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German Pages 560 Year 2015
Dorothee Schwendowius Bildung und Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft
Kultur und soziale Praxis
Dorothee Schwendowius (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Arbeitsbereich Erziehungswissenschaft, insbesondere interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen Qualitative Bildungsforschung, Biographieforschung sowie Bildung im Kontext von Migration und sozialen Ungleichheitsverhältnissen.
Dorothee Schwendowius
Bildung und Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft Biographien von Studierenden des Lehramts und der Pädagogik
Gedruckt mit Förderung der Universität Wien, Fakultät für Philosophie und Bildungswissenschaft.
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INHALT
Dank 1.
Einleitung
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TEIL I – ANNÄHERUNGEN AN DEN KONTEXT DER FORSCHUNG 2.
Bildungserfolge und Bildungsaufstiege in der Migration – eine Reflexion subjektorientierter Forschungen
2.1 Bildungserfolge und Bildungsaufstiege im Kontext von Migration – zentrale empirische Studien 2.2 Reflexionen zu den vorliegenden Studien und Konsequenzen für die eigene Forschung 3.
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‚Migration‘ in der Studierendenforschung – Reflexionen zur Entwicklung eines Forschungsthemas
37 3.1 Von ‚ausländischen Studierenden‘ zu ‚Studierenden mit Migrationshintergrund‘ – Verschiebungen einer Kategorisierungspraxis 38 3.2 Studierende ‚mit Migrationshintergrund‘ im Spiegel von Repräsentativerhebungen 40 3.3 Lokale Forschungen zur Studiensituation ‚migrantischer‘ Studierender – Verschiebungen und Kontinuitäten 47 4.
Migration und pädagogische Profession – Reflexionen zum Diskurs über Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte
4.1 Vorbilder, Mittler*innen, change agents? Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ in der öffentlichen Diskussion 4.2 Qualifizierungswege, Berufserfahrungen und Selbstverständnisse von Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte – zum Forschungsstand 4.3 Fazit und Anknüpfungspunkte für die eigene Forschung
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TEIL II – THEORETISCHER UND METHOD(OLOG)ISCHER RAHMEN 5.
Theoretische Vorverständnisse und Aufmerksamkeitsrichtungen der eigenen Untersuchung
5.1 ‚Biographie‘ als theoretisches Rahmenkonzept 5.2 Bildungsprozesse im Lebenslauf – Vorverständnisse und Gegenstandsklärungen 5.3 Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen in gesellschaftlichen Macht- und Differenzverhältnissen 5.4 Konkretisierung der Aufmerksamkeitsrichtungen der empirischen Untersuchung
75 76 84 100 112
6.
Konzeption und Dokumentation des Forschungsprozesses
6.1 Interpretative Sozialforschung als methodologischer Rahmen 6.2 Biographieforschung als methodischer Zugang 6.3 Dokumentation des Erhebungs- und Auswertungsprozesses
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TEIL III: FALLDARSTELLUNGEN 7.
Das pädagogische Studium als biographische Fortsetzung und Neupositionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung – Fallrekonstruktion ‚Nuray Coúkun‘
7.1 Rahmungen und Verlauf des Interviews 7.2 „Es hätte auch schlimmer ausgehen können, aber ich hab echt noch die Kurve gekriegt“ – Nuray Coúkuns Biographie bis zum Studium 7.3 „So nach zwei Monaten war ich voll drin“ – der Studienbeginn als biographische Fortsetzung 7.4 Differenzkonstruktionen und (Selbst-)Positionierungen im Kontext des Lehramtsstudiums 8.
Das pädagogische Studium als biographische Irritation – Fallrekonstruktion ‚Dilan Karatay‘
8.1 Rahmungen und Interviewverlauf 8.2 Dilan Karatays Biographie bis zum Studium – Rekonstruktion ausgewählter Themen 8.3 „Vielleicht ist das Unileben nicht für mich beschaffen“ – der Übergang ins Studium als biographische Irritation 8.4 „Ich fühlte mich dann angesprochen“ – ‚Migration‘ als Ressource und Besonderungspotenzial 8.5 Fazit und vergleichende Überlegungen zum Fall Nuray Coúkun 9.
Das pädagogische Studium als „selektives Bildungsmoratorium“ und biographische Ermächtigungserfahrung – Fallrekonstruktion ‚Anna Schuster‘
9.1 Rahmungen und Verlauf des Interviews 9.2 „Wenn ich das so erzähl dann denk ich immer das ist so negativ. Aber es ist halt erlebt“ – Anna Schusters Biographie bis zum Studium 9.3 „Eintauchen in eine neue Welt“ – Studium als Entfaltungsmöglichkeit 9.4 Differenzkonstruktionen und (Selbst-)Positionierungen im Kontext des Lehramtsstudiums
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286 318 336
10. Das pädagogische Studium als schicksalhafte Fügung – Fallrekonstruktion ,Alicja Pajak‘
10.1 Rahmungen und Verlauf des Interviews 10.2 Zwischen Heteronomie und Rebellion – Alicja Pajaks Biographie bis zum Studium 10.3 „Dass mir wirklich n Weg vorgeschrieben ist“ – Studium als Schicksal
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TEIL IV – KONTRASTIERUNG UND THEORETISCHE REFLEXION 11. Bildungsbiographische Verläufe und Prozesse in vergleichender und fallübergreifender Sicht
11.1 Zwischen Tradierung und Transformation – familiale Erfahrungspotenziale als biographische Ressourcen 11.2 Zwischen Teilhabe und Ausgrenzung – schulische Bildungsprozesse und Zugehörigkeitserfahrungen 11.3 Zwischen Traditionsbildung und Kontingenz – Wege ins (pädagogische) Studium 11.4 Der Studienbeginn als biographischer Übergangsprozess 11.5 Zugehörigkeitsarbeit und Zugehörigkeitserfahrungen im Studium 12. Schlussbetrachtung
12.1 Zur Diskussion um Bildungsteilhabe im Kontext (migrations-)gesellschaftlicher Differenzverhältnisse 12.2 Reflexionen zu den bildungsbiographischen Konstruktionen der Subjekte 12.3 Reflexion der Ergebnisse im Hinblick auf das Studium in der Bildungsbiographie 12.4 Weiterführende Überlegungen zum Umgang mit ‚Diversität‘ in der universitären Praxis 12.5 Reflexion der Ergebnisse im Hinblick auf Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen im Kontext von ‚Migration‘ 12.6 Rückbindung der Ergebnisse an die Diskussion um Professionelle ‚mit Migrationsgeschichte‘ im Bildungssystem 12.7 Abschließende Reflexion des theoretisch-methodologischen Ansatzes der Studie Literatur
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ANHANG Transkriptionsnotation
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Dank
Dieses Buch ist das Ergebnis eines mehrjährigen Arbeitsprozesses, an dem viele Menschen in unterschiedlicher Weise beteiligt waren. Mein herzlicher Dank gilt zunächst meinen Interviewpartner*innen für ihre Bereitschaft und ihr Vertrauen, mir ihre Lebensgeschichten zu erzählen und dadurch eine differenziertere Sicht auf die Bildungswege und biographischen Erfahrungen Studierender und angehender Pädagog*innen in der Migrationsgesellschaft zu ermöglichen. Die Auseinandersetzung mit ihren Erzählungen hat die Forschung für mich immer wieder lebendig und anregend gemacht. An dem Prozess, in dem dieses Buch Schritt für Schritt entstand, hatten unterschiedliche Personen Anteil. Besonders danke ich Prof. Dr. Bettina Dausien, die die gesamte Arbeit kontinuierlich mit Interesse und Geduld begleitet und mich darin unterstützt hat, meinen eigenen Weg zu finden. Sie war immer ansprechbar und gab mir in verschiedenen Phasen der Arbeit wichtige Anregungen, Hinweise und Rückmeldungen. In der Zeit unserer Zusammenarbeit an den Universitäten in Flensburg und Wien habe ich viel über die Praxis rekonstruktiver Forschung gelernt. Prof. Dr. Christine Riegel und Prof. Dr. Gerhard Riemann gilt mein herzlicher Dank für ihre Bereitschaft, die Arbeit am Ende zu begutachten und für ihre ausführlichen und inspirierenden Rückmeldungen. Wichtig für den Entstehungsprozess dieser Arbeit waren Räume für gemeinsame Forschungspraxis. Die Wiener Forschungswerkstatt, die Herbstwerkstätten sowie selbstorganisierte Interpretationsgruppen in Flensburg und Wien haben den Austausch über die vielen Fragen und Herausforderungen im Forschungsprozess und das Lernen aus den Projekten anderer ermöglicht. Mein Dank gilt allen Beteiligten für den Austausch und das Einbringen unterschiedlicher Perspektiven und die Erweiterung meiner Sicht. Ein herzlicher Dank geht auch an Daniela Pranter und Katharina Luckner, die mich bei den Interviewtranskriptionen unterstützt haben. Tobias Buchner danke ich für die produktive ‚Arbeitsgemeinschaft‘, die uns in der zweiten Hälfte der Arbeit verband, den intensiven Austausch über methodologische Fragen und Textinterpretationen und die Lektüre einzelner Kapitel. Für hilfreiche und ermutigende Rückmeldungen zu den entstehenden Texten danke ich auch Julia Demmer, Marcella Merkl, Kathleen Paul und Melanie Stutz sowie Nadja Thoma, der ich zudem für genaues Lesen und gewissenhafte Textkorrekturen im Manuskript danke.
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In den Entstehungsprozess der Arbeit fielen Übergänge zwischen verschiedenen Orten und Arbeitsstellen, die mit Ankommen, Einfinden und Abschieden verbunden waren. Meinen Kolleginnen aus dem Arbeitsbereich „Bildung und Beratung im Lebenslauf“ an der Universität Wien danke ich, dass sie mir den Übergang dorthin durch ihre freundliche, zugewandte Art so leicht gemacht haben. Gleiches gilt für meine Kolleginnen im Arbeitsbereich „Interkulturelle und vergleichende Bildungsforschung“ in Hamburg, die mich schnell in ihre Runde aufgenommen und eingebunden haben. Prof. Dr. Mechtild Gomolla danke ich dabei besonders für ihr offenes Ohr und hilfreiche Tipps für die ‚letzten Meter‘. Ebenfalls danken möchte ich AnnKathrin Albrecht, Julia Berghofer, Ellen Kollender und Marie-Therese Madeheim für Unterstützung bei den endredaktionellen Arbeiten in Vorbereitung der Veröffentlichung. Meine Freundinnen, Freunde und Familienangehörigen haben viel Geduld und Verständnis dafür aufgebracht, dass meine Zeit für gemeinsame Unternehmungen knapp war und ich oft mit sehr ‚speziellen‘ Fragen beschäftigt war. Danken möchte ich vor allem Inge Schwendowius und Klaus Wesner für ihren verständnisvollen Umgang damit und für ihr gleichschwebendes, unaufdringliches Interesse an meiner Arbeit. Schließlich gilt mein Dank Joachim Schmidt, der den Entstehungsprozess der Arbeit von Anfang bis Ende mitgetragen und mich über alle Übergänge hinweg auf vielfältige Weise unterstützt und begleitet hat.
1. Einleitung
Seit einiger Zeit wird die soziale und kulturelle Heterogenität der Studierenden im deutschsprachigen Raum verstärkt zum Gegenstand hochschulischer Debatten und sozialwissenschaftlicher Reflexionen gemacht. Die Pluralisierung der Zugangswege zum Studium, die Differenzierung von Bildungs- und Berufswegen und die Teilnahme von Studierenden mit unterschiedlichen Vorerfahrungen am wissenschaftlichen Studium werfen sowohl Fragen nach der Gestaltung von Hochschulbildung auf als auch nach den Biographien und Bildungsprozessen der Studierenden. Aus einer biographietheoretischen Sicht ergibt sich die Frage, wie Studierenden mit unterschiedlichen sozio-kulturellen Erfahrungshintergründen und Bildungsbiographien die Teilhabe an Hochschulbildung möglich wird und welche Ein- und Ausschlusserfahrungen sie im Feld der Hochschule machen. Zudem rückt in den Fokus, wie die Individuen ihre biographischen Relevanzen und Wissensstrukturen mit dem Studium verknüpfen bzw. sich dieses biographisch aneignen. Dabei liegt die Annahme zugrunde, dass nicht selbstverständlich vorausgesetzt werden kann, dass die Erwartungen, Anforderungsstrukturen und kulturellen Normalitätsvorstellungen der Hochschule unmittelbar mit den lebensweltlichen Orientierungen, biographischen Erfahrungen, den Lebensbedingungen und -entwürfen der Studierenden korrespondieren (vgl. Bülow-Schramm/Gerlof 2004; Alheit/Rheinländer/Watermann 2008; Schmitt 2010). Im Prozess des Sich-Einfindens in die Hochschule sind die Studierenden deswegen gefordert, sich je individuell zur Institution ins Verhältnis zu setzen und das Studium mit ihren biographischen Erfahrungen, Handlungsmustern und Sinnentwürfen zu verknüpfen (vgl. Mecheril/Klingler 2010: 99f.). Die Differenzierung studentischer Biographien ist historisch betrachtet kein neues Phänomen, sondern wird in der Hochschulforschung im Zusammenhang der Bildungsexpansion bereits seit Langem thematisiert. Seit den 1960er Jahren hat sich das Bild der Universität als Bildungsort überwiegend männlicher Studierender aus bürgerlichen Schichten erheblich gewandelt. Der Ausbau des Bildungswesens sowie die Möglichkeit des zweiten Bildungswegs haben universitäre Bildung zu einer biographischen Option für immer breitere Bevölkerungskreise werden lassen. Der Anteil der Studienberechtigten am jeweiligen Altersjahrgang hat sich in Deutschland seither erheblich erhöht. Betrug er im Jahr 1970 nur etwas mehr als 11% eines Altersjahrgangs (vgl. BMBF 2012), so sind heute 55% eines Jahrgangs studienberechtigt (vgl. Middendorff et al. 2013: 2). Dabei haben verschiedene gesellschaftliche Gruppen unterschiedlich von den Bildungsreformen profitiert. Insbesondere Frauen haben ver-
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stärkt Zugang zu Hochschulbildung gefunden; sie stellten im Jahr 2012 47% der Studierenden in Deutschland (vgl. Statistisches Bundesamt 2014). Allerdings sind sie insbesondere in den Sozial- und Geisteswissenschaften vertreten, während die technischen und naturwissenschaftlichen Fächer nach wie vor männlich dominiert sind. Für Studierende aus Familien ohne akademische Tradition sind durch die Fachhochschulen vermehrt Bildungsaufstiege möglich geworden, während die Teilhabe an universitärer Bildung weiterhin nur eingeschränkt gegeben ist (vgl. Multrus/Ramm/ Bargel 2011: 2; Middendorff et al. 2013: 78). Auch Studierende aus migrierten Familien sind heute stärker an Hochschulen repräsentiert als noch vor wenigen Jahren (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2014: 38). Wenngleich die Heterogenität der Studierenden nach Hochschulform und Fachdisziplin unterschiedlich ausgeprägt ist, lässt sich festhalten, dass die Figur des ‚Normalstudenten‘ – jung, männlich, monolingual, Weiß1, christlich, aus bürgerlichen Verhältnissen und ökonomisch abgesichert – schon seit Längerem nicht mehr der Vielgestaltigkeit studentischer Lebenswirklichkeiten entspricht (vgl. Friebertshäuser 2006a: 171). Die skizzierten Pluralisierungstendenzen bildeten bereits in den 1980er Jahren einen zentralen Ausgangspunkt für die Entwicklung biographieorientierter Ansätze in der Studierendenforschung (vgl. Friebertshäuser 2006b: 298). Die in den 1980er und 1990er Jahren entstandenen Forschungsarbeiten2 unterscheiden sich hinsichtlich ihrer theoretischen und methodologischen Vorverständnisse und methodischen Zugänge zwar zum Teil erheblich. Gemeinsam ist ihnen jedoch, dass sie „die subjektiven Erfahrungen, Selbst- und Weltdeutungen, Bewältigungsstrategien und Orientierungen der Studierenden im Kontext ihrer bisherigen Biographie“ (ebd.: 297) in den Mittelpunkt rücken. Die vorliegenden Arbeiten haben studentische Biographien dabei insbesondere vor dem Hintergrund sozialer und geschlechterbezogener Ungleichheitsverhältnisse und mit Blick auf die subjektive Verarbeitung sozialer Mobilitätsprozesse untersucht. Sie befassen sich – in der Sprache der damaligen Zeit – u.a. mit Biographien und Handlungsstrategien studierender „Arbeitertöchter“ (Bublitz 1980; Theling 1986; Schlüter 1993; 1999) oder mit den Erfahrungen von Studentinnen in verschiedenen, oft männlich dominierten, Fachkulturen.3 Empirisch untersucht wurden auch die Le1
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Die Großschreibung wird hier gewählt, um deutlich zu machen, dass der Begriff nicht essentialistisch verwendet wird, sondern es sich dabei um eine Kategorie handelt, die Ausdruck einer rassifizierenden Unterscheidungslogik ist, durch die Personen als ‚Weiß‘ bzw. ‚nicht-Weiß‘ bzw. ‚Schwarz‘ identifiziert werden. Eine Übersicht dazu vermitteln die Beiträge von Friebertshäuser/Kraul (2002) und Friebertshäuser (2006b). Diese kategoriale Betrachtung von Geschlechter- und Klassenzugehörigkeiten stellt einen zeittypischen Ausdruck einer sich als ‚parteilich‘ verstehenden Forschung dar, die auf die Skandalisierung kollektiver Benachteiligungen von Studierenden entlang der Differenzlinien Klasse und Geschlecht abzielt. Sie führt allerdings teilweise auch zu (unbeabsichtigten) Typisierungen der Studierenden(gruppen). Die kategoriale Betrachtung sozialer Differenz(ierungs)kategorien stellt allerdings kein genuines Merkmal biographischer Forschungszugänge dar, sondern steht dazu in einem Spannungsverhältnis. Biographische Zugänge beinhalten gerade das Potenzial, soziale Typisierungen aufzubrechen und den Blick für die Besonderheiten individueller Biographien zu schärfen (vgl. Dausien 2006: 189).
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bensgeschichten von Studentinnen in Frauenstudiengängen (v. Felden 2002). Unter dem Eindruck der zunehmenden Differenzierung von Zugangswegen zum Studium haben in jüngerer Zeit auch Biographien und Studienerfahrungen sogenannter „nichttraditioneller Studierender“ Beachtung gefunden, die auf dem zweiten oder dritten Bildungsweg ins Studium gelangen (vgl. Alheit 2005; Alheit et al. 2008). Mit Blick auf Migrationsprozesse und die Einbindung in migrationsgesellschaftliche Differenzverhältnisse sind Biographien von Studierenden bislang noch wenig beleuchtet worden. In neueren Debatten um Diversität an Hochschulen geraten Studierende ‚mit Migrationsgeschichte‘ überwiegend als Zielgruppe pädagogischer Förder- und Unterstützungsangebote in den Fokus (vgl. Ruokonen-Engler 2013; Satilmis/Niehoff/Kaufmann 2013). Dabei werden sie als potenziell benachteiligte Gruppe betrachtet. Diese Perspektive wird mit der Feststellung anhaltender sozialer Ungleichheiten im Bildungswesen begründet, die sich auch in der ungleichen Beteiligung von jungen Erwachsenen ‚mit‘ und ‚ohne‘ Migrationsgeschichte an universitärer Bildung zeigen. Akademische Bildungswege von jungen Erwachsenen mit Migrationsgeschichte sind in Deutschland statistisch betrachtet noch immer keine Selbstverständlichkeit. Zwar erzielen Schüler*innen ohne deutschen Pass laut Schulstatistik insgesamt bessere Schulabschlüsse als noch vor wenigen Jahren. Infolge ihrer geringeren Zugangschancen zu Schulformen, die zum Abitur führen, erlangen sie jedoch noch immer deutlich seltener eine Studienberechtigung (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 92; Diefenbach 2010). Im Anschluss an bildungssoziologische Forschungen ist davon auszugehen, dass nicht nur die Schule, sondern auch das Hochschulsystem selbst daran beteiligt ist, soziale Ein- und Ausschlüsse herzustellen, von denen Studierende in unterschiedlichem Maß betroffen sind (vgl. Bourdieu/Passeron 1971). Nicht alle, die ihren Weg an die Hochschule gemacht haben, schließen ihr Studium auch erfolgreich ab. Dafür sprechen nicht nur die hohen Abbruchquoten unter Studierenden, die als Bildungsinländer*innen bezeichnet werden (vgl. Burkhart/Heublein/Wank 2011). In einzelnen Forschungsarbeiten rücken zudem Diskriminierungserfahrungen und Benachteiligungen in den Blick, von denen Studierende im Verlauf ihres Bildungsweges und in der Hochschule betroffen sein können (vgl. Discher/Plößer 2010; Berthold/Leichsenring 2012; Satilmis et al. 2013; Bleicher-Rejditsch et al. 2014). Dazu zählen institutionelle Zugangshürden, die insbesondere Quereinsteiger*innen ins deutsche Hochschulsystem betreffen, ebenso wie soziale Ausgrenzungserfahrungen. Thematisiert werden zudem Informationslücken, soziale Fremdheitserfahrungen der Studierenden im Wissenschaftssystem und Schwierigkeiten mit Deutsch als Wissenschaftssprache. Damit werden strukturelle Barrieren sichtbar gemacht, es geht damit allerdings auch eine problemzentrierte Sicht auf die Studienwege und Zugehörigkeitserfahrungen von Studierenden mit Migrationsgeschichte an der Hochschule einher. In einem Spannungsverhältnis zu dem eher problem- und defizitorientierten Diskurs der Hochschulforschung steht die Art und Weise, wie junge Erwachsene aus migrierten Familien, die höhere formale Bildungsabschlüsse erreicht haben, in der bildungs- und integrationspolitischen Debatte und Teilen der migrationswissenschaftlichen Forschung repräsentiert werden. Hier gelten sie als Repräsentant*innen ‚erfolgreicher‘ Bildungskarrieren und ‚gelingender Integration‘. Vielfach verbindet sich mit Forschungen und medialen Beiträgen zu diesem Thema das Anliegen, durch die Sichtbarmachung solcher Bildungswege einen diskursiven Gegenentwurf zu der do-
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minanten Defizitorientierung zu etablieren, welche die Diskussion um Migration und Bildung bis heute kennzeichnet. Die (neuerlichen) Exotisierungen und Etikettierungen, die damit verbunden sind, wenn Studierende und Hochschulabsolvent*innen aus migrierten Familien zu Musterbeispielen für erfolgreiche Bildungskarrieren und gelingende Integration stilisiert werden, bleiben dabei meist unreflektiert. Überdies werden die Bildungsgeschichten der Subjekte einem von außen gesetzten Deutungsund Bewertungsrahmen unterworfen, der wenig Raum lässt für die Selbstdeutungen der Subjekte und ihre möglicherweise widersprüchlichen Erfahrungen. Die Präsentation individueller ‚Erfolgsgeschichten‘ birgt zudem die grundlegende Gefahr, den meritokratischen Mythos zu bestätigen, dass Bildungserfolge allein von der Motivation, dem Engagement und den Leistungen der Individuen abhängig seien. Ins Zentrum des Diskurses um Bildungserfolg und ‚geglückte Integration‘ sind in den letzten Jahren Pädagog*innen mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte gerückt. Die Forderung nach einer Erhöhung des Anteils pädagogischer Professioneller mit Migrationsgeschichte steht mittlerweile auch auf der offiziellen bildungspolitischen Agenda der Länder und des Bundes (vgl. BAMF 2010; die Bundesregierung 2012). Erste empirische Studien zu diesem Thema im deutschsprachigen Raum zeigen, dass die (künftigen) Pädagog*innen in diesem Diskurs zu einer Projektionsfläche für vielfältige Erwartungen von unterschiedlichen Seiten werden (vgl. Georgi/Ackermann/Karakaú 2011; Akbaba/Bräu/Zimmer 2013): Sie gelten als kulturelle Mittler*innen zwischen Bildungsinstitutionen und migrierten Familien sowie als Protagonist*innen interkultureller Öffnung und Organisationsentwicklung; zudem wird ihnen eine hohe symbolische Bedeutung als Integrationsvorbilder für Schüler*innen mit Migrationsgeschichte zugeschrieben. Nicht selten wird den (angehenden) Professionellen unterstellt, sie verfügten aufgrund ihrer eigenen oder familialen Erfahrungen gewissermaßen ‚automatisch‘ über Kompetenzen, die ein professionelles Handeln unter migrationsgesellschaftlichen Bedingungen ermöglichten (kritisch dazu Akbaba et al. 2013). Die hier knapp umrissenen Diskurse bilden den Kontext für die vorliegende Arbeit. Diese nähert sich dem komplexen Untersuchungsfeld auf eine Weise, die typisierende Gruppenkonstruktionen und Problemzuschreibungen ebenso zu vermeiden sucht wie Exotisierungen. Dafür wurde ein rekonstruktiver Forschungszugang gewählt, der seinen Ausgangspunkt in den lebensgeschichtlichen Konstruktionen der Studierenden selbst nimmt. Für die empirische Untersuchung wurden fünfzehn lebensgeschichtliche Interviews mit Studentinnen und Studenten ‚mit Migrationsgeschichte‘ geführt, die an deutschen Universitäten in Lehramts- und Pädagogikstudiengängen eingeschrieben waren und sich in unterschiedlichen Phasen ihres Studiums befanden. Das Ziel der Untersuchung liegt nicht darin, differenziertes Wissen über eine bestimmte studentische ‚Zielgruppe‘ zu erzeugen. Es geht vielmehr darum, die Bildungsgeschichten, Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse und Positionierungen von Studierenden aus migrierten Familien in ihrer Vielgestaltigkeit, Mehrdeutigkeit und Kontextualität empirisch sichtbar zu machen und dadurch die Typisierungen, die sich in den skizzierten Debatten abzeichnen, infrage zu stellen. Die Arbeit bewegt sich dabei in dem für das Untersuchungsfeld grundlegenden Spannungsverhältnis, durch die Konstruktion ihres Untersuchungsgegenstandes selbst in die Reproduktion von Gruppenkonstruktionen und Differenzverhältnissen verstrickt zu sein, die eigentlich kritisiert werden sollen. Allerdings überwiegen aus meiner Sicht die Vorteile des
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gewählten Forschungszugangs. Dieser ermöglicht es erstens, das Allgemeine ebenso wie das Individuell-Besondere in Bildungsbiographien sichtbar zu machen und damit gängige Typisierungen zu hinterfragen. Zweitens wird es möglich, die Herstellung von Teilhabe und Zugehörigkeit, Ausschlüssen und Differenz in Bildungskontexten auf der Einzelfallebene zu rekonstruieren und damit zu einem vertieften Verständnis dieser Prozesse zu kommen. Eine Besonderheit der vorliegenden Arbeit besteht darin, dass sie – im Unterschied zu bereits existierenden biographieorientierten Arbeiten über Bildungsaufstiege und Bildungserfolge im Kontext von Migration – die Erfahrungen der Studierenden im Kontext universitärer Bildung ins Zentrum rückt. Analysiert wird, wie sich die Subjekte zur Universität und zum (pädagogischen) Studium ins Verhältnis setzen, wie biographische Vorerfahrungen und Sinnressourcen im Studium anschlussfähig werden und wie sich Teilhabe und Zugehörigkeit sowie Marginalisierungserfahrungen im Studium konstituieren. Eine zweite Besonderheit bildet die Fokussierung auf die Lebensgeschichten von Studierenden in Studiengängen, die für pädagogische Berufe qualifizieren. Damit ist die Frage verknüpft, welche Selbst- und Fremdpositionierungen mit der beruflichen Stellung der Pädagog*in ‚mit Migrationsgeschichte‘ in diesem Feld verknüpft sind. Die Fragen für die empirische Untersuchung wurden in zwei Komplexe gefasst: 1. Wie gestalten sich die Bildungsbiographien von Studierenden im Kontext (migrations-)gesellschaftlicher Differenzverhältnisse? Wie konstruieren die Studierenden ihre Bildungsgeschichten? Welche Voraussetzungen und Ressourcen ermöglichen den Studierenden die Teilhabe an universitärer Bildung? Welche Zugehörigkeits- und Marginalisierungserfahrungen machen die Subjekte in den Institutionen des Bildungssystems? Wie (trans-)formieren sich Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen im Verlauf der Lebensgeschichte? 2. Welche biographischen Prozesse und Erfahrungen verbinden sich mit dem (pädagogischen) Studium? Wie werden biographische Erfahrungen im Kontext des (pädagogischen) Studiums anschlussfähig? Wie positionieren sich die Studierenden im (Bildungs-)Kontext Universität und wie werden sie als angehende Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ positioniert? Den übergreifenden theoretischen und methodischen Rahmen der Arbeit bilden Perspektiven und Konzepte der sozial- und erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Damit wurde ein theoretisch-methodischer Zugang gewählt, der es ermöglicht, die Bildungswege und -geschichten der Subjekte in ihrer jeweiligen Komplexität und Prozesshaftigkeit zu betrachten. Das Forschungsinteresse an Bildungsbiographien bezieht sich dabei sowohl auf formale Qualifikationsprozesse als auch auf „übergreifende[…] Formationsprozesse von Sinn und Erfahrung“ (Dausien 2001a: 59), d.h. die Verknüpfung bildungsrelevanter Erfahrungen zu subjektiven Sinnkonstruktionen in den lebensgeschichtlichen Erzählungen. Wenngleich sich Bildung im
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so verstandenen Sinne nicht auf formale Bildungsgänge beschränkt, gilt eine besondere Aufmerksamkeit der Frage, wie sich die Subjekte in institutionellen Bildungskontexten entwerfen und positionieren können. Der biographieanalytische Ansatz wird dabei mit zugehörigkeitstheoretischen Überlegungen (vgl. Mecheril 2003) verknüpft, die es ermöglichen, die Lebensgeschichten als eine sequenzielle Abfolge von Relationen der Subjekte zu bildungsrelevanten Kontexten zu lesen, in denen sich biographische Erfahrungsressourcen und Zugehörigkeitsverständnisse herausbilden und transformieren. Die Relationierung zwischen biographischen Subjekten und bildungsrelevanten Kontexten wird als ein mehrdimensionaler Prozess der Herstellung von Zugehörigkeit betrachtet (vgl. ebd.), in dem sich die Einzelnen zum jeweiligen Kontext ins Verhältnis setzen und ins Verhältnis gesetzt werden. In der empirischen Analyse werden die Zugehörigkeitskonstruktionen der Subjekte zu den jeweiligen Bildungskontexten in der sequenziellen Struktur der Lebensgeschichte in den Blick genommen. Es wird rekonstruiert, wie sich Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse im Durchlaufen verschiedener Bildungsräume im Verlauf der Lebensgeschichte (trans-)formieren und welche Bedingungen dazu beitragen, dass sich die Subjekte in den jeweiligen Kontexten (nicht) als zugehörig entwerfen können. Aufbau der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in vier Teile. Im ersten Teil erfolgt eine Annäherung an das Forschungsfeld, indem verschiedene Diskussionsstränge beleuchtet werden, zu denen die vorliegende Studie in Verbindung steht. Das Ziel besteht darin, verschiedene Perspektiven der Diskussion und relevante Forschungsergebnisse darzustellen und auf dieser Basis Leerstellen und Anknüpfungspunkte zu identifizieren, an denen die eigene Forschung ansetzt. Dabei werden im Anschluss an eine kurze Einführung ins Forschungsfeld zunächst bereits vorliegende qualitativ-empirische Studien vorgestellt, die sich mit den Biographien und Bildungswegen von Akademiker*innen mit Migrationsgeschichte befassen (Kap. 2). Anschließend werden Studien und Befunde aus dem Bereich der Hochschulforschung in den Blick genommen, die sich auf Studierende ‚mit Migrationshintergrund‘ beziehen (Kap. 3). Im dritten Schritt wird auf die Diskussion um Lehrkräfte ‚mit Migrationsgeschichte‘ und auf Forschungen zu den Berufswegen und -erfahrungen der Pädagog*innen eingegangen (Kap. 4). Ausgehend davon werden im zweiten Teil der Arbeit der theoretische Rahmen (Kap. 5) und die methodologische Anlage der eigenen Studie und das methodische Vorgehen im Forschungsprozess erläutert (Kap. 6). Der dritte Teil bildet das empirische Kernstück der Arbeit. Hier werden vier Einzelfalldarstellungen präsentiert, die im Sinne einer theoriegenerierenden Forschungslogik entlang fallkontrastierender Merkmale ausgewählt wurden (vgl. Strauss 1998: 70). Anhand der vier Fälle werden unterschiedliche Varianten bildungsbiographischer Prozesse und Zugehörigkeitskonstruktionen dargestellt. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rekonstruktion der Einbettung des Studiums in die Lebensgeschichten. Die Fälle werden entlang einer theoretisch reflektierten Gliederungsstruktur präsentiert, die sie miteinander vergleichbar macht, aber dennoch offen genug für die Darstellung individueller Besonderheiten ist. Im vierten und letzten Teil der Arbeit werden die fallübergreifenden Ergebnisse der Analyse dargestellt. Dabei werden zunächst zentrale Dimensionen der bildungs-
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biographischen Prozessverläufe ausgearbeitet, die aus dem Vergleich der vier Fallanalysen sowie weiteren Quervergleichen zwischen Fällen des Gesamtsamples resultierten (Kap. 11). Die Ergebnisse dieser Vergleiche werden in fünf Teilkapiteln präsentiert, die in einer zeitlichen Ordnungsstruktur gegliedert sind und jeweils theoretisch kontextualisiert werden. Abschließend werden zentrale Analyseergebnisse unter Rückbindung an die relevanten Linien der wissenschaftlichen und praxisbezogenen Diskussion noch einmal reflektiert (Kap. 12). Anmerkungen zur verwendeten Sprache Sprachliche Differenzierungs- und Bezeichnungspraxen sind in der migrationswissenschaftlichen Debatte seit Längerem ein Gegenstand (selbst-)kritischer Auseinandersetzungen (vgl. z.B. Mecheril/Teo 1994; Foroutan 2010; Utlu 2011). Bezeichnungen wie ‚mit Migrationshintergrund‘ und ‚mit Migrationsgeschichte‘ werden zu Recht als Ausdruck einer dichotomen Differenzierungspraxis kritisiert, die die Subjekte als „Migrationsandere“ (Mecheril 2004) markiert und bestätigt oder auch erst hervorbringt. Durch vereinheitlichende Bezeichnungen wie diese werden Individuen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungsgeschichten als homogene Gruppe konstruiert und auf einen Aspekt ihrer Geschichte reduziert, dessen subjektive Relevanz zudem nicht vorausgesetzt werden kann. Diesem Problem entgeht keine der gängigen Differenzierungs- und Bezeichnungspraxen. Dennoch ist gerade in Untersuchungsfeldern, in denen Etikettierungen sehr verbreitet sind, ein differenzierter und reflektierter Umgang mit Sprache anzustreben. In dieser Arbeit werden kontextbezogen unterschiedliche Begriffe verwendet. Wenn der wissenschaftliche und bildungspolitische Diskurs nachgezeichnet wird, werden die hier jeweils gängigen Differenzierungs- und Bezeichnungsformen aufgegriffen und verwendet, sofern dies für das Verständnis notwendig ist. Durch das gelegentliche Setzen von einfachen Anführungszeichen wird der Konstruktionscharakter der verwendeten Gruppenbezeichnungen markiert. Ansonsten werden Adjektivkonstruktionen wie Studierende aus migrierten Familien4 bevorzugt, die deutlicher machen, dass die Wanderungsgeschichte und die damit verbundenen Erfahrungen und sozialen Positionszuweisungen lediglich eine Dimension biographischer Erfahrung darstellen, die für die Lebensgeschichten und Zugehörigkeitskonstruktionen der Subjekte in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext unterschiedlich relevant sein kann. Das Problem der Reifizierung von Differenz besteht allerdings nicht nur auf der Ebene von Sprache und lässt sich aus meiner Sicht deshalb auch nicht in erster Linie durch die Wahl von oder den Verzicht auf bestimmte Gruppenbezeichnungen lösen. Es erfordert vielmehr auch methodologische Reflexionen und die Wahl von Forschungszugängen, die es ermöglichen, typisierende Gruppenkonstruktionen als solche zu hinterfragen (vgl. dazu Kap. 6).
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Ich ziehe den offeneren Begriff „gewanderte“ oder „migrierte Familien“ der Bezeichnung „eingewanderte Familien“ vor, weil Einwanderung einen einmaligen Wechsel aus einem nationalen Kontext in einen anderen suggeriert, der den Migrationsverläufen in den Familien meiner Interviewpartner*innen nicht in allen Fällen entspricht.
TEIL I – Annäherungen an den Kontext der Forschung
In diesem ersten Teil der Arbeit wird ein vertiefender Überblick über wissenschaftliche Forschungen und Diskurse gegeben, die für die Verortung der eigenen Studie in der Forschungslandschaft relevant sind. Dabei werden drei Stränge der wissenschaftlichen Diskussion genauer fokussiert: Nach einem kurzen, einführenden Überblick über die Thematisierung von Lebenswirklichkeiten Jugendlicher und junger Erwachsener mit Migrationsgeschichte in der deutschsprachigen erziehungswissenschaftlichen Forschung werden zentrale subjektorientierte Forschungsarbeiten über Bildungserfolge und Bildungsaufstiege in der Migrationsgesellschaft vorgestellt, an die die vorliegende Studie anknüpft (Kapitel 2). Anschließend wird die Forschungslage zum Thema Migration in der Studierendenforschung skizziert (Kapitel 3). Zuletzt wird auf die bildungspolitischen Diskussion über Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte und der Stand der Forschung zu beruflichen Erfahrungen und professionellen Selbstverständnissen der Pädagog*innen eingegangen (Kapitel 4). Jedes Kapitel endet mit einem kurzen Resümée. Ziel der Ausführungen ist es, zentrale Perspektiven und Ergebnisse der derzeitigen wissenschaftlichen Forschung transparent zu machen und zu reflektieren sowie offene Fragen und Anknüpfungspunkte zu markieren, die sich daraus für die Anlage der eigenen Arbeit ergaben. Die Ausführungen zu den drei Forschungssträngen bilden aber nicht nur fachinterne Diskurse ab, sondern geben auch einen Einblick in öffentlich verbreitete ‚Wissensbestände‘ zum Thema Migration und Bildungserfolg. Diese stellen ihrerseits einen Kontext oder Hintergrund für die Selbstkonstruktionen und Verortungen der interviewten Studierenden dar, die sich dazu – teilweise explizit, teils implizit – ins Verhältnis setzen.
2. Bildungserfolge und Bildungsaufstiege in der Migration – eine Reflexion subjektorientierter Forschungen1
Die Thematisierung von Bildungserfolgen und Bildungsaufstiegen im Kontext von Migration ist in der interkulturellen Bildungsforschung vergleichsweise neu. Bis in die 1990er Jahre hinein sind die Lebens- und Bildungsverläufe von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ‚mit Migrationshintergrund‘ in der migrationswissenschaftlichen Forschung vor allem aus einer Problem- und Defizitperspektive betrachtet worden (vgl. Geisen 2007).2 Zentral war dabei das Paradigma einer kategorialen Modernitätsdifferenz zwischen Einwandererfamilien und Mehrheitsgesellschaft, die als Ursache für erhebliche psychische Belastungen und sogenannte Kulturkonflikte ausgemacht wurde. Diese wurden als charakteristisch für die Lebenssituation von Migrant*innen und der nachfolgenden Generation angesehen. Dabei fanden vielfach Kulturkonzepte Verwendung, die von einem ‚Containermodell‘ einheitlicher und in sich geschlossener (National-)Kulturen ausgingen. Die Lebenssituation der Gewanderten galt auch nach der Migration als wesentlich durch die Strukturen der so gedachten ‚Herkunftskultur‘ geprägt. Den im Einwanderungsland aufwachsenden Jugendlichen der Folgegeneration wurde darum die Erfahrung einer „doppelten kulturellen ‚Heimatlosigkeit‘“ (Geisen 2007: 32) zugeschrieben, die ihre Position zwischen der Elterngeneration und der (Mehrheits-)Gesellschaft kennzeichne und die Identitätsentwicklung der Jugendlichen erschwere. Die Problematisierung des Auf1
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Die Auseinandersetzung mit Bildungserfolgen im Kontext von Migration findet gegenwärtig sowohl im Rahmen quantitativ-empirischer Bildungsforschung als auch in qualitativ angelegten Studien statt. In den nachfolgenden Ausführungen beschränke ich mich auf die Auseinandersetzung mit Forschungsarbeiten, die – wie die vorliegende Studie – mit qualitativen, subjektorientierten Ansätzen arbeiten. Auf quantitative Befunde zur schulischen Bildungssituation von Jugendlichen aus migrierten Familien wird nicht eigens eingegangen. Zusammenfassende Darstellungen dazu finden sich u.a. bei Gogolin/Krüger-Potratz (2006) und Diefenbach (2010). Befunde zu den Bildungswegen Studierender, die für die vorliegende Studie unmittelbar relevant sind, werden in Kapitel 3.2 besprochen. Bei den nachfolgenden Ausführungen orientiere ich mich neben eigenen Recherchen an Eckpunkten einer Überblicksdarstellung von Thomas Geisen (2007) zur deutschsprachigen Diskussion über die Lebenssituation von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte.
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wachsens ‚zwischen den Kulturen‘ erzeugte eine Sichtweise, die die psychische Situation der Kinder eingewanderter Eltern in erster Linie als konflikthaft, „kulturell zerrissen“ (Czock 1993: 84) und belastend erscheinen ließ. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Forschungen (z.B. Boos-Nünning 1976; Schrader/Nikles/Griese 1976) basieren auf Modellen der Identitätsentwicklung, welche die Entwicklungsund Sozialisationsprozesse von gewanderten Kindern und Jugendlichen als gefährdet erscheinen ließen. Sie sind später vielfach kritisiert worden (vgl. z.B. BenderSzymanski/Hesse 1987: 179 ff.; Czock 1993: 84 ff.), nicht zuletzt deshalb, weil Kinder und Jugendliche aus migrierten Familien „lediglich als reaktiv Spannung, Konflikte und Belastungen empfangende Resonanzkörper“ (Mecheril/Melter/Melter 2006) betrachtet wurden. Ende der 1980er Jahre wird für die Interkulturelle Pädagogik insgesamt eine Perspektivverschiebung konstatiert, die in der Literatur als Verschiebung des Defizitdiskurses hin zu einem Differenzdiskurs beschrieben wird (vgl. Diehm/Radtke 1999: 128f.). Im Hinblick auf die Bewertung der Lebenssituation von Migrant*innen bzw. der „Migrationsfolgegenerationen“ (Mecheril 2003: 19) korrespondiert diese Perspektivverschiebung mit der zunehmenden Entdeckung der Ressourcen und Kompetenzen von Migrant*innen und Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, die als Ergebnis von Migrationserfahrungen oder des Aufwachsens mit mehreren natio-ethnokulturellen Bezugssystemen gedeutet und als ‚Bereicherung‘ verstanden werden (vgl. Geisen 2007: 34). Wenngleich diese Perspektive die defizitorientierte Sicht auf das Aufwachsen unter Migrationsbedingungen bricht, unterliegt sie weiterhin der Gefahr eines kulturalisierenden Differenzverständnisses. Zudem trägt die Fokussierung auf die natio-kulturelle Zugehörigkeit zu einer Vernachlässigung der Relevanz weiterer relevanter Zugehörigkeits- und Ungleichheitsaspekte für die Identifizierungen und Positionierungen Jugendlicher bei. Die essentialistische Konzeption von kultureller Identität und Differenz ist seit den frühen 1990er Jahren zunehmend kritisiert worden. Einen wichtigen Anstoß dazu gaben Theorieansätze aus dem Bereich der britischen Cultural Studies (vgl. Hall 1994a) und den Postcolonial Studies (vgl. Said 1978; Bhabha 1994), die den Konstruktionscharakter sozialer Identitätskategorien aufzeigten und die diskursiven Prozesse der Herstellung sozialer und kultureller Zugehörigkeiten und Differenzen ins Zentrum stellten (vgl. Riegel 2004: 44). Ethnizität und kulturelle Identität lassen sich demnach nicht als wesenhafte ‚Merkmale‘, sondern als soziale und kulturelle Konstruktionen verstehen, die in hegemonialen (Macht-)Räumen hergestellt werden. Sie beschreiben keine ‚substanziellen‘ Differenzen zwischen Individuen oder Gruppen, sondern sind ein Ergebnis von Unterscheidungs- und Klassifizierungsakten, die durch nationalstaatliche Grenzziehungen sowie rassifizierende und ethnisierende Diskurse und Alltagspraxen hervorgebracht und aufrechterhalten werden. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Kategorie der Identität. Die Kritik an der normativen Vorstellung eines einheitlichen, mit sich selbst identischen Subjekts bezieht sich dabei sowohl auf die Ebene kollektiver als auch individueller Identitäten. Entgegengesetzt werden dieser Vorstellung verschiedene Konzepte, die Identitäten als fragmentierte und fluide Konstruktionen betrachten. Sie verweisen auf die Entstehung „neue[r] Ethnizitäten“ (Hall 1994b), die sich durch das Überschreiten binärer Identitätskatego-
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rien und durch ‚hybride‘ alltagskulturelle Praxen auszeichnen.3 Diese Einsichten, die im deutschsprachigen erziehungs- und sozialwissenschaftlichen Diskurs rezipiert und weiterentwickelt worden sind, haben in der erziehungswissenschaftlichen Migrationsforschung zu einer Dekonstruktion essentialistischer und naturalisierender Verständnisse von Identität beigetragen. Die Angemessenheit des Paradigmas kultureller Differenz als Analysekategorie für Lebenswirklichkeiten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Migrationsgeschichte wurde in der Folge ebenso infrage gestellt wie das ihm zugrundeliegende normative Konzept einer eindeutigen und einheitlichen (kulturellen) Identität. Zu einer Erweiterung der theoretischen Perspektiven haben darüber hinaus auch die neueren Debatten um Intersektionalität beigetragen, die in der US-amerikanischen Frauen- und Geschlechterforschung ihren Ausgang nahmen und seit der Jahrtausendwende in der deutschsprachigen Debatte verstärkt aufgenommen worden sind (vgl. Lutz 2001; Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010).4 Die Einbeziehung des Zusammenspiels verschiedener sozialer Differenz- und Ungleichheitsdimensionen wie Nationalität, Ethnizität, Klasse, Geschlecht und sexuelle Orientierung begünstigt eine Dezentrierung von Nationalität und Ethnizität als ‚Masterkategorien‘ in empirischen Analysen und ermöglicht eine differenziertere Betrachtung der Komplexität sozialer Differenzierungen, Hierarchisierungen und Zugehörigkeitskonstruktionen (vgl. z.B. Weber 2009). In der Rezeption dieser theoretischen Neuerungen haben sich die Perspektiven in der empirischen Forschung zu den Lebenswirklichkeiten und Selbstentwürfen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in der Migrationsgesellschaft erheblich differenziert. Festzustellen ist zunächst, dass sich der Fokus von der Thematisierung kultureller Differenzen bzw. unterstellter Modernitätsdifferenzen zwischen den ‚Her3
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Das Konzept der Hybridität ist auch in die Kritik geraten (vgl. Ha 2005). Diese richtet sich dabei u.a. auf die biologistischen Assoziationen, die durch die Verwendung einer Metapher aus dem Bereich der Botanik resultieren. Auch wird kritisiert, dass mit dem Konzept der Hybridität vor allem Lebensformen von Subjekten beschreibbar werden, die ökonomisch und kulturell privilegiert sind – Künstler*innen, Intellektuelle, Manager*innen –, deren Lebensstil ganz bestimmte Formen von Hybridität ermöglicht, die gesellschaftliche Legitimität beanspruchen können. Hingegen stoßen andere Formen ‚hybrider‘ Lebensführung weitaus schneller an Grenzen der gesellschaftlichen Akzeptanz. Dies zeigt etwa die Diskussion um das Tragen des Kopftuchs in öffentlichen Ämtern (vgl. Karakaúoƣlu 2003; Human Rights Watch 2009). Das postmoderne Zelebrieren hybrider Lebensentwürfe geht also mit der Gefahr einher, die Handlungsmöglichkeiten der Einzelnen zu überschätzen und die Bedeutung von Macht- und Dominanzverhältnissen zu unterschätzen, in denen diese Selbstentwürfe gelebt werden (müssen). Die Diskussion um die Verschränkung unterschiedlicher Differenz- und Diskriminierungskategorien hat ihren Ursprung in der Kritik Schwarzer Frauenrechtlerinnen an der Fokussierung der feministischen Bewegung auf die Unterdrückungserfahrungen Weißer Mittelschichtsfrauen (vgl. Lutz/Herrera Vivar/Supik 2010: 10). Das Konzept der Intersektionalität im engeren Sinne geht auf die US-amerikanische Juristin Kimberlé Crenshaw (1991) zurück, die damit die Mechanismen des Zusammenwirkens verschiedener Diskriminierungsdimensionen und die Verkürzungen einer eindimensionalen Analyse einzelner, isolierter Differenzkategorien beschreibt.
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kunftsgesellschaften‘ und der ‚Aufnahmegesellschaft‘ dahingehend verschoben hat, dass die rechtlichen, politischen und sozialen Bedingungen des Migrations- bzw. Einwanderungskontexts zunehmend in den Blick genommen werden. Anders als in den frühen Studien zu Migrationsverläufen, in denen die Strukturen der Herkunftsländer als bestimmend für die Lebensentwürfe der Subjekte angesehen wurden, sind mittlerweile die rechtlichen und politischen Rahmenbedingungen, die Institutionen und Diskurse der Einwanderungsgesellschaft stärker ins Zentrum gerückt, die Lebensentwürfe in der Migration maßgeblich strukturieren und limitieren. Es werden gesellschaftliche Macht- und Dominanzverhältnisse (vgl. Rommelspacher 1995), Diskurse und Praxen beleuchtet, in denen Differenzen, Marginalisierungen und Privilegierungen entlang nationaler und ethnischer Kategorien hergestellt und aufrecht erhalten werden (vgl. Dannenbeck/Eßer/Lösch 1999). Dabei werden auch die Routinen und Alltagspraxen in Bildungsinstitutionen und von Professionellen beleuchtet, die ihrerseits daran beteiligt sind, dass Marginalisierungen reproduziert und Teilhabemöglichkeiten erschwert werden (vgl. Weber 2003; Melter 2006; Gomolla/Radtke 2009; Terkessidis 2010). Angesichts veränderter Migrationsmuster in der globalisierten Welt und der Transnationalisierung von Migration haben sich des Weiteren veränderte Konzepte der Beschreibung von Lebenswirklichkeiten und Zugehörigkeitskonstruktionen unter Bedingungen globaler Migration etabliert. Die Aufmerksamkeit für Selbstverständnisse und (Alltags-)Praxen, die einwertige Identitätskonzepte überschreiten oder unterlaufen, ist gewachsen (vgl. Otyakmaz 1995; Badawia 2002). Die Lebenswirklichkeiten, Selbstverständnisse und Positionierungen von Subjekten in der Migrationsgesellschaft werden auf diese Weise als Ausdruck „natio-ethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeiten“ (Mecheril 2003), „postmigrantische[r] Perspektiven“ (Yildiz 2015) und „transnationaler Biographien“ (z.B. Siouti 2013) beschreibbar. Schließlich hat die zunehmende Nutzung subjekt- und biographieorientierter Forschungszugänge dazu beigetragen, dass die Lebenswelten der Subjekte nicht mehr allein aus einer „szientistischen“ (Mecheril 2003: 34) Außensicht beschrieben, sondern die Binnenperspektiven der Subjekte selbst ins Zentrum gestellt werden.5 Dadurch rücken die Handlungspotenziale und -formen sowie die Selbstverständnisse und Selbstpositionierungen der Individuen in den Fokus. Insbesondere die Situation junger Frauen ist vor diesem Hintergrund in veränderter Weise beleuchtet und interpretiert worden (vgl. z.B. Hummrich 2002; Riegel 2004; Mannitz 2006). Während ihre Situation lange Zeit primär aus einer Opferperspektive beschrieben wurde (vgl. dazu Ochse 1999; Huth-Hildebrandt 2002), werden Mädchen und Frauen in biographisch ausgerichteten Studien als Akteurinnen und Konstrukteurinnen ihrer Lebensgeschichten sichtbar. Der Perspektivwechsel hin zu einer stärker ressourcenorientierten Sichtweise beinhaltet auch eine wachsende Aufmerksamkeit für die Erfahrungen von jungen Erwachsenen mit Migrationsgeschichte, die höhere Bildungsabschlüsse erworben bzw. 5
Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass in der Forschungslandschaft insgesamt eine Perspektivverschiebung dieser Art stattgefunden hätte. Im Gegenteil haben gerade Forschungen, die die Bildungssituation von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte aus einer quantifizierenden Außenperspektive untersuchen, seit den PISA-Studien erheblich an Bedeutung gewonnen.
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eine akademische Laufbahn eingeschlagen haben. Inzwischen liegt eine Reihe von Arbeiten zum Thema Bildungserfolge und Bildungsaufstiege in der Migration vor. Die bislang entstandenen Arbeiten sind mit der hier vorliegenden Forschung dadurch verbunden, dass sie die Bildungswege, Handlungsstrategien und Erfahrungen von Schüler*innen, Studierenden und Hochschulabsolvent*innen aus einer subjekt- und biographieorientierten Perspektive untersuchen. Dies macht eine genauere Auseinandersetzung mit den vorliegenden Studien notwendig, um anschließend eigene Schwerpunktsetzungen und Perspektiven konturieren zu können. Nachfolgend wird daher zunächst ein Überblick über die Anlage und die wichtigsten Ergebnisse der bislang vorliegenden Studien gegeben (2.1). Anschließend wird reflektiert, welche Konsequenzen und Anschlussperspektiven sich aus der Beschäftigung mit diesem Arbeiten für die inhaltliche Ausrichtung der eigenen Forschung ergeben haben (2.2).
2.1 B ILDUNGSERFOLGE UND B ILDUNGSAUFSTIEGE K ONTEXT VON M IGRATION – ZENTRALE EMPIRISCHE S TUDIEN
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Ein frühes Beispiel für eine Untersuchung zu den Bildungswegen studierender Migrantinnen stellt die Studie „Leben in zwei Welten – Migrantinnen und Studium“ von Rita Rosen (1997) dar. Für diese qualitative Auftragsstudie wurden die Töchter von Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei interviewt, die ein Studium aufgenommen haben. Rosen geht der Frage nach, „welche Handlungsmuster und Strategien junge Frauen entwickeln um zum Studium zu gelangen und es erfolgreich zu gestalten“ (ebd.: 53). Die Studentinnen werden in Rosens Studie dabei emphatisch als „Avantgarde einer postmodernen Gesellschaft“ (Rosen 1997: 122) portraitiert. Damit grenzt sich die Autorin vom dominanten Problemdiskurs ab, der bis dahin die Mehrzahl der Beiträge über junge Migrantinnen – insbesondere ‚türkischer Herkunft‘ – auszeichnet. Durch die Sichtbarmachung einer Gruppe von Migrantinnen, deren Lebenswege im Widerspruch zu dem Topos der ‚unterdrückten Türkin‘ stehen, soll diese problem- und defizitorientierte Sichtweise kritisiert werden.6 Die Studie kann insofern als ein Versuch gewertet werden, den Perspektivwechsel vom Defizitparadigma zu einer Kompetenzorientierung in der sogenannten Migrantinnenforschung zu vollziehen.7 Problematisch ist dies nicht zuletzt deshalb, weil die Figur der ‚modernen‘, ‚emanzipierten‘ Studentin ihre Kontur erst durch ihr Gegenbild erhält: die Konstruktion der traditionell lebenden, patriarchalen Machtverhältnissen unterworfenen (meist als ‚türkisch-muslimisch‘ gedachten) Migrantin. Die Studentinnen werden als Kontrast6
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Christine Huth-Hildebrandt (2002) hat diesen Diskurs systematisch aufgearbeitet. Die Bedeutung dieses Diskurses spiegelt sich auch in den Beiträgen anderer Autor*innen wider, die sich von der defizitzentrierten Sicht auf Migrantinnen aus der Türkei abgrenzen. So betont z.B. Akbulut (1993: 254) „ausdrücklich [...] die Existenz der emanzipierten türkischen Studentinnen“, die „ein Bild des ‚Widerstands‘ im Sinne eines starken ‚Selbstbewusstseins‘ >vermitteln@“ (ebd.). Die Studentinnen werden dabei als Gegenbilder zu der im Diskurs dominanten Figur der ‚unterdrückten Türkin‘ konstruiert. Zur Entwicklung und zum Verlauf der bundesdeutschen ‚Migrantinnenforschung‘ vgl. Ochse (1999).
