf der Opferseite somit die durch die Gestattung des riskanten Tuns geschaffene Abhängigkeit, das DuldenMüssen der Gefährdung. d) Die vorstehenden überlegungen sind zu dem Ergebnis gelangt, daß das Opfer von den unglücklichen Folgen einer Risiko-Handlung in derselben besonderen Verletzbarkeit betroffen wird, die seine Lage auch gegenüber den rechtswidrig bewirkten Gefahren kennzeichnet. Denkt man die Risiko-Handlung nunmehr als Risiko- Vor handlung, vermehrt man mit anderen Worten die besprochene Konstellation um die Abwendungsmöglichkeit des Täters der verkehrsrichtigen Handlung, so entsteht das schon bei der rechtswidrigen Vorhandlung gezeichnete Bild. Da das Unterlassen dem Tun nur dann gleichwertig ist, wenn das Opfer von der Vornahme der unterlassenen Handlung nicht minder abhängt als vom Unterbleiben verbotswidrigen Tuns, bildet diese Abhängigkeit auch hier das tertium der Gleichstellung. Das Unterlassen komplementärer Sicherung oder Rettung ist daher nur dann
D. Rechtmäßige Risiko-Vorhandlungen
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Handlungsäquivalent, wenn die geforderte Abhängigkeitsbeziehung aufgefunden werden kann. Diese besteht in der rechtlichen und faktischen Unterworfenheit unter die generell gefährliche Risiko-Handlung. Sie stimmt hierin mit derjenigen Qualität überein, die die Abhängigkeit des Opfers auch beim rechtswidrigen Tun kennzeichnet. Da nun auch die Risiko-Handlung ihre Eigenschaft als V01'-Handlung nicht durch eine in ihr selbst gelegene Eigenschaft, sondern durch den zufälligen Eintritt der Abwendungsmöglichkeit gewinnt, bleibt die Abhängigkeit mit der Progression der Tat erhalten. Sie wandelt sich mit dem Fortschreiten der tatsächlichen Situation von der Unterworfenheit als Dulden-Müssen der Gefährdung über die Abhängigkeit von komplementärer Sicherung zur Abhängigkeit von einer Rettungshandlung. Denn aus der Sicht des Opfers ist es bedeutungslos, ob es den Folgen des verkehrsrichtigen Tuns deswegen erliegen wird, weil ihr Urheber unterlassen hatte, dem Unfall durch nachträgliche Reduzierung der generellen Gefährlichkeit vorzubeugen (Sicherung) oder ob er - ohne dies versäumt zu haben - im Angesicht einer konkreten Gefahr eine den Schaden unmittelbar abwendende Handlung (Rettung) nicht vorgenommen hatte. Als Kompensation der mit der Vorhandlung generell verbundenen Gefahren sind beide lediglich eine Funktion der progressiven Veränderung, der die tatsächliche Situation inzwischen unterworfen war. Mithin wird das Opfer in beiden Fällen in der auch beim verbotswidrigen Tun bestehenden besonderen Verletzbarkeit angetroffen, wenn es den unglücklichen Folgen einer rechtmäßigen Risiko-Handlung zu erliegen droht. Ob es freilich der Urheber dieser Handlung ist, der als Subjekt der Abhängigkeit des Betroffenen zu fungieren hat, können erst die folgenden überlegungen zeigen. 2. Die Täterposition
Droht der tatbestandsmäßige Erfolg im Vollzug derjenigen generellen Gefahren einzutreten, die mit der riskanten Betätigung typisch verbunden sind, so entsteht nunmehr die - schon früher gestellte Frage, auf welche Weise der Urheber der verkehrsrichtigen Handlung als Subjekt der besonderen Verletzbarkeit des Opfers mit diesem in einem Verhältnis verbunden werden kann, das die auch beim rechtswidrigen Tun aufgefundenen Qualitäten aufzuweisen hat. Die Antwort hierauf ergibt sich auch an dieser Stelle nicht schon aus den Betrachtungen zur Gleichwertigkeit der Opfersituation, da diese lediglich durch die Abhängigkeit von jedweder Rettung gekennzeichnet ist. Zwar mag der Täter der Nächste sein, von dem die Abwendung des Erfolges erwartet werden kann; indessen bleibt diese Feststellung als
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Drittes Kapitel: Die Gledchstellungsproblematik