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figuren zu einer „andere[n] Gruppe der Mädchen“ konstruiert, die von ihren Familien „auf die traditionelle Frauenrolle festgelegt“ (ebd.: 4) würden und „einen traditionellen, von den Müttern vorgelebten Weg in die Abhängigkeit“ (ebd.) gingen. In dieser Gegenüberstellung wird somit eine dichotome Unterscheidung zwischen Traditionalität und Modernität re-etabliert, die in der Geschichte der Interkulturellen Pädagogik als Traditionalitäts-Modernitäts-Paradigma problematisiert wird, und die insbesondere den (sozial-)pädagogischen Diskurs über Frauen in der Migration kennzeichnet (vgl. Huth-Hildebrandt 2002). Während die These der Modernitätsdifferenz hier jedoch meist für die Konstruktion einer Differenz zwischen den Lebensweisen von ‚einheimischen‘ Frauen und Migrantinnen herangezogen wird, fungiert sie hier als Mittel der Oppositionsbildung zwischen als ‚modern‘ und als ‚traditionell‘ lebend markierten Migrantinnen. Einige weitere Arbeiten befassen sich mit den Bildungs- und Berufswegen von Migrantinnen, die akademische Bildungsabschlüsse erreicht haben. Encarnación Guttiérrez-Rodríguez (1999) beschäftigt sich in ihrer Dissertation Intellektuelle Migrantinnen – Subjektivitäten im Zeitalter von Globalisierung mit Subjektivierungsprozessen in den Biographien von Migrant*innen, die sich selbst als Intellektuelle positionieren. Unter Bezugnahme auf biographietheoretische Überlegungen, die sie mit postkolonialen und poststrukturalistischen Theorieperspektiven verbindet, geht die Autorin den Prozessen nach, die die Frauen in der Migration erleben. Sie zeigt unter anderem auf, dass für die Biographien der Interviewten Prozesse der „Geschlechtsethnisierung“ (ebd.: 252) bestimmend sind, d.h. Vergeschlechtlichung und Ethnisierung sind simultan bedeutsam für Subjektivierungsprozesse. Eine konkrete Folge dieser ineinandergreifenden Machtverhältnisse für die Biographien der Frauen besteht darin, dass diese ihre hohen formalen Bildungsabschlüsse nicht in eine adäquate Position am (deutschen) Arbeitsmarkt umsetzen können. In den untersuchten Fällen werden diese Erfahrungen zum Anlass für Politisierungsprozesse. Die Frauen entwickeln ein politisches Selbstverständnis und positionieren sich als Aktivistinnen. Kritisch gegenüber einem Bild von Migrantinnen mit hoher Formalbildung als Pionierinnen der Postmoderne positioniert sich Ulrike Ofner in ihrer Arbeit Akademikerinnen türkischer Herkunft (2003: 289f.). Sie befasst sich mit den Bildungs- und Berufsbiographien von erwerbstätigen Akademikerinnen türkischer Herkunft und fragt nach Konstellationen, die den Bildungs- und Berufserfolg der jungen Frauen ermöglicht haben sowie nach ihren beruflichen Positionierungen und Entfaltungsmöglichkeiten. Ein besonderes Interesse der Autorin gilt der Bedeutung ethnisch differenzierter Segmente des Arbeitsmarkts für die Bildungs- und Berufswege der Frauen. Die empirische Basis der Studie bilden narrative Interviews mit Frauen der ‚zweiten Generation‘, die zu den sogenannten Bildungsinländerinnen zählen. Ofner präsentiert zunächst ausführliche Fallrekonstruktionen und nimmt anschließend eine „vergleichende Analyse relevanter Sozialisations- und Verortungsprozesse“ (Ofner 2003: 12) vor, die sich auf unterschiedliche Phasen des Lebensverlaufs der Interviewten beziehen: Einbindung und Ablösung von der Familie, Schulverlauf, Studienwahlprozesse, Interaktionsprozesse mit Schul- und Studienkolleg*innen sowie berufliche Prozesse und Familienplanung (vgl. ebd.: 233). Ofners Studie gibt – auch durch die Präsentation langer Materialstücke – interessante Einblicke in die individuellen Fallgeschichten. Diese machen einerseits die Vielfalt der Erfahrungen und Handlungsweisen in den Bildungs- und Berufswegen der interviewten Frauen deut-
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lich, andererseits werden viele Hürden sichtbar, die diese Wege erschwert haben. Ofners Arbeit ist auch eine der wenigen, in der das Studium als Lebensphase nicht ausgeblendet, sondern zumindest am Rande thematisiert wird. Allerdings bleibt die Darstellung stets nahe an den Einzelfällen. Schahrzad Farrokhzad (2007) knüpft mit ihrem Forschungsinteresse an Ofners Arbeit an. In ihrer Dissertation über Akademikerinnen mit Migrationshintergrund: Gesellschaftliche Rahmenbedingungen und biographische Erfahrungen beschäftigt sie sich mit den Werdegängen von Hochschulabsolvent*innen türkischer und iranischer Herkunft und legt ihren Fokus dabei ebenfalls auf Bildungs- und Berufswege. Die Arbeit fußt auf biographischen Interviews mit Frauen, die überwiegend selbst im Kindes-, Jugend- oder Erwachsenenalter nach Deutschland eingewandert sind. Die Gemeinsamkeit besteht darin, dass alle Frauen das deutsche Bildungssystem (zumindest teilweise) durchlaufen haben, über einen akademischen Abschluss verfügen und zum Zeitpunkt der Untersuchung in unterschiedlichen Feldern erfolgreich beruflich tätig waren. Farrokhzad fragt nach den Voraussetzungen und Handlungspotenzialen, die die Bildungs- und Berufswege der Frauen ermöglicht haben, sowie nach den Hürden und Barrieren, denen sie auf diesem Weg begegnet sind. Beleuchtet werden besonders die Schulbiographien und die Erfahrungen der Frauen am Arbeitsmarkt. Die Autorin nimmt dabei eine biographieorientierte Perspektive ein, indem sie das Zusammenspiel von gesellschaftlichen Rahmenbedingungen in der Migration und Handlungspotenzialen der Frauen im Zusammenhang individueller Lebensgeschichten in den Blick nimmt. Neben biographietheoretischen Überlegungen orientiert sich die Autorin an der Kapitaltheorie Bourdieus sowie an Perspektiven der Migrationsund Geschlechterforschung. Neben einer Reihe von Einzelfallpräsentationen, in denen die Lebens- und Bildungswege der Interviewten nachvollzogen werden, arbeitet die Autorin im Vergleich der Biographien Themenfelder aus, die für das Verstehen der Werdegänge der Interviewten entscheidend sind. Im Hinblick auf die Bildungsbiographien zeigt Farrokhzad unter anderem auf, dass gerade informelle Bildungsprozesse für den Bildungsweg der Frauen eine besondere Bedeutung haben. Diese können sich beispielsweise in politischen Traditionen in der Familie zeigen, die von den Eltern an die Töchter weitergegeben werden. Politische Bewusstseinsbildung und gesellschaftspolitisches Engagement stellen für die Akteur*innen in einigen Fällen entscheidende Grundlagen für die Wahrnehmung von Handlungsmöglichkeiten dar und sind somit als potenziell relevante Ressourcen für die Bildungswege der Frauen zu betrachten. Eine der wenigen Studien, die sich systematisch mit dem Verhältnis von familialen und schulischen Sozialisationsprozessen in den Biographien studierender Migrantinnen befassen, ist die Arbeit Bildungserfolg und Migration von Merle Hummrich (2009).8 Sie macht die Biographien aufstiegsorientierter Migrantinnen zum Gegenstand, deren Bildungswege – angesichts der statistisch messbaren Bildungsbeteiligungsquoten – als „erwartungswidrige Karriereverläufe“ (ebd.: 9) erscheinen. Hummrich fragt auf der Basis biographisch-narrativer Interviews nach den „Bedingungen für Bildungserfolg studierender Migrantinnen und nach ihren Erfahrungen im Umgang mit den Sozialisationsinstanzen Familie und Schule in Bezug auf die Indivi8
Die Studie wurde 2002 zum ersten Mal veröffentlicht und 2009 in einer stark überarbeiteten Fassung und unter Berücksichtigung neuerer Diskurse erneut aufgelegt.
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duation“ (ebd.: 9). Die Autorin richtet ihren Fokus auf die Individuationsspielräume der Akteurinnen, die sie unter anderem unter dem Aspekt der Generationenbeziehungen untersucht. Dabei fokussiert sie die Beziehungskonstellationen in den Lebensbereichen Schule und Familie. Hummrich stützt sich in ihrer Analyse unter anderem auf das Modell der Generationenambivalenz im Anschluss an Lüscher und Liegle, mit dessen Hilfe sie Strategien der intergenerationalen Statustransformation und -reproduktion beschreibt. Sie kommt zu dem Schluss, „dass sich Individuation vor dem Hintergrund antinomischer Strukturen vollzieht, die sowohl in familialen als auch in schulischen Handlungsräumen eine bedeutsame Rolle spielen“ (ebd.: 221). Im Hinblick auf die familialen Beziehungen wird sichtbar, dass die Generationenbeziehung zu den Eltern eine hohe Bedeutung in den Biographien der jungen Frauen besitzt, „auch dann, wenn sie als ambivalent oder brüchig erlebt wird“ (ebd.: 211). Hummrich geht nicht von traditionellen Orientierungen in der Elterngeneration aus, sondern weist darauf hin, dass sich bereits hier die Orientierung an Modernisierungsanforderungen abzeichnet, die sich unter anderem in der Migration und dem Brüchigwerden von Milieubindungen dokumentiert (vgl. ebd.). Der Wunsch einer fortgesetzten sozialen Statustransformation wird an die Kinder herangetragen und mit Bildungserwartungen verknüpft, die diese erfüllen sollen. Damit verbinden sich einerseits Spielräume für Autonomie und Freisetzung der Kinder. Allerdings werden zum Teil auch heteronome Vorgaben an die Kinder herangetragen, die in einzelnen Fällen für die Statustransformation der Familie funktionalisiert werden, oder einem „strukturellen Bindungszwang“ (ebd.) unterliegen, der von den Eltern ausgeht. Im Hinblick auf die Schule zeigt sich, dass die Schüler*innen die paradoxe Erfahrung machen, dass sie – im Widerspruch zu dem modernen Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit – „nicht als Gleiche unter Gleichen anerkannt werden, sondern aufgrund stereotyper Zuschreibungen [...] beurteilt werden“ (ebd.: 220). Indem den Schüler*innen unterstellt wird, dass sie die „schulischen Leistungsanforderungen aufgrund eines Modernitätsdefizits nicht erfüllen >könnten@“ (ebd.: 216), wird das moderne Postulat der Chancengleichheit ad absurdum geführt. So müssen die Befragten in den von Hummrich untersuchten Fällen ihren Bildungserfolg vielfach gegen die Schule erbringen. Dennoch spricht Hummrich der Schule auch zu, die entscheidende Institution für Wissensvermittlung und die „Vermittlung universalistischer Welt- und Sachbezüge“ (ebd.: 221) zu sein. Zudem erfüllt sie insofern eine wichtige Funktion für die Autonomiespielräume der Jugendlichen, als sie das „Heraustreten aus den familialen Generationsbeziehungen und eine Auseinandersetzung mit den kulturellen Bildungsgehalten der Gesellschaft“ (ebd.: 221) ermöglicht. Die Ausgangsfrage nach den „Individuationschancen bildungserfolgreicher Migrantinnen“ (ebd.: 235) beantwortet Hummrich abschließend dahingehend, dass sich mit Prozessen sozialer Statustransformation durchaus unterschiedliche Individuationsspielräume verbinden können. Formale Bildungserfolge gehen nicht automatisch mit Autonomiegewinn und vergrößerten Handlungsspielräumen einher. Vor dem Hintergrund ihrer sozialisationstheoretischen Heuristik unterscheidet Hummrich drei Ausformungen der Transformation (aktive, reproduktive und ambivalente Transformation), mit denen sich jeweils unterschiedliche „Individuationsgewinne“ (ebd.: 236) verbinden. Grundlegend für Individuationschancen ist Hummrich zufolge die emotionale Anerkennung in der Familie, durch die unter Umständen auch negative Schulerfahrungen kompensiert werden können. Diese emotionale Anerkennung wird
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in Fällen, in denen die Kinder von den Eltern für die Transformation des sozialen Status der Familie funktionalisiert werden, konterkariert. Die Schule bietet ebenfalls Chancen, birgt aber vor allem Risiken für die Individuation, die durch eine Vorenthaltung kognitiver und sozialer Anerkennung und die Negation von Autonomiepotenzialen konstituiert werden (vgl. ebd.: 237). Als besonders chancenreich werden solche Individuationsverläufe beschrieben, in denen sich die Akteur*innen als handlungsfähig erleben und ihre Aktivität sowohl seitens der Eltern als auch durch die Schule unterstützt wird. Auch die Studie Lebensgeschichten studierender Aussiedlerinnen. Migration, Adoleszenz und Bildungserfolg im biographischen Erfahrungs- und Lernzusammenhang junger Frauen von Mandy Ruhland (2009) untersucht den Zusammenhang von Bildungserfolg und Individuationsprozessen im Kontext von Migration. Ruhlands Studie stellt dabei die Bildungswege junger Aussiedlerinnen ins Zentrum, die bislang in der Forschung vernachlässigt werden. Ihr Forschungsinteresse bezieht sich „auf den Zusammenhang von Migration, (weiblicher) Adoleszenz, Individuation und biographischem Lernen (ebd.: 22), wobei sie insbesondere die „Bedeutung von Schulerfolg für die Individuation“ (ebd.: 23) beleuchtet. Anhand von drei Fallstudien der Lebensgeschichten junger Aussiedlerinnen, die Ruhland detailliert analysiert und vergleicht, kommt sie zu dem Schluss, dass sich Individuationsprozesse in der Adoleszenz unter den Bedingungen einer etwa gleichzeitig stattfindenden Migration grundlegend anders gestalten als im Lebenszusammenhang von Jugendlichen ohne Migrationserfahrung: „Die von Aussiedlerjugendlichen in Deutschland erlebten Anforderungen an die migrationsbedingten sowie die damit konvergierenden adoleszenten Umstellungsprozesse sind anders akzentuierte und gestaltete als die von nicht gewanderten Jugendlichen“ (ebd.: 431). Die Bindung an die Familie, die aus der gemeinsamen Migrationsgeschichte und den spezifischen Erfahrungen des Lebens als Minderheit im Herkunftsland resultieren, führen demnach zu einem besonderen familialen Zusammenhalt. Individuationsprozesse werden deshalb nicht in Form von Konflikten mit den Eltern vollzogen. „Die Einvernehmlichkeit mit den Eltern blieb ein selbstverständliches Gebot, was Autonomieentwicklungen auf eine seelische Differenzierung sowie spezifische Bereiche außerfamilialen und schulischen Agierens konzentrierte“ (ebd.: 432). Dabei spielt der formale Bildungserfolg eine entscheidende Rolle – das Streben nach Schulerfolg steht in den untersuchten Lebensgeschichten zwar im Einklang mit den elterlichen Wünschen, jedoch wird es von den jungen Frauen auch als eigenständiges Handlungsschema entworfen, mit dem sie die Transformationsanforderungen durch die Migration zu bewältigen suchen. Dabei erhalten sie durch die Schule allerdings wenig Unterstützung. Die Lebensgeschichten der jungen Frauen zeichnen sich deshalb – entgegen verbreiteter Annahmen in der Adoleszenz- und Geschlechterforschung – trotz der aufrecht erhaltenen Bindung an die Herkunftsfamilie nicht durch eine „mangelhafte Individuation“ (ebd.: 435) aus, was sich u.a. darin zeigt, dass die Töchter andere biographische Entwürfe verfolgen als ihre Mütter (vgl. ebd.: 473). Eine Reihe weiterer Arbeiten fokussiert spezieller die Thematik von Bildungsmobilität in der Migration. Mit Bildungsaufstiegen im urbanen Raum beschäftigt sich die sozialgeographische Studie Ethnizität und Raum im Aufstiegsprozess. Eine Untersuchung zum Bildungsaufstieg in der zweiten türkischen Migrantengeneration von Andreas Pott (2002). Im Zentrum steht die Frage, welche Handlungsformen die
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Jugendlichen und jungen Erwachsenen entwickeln, um die Anforderungen des Aufstiegs zu bewältigen. Dabei werden besonders die Bedeutung sozialräumlicher Lebenszusammenhänge sowie von Ethnizität als Identitätskategorie als mögliche Ressourcen für Bildungsaufstiegsprozesse fokussiert. Die Studie ist als eine ethnographische Feldforschung konzipiert und bezieht sich auf die Statuspassage des Übergangs der Jugendlichen von der gymnasialen Oberstufe ins Studium. Aus dem gesammelten Datenmaterial wurden acht kontrastierende Fälle ausgewählt, die gemäß einer rekonstruktiven Methodologie sequenzanalytisch ausgewertet wurden. Als Ergebnis seiner Analysen identifiziert Pott unterschiedliche Strukturmuster des Zusammenhangs von Bildungsaufstiegserfahrungen und der Bezugnahme auf Ethnizität und Raum. Während einige Jugendliche aufgrund der negativen Besetzung von Migration und Ethnizität den Rekurs auf diese Identitätskategorien vermeiden und eher andere Identitätsbezüge wählen, kann Ethnizität und können ethnisch markierte Räume (beispielsweise Vereine oder religiöse Gemeinschaften) von anderen als Ressource im Aufstiegsprozess genutzt werden. Subjektive Bezugnahmen auf Ethnizität und ethnisch markierte Handlungsräume müssen also dem Bildungsaufstieg nicht entgegenstehen, sondern können den Individuen im Gegenteil die Konstruktion erfolgreicher Bildungs- und Berufskarrieren ermöglichen. In Potts Sample werden auch zwei Beispiele präsentiert, in denen sich die Interviewten für pädagogische Studiengänge (Lehramt, Diplom-Pädagogik) entschieden haben. Dabei zeigt sich, die biographische Erfahrung der Migration und das Aufwachsen in mehrsprachigen Kontexten von den Studierenden als Ressource für die Aneignung von Studieninhalten und den beruflichen Selbstentwurf angeeignet werden (vgl. ebd.: 311ff. sowie 398ff.). Pott kommt daher zu dem Schluss, dass „die multikulturelle Studentin, der ethnisch-kulturelle Intellektuelle sowie der Experte für Migrations- und Ethnizitätsfragen […] attraktive Identitätsmodelle für Studierende aus Migrantenfamilien [sind]“ (ebd.: 417). Die Frage, wie diese Identitätskonstruktionen biographisch vermittelt sind, bleibt aufgrund des gewählten methodischen Zugangs aber weitgehend offen.9 Die Studie Erfolgreiche Migranten im deutschen Bildungssystem – und es gibt sie doch von Ulrich Raiser (2007) widmet sich den Lebensläufen Jugendlicher, deren Eltern aus der Türkei und aus Griechenland nach Deutschland eingewandert sind.10 Die empirische Datenbasis sind biographische, leitfadengestützte Interviews. Ausgehend von der Frage, „wie es unter den gegebenen Bedingungen einer klassenspezifischen Sozialisation zum Bildungserfolg kommen kann“ (ebd.: 69), geht Raiser den Gründen und Konstellationen für den Bildungsaufstieg unter Jugendlichen dieser beiden Gruppen nach. Ausgehend von Theoriebezügen entwickelt er ein differenziert ausgearbeitetes theoretisches Modell, das als Analyseinstrument an die Interviews angelegt 9
Bei der Interpretation des Materials werden keine biographischen Zusammenhänge herausgearbeitet, sondern die Gespräche werden als „Interaktionsprotokolle“ (ebd.: 175) behandelt und interpretiert. Da es sich bei der Erhebungsmethode „offener Gespräche“ (ebd.: 156) um eine Kommunikationsform handelt, die stark dialogisch geprägt ist, wird der Interaktion zwischen Forscher und Interviewten in der Analyse viel Raum gegeben. 10 Diese Auswahl wurde getroffen, weil beide Gruppen hinsichtlich ihres sozialen Status in den Herkunftsländern vergleichbar sind, ihre Bildungsbeteiligung und das Niveau der erreichten Abschlüsse in Deutschland aber voneinander abweichen.
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wird. Eine zentrale Schlussfolgerung der Studie besteht darin, dass ein „migrationsspezifisches soziales Kapital“ (ebd.: 181) charakteristisch für die Lebensläufe der Bildungsaufsteiger*innen sei. Dieses beruht einerseits auf sozialen Beziehungen und Netzwerken, andererseits auf den „Normen und Verpflichtungen“ (ebd.: 162), die aus den Erfahrungen der Migration resultieren. Die sozialen Normen in der Familie, das wechselseitige Solidaritätsprinzip sowie soziale Netzwerke werden von den Kindern als soziales Kapital für ihre Bildungsprojekte genutzt. Dieses migrationsspezifische Sozialkapital unterscheidet die Lebensläufe und Erfahrungen sowie die Strategien des Bildungsaufstiegs von Jugendlichen mit Migrationsgeschichte (in beiden der untersuchten Gruppen) der Einschätzung des Autors zufolge grundlegend von denen ‚einheimischer‘ Bildungsaufsteiger*innen (vgl. ebd.: 182). So hätten letztere weit weniger Hemmungen, in ihren Lebenswegen von den Plänen der Eltern abzuweichen, da sie nicht an eine kollektive Verantwortung für das Migrationsprojekt der Familie gebunden seien (vgl. ebd.: 172). Kritikwürdig erscheint die Unterscheidung zweier Gruppen von Bildungsaufsteiger*innen, die als „Individualisten“ und „Kollektivisten“ gelabelt werden. Diese Typologie legt erstens eine binäre Sichtweise auf Bildungsaufstiege in der Migration nahe, die in ihrer Polarität stark vereinfachend ist.11 Zweitens ist bereits die Bezeichnung der Typen normativ aufgeladen und reproduziert kulturalisierende Deutungen. Diese durchziehen auch die Typenbeschreibungen: Individuationsspielräume werden allein den dem Typus der „Individualisten“ zugeordneten jungen Erwachsenen zugesprochen, deren Eltern sich an westlichen Werten und Normen orientieren. Dagegen werden die Eltern der dem Typus der „Kollektivisten“ zugeordneten Fälle, denen eine Orientierung an der ‚ethnischen Community‘ (statt an ‚der deutschen Mehrheitsgesellschaft‘), der familiären Gemeinschaft und einem autoritären Erziehungsstil attestiert wird, als Repräsentant*innen einer vormodernen Lebensweise konstruiert und typisiert. Dabei bleibt ausgeblendet, dass die Entscheidung zur Migration bereits aus einer Orientierung an Modernisierungsanforderungen resultiert. Mit der Annahme, dass die Haltungen der Eltern in einem Spannungsverhältnis zu den Werten der westlichen Gesellschaft und ihren Bildungsinstitutionen stehen, wird zudem fraglos vorausgesetzt, dass die Institutionen der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ sich an den Prinzipien Individualität und Autonomie orientieren. Ein weiteres Problem der Studie liegt darin, dass die starken theoretischen Vorannahmen, insbesondere die Orientierung an Colemans Konzept des Sozialkapitals, eine Überfokussierung der Bedeutung familial vermittelter Normen begünstigen. Dies führt zu einer Vernachlässigung subjektiver Widerstandspotenziale sowie ‚eigensinniger‘ Aneignungsprozesse auf Seiten der Kinder. Familiale Sozialisation erscheint als Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen der Vermittlung elterlicher Normvorstellungen und der kindlichen Verinnerlichung dieser Normen. Die Frage, inwiefern die Interviewten diese tatsächlich bruch-
11 Diese Art von Typologie ist in dieser Hinsicht kein Einzelfall. Verfahren der Typenbildung, die in eine Typisierung von Personen(gruppen) münden (vgl. Pott 2002; Niehaus 2008), erzeugen leicht den Eindruck, dass es sich bei den beschriebenen Typen nicht um wissenschaftliche Konstrukte, sondern um reale soziale Gruppen handele. Dies erscheint gerade in einem Forschungsfeld problematisch, in dem es ohnehin schwierig ist, durch Forschung nicht ständig neue Zuschreibungen hervorzubringen.
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los internalisieren und wo sie widerständig sind, gerät damit leicht aus dem Blick.12 Auch die Orientierung an Modellen der Lebenslaufforschung legt eine Betrachtungsweise nahe, die sich stark auf die den Individuen durch äußere Strukturen und Vorgaben auferlegten Zwänge konzentriert und subjektive Handlungsspielräume unterbewertet. Es entsteht der Eindruck, als seien die Individuen maßgeblich durch das auf der Makro- bzw. Mesoebene angesiedelte Lebenslaufregime bzw. -programm bestimmt. Der Autor spricht den Subjekten auf der Ebene ihrer biographischen Bilanzierungen zwar ein Autonomiepotenzial zu,13 es bleibt aber unklar, wie dieses Potenzial sich entwickeln und entfalten kann. Die Gestaltungsspielräume für die biographischen Handlungsentwürfe der Subjekte scheinen eng begrenzt: „Sie orientieren sich [...] an den objektiven Vorgaben und Zielen des Lebenslaufregimes einerseits und des Lebenslaufprogramms der Familien andererseits und müssen zwischen diesen navigieren“ (ebd.: 68). Beschreibungen wie diese erinnern in einigen Aspekten an den – vielfach kritisierten – Topos des Migrantenkindes „zwischen zwei Stühlen“ (vgl. Höhne/Kunz/Radtke 2005: 525ff.) Auch in der Studie Bildungserfolge mit Migrationshintergrund. Biographien bildungserfolgreicher MigrantInnen türkischer Herkunft von Ebru Tepecik (2010) stehen soziale Aufstiegsprozesse von sogenannten Bildungsinländer*innen türkischer Herkunft, die der ‚zweiten Generation‘ zugerechnet werden, im Zentrum. Die Befragten haben ein Studium abgeschlossen oder studieren noch. Die Autorin entwickelt eine biographietheoretische Perspektive und arbeitet mit rekonstruktiven Auswertungsmethoden. Sie fragt „nach den biographischen Erfahrungs-, Verarbeitungsund Handlungsmustern von bildungserfolgreichen Migrant*innen im Kontext eines Bildungsaufstiegs“ (ebd.: 15). Tepecik interessiert sich dabei sowohl für die „Ressourcen und Gelegenheitsstrukturen“ (ebd.: 16) als auch für Brüche und Hürden im Prozess des Bildungsaufstiegs sowie den Umgang der Einzelnen mit diesen Diskontinuitäten (vgl. ebd.). Theoretisch bezieht sie sich insbesondere auf das Konzept der biographischen Ressourcen (vgl. Hoerning 1989), das sie als eine Erweiterung des Bourdieuschen Konzepts des inkorporierten kulturellen Kapitals in biographietheoretischer Hinsicht versteht (ebd.: 54f.). In Anlehnung an das Konzept des inkorporierten kulturellen Kapitals identifiziert Tepecik als Resultat ihrer Untersuchung ein „migrantenspezifisches Bildungskapital“ (ebd.: 304), das in den Familien der Interviewten tradiert wird. Den Kern dieses Bildungskapitals sieht sie in einem positiven Bildungsbewusstsein auf Seiten der Eltern und in der intergenerationalen Weitergabe von Bildungsaufträgen an die Kinder (vgl. ebd.). Die Genese dieses Bildungskapitals steht mit den Erfahrungen versagter Bildungs- und Aufstiegsmöglichkeiten in der Elterngeneration in Verbindung, die intergenerational tradiert werden. Tepecik geht davon aus, dass das familial vermittelte
12 Beim Typus der „Kollektivisten“ wird davon ausgegangen, dass die Kinder bis zum Studienbeginn konform mit den elterlichen Normen und Erwartungen gehen. Erst bei Studienbeginn spricht der Autor ihnen Autonomiepotenziale für die eigene Studienfachwahl zu. 13 Die Subjekte setzen sich mit ihren Lebenslaufprojekten „von den familiären Erwartungen ab und treffen autonome Entscheidungen an den spezifischen biographischen Wendepunkten“ (ebd.: 72). (Mit Wendepunkten sind Entscheidungsstellen bzw. Übergänge im Bildungsverlauf gemeint).
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Bildungskapital auch deshalb zu den erfolgreichen Bildungskarrieren der Kinder beitrage, da es in einem Passungsverhältnis zu den Anforderungen der Bildungsinstitutionen stehe (vgl. ebd.: 305). Wie die Anforderungen der Bildungsinstitutionen und die bildungsrelevanten biographischen Ressourcen der Subjekte konkret zusammenwirken, wird jedoch nicht genauer ausgearbeitet. In der Forschungsarbeit BildungsaufsteigerInnen aus benachteiligten Milieus nimmt Aladin El-Mafaalani (2012) eine vergleichende Untersuchung von Bildungsaufstiegsprozessen von „Einheimischen und Türkeistämmigen“ vor. Dafür wurden biographisch-narrative Interviews mit beruflich erfolgreich etablierten sozialen Aufsteiger*innen geführt. Die Studie zielt darauf ab, habituelle Transformationsprozesse im Verlauf des Bildungsaufstiegs zu beschreiben und Unterschiede und Gemeinsamkeiten im Vergleich der beiden Gruppen herauszuarbeiten (vgl. ebd: 313). Den theoretischen Rahmen der Untersuchung bilden die Habitustheorie Bourdieus sowie bildungstheoretische Ansätze der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung. Mit dem Verfahren der dokumentarischen Methode arbeitet der Autor zwei divergierende Modi von Bildungsaufstiegsprozessen heraus, in denen jeweils mehrere Phasen der Habitustransformation unterschieden werden. Während eine grundlegende Gemeinsamkeit der Prozesse zunächst darin liegt, dass in der Adoleszenz Differenzerfahrungen zu einer „Phase der Irritation“ (ebd.: 315) führen, wird diese Irritation von den Subjekten verschieden bearbeitet. Dabei werden zwei grundlegende Verarbeitungsmuster unterschieden, die sich in beiden Gruppen zeigten – während die Habitustransformationen in einigen Fällen im Modus „empraktischer Synthesen“ erfolgen, indem „Altes und Neues in Beziehung gesetzt […] und Differenzen durch Ausbalancieren bewältigt werden“ (ebd.: 316), ist für andere Aufstiegsprozesse der Modus einer „reflexiven Opposition“ (ebd.: 211ff.) gegenüber der Kultur und den Praxisformen des Herkunftsmilieus charakteristisch. Als zentrale Differenz zwischen den Aufstiegsgeschichten zwischen den beiden Untersuchungsgruppen sieht der Autor die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen in den jeweiligen Herkunftsmilieus an, die verschiedene biographische Dynamiken nach sich ziehen. Während sich die Sozialisationsbedingungen in den Familien der als „einheimisch“ bezeichneten Bildungsaufsteiger*innen demnach milieuspezifisch stark voneinander unterscheiden, wird „das türkische Gastarbeitermilieu“ (ebd.: 282) dabei als ein weitgehend homogenes Sozialisationsumfeld beschrieben, das sich „durch traditionelle Formen der Sozialität (Moral, Respekt, Autorität, Kollektivität“) (ebd.) auszeichne.14 Die in den Familien tradierten Loyalitätsanforderungen in Kombination mit den hohen elterlichen Bildungsaspirationen werden als Ursache dafür ausgemacht, dass sich die Ablösung vom familialen Herkunftsmilieu für Bildungsaufsteiger*innen aus gewanderten Familien besonders komplex gestaltet. Zudem müssten diese Jugendlichen im Aufstiegsprozess „eine weitere Strecke [der Entfer14 In seiner Interpretation bezieht sich der Autor auf das von Arndt-Michael Nohl (2001) entwickelte Modell der „Sphärendifferenz“. Als „zentrales Charakteristikum eines migrationsspezifischen Erfahrungsraums“ (Bohnsack/Nohl 2001: 23) gilt demnach die „Differenz zwischen zwei strikt voneinander abgegrenzten Bereichen der Lebens- und Alltagspraxis: dem Bereich der Familie, Verwandtschaft und ethnischen Community einerseits und dem der gesellschaftlichen Öffentlichkeit und ihrer Institutionen andererseits“ (ebd.: 22; Hervh. i. Orig.).
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nung von habituellen Mustern des Herkunftsmilieus, D.S.] hinter sich legen […], da die familiale Sozialisation einen Habitus tradiert, der auf Existenzbedingungen im ländlichen Raum der türkischen Gesellschaft abgestimmt ist“ (El Mafaalani 2012: 321). Mit dieser Interpretation werden die Herausforderungen des Aufstiegsprozesses insbesondere auf die Differenz zwischen den familialen Ausgangsbedingungen („innerer Sphäre“) und dem außerfamilialen gesellschaftlichen Erfahrungsraum („äußerer Sphäre“) zurückgeführt. Die gewanderten Familien erscheinen dabei als ein homogenes, traditionell-konservatives Milieu, für das ein „aus dem Herkunftsland tradierte[r] Sozialitätsmodus“ (ebd.: 137) als charakteristisch beschrieben wird, und das erst durch den Bildungsaufstieg der Kinder eine Modernisierung erfährt. An dieser Stelle zeigen sich ähnliche Verkürzungen wie sie bereits für die Typenbeschreibung der „Kollektivisten“ in der Studie von Raiser (2007) festgestellt wurden. Bildungsaufstiegsprozesse von Jugendlichen ‚mit‘ und ‚ohne‘ Migrationsgeschichte werden auch in mehreren Beiträgen von Vera King thematisiert (vgl. King 2006; 2008). Fokussiert werden dabei insbesondere die psychosozialen Anforderungen und Bewältigungsformen, die mit solchen Prozessen verbunden sind. Bildungsaufstiege erfordern demnach die Verarbeitung komplexer „Transformationsanforderungen“ (King 2008: 103), die aus dem Zusammenspiel adoleszenzspezifischer Ablösungsprozesse und aufstiegstypischen Generationsdynamiken resultieren. In Bildungsaufstiegsprozessen können Individuationsmöglichkeiten für die Heranwachsenden demnach durch Verpflichtungs- und Schuldgefühle den Eltern gegenüber begrenzt sein, die ihren Kindern den Bildungsaufstieg oft um den Preis eigener Opfer und Entbehrungen ermöglichen. Zudem können „Gefühle[…] der Scham und Enttäuschung“ (ebd.) über begrenzte Unterstützungsmöglichkeiten seitens der Eltern zu Belastungspotenzialen werden. Unter den Bedingungen von Migration verschärft sich diese Anforderungsstruktur potenziell dadurch, dass Heranwachsende aus gewanderten Familien „trotz erfolgreicher Bildungskarrieren doch kaum vorbehaltlos in ‚etablierten Positionen‘ als zugehörig aufgenommen […] werden“ (King 2008: 102). Eigene Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen können die adoleszente Ablösung also zusätzlich erschweren. King zeigt aber auch auf, dass diese Herausforderungen in sehr unterschiedlicher Weise bearbeitet werden. Eine zentrale Schlussfolgerung ihrer Analysen besteht darin, dass bei der Untersuchung ungleicher Bedingungen für Bildungserfolge nicht allein die Verfügung über kulturelles Kapital zu berücksichtigen ist (vgl. ebd.: 103). Vielmehr sind auch die psychosozialen Anstrengungen und Bewältigungsleistungen der Subjekte ernst zu nehmen und als eigenständige Analysedimension in Rechnung zu stellen.
2.2 R EFLEXIONEN ZU DEN VORLIEGENDEN S TUDIEN K ONSEQUENZEN FÜR DIE EIGENE F ORSCHUNG
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Den vorgestellten Forschungsarbeiten ist gemeinsam, dass sie einen subjektorientierten Zugang wählen, um Bildungswege und Aufstiegsprozesse im Kontext von Migration zu untersuchen. Sie arbeiten auf der Grundlage von empirischem Material, das als ‚biographisch‘ bezeichnet werden kann. Meist handelt es sich dabei um Interviewmaterial, das mithilfe unterschiedlicher Interviewverfahren generiert wurde.
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Zwar bilden Lebensgeschichten in der Mehrzahl der Studien das empirische Material, jedoch liegt nicht allen Studien auch ein reflektiertes Konzept von ‚Biographie‘ zugrunde. Auch zeigen sich große Unterschiede in der Bedeutung von (weiteren) Theorien bei der Bearbeitung des Materials. Während sich einige Studien bereits auf einen relativ ausgearbeiteten Theorierahmen stützen, anhand dessen das Datenmaterial interpretiert wird, folgen andere Arbeiten einem offeneren Vorgehen. Ein stärker theoriebasierter Zugang erweist sich dabei einerseits als fruchtbar für die Theoretisierung empirischer Ergebnisse, andererseits birgt eine ‚Überfrachtung‘ mit theoretischen Vorannahmen auch das Risiko, nicht mehr offen für nicht erwartete Phänomene zu sein, die sich im Material zeigen können. Es erscheint daher angemessen, mit theoretischen Konzepten zu arbeiten, die eher den Stellenwert von Heuristiken haben als den Status theoretischer Modelle. Die bislang vorliegenden Studien zeigen einerseits, dass biographisch angelegte Forschungen das Potenzial enthalten, Bildungswege und -erfahrungen in ihrer individuellen Komplexität zu rekonstruieren. Andererseits stellt das biographische Material allein keine Gewähr für die Vermeidung von Essentialisierungen dar. Unter bestimmten Bedingungen tragen biographische Studien ihrerseits zu einer Bestätigung typisierender Differenzkonstruktionen bei, etwa wenn formal ‚bildungserfolgreichen‘ jungen Erwachsenen aufgrund ihrer Migrationsbiographie besondere sozio-kulturelle Kompetenzen zugeschrieben werden (vgl. Griese/Schulte/Sievers 2007) oder sie als moderne Gegenbilder zu ‚traditionellen Migrant*innen‘ konstruiert werden. Auch die Deutung der Herausforderungen von Bildungsaufstiegen als Ausdruck eines Modernisierungsgefälles zwischen den Institutionen der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und den Orientierungen in den Herkunftsfamilien leistet kulturalisierenden Interpretationen Vorschub. Um dies zu vermeiden, erscheinen Ansätze geeignet, die das theoretische Potenzial des Biographiekonzepts nutzen und eine analytische Sensibilität für gesellschaftliche Machtverhältnisse einzunehmen versuchen. Auch wenn sich alle der vorgestellten Arbeiten im weiteren Sinn auf Bildungswege in der Migration beziehen, unterscheiden sie sich hinsichtlich der Konzeptionen ihres Gegenstandes. So wird Bildung in stärker bildungssoziologisch orientierten Studien vor allem unter dem Aspekt der Formalbildung betrachtet, während Arbeiten, die sich an Konzepten der erziehungswissenschaftlichen Biographieforschung orientieren, meist ein breiteres Bildungsverständnis zugrunde legen, das auch Prozesse der Erfahrungsbildung sowie der Konstitution und Konstruktion von Subjektivität und Identität einbezieht. Darüber hinaus fällt auf, dass die bisher vorliegenden Arbeiten ihren Schwerpunkt auf die Rekonstruktion der Bedeutung des Elternhauses und innerfamilialer Beziehungen für ‚Bildungserfolge‘ und Bildungsaufstiege sowie auf Erfahrungen während der Schullaufbahn legen. Dagegen werden Sozialisations- und Bildungsprozesse im Kontext Hochschule und die Bedeutung der Studienerfahrungen für die Selbst- und Weltverhältnisse der Subjekte wenig thematisiert. Für eine Fokussierung der Studienphase in der hier vorliegenden Arbeit sprechen mehrere Argumente: Aus einer macht- und ungleichheitstheoretischen Perspektive erscheint es wichtig, die Studienphase näher zu betrachten, da der Zugang zu Hochschulbildung als einer der Übergänge im Bildungssystem gilt, an denen Weichen für zukünftige Bildungs- und Lebenschancen gestellt werden. Die Teilhabe an Hochschulbildung ermöglicht den Erwerb wissenschaftlicher Qualifikationen, die bedeutsam für den Zugang zu qualifizierten beruflichen Positionen sind (vgl. Wolter 2005:
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13). In Anlehnung an Pierre Bourdieus Konzept des „institutionalisierten kulturellen Kapitals“ (vgl. Bourdieu 1997) lassen sich formale Bildungsabschlüsse als ‚Eintrittskarten‘ verstehen, die zur Teilnahme am Spiel um anerkannte Positionen im sozialen Raum berechtigen. Mit diesen Positionen sind Spielräume für individuelle Lebensgestaltung und Möglichkeiten gesellschaftlicher Partizipation verknüpft. Nach den zeitlich vorausgehenden Übergängen in die Sekundarstufe I und in die gymnasiale Oberstufe markiert der Zugang zu Hochschulbildung daher eine zentrale Passage in Bildungsverläufen. Eine Beschränkung von Analysen auf schulische Bildungswege bis zur Hochschulreife greift daher zu kurz. Dass der Zugang zur Hochschule nicht selbstverständlich auch den erfolgreichen Abschluss des Studiums garantiert, wird deutlich, wenn man die Befunde der Studierendenforschung betrachtet. Diese weisen für einen Teil der Studierenden ‚mit Migrationshintergrund‘ erschwerte Studienbedingungen und eine hohe Studienabbruchquote nach (vgl. Kapitel 3.2). Es ist also davon auszugehen, dass auch während des Studiums noch Dynamiken wirksam werden, durch die Teilhabe an Bildungsprozessen sowie soziale Zugehörigkeitserfahrungen möglich werden oder Marginalisierungserfahrungen und (Selbst-)Ausschlüsse der Subjekte hervorgebracht werden (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; Apel 1992: 267). Dabei können sowohl sozio-kulturelle Fremdheitserfahrungen als auch Erfahrungen mit Ausgrenzung und Othering eine Rolle spielen (vgl. Discher/Plößer 2010). Umgekehrt enthält der Zugang zu Hochschulbildung aber auch das Potenzial, soziale Aufstiege zu ermöglichen und damit biographische und gesellschaftliche Gestaltungsspielräume zu eröffnen. Aus einer biographietheoretischen Perspektive auf Bildungsprozesse im Lebenslauf markiert der Übertritt ins Studium eine biographische Statuspassage (vgl. Friebertshäuser 1992), die Autonomiepotenziale ebenso beinhaltet wie die Möglichkeit einer veränderten Positionierung der Subjekte in sozialen Beziehungen. Der Übergang ins Studium beinhaltet auch die Anforderung, sich zu einem neuen Bildungsraum ins Verhältnis zu setzen. Die biographische Dynamik von Bildungswegen ist mit dem Erreichen des Abiturs nicht abgeschlossen. Wie sich dieser Übergang jedoch genauer gestaltet und wie die Subjekte sich das Studium vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungsgeschichten aneignen, ist bislang im Hinblick auf Lebensgeschichten im Migrationszusammenhang noch wenig untersucht. Es erscheint deshalb lohnenswert, der Frage nachzugehen, wie die Hochschule als Bildungskontext biographisch angeeignet wird und wie die Subjekte sich in diesem Raum positionieren können. Welche Herausforderungen, welche Erfahrungs- und Handlungsräume eröffnen das Studium und die Hochschule als Bildungsraum? Wie setzen sich die Studierenden vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Bildungsgeschichten zu diesem Raum ins Verhältnis? Wie wird das biographische Wissen der Subjekte im Studium anschlussfähig? Inwiefern sind mit dem (pädagogischen) Studium auch neue Spielräume für Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen verbunden?
3. ‚Migration‘ in der Studierendenforschung – Reflexionen zur Entwicklung eines Forschungsthemas
Nachdem im vorigen Kapitel ein Überblick über qualitative Studien gegeben wurde, die an den Biographien der Subjekte und ihren individuellen Bildungswegen ansetzten, wird die Perspektive nun auf den Forschungskontext Hochschule und die Thematisierung der Folgen von Einwanderungsprozessen1 in der Studierendenforschung gerichtet. Zunächst wird skizziert, wie sich die Wahrnehmung und die begriffliche Konstruktion von Studierenden, die als Migrationsandere in den Blick genommen werden, in diesem Feld historisch verändert hat (3.1). Anschließend wird der Forschungsstand zum Themenfeld Migration und Hochschulbildung beschrieben. Dabei werden zunächst Befunde aus repräsentativen Studierendenbefragungen vorgestellt (Kapitel 3.2), bevor anhand kleinerer Forschungsprojekte an einzelnen Hochschulstandorten Kontinuitäten und Veränderungen in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Studiensituation von Studierenden mit Migrationsgeschichte skizziert werden (3.3).
1
Unter dem Stichwort ‚Migration‘ werden in der Studierendenforschung auch die internationale Mobilität von Studierenden und die Situation von internationalen Studierenden, die zum Zweck des Studiums an eine deutsche Universität kommen, thematisiert (vgl. dazu z.B. die regelmäßige Erhebungen des DAAD und des BMBF zu Internationalisierung und internationaler Mobilität im Studium). Davon unterscheiden lassen sich Studien, in denen die migrationsbedingte Heterogenität an der Hochschule als Folge von Einwanderungsprozessen thematisiert wird. Da es in der vorliegenden Studie um die Bildungsbiographien von in Deutschland aufgewachsenen Studierenden geht, konzentriere ich mich im Folgenden auf den zuletzt genannten Forschungsbereich.
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3.1 V ON ‚ AUSLÄNDISCHEN S TUDIERENDEN ‘ ZU ‚S TUDIERENDEN MIT M IGRATIONSHINTERGRUND ‘ – V ERSCHIEBUNGEN EINER K ATEGORISIERUNGSPRAXIS Infolge der staatlich organisierten Arbeitsmigration in den 1950er und 1960er Jahren studierten Kinder der angeworbenen Arbeitsmigrant*innen – wenn auch in geringer Zahl – bereits seit Beginn der 1980er Jahre an Hochschulen in Deutschland. Sie hatten zumindest Teile ihrer Schullaufbahn in Deutschland absolviert und dort ihren Schulabschluss erworben, verfügten in der Regel jedoch nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft. Anfang der 1990er Jahre stellten diese Studierenden bereits mehr als ein Drittel all jener Studentinnen und Studenten, die in der Verwaltungssprache zunächst einheitlich als ‚ausländische‘ Studierende bezeichnetet wurden (vgl. Alkozei 1998: 12). Bis Anfang der 1990er Jahre waren sie aufgrund ihres Passes den deutschen Bewerber*innen nicht gleichgestellt, sondern unterlagen den gleichen rechtlichen Zugangsbeschränkungen wie Studierende, die aus dem Ausland für ein Studium nach Deutschland einreisen: Eine Quotierung beschränkte ihren Zugang zu zulassungsbegrenzten Studiengängen. In den medizinischen Studiengängen (Medizin, Zahnmedizin und Pharmazie) durfte der Anteil ausländischer Studierender eine Quote von 6% nicht übersteigen. Auch in anderen durch den Numerus Clausus oder örtliche Zulassungsbegrenzungen beschränkten Studiengängen galt eine Zulassungsbegrenzung für ausländische Studierende, die bei 8% lag (vgl. Alkozei 1998: 15ff.). Diese Quotierung lässt sich als eine Praxis der direkten institutionellen Diskriminierung verstehen (vgl. Gomolla/Radtke 2009), die zu einer strukturellen Benachteiligung dieser Studienberechtigten beim Hochschulzugang führte. Obwohl die Hochschulrektorenkonferenz bereits 1984 eine kritische Stellungnahme zu dieser Praxis veröffentlichte und für die rechtliche Gleichstellung von Studienbewerber*innen aus eingewanderten Familien plädierte, wurden die Zulassungsbeschränkungen für Bildungsinländer*innen2 erst in den frühen 1990er Jahren aufgehoben. Bewerber*innen aus den EU-Staaten wurden im Jahr 1991/92 den deutschen Studierenden gleichgestellt. Die Rechtsgleichheit für studienberechtigte Bildungsinländer*innen aus NichtEU-Staaten wurde erst im Wintersemester 1993/94 hergestellt (vgl. Alkozei 1998: 17). Der verwaltungsrechtlichen Behandlung von in Deutschland sozialisierten Studierenden aus eingewanderten Familien als ‚ausländische Studierende‘ entspricht auch die Betrachtung dieser Gruppe im wissenschaftlichen Diskurs. Auch hier wurde zunächst keine Unterscheidung zwischen Studierenden aus migrierten Familien und zu Studienzwecken aus dem Ausland einreisenden Studierenden getroffen (vgl. ùen/ZfT 1994: 4ff.). Die Kategorisierungspraxis orientierte sich allein am Kriterium der Staatsangehörigkeit (‚deutsch‘/‚nicht-deutsch‘). Studierende ohne deutsche Staatsbürgerschaft wurden so als einheitliche Gruppe betrachtet, obgleich davon auszugehen ist, dass sich die Lebensbedingungen und Studienvoraussetzungen derer, die
2
Der Begriff wird in der Bildungsforschung zur Bezeichnung von Personen verwendet, die nicht über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, aber ihren Schulabschluss in Deutschland erworben haben.
3. ‚M IGRATION ‘
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dieser Gruppe zugerechnet wurden, in vielen Hinsichten voneinander unterschieden.3 Anfang der 1990er Jahre etablierte sich in der Hochschulstatistik und in Studierendenbefragungen die bis heute übliche statusrechtliche Unterscheidung in Bildungsausländer*innen und Bildungsinländer*innen. Erst mit der Etablierung dieser Unterscheidung wird eine Differenzierung eingeführt, die mit einer Wahrnehmung von in Deutschland sozialisierten Studierenden aus eingewanderten Familien als eigenständiger ‚Gruppe‘ einhergeht. Mit der Einführung der Kategorie des Migrationshintergrundes in der Bildungsforschung hat sich seit einigen Jahren die Bezeichnung ‚Studierende mit Migrationshintergrund‘ etabliert. Die Variable ‚Migrationshintergrund‘ kommt in der Studierendenforschung inzwischen häufig zur Anwendung und bildet eine Grundlage für die Untersuchung der sozio-demographischen Zusammensetzung der Studierendengruppe und ihrer Studienverläufe. Damit geht auch eine veränderte ‚Zählungspraxis‘ derjenigen einher, die dieser Kategorie zugerechnet werden. So werden auch Studierende mit dem (Spät-)Aussiedler*innen-Status sowie jene, die die deutsche Staatsbürgerschaft durch Einbürgerung erhalten haben, in die Zählung einbezogen. Dies kann einerseits als Ausdruck einer differenzierenden Betrachtung ‚bildungsinländischer‘ Studierender gedeutet werden, die auf die statusrechtliche Differenzierung infolge erleichterter Einbürgerungsbedingungen und die quantitativ geringer werdende Bedeutung des Kriteriums der Staatsangehörigkeit als Differenzierungsmerkmal reagiert. Andererseits wird mit der Kategorie mit Migrationshintergrund ein immer größerer Teil Studierender, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind und über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, als „Migrationsandere“ (Mecheril 2004) markiert und auf diese Position festgeschrieben. Franz Hamburger und Eva Stauf (2009: 30) kritisieren, dass die Differenzierung zwischen ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und ‚Anderen‘ durch den Begriff des Migrationshintergrundes „auf eine diffuse Generationsgeschichte >verlagert@“ werde. Der Terminus öffne „Tür und Tor für ein detektivisches Ermitteln der exotischen Differenz und damit der Festschreibung diffuser Fremdheit“ (ebd.). Bildungsforscher*innen kritisieren überdies die forschungspraktischen Schwierigkeiten, die aus uneinheitlichen Kriterien bei der Operationalisierung des Konzepts in quantitativen Untersuchungen resultieren (z.B. Kemper 2010). Die Kombination nicht identischer Items führt zur Konstruktion unterschiedlich ‚eng‘ oder ‚weit‘ gefassten Untersuchungsgruppen, was Vergleiche zwischen verschiedenen Erhebungen erschwert. Darüber hinaus stellt sich die Frage, auf welche bildungsrelevanten Spezifika das Label ‚Studierende mit Migrationshintergrund‘ eigentlich verweist, wenn ein 3
Zwar mag es auch Gemeinsamkeiten in den Bildungsverläufen der Studierenden geben, die diesen beiden Gruppen zugerechnet werden. So können z.B. als vorübergehend angelegte Studienaufenthalte auch in eine dauerhafte Verschiebung des Lebensmittelpunkts übergehen. Auch haben als Bildungsinländer*innen bezeichnete Studierende bisweilen Phasen ihrer Schullaufbahn in den Herkunftsländern ihrer Eltern durchlaufen (vgl. KarakaúoƣluAydn/Neumann 2001; Siouti 2013). Dennoch erscheint die Gleichsetzung dieser Studierendengruppen in der Forschung aus heutiger Sicht fragwürdig. Sie vereinheitlicht Studierende, die sich in unterschiedlichen Lebenssituationen befinden und produziert symbolische Grenzziehungen, indem Studierende, die (auch) in Deutschland ihren Lebensmittelpunkt haben, als ‚Fremde‘ klassifiziert werden.
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wachsender Anteil der Studierenden dieser Gruppe zugerechnet wird. In der – primär quantitativ ausgerichteten – Studierendenforschung wird dieses Problem durch zunehmend feinere Binnenunterscheidungen zwischen verschiedenen Gruppen von Studierenden mit Migrationshintergrund zu lösen versucht. Einige Befunde, die sich auf dieser Grundlage ergeben, werden nachfolgend vorgestellt.
3.2 S TUDIERENDE ‚ MIT M IGRATIONSHINTERGRUND ‘ S PIEGEL VON R EPRÄSENTATIVERHEBUNGEN
IM
Laut der alle zwei Jahre erscheinenden Sozialerhebung des Deutschen Studentenwerks zur wirtschaftlichen und sozialen Situation der Studierenden in Deutschland stellten Studierende ‚mit Migrationshintergrund‘ im Sommersemester 2006 8% aller Studierenden (vgl. Isserstedt et al. 2007: 446ff.). In den Folgestudien wurden jeweils erweiterte Kriterien zur Erfassung des Migrationshintergrundes zugrunde gelegt, wodurch sich die Angaben zum Anteil der dieser Gruppe zugerechneten Studierenden an der Grundgesamtheit verändern. So wird in der 19. Sozialerhebung bereits ein Anteil von 11% (vgl. Isserstedt et al. 2010: 500) und in der jüngsten Erhebung schließlich ein Anteil von 23% Studierender mit Migrationshintergrund ausgewiesen (vgl. Middendorff et al. 2013: 520 ff.). Dies ist jedoch nicht als ein sprunghafter Anstieg der Studienbeteiligung von jungen Erwachsenen aus migrierten Familien zu interpretieren, sondern stellt in erster Linie einen Effekt der erneut erweiterten Gruppendefinition dar. Diese bezieht seit 2009 neben Bildungsinländer*innen, eingebürgerten Studierenden und solchen mit einer doppelten Staatsangehörigkeit auch Studierende mit mindestens einem ausländischen Elternteil ein. Seit der letzten Erhebung werden auch deutsche Studierende, deren Eltern über die deutsche Staatsbürgerschaft verfügen, die aber im Ausland geboren wurden oder deren Eltern bzw. „mindestens ein Elternteil […] im Ausland geboren wurde“ (Middendorff et al. 2013: 522) der Kategorie ‚mit Migrationshintergrund‘ zugerechnet.4 Diese Studierenden stellen 2013 mit 11% quantitativ gesehen den größten Anteil an der Gesamtkategorie. Andere Datenquellen kommen zu etwas anderen Ergebnissen. So weist der Nationale Bildungsbericht 2010, der sich auf die Mikrozensusdaten, die Hochschulstatistik und Daten der statistischen Ämter des Bundes und der Länder stützt, einen Anteil von 16,7% Studierender mit Migrationshintergrund aus (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 124). Die Diskrepanzen zwischen diesen Ergebnissen lassen sich durch unterschiedliche Operationalisierungen des Kriteriums ‚Migrationshintergrund‘ erklären. Angesichts dieser Uneinheitlichkeit lassen sich keine definitiven Aussagen darüber treffen, in welchem Ausmaß Studierende aus gewanderten Familien im tertiären Bildungsbereich (im Vergleich zu ihrem Anteil an der relevanten Altersgruppe in der Bevölkerung) unterrepräsentiert sind. Eine Vergleichs-
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Damit wurden neben den Kriterien Staatsangehörigkeit und Einbürgerungsstatus nun auch die Nationalität der Eltern sowie der Geburtsort der Studierenden und ihrer Eltern als Unterscheidungskriterien zugrunde gelegt. Damit sollen auch Studierende erfasst werden, „die entweder selbst oder deren Eltern als Spätaussiedler(innen) nach Deutschland kamen oder deren Eltern im Ausland geboren und in Deutschland eingebürgert wurden“ (ebd.: 522).
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grundlage bieten die Angaben des BMBF zum Anteil der jungen Erwachsenen aus migrierten Familien im Alter von 24 Jahren an der Bevölkerung, der 2012 bei ca. 23% lag (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 17).5 Allein für die Gruppe der als Bildungsinländer*innen bezeichneten Studierenden liegen eindeutige Zahlen zur Studienbeteiligung vor. Auch lassen sich auf Basis der vorliegenden Daten Tendenzen über einen längeren Zeitraum beschreiben.6 Demnach studieren heute, absolut gesehen, zwar deutlich mehr Bildungsinländer*innen als in den 1990er Jahren, jedoch stagniert ihr Anteil an allen Studierenden seit zwei Jahrzehnten mit 3% auf niedrigem Niveau (Burkhart/Heublein/Wank 2011: 10). Dass Studierende mit Migrationsgeschichte nicht gemäß ihres Anteils an der betreffenden Altersgruppe an den Hochschulen repräsentiert sind, lässt sich nicht in erster Linie mit Ausleseverfahren beim Zugang zur Hochschule erklären, sondern ist in hohem Maße auf Selektionseffekte zurückzuführen, die bereits in früheren Stufen der Bildungsbiographie wirksam werden (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2006: 157). Ein Blick auf die Art besuchten Schulformen zeigt, dass Kinder aus migrierten Familien bereits an Gymnasien deutlich unterproportional vertreten sind. Die absolute Anzahl der Schüler*innen mit nicht-deutschem Pass an Schulformen, die zum Abitur führen, hat im Zeitverlauf zwar zugenommen, dies hat aber an der anteiligen Repräsentation nicht viel geändert. Dem Nationalen Bildungsbericht zufolge (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 65) lag der Anteil der 15-jährigen Gymnasiast*innen mit „mindestens einem im Ausland geborenen Elternteil“ im Jahr 2006 bei 22%, im Vergleich zu 37% der Schüler*innen ohne Migrationshintergrund.7 Auch wenn man berücksichtigt, dass ein Teil der Schüler*innen zu einem späteren Zeitpunkt an Schulen wechselt, die ihnen das Erlangen der Hochschulreife ermöglichen, bleiben Disparitäten bestehen: Unter den 18 bis 21-Jährigen verfügten 2008 19,2% der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund über die allgemeine oder fachgebundene Hochschulreife, während dies für 12,8% der Jugendlichen mit Migrationshintergrund gilt (vgl. ebd.: 92). Die Gründe für die „Schlechter-Stellung“ (Mecheril 2004: 133 ff.) von Schüler*innen mit Migrationshintergrund im deutschen Schulsystem sind außerordentlich 5
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Hier wird die im Mikrozensus verwendete Definition eines Migrationshintergrundes zugrunde gelegt, wonach dieser „alle nach 1949 auf das heutige Gebiet der Bundesrepublik Deutschland Zugewanderten sowie alle in Deutschland geborenen Ausländer und alle in Deutschland als Deutsche Geborenen mit zumindest einem zugewanderten oder als Ausländer in Deutschland geborenen Elternteil“ bezeichnet (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 19). Die Hochschulen sind dazu verpflichtet, Daten zur Nationalität und der Art ihrer Hochschulzugangsberechtigung der immatrikulierten Studierenden und Absolvent*innen zu erfassen und diese Informationen an die Statistischen Ämter des jeweiligen Bundeslandes weiterzugeben. Dies macht spezifische Auswertungen der Daten in Bezug auf Bildungsinländer*innen möglich. Die übrigen Gruppen, die in der Sozialerhebung ausgewiesen werden, sind in den Statistiken der Hochschulen dagegen nicht gesondert erfasst. Der Besuch eines Gymnasiums ist nicht der einzige Weg, der zur Studienberechtigung führt, aber er stellt den direktesten und am häufigsten beschrittenen Weg dar. Der Nationale Bildungsbericht bezieht sich dabei neben den Angaben der amtlichen Schulstatistik auf Mikrozensusdaten.
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komplex und lassen sich nicht auf isolierte Faktoren zurückführen. Die bestehenden Erklärungsansätze zu dieser Frage lassen sich danach unterscheiden, ob sie den Fokus stärker auf die Bedingungen innerhalb des Schulsystems richten oder stärker die Bedeutung außerschulischer Bedingungen der schulischen Laufbahn akzentuieren (vgl. ebd., s.a. Diefenbach 2010).8 Fest steht jedoch, dass es keiner der Erklärungsansätze für sich allein genommen vermag, die bestehenden Disparitäten hinsichtlich der Bildungsbeteiligung, der erreichten Abschlüsse und der Schulleistungen zwischen Schüler*innen unterschiedlicher sozialer und natio-ethno-kultureller Herkunft hinreichend aufzuklären. Während die Selektivität des Schulsystems bedingt, dass vergleichsweise wenige Schüler*innen aus migrierten Familien den Hochschulabschluss erreichen, deuten die vorliegenden Befunde darauf hin, dass die Studienaufnahme selbst eine eher niedrige Schwelle für den Bildungsweg von Studienberechtigten darstellt. In verschiedenen Studien, beispielsweise der Studienberechtigtenbefragung von 2008,9 wird darauf hingewiesen, dass die Studierbereitschaft unter Schulabsolvent*innen aus Migrantenfamilien besonders hoch sei.10 Ein großer Teil der Studienberechtigten mit Migrationshintergrund plant demnach, ihre Studienoption auch tatsächlich zu nutzen. Dies gilt in überdurchschnittlichem Ausmaß auch für Studierende aus Familien mit einem niedrigen sozio-ökonomischen Status (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2006: 157).11 Für diese höhere Studierneigung werden in der Literatur verschiedene Gründe diskutiert. Eine Erklärung wird darin gesehen, dass es sich bei den Studienberechtigten um eine stark „vorselektierte Gruppe“ (Heine/Spangenberg/Willich 2007: 20) handle, die bereits etliche Hürden im Bildungssystem überwunden hat und 8
Auf eine systematische Darstellung verschiedener Erklärungsansätze zu den bestehenden Ungleichheiten im Schulsystem wird hier verzichtet, da es bereits Überblicksdarstellungen dazu gibt (vgl. Diefenbach 2010). Sofern sich im empirischen Teil der Arbeit Verknüpfungen mit einzelnen Erklärungsansätzen herstellen lassen, wird auf diese an der entsprechenden Stelle Bezug genommen. 9 Die HIS Studienberechtigtenbefragung 2004 hat erstmals den Migrationshintergrund der Studien-berechtigten mit erfasst, die ein halbes Jahr nach Ende der Schulzeit zu ihren Studienabsichten bzw. ihrer Studienaufnahme befragt werden. 10 Im Jahrgang 2008 waren sich 73% der Studienberechtigten mit Migrationshintergrund gegenüber 71% derjenigen ohne Migrationshintergrund sicher, dass sie ein Studium aufnehmen wollen oder hatten dies bereits getan (vgl. Heine/Quast/Beuße 2010: 29). In den Jahrgängen 2005 und 2006 war der Unterschied in der Studierbereitschaft noch deutlicher ausgefallen. Die Verminderung des Abstandes zwischen den beiden Gruppen lässt sich mit einer gestiegenen Studierbereitschaft bei den Studienberechtigten ohne Migrationshintergrund im Jahrgang 2008 erklären, während sie bei jenen aus gewanderten Familien weitgehend konstant geblieben ist (vgl. ebd.). 11 Die Studierneigung steht unabhängig vom Migrationsstatus statistisch gesehen in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Herkunft: Studienberechtigte aus einem akademischen Elternhaus tendieren generell weitaus häufiger dazu, ein Studium aufzunehmen als Schulabgänger*innen aus nicht-akademisch vorgebildeten Elternhäusern. Interessanterweise wird jedoch für Studienberechtigte ‚mit Migrationshintergrund‘, deren Eltern niedrige Bildungs- und Berufsabschlüsse mitbringen, eine deutlich höhere Studierneigung festgestellt als bei als in der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund.
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daher keinen Zweifel daran hat, ihre hart erkämpfte Studienoption wahrzunehmen (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2006; Isserstedt et al. 2010). Eine weitere Erklärung kann in der Bedeutung des Migrationsprojekts und seiner Konsequenzen für die Bildungserwartungen in den Familien gesehen werden. Aus verschiedenen Studien ist bekannt, dass die Eltern von Studienberechtigten, die als Arbeitsmigrant*innen nach Deutschland kamen, hohe Bildungsaspirationen an ihre Kinder weitergeben, oft verbunden mit der Hoffnung und Erwartung, dass die Kinder Chancen wahrnehmen, die sie selbst nicht hatten (vgl. Tepecik 2010; Raiser 2007; vgl. dazu auch Kapitel 2.1). In der differenzierteren statistischen Beschreibung zeigt sich recht schnell, dass das Label ‚Studierende mit Migrationshintergrund‘ eine in sozio-demographischer Hinsicht höchst disparat zusammengesetzte Gruppe bezeichnet. Bildungsinländer*innen und eingebürgerte Studierende kommen demnach mehr als dreimal so häufig aus Familien, die über niedrige Bildungs- und Berufsabschlüsse verfügen als ihre Kommiliton*innen ohne Migrationshintergrund. Sie erhalten zudem weniger finanzielle Unterstützung durch die Eltern und sind häufiger auf BaFöG und eigenen Verdienst angewiesen (vgl. Isserstedt et al. 2010: 510 ff.; Middendorff et al. 2013: 536ff.). Dagegen finden sich in anderen Teilgruppen sehr viele Studierende aus Elternhäusern mit gehobenem Bildungsstatus. In der Teilgruppe der Studierenden mit doppelter Staatsbürgerschaft liegt der Anteil sogar höher als in der Vergleichsgruppe ohne Migrationshintergrund (vgl. Isserstedt et al. 2010: 506). Dies bedeutet, dass Bildungsprivilegien und ökonomische Ressourcen auch innerhalb der Kategorie ‚Studierende mit Migrationshintergrund‘ sehr unterschiedlich verteilt sind. Auch hinsichtlich des Studienzugangs, des Alters und der Studienfachwahl werden Differenzen zwischen den Teilgruppen der Bildungsinländer*innen sowie der eingebürgerten Studierende einerseits und den übrigen Gruppen andererseits konstatiert (vgl. Isserstedt et al. 2010: 500 ff.). Studierende, die den genannten Kategorien zugerechnet werden, sind besonders häufig an Fachhochschulen immatrikuliert – in der Gruppe der Bildungsinländer*innen gilt dies für mehr als die Hälfte der Studierenden (vgl. Middendorff et al. 2013: 531). Dies resultiert einerseits daraus, dass diese Studierenden seltener über die allgemeine Hochschulreife verfügen und damit keine reguläre Zugangsberechtigung zu den Universitäten erhalten (vgl. ebd.: 530). Anderseits lässt sich der Befund auch so interpretieren, dass die Fachhochschulen einen weniger exklusiven Bildungsraum darstellen als die Universitäten. Befunde der Hochschulforschung zeigen, dass Fachhochschulen für Schulabsolvent*innen aus nicht akademischen Herkunftsmilieus im Unterschied zu Universitäten eine wichtige Möglichkeit für den Bildungsaufstieg darstellen (vgl. Wolter 2005). Dass Studierende, die den Teilgruppen Bildungsinländer*innen und eingebürgerte Studierende zugerechnet werden, seltener über die allgemeine Hochschulreife verfügen und ihre Studienberechtigung zudem weniger häufig an Gymnasien erlangt haben, verweist auch darauf, dass sie seltener auf dem ‚direkten‘ Weg zur Hochschule gelangen. Darauf deutet auch der Befund hin, dass der Altersdurchschnitt in diesen Gruppen etwas höher liegt als in anderen Teilgruppen (vgl. Isserstedt et al. 2010: 504; Burkhart/Heublein/Wank 2011). Dies korrespondiert mit den Ergebnissen verschiedener Studien, die aufgezeigt haben, dass es sich bei den Bildungswegen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund um „verschlungene Bildungspfade“ (Schulze/Soja 2003) handelt. Insbesondere Bildungsaufstiege verlaufen oftmals über
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komplizierte Wege, beispielsweise durch das Nachholen höherer Schulabschlüsse Schule an Berufskollegs, Abendschulen etc. (vgl. ebd.). Einen plausiblen Erklärungsansatz für diskontinuierliche Bildungswege bietet das Konzept der institutionellen Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009). Dieses geht davon aus, dass unreflektierte institutionelle Routinen, Wissensbestände und Handlungslogiken, die in der Schule als Organisation verankert sind, eine Diskriminierung bestimmter Schüler*innengruppen begünstigen. Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke haben nachgewiesen, dass bei den Übergangsempfehlungen, die Lehrer*innen bei der Einschulung von Kindern und beim Übergang der Schüler*innen in weiterführende Schulen treffen müssen, der natio-ethno-kulturelle Hintergrund der Kinder zu einem Bezugspunkt für die Begründung negativer Auswahlentscheidungen werden kann. Auch andere Studien weisen nach, dass die Chancen auf eine Gymnasialempfehlung bei Schüler*innen aus Familien mit Migrationshintergrund und aus Familien ohne hohen formalen Bildungsstatus auch bei gleicher Leistung deutlich geringer ausfallen (vgl. Ditton 2007; Stubbe/Bos/Euen 2012). Diese Schüler*innen, so ist zu vermuten, gelangen nur über Umwege in Schulformen, die ihnen einen höheren Schulabschluss ermöglichen. Eine andere Erklärung liefern Leenen, Grosch und Kreidt (1990) mit der These der höheren „Selbstplatzierungsleistung“, die jugendliche Migrant*innen (erster Generation) erbringen müssen. Sie gehen davon aus, dass diese bei der Gestaltung ihrer Bildungskarriere oft auf sich selbst gestellt sind. Die Argumentation der Autoren ist allerdings verschiedentlich kritisiert worden, da sie primär die angenommene „defizitäre Herkunfts- und insbesondere Lernkultur in Migrantenfamilien“ (Diefenbach 2010: 95) für mangelnde Bildungserfolge der Kinder verantwortlich mache. Doch auch Forscher*innen, die diese Defizitzuschreibung nicht teilen, stellen die „Notwendigkeit jugendlicher Selbstplatzierung“ (Schulze/Soja 2003: 200) für Jugendliche aus gewanderten Familien heraus. Diese resultieren, so Schulze und Soja (2003) aber in erster Linie daraus, dass die Jugendlichen ihre Bildungswünsche „[…] gegenüber der bzw. gegen die [Institution Schule] […] durchsetzen müssen“ (ebd.). Ein weiterer möglicher Grund für diskontinuierliche Schullaufbahnen kann darin liegen, dass die transnationalen Lebensentwürfe von Familien einen oder mehrere Wechsel zwischen verschiedenen nationalen Schulsystemen notwendig machen (vgl. KarakaúoƣluAydn 2000a). Die Beteiligung von Studierenden an Hochschulbildung variiert nicht nur nach Hochschularten, sondern auch nach Studienfächern. Studierende, die der Gruppe ‚mit Migrationshintergrund‘ zugerechnet werden, entscheiden sich besonders häufig für rechtswissenschaftliche Studiengänge (vgl. Middendorff et al. 2013: 532ff.). Insbesondere die Teilgruppen der Bildungsinländer*innen und der eingebürgerten Studierenden sind laut der Studierendensozialerhebung in Fächern der Gruppe Rechts- und Wirtschaftswissenschaften vergleichsweise stark vertreten. In der Fächergruppe der Sprach- und Kulturwissenschaften sowie den Sozialwissenschaften, Psychologie und Pädagogik sind diese beiden Teilgruppen dagegen stark unterproportional repräsentiert; dies gilt dabei für Männer in stärkerem Maße als für Frauen (vgl. Isserstedt et al. 2007: 239f. und 2010: 507ff.). Studierende, die den Teilgruppen ‚mit doppelter Staatsangehörigkeit‘ und ‚mit einem ausländischen Elternteil‘ zugeordnet werden, unterscheiden sich in ihren fachlichen Präferenzen dagegen kaum von Studierenden ohne Migrationshintergrund, einzig sind sie seltener als alle anderen Gruppen in
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ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen vertreten (vgl. ebd.). Im Lehramtsstudium, das traditionell als ein Feld für soziale Aufsteiger*innen gilt, sind Studierende mit Migrationshintergrund dagegen unterrepräsentiert. Nach den Zahlen der 18. Sozialerhebung studierten 2006 lediglich 6% mit dem Ziel eines Lehramts-Abschlusses, während der Anteil der Lehramtsstudierenden in der Gesamtheit aller Studierenden doppelt so hoch lag (vgl. Isserstedt et al. 2007: 440). Der jüngsten Sozialerhebung zufolge liegt der Anteil der Lehramtsstudierenden mit Migrationshintergrund bei 10% (vgl. Middendorff et al. 2013: 534). Diese Zahlen korrespondieren auch mit den Schätzungen zum Anteil von Lehrkräften mit Migrationshintergrund im Schulsystem in anderen Berichten. Hinsichtlich der Studienverläufe zeigen sich in einigen Bereichen statistische Unterschiede zwischen Studierenden ‚mit‘ und ‚ohne Migrationshintergrund‘. So liegt der Anteil derjenigen, die ihr Studienfach oder die Hochschule wechseln, unter Studierenden mit Migrationshintergrund um jeweils 2% höher als in der Vergleichsgruppe (21% versus 19%; vgl. Isserstedt et al. 2010: 509). Auch wird das Studium etwas häufiger unterbrochen (Middendorff et al. 2013: 535). Dies trifft besonders für die Teilgruppe der eingebürgerten Studierenden und jener mit doppelter Staatsangehörigkeit zu. Überdurchschnittlich häufig nennen die Befragten dabei finanzielle Gründe für eine Studienunterbrechung (vgl. ebd.). Eine weitere statistische Auffälligkeit zeigt sich im Hinblick auf die Studiendauer. So sind Studierende mit Migrationshintergrund laut der letzten Sozialerhebung zu einem etwas erhöhten Anteil in höheren Studiensemestern vertreten (vgl. ebd.: 535). Zu Absolvent*innen- und Studienabbruchquoten an deutschen Hochschulen liegen bisher keine nach Migrationshintergrund differenzierenden offiziellen Statistiken vor, so dass keine zuverlässigen Aussagen über den Studienerfolg möglich sind. Allein für die Gruppe der sogenannten Bildungsinländer*innen liegen Informationen zu dieser Frage vor. Einer Studie des DAAD zufolge hat sich die Absolvent*innenquote in dieser Gruppe seit 2000 kontinuierlich erhöht (vgl. Burkhart/Heublein/Wank 2011: 23). Es wird deshalb davon ausgegangen, dass es einer zunehmenden Zahl von Studierenden gelingt, das Studium mit Erfolg abzuschließen (vgl. ebd.). Diese Entwicklung trifft vor allem auf Frauen zu, die mittlerweile ebenso oft einen Studienabschluss erwerben wie ihre männlichen Kommilitonen. Die Zahl der Studienabbrecher*innen ist jedoch alarmierend hoch. Der Studie des DAAD zufolge brachen 40% aller Bildungsinländer*innen, die zwischen 2002 und 2004 ihr Studium aufgenommen haben, ihr Studium ab. In der Vergleichsgruppe deutscher Studierender betrug die Abbrecher*innenquote im gleichen Zeitraum 24% (vgl. ebd.: 52). Zwar sei die Studienabbruchquote unter Bildungsinländer*innen damit im Vergleich zu der letzten Kohorte um 5% zurückgegangen, sie verbleibe aber auf „einem sehr hohen Niveau“ (ebd.). Diese Angaben machen einmal mehr deutlich, dass die formale Zugangsberechtigung zur Hochschule nicht selbstverständlich auch den erfolgreichen Abschluss des Studiums garantiert. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Kategorie ‚Studierende mit Migrationshintergrund‘ Personen aus sehr unterschiedlichen sozio-ökonomischen Verhältnissen und mit verschiedenen schulischen Bildungshintergründen umfasst. Die Tatsache, dass Bildungsinländer*innen und eingebürgerte Studierende in manchen Hinsichten als statistische Gruppen identifizierbar bleiben, lässt sich als ein deutlicher Hinweis auf die mangelnde Integrationsfähigkeit des Bildungssystems interpre-
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tieren. Dass diesen Gruppen bestimmte Studienmerkmale zugeordnet werden können, obwohl sie das deutsche Schulsystem durchlaufen und eine Studienberechtigung erworben haben, zeigt, dass das Bildungssystem bislang nicht in der Lage ist, allen Kindern und Jugendlichen unabhängig von ihrem familialen Hintergrund die gleichen Chancen für ihre Bildungslaufbahn zu bieten. Der hohe Anteil von Studierenden in diesen beiden Teilgruppen, deren Eltern niedrige Bildungs- und Berufsabschlüsse verfügen, legt die Schlussfolgerung nahe, dass ökonomische und kulturelle Ressourcen als Variablen für die Erklärung unterschiedlicher Studienverläufe bedeutsamer sein dürften als der ‚Migrationshintergrund‘. Viele der Befunde zu Studienwahl und Studienverläufen sprechen aber nicht für sich, sondern bleiben interpretationsbedürftig. So kann etwa eine längere Studiendauer ganz unterschiedliche Gründe haben, ein Studienortwechsel kann verschieden motiviert sein und auch die Bedeutung von studentischer Erwerbstätigkeit lässt mehr als eine Interpretation zu. So kann eine Erwerbstätigkeit neben dem Studium, die dauerhaft viel Zeit in Anspruch nimmt, negative Folgen für das Studium haben, sie kann aber auch Autonomiespielräume eröffnen und finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern bedeuten. Gerade weil in Bildungsberichten auf Interpretationen der Befunde vielfach weitgehend verzichtet wird, verleiten die vorliegenden Daten schnell zu alltagsnahen Deutungen und voreiligen Schlussfolgerungen. Tatsächlich aber lassen sie viele Fragen offen: Welche Prozesse und Erwägungen liegen der Präferenz für bestimmte Studienfächer zugrunde und wie lässt es sich erklären, dass manche Studienfächer gemieden werden? Welche Relevanz entfalten sozio-kulturelle und ökonomische Ausgangslagen für Erfahrungen und Teilhabemöglichkeiten der Studierenden im Kontext der Hochschule und für die Studienbiographie der Einzelnen? Der methodische Zugang strukturierter Befragungen stößt hier an Grenzen, denn die Binnenperspektive und die subjektiven Erfahrungen der Befragten finden hier keine Berücksichtigung. Das Bild, das sich daraus von der Situation der Studierenden ergibt, gilt zudem nur Auskunft über jene Aspekte, die aufgrund der Vorannahmen der Forschenden in die Konstruktion des Erhebungsinstruments eingegangen sind. Dies führt auch dazu, dass andere Ereignisse und Begründungszusammenhänge, die für die Studienwahl und den Studienverlauf der Einzelnen entscheidend sein mögen, aber nicht in der Aufmerksamkeit der Forschenden liegen, gar nicht erst in den Blick geraten.12 Auch ist fraglich, inwiefern die Kriterien, die der differenzierteren ‚Erfassung‘ der Studierendenpopulation zugrunde liegen, besser dazu in der Lage sind, die Studienwirklichkeiten der Subjekte angemessen abzubilden. Der Versuch einer immer genaueren Differenzierung von Studierendengruppen entlang immer feinerer Kategorisierungen ermöglicht zwar differenziertere Aussagen, überwindet aber nicht das grundlegende Problem einer objektivierenden Außensicht auf die Forschungssubjekte und ihre Bildungswege.13 12 Antonia Kupfer (2004: 124) gibt im Hinblick auf die Studienabbruchforschungen des HIS z.B. zu bedenken, dass Studienabbrüche, die aufgrund von Diskriminierungserfahrungen zustande kommen, mit dem vorliegenden Instrumentarium nicht erfasst werden könnten. 13 Auch kann der Versuch einer differenzierten Untersuchung von Studienverläufen und -erfolgen auch zu neuen problematischen Gruppenkonstruktionen führen, etwa wenn Studienerfolge von Studierenden „mit muslimischen Wurzeln“ untersucht werden (vgl. Weegen 2011).
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3.3 L OKALE F ORSCHUNGEN ZUR S TUDIENSITUATION ‚ MIGRANTISCHER ‘ S TUDIERENDER – V ERSCHIEBUNGEN UND K ONTINUITÄTEN Neben repräsentativen Befragungen auf Bundesebene wird die hochschulische Situation von Studierenden mit Migrationsgeschichte seit Längerem auch im Rahmen explorativer Studien und Lehrforschungsprojekte an einzelnen Hochschulen beleuchtet. Diese Forschungen liegen vorwiegend als ‚graue Literatur‘ vor. Sie sind insofern von Bedeutung, als sie nicht nur objektivierende Beschreibungen vornehmen, sondern auch Einblicke in Erfahrungen von Studierenden geben. Zugleich eröffnet der Rückblick auf die Beiträge, die seit Beginn der 1990er Jahre bis heute entstanden sind, interessante Perspektiven auf Kontinuitäten als auch Perspektivverschiebungen in der hochschulischen Diskussion um Migration. Die in den 1990er Jahren entstandenen Beiträge beziehen sich allein auf sogenannte Bildungsinländer*innen, die Anfang des Jahrzehnts als Subgruppe der Kategorie ‚ausländische Studierende‘ identifiziert wurden (vgl. Akbulut 1993; ùen/ZfT 1994; Alkozei 1998; Haas/Berndt/Dommermuth 1998; Bartsch et al. 2000). Die Untersuchungen sind vor allem durch das Bestreben gekennzeichnet, grundlegende Informationen über diese Studierenden zusammenzutragen. So wird z.B. in der Studie von Alkozei (1998) danach gefragt, wie hoch der Anteil der Bildungsinländer*innen an den ausländischen Studierenden tatsächlich ist, welche Herkunftsgruppen in welcher Zahl hier vertreten sind, wie sich die Geschlechterverteilung gestaltet und welche Fächer die Studierenden wählen (vgl. Alkozei 1998: 26). Auch die Familienhintergründe und Schulverläufe der Studierenden sind Gegenstand der Untersuchung. Neben solchen Fragen, die sich auf die Verteilung demographischer und studienbezogener Merkmale beziehen, werden in den Studien auch verschiedene qualitative Aspekte der Studiensituation untersucht, die Aufschluss über das Studienverhalten und die Erfahrungen der Studierenden an der Hochschule geben sollen. Ermittelt werden unter anderem die Studienmotivation sowie berufliche Orientierungen der Befragten, ihre soziale Situation an der Hochschule (Kontakte zu Kommiliton*innen), die aktuelle Lebenssituation, die Selbst- und Fremdwahrnehmung der Studierenden sowie Diskriminierungserfahrungen innerhalb und außerhalb der Universität. Auffällig ist, dass sich die Studien wiederum mehrheitlich der Gruppe Studierender mit türkischem Familienhintergrund zuwenden. Eine mögliche Erklärung für diese Schwerpunktsetzung kann darin gesehen werden, dass Studierende mit türkischem Migrationshintergrund quantitativ betrachtet den größten Anteil an den Bildungsinländer*innen stellen. Zudem spiegelt sich in der Fokussierung auf Studierende türkischer Herkunft möglicherweise auch die in der deutschen Migrationsforschung verbreitete Tendenz wider, gerade Einwander*innen aus der Türkei eine besondere (sozio-kulturelle) Differenz im Vergleich zur ‚einheimischen‘ Bevölkerung zu unterstellen (kritisch dazu Krüger-Potratz 2005: 194ff.). Übergreifende Ergebnisse der Studien beziehen sich insbesondere auf studienbezogene Hürden und Problemen, die als speziell für die Bildungsinländer*innen beschrieben werden und nur teilweise mit den Schwierigkeiten übereinstimmen, die internationale Studierende bzw. sogenannte Bildungsausländer*innen zu bewältigen haben. Diese Hürden und Probleme werden auf unterschiedlichen Ebenen verortet:
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Zum einen wird der Grad der Vorinformation der Studierenden zum Zeitpunkt ihrer Studienentscheidung problematisiert. Die Studierenden seien oftmals nicht ausreichend über die Anforderungen, Bedingungen und Möglichkeiten des Studiums informiert und (ùen/ZfT 1994: 95). Dies habe zum Teil erhebliche Orientierungsschwierigkeiten nach der Studienaufnahme zur Folge und mache für viele Studierende eine längere Orientierungsphase in der Studienanfangszeit erforderlich. Die Autor*innen der Studie des Zentrums für Türkeistudien (ùen/ZfT 1994: 178) weisen darauf hin, dass die Hälfte der befragten Studierenden angab, ihr Studium „erst nach mehr als einem Jahr sinnvoll organisiert“ zu haben. Als weiterer Problembereich wird das Thema Wissenschaftssprache ausgemacht. Autor*innen unterschiedlicher Studien machen auf Schwierigkeiten der Befragten mit Deutsch als Wissenschaftssprache aufmerksam, die in Anbetracht der höheren sprachlichen Anforderungen im Studium bei vielen Studierenden mit anderen Erstsprachen (zum Teil erstmalig) zu Schwierigkeiten führten. So werden etwa Probleme der Studierenden beim Verfassen schriftlicher Arbeiten in deutscher Sprache thematisiert (vgl. Alkozei 1998) sowie der sinnerschließende Umgang mit fachsprachlichen Texten problematisiert (vgl. ùen/ZfT 1994). Auch auf Probleme der Studierenden mit dem Erlernen wissenschaftlicher Arbeits- und Studientechniken wird in mehreren Beiträgen hingewiesen. Aus heutiger Sicht ergibt sich hinsichtlich dieser Ergebnisse allerdings die Frage, ob es sich bei den studienorganisatorischen und sprachlichen Schwierigkeiten (wie in den Beiträgen suggeriert) tatsächlich um ‚migrationsspezifische‘ Probleme handelt oder ob die Anforderung der Selbstorganisation im Studium und das Verfassen wissenschaftlicher Arbeiten nicht auch für viele monolingual in der deutschen Sprache sozialisierte Studierende eine Herausforderung darstellt. Diese Frage bleibt in den genannten Beiträgen jedoch unbeantwortet, da ein Vergleich mit anderen Studierenden gar nicht gezogen, sondern von vorne herein unterstellt wird, dass es sich um migrationsspezifische Probleme handelt. Angesprochen werden auch die Rahmenbedingungen des Studiums, wobei insbesondere auf die teilweise belastende Wohnsituation der Studierenden sowie ihre oftmals prekäre finanzielle Situation hingewiesen wird. In mehreren Beiträgen wird herausgestellt, dass ein hoher Anteil der Studierenden bei den Eltern wohne, was u.a. mit dem ausgeprägten „Familiensinn“ und der starken „Herkunftsbindung“ der Studierenden, aber auch mit finanziellen Gründen erklärt wird (vgl. Karakaúoƣlu-Aydn 2000a: 113). Die Familie biete einerseits einen sicheren und stabilen Rahmen für viele Studierenden, andererseits könne damit aber unter Umständen auch eine emotionale Abhängigkeit von den Eltern verbunden sein (vgl. ebd.: 114). Ein weiterer Problemaspekt der Studiensituation, der in mehreren Beiträgen als Problem markiert wird, betrifft die soziale Einbindung der Studierenden an der Hochschule. Ausgehend von Fragebogenerhebungen und halbstrukturierten Interviews, in denen nach der Häufigkeit der Kontakte mit Kommiliton*innen unterschiedlicher Herkunft gefragt wird, wird auf die Tendenz der Gruppenbildung hingewiesen, die unter den (befragten) Studierenden türkischer Herkunft festzustellen sei (vgl. u.a. Akbulut 1993: 241; ùen/ZfT 1994: 118). Dieser Befund wird zwar unterschiedlich erklärt, gilt jedoch übergreifend als eindeutiger Hinweis auf soziale Probleme unter den Studierenden unterschiedlicher Herkunftsgruppen. Die Beiträge stimmen in dem grundlegenden Befund überein, dass „Studierende aus Migrantenfamilien aufgrund ihrer besonderen Lebenssituation auf ihrem Stu-
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dienweg zusätzlichen Problemen ausgesetzt sind, die den normalen Studienverlauf erheblich beeinträchtigen“ (Alkozei 1998: 184). Ausgehend von den identifizierten Problemen werden in einigen Beiträgen Handlungsempfehlungen formuliert, die auf eine verbesserte Unterstützung der Bildungsinländer*innen durch die Hochschulen abzielen. Empfohlen wird beispielsweise die Etablierung von Beratungsangeboten im Vorfeld des Studiums sowie die Einrichtung studienbegleitender Beratungs- und Unterstützungsmaßnahmen im Bereich der Studienorganisation und des wissenschaftlichen Arbeitens. Die ZfT-Studie empfiehlt zudem Maßnahmen gegen die Benachteiligung ‚türkischer‘ Studierender (Einrichtung eines Antidiskriminierungsbüros, die Schaffung von Kontaktmöglichkeiten zwischen ‚türkischen‘ und ‚deutschen‘ Studierenden) sowie die Berücksichtigung der „dualistischen Lebensplanung“ (ùen/ZfT 1994: 178) der Studierenden durch die Ermöglichung von studienbezogenen Auslandsaufenthalten. Mehrere Studien kommen zu dem Schluss, dass sich Erfahrungen mit Diskriminierung, die die Studierenden in der Hochschule von denen im außerhochschulischen Alltag unterscheiden. Während die Lebenssituation der Studierenden außerhalb der Hochschule durch vielfältige Diskriminierungserfahrungen gekennzeichnet ist, stehen die Erfahrungen innerhalb der Hochschule offenbar für viele Befragte im Kontrast dazu. Sowohl die qualitativen Befragungen von ‚türkischen‘ Studierenden an der Universität Konstanz (Haas et al. 1998 und Bartsch et al. 2000) als auch eine Fragebogenerhebung von Akbulut (1993) an der TU Berlin kommen zu dem Schluss, dass die Universität von den Studierenden als ein Raum wahrgenommen werde, in dem es seltener als in anderen Lebensbereichen zu Diskriminierung komme (vgl. dazu auch Karakaúoƣlu-Aydn 2000a). Dies lässt sich allerdings nicht per se als Beleg dafür interpretieren, dass an der Universität „offensichtlich eine offenere, tolerantere und vorurteilsfreiere Atmosphäre“ (Haas et al. 1998: 98) herrscht als in anderen Lebensbereichen. Dass Diskriminierungserfahrungen an der Universität in den Befragungen kaum thematisiert werden, kann auch bedeuten, dass sich die Befragten nicht in eine Opferposition begeben wollen, oder dass sich das Verständnis von Diskriminierung, das in den Fragekategorien vorgegeben ist, nicht mit den Erfahrungen und Deutungen der Interviewten decken. Auch ist fraglich, inwiefern subtile Diskriminierungserfahrungen in Form direkter Befragungen und in vorab festgelegten Items und Kategorien überhaupt angemessen erfasst werden können. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Bedeutung dieser ‚frühen‘ explorativen Arbeiten insbesondere darin zu sehen ist, dass sie erstmals die Studienerfahrungen der sogenannten Bildungsinländer*innen in den Blick nehmen und von den Erfahrungen internationaler Studierender differenzieren. Die Studien sind allerdings nicht darauf ausgelegt, ein theoretisches Verständnis des Verhältnisses von Studierenden und Hochschule zu generieren. Sie sind in erster Linie deskriptiv, auf eine Interpretation und Theoretisierung der Befragungsergebnisse wird häufig verzichtet. Im Vordergrund steht der starke Praxisbezug. Ausgehend von der Deskription der Situation der befragten Studierenden wird meist das Ziel verfolgt, Empfehlungen für die Praxis der Hochschulen im Umgang mit der Zielgruppe zu formulieren (vgl. ùen/ZfT 1994; Alkozei 1998). Dabei spiegelt sich sprachlich in einigen Studien eine problemorientierte, zuweilen paternalistisch anmutende Sicht auf die Studierenden wider, die als typisch für den ausländerpädagogischen Diskurs angesehen werden kann (vgl.
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Czock 1993). Die Studierenden werden in erster Linie als potenziell benachteiligte Gruppe betrachtet, die in verschiedenen Hinsichten mit besonderen Schwierigkeiten und Belastungen konfrontiert ist. So werden die Studierenden als „Minderheit innerhalb der Randgruppe der Ausländer“ (Haas et al. 1998: 4) gesehen, deren Situation z.B. unter der Frage betrachtet wird, ob die Studierenden „trotz ihrer offensichtlich guten Integrationsbedingungen Schwierigkeiten bei der Identitätsfindung und Eingliederung in die deutsche Gesellschaft haben“ (ebd.). Die Problematisierungen und die Lösungsansätze setzen dabei in erster Linie bei den Subjekten selbst an, während mögliche Barrieren, die in der Institution Hochschule selbst verankert sind, nur selten in den Blick genommen werden. Trotz der aus heutiger Sicht einseitigen und verkürzenden Thematisierungsperspektive in vielen der genannten Beiträge bleibt festzuhalten, dass sie überhaupt auf potenzielle Benachteiligungen und spezifische Unterstützungsbedarfe von Bildungsinländer*innen an deutschen Hochschulen aufmerksam gemacht haben, die sich von denen internationaler Studierender unterscheiden. Seit den 1990er Jahren hat sich die Art und Weise der Thematisierung von migrationsbedingter Heterogenität im Hochschulbereich differenziert und erweitert. Dies steht damit in Zusammenhang, dass das Thema Diversität zunehmend als ein Handlungsfeld der Hochschulentwicklung entdeckt wird (vgl. Klammer/Matuko 2010; Vedder 2006; Heitzmann/Klein (Hg.) 2012a, 2012b; Czock/Donges/Heinzelmann 2012; Bender/Schmidbaur/Wolde (Hg.) 2013).14 Diese Entwicklung lässt sich u.a. auf die Anforderung an Internationalisierung der Hochschulen zurückführen; die Förderung und Nutzung nationaler, sprachlicher und kultureller Heterogenität wird zunehmend als Bestandteil einer internationalen Ausrichtung der Hochschulen angesehen (vgl. Straub/Schirmer 2010; Lutz 2013: 16). In diesem Zusammenhang wird mittlerweile auch die migrationsbedingte Heterogenität der Studierenden thematisiert, zu der sowohl internationale Studierende als auch Student*innen aus Migrantenfamilien beitragen. Die Präsenz von Studierenden mit unterschiedlichen natio-ethnokulturellen und sozialen Herkunftshintergründen wird dabei als Herausforderung und zugleich als Potenzial wahrgenommen, das entwickelt und gestärkt werden soll (vgl. BAMF 2011: 4). Auch die Autonomisierung der Hochschulen spielt eine Rolle für die zunehmende Wahrnehmung von Differenz und Heterogenität der Studierenden. So haben die Hochschulen heute mehr Einfluss auf die Auswahl ihrer Studierenden, zugleich müssen sie stärker um Studierende konkurrieren und sich auf unterschiedliche Zielgruppen einstellen. Um Studierende mit unterschiedlichen sozio-kulturellen Hintergründen und Bildungsvoraussetzungen zu gewinnen und sie zu einem erfolgreichen Studienabschluss zu führen, bedarf es einer entsprechenden Profilierung sowie geeigneter Strategien und Fördermöglichkeiten. Für die Hochschulen ergeben sich aus diesen Anforderungen unter anderem Fragen danach, welche Bedingungen förderlich und 14 Die verstärkte Aufmerksamkeit für das Thema Diversität an Hochschulen resultiert aus sehr unterschiedlichen Entwicklungen und Interessenlagen. Neben wettbewerblichen Motiven, die mit Prozessen der Ökonomisierung und Internationalisierung des Bildungssektors in Zusammenhang stehen, spielt die Forderung nach einer Einlösung von Teilhabe- und Gerechtigkeitszielen in der Debatte eine bedeutsame Rolle (vgl. Heitzmann/Klein 2012c; Lutz 2013).
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hinderlich für die Teilhabe von Studierenden mit verschiedenen Bildungsbiographien und Studienvoraussetzungen sind. Schließlich ist nicht zuletzt durch den demographischen Wandel seit einigen Jahren das bildungspolitische Interesse an der Höherqualifizierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund gewachsen. Zu den Zielen, die im Nationalen Aktionsplan Integration der Bundesregierung (2012: 69ff.) in diesem Zusammenhang formuliert werden, zählt die Erhöhung des Anteils der Studienberechtigten und Hochschulabsolvent*innen aus Migrantenfamilien. Angesichts der vorliegenden Zahlen zum vergleichsweise geringen Anteil der Studienberechtigten mit Migrationshintergrund und der hohen Studienabbruchquote in der Gruppe der Bildungsinländer*innen scheint die Aufmerksamkeit für die erschwerte Partizipation und für Unterstützungsbedarfe dieser Studierenden gewachsen zu sein. In den letzten Jahren sind vermehrt Forschungsprojekte an einzelnen Hochschulen durchgeführt worden, die sich mit der Studiensituation von Student*innen aus migrierten Familien befassen (vgl. Meinhardt/Zittlau 2009; Discher/Plößer 2010; Ruokonen-Engler 2013; Satilmis/Niehoff/Kaufmann 2013). Sie zielen darauf ab, genauere Informationen über „etwaige besondere Bedürfnisse und Problemlagen dieser Studierendengruppe“ (Straub/Schirmer 2010: 37) und über den Umgang der jeweiligen Hochschulen mit sprachlicher, kultureller und nationaler Diversität zu gewinnen, die in der Hochschulentwicklung berücksichtigt werden sollen oder beziehen sich auf die Evaluation von Modellprojekten. Diese neueren Beiträge stehen insofern in einer Kontinuität zu den Beiträgen der 1990er Jahre, als auch sie die Studiensituation und die akademische und soziale Integration von Studierenden aus Migrantenfamilien problematisieren und damit gruppenspezifische Benachteiligungen der Studierenden in den Mittelpunkt stellen. Dadurch wird einerseits auf die weiterhin bestehender Reformbedarfe in den Hochschulen aufmerksam gemacht, die sich erst zögerlich und vereinzelt mit den Anforderungen auseinandersetzen, denen sich Bildungseinrichtungen stellen müssen, die einer sozio-kulturell und sprachlich heterogenen Studierendenschaft entsprechen wollen. Andererseits geht mit der problemzentrierten Herangehensweise das Risiko einer homogenisierenden Betrachtungsweise einher, in der individuelle Studienerfahrungen zugunsten kollektiver Benachteiligungen in den Hintergrund geraten. Darüber hinaus bleibt oftmals weiterhin offen, inwiefern es sich bei den beschriebenen Problemen tatsächlich um migrationsspezifische Phänomene handelt. Dies liegt u.a. daran, dass Differenzen zwischen Studierenden ‚mit‘ und ‚ohne‘ Migrationshintergrund – oftmals forschungslogisch vorausgesetzt werden,15 so dass die festgestellten Probleme vorschnell als migrationsspezifisch gedeutet werden. Dass daran durchaus berechtigte Fragen zu stellen sind, machen die Ergebnisse deutlich, die im Rahmen einer Bremer Regionalstudie erhoben wurden (vgl. Bandorski/Karakaúoƣlu 2013). Hier wurden die Studienverläufe und die Studienzufriedenheit von Lehramtsstudierenden untersucht und zunächst unabhängig von sozialen Differenzkriterien auf Basis einer Clusteranalyse ausgewertet. Dabei zeigt sich, dass sich in den Selbsteinschätzungen der Studierenden hinsichtlich ihrer studienrelevanten Fähigkeiten nur wenige Hinweise auf ‚migrationsspezifische‘ Unterstützungsbedarfe erkennen lassen. Allein im 15 So werden meist ausschließlich Studierende mit Migrationsgeschichte auf mögliche studienrelevante Probleme und Unterstützungsbedarfe hin befragt. Inwiefern andere Studierende ähnliche Unterstützungsbedarfe sehen, bleibt dagegen unklar.
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Hinblick auf die Selbsteinschätzung der eigenen Sprachkompetenzen sind Studierende mit Migrationsgeschichte in der Gruppe derjenigen, die diese als „lediglich gut bis mittelmäßig“ (ebd.: 146) einstufen, überrepräsentiert. Ein möglicherweise entscheidender Unterschied der jüngeren Forschungen zu früheren Studien kann in ihrer Einbettung in den Diskurs um Internationalisierung und Hochschulentwicklung gesehen werden. Dies führt dazu, dass die Forschungsperspektive um eine institutionsbezogene Perspektive erweitert wird. So werden in neueren Beiträgen in stärkerem Maße auch die Bedingungen der Institution Hochschule einbezogen und die institutionellen Voraussetzungen sowie Barrieren für die soziale und akademische Integration reflektiert. So ergab eine Befragung von Studierenden mit Migrationshintergrund an der Universität Oldenburg, dass die Befragten zwar über eine hohe Studienmotivation verfügen, viele von ihnen jedoch Schwierigkeiten bei der Bewältigung des Studiums haben (Meinhardt/Zittlau 2009: 141).16 Diese zeigen sich unter anderem in Problemen bei der Selbstorganisation im Studium und in der Angst, die Leistungsanforderungen an der Hochschule nicht erfüllen zu können. Die neuen Studienstrukturen in den BA/MA-Studiengängen scheinen diesen Druck eher noch zu verstärken. Die Arbeitsbelastung und die Inflexibilität der BA/MA-Struktur werden von den Autor*innen als entscheidender Faktor für studienbezogene Probleme bewertet (ebd.: 141). Eine weitere Hürde stellt (erneut) der geringe Informationsstand der befragten Studierenden dar, den diese zum Teil auf schlechte oder fehlende Beratungsangebote zurückführen (vgl. ebd.). Studienerschwernisse werden auch in den sozialen Hintergründen und der prekären finanziellen Situation vieler Studierenden gesehen, die das Studium grundlegend erschweren (vgl. ebd.). Bei Befragungen der universitären Beratungseinrichtungen zeigte sich, dass die Mehrzahl der Befragten Studierende mit Migrationshintergrund nicht als Gruppe mit spezifischen Schwierigkeiten wahrnehmen (vgl. ebd.). Auch eine explorative Studie an der Fachhochschule Frankfurt gelangt auf Basis einiger Leitfadeninterviews mit Verantwortlichen der Hochschulleitung sowie mit Expert*innen aus einigen hochschulischen Einrichtungen zu dem Schluss, dass in den Hochschulen wenig Aufmerksamkeit für die Situation von Studierenden mit Migrationshintergrund bestehe (vgl. Straub/Schirmer 2010: 38). Die Ergebnisse der Expert*inneninterviews zeigten, so die Autorinnen, dass „mögliche Belange dieser Gruppe kaum explizit in den Fokus der Überlegungen zu den Herausforderungen der Fachhochschule in einer Migrationsgesellschaft rücken – anders als dies bezüglich der Auslandsstudierenden der Fall ist“ (ebd.). Dies deuten die Autorinnen als Hinweis darauf, dass Studierende mit Migrationshintergrund nicht als eine homogene Zielgruppe gesehen werden könnten, die in jedem Fall mit spezifischen Situationen und Problemlagen konfrontiert seien. Zugleich gehe damit aber auch die Gefahr einer 16 Die Studie wurde 2008 im Auftrag des Landes Niedersachsen durchgeführt. Ausgehend von alarmierenden Befunden zur hohen „Schwundquote“ unter studierenden Bildungsinländer*innen, die zum Untersuchungszeitpunkt mit 45% nahezu doppelt so hoch wie unter Studierenden mit deutschem Pass lag, wurde nach erfolgshemmenden Faktoren im Studienverlauf gesucht (vgl. Meinhardt 2010: 19). Ein Teil der Studie basiert auf einer umfangreichen Befragung von universitären Beratungseinrichtungen sowie auf Befragungen und Gruppeninterviews mit einer kleinen Gruppe von Studierenden mit Migrationshintergrund.
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Ausblendung „der möglichen Bedeutsamkeit von Migrationshintergründen“ (ebd.) zugunsten der Orientierung an mehrheitsbezogenen Normalitätsvorstellungen einher. Als potenziell besondere Erfahrungen von Studierenden, die als Migrationsandere identifiziert werden, verweisen die interviewten Expert*innen unter anderem auf „Vorbehalte und Prozesse sozialer Schließung unter Studierenden“ (ebd.). So würden Studierende anderer nationaler und sprachlicher Hintergründe und von ihren Kommiliton*innen für schlechtere Lernbedingungen verantwortlich gemacht und aus Lerngruppen ausgegrenzt (vgl. ebd.). Lehrende seien zudem teilweise nicht gut auf die Arbeit mit Studierenden anderer Herkunft und Muttersprache vorbereitet, was zu kategorisierenden Wahrnehmungen und Zuschreibungen führe, ohne die unterschiedlichen Lebenssituationen und Studienbedingungen der Studierenden zu berücksichtigen (vgl. ebd.). Eine weitere explorative Studie wurde 2010 vom Institut für Genderforschung und Diversity an der Fachhochschule Kiel durchgeführt (Discher/Plößer 2010). Auch in dieser Studie wird das Ziel formuliert, durch die Rekonstruktion von Erfahrungen der Studierenden innerhalb (und außerhalb) der Hochschule „Hinweise auf die Entwicklung unterstützender migrationssensibler Angebote durch die Hochschule zu erhalten“ (ebd.: 3). Die Autorinnen nehmen besonders die Bedeutung von und den Umgang mit Differenzverhältnissen innerhalb der Hochschule in den Blick. Mithilfe qualitativer Leitfadeninterviews wurden die Zugehörigkeitserfahrungen Studierender ‚mit Migrationshintergrund‘ sowie ihre „Sichtweisen und Handlungsstrategien“ (ebd.: 2) erfragt. Die Forscherinnen beschränken sich nicht auf eine deskriptive Erfassung von studienbezogenen Hindernissen, sondern unternehmen den Versuch, die Studie auch theoretisch zu fundieren. Sie ziehen Anregungen aus theoretischen Überlegungen von Paul Mecheril (2003) über Zugehörigkeit(serfahrungen), die sie als theoretische Folie für die Interpretation der Erfahrungen von Fachhochschulstudierenden verwenden. Hinsichtlich der Zugehörigkeitserfahrungen der Studierenden kommen die Forscherinnen zu dem Schluss, dass die Anrufung als Andere einen konstitutiven Bestandteil des Alltags der befragten Subjekte darstelle. Dies führe dazu, dass die Studierenden sich nicht (fraglos) als der deutschen Mehrheitsgesellschaft Zugehörige betrachten können. Darüber hinaus arbeiten sie verschiedene Kontexte heraus, in denen in der Hochschule Zuschreibungen von Andersheit erfolgen, wodurch Zugehörigkeitserfahrungen für die Studierenden erschwert werden. Aber auch positive (Anerkennungs-)Erfahrungen kommen zur Sprache. Es wird ein wertschätzender Umgang mit Differenz an der Hochschule thematisiert, der sich z.B. darin zeigt, dass Lehrende im Zuge der Prüfungsvorbereitung auf die Mehrsprachigkeit von Studierenden eingehen. Die Autorinnen weisen auch darauf hin, dass die Studierenden eigene Diskriminierungserfahrungen zum Teil als Distinktionsstrategien nutzen. Vor allem Studierende aus dem Bereich Soziale Arbeit sehen eigene Diskriminierungserfahrungen demnach als Ressource für eine besondere Sensibilität im professionellen Umgang mit Differenzverhältnissen. Auch eine 2014 veröffentlichte Studie zu „Erfahrungen internationaler Studierender und Studierender mit Migrationshintergrund“ an der Technischen Hochschule Mittelhessen (Bleicher-Rejditsch et al. 2014) folgt der Leitidee, durch die Einbeziehung der Perspektive von Studierenden Ansätze für die Interkulturelle Öffnung der Hochschule zu gewinnen. Der Forschungsbericht enthält eine umfangreiche und reflektierte Darstellung der Ergebnisse einer qualitativen und quantitativen Befragung
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der Studierenden, in der Diskriminierungserfahrungen im Zentrum stehen. Auch diese Studie orientiert sich an einem rassismuskritischen, zugehörigkeitstheoretischen Theorierahmen. Die beschriebenen Erfahrungen der Studierenden an der Hochschule werden dabei in den Kontext gesellschaftlich verbreiteter ‚Wir‘-‚Sie‘-Oppositionen und Ausschlusstendenzen gestellt. Als besonders zentral für die Erfahrungen Studierender ‚mit Migrationshintergrund‘ identifizieren die Autorinnen „subtilere Erfahrungen der Zuschreibung, der Stereotypisierung, des Ausschlusses […], die im gegenwärtigen Diskurs in Deutschland kaum als Diskriminierungs- oder gar als Rassismuserfahrungen wahrgenommen bzw. benannt werden (können)“ (ebd.: 93). In diesem Zusammenhang wird auch die eigene Konstruktion der Untersuchungsgruppen selbstkritisch reflektiert, die den Selbstpositionierungen der Befragten oft nicht entsprechen und Ausgrenzung reproduzieren (vgl. ebd.: 119ff.). Mit der Kontextualisierung des Themas Migration im Rahmen der Diskussion um Internationalisierung und Diversität und der Betrachtung nationaler, sprachlicher und sozio-kultureller Heterogenität als produktives Potenzial für die Hochschulentwicklung deutet sich ein Perspektivwechsel im Diskurs um Migration und Hochschulbildung an. So gibt es Anzeichen dafür, dass der Blick nicht mehr allein auf die Problemlagen bestimmter Gruppen von Studierenden fokussiert wird, die den Normalitätserwartungen der Hochschule nicht entsprechen. Stattdessen wird der institutionelle Umgang mit den heterogenen Voraussetzungen der Studierenden stärker zum Thema gemacht und die Entwicklung von Strategien, die allen Studierenden die Teilhabe am universitären Leben ermöglichen, als Ziel und Aufgabe der Hochschulen definiert. Dieser Perspektivwechsel wird auch durch diskriminierungs- und rassismuskritische Theoriebezüge möglich. Eine weitere Chance der sich entwickelnden breiteren Diskussion um Diversität an der Hochschule ist darin zu sehen, dass nationale, sozio-kulturelle und sprachliche Differenzen nicht mehr singulär, sondern im Verhältnis zu anderen Differenzdimensionen gesetzt werden, die bei der Untersuchung von Benachteiligungen und Privilegierungen sowie bei der Entwicklung inklusiver Hochschule einzubeziehen sind. Im Vergleich mit früheren Studien fallen jedoch auch Kontinuitäten auf. So wird das Verhältnis zwischen Studierenden mit Migrationshintergrund und der Hochschule nach wie vor aus einer vorwiegend problemorientierten Sicht thematisiert. Im Vordergrund stehen Fragen nach den besonderen Schwierigkeiten und Belastungen der Studierenden. Diese Problemzentrierung strukturiert zum Teil bereits die Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes und der Fragestellung und geht auch in die jeweiligen Erhebungsinstrumente ein. Sie hat insofern eine Berechtigung als sie zur Aufdeckung der subtilen Mechanismen beiträgt, die Teilhabe und Ausschluss im akademischen Feld regeln. Diese stellen möglicherweise gerade für Studierende aus Familien ohne Hochschultradition oder mit anderen sprachlich-kulturellen Hintergründen potenzielle Hürden dar. Institutionelle Barrieren für Partizipation und Studienerfolge können auf diese Weise aufgedeckt werden. Durch die Konzentration auf Fragen nach Benachteiligungs- und Marginalisierungserfahrungen wird die Situation von Studierenden aus migrierten Familien an der Hochschule jedoch von vorne herein als problematisch markiert. Studienrelevante Ressourcen und Handlungsstrategien, die es den Studierenden ermöglichen erfolgreich an Hochschulbildung teilzunehmen, sind dagegen bislang kaum untersucht. Zudem kann der Eindruck entstehen, dass Differenz- und Ausschlusserfahrungen an der
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Hochschule für Studierende mit Migrationsgeschichte die primär relevante Erfahrungsdimension darstellen. Eine weitere Begrenzung der vorgestellten Forschungen liegt darin, dass die Perspektive der Studierenden auf ihr Studium in (halb-)strukturierten Befragungen nur als Momentaufnahme erfasst wird. Dagegen bleibt offen, wie sich die Studierenden vor dem Hintergrund ihrer individuellen Erfahrungs- und Erwartungshaltung zum Bildungskontext Hochschule ins Verhältnis setzen und wie sich Erfahrungshaltungen, Zugehörigkeitserfahrungen und Selbstverortungen im Verlauf des Studiums möglicherweise verändern.
4. Migration und pädagogische Profession – Reflexionen zum Diskurs über ‚Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte‘
Ein dritter Strang der Fachdiskussion, der als Bezugskontext für die Verortung der eigenen Forschung relevant ist, betrifft den Diskurs über die Rolle pädagogischer Professioneller mit Migrationsgeschichte im Bildungswesen. Dazu tragen sowohl Ereignisse und Diskussionen auf der bildungs- und integrationspolitischen Ebene bei als auch die erziehungswissenschaftliche Fachdiskussion. Wie bereits erwähnt gibt es seit einiger Zeit Bemühungen, Schulabgänger*innen mit eigenen oder familialen Migrationserfahrungen für Bildungsgänge zu gewinnen, die auf pädagogische Berufe und Tätigkeiten hinführen. Besonders intensive Bestrebungen richten sich seit einigen Jahren darauf, durch unterschiedliche Maßnahmen eine Steigerung des Anteils von Lehramtsstudierenden mit Migrationsgeschichte herbeizuführen. Im Folgenden wird zunächst die bildungspolitische Diskussion skizziert, bevor eine Auseinandersetzung mit dem empirischen Forschungsstand zu den Qualifikationswegen und Selbstverständnissen von Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte erfolgt.
4.1 V ORBILDER , M ITTLER * INNEN , CHANGE AGENTS ? P ÄDAGOG * INNEN ‚ MIT M IGRATIONSGESCHICHTE ‘ IN DER ÖFFENTLICHEN D ISKUSSION Infolge gesellschaftlicher Modernisierungsprozesse, die auch Mobilitäts- und Migrationsprozesse bedingen, haben sich die europäischen Gesellschaften in sozialer, kultureller und sprachlicher Hinsicht pluralisiert. Dies spiegelt sich auch in der Zusammensetzung der Lernenden in den Institutionen des Bildungswesens sowie anderer pädagogischer Einrichtungen wider. Rund ein Viertel der Bildungsteilnehmer*innen haben laut Bildungsbericht des Bundes eine Migrationsgeschichte (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 43). In den westlichen Bundesländern kommen – je nach Region – zwischen 30% und 50% der unter 25-Jährigen aus migrierten Familien, in den neuen Bundesländern liegt ihr Anteil bei etwa 10% (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008: 19). Insbesondere in den Großstädten und Ballungszentren der alten Bundesländer sind heterogene Herkunftshintergründe,
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Migrationserfahrungen und lebensweltliche Mehrsprachigkeit der Lernenden – in der Schule, in Jugendzentren oder Vereinen – längst Normalität. Die sozial und natio-kulturell heterogene Zusammensetzung der Lernenden spiegelt sich jedoch nur unzureichend in den Schulkollegien und pädagogischen Teams der Bildungseinrichtungen wider: Laut der Angaben des Nationalen Bildungsberichts (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 43) haben lediglich 7% des Personals in den Einrichtungen des formalen Bildungswesens einen Migrationshintergrund. Der geringe Anteil von Lehrenden mit eigenen oder familialen Migrationserfahrungen wird seit einiger Zeit besonders im Bereich der schulischen Bildung wahrgenommen. In den Schulen liegt der Anteil von Professionellen mit Migrationshintergrund laut Angaben des Statistischen Bundesamtes bei rund 6% (Georgi Ackermann/Karakaú 2011: 18). Von rund 46.000 Lehrkräften ist knapp ein Drittel (15.000) in beruflichen Schulen tätig. In den allgemeinbildenden Schulen verteilen sich 20.000 Lehrende auf Grund-, Haupt-, Real- und Sonderschulen, lediglich 11.000 sind an Gymnasien tätig (vgl. ebd.). Auch in anderen pädagogischen Handlungsfeldern liegt der Anteil von Pädagog*innen mit Migrationshintergrund nicht wesentlich höher. Eine Studie der Max-Traeger-Stiftung kommt ausgehend von den Mikrozensus-Daten von 2008 zu dem Schluss, dass lediglich 7% der Erzieher*innen in Kindergärten und Kindertagesstätten einen Migrationshintergrund haben (Fuchs-Rechlin 2010: 47ff.). Für den außerschulischen Bereich liegen zwar keine Zahlen vor, jedoch scheint die Situation auch hier nicht grundlegend anders zu sein. So wird im Integrationsprogramm des Bundes (BAMF 2010: 106) darauf hingewiesen, dass Trainer*innen und Dozent*innen mit Migrationshintergrund auch in der außerschulischen Jugend- und Erwachsenenbildung nicht ihrem Anteil an der Bevölkerung entsprechend vertreten sind. Die Unterrepräsentanz von Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen ist nicht in erster Linie auf geringere Einstellungschancen beim Übergang in den Beruf zurückzuführen, sondern zeigt sich bereits in der Beteiligung an Bildungsgängen, die auf eine Tätigkeit in pädagogischen Berufen hinführen. Im Hinblick auf hochschulische Bildungsgänge wird in der Studierendensozialerhebung darauf hingewiesen, dass sich Studienberechtigte aus Migrantenfamilien deutlich seltener als ihre Kommiliton*innen für ein Lehramtsstudium entscheiden. Während in anderen Studiengängen nur wenig Unterschiede hinsichtlich der Präferenzen von Studierenden mit und ohne Migrationshintergrund festzustellen sind, zeigen sich beim Lehramtsstudium deutliche Differenzen: Nur 10% der Studierenden mit Migrationshintergrund befinden sich in einem Lehramtsstudium, während dies in der Gesamtheit aller Studierenden für 14% zutrifft (vgl. Middendorff et al. 2013: 534).1 1
Bezieht man bei der Betrachtung der Studienwahlpräferenzen die Differenzkategorie Geschlecht mit ein, so wird eine weitere Besonderheit der sozialen Zusammensetzung in pädagogisch ausgerichteten Studiengängen deutlich: Studienfächer der Fächergruppe Sozialwissenschaften/Pädagogik/Psychologie werden mehr als doppelt so häufig von Frauen gewählt als von Männern; dies gilt für Studierende mit und ohne Migrationshintergrund. Studentinnen mit Migrationshintergrund wählen dabei mit 16% etwas seltener als ihre Kolleginnen ohne Migrationshintergrund (20%) ein Studienfach aus dieser Gruppe (vgl. ebd.: 533). Das Geschlechterverhältnis im erziehungswissenschaftlichen Studium ist entspre-
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Der Umstand, dass Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte in Bildungseinrichtungen in Deutschland nicht proportional zum Anteil der Schüler*innen aus migrierten Familien repräsentiert sind, wird seit etwa zehn Jahren auch in der Bildungs- und Integrationspolitik wahrgenommen und problematisiert. Sowohl auf Bundesebene als auch auf der Ebene einiger Bundesländer wird die Erhöhung des Anteils von Professionellen mit Migrationsgeschichte in verschiedenen Handlungsfeldern und Bereichen des Bildungssystems als bildungspolitisches Ziel formuliert (vgl. z.B. die Bundesregierung 2007: 67; BAMF 2010: 101 ff.; die Bundesregierung 2012: 67; MGFFI 2006: 9). Diese Zielsetzung wird vor allem mit der Pluralisierung der natio-ethnokulturellen und sprachlichen Hintergründe der Schüler*innenschaft begründet, die sich auch in der Zusammensetzung der Lehrkräfte stärker widerspiegeln soll. Einen weiteren Hintergrund für die Forderung nach mehr Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte stellt der prognostizierte Lehrer*innenmangel dar, der eine Gewinnung zusätzlicher Lehrkräfte notwendig macht. Laut Integrationsprogramm der Bundesregierung „werden in den nächsten zehn Jahren rund 80.000 Lehrerstellen nicht oder nicht adäquat durch voll ausgebildete Lehrkräfte besetzt werden können“ (BAMF 2010: 107). Zudem stehen die Bemühungen um mehr Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte auch in Zusammenhang mit dem (demokratie)politischen Anliegen, allen Bürger*innen einen gleichberechtigten Zugang zu anerkannten und qualifizierten beruflichen Positionen (insbesondere im öffentlichen Dienst) zu gewährleisten (vgl. ebd.: 106). Dabei ist festzuhalten, dass die Forderung nach einer Personalentwicklung, die der migrationsgesellschaftlichen Realität Rechnung trägt, nicht neu ist (vgl. KrügerPotratz 2007). So findet sich bereits in der Empfehlung der Kultusministerkonferenz „Interkulturelle Bildung und Erziehung“ von 1996 ein Plädoyer für die Qualifizierung von Lehrkräften zur interkulturellen Erziehung und für eine rechtliche Erleichterungen bei der Einstellung nichtdeutscher Lehrkräfte in allen Unterrichtsfächern (vgl. KMK 1996: 6). Marianne Krüger-Potratz (2007) weist darauf hin, dass diese Forderungen jedoch – obwohl es Vorschläge für die Umsetzung dieser Empfehlungen gab – lange Zeit nicht weiter verfolgt worden seien. Erst seit Mitte der 2000er Jahre wurde die Erhöhung des Anteils pädagogischer Professioneller mit Migrationsgeschichte im Bildungswesen auch auf Bundesebene zu einem Ziel staatlicher Integrationspolitik erklärt (vgl. Krüger-Potratz 2013: 20). Mittlerweile sind von Seiten des Bundes und der Länder sowie von verschiedenen Stiftungen eine Reihe von Initiativen lanciert worden, um Schüler*innen mit Migrationshintergrund gezielt für ein Lehramtsstudium zu werben und sie während des Studiums und des Referendariats mit geeigneten Mitteln zu unterstützen (vgl. BAMF 2010: 107f.). Beispiele dafür sind das Stuttgarter Projekt „Migranten machen Schule“ sowie verschiedene Initiativen auf Landes- und Bundesebene. Im Rahmen chend unausgewogen; Frauen sind im Fach Erziehungswissenschaft mit 77,7% an den Studierenden deutlich überrepräsentiert (Statistisches Bundesamt 2013: 173). Auch in den pädagogischen Berufsfeldern sind Frauen und Männer unterschiedlich stark repräsentiert. So gibt der Nationale Bildungsbericht an, dass im Jahr 2008 knapp zwei Drittel (68%) des pädagogischen Personals Frauen waren (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 41). Dabei war der Frauenanteil im vorschulischem Bildungsbereich am höchsten (97%), während er in allgemeinbildenden und beruflichen Schulen bei rund 64% lag (ebd.: 232).