bloßes Differenzierungsproblem den Bezug zu einer Gleichwertigkeit der Täterposition schuldig. Soweit der Täteraspekt der Gleichstellungsfrage in der Literatur gesonderte Beachtung findet, wird meist darauf hingewiesen, daß das Recht an die Gestattung der Gefährdung die Last einer hieraus abzuleitenden komplementären Abwendungsverpflichtung geknüpft habe 246 • "Damit wird die Gestattung gefährlichen Handeins auch zur Quelle neuer Sorgfaltspflichten247 ." Derselbe Gedanke hat in ALR §§ 33, 34 I 3 einen ähnlichen Ausdruck gefunden: "Wer eine Handlung begeht, der übernimmt auch alle daraus folgenden Pflichten. - Er ist also verpflichtet alles zu thun, durch dessen Unterlassung die Handlung selbst unerlaubt werden würde 248 ." Daß hiermit eine geläufige Rechtsvorstellung ausgesprochen wird, läßt sich nun nicht bestreiten. So wird etwa das zivilistische Institut der Gefährdungshaftung von dem Gedanken getragen, daß derjenige, der Gefahr und Wagnis übernimmt, für die daraus entstehenden Schäden aufzukommen hat249 • Auch hier ist die Tatsache der staatlichen Erlaubnis der Gefährdung der innere Grund der Einstandspflicht: "Sonderrecht nur gegen Sonderpflicht250 ." Es ist deswegen kein Zufall, wenn das Zivilrecht für die wichtigsten der hier zu erörternden Fallgruppen eine Gefährdungshaftung statuiert hat, etwa in § 7 Abs. I StVG für den Betrieb der Kraftfahrzeuge und in §§ 1 HaftpflG, 1-3 SHaftpflG für den der Eisen- und Straßenbahnen, in § 833 BGB für die Tierhaltung ete. - Gleichwohl führt dieser Gedanke noch nicht ans Ziel. Denn einmal entsteht die Einstandspflicht ebenso wie die deliktische Reparationsverbindlichkeit eben erst nach eingetretener Verletzung und setzt daher die hier allein problematische Pflicht zur Abwendung der bevorstehenden Verletzung allenfalls voraus. Und zum anderen bleibt die Frage unbeantwortet, ob eine aus dem Sonderrecht abzuleitende "Sonderpflicht" die Unterlassung des Gefahrbringers als Handlungsäquivalent erscheinen läßt, wenn dieser seiner Verpflichtung nicht nachkommt. Nur auf eine solche Beziehung, nicht aber auf die Konstituierung einer disparaten Reehtspflicht können die hier anzustellenden überlegungen gerichtet sein251 • 248 Vgl. etwa Träger, Unterlassungsdelikte, S.104 ff.; Höpfner, ZStw 36 [1915], 127; Klee, GA 62 [1916], 422 f.; v. Hippel, Dt.StrR., Bd.lI, S. 163 f. (zust. Mezger, Lehrbuch, S.143); Finger, Frank-Festgabe I, S.243; Gerland, Dt.RStrR. (2), S. 170; Engisch, Untersuchungen, S. 291 f.; Drost, GS 109 [1937), 21; Nahstoll, Diss. 1951, S.100 f.; Böhm, Diss. 1957, S. 83 f.; Gallas, Strafrechtliche Verantwortlichkeit, S.34; E. A. Wolff, S.43. 247 Engisch, a.a.O., S.292. 248 Zitiert nach dem Hinweis bei Klee, a.a.O., S.421. 249 Esser, Gefährdungshaftung, S. 97 et passim; ders., Schuldrecht, S. 933 ff. m. Nachw.; vgl. auch Hoffmann, NJW 1964, 230 N.18. 250 Esser, Gefährdungshaftung, a.a.O. 251 Daß die Gestattung der Gefährdung die "Quelle neuer Sorgfaltspftich-
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Handlungsäquivalent kann das Unterlassen komplementärer Sicherung oder Rettung aus der Sicht des Täters der verkehrsrichtigen Handlung vielmehr nur dann sein, wenn der Wandel der Abhängigkeit des Opfers, den dessen Lage mit der Progression der Tat durchläuft, zu dem Anteil des Täters in eine Beziehung gesetzt werden kann, die seiner Verantwortlichkeit für rechtswidrig bewirkte Erfolge entspricht. Freilich tritt der Unterschied der beiden Fallgruppen auch hier sogleich an dem Vertrauen hervor, das nur im Falle des rechtswidrigen Tuns auf den Täter der Vorhandlung bezogen ist, weil nur hier Anlaß zum Vertrauen auf das Ausbleiben der verbotswidrigen Handlung besteht. Mithin kann die Gleichwertigkeit des Unterlassens komplementärer Sicherung oder Rettung bei erlaubter Aktivität auch nicht durch den "Rückstoß" eines mit der Vorhandlung enttäuschten Vertrauens begründet werden. Vielmehr erfordert die Differenz in der rechtlichen Bewertung fahrlässigen und verkehrsrichtigen Handeins auch an dieser Stelle einen unterschiedlichen Ansatz der Fragestellung. Soweit die Abhängigkeit des Opfers als das Dulden-Müssen der Gefährdung bestimmt wurde, entspricht ihr auf seiten des Täters das korrelative Tun-Dürfen. Macht dieser von der ihm verliehenen Gefährdungserlaubnis Gebrauch und kommt es in Realisierung der generellen Gefährlichkeit des Tuns zu einer konkreten Gefahr für das Opfer, so tritt diese Beziehung in ihre kritische Phase. Das Opfer wird von den Wirkungen des riskanten Tuns in seiner besonderen Verletzbarkeit betroffen und ist daher von Rettung abhängig. Soll der Täter das Subjekt einer ihn mit dem Opfer