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des Projekts „Schülercampus: Migranten werden Lehrer“, gefördert von der ZEIT Stiftung und unterschiedlichen Partnerorganisationen auf Landesebene, erhalten Schüler*innen aus Migrantenfamilien in einem mehrtägigen Workshop Gelegenheit, sich über die Lehramtsausbildung und den Lehrberuf zu informieren. Das Programm „Horizonte“ der Hertie-Stiftung bietet ein Stipendienprogramm, das Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund finanziell und ideell unterstützt. Darüber hinaus gibt es in mehreren Bundesländern Netzwerke von Lehrkräften mit Migrationshintergrund, die in der Zusammenarbeit verschiedener bildungspolitischer Akteur*innen gegründet worden sind und eine Vernetzung und den Austausch von angehenden Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte fördern sollen. Beispiele dafür sind die Netzwerke für Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte in Hamburg, Bremen, Berlin, NRW, Niedersachsen und Bayern (vgl. Stiller/Zeoli 2010). Im Rahmen des Projekts „AQUA“ unterstützte die Otto Benecke Stiftung zwischen 2011 und 2013 Lehrer*innen, die ihre Ausbildung im Ausland durchlaufen haben, durch eine Qualifizierung auf Hochschulniveau beim beruflichen Quereinstieg. Zudem gibt es an einzelnen Hochschulen Qualifizierungs- und Beratungsangebote für Lehramtsstudierende aus Migrationsfamilien, die gezielt auf die Anforderungen im Berufsfeld Schule vorbereiten und die Teilnehmenden im Umgang mit Diskriminierung stärken sollen oder der Vermittlung fachsprachlicher Kompetenzen dienen. In Berlin und Hamburg wurde eine Quotierung eingeführt, die beim Zugang zum Referendariat wirksam wird und dazu beitragen soll, den Anteil der Lehramtsabsolvent*innen mit Migrationsgeschichte im zweiten Teil der Ausbildung zu erhöhen (vgl. Rotter 2009: 7). Wenngleich diese Maßnahmen zweifellos zu begrüßen sind insofern sie darauf abzielen, Diskriminierung und ungleiche Zugangsmöglichkeiten zum Lehramtsstudium und zu beruflichen Positionen im Bildungswesen abzubauen, so wirft das bildungspolitische Ziel „mehr Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte“ auch Fragen auf. Was sind die Motive für diese Forderung? Was verspricht sich die Bildungs- und Integrationspolitik von der verstärkten Ausbildung und Einstellung von Pädagog*innen mit eigenen oder familialen Migrationsgeschichten? Und welche Vorannahmen liegen diesen Erwartungen zugrunde? Verfolgt man die bildungspolitische Diskussion, so wird schnell deutlich, dass sich mit dem Bestreben, mehr Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte für pädagogische Berufe zu gewinnen, vielfältige Hoffnungen und Erwartungen verbinden, die eng an die Rolle der (zukünftigen) Professionellen geknüpft sind: Sie gelten als „Mittler zwischen den Kulturen“ (MSW NRW 2007: 3), als „Modell für gelungene Integration und geglückte Bildungskarrieren“ (ebd.) und als „Hoffnungsträger der interkulturellen Öffnung von Schule“ (Karakaúoƣlu 2011: 121). Untersucht man die Argumente in der bildungspolitischen Debatte systematischer, so lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen den künftigen Professionellen mit Migrationserfahrungen eine entscheidende Bedeutung zugeschrieben wird.2 Erstens werden Erwartungen im Hinblick auf die Bedeutung der Lehrenden für die Schülerinnen und Schüler formuliert. So wird angenommen, dass Pädagog*innen mit eigenen oder familialen Migrationserfahrungen besonders sensibel für die Lebenswelten und die Probleme und Bedürfnisse von Schüler*innen aus migrierten 2
Eine detaillierte Analyse der relevanten bildungspolitischen Dokumente bietet ein Beitrag von Yalz Akbaba, Karin Bräu und Meike Zimmer (2013).
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Familien seien und diese daher adäquat ansprechen und angemessen fördern können. „Da sie viele Probleme von Migranten aus der eigenen Betroffenheitsperspektive kennen, können sie sich sensibler, bewusster und erfolgreicher mit der Diagnose und Förderung spezieller Problemlagen befassen“ (MSW NRW 2007: 3). Damit zusammenhängend wird auch die Hoffnung formuliert, dass die Lehrer*innen (direkt oder indirekt) einen Beitrag zur Verbesserung der Schulleistungen von Schüler*innen mit Migrationshintergrund leisten könnten (vgl. Rotter 2009). Auch wird angenommen, dass die Lehrer*innen für die Schüler*innen Identifikationspersonen, Mentor*innen und Vorbilder repräsentieren und sich aufgrund geteilter Erfahrungen zwischen Pädagog*innen und Schüler*innen ein besonderes Vertrauensverhältnis aufbauen kann. Zweitens werden (in Bezug auf den vorschulischen und schulischen Bildungsbereich) Erwartungen an die Pädagog*innen herangetragen, die sich auf die Zusammenarbeit mit Eltern mit Migrationsgeschichte beziehen. Die Pädagog*innen scheinen als Vermittler*innen zwischen Schule und Eltern prädestiniert zu sein, da sie selbst über sprachliche Kompetenzen in den Erstsprachen der Eltern verfügen und migrationsspezifische Erfahrungen mitbringen, die in der Kommunikation mit den Eltern und in der Vermittlung bei Konflikten zwischen Schule und Eltern von Vorteil sind (vgl. BAMF 2010: 102). Drittens wird den Pädagog*innen eine wichtige Funktion im Rahmen interkultureller Schulentwicklung (vgl. Karakaúo÷lu//Gruhn//Wojcziechowicz 2011) zugesprochen. So werden ihre möglichen Aufgaben u.a. darin gesehen, sich an der Entwicklung didaktischer Materialien zu beteiligen und „interkulturelle Perspektiven auf Schule und Unterricht [zu] eröffnen“ (BAMF 2010: 102). Dabei wird auch auf die Notwendigkeit hingewiesen, dass Lehrkräfte Funktionen in der Schulleitung und der Aus- und Weiterbildung von Lehrer*innen übernehmen (vgl. ebd.). Zudem wird von den Lehrkräften erwartet, dass sie Vermittlungsarbeit im Kollegium leisten, indem sie möglichen „Vorbehalten (gegenüber Schüler*innen mit Migration, D.S.) im Lehrerkollegium entgegenwirken“ (ebd.). Diese Erwartungen beruhen dabei auf nicht immer reflektierten Vorannahmen über den Zusammenhang von eigenen Migrationserfahrungen und Kompetenzen der Lehrenden im Umgang mit sprachlich und kulturell heterogenen Lerngruppen. So heißt es beispielsweise in einem Konzept der Nordrhein-Westfälischen Landesregierung: „Lehrkräfte mit Zuwanderungsgeschichte können mit ihrem spezifischen Kompetenzprofil – ihrer ‚natürlichen‘ und ihrer in der Bildungsbiografie erworbenen multikulturellen Kompetenz – in vielfältiger Weise die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Zuwanderungsgeschichte fördern“ (MSW NRW 2007: 6). Die Bedeutung der Lehrenden für die Schule wird damit in der Förderung von Schüler*innen mit Migrationshintergrund gesehen, wobei angenommen wird, dass die Pädagog*innen durch ihre eigenen Erfahrungen dazu in ‚natürlicher‘ Weise befähigt seien. Damit werden den Lehrenden aufgrund ihrer eigenen oder familialen Migrationsbiographie in generalisierender Weise Kompetenzen zugeschrieben, die in der Arbeit mit heterogenen Lerngruppen als relevant eingeschätzt werden. Ihre Professionalität und Eignung für die Lehrtätigkeit wird nicht an fachliche Kriterien, sondern in erster Linie mit einer informell erworbene „multikulturellen Kompetenz“ verknüpft, wobei unklar bleibt, was darunter genau verstanden werden kann. In neueren bildungspolitischen Dokumenten wird der Zusammenhang zwischen der eigenen Migrationsbiographie und den Kompetenzen der Pädagog*innen aller-
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dings vorsichtiger formuliert; zum Teil wird explizit darauf hingewiesen, dass eigene Migrationserfahrungen keine automatische Befähigung für die professionelle Arbeit mit heterogenen Lerngruppen darstellen (vgl. BAMF 2010: 106). Konsens scheint jedoch darüber zu bestehen, dass Pädagog*innen mit Migrationshintergrund eine bedeutende Rolle im Prozess der interkulturellen Öffnung von Bildungseinrichtungen haben und sie wichtige Funktionen für einen ressourcenorientierten Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt im Bildungswesen erfüllen können. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass (angehende) Pädagog*innen mit Migrationshintergrund „im Kreuzfeuer der Erwartungen“ (Georgi et al. 2011: 273) stehen, die sich auf unterschiedliche Ebenen ihrer professionellen Rolle beziehen. Dabei weist die bildungspolitische Diskussion einige Verkürzungen auf (systematisch dazu: Akbaba/Bräu/Zimmer 2013). Zum einen richtet sich die Aufmerksamkeit in hohem Maße auf die individuelle Person der Lehrenden und ihre (‚migrationsbedingten‘) Ressourcen und Kompetenzen. Dies bedeutet, dass hohe Erwartungen an die Individuen und ihre individuelle Gestaltungs- und Veränderungsfähigkeit gerichtet werden. Dagegen werden die gesellschaftlichen und institutionellen Kontexte und Rahmenbedingungen, in denen pädagogisches Handeln stattfindet, tendenziell ausgeblendet. Darüber hinaus fällt auf, dass eine enge Verbindung zwischen den Migrationsbiographien der Pädagog*innen und ihren professionellen Handlungskompetenzen unterstellt wird: So wird erstens selbstverständlich davon ausgegangen, dass die Migrationsbiographie entscheidend für das professionelle Selbstverständnis sowie für das Handeln der Lehrenden sei. Zweitens steht (direkt oder indirekt) die Annahme im Raum, dass eigene Migrations- und Differenzerfahrungen automatisch mit dem Erwerb von Kompetenzen gekoppelt sind, die für ein professionelles Handeln in Bildungsinstitutionen mit einer migrationsbedingt heterogenen Klientel qualifizieren.
4.2 Q UALIFIZIERUNGSWEGE , B ERUFSERFAHRUNGEN UND S ELBSTVERSTÄNDNISSE VON P ÄDAGOG * INNEN MIT M IGRATIONSGESCHICHTE – ZUM F ORSCHUNGSSTAND Im deutschsprachigen Raum bestand längere Zeit der Eindruck, dass der bildungspolitische Diskurs um ‚Pädagog*innen mit Migrationshintergrund‘ der wissenschaftlichen Forschung voraus eilte (vgl. Rotter 2009). In Zusammenhang mit dem bildungspolitischen Diskurs zeichnet sich in den letzten Jahren jedoch eine Intensivierung der wissenschaftlichen Forschung ab (vgl. stellvertretend Fereidooni (Hg.) 2012; Bräu/Georgi/Karakaúoƣlu/Rotter (Hg.) 2013). Neben Überblicksdarstellungen und Beiträgen, die sich der kritischen Aufarbeitung der bildungspolitischen Debatte widmen (vgl. Akbaba/Bräu/Zimmer 2013; Strasser/Steber 2010) finden sich inzwischen auch Beiträge, die auf empirischen Forschungsprojekten3 fußen und sich mit den Qualifikationswegen, Selbstverständnissen und Berufserfahrungen von Päda-
3
Vielfach handelt es sich um eher explorative Beiträge, die im Prozess der Entwicklung von Qualifikationsarbeiten entstanden sind, es gibt aber auch einzelne größere Forschungsprojekte, die zum Teil im Rahmen politischer Auftragsforschung entstanden sind (vgl. Georgi/Ackermann/Karakaú 2011).
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gog*innen mit Migrationsgeschichte befassen. Sie gehen den Erfahrungen von Lehrkräften mit Migrationsgeschichte im Schulalltag und in den verschiedenen Phasen der Lehramtsausbildung nach und fragen u.a. nach professionellen Orientierungen im Umgang mit Mehrsprachigkeit (vgl. Schlickum 2013), beruflichen Selbstkonzepten (vgl. Rotter 2012; 2014) und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen der Professionellen (vgl. Georgi 2013). Auch Rassismuserfahrungen (vgl. Kul 2013) und Zuschreibungen (vgl. Wojcziechowicz 2013; Knappik/Dirim 2012), die Lehrkräfte im schulischen Feld erleben, sind Gegenstand von teilweise noch laufenden Forschungen. Im anglo-amerikanischen Kontext sind bereits seit den 1980er Jahren Forschungen durchgeführt worden, die die geringe Repräsentanz von Lehrenden aus ethnischen Minderheiten im US-amerikanischen, kanadischen und britischen Schulsystem thematisieren (vgl. Georgi 2013). Dabei ist zu berücksichtigen, dass die USA und Kanada klassische Einwanderungsländer darstellen, die sich ebenso wie Großbritannien hinsichtlich ihrer Geschichte der Migration und der Struktur der Einwanderung deutlich von der deutschen Einwanderungsgeschichte unterscheiden. Dennoch lassen sich Parallelen zur Entwicklung in Deutschland ziehen, was die geringe Zahl von ethnic minority teachers betrifft. Die Unterrepräsentanz von ethnic minority teachers wird in den anglo-amerikanischen Forschungen sowohl auf Hindernisse und institutionelle Diskriminierungen im Bildungsverlauf zurückgeführt als auch auf die allgemein geringe Attraktivität des Lehrberufs aufgrund schlechter Bezahlung, eines geringen sozialen Status und schlechten Unterrichtsbedingungen (vgl. Carrington/Bonnett/Demaine et al. o.J.). Auch die Angst vor Rassismus und Vorurteilen in mehrheitlich ‚Weißen‘ Schulen sowie in bestimmten geographischen Regionen stellen einen Hintergrund für die geringe Zahl von Lehrer*innen aus ethnischen Minderheiten dar (vgl. Cunningham/Hargreaves 2007; Carrington et al. o.J.). Im Hinblick auf die Beweggründe für die Berufswahl, die Lehrkräfte aus sogenannten ethnischen Minderheiten nennen, wird betont, dass sich viele Professionelle als Rollenvorbild für die eigene Community und für ihre Schüler*innen sehen (Carrington et al. o.J.). Dabei werden auch eigene Erfahrungen mit fehlenden Rollenmodellen in der eigenen Schulzeit sowie das Ziel, die Strukturen des Bildungssystems von innen heraus verändern zu wollen, als Motive für die Aufnahme des Lehrberufs angeführt (vgl. ebd.). Thematisiert wird auch die mögliche Bedeutung von ethnic minority teachers für die Gestaltung von Schule in natio-ethno-kulturell und sprachlich pluralisierten Gesellschaften, für Schüler*innen unterschiedlicher Herkunft sowie für die Schule als Organisation. Übereinstimmend kommen mehrere Studien zu dem Ergebnis, dass die ähnlichen sozio-kulturellen und sprachlichen Ausgangslagen zwischen Lehrenden und Lernenden sowie geteilte Erfahrungen als Minderheitenangehörige in der Gesellschaft für die Beziehung zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen von erheblicher Bedeutung sind. Dabei betonen einige US-amerikanische Autor*innen die besondere Bedeutung kultureller Gemeinsamkeit und Verbundenheit zwischen Lehrer*innen und Schüler*innen, die derselben Minderheit angehören (vgl. Georgi et al. 2011: 26f.). Indem sie als „Kulturübersetzer und Fürsprecher“ (ebd.) für Schüler*innen aus ethnischen Minderheitengruppen fungierten, trügen die Lehrer*innen darüber hinaus indirekt zu verbesserten Schulleistungen der Lernenden bei. Andere Forscher*innen vertreten dagegen die Position, dass die gemeinsame Erfahrung der Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlich marginalisierten Gruppe entscheidender für das Entstehen einer wechselseitigen Identifikation ist als die Zugehörig-
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keit zu einer speziellen ethnischen Gruppe (vgl. Georgi et al. 2011: 27). Einer Studie von Cunningham und Hargreaves (2007) zufolge messen ethnic minority teachers ihren eigenen Erfahrungen einen hohen Stellenwert für den Unterricht und den professionellen Umgang mit Schüler*innen unterschiedlicher Herkunftshintergründe bei. Allerdings grenzen sich viele von der Festlegung auf die Vorbildrolle für migrantische Schüler*innen ab und beanspruchen, Vorbild für alle Lernenden zu sein (vgl. ebd.). In der Literatur werden auch Erfahrungen der Lehrkräfte mit Rassismus thematisiert. Erfahrungen mit Diskriminierungserfahrungen zählen demnach zum beruflichen Alltag vieler ethnic minority teachers in Großbritannien. Cunningham und Hargreaves (2007) zeigen zudem auf, dass die Diskriminierung von Lehrkräften auch dazu beiträgt, dass nur ein kleiner Teil von ihnen in schulische Leitungspositionen gelangt. Im deutschsprachigen Kontext befinden sich die Forschung zu den beruflichen Erfahrungen und Orientierungen von Lehrer*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ im Vergleich zur anglo-amerikanischen Debatte zwar erst in den Anfängen, jedoch liegen einzelne qualitative Studien vor, die sich mit den Qualifizierungs- und Professionalisierungswegen von Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ befassen. Insbesondere Arbeiten, die eine biographieorientierte Perspektive einnehmen, liefern für die vorliegende Studie wichtige Anknüpfungspunkte. In ihrer Studie Welten verbinden befasst sich Helma Lutz bereits 1991 mit den Erfahrungen von Professionellen mit Migrationshintergrund in pädagogischen Praxisfeldern der sozialen Arbeit. Sie bezieht sich auf Sozialberaterinnen türkischer Herkunft in den Niederlanden und in Deutschland, die in unterschiedlichen Institutionen der Sozialarbeit tätig waren. Das berufliche Tätigkeitsprofil ist insofern speziell, als es auf Sozialarbeiterinnen mit Migrationsgeschichte zugeschnitten ist, die für die Arbeit mit Klient*innen der gleichen natio-kulturellen Herkunft eingesetzt werden. Lutz geht auf Basis von „biographischen Gesprächen“ (ebd.: 33) unter anderem den beruflichen Anforderungen und Handlungsweisen der als „Mittlerinnen“ bezeichneten Sozialarbeiterinnen nach. In den Fallportraits zeigt sich zunächst, dass die Entscheidung für die Tätigkeit als Mittlerin vielfach an das Erfahrungswissen der Frauen anknüpft. Die Tätigkeiten des Übersetzens und Vermittelns sind Handlungsformen, die an das Erfahrungen und Kompetenzen vieler Frauen der sogenannten zweiten Generation anschlussfähig werden. Zudem handelt es sich bei den helfenden und unterstützenden Tätigkeiten der Sozialarbeiterinnen um in hohem Maße vergeschlechtlichte berufliche Anforderungen (vgl. ebd.: 266). Durch ihre Tätigkeit als Sozialarbeiterinnen machen die Mittlerinnen somit ihre informell erworbenen Fähigkeiten zu ihrem Kapital: „[I]hre kulturelle, ethnische Zugehörigkeit, die oft auch mit ‚Betroffenheit‘ bezeichnet wird, setzen sie in kulturelle Währung um“ (ebd.: 266f.). Die Entscheidung für die Tätigkeit als Mittlerin wird allerdings auch durch die strukturellen Bedingungen des Arbeitsmarkts flankiert, die dazu führen, dass die Migrationssozialarbeit eine der wenigen Nischen auf dem Arbeitsmarkt darstellt, die den Frauen überhaupt offen stehen (vgl. Lutz 1991: 266). Damit lässt sich die Tätigkeit in der Migrationssozialarbeit auch als eine Form der (ethnisierenden und vergeschlechtlichten) Kanalisierung in statusniedrige und gering entlohnte Arbeitsverhältnisse deuten. Weiterhin zeigt Lutz, dass sich für die Mittlerinnen mit ihrem doppelten Status als Expertin und ‚Betroffene‘ verschiedene Dilemmata und Verletzbarkeiten verbinden. So erleben sie oftmals eine Abwertung ihres beruflichen Status, indem sie auf
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die Rolle der Dolmetscherin reduziert werden (ebd.: 267). In der eigenen Community erleben die Frauen, dass sie von anderen nicht als ‚eine der ihren‘ betrachtet werden und ihnen teilweise mit Misstrauen begegnet wird. Eine weitere Problematik besteht darin, dass Sozialarbeiterinnen selbst teilweise von ähnlich prekären Verhältnissen betroffen sind wie ihre Klient*innen. Diese ergeben sich beispielsweise aus ausländerrechtlichen Bestimmungen oder unsicheren Beschäftigungsverhältnissen (die Mittlerinnen sind meist auf zeitlich eng befristeten Projektstellen beschäftigt). Diese Dilemmata haben für die Frauen hohe psychische Belastungen zur Konsequenz, die nach Ansicht der Autorin ein Grund dafür sind, dass viele der von ihr interviewten Sozialarbeiterinnen aufgrund der Arbeitsbelastungen erkrankten oder ihre berufliche Tätigkeit aufgaben (vgl. ebd.). Allerdings betont Helma Lutz auch, dass die Frauen den beruflichen Anforderungen sehr unterschiedlich begegnen und sie zum Teil auch erfolgreich bewältigen; sie sind somit keineswegs passive Opfer ihrer Situation. Vielmehr zeigen sich Handlungspotenziale und -strategien, die es ihnen ermöglichen, sich auch gegen Marginalisierung und Diskriminierung zur Wehr zu setzen (vgl. ebd.: 35). Einer der wenigen vorliegenden empirischen Beiträge, die sich im engeren Sinn auf Studentinnen mit Migrationsgeschichte und ihre Erfahrungen im pädagogischen Studium beziehen, ist ein Aufsatz von Yasemin Karakaúoƣlu-Aydn (2000a), der auf einer qualitativen Studie über Muslimische Religiosität und Erziehungsvorstellungen von Pädagogikstudentinnen türkischer Herkunft (Karakaúoƣlu-Aydn 2000b) basiert. In dem Beitrag thematisiert die Autorin u.a. Ergebnisse ihrer Studie zu den beruflichen Orientierungen und Studienerfahrungen der Befragten. Sie zeigt dabei auf, dass einige der interviewten Studentinnen Akzeptanzprobleme bei ihrer Tätigkeit in deutschen Bildungseinrichtungen befürchten. Diese Probleme werden besonders von Studierenden antizipiert, die das Unterrichtsfach Deutsch gewählt haben und eine mangelnde Anerkennung seitens der Eltern ihrer künftigen Schüler*innen befürchten. Zudem erfahren einige Studierende bereits während studienbegleitender Praktika Hindernisse, beispielsweise aufgrund sichtbarer Zeichen ihrer religiösen Orientierung (insbesondere beim Tragen eines Kopftuchs) (vgl. ebd.: 116f.). Allerdings verbinden einige der von Karakaúoƣlu befragten Studentinnen mit ihrer Migrationsbiographie zugleich auch besondere Chancen auf dem Arbeitsmarkt, da ihnen dadurch Zugänge zu den ethnisch differenzierten Segmenten des Arbeitsmarkts eröffnet werden, die ihren Kommilitoninnen versperrt bleiben (vgl. ebd.: 118). In diesen Nischenbereichen in Organisationen, die sich auf „Serviceleistungen für türkische Adressaten“ (ebd.) spezialisiert haben, sehen „viele [Studentinnen, D.S.] ihre Chancen für die Zukunft“ (ebd.). Diese Zukunftsvorstellung kann zwar einerseits als Ausdruck einer (antizipierten) Abdrängung in bestimmte Segmente des Arbeitsmarkts interpretiert werden, andererseits scheint sie mit dem Befund konform zu gehen, dass einige der Studentinnen mit der Wahl ihres Studiengangs den Wunsch verbinden, zur Veränderung der Lebens- und Bildungssituation türkischer Migrant*innen in Deutschland beizutragen und sich selbst als Vorbilder für die eigene Community zu sehen (vgl. ebd.: 119). Zu den eingangs erwähnten, bereits vorliegenden neueren Arbeiten zählt die Studie Vielfalt im Lehrerzimmer von Georgi/Ackermann/Karakaú (2011), die im Auftrag der Zeit-Stiftung und der Hertie-Stiftung durchgeführt wurde. Sie befasst sich mit der Frage, „wie Lehrerinnen und Lehrer mit Migrationshintergrund ihr professionelles Selbstverständnis konstruieren“ (ebd.: 35). In diesem Zusammenhang interessieren
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sich die Forscherinnen für die Bildungsbiographien und Berufsmotivationen der Lehrkräfte sowie für ihre Erfahrungen im Studium, im Referendariat und im Berufsalltag (vgl. ebd.). Methodisch stützt sich die Studie neben einer strukturierten Fragebogenerhebung auf 60 biographisch-narrative Interviews mit Lehrkräften mit einer eigenen oder familialen Migrationsgeschichte, die sowohl einzelfallbezogen als auch fallvergleichend ausgewertet wurden. Die Ergebnisse der Studie beziehen sich besonders auf die beruflichen Erfahrungen und Positionierungen der Lehrenden. Hinsichtlich des beruflichen Umgangs der befragten Lehrkräfte mit sprachlicher und kultureller Heterogenität kommen die Forscher*innen zu dem Schluss, dass die Mehrzahl der Befragten einen bewussten Umgang mit migrationsbedingter Vielfalt pflegt. Dies sei allerdings noch keine Garantie dafür, dass dies auch in reflektierter Form geschehe. Vielmehr erfolge die Bezugnahme auf Heterogenität oftmals eher intuitiv, zuweilen in Form eines landeskundlich orientierten Kulturvergleich[s]“ (vgl. ebd.: 266). Die Autorinnen machen darauf aufmerksam, dass dies aber nicht den Lehrenden anzulasten sei, sondern die defizitäre Verankerung des Prinzips interkultureller Bildung in der Organisation von Schule widerspiegele, die dazu führe, dass Lehrende „nur wenige systematische Anknüpfungspunkte für die Etablierung und Weiterentwicklung interkultureller Bildungsarbeit vorfinden“ (ebd.). Das Engagement Einzelner für interkulturelles Lernen bleibe damit weitgehend ohne Folge für die Organisation und Kultur der Schule (vgl. ebd.). Damit wird zum einen deutlich, dass die These einer ‚natürlichen‘ Kompetenz für einen reflexiven Umgang mit Heterogenität durch eigene Migrationserfahrungen sich in dieser Form nicht aufrechterhalten lässt. Zum anderen wird dadurch klar, dass die Herausforderungen eines adäquaten Umgangs mit Heterogenität nicht von einzelnen, qua Herkunft scheinbar prädestinierter Pädagog*innen abhängig gemacht und bewältigt werden können, sondern das Thema in eine umfassende Schulentwicklungspolitik eingebunden sein muss, die alle Ebenen der Organisation einbezieht (vgl. ebd.: 272 ff.). Das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden mit Migrationsgeschichte zeichnet sich den Forscher*innen zufolge durch ein besonderes Vertrauensverhältnis aus, das mit der wechselseitigen Annahme geteilter migrationsspezifischer Erfahrungen erklärt werden kann (vgl. ebd.: 268). Diese scheinen unabhängig von der konkreten nationalen Herkunft und ethnisch-kulturellen Zugehörigkeit zu sein. Unter Bezugnahme auf das Modell des „konjunktiven Erfahrungsraums“ (Bohnsack 1998) argumentieren die Forscherinnen, dass durch das geteilte Erleben eines gesellschaftlichen Minderheitsstatus ein gemeinsamer Erfahrungsraum entstehe, „in dem kollektiv geteilte Orientierungen und habitualisiertes Wissen generiert werden“ (ebd.: 268). Diese These liefert auch eine mögliche Erklärung für den Befund, dass Lehrende mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte sich besonders für die Bildungswege und Leistungen von Schüler*innen mit ähnlichen sozio-kulturellen Erfahrungshintergründen engagieren. Laut den Ergebnissen der Studie zeigen die Lehrer*innen eine besondere Sensibilität für die Ausgangslagen und Lebenswelten der Schüler*innen und versuchten, „ganz gezielt das Selbstvertrauen der Kinder und Jugendlichen [...] zu stärken“ (ebd.: 268). Auch außerhalb des Unterrichts übernahmen viele der Befragten eine Rolle als Unterstützer*innen und Vermittler*innen bei innerfamilialen Konflikten oder belastenden Familiensituationen (vgl. ebd.: 269). Darüber hinaus zeigen sich im Hinblick auf die Interaktion mit Eltern „wechselseitige Konstruktionen und Projektionen von Nähe zwischen Eltern und Lehrenden mit Migrationshin-
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tergrund“ (ebd.: 271), die von den Forscherinnen auf habituelle Ähnlichkeiten oder die Annahme gemeinsamer migrationsspezifischer Erfahrungen zurückgeführt werden. Diese (angenommene) Gemeinsamkeit sowie die gemeinsame Sprache schafft eine Vertrauensbasis zwischen Lehrkräften und Eltern und ermögliche es den Eltern, sich in die schulische Kommunikation einzubringen. Es zeigt sich jedoch auch, dass die Lehrenden grundsätzlich die „institutionellen Werte der deutschen Schule vertreten und – wenn nötig – die Einhaltung institutioneller Routinen, Regeln und Werte von den Eltern einfordern“ (ebd.: 271). Hinsichtlich der Bedeutung der eigenen Migrationsgeschichte für das professionelle Selbstverständnis lassen sich die Ergebnisse der Studie folglich so interpretieren, dass die Migrationsbiographie insofern eine Bedeutung hat, als sie die Konstruktion eines gemeinsamen Erfahrungsraums zwischen Lehrkräften, Schüler*innen und ihren Eltern eröffnet. Dass die Professionellen sich aber auch als change agents verstehen, die Veränderungen auf schulorganisatorischer Ebene initiieren, ist dagegen nicht selbstverständlich (vgl. ebd.: 272). In Bezug auf die Rolle der Lehrenden im Kollegium zeichnen die Autorinnen ein uneinheitliches Bild. So berichtet die Mehrheit der Befragten, dass sie im Kollegium Wertschätzung und Akzeptanz erleben und bewertet die Interaktion mit Kolleg*innen positiv (vgl. ebd.: 160). Dennoch machen einige Pädagog*innen auch Erfahrungen mit „Kulturalisierung, Exotisierung, Abwertung und Diskriminierung“ (ebd.). Manche der Befragten berichten davon, dass ihnen bestimmte Rollen und Aufgaben (beispielsweise in Projekten zur Rassismusprävention) nahegelegt werden, für die sie aufgrund ihrer Migrationsbiographie als prädestiniert gelten, oder ihnen ein bestimmtes kulturelles Expert*innenwissen unterstellt wird (vgl. ebd.: 166 ff.). Zum Teil thematisierten die Lehrer*innen Vorurteile und unreflektierten Haltungen von Kolleg*innen, die sich abwertend über Schüler*innen mit Migrationsgeschichte äußern. Einige berichteten auch von subtilen oder offenen Rassismen seitens der Kolleg*innen, die ihnen selbst oder den Schüler*innen entgegen gebracht werden (vgl. ebd.: 131f.). Die Lehrer*innen setzten sich zum Teil aktiv gegen kulturalisierende Zuschreibungen und Diskriminierungen gegenüber Schüler*innen und Eltern ein und engagierten sich für ein Schulklima des wechselseitigen Respekts. Dabei wurden sie jedoch zum Teil wiederum mit Unverständnis oder dem Vorwurf einer „Überempfindlichkeit“ von Kolleg*innen konfrontiert, wenn sie Rassismen thematisierten und anprangerten (vgl. ebd.: 80f.). Interessant sind auch die Ergebnisse zum Umgang der Lehrer*innen mit Migrationsgeschichte mit den ihnen zugeschriebenen Rollen als Vorbilder, Vermittler*innen und Mentor*innen. Hier zeigt sich, dass ein Teil der Befragten sich mit diesen Rollen stark identifiziert und sich darum bemüht, den Erwartungen von Schüler*innen und Kolleg*innen gerecht zu werden. Andere distanzieren sich dagegen von diesen Zuschreibungen. Sie lehnen die mit der Vorbildrolle verbundene Verantwortung ab oder formulieren ein Unbehagen gegenüber den zugewiesenen Funktionen der Vermittlung sowie sozialarbeiterischer Aufgaben (vgl. ebd.: 269f.). Sie betonen stattdessen ihre Rolle als Fachlehrer*innen und/oder vertreten universelle Bildungsziele. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Studie von Rotter (2014), die sich mit den professionellen Selbst- und Fremdkonzepten von Lehrkräften mit Migrationsgeschichte befasst. In ihrer Typologie unterscheidet sie Lehrkräfte, die sich im Wesentlichen als „pädagogisch-professionelle Lernbegleiter“ (ebd.: 260) verstehen, von sol-
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chen, für die sich situationsspezifisch auf ihre Migrationsgeschichte beziehen und einer dritten Gruppe, für die diese zentral für ihr berufliches Selbstkonzept ist. Die Skepsis gegenüber ethnisierenden Rollenzuschreibungen, die in den Selbstpositionierungen vieler Lehrkräfte erkennbar werden, lässt sich dabei u.a. als eine Abwehr von Differenzzuschreibungen und als Reaktion auf die Gefahr einer DeProfessionalisierung bzw. der symbolischen Abwertung fachlicher Qualifikationen verstehen: Auf Kompetenzen und Wissensbestände reduziert zu werden, die aus der persönlichen Migrationsbiographie resultieren, bedeutet u.U. auch eine Entwertung formaler Qualifikationen und Kompetenzen. Zudem können gerade Formen der Unterstützung von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte den Pädagog*innen auch den Vorwurf der Befangenheit einbringen. Dies kann dazu führen, dass die Anerkennung als Professionelle, die sich die Lehrer*innen oftmals erst erarbeiten müssen, seitens der Kolleg*innen oder der Eltern ohne Migrationsgeschichte erneut infrage gestellt wird. Bei aller Unterschiedlichkeit in den jeweiligen Selbstverständnissen der Pädagog*innen zeigt sich in vielen Fällen der Wunsch nach einer eigenmächtigen Entscheidung über die Ausgestaltung der professionellen Rolle. Viele der Interviewten grenzen sich gegenüber Erwartungen und Zuschreibungen, die von Seiten der Schüler*innen und Kolleg*innen an sie herangetragen werden, ab und versuchen, ihre berufliche Rolle selbstbestimmt zu definieren und zu gestalten. Die Untersuchungen machen somit deutlich, dass sich mit der Positionierung als Professionelle mit Migrationshintergrund im Handlungsfeld Schule bestimmte Möglichkeiten, aber auch hohe Anforderungen und Belastungen für die Einzelnen verbinden, die individuell reflektiert und bearbeitet werden müssen. Dabei werden auch gewisse Handlungsparadoxien für die Professionellen erkennbar, die damit zusammenhängen, dass einerseits spezifische Erwartungen an sie herangetragen werden, sie andererseits aber auch angreifbar werden, wenn sie diese Rolle annehmen. Inwiefern die von Georgi et al. (2011) und Rotter (2014) beschriebenen Erwartungen und Zuschreibungen an die Professionellen und ihre Umgangsweisen und Selbstpositionierungen typisch für die Institution Schule sind und inwieweit sie sich auch auf andere pädagogische Handlungsfelder übertragen lassen, ist eine offene Frage. Allerdings gibt es Hinweise darauf, dass es durchaus Gemeinsamkeiten mit Erfahrungen von Lehrenden in anderen Bereichen des Bildungssystems geben könnte. So schreiben Tartakowska und Ackermann (2008) unter Bezugnahme auf USamerikanische Forschungen, dass Lehrende an der Hochschule, die als Angehörige ethnischer Minderheiten identifiziert werden, die Erfahrung machen, dass sie auf die Position als native informants reduziert werden. Ihnen werde die Kompetenz zugesprochen, „den Studierenden Informationen über die eigene ethnische Zugehörigkeit, über Minderheiten generell oder über die Muttersprache zu liefern“ (ebd.: o.S.), während ihnen die Anerkennung als Professionelle in anderen Bereichen nicht sicher sei. Ihre Autorität werde insbesondere dann infrage gestellt, wenn die Lehrkräfte „Anspruch erheben, mit ihrem ‚fremd‘ aussehenden Körper über Diskriminierung und mit einem Akzent die Muttersprache der Studierenden zu unterrichten“ (ebd.). ‚Körper‘ und ‚Akzent‘ erwiesen sich demnach als wesentliche Kategorien für die Fremd-
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wahrnehmung und die Positionierung der Lehrenden im akademischen Feld (vgl. Tartakowska/Ackermann 2008).4 Während die genannten Studien besonders die Erfahrungen und professionellen Selbstverständnisse von Pädagog*innen aufgrund der (ihnen zugeschriebenen Migrationsgeschichte fokussieren, interessiert sich Andrea Braun (2010) in ihrer Dissertation allgemeiner für den Zusammenhang von Biographie, Profession und Migration. Dabei konzentriert sie sich auf die Soziale Arbeit und die Diskussion um sozialpädagogische Professionalität. In der Studie werden die Ergebnisse einer rekonstruktiven Analyse von biographisch-narrativen Interviews mit Sozialpädagoginnen in Deutschland und Kanada präsentiert, die narrationsanalytisch ausgewertet wurden. Den Ausgangspunkt der Studie bildet die Feststellung, dass Sozialpädagog*innen mit Migrationserfahrungen im Feld der Sozialen Arbeit oftmals als „die Lösung des Problems des sozialpädagogischen Umgangs mit vermuteter, unterstellter oder faktischer Differenz angesehen“ (ebd.: 12) werden. Braun geht in ihrer Studie anhand von drei ausführlichen Fallstudien der Frage nach, welche Zusammenhänge zwischen den lebensgeschichtlichen Erfahrungen von Sozialpädagoginnen mit Migrationsgeschichte und ihren professionellen Haltungen und Selbstverständnissen bestehen und welche Bedeutung dabei der Kategorie ‚Migration‘ zukommt. Dabei arbeitet sie heraus, dass die lebensgeschichtlichen Erfahrungen der Sozialpädagog*innen eine wesentliche Bedeutung dafür haben, welche professionellen Haltungen und Selbstverständnisse sie ausbilden. Die „biographischen Grundhaltungen“ (ebd.: 196) der Pädagog*innen, ihre Selbst- und Weltverhältnisse sind maßgeblich dafür, wie sich die Interviewten zur Sozialpädagogik als Profession ins Verhältnis setzen und inwiefern bzw. auf welche Weise sie eine Form der Zugehörigkeit zur Profession etablieren können. Die Rekonstruktion der biographischen Prozesse und „Grundhaltungen“ der Interviewten ermöglicht eine umfassende Analyse des Zusammenspiels von Lebensgeschichte und (der Aneignung von) professionellen Haltungen, wobei sich zeigt, dass die Kategorie ‚Migration‘ nicht in allen Fällen eine entscheidende Dimension darstellt. Die Frage, ob und in welcher Weise ‚Migration‘ als Bezugspunkt für das Selbstverständnis der Professionellen von Bedeutung ist, erweist sich vielmehr als abhängig davon, inwiefern das Thema an die biographischen Selbstverortungen der Befragten oder ihre Suche nach beruflicher Zugehörigkeit anschlussfähig ist (vgl. ebd.: 207). So bietet die Auseinandersetzung mit dem Thema Migration und die Arbeit in Praxisfeldern mit Migrationsbezug einerseits eine Möglichkeit, die Lebensgeschichte und das Feld der Sozialen Arbeit miteinander zu verbinden, was eine Konstruktion beruflicher Zugehörigkeit ermöglicht (vgl. ebd.: 236). Die Nähe zum Thema Migration im beruflichen Kontext kann dann eine „Beheimatung“ (ebd.: 234) bedeuten oder eine „Antwort auf biographische Suchbewegungen“ (ebd.) darstellen. Andererseits stellt die biographische Verknüpfung mit der Profession über eigene Migrationserfahrungen nicht zwangsläufig eine Ressource für die Konstruktion beruflicher Zugehörigkeit dar. Da die Soziale Arbeit allgemein und das Thema Migration im Besonderen einen geringen gesellschaftlichen Status haben, ermöglicht die Positionierung in diesen Bezügen für die Professionellen nicht in jedem Fall soziale Anerkennung, sondern kann – je
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Explorative Ergebnisse zu den Erfahrungen von Wissenschaftlerinnen mit Migrationsgeschichte an deutschen Hochschulen bietet auch ein Beitrag von Bakshi-Hamm (2008).
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nach eigener sozialer Positionierung – auch mit Zuschreibungen, Abwertungen und Marginalisierungen einher gehen. Eine Trennung von Biographie, Migration und Profession kann daher auch als Strategie verstanden werden, die Gefahr eines Statusverlusts durch die „potenzielle Gleichsetzung [...] mit dem Klientel Sozialer Arbeit“ (ebd.: 205) zu verringern. Brauns Zugang macht unter anderem deutlich, dass es sich bei der Verbindung von eigener (Migrations-)Biographie und pädagogischer Profession nicht um ein statisches Verhältnis handelt, sondern um ein Ergebnis aktiver Biographisierungsleistungen. Zudem wird klar, dass sich die Betrachtung des Verhältnisses von Biographie und pädagogischer Profession nicht allein auf die Kategorie ‚Migration‘ beschränken sollte. Für die Frage nach der Herstellung professioneller Zugehörigkeit und der Positionierung im jeweiligen Berufsfeld können sich auch andere Erfahrungen und Differenzverhältnisse als relevant erweisen. Ein weiteres interessantes Ergebnis betrifft die Bedeutung eigener Differenzerfahrungen für die Entwicklung professioneller Haltungen und Orientierungen. Braun kann durch die rekonstruktive Analyse der Lebensgeschichten der Sozialpädagoginnen zeigen, dass eigene Erfahrungen mit Differenz keineswegs gleichzusetzen sind mit einem „reflexiv zugänglichen Wissen um Differenz und gesellschaftliche Differenz- und Ungleichheitsstrukturen“ (ebd.: 225). Eigene Differenzerfahrungen können zwar eine Ressource für die professionelle Identität darstellen, sie führen aber nicht automatisch zu einer professionellen Haltung im Umgang mit Differenz im pädagogischen Handeln. Vielmehr liegt ein Risiko darin, eigene Erfahrungen und Deutungen zu generalisieren oder diese unreflektiert auf die Adressat*innen der Sozialen Arbeit zu übertragen (vgl. ebd.: 227). Dies erscheint gerade angesichts der teilweise verkürzten geführten Diskussion um Pädagog*innen in der Migrationsgesellschaft bedeutsam, in der eigene Migrations-, Differenz- oder Diskriminierungserfahrungen oft als Garant einer Sensibilität gegenüber gesellschaftlichen Machtverhältnissen erscheinen.
4.3 F AZIT
UND A NKNÜPFUNGSPUNKTE FÜR DIE EIGENE F ORSCHUNG
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die bislang vorliegenden Beiträge zu den Bildungswegen und Berufserfahrungen von Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte sich mehrheitlich auf Professionelle beziehen, die bereits im Beruf stehen und die professionellen Selbstverständnisse der ausgebildeten Pädagog*innen sowie ihre Erfahrungen im Beruf thematisieren. Die Studien zeigen auf, dass Professionelle mit Migrationshintergrund in pädagogischen Handlungsfeldern zum Teil mit spezifischen Anforderungen, Erwartungen und Zuschreibungen konfrontiert sind, zu denen sie sich positionieren müssen. Ihre eigenen Migrations- und Differenzerfahrungen können dabei zu Ressourcen bzw. einem Kapital für die Herstellung von Zugehörigkeit zur Profession werden. Zugleich besteht die Gefahr, dass die Professionellen in beruflich abgewertete Felder abgedrängt und auf ihr biographisches Expert*innenwissen reduziert werden, während ihnen fachliche Kompetenzen abgesprochen werden, oder sie diese zumindest immer wieder neu unter Beweis stellen müssen. Hinsichtlich der beruflichen Selbstverständnisse der Pädagog*innen deutet sich an, dass
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die Art und Weise, wie diese ihre Rolle als Professionelle verstehen und ausfüllen, in hohem Maße biographisch gerahmt ist. Um die je aktuelle Positionierung der Subjekte in ihrem beruflichen Handlungsfeld besser zu verstehen, ist es deshalb sinnvoll, diese im Horizont der jeweiligen lebensgeschichtlichen Erfahrungshaltungen, Wissensbestände und Entwürfe zu betrachten. Der Ansatz, Fragen zu Qualifikations- und Professionswegen auf Basis biographischer Analysen nachzugehen, die die gesamte Lebensgeschichte einbeziehen, erscheint darum als besonders geeignet. Die Studienphase steht in den bisher vorliegenden Beiträgen nicht im Zentrum. Die wenigen Beiträge zu diesem Thema geben jedoch Hinweise darauf, dass sich angehende Pädagoginnen bereits im Studium mit Fragen nach ihrer künftigen beruflichen Positionierung auseinandersetzen müssen, was auch mit Fremdzuschreibungen als religiös und kulturell ‚Andere‘ in Zusammenhang steht. Wie sich die Studienwege und -erfahrungen der angehenden Pädagog*innen aber konkret gestalten, ist bisher noch wenig untersucht. Für die vorliegende Forschung ergeben sich daraus zum einen Fragen nach den Bedingungen und Prozessen, die mit der Wahl eines Studiums, das für pädagogische Berufsfelder qualifiziert: Welche Erfahrungen und Erwartungen sind daran beteiligt, dass Studienberechtigte sich für ein pädagogisches Studium entscheiden? Wie antizipieren sie ihre eigene Rolle als Professionelle? Wie integrieren sie das pädagogische Studium in ihren biographischen Entwurf? Zum anderen ergeben sich Fragen nach den Verortungsmöglichkeiten und -strategien der Studierenden im sozialen Kontext pädagogischer Bildungsgänge. Wie positionieren sie sich selbst als angehende Professionelle und wie werden sie positioniert? Welche Handlungsspielräume eröffnen diese Positionierungen? Welche Relevanz hat dabei die Differenzlinie ‚Migration‘?
TEIL II – Theoretischer und method(olog)ischer Rahmen
In der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand wurde aufgezeigt, dass biographische Forschungsansätze in der Migrations- und Bildungsforschung mittlerweile recht gut etabliert sind (vgl. Kap. 2 und Kap. 4.2). Für die empirische Forschung zum Thema Bildung im migrationsgesellschaftlichen Kontext stellen sie – gerade angesichts der Dominanz quantifizierender Forschungen in diesem Feld – eine vielversprechende Zugangsweise dar, die es ermöglicht, Bildungswege und -prozesse im lebensgeschichtlichen Zusammenhang aus der Binnenperspektive der Subjekte in den Blick zu nehmen. Allerdings entspricht der Verwendung biographischer Erhebungsmethoden nicht in jedem Fall auch ein expliziertes theoretisches Konzept von ‚Biographie‘. Während viele Studien auf biographischem Material basieren, bleiben das theoretische Konzept ‚Biographie‘ und dessen Verhältnis zu anderen verwendeten Konzepten oft diffus. Darüber hinaus wurde gezeigt, dass biographisch angelegte Forschungen nicht davor gefeit sind, kulturalisierende Deutungsmuster und stereotype Bilder über die ‚Anderen‘ zu reproduzieren. Dies geschieht, wenn ‚bildungserfolgreiche‘ junge Erwachsene als Prototypen einer ‚ethnischen Elite‘ konstruiert werden oder wenn Differenzerfahrungen der Subjekte primär als Ausdruck eines Spannungsverhältnisses zwischen familial vermittelten Orientierungen des vermeintlich ‚traditionellen‘ Herkunftsmilieus und dem Normensystem der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ und ihrer Institutionen interpretiert werden. Die Bedeutung diskursiver Zugehörigkeitsordnungen und sozialer Differenzierungspraxen für die Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse der Subjekte gerät aus dieser Perspektive leicht in den Hintergrund. Im Folgenden wird daher eine theoretisch-methodologische Rahmung für die eigene empirische Untersuchung entworfen, die einen biographietheoretischen Zugang mit differenz- und zugehörigkeitstheoretischen Überlegungen verknüpft. Damit soll ein heuristischer Rahmen für die Analyse von Bildungsbiographien geschaffen werden, der diese konsequent als „Subjekt-Kontext-Relationen“ (Dausien 2011b: 32) analysierbar macht. Die Entwicklung dieser theoretischen Perspektive ist Gegenstand des nachfolgenden Kapitels (Kap. 5). Im Anschluss daran wird der methodologische Rahmen der Studie expliziert und das eigene methodische Vorgehen im Forschungsprozess erläutert (Kap. 6).1 1
Da ‚Biographie‘ in dieser Arbeit sowohl eine theoretische Perspektive als auch den gewählten empirischen Forschungszugang darstellt, ist eine klare Trennung theoretischer und methodologischer Überlegungen nicht immer möglich.
5. Theoretische Vorverständnisse und Aufmerksamkeitsrichtungen der eigenen Untersuchung
Die vorliegende Untersuchung folgt einer rekonstruktiven Methodologie (vgl. dazu Kap. 6). Dies bedeutet unter anderem, auf die Vorab-Bildung von Hypothesen und ‚starke‘ Vorannahmen zu verzichten. Allerdings ist das nicht gleichzusetzen mit einem Verzicht auf die Einbeziehung von Theorie. Die Herausforderung besteht vielmehr darin, theoretisches Vorwissen so einzubeziehen, dass es eine theoretische Sensibilisierung der Forscherin ermöglicht, aber dennoch das „Prinzip der Offenheit“ (Hoffmann-Riem 1980) zu wahren. Es gilt also einerseits, reflektiert mit eigenem (wissenschaftlichem und alltagsweltlichem) Vorwissen umzugehen. Andererseits gilt es, theoretische Sensibilitäten und Aufmerksamkeitsrichtungen zu entwickeln, die es überhaupt erst möglich machen, etwas in dem Forschungsmaterial zu entdecken und zu erkennen. Nachfolgend werden deshalb nun die für die vorliegende Untersuchung leitenden theoretischen Perspektiven expliziert. In der vorliegenden Untersuchung stellen Lebensgeschichten nicht nur das empirische Material dar, sondern ‚Biographie‘ bildet auch ein zentrales theoretischanalytisches Rahmenkonzept. Nachdem dieses zunächst in allgemeiner Form erläutert wird (Kap. 5.1), skizziere ich anschließend, welche Implikationen ein solches Verständnis von Biographie für die Untersuchung von Bildungswegen und -geschichten hat (Kap. 5.2). Gerade für eine Forschung zu Selbstkonstruktionen im Kontext (migrations-) gesellschaftlicher Differenzverhältnisse erscheint es notwendig, die Eingebundenheit von Biographiekonstruktionen in soziale Macht- und Differenzordnungen systematisch zu reflektieren. Ausgehend davon werden im dritten Teil des Kapitels differenzund zugehörigkeitstheoretische Perspektiven einbezogen (Kap. 5.3). Anknüpfend an die Konzeption Paul Mecherils (2003) wird ein heuristischer Rahmen für die Analyse von Zugehörigkeitserfahrungen und -konstruktionen entworfen. Abschließend werden die Aufmerksamkeitsrichtungen für die empirische Untersuchung noch einmal konkretisiert (Kap. 5.4).
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5.1 ‚B IOGRAPHIE ‘
R AHMEN
ALS THEORETISCHES
R AHMENKONZEPT
Was gemeint ist, wenn von ‚Biographie‘ die Rede ist, scheint im Alltagsverständnis vieler Menschen selbstverständlich zu sein. Die Vorstellung, dass jede/r eine Biographie ‚hat‘, wird gewissermaßen als natürliche Tatsache angesehen. Was in der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung unter Biographie, Lebenslauf und Lebensgeschichte verstanden wird, unterscheidet sich allerdings in einigen wesentlichen Punkten von diesem Alltagsverständnis. Biographie wird hier als ein Format der Selbstpräsentation und -konstruktion verstanden, das sich erst unter bestimmten historischen und gesellschaftlichen Voraussetzungen herausbilden konnte. Der Begriff ‚Biographie‘ bezieht sich dabei sowohl auf die Lebensgeschichte als kulturell und historisch spezifisches Textformat als auch „auf das gelebte Leben [...] selbst“ (Alheit 2006: 89). Im Folgenden wird dieses sozialwissenschaftliche Verständnis des Biographiekonzepts expliziert. Was charakterisiert eine biographietheoretische Perspektive und welche Erkenntnismöglichkeiten verbinden sich damit für die empirische Beschäftigung mit Lebens- und Bildungswegen? 5.1.1 ‚Biographie‘ als kulturelles Format der Selbst(re)präsentation Die Herausbildung der uns heute vertrauten Form der Biographie als Medium der Selbstbeschreibung steht in engem Zusammenhang mit dem Beginn der europäischen Moderne und den gesellschaftlichen und ideengeschichtlichen Umwälzungsprozessen dieser Zeit (vgl. Alheit/Dausien 1990). Durch den langsamen Übergang von der feudalen Ständegesellschaft zur modernen bürgerlichen Gesellschaft entstehen neue Freiheitsräume für die Gesellschaftsmitglieder. Der Ablauf des Lebens und die gesellschaftliche Aufgabe des Einzelnen sind nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem Stand weitgehend vorherbestimmt, sondern es wird möglich, die soziale Position, in die man hineingeboren wird, zu verlassen.1 Zugleich führt das Brüchigwerden des religiösen Weltbildes im Zuge der Aufklärung dazu, dass die Individuen ihr Leben allmählich nicht mehr als Schicksal, als Resultat einer göttlichen Ordnung, sondern zunehmend als ein Ergebnis des eigenen Handelns begreifen (vgl. Hahn 2000: 108). Beide Entwicklungen sind Voraussetzungen dafür, dass sich die moderne Auffassung von der individuellen Gestaltbarkeit des eigenen Lebens und der Verantwortung des Einzelnen für das eigene Handeln überhaupt herausbilden kann. Der Veränderung der Gesellschaftsordnung und der verfügbaren Weltbilder korrespondiert auf Seiten der Gesellschaftsmitglieder ein verändertes Bewusstsein von sich selbst als Individuen mit einem eigenen Leben. Das moderne Selbst konstituiert sich nicht mehr durch die Zugehörigkeit zu einem sozialen Kollektiv, sondern vielmehr durch eigenes Handeln und „individuelle Lebenserfahrungen“ (FischerRosenthal/Rosenthal 1997: 407). Auf die Frage danach, wer man ist, gibt es deswe-
1
Die Erweiterung der sozialstrukturellen Möglichkeitsräume wird dabei historisch betrachtet allerdings nicht für alle Gesellschaftsmitglieder gleichermaßen zur Realität, sondern erreicht zunächst die männlichen Angehörigen der besser gestellten Schichten (vgl. Alheit 2006: 93).
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gen keine sozial zugewiesene Antwort mehr, sondern sie kann individuell und zu unterschiedlichen Zeitpunkten des Lebens verschieden ausfallen. Folglich lässt sich das Selbst auch nicht mehr angemessen als ein Ensemble von (statischen) sozialen Zugehörigkeiten oder Eigenschaften repräsentieren. Wer man ist, verlangt vielmehr eine Erzählung darüber, wie man zu dem geworden ist, der bzw. die man heute ist (vgl. Hahn 2000: 107f.). Dies macht eine Form des Sprechens notwendig, die das Selbst als Ergebnis und Prozess individueller Entwicklung darstellt. Genau dies ermöglicht das biographische Format der Selbstrepräsentation. Der Kultursoziologe Alois Hahn hat Biographie als ein Format der Repräsentation von Identität beschrieben, dessen Besonderheit in der temporalisierenden Darstellungsweise liegt (vgl. Hahn 2000). Identität kommt hier also in einem verzeitlichten Modus zur Darstellung, der es erlaubt, das Selbst als ein geschichtliches Subjekt, als ein ‚Ich‘ im zeitlichen Wandel zu präsentieren. Es ist genau dies, was ‚Biographie‘ von vormodernen Darstellungsformen von Identität unterscheidet, die sich an sozialen Positionsbeschreibungen oder an Eigenschaftsbeschreibungen der Person orientieren. Die veränderte Form der individuellen Selbstrepräsentation lässt sich also als eine Antwort auf die Erweiterung der sozialstrukturellen Möglichkeitsräume verstehen. Laut Alois Hahn (2000: 107) wird „die Verzeitlichung der Selbstdarstellung […] erst da zwingend, wo gleiche Gegenwarten der Endpunkt extrem verschiedener Vergangenheiten sein können, wo also die Gegenwart nicht mehr hinlänglich viel Vergangenheit transparent macht“. Die prozessuale Darstellung des Selbst in Form einer Erzählung wird nach Hahn also dann notwendig, wenn nicht mehr selbstverständlich von der gesellschaftlichen Positionierung der Subjekte auf ihre Herkunft rückgeschlossen werden kann. Sie ist ein Ausdruck dessen, dass das Subjekt seine Lebenssituation nicht mehr als alternativloses Ergebnis einer göttlichen oder einer festgefügten gesellschaftlichen Ordnung versteht, sondern sich selbst „vor dem Hintergrund alternativer Schicksale [begreift]“ (ebd.: 108). Die biographische Form der Selbstrepräsentation erfüllt für die Individuen dabei sowohl die nach Außen gerichtete Funktion der Darstellung des Selbst anderen gegenüber als auch die der individuellen Selbstvergewisserung. Denn mit dem Zugewinn an Alternativen gehen auch Erfahrungen der Verunsicherung und Kontingenz einher. Das Leben wird durch die vergrößerten Handlungsspielräume zunehmend als unvorhersehbar erlebt. Soziale Aufstiegserfahrungen bedeuten eine Entfremdung vom vertrauten Herkunftskontext; das Brüchigwerden kollektiver religiöser Überzeugungen und Dogmen stellt bisherige Gewissheiten infrage. In dieser Situation ist das Individuum, so Hahn, weitgehend „auf sich zurückgeworfen“ (ebd.: 113). Eine verlässliche Grundlage für das eigene Handeln bilden in erster Linie die eigenen Erfahrungen. In der Erzählung werden diese Erfahrungen zum Gegenstand der Reflexion gemacht und dienen der Orientierung des zukünftigen Handelns. Die Institutionalisierung der biographischen Form der Selbstreflexion und -präsentation ist laut Hahn auf gesellschaftliche Orte und Praktiken angewiesen, die das Reflektieren und Erzählen über sich selbst ermöglichen – oder auch einfordern. „Ob das Ich über Formen des Gedächtnisses verfügt, die symbolisch seine gesamte Vita thematisieren, das hängt vom Vorhandensein von sozialen Institutionen ab, die eine solche Rückbesinnung auf das eigene Leben gestatten.“ (ebd.: 100). Zu diesen Institutionen, die Hahn als „Biographiegeneratoren“ (ebd.: 100) bezeichnet, zählt er die Beichte, das Geständnis, die Psychoanalyse sowie schriftliche Selbst-Reflexionen in
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Tagebüchern, aber auch sozialwissenschaftliche Interviewmethoden, die auf das Generieren von Erzählungen ausgerichtet sind. Dadurch wird deutlich, dass eine naturalistische Vorstellung von Biographie, wie sie in Alltagsvorstellungen präsent ist, verkürzt ist. Die uns heute so selbstverständlich erscheinende Praxis des (Nach-)Denkens und der Verständigung über das Selbst und das Sprechen über das eigene Leben in Form biographischen Erzählungen ist keine ‚natürliche‘ Gegebenheit des menschlichen Lebens, sondern wird als historisch gesehen relativ neues kulturelles Phänomen erkennbar, das sich in einem engen Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess und entsprechenden Institutionen etabliert hat. Das kulturelle Format der Biographie ist Ausdruck und Indikator für eine veränderte Form der Lebensführung, in der die Gestaltung des Lebens in stärkerem Maße als in vormoderner Zeit den Individuen selbst übertragen wird und diese sich als Gestalter*innen ihres Lebens verstehen lernen. Martin Kohli (1985) hat diese Entwicklung als eine Dimension gesellschaftlicher Modernisierung dargestellt, die eng mit der Etablierung des Lebenslaufs „als soziale Institution“ (ebd.: 1) zusammenhängt. Kohlis These zur Institutionalisierung des Lebenslaufs bildet bis heute eine wichtige Referenz für die Biographieforschung, auch wenn sie seither einige Differenzierungen und Korrekturen erfahren hat, auch durch den Autor selbst. Kohli deutet seinen prominent gewordenen Aufsatz von 1985 später als eine „knappe Strukturgeschichte des Lebenslaufs über die zwei Jahrzehnte der westlichen Modernisierung“ (Kohli 2003: 526). Er bezieht sich darin auf historisch vergleichende Forschungen zum Übergang zwischen Vormoderne und Moderne, die grundlegende Veränderungen in der Demographie und der Organisation des Familien- und Erwerbslebens belegen. Auf Basis dieser Befunde stellt Kohli die These auf, dass mit dem Übergang zur Moderne ein neues „institutionelles Programm“ (1985: 19) entstanden sei, das die Vergesellschaftung der Individuen regelt. Diese erfolgt demnach nicht mehr (wie in vormodernen Zeiten) durch die Zuweisung gesellschaftlicher Positionen und die Einbindung der Einzelnen in lokale Zusammenhänge und Wirtschaftseinheiten, sondern wird durch eine neue Form abgelöst, die an den Individuen als „eigenständig konstituierten sozialen Einheiten“ (ebd.: 3) ansetzt und sie in „ein eigenständiges Lebensprogramm“ (Kohli 1988: 35) integriert. Zentral für diesen neuen Vergesellschaftungsmodus ist die Orientierung am chronologischen Lebensalter der Individuen, das zum zentralen Bezugspunkt für die gesellschaftliche Integration wird. Der Ablauf der individuellen Lebenszeit wird im modernen Lebenslaufregime durch gesellschaftliche Institutionen strukturiert, die einen „sequenziellen Ablauf des Lebens“ (1985: 3) gewährleisten. Die Individuen durchlaufen die gesellschaftlichen Institutionen nach einem vorgegebenen Ablaufmuster; sie bewegen sich in „Positionssequenzen bzw. ‚Karrieren‘“ (ebd.) durch das Leben. Zu diesen Institutionen gehören vor allem das Bildungssystem, das Erwerbssystem und das Rentensystem. Diese gliedern die Lebenszeit der Einzelnen in eine am Lebensalter orientierte „Vorbereitungs-, Aktivitäts- und Ruhephase“ (ebd.). Diese grundlegende Veränderung der sozialen Einbindung der Gesellschaftsmitglieder führt Kohli einerseits auf veränderte gesellschaftliche Regelungsbedarfe und -erfordernisse zurück, die mit der Modernisierung und der Herausbildung funktional differenzierter Gesellschaften entstehen. Andererseits wird die Orientierung an einem Lebenslaufmodell erst dadurch möglich, dass Lebensverläufe einheitlicher und besser planbar werden (z.B. durch einen Rück-
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gang der Säuglingssterblichkeit und eine geringere Varianz der Lebenserwartung). Im historischen Vergleich zeigt Kohli auf, dass das Wirksamwerden dieser Prinzipien der „Verzeitlichung“ und „Chronologisierung“ des Lebenslaufs (Kohli 1985: 2) in den vergangenen zwei Jahrhunderten zu einer starken Standardisierung von Lebensläufen und der Etablierung einer „Normalbiographie“ (Kohli 1988) geführt haben.2 Mit der Etablierung des Lebenslaufs als Vergesellschaftungsprogramm verbinden sich auch Folgen für die Lebensführung der Individuen. Der Lebenslauf fungiert nicht nur als gesellschaftliches Regelsystem, sondern dient auch als Orientierungsmuster für die biographisierte Lebensführung der Subjekte und bildet eine Art Rahmen oder „Gerüst“ (Kohli 1985: 19) für die individuelle Planung und Organisation des Lebens. Er strukturiert die „lebensweltlichen Horizonte bzw. Wissensbestände, innerhalb derer die Individuen sich orientieren und ihre Handlungen planen“ (ebd.: 3). Die Handlungsspielräume für die biographischen Projekte der Individuen werden durch Lebenslaufmuster begrenzt, deren Geltung durch entsprechende Institutionen gewährleistet und abgesichert wird. Zugleich bedeuten die Lebenslaufvorgaben für die Individuen – wie alle gesellschaftlichen Institutionen – auch eine Entlastung, denn der Lebenslauf gibt „der Lebensführung ein festes Gerüst vor und setzt Kriterien dafür, was erreichbar ist und was nicht“ (ebd.: 19). Das ‚Funktionieren‘ des Lebenslaufs als gesellschaftliches Organisationsprinzip ist jedoch – Kohlis Überlegungen folgend – auf die biographischen Leistungen des Einzelnen angewiesen. Lebensläufe müssen ‚gelebt‘, d.h. durch das biographische Handeln und Reflektieren der gesellschaftlichen Individuen sinnhaft gestaltet werden. Mit der gesellschaftlichen Modernisierung verbinden sich somit auch veränderte Anforderungen an die Subjekte. Diese stehen nun (in stärkerem Maße als zuvor) vor der Aufgabe, ihr Leben – entlang der Strukturvorgaben des Lebenslaufs – selbst zu planen, zu gestalten und zu verantworten. Diese Individualisierung der Verantwortung für die sinnhafte Gestaltung des eigenen Lebens ist damit gewissermaßen als Rückseite der gesellschaftlichen Institutionalisierung des Lebenslaufs zu verstehen und steht nicht etwa im Gegensatz dazu. Die biographisierte Lebensführung bedeutet daher keine Freisetzung von äußeren Zwängen, sondern eher eine Verlagerung der Verantwortung für eine ‚gelingende‘ Lebensführung auf die Subjekte bzw. in sie hinein. Unter Bezugnahme auf die Arbeiten von Norbert Elias und Michel Foucault beschreibt Kohli die Besonderheit moderner Subjektformationen als die individuelle Verinnerlichung äußerer, gesellschaftlicher Zwänge. Als zentral sieht er dabei den von Elias beschriebenen „Zwang zur Langsicht“ (Kohli 1985: 11) an, worunter er „die Notwendigkeit zur längerfristiger Perspektivität und darauf gestützter Regelung des Verhaltens“ (ebd.) versteht. Diese längerfristige planende Haltung, die den Indi2
Das Modell des „Normallebenslaufs“ bzw. der „Normalbiographie“ ist seither von verschiedenen Seiten kritisiert worden. Vertreterinnen der Frauen- und Geschlechterforschung haben darauf hingewiesen, dass das Lebenslaufmodell einseitig am Erwerbssystem orientiert ist und die Mechanismen der Vergesellschaftung dadurch nur männliche, erwerbsfähige Personen adäquat beschrieben werden, ohne dass dies eigens thematisiert wird (vgl. z.B. Dausien 1996: 80ff.). Die Normalbiographie, die Kohli postuliert, setzt das Modell des männlichen Arbeitnehmers voraus und ignoriert die Tatsache, dass sich die Vergesellschaftung von Frauen an einer anderen Logik orientiert, die Regina Becker-Schmidt (1987) als „doppelte Vergesellschaftung“ beschrieben hat (vgl. Dausien 1996: 58f.).
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viduen abverlangt wird, richtet sich dabei – im Gegensatz zu vormodernen Zeiten – nicht mehr auf die Familie, sondern primär auf das eigene Leben, das der Einzelne nun als ein „entworfenes Projekt“ (ebd.) begreift, das es zu gestalten gilt. Aus Perspektive der Biographieforschung lässt sich diese zunehmend individualisierte Anforderung der reflexiven Organisation und Gestaltung des eigenen Lebens als ein „lebenslanger Prozess biographischer Arbeit“ (Fischer-Rosenthal/Rosenthal 1997: 408) beschreiben. Dies bedeutet auch, dass die Individuen fortwährend gefordert sind, sich reflexiv zu ihrem Handeln in Bezug zu setzen und ihre Lebensereignisse und Erfahrungen in Form einer sinnhaften Lebensgeschichte zu integrieren. Die reflexive Zuwendung zu den eigenen Lebenserfahrungen wird dabei insbesondere durch alltagsweltliche, aber auch institutionalisierte Formen biographischer Kommunikation gewährleistet, die in modernisierten Gesellschaften zu den Bestandteilen des Alltags gehören (vgl. Fuchs-Heinritz 2000: 13ff.). 5.1.2 Sozialität und Individualität, Handeln und Struktur in Lebensläufen und -geschichten Einen zentralen Aspekt des hier zugrunde gelegten sozialwissenschaftlichen Verständnisses von ‚Biographie‘ bildet das Wechselverhältnis von Gesellschaftlichkeit und Subjektivität in Lebensläufen und Lebensgeschichten. Aus Sicht der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung bezeichnet Biographie „die sich immer wieder fort- und umschreibende Geschichte eines gesellschaftlichen Individuums in Relation zu den sozialen Kontexten ihrer Formation“ (Dausien 2011a: 114). Ein solches Verständnis von Biographie bildet die Grundlage für eine Forschungsperspektive, die an Fragen nach der Verschränkung von sozialer Strukturierung und individueller Gestaltbarkeit in individuellen Lebensgeschichten interessiert ist. Dies macht das Konzept gerade für die Untersuchung von Problemstellungen attraktiv, die mit gesellschaftlichen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen verbunden sind. Wie das Verhältnis von ‚Handeln‘ und ‚Struktur‘ allerdings konzipiert wird, bedarf einer genaueren Erläuterung. Peter Alheit und Bettina Dausien argumentieren, dass ‚Biographie‘ – in diesem Sinne ähnlich wie ‚Sozialisation‘ – „das prozesshafte Ineinandergreifen von Individuation und Vergesellschaftung“ (Alheit/Dausien 2009: 307) beschreibt und theoretisiert. Anders als der Begriff der Sozialisation, der diese Prozesse eher aus einer Außenperspektive heraus beleuchtet, bezieht sich ‚Biographie‘ dabei jedoch auf den Horizont individueller Lebensgeschichten und damit auf die Binnenperspektive der Subjekte (vgl. ebd.). Biographieforschung interessiert sich für die Sicht der Individuen selbst, für ihren (individuellen und kollektiven) Umgang mit den Anforderungen an eine biographisierte Lebensführung und das Wie der Ausgestaltung der gegebenen Handlungs- und Gestaltungsspielräume. Gefragt wird nach den Prozessen, in denen die Individuen die Erfahrungen, die sie im Verlauf ihres Lebens in bestimmten sozialen Kontexten machen, miteinander verknüpfen und zu einer je eigenen, sinnhaften Lebensgeschichte formen. Diese Unterscheidung von Außensicht und Innensicht auf Biographien ist dabei allerdings nur als eine Hilfskonstruktion zu verstehen, da mit dem Biographiekonzept die Dichotomie zwischen Innen und Außen, Handeln und Struktur, gerade zu überwinden versucht wird (vgl. Alheit 2006: 90). In Biographien sind beide Perspektiven – das Soziale und das Individuelle, das Allgemeine und das
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Besondere – nicht voneinander zu trennen, sondern eng miteinander verwoben. Dies gilt sowohl für das ‚gelebte Leben‘ als auch für die Lebenserzählung. Biographien lassen sich als Prozesse und Produkte „biographischer Arbeit“ (Kraul/Marotzki 2002) verstehen, in denen gesellschaftliche Individuen die Erfahrungen, die sie in ihrer Lebenszeit machen, zu einer eigenständigen Lebensgeschichte synthetisieren. Die Lebensgeschichte steht dabei in einem komplexen Wechselverhältnis zum Lebensvollzug. Vorläufig muss an dieser Stelle der Hinweis genügen, dass „erzähltes und erlebtes Leben“ (Rosenthal 1995) bzw. „‚Text‘ und ‚Leben‘“ (Dausien 2003a: 122) zwei unterschiedliche Wirklichkeitsebenen repräsentieren, die aber nicht unabhängig voneinander sind, sondern aufeinander verweisen (vgl. v. Engelhardt 2011).3 Wenn von ‚Biographie‘ die Rede ist, sind damit beide Ebenen angesprochen, allerdings ist dabei zu bedenken, dass der Forschung allein die Lebenserzählungen der Subjekte unmittelbar zugänglich sind, nicht aber das ‚gelebte Leben‘ selbst. Biographien – gelebtes und erzähltes Leben – sind weder zufällig, noch beliebig gestaltbar. Wie bereits erwähnt, bilden institutionalisierte Lebenslaufmuster ein ‚Gerüst‘, das bestimmte sequenzielle Abläufe vorgibt, auf die sich die Individuen bei der Konstruktion ihrer Biographie beziehen können und müssen. Der Lebenslauf orientiert sich an einer zeitlichen Logik, die vorgibt, dass die Gesellschaftsmitglieder in einem bestimmten Lebensalter institutionelle ‚Stationen‘ in einer mehr oder weniger festgelegten Abfolge durchlaufen müssen. Auch wenn die Gestaltbarkeit von Lebensverläufen zweifellos zugenommen hat, sind Biographien an institutionalisierten Verlaufsmustern orientiert und können nicht in beliebigen Umfang – und nur um einen hohen, individuell zu verantwortenden Preis – davon abweichen. Die Bezugnahme auf diese institutionellen Vorgaben in den biographischen Rekapitulationen der Individuen ist deshalb fast regelhaft zu erwarten, sei es in Form der Erfüllung der Normalitätserwartungen oder in Abgrenzung davon. Beispielsweise sind biographische Konstruktionen in westlichen Gesellschaften ohne einen Bezug zu Bildungsinstitutionen kaum denkbar. Kinder und Jugendliche müssen in einem bestimmten Alter das Schulsystem durchlaufen; der Erwerb von grundlegenden kulturellen Fähigkeiten und Kenntnissen, der durch Zertifikate nachgewiesen wird, stellt eine Voraussetzung für die berufliche und gesellschaftliche Teilhabe und die weitere Gestaltung des Lebens- und Berufsweges dar. Weichen die Individuen von diesen Normalitätsvorgaben bzw. -erwartungen ab – beispielsweise wenn sie den Erwerb der schulisch vermittelten Basiskompetenzen nicht bis zu einem bestimmten Zeitpunkt nachweisen können, oder indem sie sich der Beschulung entziehen – hat dies u.U. nachhaltige Folgen für das Individuum, die zu einem späteren Zeitpunkt nur mit einem erheblichen Aufwand kompensiert werden können.4 Die Variation möglicher Lebensläufe 3 4
Auf das angesprochene Verhältnis zwischen ‚Text‘ und ‚Leben‘ gehe ich in Kapitel 6.2.2 genauer ein. Umgekehrt wirken die Biographien der Subjekte auf die sozialen Ordnungen zurück. So wird auf eine steigende Zahl solcher ‚Regelübertritte‘ bzw. Normabweichungen gesellschaftlich durch die Einrichtung und den Ausbau neuer Institutionen reagiert, durch welche die Lebensläufe der Individuen gewissermaßen wieder in ‚geordnete Bahnen‘ gelenkt werden sollen. Ein Beispiel dafür stellt das immer feiner differenzierte berufliche Übergangsystem dar (vgl. Stauber/Pohl/Walther (Hg.) 2007).
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und -konstruktionen ist durch die institutionalisierten Vorgaben an Lebensläufe insofern begrenzt. Allerdings steht den Individuen in modernen Gegenwartsgesellschaften innerhalb dieser Strukturvorgaben eine schier unüberschaubare Anzahl an Wahl- und Gestaltungsoptionen, Planungs- und Handlungsmöglichkeiten offen (vgl. Fischer/Kohli 1987: 40f.). Die Individuen können in ihrer Lebenszeit nie alle Optionen realisieren, die ihnen theoretisch zur Verfügung stehen (vgl. Alheit 1993: 398). Dabei zeigen soziologische Analysen jedoch auch immer wieder auf, dass nicht allen Gesellschaftsmitgliedern alle Möglichkeiten gleichermaßen offen stehen, sondern die Formen und Gestaltungsspielräume für historisch und gesellschaftlich mögliche Lebensläufe durch z.B. geschlechter- und sozio-kulturelle Normen und Erwartungsfahrpläne präfiguriert und faktisch limitiert sind. Die Lebensläufe der Individuen bewegen sich innerhalb spezifischer Möglichkeitsräume, die sozialen Normalitätserwartungen gestalten sich für Frauen und Männer, Angehörige unterschiedlicher sozialer Milieus und natio-kultureller Zugehörigkeiten verschieden. Mit dem Aufwachsen in einem bestimmten sozio-kulturellen Milieu und der Position in der Geschlechterordnung und der natio-ethno-kulturellen Ordnung einer Gesellschaft verbinden sich je spezifische Regeln, Normen, Erwartungen und Vorstellungen davon, wie ein Leben gelebt werden kann und soll. Welche Möglichkeiten des Handelns und der Erfahrung den Individuen offen stehen, welche Lebensentwürfe in einer Gesellschaft denk- und lebbar sind, variiert also nicht nur historisch, sondern auch mit den jeweiligen Positionen der Subjekte im sozialen Raum. Die Sozialität von Biographien manifestiert sich nicht nur auf der Ebene des Lebensablaufs, sondern auch in den Wissensbeständen, die für die Erzählung und Deutung der eigenen Lebensgeschichte genutzt werden. Lebenserzählungen rekurrieren nicht nur auf persönlichen Erfahrungen, sondern sie enthalten auch Deutungen und Evaluationen, die sich auf kollektive Wissensbestände und Diskurse beziehen (vgl. Schäfer/Völter 2009). Der amerikanische Psychologe Jerome Bruner (2004) versteht Lebensgeschichten als Formationen, in denen die Erzähler*innen auf kulturelle Muster, Konventionen und Skripts rekurrieren, die ihnen für die narrative Strukturierung ihrer Erfahrungen zur Verfügung stehen. Lebenserzählungen geben daher laut Bruner auch Auskunft über die für eine Kultur typischen gesellschaftlichen Vorstellungen über mögliche Lebensverläufe und die diesen Vorstellungen entsprechenden biographischen Konstruktionsmuster: “[L]ife narratives obviously reflect the prevailing theories about ‚possible lives‘ that are part of one`s culture. Indeed, one important way of characterizing a culture is by the narrative models it makes available for describing the course of a life” (Bruner 2004: 694). Auch diese Skripts und Erzählkonventionen, die den Erzähler*innen zur Verfügung stehen, sind dabei nicht für alle Gesellschaftsmitglieder einheitlich, sondern gestalten sich sozio-kulturell verschieden. Das heißt, die Muster, auf die die Erzähler*innen sich beziehen, variieren je nach der Position der Erzähler*innen im sozialen Raum. Ähnliches gilt für die sprachlichen Ressourcen und Mittel, die den Individuen für ihre narrativen Konstruktionen zur Verfügung stehen (vgl. LuciusHoene/Deppermann 2002: 66f.). Lebensgeschichten lassen sich insofern als Produkte einer diskursiven Praxis verstehen, die bestimmten, historisch-sozio-kulturell spezifischen Mustern und Regeln unterliegen und auf bestimmte Möglichkeitsräume für die
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Positionierung oder Bewegung der Subjekte im sozialen Raum verweisen. Sie sind „sozial konstruierte Konstruktionen, die durch ihre Positionierung im sozialen Raum geprägt werden“ (Dausien 2003a: 161). Biographien sind mithin als Konstruktionen zu verstehen, die sozial strukturiert bzw. vom Sozialen durchdrungen sind, und das in mehrfacher Hinsicht: Sie orientierten sich an normativen Lebenslaufvorgaben, sie verweisen auf Erfahrungsstrukturen, die in spezifischen sozialen Räumen gebildet wurden und sie verarbeiten kulturelle Präsentationsformate und gesellschaftliche Deutungsressourcen, die den Subjekten für ihre Biographiekonstruktion zur Verfügung stehen, und die ebenfalls durch die Position des Subjekts im sozialen Raum präformiert sind. Biographien sind insofern, wie Bettina Dausien in Bezugnahme auf das Habituskonzept Pierre Bourdieus schreibt, „strukturierte Strukturen, […] die als Temporalfigurationen im sozialen Raum konstituiert werden“ (2009: 161, Hervorh. i. Orig.). Biographische Erzählungen sind aber auch aktive Prozesse der Sinnkonstruktion konkreter Subjekte zu verstehen, in denen diese „ihre Erfahrungen reflexiv verarbeiten und in Kommunikation und Handlung zur Geltung bringen“ (Dausien 2006: 190). Dabei können die Subjekte ihre Erfahrungen – innerhalb gewisser Grenzen – immer wieder neu auslegen und sich in veränderter Art und Weise dazu ins Verhältnis setzen. In Lebenserzählungen werden Normalitätserwartungen soziale und kulturelle Deutungsangebote und Diskurse nicht nur bestätigt und reproduziert, sondern auch hinterfragt, variiert, zurückgewiesen. Biograph*innen greifen auf kulturell verfügbare Plots zurück; die Art und Weise, wie diese angeeignet und genutzt werden, ist dabei jedoch nicht festgelegt. So können die Erzähler*innen den Plot, der ihnen als Angehörige eines bestimmten Milieus, als Frauen oder Männer usw. kulturell zugewiesen wird, entweder ungebrochen für die Gestaltung der eigenen Erzählung übernehmen, oder ihn verändern und der Geschichte dadurch eine neue Richtung geben (vgl. Polkinghorne 1998: 25f.). Die Voraussetzung dafür, dass dies möglich ist, liegt unter anderem darin, dass Handlungen und Erfahrungen in ihrer Bedeutung nicht statisch sind, sondern einen Horizont an möglichen Bedeutungen haben. Laut Schütz und Luckmann (2003: 91) „[wohnt d]er Sinn einer Erfahrung […] nicht der Erfahrung ‚als solcher‘ inne, sondern wird ihr in einer reflektierenden Zuwendung verliehen“. Wenn sich der subjektive Sinn von Erfahrungen aber erst im jeweiligen Akt der reflektierenden Zuwendung konstituiert, bedeutet dies auch, dass Erfahrungen nicht irreversibel und statisch sind. Vielmehr ist davon auszugehen, dass sie verschiedene Deutungsmöglichkeiten eröffnen und der Sinn von Erfahrungen in der erinnernden Reflexion modifiziert werden kann. Erfahrungen sind deshalb nicht etwas, was man ein für alle Male ‚hat‘, sondern sie sind (in Grenzen) veränderbar. Handeln, auch biographisches Handeln, enthält immer mehr Sinngehalt als dies von der Person beabsichtigt und ihr bewusst ist. Handlungsergebnisse können sich von den ursprünglichen Absichten und Erwartungen an den Zweck einer Handlung unterscheiden; Handlungen können unerwartete ‚Nebenfolgen‘ haben, die von der handelnden Person nicht beabsichtigt und nicht antizipiert wurden. Fischer und Kohli sprechen daher davon, dass sich „im Handeln […] mehr Sinn realisiert als in der Intention angelegt ist“ (Fischer/Kohli 1987: 38). Diese „Sinnüberschüsse“ (Alheit 1993: 401) können in der Reflexion des Handelns und der Handlungsergebnisse nun mobilisiert und an das gegenwärtige Erleben der Biograph*innen angeschlossen werden. Da der reflexive ‚Zugriff‘ auf Erfahrungen
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immer aus der Situation der Gegenwart des Erinnerns und gegenwärtiger Relevanzen erfolgt, werden Erfahrungen an Sinn- und Deutungsressourcen anschlussfähig, die in der Vergangenheit noch gar nicht verfügbar waren. Im reflektierenden Rückblick auf ein Geschehen können z.B. unbeabsichtigte Folgen, die zum damaligen Zeitpunkt gar nicht im Blickfeld des Handelnden waren, einbezogen und nachträglich mit Bedeutung versehen werden. Damit geht das Potenzial einher, sich in veränderter Weise zu dem Erlebten ins Verhältnis zu setzen. „Wir haben die Chance, die Sinnüberschüsse unserer Lebenserfahrung zu erkennen und für eine bewußte Veränderung unserer Selbst- und Weltreferenz nutzbar zu machen“ (Alheit 1992: 31f., Hervh. i. Orig.). Dieses Potenzial, das insbesondere unter den Bedingungen beschleunigter gesellschaftlicher Veränderungsprozesse bedeutsam ist, hat Peter Alheit mit dem Begriff der „Biographizität“ bezeichnet. Dieser umschreibt demnach „das Vermögen moderner Individuen, neue, auch riskante Erfahrungen, an einen ‚inneren Erfahrungscode‘ anzuschließen, der seinerseits die selektive Synthese vorgängig verarbeiteter Erfahrungen darstellt“ (Alheit 2003: 25). Die ‚Herstellung‘ von Biographie ist in diesem Sinne mit einem kreativen Prozess vergleichbar, in dem vergangene Handlungen und Erfahrungen vom Individuum reflexiv verarbeitet, umgedeutet und neu zusammengesetzt werden. „Der Begriff der biographischen Konstruktion meint somit nicht nur das Konstrukt Biographie, das ‚Produkt' gesellschaftlicher und individueller Konstruktionen, sondern ebenso den Prozeß des Konstruierens bzw. Produzierens und Reproduzierens selbst“ (Dausien 1996: 4). Biographien sind also auch eigenwillige, veränderliche Sinnkonstruktionen, mit denen die Individuen ihre soziale Wirklichkeit auch gestalten und verändern. Zentral für das hier zugrunde gelegte Biographieverständnis ist mithin die Verschränkung von ‚Handeln‘ und ‚Struktur‘ in der Perspektive individueller Lebensgeschichten. Das Biographiekonzept eröffnet eine Perspektive auf die „Zusammenhänge[...] zwischen gesellschaftlichen und individuellen Strukturbildungsprozessen beziehungsweise zwischen der Formation sozialer Lebenswelten und der Erfahrungsbildung von Individuen“ (Mäder 2010: 66). Es begründet eine Aufmerksamkeit dafür, wie sich die Subjekte innerhalb der jeweils gegebenen Möglichkeiten selbst entwerfen, auf welche sozialen Erfahrungsräume, Diskurse und Normalitätserwartungen ihre Selbstkonstruktionen verweisen und in welcher Weise sie sich reflexiv darauf beziehen, sie überschreiten, befragen und verändern. In der Rekonstruktion biographischer Selbstkonstruktionen können also auch kreative Potenziale, eigensinnige und widerständige Momente herausgearbeitet werden.
5.2 B ILDUNGSPROZESSE IM L EBENSLAUF – V ORVERSTÄNDNISSE UND G EGENSTANDSKLÄRUNGEN Das zentrale Forschungsinteresse der vorliegenden Untersuchung gilt der Analyse von Bildungswegen und -prozessen im migrationsgesellschaftlichen Kontext. Es geht dabei um die Untersuchung von Prozessen der Erfahrungsbildung und -transformation, die zugleich in Zusammenhang mit Fragen nach den gesellschaftlichen Bedingungen für Bildungsteilhabe stehen. Während es weitgehend unstrittig ist, dass Lern- und Bildungsprozesse im Lebenslauf den zentralen Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Biographiefor-
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schung bilden, gibt es zu der Frage, wie diese theoretisch konzeptualisiert und empirisch untersucht werden können, verschiedene Ansätze und Entwürfe. Im Folgenden geht es mir nicht um eine umfassende Auseinandersetzung mit den jeweiligen Ansätzen und teilweise kontroversen Positionen in der Debatte (vgl. dazu u.a. Fuchs 2011). Es wird jedoch auf einige Aspekte der Diskussion Bezug genommen, die wichtig für die Konturierung des eigenen Gegenstandsverständnisses von Bildungsprozessen im Lebenslauf sind. 5.2.1 Bildungsgeschichten als Prozesse der (Trans-)Formation biographischen Wissens Die Spezifik einer biographieorientierten Perspektive auf Lern- und Bildungsprozesse im Vergleich zu anderen Sichtweisen auf menschliche Lernprozesse besteht zunächst in ihrem besonderen zeitlichen Bezugshorizont, nämlich dem der individuellen Lebenszeit. In den Worten von Peter Alheit und Bettina Dausien (2002: 574) geht es in einer biographieanalytischen Sicht nicht um „situative Lernakte isolierter Individuen, sondern um Lernen als (Trans-)Formation von Erfahrungen, Wissen und Handlungsstrukturen im lebensgeschichtlichen und lebensweltlichen (‚lifewide‘) Zusammenhang“. Nicht die Betrachtung einzelner Lernsituationen steht also im Zentrum, sondern situationsübergreifende Prozesse der Erfahrungsaufschichtung, Wissensbildung und -umbildung im zeitlichen Horizont der Lebensgeschichte (vgl. auch Koller 2012: 154). Das Konzept der Erfahrungsaufschichtung, wie es in Grundlagentexten der Biographieforschung verwendet wird (Schütze 1984: 83; Schütze 1987: 99ff.), geht auf die phänomenologische Wissenssoziologie von Alfred Schütz zurück. Schütz und Luckmann (2003: 173) beschreiben mit der „Sedimentierung von Erfahrungen“ den systematischen Prozess des Aufbaus einer biographischen Wissensstruktur. Das Erfahrungswissen wird dabei (anders als andere Wissensformen) als ein Ergebnis vorausgegangener Handlungen und Erlebnisse des Individuums betrachtet, die in den biographischen Wissensvorrat eingegangen sind. Dabei ist Erfahrungswissen weniger als ein Speicher oder ein ungeordnetes Konglomerat von Erfahrungen vorstellbar, sondern eher als eine offene oder poröse Struktur, die Erfahrungen integriert und die Auslegung vergangener und die Aneignung neuer Erlebnisse steuert und organisiert. Das Konzept der biographischen Erfahrungsaufschichtung verweist darauf, dass die Erfahrungen, die Individuen im Verlauf ihres Lebens machen, nicht unabhängig voneinander im Gedächtnis abgelagert werden, sondern zueinander ins Verhältnis gesetzt und miteinander verknüpft werden. Blieben Erfahrungen miteinander unvermittelt, so würden sie in keinem Sinnzusammenhang stehen und könnten auch in keiner Erzählung integriert werden. Erfahrungen werden also miteinander verknüpft und in einen Zusammenhang gebracht. Bestehende Erfahrungen bzw. Erfahrungsstrukturen bilden ihrerseits einen Sinnhorizont für die Aneignung künftiger Erfahrungen. Die Aneignung von Erfahrung vollzieht sich, indem neue Erlebnisse unter bestehende Erfahrungsschemata eingeordnet werden (Schütz 2004: 192, Erstveröff. 1932). Die Deutung von Erlebnissen ist dadurch „nichts anderes als Rückführung von Unbekanntem auf Bekanntes“ (ebd.). Entscheidend dafür sind Typisierungen, die es dem Individuum ermöglichen, Erfahrungsgegenstände gemäß bestimmter Merkmale wahrzunehmen und ihnen so ein Ort im Wissensvorrat zuzuweisen. Die je eigene Er-
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fahrungsgeschichte entsteht somit dadurch, dass das Individuum sein Handeln und seine Erlebnisse in den biographisch strukturierten Sinnzusammenhang seiner Erfahrungen einordnet. Auf diese Art und Weise sind die lebenszeitlichen Erfahrungen nicht als voneinander unabhängige ‚Puzzleteile‘ zu verstehen, sondern bilden eine individuelle, je spezifische Gestalt biographischer Erfahrungsschichtung. Durch diesen Prozess der fortlaufenden Deutung und Verknüpfung von Erfahrungen bildet sich in lebenszeitlicher Perspektive eine Erfahrungs- und Deutungsstruktur heraus, welche es dem Einzelnen ermöglicht, seine vergangenen und gegenwärtigen Erfahrungen sinnhaft zu ordnen und sein künftiges Handeln zu antizipieren. Das so entstehende biographische Wissen (vgl. Alheit/Hoerning 1989; Hoerning 1989) präformiert damit die Art und Weise, in der der bzw. die Einzelne biographisch handelt und zukünftiges Handeln entwirft. „Die erworbenen Erfahrungen bilden organisierte biographische Ressourcen, die die Wahrnehmung der Umwelt strukturieren und dem Erleben der Gegenwart und Zukunft eine Gestalt geben“ (Délory-Momberger 2007: 44). Die je individuellen Prozesse der Erfahrungsaufschichtung und -umschichtung, die sich im Laufe der Lebenszeit vollziehen, machen die Biographie des Einzelnen zu etwas Unverwechselbarem, Besonderem und verleihen ihr eine einzigartige Gestalt und Qualität. Zugleich basiert der biographische Wissensvorrat von Beginn an auf gesellschaftlichem Wissen und enthält viele Elemente kollektiver Erfahrung. Alfred Schütz schreibt, dass sich „nur ein kleiner Teil des für den Menschen jeweils vorhandenen Wissensvorrats von seiner eigenen individuellen Erfahrung ab[leitet]. Der Großteil des Wissens ist sozial abgeleitet, ihm von Eltern und Lehrern als sein Erbe übertragen. Dieses Erbe besteht aus einer Reihe von Systemen relevanter Typifikationen, typischer Lösungen für typische praktische und theoretische Probleme, typischer Vorschriften für typisches Verhalten“ (Schütz 1971: 401).
Dies verweist auf die soziale Eingebundenheit biographischen Wissens, das in den je konkreten lebensweltlichen Räumen entsteht, in denen die Individuen ihr Leben verbringen und auf die sie sich in ihren biographischen Handlungen und lebensgeschichtlichen Reflexionen beziehen. Gemäß dieses Vorverständnisses biographischer Erfahrungsaufschichtung sind Lernprozesse in biographieanalytischer Sicht nicht als „inputs“, sondern als „intakes“ zu verstehen (Alheit/Dausien 1996: 33), bei denen neue Wissensinhalte gewissermaßen durch die biographische Erfahrungsstruktur hindurch angeeignet werden. Lern- und Bildungsprozesse stehen immer in Verbindung mit bereits gemachten Erfahrungen, die den „Hintergrund“ (Dausien 2011a: 116) für die Aneignung von neuen Erfahrungen, Lerngelegenheiten und Bildungsangeboten bilden. Der Prozess der Erfahrungsaufschichtung ist jedoch nicht als ein unilinearer Prozess vorstellbar, in dem Erfahrungen chronologisch in den Wissensvorrat integriert werden und die Aneignung künftiger Erfahrungen determinieren. Diese Vorstellung führt insofern in die falsche Richtung, als Erfahrungen – und daraus entstehende Erfahrungsstrukturen – gerade nicht als statisch zu begreifen sind, sondern durch Irritationen prinzipiell umstrukturiert werden können. Die Integration neuer Erlebnisse in die biographische Wissensstruktur ist nämlich nur eine von mehreren Möglichkeiten. Sie ist möglich, wenn sich neue Erlebnisse mit den verfügbaren Deutungsschemata typisieren und sich somit problemlos in den bisherigen Wissensvorrat einfügen las-
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sen. Die Struktur des Wissensvorrats bleibt dann im Wesentlichen unverändert bzw. wird gefestigt und die Gültigkeit des verfügbaren Erfahrungs- und Deutungswissens wird bestätigt. Allerdings gibt es auch Situationen, in denen es nicht gelingt, neue Erfahrungen in die biographische Wissensstruktur zu integrieren, da die Erfahrungsund Deutungsressourcen nicht ausreichend sind, um die Erlebnisse einzuordnen und diese an bestehendes Erfahrungs- und Deutungswissen anschlussfähig zu machen. In diesem Fall kommt es zu Irritationen der bestehenden Wissensstruktur, die zum Auslöser für mehr oder weniger tiefgreifende Revisionen oder Umschichtungen bestehender Erfahrungsressourcen werden können (vgl. Alheit 1993: 350ff.).5 Biographische Erfahrungsstrukturen sind daher, so Christine Thon (2008: 103), weniger als ‚Substanzen‘ vorstellbar, wie der Begriff der Sedimentierung es nahelegt, sondern als dynamische, durchlässige Strukturen. Die Form oder das jeweilige „Profil“ (ebd.) der biographischen Wissensstruktur, die sich durch die Aufschichtung und Verknüpfung von Erfahrungen in der Lebenszeit formiert, ist nicht ein für alle Mal festgelegt, sondern (in Grenzen) durchaus veränderbar. Insbesondere beim Übergang in neue soziale Räume sind die Subjekte gefordert, ihre Modi der Weltaneignung und Erfahrungsaufschichtung und ihr lebensgeschichtliches Wissen nach Möglichkeit mit neuen Wissensstrukturen zu verknüpfen und so biographische Anschlüsse herzustellen (vgl. dazu u.a. Hoerning 1989; Alheit 1995; Truschkat 2013). Allerdings lassen sich im Anschluss an die Überlegungen von Schütz und Luckmann unterschiedliche Wissensformen voneinander unterscheiden, die in unterschiedlichem Maße reflexiv zugänglich sind. So gibt es Wissensformen, die dem Gewohnheitswissen zugeordnet werden, die relativ schwer für Veränderungen zugänglich sein dürften (vgl. Alheit 1993: 350). Das Interesse einer an Lern- und Bildungsprozessen orientierten Biographieforschung richtet sich somit nicht nur darauf, wie sich im lebenszeitlichen Verlauf Erfahrungs- und Handlungsmuster konstituieren und stabilisieren, sondern sie fragt auch danach, wie die Individuen sich reflexiv auf ihre Erfahrungen beziehen, sie miteinander verknüpfen und (neu) auslegen und ihrer Lebensgeschichte dadurch eine spezifische, (veränderliche) Gestalt verleihen. Lern- und Bildungsprozesse im lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu untersuchen bedeutet somit beides: die Untersuchung von Prozessen der Formation und Transformation biographischen Wissens. So verstandene Lern- und Bildungsprozesse im lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu untersuchen macht dabei auch die Auseinandersetzung mit dem doppelten Zeithorizont biographischer Erzählungen notwendig: die der „erzählten Zeit“ und die der „Erzählzeit“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 25). Für empirische Analysen ergibt sich daraus die methodologische Frage, inwiefern sich Lern- und Bildungsprozesse im Interviewmaterial tatsächlich am Material rekonstruieren lassen. Dies verweist im weiteren Sinn auf die Frage nach der Konzeption des Verhältnisses von Lebensvollzug und Lebenserzählung.6 Heide von Felden (2008: 14f.) zufolge ist die Frage, inwiefern es möglich ist, „aus narrativen Interviews Entwicklungen aus der erzählten Zeit (Lern- und Bildungsprozesse über die Lebensspanne) herauszuarbeiten […], oder ob die sprachliche 5 6
Auf diesen Punkt gehe ich in Kap. 5.2.2 genauer ein. Eine genauere Auseinandersetzung mit dieser Frage erfolgt in Kap. 6.2.
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Konstruktion sich lediglich in der Gegenwart des Interviews abspielt [letztlich strittig]“. Wie in den nachfolgenden Überlegungen noch zu zeigen ist, wird in dieser Arbeit davon ausgegangen, dass erzählte Lebensgeschichten zwar auf Prozesse der Erfahrungsbildung und -transformation verweisen, diese aber nicht schlicht abbilden. Im Material werden also nicht die ‚damaligen‘ (Erfahrungs-)Prozesse repräsentiert, sondern die gegenwärtigen Sichtweisen der Erzähler*innen auf diese Prozesse, die in der Interviewsituation aufgerufen, vor dem Hintergrund aktueller Relevanzen selektiv erinnert und neu gedeutet und gestaltet werden. Gegenstand der Rekonstruktion von Bildungsbiographien können aus meiner Sicht deshalb allein die subjektiven Konstruktionen von Prozessen der (Erfahrungs-)Bildung in lebensgeschichtlicher Perspektive sein. 5.2.2 Bildung und Sozialität, Subjektivität und Struktur Heinz-Hermann Krüger (1995: 50) sieht ein zentrales Merkmal erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung in ihrem spezifischen „Erkenntnisinteresse, nämlich Biographisierungsprozesse als Bildungsprozesse, als Prozesse der subjektiven Selbst- und Weltdeutung in ihrer Verwobenheit mit objektiven gesellschaftlichkulturellen Deutungskontexten zu untersuchen“.7 Obwohl diese allgemeine Bestimmung des Selbstverständnisses erziehungswissenschaftlicher Biographieforschung konsensfähig sein dürfte, hat die Frage nach der konkreten Konzeption des Verhältnisses von Subjektivität und Struktur in der Analyse von Lebensgeschichten auch immer wieder zu Kontroversen geführt. Die Biographieforschung hat sich in ihrer Geschichte wiederholt mit dem Vorwurf des Subjektivismus auseinandersetzen müssen. So hat etwa der Soziologe Pierre Bourdieu in seinem Aufsatz „die biographische Illusion“ (1990) die Biographieforschung mit dem Vorwurf konfrontiert, sie reproduziere mit ihrem Forschungszugang die individualisierenden Deutungsweisen der Subjekte und verkenne die strukturelle Bedingtheit von Lebenswegen, die vielmehr als Laufbahnen im sozialen Raum konzipiert werden müssten (vgl. ebd.: 57f.). Die Forschung mache sich zu einer Komplizin der biographischen Subjekte und trage dadurch indirekt zu einer Verschleierung gesellschaftlicher Machtverhältnisse bei. Auch innerhalb der Biographieforschung selbst wurden insbesondere bildungstheoretisch orientierte Ansätze für die nicht ausreichende Berücksichtigung der gesellschaftlichen Dimension von Bildungsprozessen kritisiert (vgl. Alheit 1993: 389; Herzberg 2004: 66; Wigger 2004). Dies betrifft z.B. Winfried Marotzkis Entwurf einer strukturalen Bildungstheorie (1990), der als „erste umfassende Version einer bildungstheoretisch orientierten Biographieforschung“ (Fuchs 2011: 112f.) gilt. Thorsten Fuchs kommt in seiner Auseinandersetzung mit verschiedenen bildungstheoretischen Ansätzen in der Biographieforschung zu dem Schluss, dass Marotzki in der empirischen Analyse des Materials, an dem er seine Theorie entwickelt, einseitig die
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Allerdings verfolgen nur wenige biographisch angelegte empirische Studien in der Erziehungswissenschaft das explizite Ziel, Lern- und Bildungsprozesse in den lebensgeschichtlichen Erzählungen von Individuen aufzuspüren und zu rekonstruieren; vielen liegt eher ein allgemeines Verständnis von Biographie als Lern- und Bildungsgeschichte zugrunde.
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Transformation von Selbstverhältnissen fokussiere und dabei den ‚Weltbezug‘ in Bildungsbiographien vernachlässige (vgl. ebd.: 113). Auch andere Autor*innen weisen darauf hin, dass das in bildungstheoretischen Ansätzen der Biographieforschung nicht ausreichend geklärt sei. Eine Möglichkeit des expliziten Einbezugs des Verhältnisses zwischen Subjektivität und Struktur kann in der Nutzung gesellschaftstheoretischer Analyseperspektiven gesehen werden, wie sie etwa der Denkansatz Pierre Bourdieus bietet (vgl. z.B. Herzberg 2004; Büchner/Brake 2006). Das Anknüpfen an das Habituskonzept Bourdieus ermöglicht es, ein idealisierendes Verständnis von Bildung als „Inbegriff menschlicher Selbstentfaltung und Selbstvollendung im emphatischen Sinne“ (Büchner 2006: 21) durch ein Verständnis von Bildung als Habituserwerb und -transformation abzulösen. Dadurch wird deutlich, dass sich Bildungsprozesse „nicht im luftleeren Raum“ (ebd.: 27) vollziehen, sondern von Beginn an als gesellschaftliche Prozesse gedacht werden müssen. So plädieren Anna Brake und Peter Büchner im Anschluss an Bourdieu für ein Verständnis von Bildung „als lebensverlaufsbezogenes, multilokales Prozessgeschehen […], das bis hinein in das familiale Alltagsleben […] durch gesellschaftliche Machtstrukturen geprägt ist und in Abhängigkeit von solchen historisch rekonstruierbaren, hierarchisch strukturierten Machtkonstellationen analysiert werden muss“ (Brake/Büchner 2012: 74). Ansätze einer am Habituskonzept orientierten Bildungsforschung setzen sich dabei wiederum leicht der Kritik aus, die Prägekraft gesellschaftlicher Verhältnisse überzufokussieren und den biographischen Eigensinn bzw. die Emergenzpotenziale in Biographien zu vernachlässigen bzw. zu unterschätzen (vgl. z.B. Koller 2012). Zwar werden potenzielle Verbindungen zwischen dem Bildungsbegriff und dem Bourdieuschen Habituskonzept durchaus auch von dessen Kritiker*innen anerkannt, insofern als sich beide Begriffe auf das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft bzw. die Entwicklung von Subjektivität in sozialen Verhältnissen beziehen (vgl. Wigger 2006). Jedoch werden auch grundlegende Differenzen zwischen bildungsund habitustheoretischen Ansätzen konstatiert. So weist etwa Rüdiger Müller (2007) darauf hin, dass Bildungs- und Habitustheorie je verschiedene Dimensionen von Subjektwerdungsprozessen akzentuieren. Während Bourdieus Habituskonzept insbesondere den Aspekt der „sozialen Präformation“ (Müller 2007: 147) subjektiver Dispositionen betone, lasse sich Bildung „als ein Prozess verstehen, der primär von der Überschreitung des jeweils Gewordenen ausgeht, von der (im weitesten Sinne reflexiven) Distanznahme gegenüber der faktischen Lebenspraxis und dem Sichverhalten zu den eigenen Dispositionen“ (ebd., Hervh. i. Orig.). Lothar Wigger (2006) weist den Determinismusvorwurf an die Habitustheorie zwar zurück, da Bourdieu sehr wohl die prinzipielle Möglichkeit von Wandlungsprozessen des Habitus anerkenne.8 Dennoch sieht Wigger ein entscheidendes Spannungsmoment zwischen Bildungs- und Habitustheorie darin, dass Bourdieu den primären Sozialisationserfahrungen einen herausgehobenen Stellenwert für die Subjektwerdung zuspricht, indem er davon ausgeht, dass sich diese in den Körper einschreiben (vgl. Bourdieu 1987a: 107ff.). Dagegen sei im Bildungsbegriff das Poten8
Diese werden nach Bourdieu dann wahrscheinlich, wenn der Habitus unter Bedingungen zur Anwendung kommt, die nicht die gleichen sind, in denen dieser sich herausgebildet hat (vgl. Bourdieu 1987a: 117).
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zial einer „Emanzipation von gegebenen und früheren Zuständen, die Möglichkeit einer radikalen Transformation der Subjektivität“ (Wigger 2006: 109) angelegt. Wigger zeigt jedoch an Beispielen aus dem Forschungsmaterial, das im Rahmen von Bourdieus Studie „das Elend der Welt“ (1997) erhoben wurde, die auf einer Vielzahl lebensgeschichtlicher Äußerungen basiert, wie sich diese unter bildungstheoretischer Perspektive ‚querbürsten‘ lassen. In der Re-Interpretation des Materials werden neue Lesarten möglich, die Reflexionspotenziale in den Äußerungen der interviewten biographischen Akteur*innen erkennbar werden lassen, die in habitustheoretischer Perspektive nicht in den Blick gerieten (vgl. ebd.: 115f.). Umgekehrt kann eine habitustheoretische Perspektive auf lebensgeschichtliche Bildungsprozesse Wigger zufolge dazu beitragen, „die sozialen Bedingungen deutlicher zu bestimmen, die Bildungsprozesse ermöglichen oder sie auch behindern“ (ebd.: 116). Für empirische Analysen kann dies als Anregung verstanden werden, bildungstheoretische und gesellschaftstheoretisch inspirierte Sichtweisen auf biographische Bildungsprozesse nicht als unvereinbare Gegensätze zu begreifen, sondern sie als sich ergänzende Perspektiven zu betrachten, die systematische Perspektivwechsel auf das empirische Material ermöglichen können. In stärker sozialwissenschaftlich orientierten Ansätzen zu Bildung und Lernen im Lebenslauf wird die Sozialität von Bildungsprozessen selbstverständlich vorausgesetzt. So argumentieren Peter Alheit und Bettina Dausien (2002: 578), dass Lernprozesse und das Bildungshandeln der Subjekte immer gesellschaftliche Prozesse sind, insofern als sie sich nicht allein ‚im Individuum‘ vollziehen, sondern in soziale Kontexte eingebunden sind. Im Lebensverlauf durchschreiten die Subjekte verschiedene lebensweltliche und institutionelle Räume, in denen sie handeln und Erfahrungen machen und sich in ein sich veränderndes Verhältnis zu sich selbst und anderen setzen. Diese Kontexte treten in biographischen Erzählungen als „je konkrete Situationen, Lebenswelten und strukturierte historisch-soziale Räume, die durch je spezifische Macht- und Ungleichheitsstrukturen gekennzeichnet sind“ (Dausien 2011b: 31) in Erscheinung. Ihnen sind je spezifische Horizonte und Möglichkeitsräume für Bildungsprozesse immanent. In Lebensgeschichten werden die Erfahrungen in den für die Subjekte relevanten sozialen Kontexten miteinander verknüpft. Damit lassen sich Bildungsbiographien als eine Abfolge von Relationierungen zwischen den biographischen Subjekten und den jeweils relevanten Kontexten verstehen, in denen die Subjekte (veränderliche) Selbst- und Weltbezüge ausbilden (vgl. ebd.). Die Sozialität von Lern- und Bildungsprozessen zeigt sich aber auch in ‚umgekehrter Richtung‘, nämlich darin, dass biographische Lernprozesse nicht auf die innersubjektive Veränderung von Erfahrungs- und Wissensstrukturen begrenzt bleiben, sondern auch ein Potenzial zur (Trans-)Formation gesellschaftlichen Wissens und sozialer Wirklichkeit beinhalten (vgl. Dausien 2003a: 136). Entscheidend dafür ist das Reflexivitätspotenzial der Subjekte auf ihre unausgeschöpften biographischen Handlungsmöglichkeiten. Peter Alheit (1993) geht davon aus, dass Subjekte über eine (durch ihre Position im sozialen Raum) begrenzte Anzahl von Möglichkeiten der Gestaltung ihrer Biographie verfügen, die sie jedoch nie vollständig ausschöpfen. Das präreflexive Wissen über die nicht realisierten Lebensmöglichkeiten, das Alheit im Anschluss an Victor von Weizsäcker als „ungelebtes Leben“ bezeichnet, stellt ein
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Potenzial für individuelle und soziale Bildungsprozesse dar.9 Die „soziale Sprengkraft“ (ebd.: 399), die dem ungelebten Leben zugeschrieben wird, ergibt sich aus der Bedeutung, die das Handeln sozialer Akteur*innen für die Aufrechterhaltung der sozialen Ordnung hat: „,Strukturen‘ sind ja zu beträchtlichen Teilen die unbefragt funktionierenden Hintergrundgewißheiten, auf die sich soziale Individuen intuitiv beziehen, wenn sie alltäglich, aber auch wenn sie biographisch agieren“ (ebd.). Das intuitive Wissen darum, dass neben der realisierten Lebenskonstruktion noch andere möglich wären, kann demnach zu einem Anstoß für Veränderungen von Selbst- und Weltverhältnissen werden. In dem Moment, in dem Individuen das Potenzial des ungelebten Lebens wahrnehmen und erschließen, eröffnen sich neue Horizonte und Handlungsmöglichkeiten. Alheit spricht in diesem Zusammenhang von „transitorischen Bildungsprozessen“ (ebd.: 399), in denen die bestehende Struktur des biographischen Wissens überschritten und re-strukturiert wird. Weil davon ausgegangen wird, dass soziale Strukturen letztlich durch das Handeln der Subjekte hergestellt werden, haben biographische Lern- und Bildungsprozesse nicht nur Folgen für die individuelle Haltung zum eigenen Leben, sondern können auch eine Ressource für die Veränderung sozialer Kontexte und Strukturen darstellen. Ausgehend von einem solchen Verständnis lässt sich „Bildung gleichzeitig als individuelle Identitätsarbeit und als Formation kollektiver Prozesse und sozialer Verhältnisse […] begreifen“ (Alheit/Dausien 2002: 580). Biographische Lernprozesse sind somit, in Analogie zu Bourdieus Habitusbegriff, nicht nur Ergebnisse sozialer Strukturierungen, sondern tragen ihrerseits auch zur Gestaltung und Veränderung sozialer Wirklichkeit bei. 5.2.3 Subjekt- versus institutionsorientierte Perspektiven auf Bildungsprozesse Aus den vorangegangenen Ausführungen ist bereits hervorgegangen, dass sich eine biographieorientierte Bildungsforschung nicht ausschließlich für die „institutionalisierte Seite von Bildung“ (Dausien 2001a: 70) und formale Bildungsprozesse interessiert, sondern für Prozesse der Erfahrungsbildung und -transformation, die in lebensweltlichen und institutionellen Kontexten und in je spezifischen historischsozialen Räumen situiert sind. Dies steht damit in Verbindung, dass eine biographietheoretische Konzeption von Bildungs-prozessen im Lebenslauf ein Verständnis von Lernen und Bildung impliziert, das in der Perspektive der Subjekte selbst seinen Ausgangspunkt nimmt. Demzufolge sind formale und nicht formale Lern- und Bildungsprozesse nicht als klar voneinander abzugrenzende Bereiche oder Vorgänge vorstellbar, sondern sie sind u.U. eng miteinander verschränkt. So wird etwa in der Schule nicht nur curricular gelernt, sondern es finden hier zeitgleich immer auch informelle Lernprozesse statt, die aus der Perspektive der Subjekte unter Umständen mindestens ebenso bildungsrelevant sein können wie der formale Qualifikationsprozess (vgl. Schulze 1993: 196f.). Umgekehrt können beiläufiges Erfahrungslernen in lebensweltlichen Kontexten und die darin erworbenen Haltungen und Wissenszugänge für die Subjekte eine durchaus weitreichende Bedeutung dafür haben, wie diese 9
Der Ausdruck des „ungelebten Lebens“ bezeichnet in Alheits Interpretation das nicht realisierte Potenzial von Lebensentwürfen und Alternativen (vgl. Alheit 2008: 21), das einen Bestandteil des impliziten Wissens einer Person bildet.
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institutionelle Bildungsangebote wahrnehmen und daran partizipieren. Bettina Dausien plädiert deshalb für ein weites Verständnis von Lern- und Bildungsprozessen: „Als ‚Bildung‘ können, vom biographischen Standpunkt des Subjekts aus, alle Prozesse der reflexiven Erfahrungs- und Wissensbildung bezeichnet werden, die die Lebensgeschichte dieses je konkreten Subjekts ausmachen“ (Dausien 2001a: 70). Darunter lassen sich sowohl alle Prozesse des formalen Qualifikationserwerbs fassen als auch „alle Formen informellen Lernens sowie die Bildung biographischer Erfahrungsstrukturen als übergeordnetes Gestaltungsprinzip“ (Dausien 2001b: 102). Bildungsgeschichten beschränken sich aus dieser Sicht also nicht auf formale Qualifikationsprozesse, schließen diese aber ein. Die Orientierung an der Perspektive der Subjekte bedeutet auch, dass nicht etwa objektivierbare ‚Bildungsleistungen‘ und ‚Lernerfolge‘, sondern vielmehr die Konstruktionen und Deutungen von Lern- und Bildungsprozessen seitens der Subjekte den Gegenstand biographieorientierter Bildungsforschung darstellen. Um die Spezifik einer solchen subjektorientierten Perspektive gegenüber einer institutionszentrierten Sicht auf Bildungsprozesse zu konturieren, grenzen Jochen Kade und Wolfgang Seitter (1996: 235) zwei Konzepte voneinander ab: die Betrachtung von Lebensgeschichten als „Bildungsbiographien“ und die Analyse von „Bildungskarrieren“. Bildungsbiographien sind nach ihrer Auffassung „lockerer, flexibler und offener als Bildungskarrieren, weil sie nicht an institutionell vorgezeichnete Entwicklungslinien gebunden sind, sondern erst individuell konstituiert werden“. Während sich in Bildungskarrieren „Bildungsaktivitäten […] nach Maßgabe institutionell definierter Abfolgen, die in einer linearen und kontinuierlichen Steigerungsbeziehung stehen“ (ebd.), manifestieren, setzt das Konzept der Bildungsbiographie keine Orientierung an den gesellschaftlichen Leistungsanforderungen voraus, sondern ihre (Entwicklungs-)Logik ergibt sich erst durch die subjektive Konstruktionsleistung. Dies bedeutet auch, dass formale Qualifikationsprozesse und individuelle bildungsbiographische Konstruktionen nicht zwangsläufig in einem harmonischen Verhältnis stehen müssen. Es können durchaus Diskrepanzen zwischen dem formalen Bildungsverlauf und der subjektiven Konstruktion biographischer Bildungsprozesse bestehen. Wolfgang Seitter (1999) hat beispielsweise in einer Studie über die Lebensgeschichten vereinsaktiver spanischer Migrant*innen herausgearbeitet, dass seine Interviewpartner*innen ihre Lebensgeschichten als Bildungsbiographien konstruierten, obwohl sie (aufgrund der historisch-politischen Bedingungen in Spanien vor der Emigration) nur über eine geringe Formalbildung verfügten. In den Lebensgeschichten der Interviewten spielten aber soziale Lernprozesse in non-formalen Bildungskontexten (Kulturvereinen) sowie auto-didaktische Lernprozesse, die für die Kompensation von vorenthaltenen formalen Bildungschancen genutzt wurden, eine entscheidende Rolle (vgl. Seitter 1999). Ähnliche Beispiele für die Bedeutung nachholender Bildungsprozesse vor dem Hintergrund vorenthaltener oder eingeschränkter formaler Bildungsmöglichkeiten finden sich auch in den Biographien von Frauen einer bestimmten Generation (vgl. Dausien 2001b). Die Lern- und Bildungsgeschichten der Subjekte enthalten damit mehr Bildungspotenziale als sich mit institutionell definierten Kriterien für eine ‚erfolgreiche Bildungskarriere‘ erfassen lassen. Vor diesem Hintergrund wirft der Begriff des ‚Bildungserfolges‘, mit dem im Diskurs um die Bildungswege von Akademiker*innen und Studierende aus migrierten Familien vielfach operiert wird (vgl. Kap. 2.1), Fragen auf. ‚Bildungserfolg‘ ist
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ein normativer Begriff, der sich maßgeblich an einer institutionsbezogenen Logik (vgl. Kade 1997) orientiert. Einem engen Begriffsverständnis folgend gilt als bildungserfolgreich, wer die Institutionen des Bildungssystems mit guten Ergebnissen durchlaufen hat und dies durch entsprechende Zertifikate dokumentieren kann. Die Klassifizierung von Forschungssubjekten als ‚bildungserfolgreich‘ stellt in erster Linie eine normative Typisierung seitens der Wissenschaftler*innen dar, die sich an institutionellen Bewertungsmaßstäben orientiert.10 Dies steht jedoch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Ausrichtung von Forschungszugängen, deren Ziel es ist, Bildungsgeschichten aus der Binnenperspektive der Subjekte zu rekonstruieren. In welchem Verhältnis die bildungsbiographischen Sinnkonstruktionen der Subjekte zu ihren formalen Bildungslaufbahnen stehen, ist eine empirisch zu beantwortende Frage. Nun erscheint es zwar durchaus plausibel, dass sich die Subjekte angesichts der normativen Macht gesellschaftlicher Normalitäts- und Erfolgsvorstellungen, diese Normen von Erfolg und Misserfolg vielfach zu eigen machen und sich selbst und ihre Bildungswege ebenfalls in normativen Kategorien von Erfolg und Misserfolg oder Scheitern konstruieren. Jedoch bestünde die Aufgabe einer rekonstruktiv arbeitenden Forschung in diesem Falle darin, diese Prozesse und Konstruktionsweisen als solche genauer zu beleuchten und ihre jeweiligen Funktionen zu untersuchen. Die Eignung der Perspektive ‚Bildungserfolg‘ für die Analyse von Bildungsbiographien ist auch insofern fraglich, als sie Bildungswege gewissermaßen vom Ergebnis her denkt. Die Zuschreibung von Bildungserfolg setzt am formalen (Zwischen-) Ergebnis eines Prozesses an, der sich keineswegs immer als eindeutige Aufwärtsbewegung gestalten muss. Genau diese Eindeutigkeit wird aber durch den Begriff des Bildungserfolges suggeriert. Die Prozesshaftigkeit und die Schleifen, Wendungen, das Zurückgeworfenwerden, partielles Scheitern oder Nichtgelingen bleiben dagegen unsichtbar. Das Potenzial qualitativ-rekonstruktiver Forschungszugänge in der Bildungsforschung kann jedoch gerade darin gesehen werden, Bildungsprozesse in ihrer jeweiligen Komplexität und Widersprüchlichkeit zu rekonstruieren. Nicht zuletzt ist gerade im migrationswissenschaftlichen Forschungsfeld die typisierende Rede von ‚bildungserfolgreichen Migrant*innen‘ auch deshalb problematisch, weil sie immer auch ihr Gegenteil reproduziert: Die Konstruktion der Figur des bildungserfolgreichen Migranten oder der bildungserfolgreichen Migrantin erhält ihre Bedeutung immer erst vor dem Hintergrund des Gegenbildes des migrantischen Bildungsverlierers. Dieses muss dabei nicht immer explizit benannt werden, es bildet aber dennoch den Hintergrund dafür, dass die Konstruktion der ‚bildungserfolgreichen Migrantin‘ bzw. des ‚bildungserfolgreichen Migranten‘ überhaupt sinnhaft gedeutet werden kann.
10 Die Kriterien dafür, was als formaler Bildungserfolg gelten kann, sind zudem nicht ein für alle Mal gültig, sondern historisch-gesellschaftlich variabel, wie sich an der wandelnden Bedeutung des Hauptschulabschlusses deutlich zeigen lässt, der seit den 1960er Jahren eine deutliche Entwertung erfahren hat.