verbindenden Beziehung sein, so muß der jetzt eingetretene Zustand zunächst als sein Werk angesehen werden können. Und diese Voraussetzung ist bei der gegenwärtig erörterten Konstellation stets erfüllt. Denn da die Gefahr im Rahmen des generell Vorhersehbaren eingetreten ist und daher durch Unterlassung des verkehrsrichtigen Tuns hätte zwecktätig vermieden werden können, ist sie mehr als bloßer Zufall. Daß der Täter das Risiko ihres Eintritts ex ante eingehen durfte, ändert daran nichts; denn selbst die Gewährung eines Eingriffsrechts wie das der Notwehr verträgt sich mit der Annahme, daß die bewirkte Verletzung das Werk des Täters sei. Ist aber der unabwendbare Erfolg einer Risiko-Handlung das Werk ten" (Engisch) werde, überzeugt im übrigen zunächst nur hinsichtlich der Sicherungspflichten. Denn nur diese sind mit den akzessorischen Sorgfaltspflichten "vertauschbar". Besonders deutlich wird dieser Zusammenhang in ALR § 34 I 3: Der Handelnde ist zu allen Vorkehrungen verpflichtet, "durch deren Unterlassung die Handlung selbst unerlaubt werden würde", d. h. zu Sicherungsvorkehrungen, die entweder bei Vornahme der gefährlichen Handlung (akzessorisch) oder wegen der "Umstände" hernach (komplementär) installiert werden müssen. Rettungspflichten sind hierbei zunächst nicht eingeschlossen.
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des Täters, so ist es der vorhergehende Zustand konkreter Gefahr einer Einbuße an Rechtswerten nicht minder, mit dem er bei bestehender Abwendungsmöglichkeit konfrontiert wird. Daß die sich realisierende Abhängigkeit das Werk des Unterlassenden sei, genügt nun allerdings zur Begründung einer Handlungsäquivalenz seines Verhaltens noch nicht. Denn da er den gefährlichen Kausalverlauf eben einleiten durfte (und somit jeder strafrechtlichen Verantwortlichkeit ledig war, wenn er den hierdurch verursachten tatbestandsmäßigen Erfolg nicht abwenden konnte), fehlt einstweilen der Nachweis dafür, daß es ihm zur Pflicht gemacht ist, die selbständig vermeidbaren Folgen seines verkehrsrichtigen Tuns abzuwenden. Im Bereich der rechtswidrigen Vorhandlungen ergab sich diese Begründung aus dem Schutzzweck des Begehungsverbots, dessen auf Gutsintegrität abzielende Intention im Falle seiner Verletzung die Pflicht zur Erhaltung des zuvor rechtswidrig gefährdeten Gutes produzierte. Bei den rechtmäßigen Risiko-Handlungen kann dieser Nachweis nur mit der Eigenartigkeit der Gefährdungserlaubnis selbst geführt werden. Da die Verkehrsrichtigkeit der Betätigung kein Eingriffsrecht gewährt, der eingetretene Schaden vielmehr als "Erfolgsunwert" abwehrfähig bleibt, gehört die größtmögliche Gutsintegrität zu dem "kompossibIen Maximum" des Interessenausgleichs, der mit der Gefährdungserlaubnis erzielt werden soll252. Wenn der Eintritt des tatbestandsmäßigen Erfolges durch komplementäre Sicherung oder Rettung abgewendet werden kann und daher mit der Verfolgung der wahrgenommenen sozialnützlichen Zwecke nicht notwendig verbunden ist, bildet die Abwendungspflicht die billige Kompensation der Gefährdungsgestattung. Die Pflicht, "die durch ein Tun von vornherein begründete Gefahr nicht über das mit der Koexistenz aller verträgliche Maß hinauswachsen zu lassen"253, leitet sich somit aus dem Sinn der Gefährdungserlaubnis ab, die die Freigabe des riskanten Tuns mit höchstmöglicher Gutsintegrität zu harmonisieren trachtet. Und mithin ist es der Täter der Risiko-Handlung, auf den das Opfer in seiner Abhängigkeit verwiesen ist. Es kann auch nicht zugegeben werden, daß hiermit eine übermäßige Belastung des Handelnden verbunden wäre. Vielmehr bleibt die Abwendungsverpflichtung stets im Rahmen dessen, was ex ante in das soziale Kalkül einbezogen werden konnte. Hierauf weisen diejenigen Formulierungen hin, die die Konkordanz der rechtswidrigen mit den verkehrsrichtigen Vorhandlungen dadurch herzustellen suchen, daß sie die komplementäre Abwendungspflicht als "übernommen" bezeich252 253
Vgl. auch E. A. Woltt, S.43. Klee, a.a.O., S. 422.
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nen254 . Daß diese Redeweise, die die einverständlich-intentionale übernahme der Garantieposition im herkömmlichen Sinn anklingen läßt, mehr als bloße fa