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5.2.4 Zum Verhältnis von lebensweltlichen und institutionellen Bildungsprozessen – ungleichheitstheoretische Forschungsperspektiven Wurde zuvor aufgezeigt, dass eine biographieorientierte Perspektive auf Lern- und Bildungsprozesse sich nicht auf institutionelle Bildung beschränkt, so spielt die Rekonstruktion der Bedeutung des Bildungssystems in den Biographien der Interviewten in der vorliegenden Untersuchung dennoch eine zentrale Rolle. Ein zentrales Forschungsinteresse der vorliegenden Studie liegt darin, zu rekonstruieren, welche Erfahrungen die Interviewten im Bildungssystem machen, wie Erfahrungen von Teilhabe und Ausgrenzung lebensgeschichtlich verarbeitet werden und welche Bedeutung institutionelle Bildungsprozesse für die Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktion der Subjekte haben. Dies verweist auf die Bedeutungsdimension von Bildung „als gesellschaftlich formalisierte[m] Qualifizierungsprozeß“ (Dausien 2001b: 105). Wie bereits skizziert, fungieren Bildungsinstitutionen in modernen Gesellschaften als Strukturgeberinnen im Lebensverlauf und bilden oftmals auch ein ‚Gerüst‘ für die Erzählung der Lebensgeschichte. Sie geben einen zeitlichen Ablauf vor, an dem sich die Erzähler*innen orientieren. Auch wenn individuelle Bildungswege von institutionell vorgegebenen Verlaufsmustern abweichen mögen, bildet das Sequenzmuster des ‚Normalbildungsverlaufs‘ vielfach nach wie vor eine normative Orientierung für die Bildungsbiographien der Subjekte (vgl. Walther/Stauber 2007: 31). Dabei entspricht der idealtypische Bildungsverlauf in seiner zeitlich geregelten Abfolge institutioneller Bildungsprozesse im Lebenslauf vielfach nicht den tatsächlichen Bildungswegen der Subjekte und ist – heute ebenso wie in der Vergangenheit – nicht für alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen Realität. So sind Frauenbiographien strukturell betrachtet nach wie vor durch das Prinzip der „doppelten Vergesellschaftung“ (Becker-Schmidt 1987), die Einbindung in Erwerbsleben und Familienleben, gekennzeichnet. Damit verbunden sind z.B. häufig Unterbrechungen im Bildungsverlauf sowie nachgeholte Bildungsprozesse zu späteren Zeitpunkten des Lebens (vgl. Dausien 2001a). Im Hinblick auf die Bildungsverläufe von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte lassen sich (auf der Makroebene betrachtet) ebenfalls strukturelle Besonderheiten aufzeigen, die sich in der überproportionalen Häufigkeit verzögerter Einschulungen (vgl. Gomolla/Radtke 2009), in Rückversetzungen und ‚Schleifen‘ infolge nachträglicher Bildungsaufstiege zeigen (vgl. Schulze/Soja 2003). Bildungsinstitutionen sind darüber hinaus als Agenturen für die Vergabe von Bildungs- und Lebenschancen für die Bildungswege der Subjekte bedeutsam. Sie vergeben Bildungsabschlüsse, die als soziale Platzanweiser anzusehen sind, da sie Einfluss auf die Teilhabemöglichkeiten der Subjekte am Erwerbsleben und ihre Platzierung im sozialen Raum nehmen. Dabei trägt das Bildungssystem zur Reproduktion sozialer Ungleichheiten bei, die entlang verschiedener sozialer Differenzlinien reproduziert werden. Dies wird im gegliederten Schulsystem vor allem an der ungleichen Beteiligung von Schüler*innen unterschiedlicher sozialer Herkunftshintergründe an statushöheren Schulformen sowie der Häufigkeit der von den Schüler*innen erreichten Schulabschlüsse erkennbar (vgl. Diefenbach 2010; Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010). Auch die nach wie vor geringe Repräsentanz von Studierenden aus nicht-akademischen Elternhäusern an den Universitäten (vgl. Middendorff et al.
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2013: 94)11 verweist darauf, dass das Bildungssystem bestehende gesellschaftliche Ungleichheiten vielfach nicht abbaut, sondern dazu beiträgt, diese zu verfestigen. Eine für die qualitative Bildungs- und Ungleichheitsforschung bis heute relevante theoretische Perspektive auf diese Prozesse wird durch die bildungssoziologischen Arbeiten Pierre Bourdieus repräsentiert. Für die vorliegende Untersuchung stellt diese – insbesondere die zentrale These der kulturellen Passung mit den Erweiterungen und Differenzierungen, die sie inzwischen im Rahmen biographieorientierter Bildungsforschung erfahren hat – ein theoretisches Anregungspotenzial für die Analyse der Bildungsgeschichten dar, das für Mechanismen von Teilhabe und Ausschluss im Bildungssystem sensibilisierte. Pierre Bourdieu und Jean-Claude Passeron (1971; 200712) haben auf Basis ihrer Forschungen im französischen Hochschulsystem in den 1960er Jahren die These aufgestellt, dass die in der Familie erworbenen Dispositionen zu Bildung und Kultur und ihre Bewertung in Bildungsinstitutionen einen wesentlichen Einfluss auf die Art und Weise haben, wie Lernende sich im Bildungssystem positionieren können und wie sie in diesem Feld wahrgenommen und bewertet werden. Bourdieu geht davon aus, dass die Subjekte durch die selbstverständliche Partizipation an familialen Alltagspraxen bestimmte Dispositionen des Handelns, Wahrnehmens und Denkens ausbilden, die zugleich als Ausdruck milieuspezifischer Normen und Präferenzen verstanden werden können. In Prozessen der Primärsozialisation, die Bourdieu als soziale Habitualisierungsprozesse fasst, werden so – je nach der sozial-strukturellen Positionierung der Akteur*innen – verschiedene Vorlieben, Geschmäcker und kulturelle Ausdrucksmöglichkeiten tradiert und angeeignet (vgl. Bourdieu 1987b). Damit treten die Subjekte mit unterschiedlichen Voraussetzungen und Kapitalkonfigurationen in das kompetitive System institutioneller Bildung ein. Bourdieu und Passeron (1971) konzeptualisieren das Bildungssystem als ein hierarchisch strukturiertes Feld,13 in dem die Akteur*innen mit ungleichen Mitteln um soziale Positionen konkurrieren. Das Bildungssystem lässt sich mit Bourdieu als ein soziales (Kräfte-)Feld verstehen, dem spezifische Normen und Erwartungen inhärent 11 Mehr als die Hälfte aller Universitätsstudierenden hat mindestens ein Elternteil mit einem akademischem Bildungsabschluss (vgl. Middendorf et al. 2013: 14), während der Anteil der Personen mit Hochschulabschluss in der Altersgruppe der Eltern in der Bevölkerung lediglich bei 20% liegt (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2012: 42). 12 Die französischsprachige Originalausgabe wurde 1985 unter dem Titel „Les héritiers. Les étudiants et la culture“ publiziert. Im Jahr 2007 wurde der Band in der deutschen Übersetzung veröffentlicht. 13 Der Begriff des Feldes umfasst nach Bourdieu ein „Netz oder eine Konfiguration von objektiven Relationen zwischen Positionen“ (Bourdieu/Waquant 2006: 137, Erstveröff. 1992). Gesellschaftliche Felder zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen bestimmte Kräfteverhältnisse wirksam sind, die u.a. durch den jeweiligen Wert der zustande kommen, den die verschiedenen Kapitalsorten in dem Feld haben. „In einem Feld kämpfen Akteure und Institutionen mit unterschiedlichen Machtgraden und damit Erfolgsaussichten nach den (und in bestimmten Konstellationen auch um die) für diesen Spiel-Raum konstitutiven Regularitäten und Regeln um die Aneignung der spezifischen Profite, die bei diesem Spiel im Spiel sind“ (ebd.: 133). Bourdieu benutzt den Feldbegriff in seinen Studien zur Bezeichnung von gesellschaftlichen Bereichen, die auf sehr unterschiedlichen „Aggregationsebenen“ (ebd.: 135) liegen.
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sind, zu denen sich Akteur*innen, die sich darin bewegen, in ein affirmatives Verhältnis setzen müssen, um in dem ‚Spiel‘ erfolgreich mitspielen zu können. Die Frage, welche Position die Subjekte in dem jeweiligen Feld einnehmen können, welche Möglichkeiten der Teilhabe und sozialen Zugehörigkeit ihnen darin möglich werden oder versagt bleiben, ist dabei abhängig von der Kenntnis der Spielregeln des Feldes und der Verfügung über die passenden Ressourcen. Je nach sozialer Ausgangsposition werden den Akteur*innen unterschiedliche kulturelle Akkulturationsleistungen abverlangt. Entspricht die Art und Weise der Relationierung der Spieler*innen nicht den Spielregeln des Feldes oder ist ihr Kapital nicht kompatibel mit den feldspezifischen Erwartungen, dann scheiden sie als legitime Mitspieler*innen aus bzw. werden auf die wenig prestigeträchtigen Positionen am Rand verwiesen. Dies erscheint nach außen dabei meist nicht als ein kulturell und sozial produzierter Exklusions- oder Marginalisierungsprozess, sondern als eine Form der Selbsteliminierung der betreffenden Akteur*innen (vgl. Bourdieu/Passeron 2007: 40). Bourdieu geht davon aus, dass zwischen der „legitimen Kultur“ (Bourdieu 1987b: 17) der Oberschichten und der Kultur der Bildungsinstitutionen eine Affinität besteht, was zu einer strukturellen Privilegierung der Lernenden aus den bürgerlichen Schichten führt: „Die Kultur der Elite steht der Kultur der Schule so nah, dass die Kinder aus einem kleinbürgerlichen (oder, a fortiori, bäuerlichen bzw. Arbeiter-)Milieu das nur mühsam erwerben können, was den Kindern der gebildeten Klassen gegeben ist: den Stil, den Geschmack, die Gesinnung, kurzum, die Einstellungen und Fähigkeiten, die den Angehörigen der kulturellen Klasse nur deshalb als natürlich und selbstverständlich einforderbar erscheinen, weil sie die Kultur (im ethnologischen Sinn) dieser Klasse ausmachen.“ (Bourdieu 2001: 41).
Die spielerische Leichtigkeit, mit der Angehörigen der herrschenden Klassenfraktionen mit den Anforderungen des Bildungssystems umgehen, unterscheidet sich demnach von der Haltung der Bildungsbeflissenheit der Mittelschichten, die in den höheren Bereichen des Bildungssystems als kleinbürgerliches Streben abgewertet wird (vgl. Bourdieu/Passeron 2007: 31ff.). Das Verhältnis der Milieus, die im unteren Bereich des sozialen Raums angesiedelt sind, ist dagegen durch eine Fremdheit gegenüber der Kultur von Schule und Hochschule bestimmt, die dazu führt, dass die Lernenden, um im Feld höher qualifizierender Bildungsgänge zu bestehen, enorme kulturelle Anpassungsleistungen erbringen müssen. Dies bedeutet allerdings nicht zwangsläufig, dass sie weniger formal erfolgreich sind; sie können das mangelnde inkorporierte kulturelle Kapital nach Bourdieu durch ihr Engagement kompensieren, während Lernende aus privilegierteren Milieus teilweise an ihrer Selbstgewissheit scheitern, die sie davon abhält, sich zu engagieren (vgl. Bourdieu/Passeron 2007: 38). Damit rückt die Frage nach dem Verhältnis zwischen den kulturellen Normen der Bildungsinstitutionen und den Ressourcen, „Gewohnheiten, Eingeübtheiten und Einstellungen“ (ebd.: 29) der Subjekte ins Zentrum. Die ungleiche Partizipation von Studierenden unterschiedlicher sozialer Herkunft im tertiären Bildungswesen und die Bewertung ihrer Leistungen werden damit als Ausdruck eines sozial ‚ererbten‘ kulturellen Privilegs der Studierenden aus gehobenen Sozialschichten entlarvt, das jedoch durch den Mythos der unterschiedlichen Begabung verschleiert wird (vgl. ebd.: 40).
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Die Habitus- und Feld-Theorie Bourdieus und die These der kulturellen Passung stellen in der deutschsprachigen qualitativen Bildungs- und Ungleichheitsforschung14 bis heute einflussreiche theoretische Bezugspunkte für die Untersuchung von Differenzierungs-, Ein- und Ausschlussmechanismen im Bildungssystem dar. Sowohl in der Schulforschung als auch in der Erwachsenenbildungsforschung (vgl. Bremer 2007) und der Hochschul- und Studierendenforschung (vgl. Lange-Vester/TeiwesKügler 2006; Schmitt 2010) finden sich Beispiele für empirische Studien, die an die Perspektive Bourdieus anknüpfen. Dabei sind die Bourdieuschen Thesen auch kritisiert, differenziert und konstruktiv weitergeführt worden. Einen entscheidenden Beitrag dazu haben Arbeiten aus dem Bereich der qualitativ-empirischen Bildungsforschung geleistet, die mit biographischen Forschungszugängen arbeiten. Eine zentrale Differenzierung, die sich in der kritischen Auseinandersetzung mit Bourdieus bildungs- und kultursoziologischen Arbeiten vollzogen hat, stellt die Unterscheidung zwischen Klassenhabitus und individuellem Habitus dar. Diese Differenz ist in Bourdieus eigenen Arbeiten zwar prinzipiell ebenfalls angelegt, allerdings bleibt das theoretische Verständnis des individuellen Habitus unterbeleuchtet. Bourdieus primäres Interesse bestand darin, Wahrnehmungs- Handlungs- und Deutungsmuster als klassenspezifische Formationen zu untersuchen. Der Habitus des Einzelnen erscheint aus dieser Perspektive als nicht mehr als eine Variante des klassenspezifischen Habitus (vgl. Bourdieu 1987a: 112f.). Dagegen setzen biographische Forschungen an der Perspektive individueller Bildungsgeschichten an. Sie untersuchen Prozesse der Habitusgenese und -transformation, die sich auf individuelle Erfahrungsgeschichten beziehen, welche nicht in klassenspezifischen Typologien aufgehen. So haben Peter Büchner und Anna Brake (2006) intergenerationale Bildungsprozesse am „Bildungsort Familie“ untersucht. Die Bedeutung der Familie als Bildungsort sehen die Autor*innen in den informellen Bildungsprozessen, die sich in Form einer Transmission und Aneignung von sozialen und kulturellen Ressourcen im familialen Kontext vollziehen. Bei der Rekonstruktion dieser Ressourcen beziehen sie sich auf die Bildungs- und Kultursoziologie Pierre Bourdieus, insbesondere auf das Konzept des kulturellen und sozialen Kapitals (vgl. Bourdieu 1997). Die kulturellen Ressourcen, die in Familien tradiert werden, sind demnach familienspezifisch, insofern als sie in je individuellen Konstellationen erworben und akkumuliert wurden. Zugleich sind sie aber auch als Varianten milieuspezifischer Kapitalkonfigurationen zu verstehen (vgl. Brake/Büchner 2003). Während Bourdieus Kapitalkonzept sich eher aus dem Interesse an der Beschreibung der kollektiv-gesellschaftlichen Folgen der Weitergabe von Ressourcen speiste, die einer Reproduktion der sozialen Ordnung Vorschub leisten, richtet sich die hier eingenommene Forschungsperspektive auf das je Konkrete, d.h. auf die Prozesse der Transmission kultureller und sozialer Ressourcen in der jeweiligen Familie. Dabei zeigt sich, dass dies nicht bedeutet, die gesellschaftliche Dimension dieser Prozesse aus dem Auge zu verlieren. Vielmehr werden oftmals gerade auf der Mikroebene die Verschränkungen zwischen dem ‚Individuellen‘ und dem ‚Allgemeinen‘, also übergreifenden gesellschaftlichen Strukturen, gut 14 Der Mainstream der quantitativ-empirischen Bildungsforschung orientiert sich dagegen an Theorien der rationalen Bildungswahl im Anschluss an Raymond Boudon (1974). Zur Auseinandersetzung mit den beiden Paradigmen vgl. Kramer (2011).
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erkennbar (vgl. Brake/Büchner 2003). Die Fokussierung auf das Konkrete ermöglicht es aber auch, Prozesse der intergenerationalen Weitergabe des sozialen und kulturellen ‚Erbes‘ nicht allein unter dem Aspekt der Weitergabe, sondern auch unter dem der ‚Aneignung‘ zu betrachten. Dadurch werden sowohl die reproduktive Dimension von Transmissionsprozessen zugänglich als auch die Veränderungen, die dadurch zustande kommen, dass bildungsrelevante Ressourcen unter veränderten sozialen Bedingungen und in je spezifischen sozialen und biographischen Konstellationen und Situationen übertragen und angeeignet werden. Die These der kulturellen Passung ist überdies in der Schulforschung, insbesondere in Arbeiten aus dem Hallenser Forschungskontext, weiter ausgearbeitet worden und hat dadurch wichtige Erweiterungen erfahren. Ausgehend von Bourdieus These, dass die Schule einen spezifischen Habitus einfordere, der eine mehr oder weniger Nähe zu dem jeweiligen, in familialen Sozialisations- und Bildungsprozessen erworbenen, primären Habitus der Schüler*innen aufweist, haben die Hallenser Forscher*innen in verschiedenen Untersuchungen Schulkulturen und Schüler*innenhabitus sowie ihr Verhältnis zueinander rekonstruiert (vgl. Kramer 2002; Helsper/ Kramer/Hummrich/Busse 2009; Kramer/Helsper/Thiersch/Ziems 2009). Eine zentrale Erweiterung, die sich aus diesen Forschungen ergibt, betrifft das Verständnis des institutionellen Kontexts. Die Forscher*innen differenzieren die relativ pauschale These Bourdieus, dass das Bildungssystem mehr oder weniger unterschiedslos an der Kultur der gehobenen, bürgerlichen Klasse ausgerichtet sei. Auf Basis von empirischen Untersuchungen verschiedener Schulen zeigen sie, dass nicht nur die relative Nähe oder Distanz zu den Normen einer ‚bürgerlichen Bildungskultur‘ ausschlaggebend für die Teilhabechancen von Lernenden ist. Die Schullandschaft als Feld gestaltet sich keineswegs in sich homogen, sondern gliedert sich in unterschiedliche schulische Milieus. So zeigen die Forschungen auf, dass sich Schulkulturen nicht nur entlang der jeweiligen Schulformen voneinander unterscheiden, sondern auch auf Ebene der Einzelschulen erheblich variieren (vgl. Helsper et al. 2009). In der Kultur der Einzelschule sind vielfältige, teils implizite Normalitätsvorstellungen und -erwartungen repräsentiert und institutionalisiert, auf die sich die Akteur*innen in ihren kulturellen Praxen handelnd beziehen. Jede Schulkultur, so die These, erzeuge eine „eigene institutionelle Anerkennungsstruktur, die bestimmt, wer in welcher Form, mit welchen ‚Gewinnen‘ und auch zu welchen ‚Kosten‘ oder ‚Verlusten‘ an diese je konkrete Schule anschließen kann – oder auch nicht anschließen kann“ (Kramer 2011: 167, Hervh. i. Orig.).15 15 Die gegenwärtigen bildungspolitischen Rahmenbedingungen treiben diesen Prozess der Fragmentierung der Schullandschaft gegenwärtig weiter voran. Die Stigmatisierung der Hauptschule und die gestiegene Anziehungskraft gymnasialer Bildungsgänge sowie die Einführung des Prinzips der Schulautonomie und die damit einhergehende Orientierung der Schulen an marktwirtschaftlichen Prinzipien (vgl. Gomolla 2005) haben zu einer stärkeren Differenzierung innerhalb lokaler Schullandschaften geführt. Insbesondere im Segment der höher qualifizierenden Schulen zeigen sich Distinktionsbestrebungen zwischen ‚Elitegymnasien‘ und anderen Schulen, die zur Entstehung von zunehmend feiner differenzierten Bildungsmilieus beitragen, in denen „feine Unterschiede“ (Bourdieu 1987b) auf einem hohen Niveau hergestellt und reproduziert werden (vgl. Helsper et al. 2008). Symbolische Ordnungen von Zugehörigkeit, Marginalisierung, Teilhabe und Ausschluss im Bildungs-
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Schulen repräsentieren in sich differenzierte Bildungsmilieus, in denen sich Korrespondenzverhältnisse zwischen dem mitgebrachten Habitus der einzelnen Schüler*innen und dem kulturellen Milieu der jeweiligen Schule herstellen. Zwischen den jeweiligen schulkulturellen „Anforderungs- und Anerkennungsverhältnissen“ (ebd.: 168) und den herkunftsspezifisch geformten und „biografisch modifizierten Habitusformationen“ (ebd.) stellen sich „schulbiographische Passungsverhältnis[se]“ (Kramer 2008) her. Das Passungsverhältnis gestaltet sich für Schüler*innen, die verschiedene bildungsrelevante Orientierungen und Dispositionen mitbringen, also je nach besuchter Schule unterschiedlich. Die Schule wird dabei als Bildungs- und Entwicklungsraum verstanden, der zwar für unterschiedliche biographische Habitusformationen verschiedene „Möglichkeitsräume der Anerkennung und Artikulation ihres Selbst“ beinhaltet (Helsper 2008: 123), aber in Grenzen in seinen schulkulturellen Formen auch seinerseits gestaltbar ist (vgl. Kramer 2011: 168). Die These einer milieuspezifischen Homologie bzw. Diskrepanz zwischen Schulkultur und Schüler*innenhabitus muss deshalb nach Ansicht der Forscher*innen differenzierter betrachtet werden. Es sei davon auszugehen, dass Schulen je eigene symbolische Ordnungen repräsentierten und „in unterschiedlichen Schulkulturen je spezifische Schule-Milieu-Passungen bzw. Schule-Milieu-Abstoßungen entstehen“ (Kramer/Helsper 2010: 110). Passungsverhältnisse müssten somit auf Ebene der jeweiligen Einzelschule rekonstruiert werden. Eine weitere Konsequenz, die aus den biographietheoretischen Erweiterungen für die empirische Untersuchung von Bildungsgeschichten gezogen werden kann, besteht darin, diese im Hinblick auf die Anschlussfähigkeit alltags- und lebensweltlicher und biographischer Orientierungen in institutionellen Bildungskontexten zu untersuchen. Es gilt zu rekonstruieren, welche Bildungsressourcen, -zugänge und -verständnisse in lebensweltlichen Lernprozessen angeeignet werden und welche Resonanzen sie in den jeweiligen institutionellen Bildungskontexten erzeugen und umgekehrt. Das Potenzial einer solchen Analyse besteht darin, Einblicke in die Prozesse zu gewinnen, in denen sozial ungleiche Bildungsvoraussetzungen in individuellen Bildungswegen reproduziert und transzendiert werden (vgl. Brake/Büchner 2012: 71).
system werden so nicht allein durch die verschiedenen Schulformen, sondern zunehmend durch die Kulturen der Einzelschulen etabliert, stabilisiert und transformiert.
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5.3 S ELBST -
UND Z UGEHÖRIGKEITSKONSTRUKTIONEN IN GESELLSCHAFTLICHEN M ACHT - UND D IFFERENZVERHÄLTNISSEN
Die vorliegende Studie zielt darauf ab, Einsichten in die Prozesse der (Trans-) Formation und Gestaltung von Biographiekonstruktionen, Bildungswegen sowie Selbst- und Zugehörigkeitsverständnissen in lebensgeschichtlicher Perspektive zu erlangen. Dabei werden die Lebensgeschichten als kulturelle Erzeugnisse verstanden, die in einem bestimmten – nämlich migrationsgesellschaftlichen – Kontext entstanden sind. Dies impliziert eine Sichtweise, die sensibel für die gesellschaftlichen Macht- und Differenzverhältnisse ist, in denen sich die hier betrachteten Biographiekonstruktionen bewegen. Um dies zu gewährleisten, gilt eine besondere Aufmerksamkeit den sozialen Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen (vgl. Mecheril/Plößer 2011), die in den biographischen Konstruktionen sichtbar werden. Nachfolgend wird ein theoretisches Vorverständnis dazu entwickelt, wie biographische Selbstkonstruktionen und -positionierungen von Individuen in sozialen Räumen, die durch Zugehörigkeitsordnungen strukturiert sind, gedacht und analysiert werden können. Dafür werden die zugehörigkeitstheoretischen Überlegungen, die die vorliegende empirische Analyse inspiriert haben, zunächst in allgemeiner Form skizziert (Kap. 5.3.1). Anschließend gehe ich auf das von Paul Mecheril (2003) entwickelte Konzept von Zugehörigkeit ein, das in der empirischen Untersuchung als analytisches ‚Werkzeug‘ fungierte (Kap. 5.3.2). Schließlich wird dieses in Bezug zu dem biographietheoretischen Rahmenkonzept der Studie gesetzt (Kap. 5.3.3). 5.3.1 Differenzordnungen als Kontexte für Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen in der Migrationsgesellschaft Konzeptionelle Überlegungen zum Zugehörigkeitsbegriff finden sich bei verschiedenen Autor*innen (vgl. Anthias 2003; Mecheril 2003; Riegel/Geisen 2007; YuvalDavis 2011). Bettina Dausien und Paul Mecheril (2006: 155) bezeichnen Zugehörigkeit als „zentralen Topos der Migrationsforschung“, auch Thomas Geisen (2007: 39ff.) verleiht dem Begriff den Status eines theoretischen Schlüsselkonzepts. Britta Hoffarth und Paul Mecheril (2006: 229) konzipieren Zugehörigkeit als Alternative zum Begriff der Identität. Vor dem Hintergrund der Fallstricke, die potenziell mit dem Identitätsbegriff verbunden sind, betont ‚Zugehörigkeit‘ die enge Verwobenheit von Selbstverhältnissen und sozialen Verhältnissen. Zugehörigkeit markiert demnach eine Perspektive, die sich explizit auf das Verhältnis zwischen Individuen und sozialen Kontexten bezieht, in denen diese ihre Selbstverständnisse kultivieren: „Beim Zugehörigkeitsbegriff wird gefragt, unter welchen sozialen, politischen und gesellschaftlichen und von diesen vermittelten Bedingungen Individuen sich selbst einem Kontext zugehörig verstehen, erkennen und achten können“ (ebd.). Ins Zentrum rücken damit die Verhältnissetzungen zwischen den gesellschaftlichen Bedingungen und den Selbstverständnissen der Individuen. Im Anschluss an Paul Mecheril und Melanie Plößer (2011: 60ff.) lassen sich die sozialen Kontexte, in denen sich Prozesse der Subjektbildung und -konstruktion vollziehen, als durch verschiedene Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen charakterisiert beschreiben. Ethnizität und Nationalität, aber auch Klasse, Geschlecht, sexuelle
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Orientierung usw. sind soziale Konstruktionen, die als gesellschaftliche Ordnungskategorien fungieren und Konsequenzen für die Positionierung der Individuen im sozialen Raum haben. Soziale Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen manifestieren sich in gesellschaftlichen Institutionen ebenso wie in Diskursen und Normalitätserwartungen. Mecheril und Plößer beschreiben Differenz-/Zugehörigkeitsordnungen16 als in drei Hinsichten machtvolle Verhältnisse: Erstens sind sie insofern machtvoll als sie den Bezugsrahmen vorgeben, in dem Prozesse der Subjektwerdung sich vollziehen. In Anlehnung an sozialkonstruktivistische und poststrukturalistische Theorieperspektiven gehen Mecheril und Plößer davon aus, dass Subjekte durch differenzierende Ansprachen, die sich an sozialen Unterscheidungskategorien orientiert, erst als Männer und Frauen, Menschen mit oder ohne Behinderung oder Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen hervorgebracht werden. Prozesse der Subjektbildung vollziehen sich also entlang sozialer Differenzkategorien und Differenzierungspraktiken. Identifizierungen, Selbst- und Fremdpositionierungen der Subjekte finden unter Bezugnahme auf bestehende symbolische Ordnungen statt (vgl. ebd.: 62). Die Machtförmigkeit sozialer Differenzordnungen ergibt sich zweitens daraus, dass Differenzlinien binär codiert sind, wobei die Oppositionen nicht gleichwertig, sondern hierarchisch organisiert sind (vgl. ebd.). Durch unterscheidende Praxen werden nicht nur Unterschiede erzeugt, sondern es gehen damit auch hierarchisierende Unterscheidungen, Auf- und Abwertungen einher. Differenzordnungen sind dadurch nicht nur Ordnungen, in denen unterschieden wird, sondern es sind zugleich Ordnungen der Privilegierung und Deprivilegierung. Mit ihnen verbinden sich nicht nur abstrakte symbolische Unterscheidungen, sondern diese haben für die Einzelnen auch ganz konkrete Konsequenzen für die jeweiligen Möglichkeiten sozialer Teilhabe. Mit der Binarität der Differenzordnungen ist schließlich ein dritter Machtaspekt verbunden, den Mecheril und Plößer (2011: 63) als „Zwang zur Eindeutigkeit“ beschreiben. Damit ist gemeint, dass die dichotome Ordnung Verschiedenheit entlang oppositioneller Pole organisiert und dadurch Subjektpositionen hervorbringt, die das jeweils Andere ausschließen. Subjekte, die sich zwischen diesen Polen als ‚sowohlals-auch‘ verorten, sind somit in dieser Ordnung nicht vorgesehen und ihre Legitimität ist zweifelhaft. Positionierungen der Subjekte, die sich dem Zwang zur Eindeutigkeit entziehen oder widersetzen, erfahren darum häufig keine Anerkennung, sondern werden abgewertet bzw. die von ihnen reklamierte Positionierung wird delegitimiert (vgl. ebd.). Von sozialen und diskursiven Differenz- und Zugehörigkeitsordnungen zu sprechen, verweist darauf, dass diese in hohem Maße sozial institutionalisiert sind und nicht beliebig durchbrochen werden können. Anknüpfend an interaktionstheoretische Theorien können Differenzen zwar als ein Resultat sozialen Handelns verstanden werden. Christine Riegel und Thomas Geisen (2007: 7) betonen, dass die Bedingungen für Zugehörigkeit und die Konsequenzen von Nichtzugehörigkeit, „immer auch Gegenstand von Aushandlungsprozessen [sind]“, da Zugehörigkeiten ein Ergebnis von Differenzierungspraktiken sind. Dies bedeutet zum einen, dass die Subjekte der Zugehörigkeitsordnung nicht machtlos ausgeliefert sind, sondern sie über (begrenzte) 16 Während Mecheril (2008) von „Zugehörigkeitsordnungen“ spricht, ist bei Mecheril/Plößer (2011) von „Differenzordnungen“ die Rede. Ich verwende hier beide Begriffe synonym.
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Möglichkeiten verfügen, sich an der Aushandlung dieser Ordnungen zu beteiligen. Die Subjekte sind daran beteiligt, die symbolische Ordnung herzustellen und aufrecht zu erhalten oder zu variieren, indem sie sich selbst und andere in alltäglichen Praxen des ‚doing difference‘ (Fenstermaker/West 1995) positionieren (vgl. Mecheril/ Plößer 2011: 61). Jedoch wäre es verkürzt, Differenzen ausschließlich als Ergebnisse sozialer Interaktionen und situierter Handlungsakte zu verstehen. Vielmehr nehmen die handelnden Akteur*innen in ihrem Handeln Bezug auf „im Rahmen vorgängiger Unterscheidungspraxen erzeugte Normen und Logiken“ (ebd.: 62). Diese Normen sind auch in den gesellschaftlichen Institutionen und Diskursen repräsentiert und fungieren – beispielsweise im Bildungssystem – als Ressource für machtvolle Unterscheidungs- und Zuweisungsmechanismen (vgl. Gomolla/Radtke 2009). Bildungsinstitutionen stehen nicht jenseits symbolischer Macht- und Differenzordnungen, sondern sind in diese eingebunden und tragen aktiv dazu bei, sie zu reproduzieren. Sie haben dabei nicht nur eine Funktion für die äußere Strukturierung von Lebens- und Bildungswegen und die Vergabe von Bildungs- und Lebenschancen; sie sind auch soziale Räume, in denen sich Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse ausbilden. Im Hinblick auf die Biographien von Schüler*innen aus migrierten Familien ist empirisch gezeigt worden, dass im Lern- und Bildungsraum Schule nachweislich machtvolle Unterscheidungs- und Zuschreibungspraktiken wirksam werden, zu denen sich die Subjekte ins Verhältnis setzen müssen (vgl. z.B. Weber 2003; Rose 2010). Logiken der Unterscheidung werden somit zwar sozial erzeugt und können im Handeln prinzipiell hinterfragt und neu verhandelt werden, sie lassen sich jedoch nicht durch einzelne widerständige Akte außer Kraft setzen. Eine weitere Begrenzung ergibt sich daraus, dass Differenzordnungen den Individuen nicht äußerlich bleiben, sondern „biographisch früh strukturierend auf Erfahrungen, Verständnisweisen und Praxisformen wirken“ (Mecheril 2008: 79). Diskursive Zugehörigkeitsordnungen und Praktiken der Differenzierung und Normalisierung sind bedeutsam für die Erfahrungs- und Handlungsspielräume der Individuen, für die Art und Weise, wie diese lernen, sich selbst und ihre ‚Welt‘ zu verstehen – und folglich auch dafür, wie sie ihre Biographie konstruieren und entwerfen können. „Die sozialisierende Wirkung von Zugehörigkeitsordnungen besteht darin, dass sie Selbstverständnisse praktisch, also kognitiv-explizit, aber auch leiblich-sinnlich vermitteln, in denen sich soziale Positionen und Lagerungen spiegeln. […] Zugehörigkeitsordnungen sind Ordnungen hegemonialer Differenz; in ihnen wird folgenreich unterschieden, in ihnen lernt man sich kennen, in ihnen bilden sich Routinen des Körpers, der Sprache, des Denkens aus“ (Mecheril 2008: 79).
Zugehörigkeitsordnungen sind insofern als machtvolle (Bildungs-)Zusammenhänge zu verstehen, „die durch eine komplexe Form der Ermöglichung und Reglementierung, der symbolischen, kulturellen, politischen und biographischen Einbeziehung und Ausgrenzung auf den oder die Einzelne produktiv Einfluss nehmen“ (ebd.: 83). Was bedeuten diese allgemeinen Überlegungen nun für die hier verfolgte Untersuchung von biographischen Selbstkonstruktionen unter den Bedingungen von Migration?
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Migrationsgesellschaft lässt sich im Anschluss an Astrid Messerschmidt (2006: 51) verstehen als ein „Handlungs- und Reflexionsraum, in dem soziale und kulturelle Zugehörigkeiten ausgehandelt und zugeschrieben werden“. Die Differenzierung zwischen Migrant*innen und Nicht-Migrant*innen, zwischen ‚Einheimischen‘ und ‚Migrationsanderen‘ ist eine gesellschaftliche Unterscheidungspraxis, die sich in institutionellen Ordnungen ebenso manifestiert wie in alltäglichen Interaktionssituationen, in denen sie (re-)produziert wird. Diese Unterscheidungspraxis nimmt Einfluss auf die Erfahrungs- und Handlungsspielräume der Subjekte und ist dadurch auch wesentlich für die Art und Weise, wie diese lernen, sich selbst zu verstehen.17 Christine Riegel und Thomas Geisen (2007: 8) betonen, dass die Auseinandersetzung mit Fragen und Phänomenen, die Zugehörigkeit(en) zu sozialen Kontexten betreffen, nicht spezifisch für die Biographien von Jugendlichen mit einer (tatsächlichen oder zugeschriebenen) Migrationsgeschichte ist, sondern prinzipiell für alle Individuen relevant ist. Allerdings sind Jugendliche mit Migrationsgeschichte vielfach in besonderem Maße mit Infragestellungen ihrer sozialen Zugehörigkeit konfrontiert, da sie von dem (fiktiven) Idealtyp der im dominanzkulturellen ‚Wir‘-Kontext fraglos Zugehörigen in bestimmten Hinsichten abweichen. Paul Mecheril (2003: 147ff.) spricht in diesem Zusammenhang von formalen und informellen Mitgliedschaftskriterien, entlang derer im Alltag Klassifizierungen in fraglos Zugehörige und Migrationsandere vorgenommen werden. Dazu zählen neben dem Pass, der die formale nationale Zugehörigkeit anzeigt, informelle Kriterien, etwa die Sprachigkeit, physiognomische Merkmale oder der Name, der auf eine Verbindung zu einem kulturellen und sprachlichen Kontext verweist, der nicht der ‚hiesige‘ ist. Als ‚Migrationsandere‘ Identifizierte sind infolge dessen alltäglich damit konfrontiert, sich erklären zu müssen, Stellung zu beziehen, Ansprüche auf Zugehörigkeit zu erheben und Zugehörigkeiten auszuhandeln und zu behaupten. „Aufgrund der Alltäglichkeit der Thematisierung als Andere wird die Frage der Zugehörigkeiten omnipräsent und zwingt zur Positionierung“ (Riegel/Geisen 2007: 8). Zur Infragestellung von Zugehörigkeit tragen unter anderem öffentliche und mediale Debatten um Integration bei (vgl. Schramkowski 2007). Diese schließen Personen, die als Migrationsandere identifiziert werden, symbolisch aus, indem sie ihnen Loyalitätsbekenntnisse abverlangen, die von Personen, die als fraglos zugehörig identifiziert werden, nicht erwartet werden. Auch das vielerorts zunehmend islamfeindliche Klima infolge der Ereignisse des 11. September 2001, das sich aktuell weiter verschärft, führt dazu, dass Personen muslimischen Glaubens, insbesondere wenn sie aufgrund ihrer Kleidung als religiös erkennbar sind, unter Generalverdacht gestellt werden. Erfahrungen mit kulturalisierenden Stereotypisierungen sowie verschiedenen Formen von Rassismus gehören für viele Individuen zum Alltag (vgl. Terkessidis 2004). Einschränkend ist dabei jedoch festzuhalten, dass Rassismuserfahrungen und die Identifizierung als Migrationsandere nicht für alle Individuen, die über Migrationserfahrungen verfügen oder eine familiale Migrationsgeschichte haben, gleichermaßen präsent sind und gleich erlebt werden. Ausgehend von dem Gedanken, dass Subjekte 17 Dies gilt nicht nur für ‚Migrant*innen‘, sondern auch für ‚Mehrheitsangehörige‘. Allerdings bleiben die Privilegien, die sich mit dem Status des/der ‚Einheimischen‘ verbinden, im Alltag oftmals unsichtbar und werden auch in Lebenserzählungen dadurch selten explizit thematisiert und reflektiert.
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immer auf ‚Schnittstellen‘ verschiedener Differenzordnungen positioniert sind, ist vielmehr anzunehmen, dass es Unterschiede in den subjektiven Erfahrungen von Rassismus gibt und Rassismen in verschiedenen Formen bedeutsam werden können. Auch ist die binäre Unterscheidung in ‚Wir‘ und ‚Andere‘ keineswegs in allen Kontexten und Lebensphasen gleichermaßen bestimmend. Verschiedene Arbeiten haben gerade im Hinblick auf die Lebenswelten Jugendlicher auf die Bedeutung soziokultureller Räume hingewiesen, die alternative Möglichkeiten der Selbstverortung jenseits binärer nationaler Zuordnungen eröffnen. Das dominante Unterscheidungsmuster ‚Wir‘/‚Andere‘ tritt in manchen peerkulturellen Kontexten, aber potenziell auch in lokalen bildungsinstitutionellen Milieus zugunsten anderer, für diesen spezifischen Raum bedeutsameren Differenzierungen zurück (vgl. Riegel 2004; Dausien/Mecheril 2006: 169f.). Unter bestimmten Umständen können natio-ethno-kulturelle Mehrfachzugehörigkeiten auch bedeutsame biographische Ressourcen darstellen. Dies haben gerade neuere Forschungen zu transnationalen Biographien gezeigt. Subjektiv relevante lebensweltliche Verbindungen zu mehreren natio-ethno-kulturellen Kontexten ermöglichen flexible Bezugnahmen zwischen unterschiedlichen geographischen, kulturellen und sprachlichen Räumen und sind ein Potenzial für Beheimatungen in verschiedenen Räumen. Für die empirische Untersuchung von Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen ergibt sich daraus die Aufgabe, am konkreten Fall zu untersuchen, welche Normalitätsvorstellungen und Differenzsetzungen in welchen Zusammenhängen aktualisiert oder irrelevant gemacht werden und welche Konsequenzen und Erfahrungen sich damit jeweils für die Subjekte verbinden (vgl. ebd.: 173). Eine Voraussetzung dafür, das Potenzial von Mehrfachzugehörigkeiten nutzen zu können, liegt darin, dass Lebens- und Selbstentwürfe, die sich jenseits einwertiger nationaler, kultureller und sprachlicher Zugehörigkeiten bewegen, in den jeweils relevanten Kontexten als legitim angesehen und auch rechtlich und institutionell anerkannt werden. Da dies häufig nicht der Fall ist, beschreibt Paul Mecheril die Zugehörigkeitsverhältnisse junger Erwachsener in der Migrationsgesellschaft als potenziell prekär. Das Prekäre des Zugehörigkeitsverhältnisses kann sich auf der Ebene formaler Ausschlüsse herstellen – etwa durch die nur eingeschränkte Möglichkeit einer doppelten Staatsbürgerschaft. Aber auch wiederholte Fremdzuschreibungen, die auf das „kategorial Andere“ (Mecheril 2003: 308) Bezug nehmen und dieses binäre Referenzsystem zu einem Teil der Selbstbeschreibungen der Individuen werden lassen machen das Verhältnis prekär. Prekarität entsteht auch durch fehlende Wirksamkeitserfahrungen, die als Folge von Diskrepanzen zwischen den Dispositionen der Subjekte – beispielsweise mehrsprachigen Ausgangslagen – und institutionalisierten Normen – beispielsweise die im Bildungswesen praktizierte Monolingualität – gedeutet werden können (vgl. ebd.: 305ff). Die Bedeutung von natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnungen ist auch für die vorliegende Untersuchung von besonderer Bedeutung. Den Interviewten ist gemeinsam, dass sie sich innerhalb eines gesellschaftlichen Raums bewegen, der u.a. durch migrationsgesellschaftliche Differenzordnungen und Diskurse strukturiert ist, in denen sie potenziell als Migrationsandere positioniert werden. Für die vorliegende Untersuchung scheint es aus diesem Grund angemessen, besonders aufmerksam für natio-ethno-kulturelle Differenzierungspraktiken und die sozialen und kulturellen Macht- und Dominanzordnungen zu sein, in denen sich die Subjekte positionieren
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und artikulieren. Es gilt, zu untersuchen wie Subjekte, die formale Bildungserfolge erzielt haben, die innerhalb der migrationsgesellschaftlichen Differenzordnung jedoch als ‚Andere‘ konstruiert werden, ihre (Bildungs-)Biographie konstruieren, wie sie sich dabei auf Differenzordnungen beziehen und sich darin positionieren. Jedoch ist auch zu berücksichtigen, dass ‚Migrationsgesellschaft‘ nur eine Zugehörigkeitsordnung unter anderen darstellt, der die Verortung und Zugehörigkeitserfahrungen von Subjekten im sozialen Raum strukturiert (vgl. Riegel 2004). Im Anschluss an das Paradigma der Intersektionalität (vgl. stellv. Winker/Degele 2009; Lutz/Herrera Vivar/Supik (Hg.) 2010) ist davon auszugehen, dass Zugehörigkeitsverhältnisse und -verständnisse immer durch die Verknüpfung verschiedener Zugehörigkeits- und Differenzrelationen strukturiert sind. Subjekte sind immer auf mehreren Differenzachsen zugleich positioniert, die ihre ganz spezifische Stellung im sozialen Raum ausmachen. Diese ‚objektive‘ Positioniertheit im sozialen Raum hat Konsequenzen für die Art und Weise, welche Erfahrungen die Individuen machen können und wie sie sich selbst entwerfen können. Gerade aus einer biographietheoretischen Perspektive scheint es mir wichtig, den Blick nicht von vorneherein auf die Dimension natio-kultureller Zugehörigkeitsordnungen und alltagsrassistischer Diskurse zu beschränken. Differenzverhältnisse werden in Biographien nicht als eindimensional und als getrennte Kategorien wirksam, sondern entfalten in ihrem Zusammenspiel je spezifische (Macht-)Wirkungen,18 aber auch Möglichkeitsräume. Biographische Konstruktionen verweisen auf vielfältige Differenzverhältnisse, die in der jeweiligen Biographie kontextspezifisch miteinander verschränkt sind. Für die Interpretation von Biographiekonstruktionen im Hinblick auf Differenz- und Zugehörigkeitsverhältnisse und -erfahrungen macht dies ein Vorgehen erforderlich, das die primäre Relevanz der ‚Migrationsgeschichte‘ und natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten nicht voraussetzt, sondern offen für die Bedeutung verschiedener Differenzund Zugehörigkeitsrelationen im Einzelfall ist. 5.3.2 ‚Zugehörigkeit‘ als heuristisches Konzept für die empirische Analyse von Selbstverortungen in sozialen Kontexten Für die Analyse von Biographiekonstruktionen im migrationsgesellschaftlichen Kontext erscheinen zugehörigkeitstheoretische Konzepte besonders geeignet, weil sie die Kontextabhängigkeit individueller Selbst- und Weltverhältnisse ins Zentrum rücken. Eine einseitige Fokussierung auf innerpsychische Prozesse und die Vernachlässigung der gesellschaftlichen Kontexte von Bildungsprozessen (vgl. Kap. 5.2.2) werden dadurch vermieden. Dagegen werden die symbolischen Ordnungen und Prozesse beschreibbar, in denen soziale Ein- und Ausgrenzungen hergestellt werden, und die dazu führen, dass Individuen sich einem sozialen Kontext (nicht) als zugehörig betrachten können (vgl. Riegel/Geisen 2007: 10). Ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen stellt sich nun jedoch die Frage, wie sich diese differenz- und zugehörigkeitstheoretischen Überlegungen für die empirische Analyse individueller Bildungsbiographien anschlussfähig machen lassen. Paul Mecheril (2003) hat konzeptionelle Überlegungen zum Zugehörigkeitsbegriff vorgelegt, die als Heuristik hilfreich erscheinen und deshalb hier genauer vor18 Vgl. dazu z.B. das Konzept der Geschlechtsethnisierung bei Gutiérrez-Rodríguez (1999).
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stellt werden. Mecherils Konzept von Zugehörigkeit erscheint für das hier verfolgte Forschungsanliegen vor allem darum besonders geeignet, weil es – anders als stärker als makrosoziologisch orientierte Zugehörigkeitskonzepte (vgl. z.B. Yuval-Davis 2011) – an der „(Selbstverständnis-)Perspektive der Handlungssubjekte“ ansetzt (Mecheril 2003: 121). Mecheril geht davon aus, dass Zugehörigkeitsverhältnisse durch „überindividuelle Zugehörigkeitswirklichkeiten“ (ebd.: 127) mitbestimmt werden. Dabei spielen kollektive und individuelle, historisch spezifische, gesellschaftlich repräsentierte Vorstellungen über Zugehörigkeit eine zentrale Rolle, die Mecheril als Zugehörigkeitskonzepte beschreibt. Sie legen die Bedingungen fest, unter denen Subjekte in einem bestimmten Kontext und zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt als legitim zugehörig gelten können (vgl. ebd.). Diese Konzepte sind allerdings stets umstritten und unterliegen historischen Veränderungen. Soziale Räume können aufgrund der Präsenz von Zugehörigkeitskonzepten als Zugehörigkeitskontexte bezeichnet werden. Mecheril versteht sie als „Räume des Handelns und der Positionierung“ (ebd.: 128), in denen die Individuen Zugehörigkeitserfahrungen machen und spezifische Selbstverständnisse ausbilden. Zugehörigkeitserfahrungen sind folglich ein Ergebnis der Relationierungen der Individuen zu spezifischen sozialen und symbolischen Räumen. Sie ereignen sich in einem Kontinuum zwischen zwei Polen: Ein Individuum kann sich als einem Kontext zugehörig erfahren und sich mit ihm identifizieren, oder es kann Erfahrungen machen, die zu einer Distanzierung oder einem AbgestoßenWerden von dem sozialen Kontext führt. Welche Erfahrungen in einem Zugehörigkeitskontext jeweils möglich sind, ist dabei nicht allein von dem handelnden und erlebenden Individuum selbst und seinen Bemühungen abhängig, sich auf den Kontext einzulassen. Vielmehr trägt dazu auch durch das Handeln anderer bei, die Zugehörigkeitsansprüche der Einzelnen anerkennen, infrage stellen, oder zurückweisen. „Das Verhältnis, das ein Individuum zu einem Zugehörigkeitskontext einnimmt, ist von dem Verhältnis abhängig, das gewissermaßen der Zugehörigkeitskontext zum Individuum einnimmt“ (ebd.: 133). Dabei ist zu bedenken, dass Individuen sich in modernen Gesellschaften in der Regel in verschiedenen, für sie bedeutsamen Räumen aufhalten. Da sich soziale und symbolische Räume durch unterschiedliche Zugehörigkeitskonzepte auszeichnen, offerieren sie auch verschiedene Möglichkeiten, wie die Subjekte Zugehörigkeit verhandeln und sich positionieren können. Zugehörigkeit lässt sich nach Mecheril als ein Phänomen beschreiben, das sich durch verschiedene Aspekte konstituiert: a) symbolische Mitgliedschaft, b) habituelle Wirksamkeit und c) biographisierende Verbundenheit. Diese Aspekte sind nicht als Substanzen des Phänomens zu denken, sondern markieren vielmehr analytische Perspektiven, unter denen je verschiedene Dimensionen des Phänomens in den Vordergrund rücken (vgl. Mecheril 2003: 136f.). Sie sollen an dieser Stelle kurz skizziert werden. a) Die symbolische Mitgliedschaft einer Person in einem sozialen Kontext ist vielfach Voraussetzung dafür, dass bestimmte Handlungsmöglichkeiten den Individuen überhaupt zugänglich sind. Mitgliedschaft wird sowohl auf formaler als auch auf informeller Ebene geregelt (ebd.: 147ff.). In formalen Mitgliedschaftsregelungen werden die Kriterien der Unterscheidung von Mitgliedern und Nichtmitgliedern explizit gemacht, während informelle Regelungen sich an „Mitgliedschaftssignale[n]“ (ebd.: 154) orientieren und an „Traditionen der Differenz“ (ebd.: 146) anknüpfen, die
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den Akteur*innen meist selbst als quasi naturgegeben erscheinen. Mecheril begreift Mitgliedschaft als einen „Prozess sozialer Kategorisierung, ein Vorgang der Selbstoder Fremdzuordnung einer Person zu sozialen Kategorien“ (ebd.: 142). Mitgliedschaft wird in Prozessen des Identifiziert-Werdens und des Sich-Identifizierens hervorgebracht. Sie konstituiert sich über die Konstruktion einer Gemeinsamkeit oder Ähnlichkeit der Personen, die dem Kontext zugehörig sind und derer, die Ansprüche auf Zugehörigkeit erheben. Diese Gemeinsamkeit bezieht sich nicht auf die ganze Person, sondern auf ganz bestimmte „Merkmale der Gleichartigkeit“ (ebd.: 140). Welche Aspekte für das Erlangen eines legitimen Mitgliedschaftsstatus jeweils ausschlaggebend sind, regeln die in dem Zugehörigkeitskontext aktuell geltenden Mitgliedschaftskonzepte. Die Klassifizierungsprozesse, die Mitgliedschaft konstituieren, umfassen die Momente des „Erkennens“ und der „Verortung“ (ebd.). Das Erkennen bedeutet, dass ein Individuum aufgrund des Vorhandenseins oder Fehlens der in dem Kontext bedeutsamen Mitgliedschaftsmerkmale als (Nicht-)Mitglied qualifiziert wird und sich selbst als solches erkennt. Damit geht eine Verortung der Person bzw. ihre Positionierung zu dem Zugehörigkeitskontext einher. Das so beschriebene Erkennen lässt sich auch als ein Prozess der Typisierung beschreiben. Dass es sich bei der Klassifizierung von Individuen als (Nicht-)Mitglieder um komplexe Konstruktionsleistungen handelt, in denen die Person auf die jeweils relevanten Aspekte der Gleichartigkeit reduziert wird, entzieht sich dabei oftmals der Wahrnehmung der daran beteiligten Personen (vgl. ebd.: 141). Die Mitgliedschaftsansprüche der Individuen müssen nicht zwangsläufig mit dem zugewiesenen (Nicht-)Mitgliedschaftsstatus übereinstimmen. Allerdings geht Mecheril davon aus, dass die Identifikation durch das Gegenüber dem Selbst-Erkennen vorausgeht: „Intersubjektive Erkennung ist der Selbsterkennung vorgängig, allein, weil erstere die Kategorien – etwa Personengruppennamen – zur Verfügung stellt, in denen Selbsterkennungen und -beschreibungen überhaupt stattfinden können“ (ebd.: 144). Mitgliedschaft wird also durch interaktive Akte der Selbst- und Fremdtypisierung hergestellt, die soziale Positionierungen erzeugen. Im Gegensatz zu den anderen Dimensionen sozialer Zugehörigkeit ist Mitgliedschaft im Grundsatz ein dualistisches Konzept (vgl. ebd: 147) – es unterscheidet Mitglieder und Nichtmitglieder. Allerdings ergeben sich dadurch, dass sich der Mitgliedschaftsstatus durch Selbst- und Fremdpositionierungen konstituiert, gewisse Deutungsspielräume und Abstufungen. Mecheril (2003: 144) unterscheidet infolge dessen zwischen fragloser Mitgliedschaft, fragloser Nichtmitgliedschaft und Fällen prekärer Mitgliedschaft. Letztere können sich aus einseitigen Identifikationen ergeben – etwa einem „Mitgliedschaftsüberschuss“ (ebd.) als Folge permanenter Fremdzuschreibungen, oder der mangelnden Anerkennung eigener Zugehörigkeitsansprüche im jeweiligen Kontext (vgl. ebd.). b) Geht es unter der Perspektive symbolischer Mitgliedschaft um die (Analyse der) Prozesse des Erkennens und Verortens und den Zugang zum jeweiligen sozialen Kontext, so fokussiert die Perspektive habituelle Wirksamkeit eher das Verhältnis zwischen dem Kontext als Handlungsraum und dem Handlungsvermögen der Subjekte. Es geht um die Frage, inwiefern die einzelne Person sich mit ihrem Handlungsvermögen in den Handlungskontext einbringen kann, und inwiefern das eigene Handlungsvermögen dort anerkannt wird. Bei der theoretischen Entwicklung dieser Dimension orientiert sich Mecheril an Anthony Giddens‘ Theorie der Strukturierung
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sowie an Pierre Bourdieus Konzept der Korrespondenz zwischen Habitus und sozialem Feld. Wirksamkeit kann, so Mecheril, „allgemein als eine Art Handlungsfähigkeit verstanden werden, in deren Rahmen es Personen möglich ist und ermöglicht wird, hinsichtlich für sie selbst bedeutsamer Aspekte Stellungnahmen zu entwickeln und diese Stellungnahmen in signifikante interaktive Situationen wirkungsvoll einzubringen“ (ebd.: 169).
Das Verhältnis zwischen der „habituellen Disponiertheit“ (ebd.: 206) der bzw. des Einzelnen und dem jeweiligen Kontext beschreibt Mecheril im Anschluss an Bourdieu als ein wechselseitiges Resonanz- und Respondenzverhältnis. Fraglos wirksames Handeln in sozialen Räumen setzt voraus, dass die Akteur*innen über ein „implizite[s] Wissen“ (ebd.: 171) über die Regeln des Handelns in diesem spezifischen Kontext verfügen, und ihnen Ressourcen zur Verfügung stehen, die Zugang zu Macht ermöglichen. Zudem werden Wirksamkeitserfahrungen erst dann möglich, wenn sich die Individuen an der sozialen Praxis des jeweiligen Handlungsraums auch aktiv beteiligen (vgl. ebd.: 197). Die Frage, inwiefern die Einzelnen in der Lage sind, sich in einem sozialen Kontext einzubringen und als wirksam zu erfahren, berührt zudem die Frage nach dem Verhältnis zwischen dem individuellen „Wirksamkeitsvermögen“ (ebd: 197) und den kontextspezifischen Anerkennungsstrukturen. Wirksamkeit ist, so Mecheril, dann gegeben, wenn die Subjekte es vermögen, sich in ihrem Handeln auf die Anforderungen des Kontexts zu beziehen und ihr Handeln eine Resonanz erzeugt (vgl. ebd.: 216). Auf diese Weise entsteht ein „dialogisches Antworten“ (ebd.), das subjektive Wirksamkeitserfahrungen ermöglicht. Mit dem Begriff der habituellen Disponiertheit knüpft Mecheril an Bourdieu an, indem er davon ausgeht, dass habituelle Dispositionen in milieuspezifischen Sozialisations- und Lernprozessen erworben werden und in das präreflexive Wissen der Person eingehen, das ihr Wahrnehmen, Handeln und Urteilen strukturiert. Ähnlich wie Bourdieu versteht Mecheril den Habitus als ein Vermittlungsprinzip zwischen Handeln und Struktur, das sozial erzeugt ist und seinerseits soziale Praxis erzeugt, in denen soziale Strukturen reproduziert werden. Unter „habitueller Disponiertheit“ wird dabei das Ensemble von Dispositionen und habitualisierten Gewohnheiten verstanden, das mehr ist als die Summe seiner Teile (vgl. ebd.: 206). Während Bourdieus Perspektive jedoch auf der Analyse kollektiver Habitusformationen ausgerichtet ist, und er den individuellen Habitus lediglich als eine Variante des Klassenhabitus konzipiert, fokussiert Mecheril den individuellen Habitus. Das Verhältnis zum Gruppenhabitus wird dabei als eine „Familienähnlichkeit“ (ebd.: 211) beschrieben, die auf die Herausbildung der habituellen Dispositionen in ähnlichen Lebensbedingungen verweist. Dabei lassen sich die sozialräumlichen Erzeugungsbedingungen des Habitus nicht allein durch die Klassenverhältnisse charakterisieren, in die die Einzelnen eingebunden sind, sondern durch die simultane Positionierung des bzw. der Einzelnen in verschiedenen Verhältnissen von Differenz (vgl. ebd.: 209). Ausgehend von der Kritik am Determinismus des Bourdieuschen Habituskonzepts betont Mecheril die Möglichkeit des bzw. der Einzelnen, sich zu sich selbst zu verhalten und zu den Gegenständen des Handlungsraums Stellung zu nehmen. Diese Stellungnahme versteht er nicht als notwendigerweise bewussten Akt, und das „Vermögen zur Stellungnahme“ (ebd.: 213) ist durch das Ensemble habitueller Dis-
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positionen bereits präfiguriert. Allerdings ergeben sich Möglichkeiten der Distanzierung dadurch, dass sich der individuelle Habitus nicht im Verhältnis zu einer einzigen sozialen Gruppe oder einem Milieu formt, sondern die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen sozialen Kontexten Möglichkeiten der Befremdung und (reflexiven) Distanznahme zu einzelnen Dispositionen eröffnet (vgl. ebd.: 213f.). In Abgrenzung zur starken Betonung der Primärsozialisation für die Habitusformation konzipiert Mecheril die Habitusentwicklung – im Anschluss an biographietheoretische Auffassungen – als stetigen Prozess der Aufschichtung von Erfahrungen, der zu einer fortlaufenden Entwicklung und Umstrukturierung des individuellen Dispositionssystems führt (vgl. ebd.: 209). c) Das Konzept biographisierender Verbundenheit markiert schließlich eine dritte Dimension von Subjekt-Kontext-Relationierungen, bei der es sich um eine explizit zeitlich verfasste Form der Verhältnissetzung handelt (vgl. ebd.: 220). Mecheril zufolge können sich Subjekte einen Kontext dann zugehörig fühlen, wenn sie in einer für sie selbst bedeutsamen Form, die zugleich auch sozial anerkannt ist, langfristig mit diesem Kontext verbunden sind. Verbundenheit bezieht sich auf konkrete Personen, Orte oder Gegenstände und umfasst sowohl emotionale Bindungen, als auch „Aspekte moralischer Verpflichtung, kognitiv-praktischer Vertrautheit und materieller Gebundenheit“ (ebd.). Verbundenheit kann dabei sowohl als Voraussetzung als auch als Folge von Wirksamkeitserfahrungen verstanden werden, insofern Verbundenheit voraussetzt, sich als wirksam erfahren zu können (vgl. ebd.). Verbundenheit wird unter anderem durch Biographisierungsleistungen der Individuen möglich, die ihre eigene Geschichte mit dem Zugehörigkeitskontext verweben. Dies geschieht etwa durch die Konstruktion einer gemeinsamen Vergangenheit sowie eine antizipierte zukünftige Bindung an den Kontext. Allerdings setzt Verbundenheit auch voraus, dass diese biographischen Konstruktionen sozial anerkannt werden, d.h. als plausibel und legitim gelten (vgl. ebd.: 251). Mit der analytischen Unterscheidung dieser drei Ebenen bzw. Perspektiven geraten die Komplexität und Vielschichtigkeit von Zugehörigkeitsverhältnissen ebenso in den Blick wie Mikroprozesse, in denen Zugehörigkeiten etabliert und aufrecht erhalten werden. Zugehörigkeit kann sich auf verschiedenen Ebenen simultan herstellen, kann aber auch ungleichzeitig und partiell sein. Dadurch sind auch mehrwertige, unabgeschlossene und in sich widersprüchliche Formen von Selbstverortungen denkbar. So ist etwa symbolische Mitgliedschaft noch keine hinreichende Bedingung für habituelle Wirksamkeitserfahrungen, Wirksamkeit ist zwar eine Voraussetzung, aber keine Garantie für Verbundenheit, jedoch kann Verbundenheit hergestellt werden, ohne Mitglied zu sein. Auf diese Weise wird auch deutlich, wie voraussetzungsvoll die Herstellung von sozialer Zugehörigkeit ist. 5.3.3 Zugehörigkeiten und (Selbst-)Positionierungen in lebensgeschichtlichen Erzählungen Das skizzierte Konzept von Zugehörigkeit erscheint für die eigene Untersuchung als Heuristik insofern geeignet, als es ermöglicht, den biographietheoretischen Rahmen in einer für das Anliegen der Studie bedeutsamen Hinsicht zu akzentuieren: ‚Zugehörigkeit‘ schärft den Blick für die Analyse von Machtverhältnissen in konkreten sozialen Räumen und für ihre Bedeutung hinsichtlich der Positionierungen und Selbstver-
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ständnisse der Subjekte. Die Relationierungen zwischen den Subjekten und den sozialen und symbolischen Räumen, durch die sie sich im Verlauf ihrer Lebensgeschichte bewegen, lassen sich mithilfe dieser Heuristik gewissermaßen ‚unter dem Vergrößerungsglas‘ betrachten. Die Aufmerksamkeit für die sozialen und diskursiven Ordnungen und Praktiken der Unterscheidung erscheint für die Analyse von Zugehörigkeit(en) im Kontext migrationsgesellschaftlicher Bedingungen besonders bedeutsam. Die skizzierte zugehörigkeitstheoretische Perspektive schließt in vielen Aspekten an das hier zugrunde gelegte biographietheoretische Rahmenkonzept an (vgl. Kap. 5.1). So werden Biographien als Konstruktionen von sozialräumlich positionierten Subjekten verstanden, deren Lebensverläufe und Lebensgeschichten „auch in Machtund Differenzverhältnisse eingebunden [sind], die in dem jeweils untersuchten gesellschaftlichen Raum gelten“ (Dausien 2006: 188). Auch die dem Zugehörigkeitskonzept zugrundeliegende Konzeption zum dialektischen Verhältnis von Handeln und Struktur lassen sich mit der biographietheoretischen Perspektive gut verknüpfen. Knapp zusammengefasst wird davon ausgegangen, dass der soziale Raum durch Macht-, Differenz- und Zugehörigkeitsverhältnisse strukturiert ist, die konstitutiv für die Erfahrungs- und Handlungsspielräume der Subjekte sind. Sie sind den Subjekten einerseits vorausgesetzt, und sie nehmen in ihrem Handeln und ihren Selbstverständnissen auf diese Differenzverhältnisse und -ordnungen Bezug. Diese bilden in dieser Hinsicht eine „strukturelle Begrenzung für individuelle biographische Konstruktionen“ (Dausien 2009: 172). Andererseits werden sie aber auch verhandelt und verflüssigt. Die Aufgabe für empirische Rekonstruktionen von Zugehörigkeitsverhältnissen besteht somit darin, sowohl Spuren der Differenzordnungen in den Biographien zu rekonstruieren als auch die aktiven Konstruktionsleistungen und Aneignungsweisen der Subjekte im Umgang mit diesen Strukturen und Diskursen, die auch widerständige Momente enthalten können. Während sich die zugehörigkeitstheoretische Perspektive somit als durchaus anschlussfähig an den hier gewählten biographietheoretischen Rahmen erweist, wird das in biographischen Ansätzen zentrale Prinzip der Zeitlichkeit im Zugehörigkeitskonzept nur sehr bedingt reflektiert. Mecheril entwickelt sein theoretisches Verständnis von Zugehörigkeit zwar auf Basis der Analyse von biographischen Selbstaussagen, die in Interviews erhoben wurden. Sein Ziel besteht jedoch nicht in der Rekonstruktion der Zugehörigkeitserfahrungen und -verständnisse der Interviewten im Kontext ihrer Biographie, sondern es geht ihm um die Explikation „grundlegende[r] Semantiken von Zugehörigkeits-Selbstbeschreibungen“ (2003: 123). Die Äußerungen der Interviewten werden daher aus dem Kontext der Lebensgeschichte herausgelöst und stattdessen als Material genutzt, um daran theoretische „Modellierungen“ (ebd.: 40) vorzunehmen. Mit dieser Zugangsweise geht der explizite Verzicht auf eine zeitliche bzw. „genetische Perspektive“ in der Analyse einher (2003: 124). Mecherils Rekonstruktionen setzen an „Momentaufnahme[n]“ (ebd.) von Zugehörigkeitsaussagen an und blenden ihre biographische Einbettung bewusst aus. Zugehörigkeit erscheint dadurch als situatives Phänomen, das sich in einzelnen Handlungssituationen herstellt. Der Autor selbst markiert, dass es sich dabei um eine vereinfachende Perspektive handelt, in der „das ‚fertige‘ Subjekt […] Zugehörigkeitskontexten gegenüber tritt“ (Mecheril 2003: 124). Demgegenüber ist mit dem hier verfolgten Interesse an biographischen Erzählungen eine explizit zeitliche Betrachtungsweise von Erfahrungs- und Konstruktions-
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prozessen im lebensgeschichtlichen Horizont verbunden. Fokussiert werden nicht in erster Linie situative Zugehörigkeitsaussagen, sondern diese werden im lebensgeschichtlichen Zusammenhang betrachtet. Allerdings bietet die theoretische Konzeption Mecherils durchaus auch Anschlussmöglichkeiten an eine biographietheoretische Perspektive. So geht er davon aus, dass die Zugehörigkeitserfahrungen, die Individuen machen, nicht voneinander isoliert bleiben, sondern zueinander in Beziehung gesetzt und integriert werden. Es „bilden sich übergeordnete Strukturen der Kenntnis, des Handelns und Befindens aus“ (ebd.: 132), die er als „Zugehörigkeitsverständnisse“ bezeichnet. Zugehörigkeitsverständnisse werden als ein Element von Selbstverständnissen betrachtet (vgl. ebd.). In Anschluss an die Terminologie Jean Piagets versteht Mecheril sie als „Assimilations- und Akkomodationsschemata der Repräsentation“, die Zugehörigkeitserfahrungen mit Bedeutung versehen und ihnen einen Ort im „Gesamtzusammenhang der individuellen Zugehörigkeit“ zuweisen (ebd.). Aus biographietheoretischer Perspektive könnte man dies auch so formulieren, dass Erfahrungen, die die Einzelnen in sozialen Zugehörigkeitskontexten machen, im Verlauf des Lebens in die biographische Erfahrungs- und Wissensstruktur eingehen. Ähnlich wie dies im Konzept des biographischen Wissens aus biographietheoretischer Sicht bereits allgemein erläutert wurde (vgl. Kap. 5.2.1), geht Mecheril davon aus, dass Zugehörigkeitsverständnisse nicht nur als Ordnungsstrukturen für bereits vorhandene Zugehörigkeitserfahrungen zu verstehen sind, sondern sie auch künftige Zugehörigkeitserfahrungen prädisponieren, ebenso wie die Art und Weise, wie sich Subjekte zu Zugehörigkeitskontexten handelnd ins Verhältnis setzen (vgl. ebd.). Dabei sind Zugehörigkeitsverständnisse nicht als statisch zu verstehen; sie sind nicht im (leiblichen) „Besitz“ (ebd.: 133) des Individuums, sondern können und müssen vielmehr immer wieder neu ‚enaktiert‘ werden. Im Zusammenhang der eigenen Forschung werden Zugehörigkeitskonstruktionen nicht nur als situative Konstruktionsakte verstanden, sondern auch als Phänomene mit einer individuellen und kollektiven ‚Geschichte‘ und einem Horizont. In der Analyse geht es um die Rekonstruktion von Dynamiken und Prozessen der Formation und Transformation von Zugehörigkeit(en) und Selbstverortungen in Relation zu den verschiedenen Räumen, die die Subjekte durchqueren sowie der (interaktiven, institutionellen und diskursiven) Bedingungen, die Zugehörigkeit in diesen Räumen ermöglichen oder erschweren. In biographischen Erzählungen werden Zugehörigkeitsverhältnisse dabei nicht ‚abgebildet‘, sondern zugleich immer auch retrospektiv bearbeitet und umgeformt. Wir haben es also mit biographischen Konstruktionen von Zugehörigkeit zu tun. Die Erzähler*innen beziehen sich im Interview aus der Gegenwartsperspektive auf den jeweiligen Zugehörigkeitskontext, nehmen Re-Interpretationen ihres Handelns und Erlebens vor und stellen vor dem Hintergrund ihres inzwischen verfügbaren Wissens über den weiteren Verlauf der Geschehnisse Sinnzusammenhänge und Deutungen her, die ihnen zum Zeitpunkt des Erlebens noch nicht notwendig verfügbar waren. Es findet auf diese Weise im Interview eine reflexive Bezugnahme auf das Zugehörigkeitsverhältnis aus der Gegenwartsperspektive statt. Die Gegenwartsperspektive bietet dabei ein Potenzial für biographische Re-Interpretationen, nachträgliche Vereindeutigungen und Zuspitzungen, die wiederum zu einer veränderten Ausgangslage für die künftige Positionierung der Subjekte beitragen können.
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5.4 K ONKRETISIERUNG
DER A UFMERKSAMKEITS RICHTUNGEN DER EMPIRISCHEN U NTERSUCHUNG
Vor dem Hintergrund der Ausführungen zum Stand der Forschung und den Forschungslücken und mit Bezug auf die theoretischen Perspektiven dieser Studie lassen sich Gegenstand und Erkenntnisinteresse der eigenen Forschung nun noch einmal differenzierter formulieren. Das Erkenntnisinteresse dieser Arbeit richtet sich auf die Bildungsgeschichten und Zugehörigkeitskonstruktionen von Studierenden ‚mit Migrationsgeschichte‘, die ein universitäres Studium mit pädagogischer Ausrichtung absolvieren. Mit dem biographietheoretischen Zugang wird ein Forschungszugang gewählt, der die Erfahrungen und Deutungen der Subjekte ins Zentrum stellt: Untersucht wird, wie die Studierenden ihre Biographien und Bildungswege konstruieren, welche Zugehörigkeitserfahrungen sie im Bildungssystem machen und wie sich Zugehörigkeitsverständnisse im lebensgeschichtlichen Verlauf (trans-)formieren. Der biographieanalytische Ansatz ermöglicht es, eine prozessuale Perspektive auf Bildungsverläufe und -erfahrungen einzunehmen. Diese werden in ihrer jeweiligen „Prozessstruktur“ (vgl. Schütze 1983b) in den Blick genommen. Sie werden sowohl hinsichtlich der Prozesse der biographischen Erfahrungsaufschichtung und Wissensbildung als auch im Hinblick auf formale Bildungsverläufe und -prozesse und die (Zugehörigkeits-)Erfahrungen der Subjekte im Bildungssystem analysiert. Im allgemeinen Sinne werden die Lebensgeschichten der Interviewten insofern als Bildungsgeschichten verstanden und interpretiert, als in ihnen Prozesse der Formation und Transformation von Selbst- und Weltverhältnissen artikuliert und konstruiert werden. In der Erzählung referieren die Subjekte auf Erfahrungen, die sie im Verlauf ihres Lebens in unterschiedlichen sozialen Kontexten und Beziehungen gemacht haben und denen sie Bedeutung für ihr biographisches Gewordensein zuschreiben. Diese Erfahrungen werden in den Erzählungen nicht abgebildet, sondern sind durch die Gegenwartsperspektive ‚gebrochen‘.19 Sie werden in der lebensgeschichtlichen Erzählung reflexiv zueinander in Beziehung gesetzt, miteinander verknüpft und in ein sinnhaftes Verhältnis zueinander gesetzt (oder auch nicht). Die „biographische Arbeit“ (Kraul/Marotzki 2002) der Individuen im lebensgeschichtlichen Erzählen lässt sich als ein kreativer Prozess der Organisation und Reorganisation von Erfahrungen und der Konstruktion von Bedeutungen und biographischem Sinn verstehen. Ein Erkenntnisinteresse richtet sich deshalb auf diese Prozesse der Erfahrungsaufschichtung, -rekapitulation und -transformation, die in Lebensgeschichten zum Ausdruck kommen. Vor dem Hintergrund des Interesses an Teilhabe und Ausgrenzung im Bildungssystem richtet sich eine besondere Aufmerksamkeit der nachfolgenden Untersuchung auf die Analyse institutionell gerahmter – schulischer und insbesondere universitärer – Bildungsprozesse und ihrer Bedeutung für die Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse der Subjekte. Die Bildungsgeschichten werden dabei als Erzählungen über
19 Das gilt selbstverständlich auch für die nachfolgend genannte Ebene, jedoch gibt es hier eine engere Verknüpfung zu den ‚objektiven‘ Bildungsverläufen, die nachträglich kaum zu revidieren sind.
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Qualifikationswege und Erfahrungen von Zugehörigkeit und Ausgrenzung im Bildungssystem in den Blick genommen.20 Durch die Analyse der Erzählungen der Interviewten werden zum einen Rahmenbedingungen und Verläufe von Bildungswegen unter den gesellschaftlichen Bedingungen von Migration und anderen Differenzverhältnissen rekonstruierbar. Die Erzählungen verweisen auf Voraussetzungen und Konstellationen, die die Teilhabe an höherer Bildung ermöglichen und auf Erschwernisse und Hindernisse in der Bildungslaufbahn. Zum anderen lassen sich die Erfahrungen und Verarbeitungsweisen der Subjekte, die mit dem Weg ins Studium und dem Studium selbst verbunden sind, rekonstruieren. Beide Aspekte sind in ungleichheits- und gerechtigkeitstheoretischer Hinsicht von zentraler Bedeutung. In der Analyse werden biographie- und zugehörigkeitstheoretische Perspektiven miteinander verknüpft: Die Lebensgeschichten werden als biographische Konstruktionen interpretiert, in denen (veränderliche) Verhältnissetzungen zwischen den biographischen Subjekten und den für sie bildungsrelevanten sozialen Kontexten zum Ausdruck kommen. Bildungsgeschichten repräsentieren somit eine Abfolge von Relationierungen (vgl. Dausien 2009; 2011b), in denen sich die Subjekte zu für sie bedeutsamen sozialen Räumen ins Verhältnis setzen und ins Verhältnis gesetzt werden. Dabei gilt es aus zugehörigkeitstheoretischer Sicht, diese Relationierungen daraufhin zu untersuchen, welche Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen darin möglich werden. Ein besonderer Fokus der Analyse der Bildungsgeschichten liegt – nicht zuletzt aufgrund der bereits markierten Forschungslücken – auf universitärer Bildung und der Verknüpfung des (pädagogischen) Studiums mit der Lebensgeschichte. Das Studium wird dabei einerseits als eine Lebensphase in der Biographie betrachtet, in der sich die Subjekte – in möglicherweise veränderter Art und Weise – zu sich selbst und anderen ins Verhältnis setzen. Damit verbinden sich Fragen danach, wie die Subjekte ihren Weg ins (pädagogische) Studium konstruieren und wie sie das Studium sinnhaft in die Lebensgeschichte integrieren. Andererseits wird das Studium im Anschluss an ungleichheitstheoretische Überlegungen als eine Etappe in der Bildungslaufbahn betrachtet, in der es um die Beteiligung der Individuen an höherer Formalbildung geht, womit Chancen auf berufliche und soziale Teilhabe verknüpft sind. In der (gelingenden oder scheiternden) Partizipation an universitärer Bildung reproduzieren sich Bildungsungleichheiten – freilich auf hohem Niveau. Die Erzählungen werden deshalb unter der Perspektive von Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen der Subjekte im Raum universitärer Bildung analysiert. Bei der Untersuchung dieser Zugehörigkeitsverhältnisse wird eine 20 Zu berücksichtigen ist dabei, dass die hier befragten Individuen das Schulsystem formal betrachtet erfolgreich durchlaufen haben. Dies bedeutet, dass bestimmte Formen von Ausschlüssen hier nicht in den Blick geraten (können). Beleuchtet werden können hingegen die Prozesse, in denen die Individuen den Weg ins Studium realisiert haben, die Bedingungen, die dies ermöglicht haben sowie die Erfahrungen, die damit verbunden sind. Dies ist insbesondere interessant, da die Interviewten über sehr unterschiedliche sozio-kulturelle Voraussetzungen und familiale Ressourcen verfügen, mit denen sie ihren Bildungsweg beschreiten. Aus rassismuskritischer Perspektive (vgl. Rommelspacher 2011; Melter/Mecheril (Hg.) 2011) geraten zudem weitere Formen von Ein- und Ausschluss, Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit in den Blick.
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offene Forschungshaltung eingenommen, die es ermöglicht, die Erfahrungen und Positionierungen der Subjekte in ihrer Vielfalt und Variationsbreite in den Blick zu nehmen. Marginalisierungsprozesse und Differenzerfahrungen im Studium sollen somit ebenso Beachtung finden wie Teilhabe- und Zugehörigkeitserfahrungen. Dabei gilt es in beiden Hinsichten, die jeweiligen Voraussetzungen und Bedingungen für diese Erfahrungen am Einzelfall zu rekonstruieren und theoretisch zu reflektieren. Eine weitere, quer dazu liegende Aufmerksamkeitsrichtung der Analyse liegt auf der (Trans-)Formation von Selbst- und Zugehörigkeitsverständnissen der Subjekte im Verlauf der Lebensgeschichte. Untersucht wird, welche Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse sich in den Erzählungen rekonstruieren lassen, welche Bedeutung migrationsgesellschaftliche und andere soziale Differenzverhältnisse im Kontext der Bildungsgeschichte haben, in welchen sozialen und diskursiven Kontexte sie relevant werden und wie sich die Subjekte reflexiv darauf beziehen. Dabei wird die Relevanz der Kategorie ‚Migration‘ in der Bildungsgeschichte nicht vorausgesetzt, sondern es gilt empirisch zu klären, inwiefern und in welcher Weise ‚Migration‘ und andere soziale Differenzlinien biographisch bedeutsam werden. Ziel ist es, die Dynamiken und Prozesse der Formation und Transformation von Zugehörigkeit(en) und Selbstverortungen in Relation zu den verschiedenen sozialen Räume zu rekonstruieren, die die Subjekte im lebensgeschichtlichen Verlauf durchqueren. Ein besonderes Interesse gilt dabei der Frage, welche Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse mit der Teilhabe an universitärer Bildung und der sozialen Position als künftige ‚Pädagogin mit Migrationsgeschichte‘ verbunden sind. Für den Blick aufs Material lassen sich damit drei theoretische Aufmerksamkeitsrichtungen markieren, die in der konkreten Analysearbeit allerdings eng miteinander verknüpft sind: 1) Bildungsbiographische Verläufe und Prozesse: -
Welche bildungsrelevanten Erfahrungen werden in der Erzählung thematisiert und wie werden sie miteinander verknüpft? Welche biographischen Handlungsstrategien und Erfahrungsmuster lassen sich rekonstruieren? Wie wird das (pädagogische) Studium in die Lebensgeschichte integriert?
2) Erfahrungen im Bildungssystem, Relationierungen der Subjekte zu und Positionierungen in bildungsinstitutionellen Kontexten: -
Wie werden Erfahrungen von Teilhabe und Ausgrenzung in der Bildungsgeschichte thematisiert und bearbeitet? Welche Zugehörigkeitserfahrungen machen die Subjekte in bildungsinstitutionellen Kontexten, insbesondere der Universität? Wie setzen sie sich zu diesen Räumen ins Verhältnis? Wie positionieren sie sich und wie werden sie positioniert? Welche Bedingungen tragen dazu bei, dass die Subjekte sich in institutionellen Bildungsräumen, insbesondere der Universität, (nicht) als zugehörig erfahren können?
5. T HEORETISCHE V ORVERSTÄNDNISSE
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A UFMERKSAMKEITSRICHTUNGEN
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3) Biographische Selbstverortungen und Zugehörigkeitskonstruktionen: -
Wie formieren und wandeln sich Zugehörigkeitsverständnisse im lebensgeschichtlichen Verlauf? Welche Möglichkeiten der Selbstverortung eröffnen die Teilhabe an universitärer Bildung und die Position der/des zukünftigen pädagogischen Professionellen ‚mit Migrationsgeschichte‘?
6. Konzeption und Dokumentation des Forschungsprozesses
Bislang wurden die theoretischen Aufmerksamkeitsrichtungen entwickelt, die für die empirische Untersuchung leitend waren. Dabei standen die theoretischen Implikationen einer biographie- und zugehörigkeitstheoretischen Perspektive im Zentrum. Nachfolgend werden die methodologischen Voraussetzungen und methodischen Konsequenzen dieser Perspektivierung erläutert. Zunächst werden die grundlegenden Prämissen interpretativer Sozialforschung skizziert, die der vorliegenden Studie zugrunde liegen (Kap. 6.1). Anschließend gehe ich auf die Erhebungsmethode des narrativen Interviews sowie einige methodologische Fragen ein, die sich im Zusammenhang eines biographieanalytischen Vorgehens stellen, und expliziere meine diesbezüglichen Vorverständnisse und Analyseperspektiven (Kap. 6.2). Schließlich stelle ich den konkreten Ablauf des Forschungsprozesses und mein eigenes methodisches Vorgehen beim Samplingprozess, bei der Interviewdurchführung und bei der Auswertung des Materials dar (Kap. 6.3).
6.1 I NTERPRETATIVE S OZIALFORSCHUNG ALS METHODOLOGISCHER R AHMEN Wie in den vorangegangenen Ausführungen bereits angeklungen ist, folgt die vorliegende Untersuchung einer interpretativen bzw. rekonstruktiven Methodologie. Die historischen Wurzeln der interpretativen Sozialforschung liegen in der Verstehenden Soziologie sowie in der empirischen Forschungstradition der Chicago School of Sociology und dem Symbolischen Interaktionismus (vgl. Rosenthal 2014: 27). In den 1970er Jahren gewannen interpretative Forschungsansätze im deutschsprachigen Raum an Bedeutung und wurden insbesondere im Umfeld der Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen methodologisch weiterentwickelt (vgl. ebd.: 26). Das Interpretative Paradigma (vgl. Wilson 1973) beinhaltet die Grundannahme, dass soziale Wirklichkeit im Handeln der gesellschaftlichen Akteur*innen fortwährend hervorgebracht und modifiziert wird. Diese am symbolischen Interaktionismus orientierte Grundannahme steht Ansätzen entgegen, die menschliches Handeln als Ausdruck der Orientierung an gesellschaftlich geteilten, normativen Rollenerwartungen interpretieren, wie sie insbesondere der Strukturfunktionalismus repräsentiert.
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Der Theorie des symbolischen Interaktionismus zufolge handeln die Menschen dagegen auf der Grundlage der Bedeutungen, die die Dinge für sie haben. Diese Bedeutung ist nicht von vorne herein vorgegeben, sondern wird in sozialen Interaktionen beständig erzeugt, genutzt und verändert: „Der symbolische Interaktionismus beruht letztlich auf drei einfachen Prämissen: Die erste Prämisse besagt, daß Menschen ‚Dingen‘ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ‚Dingen‘ wird hier alles gefaßt, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag […]. Die zweite Prämisse besagt, daß die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, daß diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozeß, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeändert werden“ (Blumer 2004: 322, Erstveröff. 1969).
Diese Prämissen haben grundlegende methodologische Konsequenzen für die Anlage und Gestaltung von Forschungsprozessen. So sind die Sozialwissenschaftler*innen gefordert, sich der sozialen Wirklichkeit nicht aus der Perspektive außenstehender Beobachter*innen, sondern aus der Perspektive der handelnden und deutenden Subjekte anzunähern und „herauszufinden, wie die Menschen die Dinge sehen, auf die hin sie handeln“ (ebd.: 375). Dies bedeutet, dass Forschungszugänge so gestaltet sein müssen, dass es möglich wird, genau dies zu erfassen. Erhebungsmethoden sollten folglich so gewählt werden, dass sie einer „Orientierung am Relevanzsystem der Alltagshandelnden“ (Rosenthal 2014: 54) entsprechen. Die These der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit (vgl. Berger/Luckmann 2009, Erstveröff. 1969), die mit dem Interpretativen Paradigma einhergeht, hat auch Konsequenzen für das Selbstverständnis der Forschenden: So kann die Aufgabe der Forschung nicht darin gesehen werden, einer objektiven sozialen Wirklichkeit jenseits der Bedeutungszuschreibungen der sozialen Akteur*innen auf die Spur zu kommen, sondern sie besteht darin, die alltagsweltlichen Interpretationen der Gegenstände, die diese in ihrem Handeln beständig vornehmen, zum Gegenstand der Analyse zu machen. Den Ausführungen von Alfred Schütz (1971: 7) folgend, lassen sich in diesem Zusammenhang Konstruktionen ersten und zweiten Grades voneinander unterscheiden. Demnach machen Sozialwissenschaftler*innen die alltagsweltlichen Interpretationen der Forschungssubjekte (Konstruktionen ersten Grades) zum Gegenstand ihrer (methodisch kontrollierten) Analyse und erzeugen dadurch Konstruktionen zweiten Grades. Die interpretative Tätigkeit der Sozialforscher*innen unterliegt damit zunächst keiner prinzipiell anderen Logik als das interpretative Tun in der Alltagswelt, sondern knüpft vielmehr daran an. Die wissenschaftliche Deutungsarbeit besteht nun aber nicht darin, die Konstruktionen der Alltagsakteur*innen lediglich zu wiederholen, sondern macht es erforderlich, sich dazu in ein analytisches Verhältnis zu setzen (vgl. Dausien 2006). „Biographieforschung schließt also nicht naiv an jenes alltagsweltlich wirksame biographische Format an, sondern rekonstruiert dessen diskursiven Charakter, seine Strukturen, Funktionsweisen und Variationen in gesellschaftlichen Kontexten und in dem je konkret untersuchten Einzelfall unter einer analytisch-theoretischen Perspektive“ (ebd.: 198).
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Zudem unterliegen wissenschaftliche Konstruktionen im Unterschied zu alltagsweltlichen Sinnkonstruktionen dem Anspruch einer Reflexion ihrer jeweiligen Perspektive (vgl. ebd.). Der Umstand, dass alltagsweltliche und wissenschaftliche Interpretationen und Gegenstandsverständnisse nicht ineinander aufgehen, lässt es als angemessen erscheinen, statt von Rekonstruktionen eher von Ko-Konstruktionen zu sprechen, die Wissenschaftler*innen in Bezug auf die biographischen Konstruktionen der Akteur*innen vornehmen (vgl. ebd.; s.a. Mecheril 2003). Mit dem Begriff der KoKonstruktion wird der konstruktive Charakter wissenschaftlicher Deutungen betont und der Anspruch an einen höheren Geltungsanspruch wissenschaftlicher Deutungen relativiert. Er impliziert zudem, dass zwischen alltagsweltlichen und wissenschaftlichen Konstruktionen kein Abbildverhältnis besteht, sondern beide in gewissem Maße unabhängig voneinander sind. Wissenschaftliche Konstruktionen folgen ihren eigenen Aufmerksamkeitsrichtungen und unterliegen eigenen Grenzen: Die Forscherin bringt ihre jeweilige Perspektive in den Interpretationsprozess ein, die eine Bedeutung dafür hat, was in den Konstruktionen der alltagsweltlichen und biographischen Akteur*innen gesehen und unweigerlich auch dafür, was übersehen wird. Dies gilt auch für die vorliegende Forschung. Die interpretative Forschungslogik zielt nicht darauf ab, existierende Theorien am empirischen Material zu überprüfen und zu verifizieren oder falsifizieren. Ziel ist vielmehr die Generierung neuer Erkenntnisse und die ‚Entdeckung‘ bislang unbekannter Zusammenhänge im Hinblick auf das untersuchte Phänomen. Ein Grundprinzip interpretativer Forschung ist deshalb das Prinzip der Offenheit (HoffmannRiem 1980). Dieses bezieht sich auf alle Phasen des Forschungsprozesses, beginnend mit der Entwicklung der Fragestellung, die so formuliert sein sollte, dass sie den Blick der Forscherin auf das zu untersuchende Phänomen nicht von vorne herein begrenzt, bis hin zum Vorgehen bei der Interpretation der Ergebnisse. Im Unterschied zu Forschungszugängen, die der Logik der Deduktion folgen, wird in interpretativen Verfahren auf die Bildung von Vorab-Hypothesen verzichtet. Im Prozess der Auswertung der Daten gilt es, das Material nicht bestehenden theoretischen Modellen unterzuordnen. Hypothesen werden erst in der Auseinandersetzung mit dem empirischen Material gebildet und im weiteren Verlauf der Forschung in einem fortwährenden Dialog mit den empirischen Daten differenziert. Ziel eines solchen Vorgehens ist es, die Möglichkeit für die ‚Entdeckung‘ neuer Phänomene und Zusammenhänge zu schaffen (vgl. Rosenthal 2014: 18ff.). Oft wird im Zusammenhang interpretativen Vorgehensweisen bei der Datenanalyse auf das von Charles S. Peirce zurückgehende Prinzip der Abduktion verwiesen. Dieses steht für eine Form der innovativen Erkenntnisgewinnung, die sich von deduktiven Vorgehensweisen ebenso unterscheidet wie von induktiven Herangehensweisen (vgl. Reicherts 2000: 276). Während bei der Deduktion vorgefundene Phänomene mit bestehenden Theorien erklärt werden, geht es in induktiven Verfahren darum, Hypothesen aus dem Material heraus zu entwickeln, von denen auf eine allgemeine Regel geschlossen wird. Die abduktive Forschungslogik zielt zwar ebenfalls auf die Entwicklung von Hypothesen ab. Sie zeichnet sich aber besonders dadurch aus, dass sie von der Forscherin eine Bereitschaft erfordert, sich von den Daten überraschen zu lassen, „alte Überzeugungen aufzugeben und neue zu suchen“ (ebd.: 284).
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Dies bedeutet auch, skeptisch gegenüber scheinbar nahe liegenden Hypothesen zu bleiben, die sich aufgrund des eigenen Vorwissens ergeben. „Die Abduktion ist der Vorgang, in dem eine erklärende Hypothese gebildet wird. Es ist das einzig logische Verfahren, das irgendeine neue Idee einführt, denn die Induktion bestimmt einzig und allein einen Wert, und die Deduktion entwickelt nur die notwendigen Konsequenzen einer reinen Hypothese. Die Deduktion beweist, daß etwas der Fall sein muss; die Induktion zeigt, daß etwas tatsächlich wirksam ist; die Abduktion vermutet bloß, daß etwas der Fall sein mag“ (Peirce 2004: 207, Hervh. i. Orig., Erstveröff. 1903).
Eine Konkretisierung der Anforderungen der skizzierten methodologischen Prämissen für die Organisation und Gestaltung von Forschungsprozessen, bietet die Grounded Theory Methodologie. Für die vorliegende Studie diente sie als methodologische „Orientierungshilfe“ (Strauss 1998: 32). Nach Anselm Strauss (1998: 30) bezeichnet die Grounded Theory „keine spezifische Methode oder Technik“, sondern lässt sich vielmehr als ein „Stil“ (ebd.) verstehen, der sich durch einige Leitideen auszeichnet. Ziel einer an der Grounded Theory Methodologie orientierten Forschung ist es demnach, Theorien über Phänomene so (weiter) zu entwickeln, dass sie in den empirischen Daten verankert sind (vgl. ebd.: 31). Der Prozess der Theorieentwicklung vollzieht sich also in enger Verknüpfung mit der Interpretation der Daten. In einem spiralförmigen Analyseprozess werden in der Interpretation der Daten abstraktere Konzepte und Kategorien entwickelt, welche die weitere Analyse ihrerseits anleiten. Die Konzepte werden im Fortgang des Forschungsprozesses dabei in ihren wechselseitigen Beziehungen untereinander analysiert und zueinander ins Verhältnis gesetzt, so dass die Analyse nicht bei einer additiven Beschreibung einzelner Konzepte stehen bleibt. Auf diese Weise wird angestrebt, eine „konzeptuell dicht[e]“ (ebd.: 36) Darstellung des zu untersuchenden Phänomens zu entwickeln und dieses in seiner jeweiligen Komplexität beschreibbar zu machen. Auch in der vorliegenden Studie wurde der Prozess der Datenanalyse in Form eines Hin- und Herwechselns zwischen der Analyse des Datenmaterials und dem Versuch einer theoretischen Beschreibung der erkannten Phänomene mithilfe abstrakterer Begriffe (‚Konzepte‘) vollzogen. Die in diesem Prozess entstehenden Theoretisierungen sind dadurch konsequent im Datenmaterial verankert. Der Anspruch, eine gegenstandsbezogene Theorie in enger Verknüpfung mit der Interpretation des erhobenen Datenmaterials zu generieren, bedeutet im Verständnis der Grounded Theory Methodologie jedoch nicht, auf theoretisches „Kontextwissen“ (ebd.) zu verzichten. Zum einen setzen die Eingrenzung eines Forschungsthemas und die Entwicklung einer Fragestellung ja bereits ein gewisses Vorwissen und Vorverständnis über das zu untersuchende Phänomen voraus. Zum anderen sind theoretische Perspektiven eine Voraussetzung dafür, bei der Auswertung im Datenmaterial überhaupt etwas (Interessantes) erkennen zu können. „Die Signifikanz eines empirischen Phänomens wird erst durch das ‚Zusammentreffen‘ mit einer ordnenden und orientierenden Perspektive hergestellt“ (Dausien 1996: 100). Theorieperspektiven spielen im Forschungsprozess somit eine durchaus entscheidende Rolle, allerdings weniger in der Gestalt komplexer Theorien, die an das Material herangetragen werden, sondern in der Form theoretisch sensibilisierender Konzepte, die bestimmte Aufmerksamkeitsrichtungen erzeugen. Sensibilisierende Konzepte „lenken die Aufmerksamkeit
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des Forschers und sensibilisieren ihn für bestimmte Phänomene im Feld, die immer nur eine Auswahl aus der Vielzahl möglicher Beobachtungsgegenstände darstellen“ (Dausien 1996: 97). Sie erfüllen damit eine heuristische Funktion im Interpretationsprozess. Daneben sind auch „Metatheorien“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 43) bedeutsam. Damit sind Theorien gemeint, die sich nicht auf das zu erforschende Phänomen beziehen, sondern „begrifflich-theoretische Grundlagen“ (ebd.) beinhalten, die für die Konzeption und das Verständnis des Forschungsgegenstandes relevant sind. Sie bilden damit auch den analytischen Rahmen für die sich entwickelnde gegenstandsbezogene Theorie (vgl. ebd.). Die in dieser Hinsicht für die vorliegende empirische Studie zentrale biographietheoretische Perspektive wurde im vorigen Kapitel bereits vorgestellt. Sie wird im folgenden Teilkapitel erneut aufgegriffen und im Hinblick auf ihre methodologischen Implikationen befragt. Ein weiteres Kernelement der Grounded Theory Methodologie, an dem sich auch das Vorgehen der vorliegenden Studie orientierte, stellt das Theoretische Sampling dar. Es beinhaltet, dass die Anzahl und Zusammensetzung der in die Analyse einzubeziehenden Fälle nicht vorab festgelegt ist, sondern diese Festlegung erst im Verlauf des Forschungsprozesses aufgrund erster Hypothesen getroffen wird, die sich in der Analyse des Materials ergeben. Allein „der erste Zugang zum Feld, der von einem bestimmten Erkenntnisinteresse geleitet ist, [orientiert] sich an den ‚klassischen‘ Untersuchungseinheiten wie Personen, Organisationen, Gruppen etc. […] und [wählt] diese aufgrund vorläufiger Überlegungen über den Untersuchungsgegenstand aus“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 194). Mit dem Theoretischen Sampling eng verknüpft ist das Prinzip des fortwährenden Vergleichens, das im Verlauf des Forschungsprozesses auf verschiedenen Ebenen erfolgt. Vergleiche können sowohl auf der Ebene von Textpassagen innerhalb eines Interviews durchgeführt werden als auch in Bezug auf verschiedene Fälle, die für unterschiedliche Ausprägungen des untersuchten Phänomens stehen. Vergleiche dienen dazu, innerhalb des Datenmaterials Gemeinsamkeiten und Unterschiede herauszuarbeiten, die eine differenziertere Analyse und Beschreibung des Phänomens ermöglichen. Durch Vergleiche kann dieses auf seine Variationen und Ausprägungen sowie deren jeweilige Bedingungen und Konsequenzen untersucht und auf diese Weise detaillierter beschrieben werden. Die Samplingstrategie ist auch entscheidend für die Frage nach den Möglichkeiten der Verallgemeinerung von Ergebnissen. „Bereits bei der Auswahl der Fälle (und der Bestimmung dessen, was ein ‚Fall‘ ist) werden Vorentscheidungen darüber getroffen, in welche Richtung die Ergebnisse einer Untersuchung verallgemeinert werden können“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 173). Der Verallgemeinerungsanspruch in der interpretativen Sozialforschung bezieht sich dabei nicht auf eine statistische, sondern auf eine „theoretische Repräsentativität“ (Hermanns 1992: 116) der Interpretationsergebnisse. Dem liegt die Prämisse zugrunde, dass sich bereits auf der Ebene von Einzelfällen Phänomene erkennen lassen, die eine allgemeine, über diesen Fall hinausreichende Bedeutung haben. Das „Allgemeine im Besonderen“ (Schulze 1997) gilt es sowohl in der einzelfallbezogenen Analyse als auch durch den Vergleich kontrastierender Fälle herauszuarbeiten.
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6.2 B IOGRAPHIEFORSCHUNG
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ALS METHODISCHER
Z UGANG
In der vorliegenden Studie stellen Biographien einerseits den Gegenstand der Untersuchung dar. Zudem bilden lebensgeschichtliche Texte in Form verschriftlichter biographisch-narrativer Interviews aber auch die empirische Materialbasis der Studie. In Kapitel 5.1 wurde bereits angesprochen, dass ‚Biographie‘ sich sowohl auf das ‚gelebte Leben‘ bzw. die Prozesse lebenslanger Erfahrungsbildung bezieht als auch auf die sprachliche Repräsentation dieser Erfahrungen in Form von Lebensgeschichten. Bislang ist dabei allerdings die Frage ausgeklammert worden, in welchem Verhältnis diese beiden Ebenen zueinander stehen. Dies soll nun thematisiert werden. Der wissenschaftliche Blick auf biographische Texte hat sich seit den Anfängen der Biographieforschung erheblich gewandelt. Das komplexe Verständnis von ‚Biographie‘, wie es heute in der sozialwissenschaftlichen Biographieforschung vertreten wird, hat sich in dieser Form erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt (vgl. Alheit/Dausien 2009: 308). Während die Forschung über Frauen- und Arbeiter*innenbiographien in den 1970er Jahren vor allem als Möglichkeit verstanden wurde, den authentischen Stimmen gesellschaftlich marginalisierter und unterdrückter Gruppen Gehör zu verschaffen (vgl. ebd.: 296), wird heute ein Verständnis, das biographische Texte als ‚Abbildung‘ authentischer Erfahrungsstrukturen versteht, als naiv zurückgewiesen. Das Gegenstandsverständnis der Biographieforschung hat sich, wie in Kapitel 5.1 bereits ausgeführt wurde, dahingehend verschoben, dass ‚Biographie‘ heute als ein voraussetzungsvolles soziales Konstrukt in modernen Gesellschaften verstanden wird, dessen Herstellungsweisen und konkrete Ausformungen selbst ins Zentrum der Betrachtung rücken. Biographien werden als Leistungen von Individuen in modernen Gesellschaften betrachtet, ihr Leben (entlang der gesellschaftlichen Strukturvorgaben an Lebensläufe) reflexiv zu organisieren und zu gestalten. „Biographie wird als soziale Konstruktion, als individuelle und kollektive ‚Leistung‘, als ‚biographische Arbeit‘ begriffen, die auf bestimmte gesellschaftliche Problemlagen antwortet“ (Alheit/Dausien 2009: 298). Was bedeutet dies aber nun für die empirische Forschung auf der Basis von Lebenserzählungen? Wie kann das Verhältnis von gelebtem Leben und gegenwärtiger Erzählung gedacht werden, ohne von einem simplen Abbildungsverhältnis auszugehen? Und welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die interpretative Arbeit mit biographischen Texten? Im Folgenden wird zunächst die Erhebungsmethode des narrativen Interviews skizziert, mithilfe derer das Datenmaterial für die vorliegende Studie generiert wurde (Kap. 6.2.1). Anschließend wird reflektiert, wie sich das Datenmaterial, das mit dieser Methode erzeugt wird, in methodologischer Hinsicht verstehen lässt (Kap. 6.2.2) und welche Konsequenzen sich daraus für die eigene Untersuchungsperspektive ergeben (Kap. 6.2.3). 6.2.1 Biographisch-narrative Interviews als Erhebungsmethode Das narrative Interview als Erhebungsmethode ist in den 1970er Jahren maßgeblich von Fritz Schütze und Mitarbeiter*innen entwickelt und in den Jahrzehnten darauf methodisch weiterentwickelt und differenziert worden. Die Entwicklung des narrativen Interviews erfolgte vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung Schützes mit
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der amerikanischen Sozialforschung, insbesondere der Forschungstradition der Chicago School of Sociology und der Theorie des symbolischen Interaktionismus. Den genannten interaktionistischen Prämissen folgend zeichnet sich das narrative Interview durch die konsequente Orientierung an den Prinzipien der Offenheit und Kommunikation aus. Es hat zum Ziel, die interviewte Person zu einer Erzählung selbst erlebter Erfahrungen anzuregen. Diese können sich sowohl auf ein bestimmtes Ereignis beziehen als auch auf eine spezifische Lebensphase oder auf die gesamte Lebensgeschichte. Narrative Interviews eignen sich darum für alle Fragestellungen, die an biographischen und sozialen Prozessen interessiert sind, da sie „über eine punktuelle Erfassung hinaus“ gehen (Jacob 2003: 446). Die Interviewform, die ursprünglich in einem Forschungskontext eingesetzt wurde, in dem die Erfahrungen unterschiedlicher Akteur*innengruppen bei einer Veränderung lokaler Gemeindestrukturen erforscht werden sollten (vgl. Schütze 1977), hat sich in den Jahrzehnten danach zu einer häufig eingesetzten Methode der Datenerhebung in biographischen Forschungsprojekten entwickelt und ist im Methodenrepertoire der Biographieforschung bereits seit Langem fest etabliert. Die Spezifik biographisch-narrativer Interview besteht darin, dass damit längere Erzählungen generiert werden können, in denen die Herstellung von Sinnzusammenhängen und Relevanzsetzungen durch die Interviewten nachvollziehbar werden. Dadurch, dass den Interviewten die Strukturierung ihrer Erzählung weitgehend selbst überlassen wird, ermöglicht die Interviewform eine größtmögliche Orientierung an den Relevanzen der Forschungssubjekte. Im Rahmen biographischer Forschungen zielt das narrative Interview darauf ab, mithilfe einer allgemein formulierten Erzählaufforderung eine lebensgeschichtliche Stegreiferzählung zu evozieren, bei der die interviewte Person sich soweit möglich dem Strom ihrer Erinnerungen an zurückliegende Ereignisse und Handlungen überlassen soll. Fritz Schütze geht im Anschluss an erzähltheoretische Grundlagenforschungen (vgl. Labov/Waletzky 1973) davon aus, dass im Prozess des Erzählens „Zugzwänge“ (Kallmeyer/Schütze 1977) wirksam werden, die dazu führen, dass die Interviewten den Erzählvorgang nicht mehr vollständig steuern und kontrollieren können. Diese Zugzwänge lassen sich als ein Ergebnis kultureller und sozialer Konventionen verstehen, die mit der Handlungsform des Stegreiferzählens eng verknüpft sind. Der Erzählvorgang wird demnach strukturiert durch die Notwendigkeit, Ereignisse ausreichend ausführlich zu schildern und ggf. Hintergrundinformationen zu liefern, die das Geschehen für die Zuhörerin nachvollziehbar machen („Detaillierungszwang“), Auswahlentscheidungen und Relevanzsetzungen vorzunehmen, die eine Verdichtung und Raffung der Erzählung ermöglichen („Kondensierungszwang“) sowie die Notwendigkeit, eine begonnene Geschichte zu einem Ende zu bringen („Gestaltschließungszwang“) (Schütze 1976: 224f.). Das Wirksamwerden dieser Zugzwänge setzt, so die erzähltheoretische Annahme, eine „Eigendynamik des Erzählvorgangs in Gang, in dessen Folge sich der Erzähler mehr und mehr in die früheren Ereignis- und Erfahrungsabläufe verstrickt“ (Jacob 2003: 449).1 Zwar knüpft das Erzählen an eine alltagsweltliche Kompetenz an, jedoch entsprechen das Setting und die Rollenverteilung bei narrativen Interviews durch die stark monologische Ausrichtung nicht den Regeln der Alltagskommunikation. Die Inter1
Zu den Auseinandersetzungen um diese Grundannahmen vgl. Kap. 6.2.2.
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viewsituation stellt insofern durchaus hohe Anforderungen an die beteiligten Personen. Das Vorgehen bei narrativen Interviews gliedert sich in verschiedene Phasen (vgl. Rosenthal 2014: 157). Mit der Formulierung einer offen gestalteten Erzählaufforderung wird die Interviewte zunächst gebeten, ihre Lebensgeschichte oder ihre persönlichen Erfahrungen in einer bestimmten Lebensphase zu erzählen. Nicht selten kommt es dabei seitens der Interviewten zu Nachfragen, Konkretisierungswünschen und der Suche nach Rückversicherungen und zu längeren Aushandlungsprozessen zwischen den Beteiligten, in denen der Rahmen für die Erzählung geklärt wird. Wird die Erzählaufforderung schließlich von der interviewten Person ratifiziert, ist diese gefordert, ihre Geschichte gemäß der eigenen Relevanzen und ohne inhaltliche Vorgaben zu strukturieren und sie in einem auch zeitlich weitgehend offen gestalteten Rahmen zu präsentieren. Die Interviewerin ist währenddessen gefordert, aufmerksam zuzuhören und der Erzählerin nonverbal beständig Interesse und Aufmerksamkeit zu signalisieren, sich aber eigener Äußerungen, etwa in Form von Nachfragen oder Kommentierungen, möglichst zu enthalten, um die Dynamik des beginnenden Erzählflusses nicht zu stören (vgl. Rosenthal 2014: 157). Ziel ist es, der interviewten Person „Raum zur Gestaltentwicklung“ (ebd.: 160) zu geben. Dies gilt für das gesamte Interview, für die biographische Haupterzählung aber in besonderem Maße. Die erste Phase des Interviews endet, wenn die Erzählerin signalisiert, am Ende ihrer biographischen Selbstpräsentation zu sein – dies geschieht „typischerweise wenn sie [die Erzähler*innen, D.S.] mit ihren Erzählungen in der Gegenwart angelangt sind“ (ebd.: 162) und wird oft durch eine sogenannte Koda markiert (z.B. „das wars erstmal“). Danach beginnt die Nachfragephase des Interviews. Zunächst werden erzählgenerierende Nachfragen formuliert, die Elemente der Haupterzählung aufgreifen und darauf abzielen, Detaillierungserzählungen zu evozieren und Erzählungen zu noch unklaren Zusammenhängen zu vertiefen. Dabei orientieren sich diese internen Nachfragen möglichst an der Reihenfolge der erzählten Ereignisse und damit an der Relevanzstruktur der Interviewten. Aspekte, die von den Interviewten selbst eingeführt wurden, „werden als eine Einladung zu Vertiefungsfragen (ebd.: 162) verstanden. Auch hier gilt es, Fragen möglichst offen zu formulieren und solche, die Begründungen oder Rechtfertigungen hervorrufen, zu vermeiden. Gabriele Rosenthal schlägt vor, sich als Forscherin während der Haupterzählung Notizen zu machen, um die Reihenfolge der Erzählung präsent zu halten und mögliche Aspekte, zu denen nachgefragt werden müsste, später nicht zu vergessen. Im letzten Teil des Interviews stellt die Forscherin schließlich Fragen zu Themenfeldern, die bislang noch nicht angesprochen wurden, die aber vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses noch von Relevanz sind. 6.2.2 Biographische Texte als empirisches Material – methodologische Reflexionen In den vorangegangenen Ausführungen wurde bereits deutlich, dass dem (Stegreif-) Erzählen in der Biographieforschung eine besondere Bedeutung beigemessen wird. Grundlage dafür ist die Auffassung, dass das Erzählen eine Form der Sachverhaltsdarstellung repräsentiert, die der „Struktur der wiedererinnerten lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung“ (Schütze 1984: 79) näher kommt als dies etwa in ar-
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gumentativen Darstellungsformen möglich ist (vgl. Rosenthal 2014: 153ff.). Während letztere eine reflexive Distanzierung des Erzählers oder der Erzählerin zu den Ereignissen notwendig machen, unterliegt das Erzählen den „gleichen ‚Konstruktionsregeln‘“ (Dausien 1996: 112), die auch das soziale Handeln strukturieren. Fritz Schütze (1984) hat auf Basis empirischer Analysen von Erzähltexten basale kognitive Ordnungsschemata beschrieben, an denen sich Erzähler*innen bei der Hervorbringung biographischer Stegreiferzählungen orientieren. Schütze stieß in seinen Analysen darauf, dass „die narrative Erfahrungsrekapitulation gerade in ihrem ‚Wie‘, d.h. in der formalen Struktur ihrer Darstellungsvollzüge, eine systematische Geregeltheit und Ordnung aufweist“ (Schütze 1984: 81). Im Vorgang des Erzählens kommen demnach immer bestimmte „elementare Ordnungsprinzipien der autobiographischen Erfahrungsrekapitulation“ (ebd.: 83) zum Tragen, die eine kognitive Strukturierung des Erinnerten ermöglichen. Dies vier strukturgebenden Prinzipien des Stegreiferzählens, die Schütze (1984) als „kognitive Figuren“ bezeichnet, sind (1) „Biographieträger, Ereignisträger und ihre Beziehungen untereinander“ (ebd.: 84), (2) die „narrative Darstellung lebensgeschichtlich relevanter Zustandsänderungen des Biographieträgers und seiner entsprechenden Ereignisverstrickungen“ (ebd.: 82f.), (3) „Situationen, Lebensmilieus, soziale Welten“ (ebd.: 98) sowie (4) die „Gesamtgestalt der Lebensgeschichte“ (ebd.: 102). Dabei geht Schütze davon aus, dass diese allgemeinen Ordnungsprinzipien, die in der Erzählung erkennbar werden, die gleichen sind, die auch der kognitiven Strukturierung von Erlebnissen im Lebensvollzug zugrunde liegen. Diese Strukturähnlichkeit der Ordnungsschemata, die Prozessen der Erfahrungsorganisation und -rekapitulation zugrunde liegen, begründet die besondere Stellung des Formats biographischer Stegreiferzählungen als Material für die Untersuchung biographischer Prozesse. Die Frage, wie sich das Verhältnis von Erzählung und Erfahrung genau bestimmen lässt, hat die Biographieforschung allerdings immer wieder beschäftigt und ist zum Teil sehr kontrovers diskutiert worden. Der Soziologe Armin Nassehi (1994) etwa hat die These vertreten, dass Lebensgeschichten relativ unabhängig von den Lebensereignissen zu betrachten seien: „Biographien sind Produkte von Beobachtungen, die den Lebenslauf zum Gegenstand haben, mithin sind sie von dem, was tatsächlich gelaufen ist, vergleichsweise unabhängig, weil sie in der Kontingenz ihrer Möglichkeiten sowie in der selektiven Vergegenwärtigung von Vergangenheit relativ frei sind“ (Nassehi 1994: 53).
Nassehi grenzt sich damit von der methodologischen Position Fritz Schützes ab, dem er vorwirft, ein naives Verständnis von biographischen Erzählungen als Abbilder vergangener Ereignisse zu vertreten, das in vielen empirischen Arbeiten unkritisch aufgegriffen werde.2 Die von Nassehi vertretene Auffassung impliziert, dass Lebensgeschichten allein als situativ erzeugte Produkte einer biographischen Kommunikati-
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Auch nach Auffassung von Bettina Dausien (1996: 112) geht dieses Abbild-Verständnis von Biographie auf vereinfachte Interpretationen der Texte von Fritz Schütze zurück. Allerdings wird diese Lesart durch einige missverständliche Formulierungen in diesen Texten auch durchaus nahe gelegt.
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onssituation verstanden werden können und folglich auch nur etwas über diesen Erzeugungskontext aussagen: „Was wir empirisch wahrnehmen können, ist also niemals eine wo und wie auch immer vermutete Substanz biographischer Identität, sondern ausschließlich biographische Kommunikation“ (ebd.: 54). Diese These wirft dann allerdings die Frage danach auf, was in diesem Fall dann den Bezugshorizont für eine sozialwissenschaftliche Biographieforschung bildet. Sozialwissenschaftliche Forschungen beschränken sich in der Regel nicht auf ein rein sprachwissenschaftliches Interesse an Biographien als ‚Texte‘, sondern beanspruchen, mit ihren Interpretationen auch Aussagen über eine – wenn auch sehr unterschiedlich verstandene – außertextuelle ‚Wirklichkeit‘ zu machen (vgl. Dausien 2003a: 125f.). Auch im Rahmen der vorliegenden Forschung geht es nicht allein um die Untersuchung rein innertextueller Phänomene, sondern um Fragen, die sich auch auf die soziale Wirklichkeit außerhalb des Texts beziehen. Im Folgenden wird deshalb etwas genauer darauf eingegangen, wie das Verhältnis von lebensgeschichtlicher Erzählung und Erfahrung konzipiert werden kann. Dabei geht es nicht darum, die Kontroversen innerhalb der Biographieforschung detailliert nachzuzeichnen, sondern um die Entwicklung eines tragfähigen Verständnisses für die eigene empirische Untersuchung. Autobiographisches Erzählen kann als eine Basisform der menschlichen Verständigung begriffen werden, die – so der Soziologe Michael von Engelhardt – eine „wichtige Strukturierungsfunktion in der biographischen Ausgestaltung des Lebens“ erfüllt (v. Engelhardt 2011: 41). Lebensgeschichten lassen sich als subjektive Sinnkonstruktionen verstehen, die es den Individuen ermöglichen, ihre Erfahrungen reflexiv zu organisieren und sich antizipierend auf die Zukunft zu beziehen. Diese Fähigkeit wird, so von Engelhardt, unter den Bedingungen des modernen Lebens besonders wichtig, da „die Dynamik der modernen Biographie […] es notwendig macht, dass das Leben immer wieder neu erzählerisch vergegenwärtigt, verarbeitet, geordnet und dargestellt werden muss“ (ebd.: 47). Die Voraussetzung für die Möglichkeit des biographischen Erzählens besteht darin, dass der Mensch in ein reflexives Verhältnis zu sich selbst treten und sich dadurch zum Objekt seines Erzählens machen kann (vgl. v. Engelhardt 2011: 43). Die Fähigkeit, sich selbst zum Objekt der Reflexion machen und dadurch verschiedene Perspektiven auf das eigene Handeln einnehmen zu können, ist nicht angeboren, sondern kann im Anschluss an George Herbert Mead (1968) als ein Entwicklungsschritt im Prozess der Ausbildung von Identität im Kindesalter verstanden werden (vgl. v. Engelhardt 2011: 44.). Die Frage, ob Erfahrungen zunächst in einer ungeordneten Form existieren und erst im Prozess des Erzählens strukturiert werden, oder die narrative Strukturierung von Erfahrungen bereits erfolgt, während die Individuen diese machen, wird kontrovers diskutiert. Vertreter*innen der ersten Position gehen davon aus, dass menschliche Erfahrungen an sich nur ein chaotisches und fragmentarisches Ensemble von unverbundenen Ereignissen und Handlungen darstellen. Erst das Erzählen verleiht den Erfahrungen aus dieser Sicht eine Struktur und Bedeutung (vgl. Brockmeier/Carbaugh 2001: 14). Dagegen argumentieren Vertreter*innen der zweiten Position, dass menschlichen Erfahrungen und Erinnerungen eine narrative Struktur bereits immanent sei (vgl. ebd.). Für diese Position spricht insbesondere das Argument, dass
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wir ein Geschehen in der Regel bereits zum Zeitpunkt des Erlebens nicht als völlig zusammenhanglose und bedeutungslose Phänomene wahrnehmen, sondern als eine zeitlich strukturierte Abfolge von Handlungs- und Ereignissequenzen, die miteinander in Verbindung stehen und bereits mit Bedeutung versehen sind. Die Strukturierungsarbeit, die im Erzählen geleistet wird, indem wir die Fülle der Ereignisse segmentieren, auswählen, in eine Reihenfolge bringen und ihnen Bedeutung verleihen, entspricht dabei den Operationen, mit denen wir auch Geschehensabläufe im ‚Leben‘ ordnen (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 21). Das ‚Leben‘ existiert ja nur als bedeutungsvoll, weil wir in der Lage sind, die Welt, die wir wahrnehmen, sinnhaft zu ordnen und den Dingen Bedeutung zuzuweisen. Ansonsten wäre das Leben eine Sammlung von Ereignissen, die in keiner Beziehung zueinander stünden. In dem Werk „Strukturen der Lebenswelt“ haben Alfred Schütz und Thomas Luckmann (2003) beschrieben, wie sich der Prozess der Wahrnehmung der Lebenswelt im Bewusstsein der Individuen vollzieht. Demnach werden die Gegenstände und Phänomene der Lebenswelt vom Individuum gemäß typisierender (sozial tradierter, überindividueller) Schemata geordnet; unbekannte Gegenstände werden abstrakteren Kategorien zugeordnet und so in Vertrautheit überführt. Ist dies nicht möglich, muss das typisierende Schema erweitert bzw. differenziert werden. Durch diese Vorgänge bilden sich Muster der Erschließung der Welt heraus. Dadurch treten potenzielle Erfahrungsobjekte dem Individuen nicht ständig immer wieder als gänzlich neu gegenüber, sondern sie werden vielmehr als ‚ein Fall von‘ typisiert und in den Erfahrungshaushalt bzw. den biographischen Wissensvorrat integriert. Vorangegangene Erfahrungen prädisponieren dadurch die Wahrnehmung und Interpretation neuer Erfahrungsgegenstände und -situationen. Dies begründet die für die Biographieforschung relevante These, dass der Prozess der lebensgeschichtlichen Erfahrungsaufschichtung sich nicht als „eine bloße Aneinanderreihung von sedimentierten Einzelerfahrungen bzw. Erfahrungsobjekten“ (Schütz/Luckmann 2003: 249) vollzieht, sondern sich „Erfahrungseinheiten in der Perspektive des Lebenslaufs in weitgespannte Sinnzusammenhänge einfügen“ (ebd.). Verschiedene Forscher*innen vertreten daher die These, dass Erfahrungen eine ,pränarrative‘ Qualität aufweisen, „das heißt: eine Präfiguriertheit, die das Bedürfnis einer Erzählung nach sich zieht“ (Polkinghorne 1998: 22). Dieser Position zufolge stellt sich das Geschehen zum Zeitpunkt des Erlebens den Akteur*innen weder als chaotisches Ensemble unzusammenhängender Ereignissequenzen dar, noch ist es als ein „voll entwickelter, kohärenter narrativer Zusammenhang“ (ebd.: 21) verfügbar. Die Erfahrung des Geschehens existiert vielmehr in einer pränarrativen Form. Erst in der Erzählung kann das Erfahrene in Form einer vollständigen Geschichte präsentiert werden, da die Wirkungen zurückliegender Handlungen den Akteur*innen erst retrospektiv zugänglich sind und in die Geschichte integriert werden können (vgl. Polkinghorne 1998: 23). Das heißt also, Erlebnisse werden erst dann narrativierbar, wenn sie auch die Konsequenzen und Effekte vergangener Handlungen integrieren. Dies setzt voraus, dass die Akteur*innen sich zu einem Zeitpunkt, an dem das Geschehen bereits in der Vergangenheit liegt, reflexiv auf ihre Erlebnisse besinnen und sie mit ihren Wirkungen verknüpfen können. Die Reflexion von Handlungen und Ereignissen und die Verknüpfung mit den mit ihnen verbundenen Konsequenzen kann somit als eine Voraussetzung für die Vervollständigung einer bis dato nur pränarrativen Repräsentation von Erfahrungen betrachtet werden.
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Dies bedeutet auch, dass Erzählungen die Erfahrungen nicht in der Qualität ihres damaligen Erlebens repräsentieren können, sondern nur die Bedeutung, die diese Erlebnisse aus der gegenwärtigen Perspektive der Erzählenden haben (vgl. ebd.: 24). Umgekehrt impliziert die These der pränarrativen Form von Erfahrungen, dass im Nachhinein nicht jede beliebige Geschichte über das vergangene Geschehen erzählt werden kann. Die pränarrative Erfahrung „dient als Korrektiv oder Leitfaden für die reflexiv gebildete Geschichte“ (ebd.: 23) und muss in einer Form in die Darstellung integriert werden, die diese als legitim und überzeugend erscheinen lässt. In der gegenwärtigen Biographieforschung besteht ein Konsens darüber, dass biographische Texte nicht als ein Abbild vergangener Ereignis- und Handlungsabläufe verstanden werden können. Dies wird mit verschiedenen Argumenten plausibel begründet, die sich auf die Perspektivität von biographischen Erzählungen und auf die Umformung und Neugestaltung von Erfahrungen im Prozess des Erinnerns und Erzählens beziehen. Gabriele Rosenthal (1995: 70ff.) verweist beispielsweise auf die Transformationsschritte, die zwischen dem Erleben, Erinnern und Erzählen jeweils vor sich gehen. Sie macht deutlich, dass bereits im Erinnern bestimmte Aspekte des damaligen Erlebens selegiert und modifiziert werden; bestimmte Ereignisse werden ausgeblendet oder entziehen sich der Erinnerung. Es wäre also eine naive Vorstellung, ein Speichermodell des Gedächtnisses zugrunde zu legen, in dem Ereignisse und Erfahrungen unverändert ‚abgelagert‘ werden, und auf die aus der Gegenwart heraus ‚zugegriffen‘ werden kann. Die erzählte Lebensgeschichte unterscheidet sich wiederum von der Erinnerung, da reflexive Hinzufügungen in Form von Bewertungen und Einschätzungen im Nachhinein hinzu kommen, während andere Erinnerungen bewusst ausgelassen werden oder nicht erzählbar sind. Auch Alois Hahn betont die grundlegende Differenz zwischen Lebensereignissen und der biographischen Erinnerung. Während Hahn den Lebenslauf als die Gesamtheit aller „Ereignisse, Erfahrungen, Empfindungen“ (2000: 101) in der Lebenszeit versteht, sind Biographien für ihn „selektive Vergegenwärtigungen“ dieser Lebensereignisse (ebd.). Das Verhältnis zwischen den Lebensereignissen („Lebenslauf“) und der erinnernden Repräsentation biographischer Erfahrungen ist Hahn zufolge durch eine grundlegende Differenz bestimmt. Er geht davon aus, dass Biographien aufgrund der „Unendlichkeit der den Lebenslauf konstituierenden Elemente“ (ebd.: 101) niemals vollständige Repräsentationen sein können, insofern sie es niemals vermögen, alle Lebensereignisse in ihrer Gesamtheit ‚abzubilden‘. Biographien sind insofern ‚weniger‘ als die Gesamtheit aller Lebensereignisse, sie können immer nur eine Auswahl daraus darstellen. Zugleich umfassen Biographien aber ‚mehr‘ als die Gesamtheit des Lebenslaufs. So können sie die Grenzen der eigenen Lebenszeit und der eigenen Lebenserfahrungen auch überschreiten, indem beispielsweise für identitätsrelevante Ereignisse jenseits der eigenen Lebenszeit in die Selbstpräsentation einfließen (vgl. ebd.). Biographien sind aber auch deshalb ‚mehr‘ als bloße Repräsentationen von Lebensereignissen und -erfahrungen, weil sie retrospektive Deutungen vergangener Ereignisse enthalten. Durch die reflexive und deutende Bezugnahme auf vergangene Lebensereignisse aus der Gegenwartsperspektive können bestimmte Sinnzusammenhänge überhaupt erst hergestellt werden. Diese sind also nicht bereits in den vergangenen Ereignissen angelegt, sondern „die selektive Vergegenwärtigung stiftet Zusammenhänge, die es so vorher gar nicht geben konnte“ (ebd.: 101).
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Donald Polkinghorne (1998: 24) markiert drei Aspekte des lebensgeschichtlichen Erzählens, die dazu führen, dass biographische Erzählungen nicht als Abbilder des ‚gelebten‘ Lebens verstanden werden können: (1) der Prozess des sich-Erinnerns, (2) die Operationen, die im Erzählen in Kraft treten, um der Geschichte eine Gestalt zu verleihen und (3) das Zurückgreifen auf kulturspezifische „Plots“. Diese Aspekte werden so oder ähnlich auch von anderen Biographieforscher*innen thematisiert, beispielsweise von Gabriele Rosenthal (1995). Im Prozess des Sich-Erinnerns werden in der Vergangenheit liegende Lebensereignisse ‚reaktiviert‘. Das Erinnern ist ein konstruktiver und gestaltbildender Prozess, in dem „Gedächtnisspuren nach Maßgabe gegenwärtiger Bedürfnisse und Deutungen berücksichtigt und verknüpft“ werden (Polkinghorne 1998: 24). Das bedeutet, dass im Erinnern bestimmte Aspekte des damaligen Erlebens gemäß gegenwärtiger Relevanzen ausgewählt werden, während andere ausgeblendet bleiben oder sich auch der Erinnerung entziehen. Durch das Erzählen werden Erinnerungen nicht nur in Sprache ‚übersetzt‘, sondern sie werden zugleich auch strukturiert und bearbeitet. So kommen in lebensgeschichtlichen Erzählungen nicht alle Erinnerungen zur Sprache, sondern nur eine Auswahl, während andere Erinnerungen ausgelassen werden, beispielsweise wenn sie als nicht erzählwürdig empfunden werden oder irrelevant für den Verlauf der Geschichte sind. Auch werden die Erinnerungen im Erzählvorgang geformt, indem sie beispielsweise verdichtet oder elaboriert werden. Der Grad der Gestaltetheit einer Erzählung (und die Erfüllung der kulturellen Erwartungen an eine ‚gute Erzählung‘) hängt dabei u.a. von den Bedingungen ihrer Herstellung ab. „Erzählprodukte können sich im Ausmaß unterscheiden, in dem bei ihrer Verfertigung kunstvolle Techniken zum Zuge kamen“ (Polkinghorne 1998: 29). Entscheidend dafür ist vor allem, ob es sich dabei um eine vorab konzipierte, gestaltete Geschichte oder um eine spontan produzierte Erzählung handelt. Während es im ersten Fall möglich ist, eine Geschichte mit einem vollendeten Plot zu erzählen, ist im zweiten Fall damit zu rechnen, dass die Erzählungen diesem Anspruch nicht gerecht werden, sondern sich auch in Nebengeschichten verlieren können. Gerade bei Stegreiferzählungen, wie sie mit dem narrativen Interview erzeugt werden sollen, sollen sich die Erzähler*innen auf einen Erinnerungsprozess einlassen, der dazu führt, dass sie nicht mehr die komplette Kontrolle über die Auswahl der erzählten Erfahrungen und die Form der Erzählung haben. Allerdings ist hier einschränkend anzumerken, dass sich die Eigendynamik des Erzählens nicht in jeder Interviewsituation herstellt, sondern auf Kontextbedingungen angewiesen ist, die äußerst voraussetzungsvoll und keineswegs in jeder Interviewsituation gegeben sind. Wie stark die Auswahl und Versprachlichung der Erinnerungen also durch die Orientierung an den kulturellen Anforderungen an eine ‚gelungene‘ Erzählung und an den vermuteten Erwartungen des konkreten Gegenübers ‚gesteuert‘ ist, hängt demnach u.a. von den konkreten Umständen des Zustandekommens der Erzählung ab. Weiterhin ist zu bedenken, dass „der Anteil der Erinnerung beim Prozeß des Geschichtenerzählens […] variieren [kann] (Rosenthal 1995: 87). Nicht alle Geschichten, die wir über uns erzählen, sind demnach Ausdruck eines spontanen Erinnerungsprozesses (auch nicht in einer Stegreiferzählung). Einige Erinnerungen sind vielmehr durch vielfaches (‚erfolgreiches‘) Erzählen zum Teil eines festen Geschichtenrepertoires geworden, haben eine starre Form angenommen und haben sich weitgehend
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gelöst von den Erfahrungen, aus denen sie einmal hervorgegangen sind (vgl. Alheit 1989). Der amerikanische Psychologe Jerome Bruner sieht Erzählungen daher nicht nur als eine Form der Repräsentation von Erfahrungen an, sondern spricht ihnen auch eine entscheidende Bedeutung für die Umstrukturierung von Erfahrungen zu. Bruner vertritt die Position, dass Erzählungen nicht nur auf vergangene Erfahrungen referieren, sondern sie ihrerseits die Struktur der Erfahrung verändern. „[T]he culturally shaped cognitive and linguistic processes that guide the self-telling of life narratives achieve the power to structure perceptual experience, to organize memory, to segment and purpose-build the very ‚events‘ of a life. In the end, we become the autobiographical narratives by which we ‘tell about‘ our lives” (Bruner 2004: 694, Hervorh. i. Orig.).
Das ‚gelebte‘ Leben ist dieser Argumentation zufolge nicht nur als ‚Material‘ für die Erzählung, sondern umgekehrt auch als ein Produkt der Erzählung über dieses Leben zu verstehen. Die Erzählungen über uns selbst formen die Struktur unserer Erfahrungen; sie ordnen nicht nur unsere vergangenen Erfahrungen, sondern wirken auf diese zurück und geben dadurch auch die Richtung für die zukünftige Entwicklung unserer Lebensgeschichte vor: „[T]he ways of telling and the ways of conceptualizing (…) [life narratives, D.S.] become so habitual that they finally become recipes for structuring experience itself, for laying down routes into memory, for not only guiding the life narrative up to the present but directing it into the future“ (ebd.: 708).
Biographische Erzählungen beziehen sich also nicht nur retrospektiv auf Handlungen und Erfahrungen der Individuen, sondern präfigurieren auch künftige Handlungen und konstituieren einen Rahmen für die Organisation künftiger Erfahrungen. Diese Überlegung schließt an den Begriff der biographischen Konstruktion an, wie er in Kapitel 5.1 eingeführt wurde. 6.2.3 Bestimmung der eigenen Analyseperspektive Ausgehend von der Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von autobiographischer Erzählung und Erfahrung können nun Schlussfolgerungen dafür gezogen werden, wie das Interviewmaterial, das in der vorliegenden Untersuchung erzeugt wurde, betrachtet werden kann. Zunächst ist die Feststellung wichtig, dass es die Biographieforschung nicht mit dem ‚gelebten Leben‘ zu tun hat, sondern mit Texten, die auf dieses ‚gelebte Leben‘ rekurrieren und in denen dieses zum Thema gemacht wird (vgl. Dausien 2003a: 122 ff.). Biographien liegen der Forscherin oder dem Forscher in Gestalt von lebensgeschichtlichen Selbstbeschreibungen vor (z.B. in Form von biographischen Erzählungen, Tagebuchaufzeichnungen oder Autobiographien). Dies bedeutet zugleich, dass der Gegenstand von Biographieforschung nicht das ‚Leben‘ als Ereignis- oder Erlebniszusammenhang sein kann, sondern die biographische Konstruktion in Gestalt eines ‚Texts‘ (vgl. ebd.).
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Zentral für das Verständnis dessen, was Lebensgeschichten (nicht) ‚sind‘ und worüber sie Auskunft geben können, ist der Umstand, dass sich biographische Rekapitulationen immer auf mehreren Zeitebenen bewegen. Der Rekurs auf die Vergangenheit erfolgt aus der gegenwärtigen Perspektive der Erzählenden und in Antizipation der Zukunft. Beide Aspekte sind zentral für die Art und Weise wie sich die Erzähler*innen den Erlebnissen und Erfahrungen der Vergangenheit zuwenden und welche Sicht sie darauf einnehmen (vgl. Rosenthal 1995; Dausien 1996: 108f.). Biographische Texte in Form von Lebenserzählungen sind deshalb keine Abbilder des gelebten Lebens,3 sondern ausschnitthafte Vergegenwärtigungen von Handlungen und Erfahrungen, die vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Erfahrungs- und Erwartungshaltung der Erzähler*innen rekonstruiert werden müssen. Ausgehend von den vorangegangenen Überlegungen beziehe ich mich in meiner empirischen Untersuchung auf ein methodologisches Vorverständnis, das das Verhältnis von ‚Leben‘ und ‚Text‘ in lebensgeschichtlichen Selbstpräsentationen als einen Verweisungszusammenhang versteht, der aber im Prozess des Erzählens immer wieder neu hergestellt wird. Mit Michael von Engelhardt (2011: 50) lassen sich Lebensvollzug und Lebenserzählung als „eigenständige Wirklichkeitsbereiche [verstehen, D.S.], die gleichwohl aufeinander bezogen sind“. Das Verhältnis zwischen Lebensvollzug und Lebenserzählung zeichnet sich laut von Engelhardt durch „Differenz, Referenz, Transformation und Interdependenz“ (ebd.) aus. Biographisches Erzählen stellt demnach eine kommunikative, und kreative Leistung von Individuen dar. Das biographische Erzählen ist als konstruktiver Prozess zu verstehen, der Spielräume für die reflexive Auseinandersetzung mit Erfahrungen, aber auch für die Herstellung neuer Verknüpfungen und Sinnzusammenhänge sowie für Umdeutungen bereitstellt. Allerdings sind biographische Konstruktionen nicht beliebig. Vielmehr kann plausibel davon ausgegangen werden, dass die gegenwärtige Erfahrungshaltung auch ein Ergebnis von zurückliegenden Erfahrungsprozessen in bestimmten sozialen Räumen ist und auf diese verweist (vgl. Dausien 2006). Die individuelle Struktur der Erfahrungsaufschichtung, die sich vor dem Hintergrund des bereits gelebten Lebens herausgebildet hat, setzt der Kreativität der biographischen Konstruktion gewisse Grenzen: „Das biographische Subjekt kann aus der irreversiblen Struktur seiner Bewegungs- und Erfahrungsgeschichte im sozialen Raum nicht beliebig herausspringen, vergangene Erfahrungen können nicht ungeschehen gemacht und durch andere ersetzt, sie können nur umgedeutet und neu verknüpft werden und zu veränderten Zukunftsentwürfen führen“ (Dausien 2006: 191).
Für die Rekonstruktion von erzählten Lebensgeschichten lässt sich daraus der Anspruch ableiten, dass der biographische Text nicht nur als flüchtige, situationsgebun-
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Das ‚gelebte Leben‘ ist weder durch biographische Erzählungen noch durch irgendeinen anderen Forschungszugang zugänglich; es ist in der Gesamtheit seiner Ereignisse nämlich auch dem sich erinnernden Individuum selbst nicht verfügbar. Andererseits stellt die Erzählung einen der wenigen möglichen Wege dar, überhaupt etwas über zurückliegende Erfahrungen zu erfahren.
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dene Konstruktion zu betrachten ist, sondern es auch möglich ist, aus dem Text Verweise auf diese Erfahrungsgeschichten und ihre sozialen Kontexte herauszuarbeiten. Eine ähnliche Position findet sich bei Monika Wohlrab-Sahr, die argumentiert, „dass vergangene Ereignisverkettungen [zwar] immer nur als gegenwärtig produzierte biographische ‚Texte‘ vorliegen, […] aber die in diesen Texten geschilderten Prozesse und die Art und Weise, wie die Person in sie involviert ist, [dennoch] dazu beigetragen [haben], dass dieser biographische Text heute so und nicht anders ausfällt“ (Wohlrab-Sahr 2002: 12; Hervh. i. Orig.).
Die biographische Erfahrungsaufschichtung lässt sich aber nicht als einzige Dimension verstehen, die für die Erzeugung biographischer Texte bedeutsam ist. Daneben gibt es weitere Kontexte, die die Produktion des biographischen Texts ebenfalls strukturieren (vgl. Dausien 2003a: 180ff; 2006: 202f.). Dazu zählen der Rahmen der Forschung und der konkrete „Interaktionsrahmen“ (Dausien 2003a: 180) sowie die „sozio-kulturelle Rahmung“ des Interviews (ebd.: 182ff.). Der erste Punkt bezieht sich auf die Interaktion zwischen Interviewerin und Erzählerin im narrativen Interview, die durch einen bestimmten Zweck gerahmt wird. Dieser steckt die Spielräume dafür ab, wie der Erzähler oder die Erzählerin sich selbst präsentieren kann. Die autobiographische Narration ist durch kommunikative Erwartungen und Zuschreibungen mitbestimmt. Was erzählt werden kann und soll, ist dabei ein Gegenstand von Verhandlungen im Vorfeld und auch während der Interviewsituation. Die biographische Selbstpräsentation muss deshalb auch als ein interaktiv und situativ erzeugtes Produkt verstanden werden. Zudem werden biographische Selbstpräsentationen durch den breiteren soziokulturellen Kontext beeinflusst, in dem sie produziert werden. „Biographische Erzählungen, auch wenn sie spontan hervorgebracht werden, sind nicht ‚frei‘, sondern orientieren sich am kulturellen Wissensvorrat über Biographie(n) und ihren Präsentationsmöglichkeiten im Rahmen aktueller Diskurse“ (Dausien 2006: 203). Gerade in stärker argumentativen Passagen von Interviews, in Evaluationen und Deutungen spielen Diskurse, kulturelle Schemata und Skripts eine wichtige Rolle, die den Subjekten als Ressourcen in den sozialen Räumen zur Verfügung stehen, in denen sie sich aktuell bewegen. Auch die Verweise darauf gilt es in der Interpretation zu berücksichtigen. Welche Diskurse und kulturellen Skripts es jeweils sind, die die biographische Selbstkonstruktion und die Deutungsweisen der Subjekte konkret mit strukturieren, ist dabei empirisch zu rekonstruieren. Neben der Rekonstruktion der Biographie als Erfahrungsgeschichte sind in der empirischen Analyse von Interviewtexten also auch die diskursiven und interaktiven Rahmungen zu beachten, die in die Produktion des Textes einfließen. Im Kontext der vorliegenden Forschung stellte u.a. der Diskurs um ‚Integration‘ und ‚Bildungserfolg‘ eine bedeutende Rahmung dar, die in den Selbstpräsentationen in unterschiedlicher Weise zum Tragen kam.
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Im Folgenden wird das konkrete Vorgehen im Forschungsprozess beschrieben. Dabei werden zunächst die Implikationen des forschungsmethodischen Vorgehens im Hinblick auf die Reproduktion von Differenzverhältnissen reflektiert. Anschließend werden die Samplekonstruktion und die Erfahrungen beim Feldzugang beschrieben, bevor dann die einzelnen Schritte der Erhebung und Auswertung der Interviews genauer dargestellt werden. 6.3.1 Reproduktion von Differenzverhältnissen im Forschungsprozess – Dilemmata und Strategien Dem Forschungsdesign lag die Entscheidung zugrunde, sich der Thematik von Bildungs- und Studienwegen in der Migrationsgesellschaft aus der Perspektive der Subjekte zu nähern. Dies entspricht dem in der kritischen Migrationsforschung formulierten Ansatz, statt eines objektivierenden Sprechens über die ‚Anderen‘ die „SelbstGeschichten“ (Mecheril 1999: 259) der Subjekte zum Ausgangspunkt zu machen. Die Entscheidung für einen methodischen Zugang, der an den Perspektiven der Subjekte ansetzt, produziert jedoch auch ein Dilemma: Bereits durch die Auswahl und Ansprache der Interviewpartner*innen, die unter anderem entlang des Kriteriums ‚Migrationsgeschichte‘ erfolgte, werden jene Unterscheidungspraxen bestätigt und reproduziert, die eigentlich hinterfragt und kritisiert werden sollen. „Eine Gefahr der Differenzforschung besteht […] darin, dass das Interesse an Differenz […] in einem ersten Schritt die Identifikation z.B. des ‚ethnisch-kulturell Anderen‘, ‚der muslimischen Frau‘ vornehmen muss, um diese Objekte zum Gegenstand wissenschaftlicher Bemühungen zu machen. Die Analyse ihrer im Weiteren als Spezifisch unterstellten Erfahrungswelt bereitet ihrer Konstitution als problematische Andere den Boden, da ihre Besonderheit ausgewiesen werden muss, um sie als relevante Untersuchungsobjekte zu untersuchen“ (Mecheril/Melter 2012: 271).
Dies ist ein generelles Problem von Forschungen, die sich mit sozialen Differenzverhältnissen befassen. In der Frauen- und Geschlechterforschung ist diese Problematik bereits vor einiger Zeit unter dem Stichwort der „Reifikation“ von Differenzen diskutiert worden (vgl. Gildemeister/ Wetterer 1992). Ausgehend von der These, dass ‚Geschlecht keine natürliche Gegebenheit darstellt, sondern in sozialen Unterscheidungspraxen fortwährend hervorgebracht wird, drängte sich die Frage auf, wie empirische Forschungsvorhaben konzipiert sein müssten, um Geschlechterdifferenzen nicht von vorne herein als gegeben vorauszusetzen. Auch die vorliegende Forschung entgeht diesem unauflösbaren Dilemma nicht. Als Forscherin bin ich unweigerlich in die Konstruktion der Forschungssubjekte als ‚Migrationsandere‘ und damit auch in die Reproduktion der symbolischen Ordnung verstrickt, die ich untersuchen will. Dies beginnt bei der Konstruktion des Untersuchungsgegenstandes und der Ansprache der Forschungssubjekte, die nicht nur allgemein als ‚Studierende‘, sondern auch mit dem Verweis auf die Migrationsgeschichte
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erfolgte (vgl. Kap. 6.3.2). Damit wurden die Interviewten von anderen Studierenden differenziert und als ‚besonders‘ markiert. Um diese Typisierung in der Samplekonstruktion zu vermeiden, hätte die Forschung grundlegend anders konzipiert werden müssen. Bereits die Fragestellung hätte so gewählt werden müssen, dass sie keine Eingrenzung des Samples entlang der Differenzlinie ‚Migration‘ notwendig gemacht hätte. So hätte etwa allgemeiner nach den Bildungswegen und Studienerfahrungen von jungen Erwachsenen angesichts der zunehmenden Pluralisierung und Differenzierung sozialer und kultureller Hintergründe und Studienzugänge gefragt werden können. Das Forschungsinteresse entwickelte sich jedoch auch vor dem Hintergrund der Debatten um Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ und die Studienwege ‚migrantischer‘ Studierender, in denen der Differenzlinie Migration eine spezifische Relevanz zugeschrieben wird. Deshalb wurde an der Eingrenzung des Samples auf Studierende ‚mit Migrationsgeschichte‘ festgehalten. Damit wurde an eine im Feld bestehende Typisierung angeknüpft, die im weiteren Forschungsprozess jedoch zum Gegenstand kritischer Analysen gemacht wurde. Die Typisierung der Interviewten als Studierende ‚mit Migrationsgeschichte‘ bildete dennoch ein „strukturierendes Moment der Interviewsituation“ (vgl. Mecheril/Scherschel/Schrödter 2003: 107), das den Rahmen für die Selbstpräsentation der Interviewten mit bestimmte (vgl. ebd.: 96). Das Setting einer wissenschaftlichen Forschungssituation ist dabei ein Rahmen, der durch besondere Macht- und Dominanzverhältnisse strukturiert wird – vor allem die Asymmetrie zwischen der Position der Subjekte, die über sich Auskunft geben sollen, und der symbolisch machtvollen Position der Wissenschaftlerin, die sich im vorliegenden Fall dadurch auszeichnete, dass die Forscherin als ‚Mehrheitsangehörige‘ positioniert ist. Diese Konstellation erschwert eine Zurückweisung der Relevanz von ‚Migration‘ als Kategorie der biographischen Selbstbeschreibung (vgl. ebd.: 102). Das Interview stellt insofern ein besonderes „Artikulationsfeld für soziale Differenzen und Machtbeziehungen“ dar (Herwartz-Emden 2000: 56).4 Eine grundlegende forschungsmethodische Konsequenz dieses Settings bestand darin, das Problem der Reifikation im Auswertungsprozess nicht auszublenden, sondern es in der Analyse der Interviews systematisch einzubeziehen (vgl. Dausien 2000: 361f.). In den jeweiligen Einzelfallanalysen wurden die Bedeutung der Zuschreibungen, die durch den Auswahlprozess und die Interaktion im Interview erfolgten, ebenso wie die Positionierungen der an der Forschung Beteiligten zueinander anhand der Interviewprotokolle und des Interviewmaterials immer wieder reflektiert. Wenngleich die vorliegende Forschung unweigerlich in die Reproduktion von Macht- und Differenzverhältnissen verstrickt ist, wurde durch die methodische Anlage ein Rahmen geschaffen, der eine größtmögliche Offenheit für die Gestaltung der
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In manchen Situationen wurde dieses Dilemma im Vorgespräch mit den Interviewten offen thematisiert. Dies stellte eine Gratwanderung dar, insofern als die Reflexion es den Interviewten einerseits erleichterte, die Kategorisierung als ‚Migrationsandere‘ zu problematisieren und sich davon zu distanzieren. Andererseits bestand dabei immer auch das Risiko, den Forschungssubjekten auch noch die Last der eigenen (forschungsethischen) Dilemmata aufzubürden.
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Selbstpräsentationen der Interviewten gewährleistet. Mit dem Zugang über lebensgeschichtliche Erzählungen wurde ein Ansatz gewählt, der es den Interviewten ermöglichte, ihre Erfahrungen gemäß der eigenen Relevanzsetzungen zu erzählen. Dadurch konnte es in der Interviewsituation selbst vermieden werden, die ‚Migrationsgeschichte‘ bzw. damit verbundene Erfahrungen bereits als zentral für die Selbstbeschreibungen der Subjekte vorauszusetzen. Zwar geht mit dem Auswahlkriterium ‚Migrationsgeschichte‘ die Annahme einher, dass die Positionierung meiner Interviewpartner*innen in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung potenziell auch eine Bedeutung für ihr Selbst- und Weltverhältnis, ihr Erleben und Handeln hat. Allerdings wurde die Frage, welche Bedeutung ‚Migration‘ für die Zugehörigkeitskonstruktionen und Bildungswege der Subjekte jeweils hat, bewusst offen gehalten. Welche Erfahrungen für die jeweilige Biographie und Bildungsgeschichte konkret bedeutsam sind, zeigt sich vielmehr erst in den Erzählungen. Dies impliziert auch die Möglichkeit einer Irrelevanz der familialen Migrationsgeschichte bzw. der Positionierung als ‚Migrationsandere‘ oder ihrer Bedeutungslosigkeit in bestimmten Kontexten und Konstellationen. Biographieorientierte Zugängen beinhalten ein spezifisches Potenzial, soziale Typisierungen und alltagsweltliche Differenzkonstruktionen zu irritieren, weshalb sie sich gerade im Kontext von Forschungen zu gesellschaftlichen Differenzverhältnissen als Herangehensweise eignen. Bettina Dausien (2009) hat dies für das Feld der Frauen- und Geschlechterforschung folgendermaßen beschrieben: „Nachdem die Frauenforschung in ihren Anfängen ‚weibliche Biographien‘ zum Thema gemacht und dabei dualistische Konstruktionen wiederholt hatte, zeigte sich in der sozialwissenschaftlichen Forschung zu Lebensgeschichten rasch, dass derartige Typisierungen nicht haltbar sind. Zugespitzt gesagt gibt es keine eindeutig ‚weibliche‘ oder ‚männliche‘ Lebensgeschichte. Vielmehr findet sich in jeder Biographie eine Vielzahl von Merkmalen und Elementen, die im Hinblick auf ihre Typisierung nach Geschlecht mehrdeutig oder widersprüchlich sind oder für die die Geschlechterposition des biographischen Subjekts überhaupt irrelevant zu sein scheint“ (ebd.: 160).
Das Format der biographischen Erzählung fußt auf der Vorstellung einer Selbsterzählung, die sich durch die je individuelle Art und Weise auszeichnet, wie das gesellschaftliche Lebenslaufprogramm jeweils sinnhaft ausgestaltet wird. Das Präsentationsformat ‚Biographie‘ fordert die Subjekte dazu auf, ihre Lebensgeschichte nicht als ein Dokument kollektiver Zugehörigkeiten (als ‚Frau‘, als Person ‚mit Migrationsgeschichte‘ usw.) bzw. als Ausdruck der Positionierung im Raum gesellschaftlicher Differenzverhältnisse zu präsentieren, sondern als einmalige Geschichte eines Individuums. Die Erzählenden sind gefordert, einen „Individualitätsbeweis“ (Dausien 2009: 171) zu erbringen, der einer kategorialen Selbstverortung entgegensteht. „[N]icht die Kategorie Geschlecht wird ‚erzählt‘, sondern eine besondere Lebensgeschichte“ (ebd.). Damit können biographische Erzählungen die Erwartungen, die an vermeintlich ‚typische‘ Lebensgeschichten einer bestimmten sozialen Gruppe gerichtet werden, irritieren. Für die vorliegende Forschung bedeutet dies, dass der biographische Zugang, der die subjektiven Erfahrungsweisen und Selbstbeschreibungen der Subjekte ins Zentrum stellt, dazu beitragen kann, der Tendenz zu typisierenden Konstruktio-
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nen von ‚Studierenden mit Migrationsgeschichte‘ entgegenzuwirken. Dieses Potenzial zur „Enttypisierung“ (Dausien 2003b: 46) ist in biographischen Erzählungen prinzipiell enthalten, es bedarf allerdings auch einer systematischen Arbeit, es in der Analyse sichtbar zu machen. 6.3.2 Auswahl der Interviewpartner*innen Die Auswahl der Interviewpartner*innen orientierte sich an Kriterien, die sich aus dem Forschungsinteresse und dem Forschungsstand ergaben. Die Interviewten sollten Studierende des Lehramts oder der Erziehungswissenschaft sein, die entweder im Rahmen einer familialen Migration selbst als Kinder nach Deutschland gekommen oder deren Eltern nach Deutschland migriert sind. Zudem wurden die Interviewten danach ausgewählt, dass sie ihre Hochschulzugangsberechtigung in Deutschland erworben haben. Dies schloss sowohl Studierende ein, die von Beginn an eine deutsche Schule besucht haben als auch solche, die im Verlauf ihrer Schulzeit als sogenannte ‚Quereinsteiger*innen‘ ins deutsche Bildungssystem eingemündet sind. Die Vergleichbarkeit der einbezogenen Fälle wurde damit über formale Gemeinsamkeiten der Interviewten hinsichtlich der eigenen oder familialen Erfahrung der Migration, des erreichten Bildungsstatus und der fachlichen Ausrichtung ihres Studiums hergestellt. Es wurde bewusst darauf verzichtet, das Sample entlang nationaler oder ethnischkultureller Differenzierungen zu entwickeln, um deren Bedeutsamkeit für die Selbstund Zugehörigkeitsverständnisse der Interviewten nicht bereits vorab zu unterstellen und um schematische und vereindeutigende Identitätszuschreibungen und Ethnisierungen zu vermeiden. Damit wird an die Kritik eines „methodischen Nationalismus“ (Wimmer/Glick-Schiller 2002) angeknüpft, welcher – so Sabine Mannitz (2006: 10ff.) – „Migranten entlang ihrer Herkunftsnationalitäten abgrenzt und Fragen ihres Selbstentwurfs, ihrer Identitätsentwicklung und Integration im Einwanderungsland vor dem konzeptionellen Hintergrund von spezifischen anderen, national unterscheidbaren ‚Herkunftskulturen‘ beleuchtet“. Da das Interesse der Arbeit den Positionierungen der Subjekte im Kontext der Migrationsgesellschaft gilt, erschien es dagegen entscheidend, dass meine Interviewpartner*innen sich hier in sozialen Räumen positionieren müssen, in denen Zugehörigkeit und Differenz entlang (häufig unscharfer) natio-ethno-kultureller Kriterien zugeschrieben werden. Die Frage, in welchen Kontexten ‚Migration‘ als biographische Erfahrungskategorie für die Selbstverortungen der Subjekte relevant wird, wie diese Kategorie mit anderen sozialen Differenzlinien verknüpft ist (vgl. Winker/Degele 2009) und wie migrationsrelevante Differenzzuschreibungen biographisch angeeignet, transformiert oder zurückgewiesen werden, sollte empirisch beantwortet werden. Auch auf eine Eingrenzung entlang der sozialen Hintergründe der Befragten wurde verzichtet. Zwar erschien mir die Einbeziehung von Studierenden aus sozioökonomisch schlechter gestellten Familien ohne akademische Bildungstradition aus einer ungleichheitstheoretischen Perspektive wichtig. Jedoch entschied ich mich, auch Studierende einzubeziehen, deren Eltern über höhere Bildungsabschlüsse verfügen, um die empirisch gegebene Heterogenität sozialer Ausgangslagen von Studierenden aus gewanderten Familien auch im Samplingprozess abzubilden. Die Zu-
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sammensetzung der Studierenden aus gewanderten Familien an der Hochschule zeichnet sich durch ihre Vielfalt hinsichtlich nationaler und sozio-kultureller Hintergründe und Zugehörigkeiten aus. Dies spiegelt sich in der Literatur zu diesem Forschungsfeld bislang aber nur unzureichend wider (vgl. Kap. 2). In der Mehrzahl der vorliegenden Studien sind die Befragten Nachkommen der in den 1960er und 1970er Jahren eingewanderten Arbeitsmigrant*innen, die mit ihren Qualifikationswegen oft unter schwierigen Voraussetzungen einen Bildungsaufstieg vollzogen haben. Dabei richtet sich – wie in Kapitel 2 gezeigt wurde – die Aufmerksamkeit insbesondere auf Bildungsaufsteiger*innen türkischer Herkunft.5 Diese Schwerpunktsetzung lässt sich zwar damit erklären und begründen, dass diese Studierenden quantitativ betrachtet eine bedeutende Gruppe stellen und zudem potenziell besonders von rassistischer Ausgrenzung und kulturalisierenden Stereotypen betroffenen sind. Gleichwohl kann dadurch der Eindruck entstehen, es handele sich hier um eine prototypische Gruppe, deren Erfahrungen stellvertretend für die ‚migrantischer Studierender‘ schlechthin stünden. Dadurch können leicht typisierende Bilder entstehen, die vergessen lassen, dass die Erfahrungen Studierender in der Migrationsgesellschaft weitaus vielfältiger sind. Die Begrenzung des Samples auf Studierende, die sich in einem Studiengang mit pädagogischer Ausrichtung befanden, wurde von der aktuellen Debatte um die Repräsentation von Professionellen ‚mit Migrationsgeschichte‘ in pädagogischen Berufen angeregt, die sich für unterschiedliche pädagogische Handlungsfelder konstatieren lässt (vgl. Kap. 4.1). Zwar wird der Diskurs in der Öffentlichkeit derzeit noch insbesondere im Hinblick auf das Lehramt geführt, jedoch zeichnen sich auch andere pädagogische Handlungsfelder durch eine ähnliche Unterrepräsentanz von Professionellen ‚mit Migrationsgeschichte‘ aus (vgl. Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2010: 92). Das Kriterium für die Auswahl der Interviewpartner*innen bildete deshalb nicht ein bestimmter Studiengang, sondern die Beteiligung an einem Studium, das auf eine berufliche Tätigkeit der Befragten im Erziehungs- und Bildungswesen vorbereitet (vgl. dazu Karakaúoƣlu-Aydn 2000b). Ursprünglich war beabsichtigt, ausschließlich Studierende zu interviewen, die sich in den reformierten Studiengängen befinden und auf diese Weise die Bedeutung der neuen Studienstrukturen für die Erfahrungen der Studierenden zu erhalten. Diese Eingrenzung erwies sich jedoch als zu eng. Infolge der Umstellung der Studiengänge auf das Bachelor/Master-System zeichnete sich die Situation im Erhebungszeitraum (2008-2011) insbesondere im Bereich der Lehramtsstudiengänge durch ein extrem unübersichtliches Nebeneinander verschiedener Studiengänge und -ordnungen aus. Eine Eingrenzung auf BA-/MA-Studierende erwies sich deswegen als schwer praktikabel und hätte bedeutet, einigen Studierenden, die zu einem Interview bereit waren, 5
Marianne Krüger-Potratz hat die Fokussierung der Forschung auf Migrant*innen aus der Türkei und deren Nachkommen als ein generelles Phänomen in der deutschsprachigen Migrationsforschung problematisiert, da damit eine Gleichsetzung von Migrant*innen ‚türkischer‘ Herkunft mit Migrant*innen insgesamt verbunden sei (vgl. Krüger-Potratz 2005: 194ff.). Die Kritik richtet sich vor allem darauf, dass mit der Konstruktion einer scheinbar homogenen ‚ethnischen Gruppe‘ die Gefahr einer Reifikation kultureller Stereotype und ethnisierender und kulturalisierender Betrachtungen des jeweils untersuchten Phänomens einhergeht.
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aus formalen Gründen eine Absage erteilen zu müssen. Dies hätte die ohnehin nicht ganz einfache Suche nach Interviewpartner*innen zusätzlich verkompliziert. Die Interviews wurden mit Studierenden an zwei Universitätsstandorten durchgeführt. Die Universitäten A-Stadt und B-Stadt unterscheiden sich hinsichtlich ihrer geographischen Lage (Großstadt versus mittlere Stadt im ländlichen Raum). Für einen systematischen Feldvergleich wurde diese Auswahl zwar aufgrund der begrenzten Zeitkapazitäten des Projekts nicht genutzt.6 Die Einbeziehung von zwei Universitäten eröffnet aber eine etwas breitere Perspektive auf das Feld der Hochschule als wenn sich die Forschung auf nur eine einzigen Standort beschränkt hätte. Zudem ist die geographische Lage der Universitäten insofern von Bedeutung, als sie sich in der unterschiedlichen (lokalen) Herkunft der Studierenden an den beiden Orten widerspiegelt, die sich in B-Stadt eher aus dem urbanen Raum rekrutieren, während sich unter den Interviewpartner*innen aus A-Stadt viele Studierende finden, die aus der ländlichen Umgebung der Stadt stammen. In der Auswertung zeigte sich, dass dies u.a. Folgen für die Schullaufbahnen der Interviewten hatte. Der Verzicht auf eine empirische Untersuchung der Feldbedingungen des jeweiligen Studienkontexts bedeutet, dass diese nur vermittelt durch die Perspektive der Subjekte sichtbar werden. Die institutionellen und organisatorischen Bedingungen des Studiums, die Kultur der Universität und die lokalen Fachkulturen, die Zusammensetzung der Studierenden usw. werden also nur insoweit rekonstruierbar wie sie in den Interviews thematisiert werden bzw. dort ‚aufscheinen‘. 6.3.3 Erfahrungen beim Feldzugang Der Zugang zum Feld erwies sich als deutlich schwieriger als erwartet. Dies hatte zum einen organisatorische Gründe – die Distanz zwischen meinem Arbeitsort und den beiden Forschungsorten in Deutschland sowie die Ungleichzeitigkeit der Semesterzyklen erschwerten den Prozess. Zum anderen gab es keine persönlichen Kontakte zu Studierenden, die den Feldzugang erleichtert hätten, da die Interviews aus forschungsethischen Gründen an Universitäten durchgeführt wurden, zu denen ich keinen beruflichen Bezug hatte. 6
Um die Bedingungen des jeweiligen Studienkontextes genauer beschreiben zu können, hätte es einer eigenen Feldforschung und der Triangulation der Daten der Feldanalyse mit dem Interviewmaterial bedurft. Eine allgemeine Beschreibung der Studienbedingungen und -kulturen an den jeweiligen Standorten ohne empirische Forschung erschien schwer möglich, da das Untersuchungsfeld dafür zu uneinheitlich ist. Es gibt sowohl regionale Unterschiede zwischen dem Studium in A-Stadt und B-Stadt als auch zwischen der Struktur und der Kultur der jeweiligen Studiengänge (Lehramt- und Pädagogikstudiengang). Auch die Lehramtsstudiengänge selbst bilden kein einheitliches Untersuchungsfeld, da sie auf verschiedene Schulformen vorbereiten, durch die Fächer in verschiedene Fachkulturen eingebunden sind und der Anteil des Pädagogikstudiums im Lehramtsstudium variiert. Um diese Uneinheitlichkeit zu reduzieren, hätte das Sample sehr viel stärker eingegrenzt werden müssen, beispielsweise auf Studierende im gymnasialen Lehramtsstudium (MA) mit dem Fächern Deutsch und Geschichte. Eine solche Eingrenzung wäre aber aufgrund der geringen Zahl von Studierenden, auf die diese Auswahlkriterien zutreffen, forschungspraktisch schwer zu realisieren gewesen.
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Ich wählte unterschiedliche Wege, um Interviewpartner*innen zu gewinnen: Nachdem sich Aushänge an den Universitäten als wenig erfolgreich erwiesen hatten (lediglich ein Interview kam auf diese Weise zustande), suchte ich den persönlichen Kontakt zu Studierenden. In Absprache mit Lehrveranstaltungsleiter*innen stellte ich mein Vorhaben in einzelnen Lehrveranstaltungen vor, warb um die Beteiligung von Studierenden und hinterließ meine Kontaktdaten. Doch auch auf diesem Weg blieb die Resonanz begrenzt. Ich entwarf schließlich einen Flyer, auf dem ich mein Forschungsinteresse in Kurzform darstellte und um Kontaktaufnahme bat. Darin benannte mein Interesse an den Lebens- und Bildungswegen sowie den Studienerfahrungen von Lehramts- und Pädagogikstudierenden aus gewanderten Familien und verwies dabei auf den aktuellen Diskurs um Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘. Eine grundsätzliche Problematik bestand darin, eine Form der Adressierung potenzieller Interviewpartner*innen zu finden, die Etikettierungen so weit wie möglich vermeidet und zugleich einer möglichst breiten Gruppe von Studierenden geläufig ist. In meinen schriftlichen Gesuchen bevorzugte ich beschreibende Formulierungen meiner Suchkriterien; das grundlegende Dilemma einer Reproduktion von Differenzzuschreibungen an die adressierten Studierenden ließ sich jedoch nicht vermeiden. Als Verteilungsstrategie für den Flyer wählte ich zunächst den Weg über Studierendenvertretungen (Fachschaften) und studentische Vereine, die jedoch keine Resultate erbrachte.7 Infolgedessen nahm ich im nächsten Schritt erneut Kontakt zu Lehrenden an den beiden ausgewählten Universitäten auf und bat sie darum, die Flyer in ihren Lehrveranstaltungen zu verteilen und ihre Studierenden zur Teilnahme an erziehungswissenschaftlicher Forschung zu ermutigen. Dieser Weg wurde erst beschritten, nachdem die anderen Alternativen erprobt worden waren, denn er erschien mir aufgrund des Abhängigkeitsverhältnisses, in dem Studierende zu Lehrenden stehen, nicht ganz unbedenklich. Es lässt sich nicht ausschließen, dass Studierende sich unter Erwartungsdruck fühlen, sich zum Interview bereit zu erklären – in Vorgesprächen muss dies deshalb thematisiert werden. Eine weitere ‚Falle‘ dieses Zugangs wurde erst im Verlauf des Prozesses deutlich: Die Delegation der Informationsweitergabe an (andere) Lehrende bedeutete auch die Abgabe der Kontrolle über das Vorgehen. Die Eigenaktivitäten der Vermittler*innen gingen nicht selten weit über das reine Verteilen eines Flyers hinaus; einige Kontakte zu Studierenden kamen durch die gezielte Vermittlung durch Lehrende zustande, die diese Studierenden persönlich angesprochen hatten. Dadurch wurden Differenzzuschreibungen auf eine machtvolle Art und Weise in der persönlichen Interaktion zwischen Lehrenden und Studierenden reproduziert. Neben der Vermittlung durch Lehrende ergaben sich einige Interviews durch das Schneeballprinzip, d.h. die Vermittlung durch Kommiliton*innen, mit denen ich bereits ein Interview geführt hatte. Insgesamt wurden sechzehn Interviews geführt, von denen fünfzehn in die Analyse einbezogen wurden.8 Eine Übersicht über das Gesamtsample vermittelt die nachfolgende Abbildung. 7 8
Von letzteren bekam ich zwar hilfsbereite Antworten, allerdings wurde mir zugleich mitgeteilt, dass es wenig Kontakt zu Lehramts- oder Pädagogikstudierenden gebe. Ein Interview mit einer Studentin, die ihren Schulabschluss noch vor ihrer Migration erworben hatte, wurde von der Analyse ausgeschlossen, um die Heterogenität der im Sample repräsentierten Bildungsverläufe zu begrenzen.
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Abb. 1: Übersicht über das Gesamtsample Name
Studiengang und -fächer
Fachsemester/ Studienphase
Alter
(anonymisiert)
Studienort
Adrijana Coric
A-Stadt
Diplom Erziehungswissenschaft
kurz vor dem Abschluss
33
Nuray Coúkun
B-Stadt
BA Lehramt Sek II Spanisch/Geschichte
1. FS (BA)
24
Yanna Galanis
A-Stadt
Lehramt Grund-/ Haupt-/Realschule
kurz vor dem Abschluss
24
Marlena Janowski
A-Stadt
MA Lehramt Sek II, Französisch/Mathematik
3. FS (MA)
23
Dilan Karatay
A-Stadt
BA Erziehungswissenschaft
3. FS (BA)
21
Cem Keskin
B-Stadt
MA Lehramt Sek II Deutsch/Spanisch
1. FS (MA)
22
Ilena Lang
A-Stadt
BA Erziehungswissenschaft/Kunstgeschichte
5. FS (BA)
22
Bahar Merizadi
B-Stadt
MA Lehramt Sek II, Philosophie/Spanisch
1. FS (MA)
26
Kerim Özer
B-Stadt
BA Lehramt Sek II, Sozialwissenschaft/Türkisch
6. FS (BA)
23
Alicja Pajak
A-Stadt
BA Erziehungswissenschaft
5. FS (BA)
24
Darja Pohl
A-Stadt
BA Lehramt Grund- Haupt-/ Realschule
5. FS (BA)
24
Hans Schneider
A-Stadt
BA Lehramt Sek I Deutsch/Geschichte
2. FS (BA)
22
Anna Schuster
A-Stadt
Lehramt Primarstufe
kurz vor dem Abschluss
27
Sevda Yildirim
A-Stadt
BA Erziehungswissenschaft
3. FS (BA)
20
Meral Yilmaz
A-Stadt
Mag. Erziehungswissenschaft, Soziologie u. Islamwissenschaft
soeben abgeschlossen
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6.3.4 Durchführung der Interviews – Vorgehen und Erfahrungen Den Interviews ging jeweils ein Vorgespräch voraus, das – je nach den Wünschen und zeitlichen Kapazitäten der Interviewpartner*innen – in einem Café oder telefonisch stattfand. Die Gespräche dienten dazu, die Interviewpartner*innen genauer über mein Forschungsinteresse und das methodische Vorgehen zu informieren und ihnen Gelegenheit zur Klärung von Fragen, etwa zu meiner Forschungsmotivation oder zum Umgang und zur Verwertung des Datenmaterials zu geben. Darüber hinaus waren die Vorgespräche wichtig, um Vertrauen aufzubauen. Die Interviewten sollten vor ihrer Einwilligung zum Interview die Gelegenheit zu einem persönlichen Kennenlernen haben und etwas über meinen eigenen biographischen Werdegang erfahren können (vgl. Alheit 1982). Die Erfahrungen und Eindrücke, die ich aus den Vorgesprächen mitnahm, wurden in Protokollform festgehalten, die im Auswertungsprozess wieder herangezogen wurden. Ein Aspekt, der sich in den Vorgesprächen wie auch später in den Interviews als relevant erwies, war der Umstand, dass die Universität und speziell das Feld der Erziehungswissenschaft für mich und die Interviewten einen geteilten Erfahrungsraum darstellte. Auch wenn wir unterschiedliche Positionen in diesem Raum einnahmen, ergab sich dadurch eine Basis geteilten Wissens, die für die Herstellung eines Vertrauensverhältnisses förderlich war. Zugleich verfügten insbesondere die Studierenden in den Anfangssemestern durch das Studium in den reformierten Studiengängen über zum Teil sehr andere Studienerfahrungen als ich selbst, was es ermöglichte, eine Haltung interessierter Distanz einzunehmen und die Gefahr eines allzu schnellen ‚Verstehens‘ der Erfahrungen der Interviewten verringerte. Es waren also unterschiedliche Ebenen von Differenzen und Verbundenheiten zwischen meinen und den Erfahrungswelten der Interviewten präsent, die die soziale Konstellation in der Forschungssituation kennzeichneten. Insgesamt war mein Eindruck, dass mich die Interviewten weniger als eine ihrer Lebenswelt entrückte Wissenschaftlerin ansahen, sondern eher als eine fortgeschrittene Kollegin. Dies zeigte sich u.a. darin, dass viele von ihnen interessiert an einem Austausch über methodische Fragen waren. Dabei war sicher nicht unwichtig, dass ich nicht mehr als zehn Jahre älter war als die meisten meiner Interviewpartner*innen und die Distanz deshalb nicht als allzu groß wahrgenommen wurde. Auch wurde ich in einigen Fällen als Auskunftsquelle für Fragen genutzt, die sich auf die Möglichkeit eines wissenschaftlichen Berufswegs bezogen. So wurde ich von mehreren Interviewpartner*innen danach gefragt, welche Möglichkeiten es gibt, eine Promotion zu finanzieren oder welche Erfahrungen ich mit der Arbeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin gemacht habe. Die Interviews selbst fanden je nach Wunsch der Interviewpartner*innen bei ihnen zuhause oder in einer mir für Interviews zur Verfügung stehenden Wohnung einer Freundin statt. Die Rahmenbedingungen und die Eindrücke, die während des Interviews entstanden, wurden unmittelbar nach dem Interview protokollarisch festgehalten und bei der Auswertung berücksichtigt. Vor Beginn des Interviews wurden die Interviewpartner*innen gebeten, die vorbereitete Erklärung zur Verwendung der Interviews zu unterschreiben und danach gefragt, ob sie noch Fragen oder Bedenken zum Interview beschäftigen, die vorab geklärt werden sollten. Auch wurde in den meisten Fällen vereinbart, dass es die Mög-
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lichkeit eines Folgeinterviews gibt, falls sich im Nachhinein weitere Fragen meinerseits oder Ergänzungen auf Seiten der Interviewten ergeben sollten.9 Dann wurde das Interview mit einer offenen Erzählaufforderung begonnen, die sich auf die Erzählung der gesamten Lebensgeschichte bezog: „Ich würde dich jetzt darum bitten, mir deine Lebensgeschichte zu erzählen. Du kannst anfangen wo du möchtest und dir dafür soviel Zeit nehmen wie du brauchst. Ich werde ich dir erstmal nur zuhören und dich nicht unterbrechen. Anschließend würde ich dann gerne auf die Fragen zu sprechen kommen, die mir während deiner Erzählung in den Sinn gekommen sind. Um den Überblick besser zu behalten, werde ich mir deshalb ein paar Notizen machen, während du erzählst.“10
Dabei ergaben sich in der jeweiligen Interviewsituation leichte Abweichungen und Variationen in der konkreten Formulierung. Die Notizen während der Haupterzählung dienten mir im anschließenden Nachfrageteil als Grundlage, um Nachfragen zu den erzählten Ereignissen stellen zu können (vgl. Rosenthal 2014: 161ff.). Im externen Nachfrageteil wurden insbesondere vertiefende Fragen zum Studienbeginn und Erfahrungen im Studienverlauf gestellt. Jedes Interview wurde von meiner Seite aus mit der offenen Frage danach beendet, ob die Interviewten noch etwas ansprechen möchten, was noch nicht thematisiert wurde, oder sie zu einer Frage noch etwas ergänzen möchten. Die Dauer der Interviews variierte zwischen einer und knapp vier Stunden. Dabei fielen die biographischen Haupterzählungen in ihrer Dauer und Ausführlichkeit sehr unterschiedlich aus (zwischen vier Minuten und zwei Stunden). Während es einigen Studierenden leicht fiel, ohne weitere Vorgaben ihre Geschichte zu erzählen, kam in einigen Interviews keine zusammenhängende Erzählung zustande. Die ‚Haupterzählung‘ beschränkte sich dann im Wesentlichen auf eine schematische Präsentation der Stationen des Aufwachsens und des formalen Bildungsweges, ohne nähere Einblicke in die subjektive Erfahrungsqualität der Ereignisse zu geben. In manchen Fällen gelang es, durch Nachfragen zu den jeweiligen Stationen noch einmal längere Erzählungen anzuregen. Dem unterschiedlichen Verlauf der Interviews liegen verschiedene Dynamiken zugrunde, die sich kaum fallübergreifend bestimmen lassen, sondern am Einzelfall rekonstruiert werden müssen. Viele der Interviewten orientierten sich bei der Erzählung ihrer Lebensgeschichten an den Etappen ihres formalen Bildungsweges. Dies ist zum einen für biographische Erzählungen von Jugendlichen und jungen Erwachsenen ein nicht ungewöhnli9
Diese Möglichkeit wahrzunehmen erwies sich jedoch aus forschungspraktischen Gründen – der Einbindung der Beteiligten in unterschiedliche Semesterzyklen – und durch die hohe zeitliche Belastung der Studierenden als äußerst kompliziert, weshalb es in allen Fällen beim ersten Interview blieb. 10 Das „du“ entsprach der Verabredung, sich gegenseitig mit Vornamen anzusprechen. Das Duzen entspricht üblichen studentischen Kommunikationsformen und schien dem Verhältnis zwischen der Forscherin und Interviewten angemessen, das sich durch eine überschaubare Altersdifferenz sowie das geteilte Wissen um die sozio-kulturellen Gepflogenheiten im studentischen Feld auszeichnete. In den Falldarstellungen werden jedoch vollständige Namen verwendet.
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ches Phänomen – die formale Bildungslaufbahn stellt eine Strukturierungshilfe dar. Auch in anderen Studien wird darauf hingewiesen, dass Jugendliche bzw. junge Erwachsene ihre Lebensgeschichte oft „entlang der institutionellen Strukturen des Schulsystems erzählen“ (Schneider 2013: 62). Im konkreten Fall hat aber vermutlich auch die Information über mein Forschungsinteresse an „Bildungsbiographien“ im Vorfeld des Interviews zu dieser Art der narrativen Strukturierung beigetragen, das von einigen Interviewten in erster Linie als Interesse an der formalen Bildungslaufbahn interpretiert wurde. Zudem bildeten ja Merkmale des formalen Bildungswegs (höhere Schullaufbahn absolviert, universitäres Studium begonnen) zentrale Kriterien für die Auswahl der Interviewpartner*innen. Den Interviewten wurde dadurch bereits durch die Art der Ansprache nahe gelegt, dass ihre formale Bildungslaufbahn im Rahmen ihrer Lebensgeschichte von Relevanz ist. Hinzu kommt, dass die Interviewten durch ihre Studienwahl sich in einem Feld bewegen, in dem sie sich selbst darauf vorbereiten, in professionellen Funktionen im Bildungsbereich tätig zu werden und sich mit entsprechenden (Theorie-)Perspektiven beschäftigen. Diese fachliche Verortung wurde auch immer wieder darin deutlich, dass manche der Interviewten zum Teil fachsprachliche Begriffe benutzten, oder Theorien (implizit) als Deutungswissen für ihre Erfahrungen heranzogen. Die Nähe der Interviewten zu fachlichen Diskursen, die sie mit mir als Forscherin teilten, barg dabei allerdings in einzelnen Fällen auch das Risiko, dass die Beteiligten in den (vertrauten) Modus einer Thematisierung von Phänomenen aus einer wissenschaftlichen ‚Expert*innenperspektive‘ zu rutschen drohten. Einige der Interviewten nutzten ihre Position als Forschungssubjekte auch als eine Gelegenheit für politische Stellungnahmen. Die Teilnahme an Forschung wurde als Gelegenheit aufgefasst, sich mit eigenen Positionen zu bildungs- und migrationspolitischen Fragen einbringen zu können. Mit ihrer Teilnahme an Forschung verband sich für sie die Hoffnung, durch die Mitwirkung an einer wissenschaftlichen Arbeit ihre Stimme in den dominanten Diskurs um Migration, Integration und Bildung einbringen und zum Aufbrechen kulturalisierender Stereotype oder zur Differenzierung der öffentlich dominanten Defizitperspektive auf Migrant*innen beitragen zu können. Andere verbanden mit der Präsentation der eigenen Bildungsgeschichte eine gezielte Kritik am Bildungssystem. In einem Fall wurde das Interview vor allem dazu genutzt, die eigene Unzufriedenheit mit den neuen Studienstrukturen zu formulieren. Die durch die Adressierung der Studierenden implizite Unterstellung einer – wenn auch nicht näher bestimmten – Relevanz von ‚Migration‘ oder der Positionierung als ‚Migrationsandere‘ für ihre Biographien war für den Verlauf der Interviews unterschiedlich bedeutsam. Die offen gehaltene Erzählaufforderung bot in einigen Selbstpräsentationen genug Raum für die Präsentation von Lebenserzählungen, in denen der Kategorie ‚Migration‘ keine herausgehobene Bedeutung zukommt. Stattdessen traten ganz andere lebensgeschichtliche Relevanzen und Erfahrungsdimensionen in den Vordergrund. Zudem zeigt sich, dass mit der Positionierung der Subjekte in der Migrationsgesellschaft unterschiedliche Erfahrungen und Bedeutungsdimensionen verbunden sind. Allerdings lassen sich auch Effekte rekonstruieren, die auf die diskursive Rahmung des Forschungsgeschehens und die Positionierungen zwischen Interviewerin und Interviewten in dieser Situation verweisen. Diese werden in der Art und Weise
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erkennbar, wie erzählt wurde, welche Deutungen vorgenommen wurden und wie Erzählungen über bestimmte Ereignisse argumentativ gerahmt wurden. So fällt in manchen Interviews etwa ein besonders vorsichtiger Umgang auf, wenn es um kritische Bezugnahmen auf „Deutsche“ geht. Diese Vorsicht zeigt sich in Versuchen der Prävention antizipierter Missverständnisse („es ist nichts Negatives gegen die Deutschen gemeint. Also - nicht dass du das falsch verstehst“ (Yanna Galanis 19/32-33)) und in einem stark reflexiven Sprachgebrauch und distanzierenden Formulierungen („also wir waren dann - in der zwölften Klasse - zu achtzig Prozent Deutsche in=in=in dieser Klasse, und das war natürlich dann nochmal - für mich nochmal so ne Überwindung sag ich mal in Anführungsstrichen“ (Nuray Coúkun 18/5-7)). In solchen Interviewpassagen spiegelt sich sowohl die Sorge wider, mir als Forscherin, die als ‚Mehrheitsangehörige‘ wahrgenommen wurde, zu nahe zu treten, als auch die in einem Interview explizierte Befürchtung, Äußerungen könnten bei der Interpretation des Materials aus dem Zusammenhang gerissen und als „deutschenfeindlich“ ausgelegt werden.11 Ein anderes Phänomen, das in mehreren Interviews erkennbar wird und ebenfalls auf die diskursive Rahmung des Forschungsgeschehens und die Konstellation der beteiligten Personen verweist, betrifft die Demonstration der eigenen ‚Integrationsbereitschaft‘ – z.B. durch die Betonung, ‚deutsche‘ Freunde zu haben, die Hervorhebung der Relevanz bestimmter kultureller Traditionen im Familienleben („wir feiern zum Beispiel - seitdem ich denken kann Weihnachten - immer mit nem Christbaum, immer mit Geschenken - Heiligabend - und wir haben immer - IMMER - Ente mit Rotkohl und Kartoffeln gegessen“ (Bahar Merizadi 24/27-29) – oder auch das implizite Entschuldigen des ‚Fehlens‘ solcher ‚Integrationsbeweise‘. Das Paradigma der Integration, mit dem sich meist die Forderung an von den Eingewanderten zu erbringenden Integrationsleistungen verknüpft, dominiert seit einiger Zeit die politische und öffentliche Diskussion um Migration in Deutschland. Auch fielen Ereignisse wie die Veröffentlichung des öffentlich breit diskutierten Buchs „Deutschland schafft sich ab“ des ehemaligen Berliner Innensenators Thilo Sarrazin (2010)12 in die Zeit, in der die Interviews erhoben wurden. Die Konstellation der an der Interviewsituation Beteiligten trug indes vermutlich mit dazu bei, dass die Bezugnahme auf diesen öffentlich präsenten Diskurs um Integration und Bildung auf diese Weise erfolgte. Ein weiterer Effekt der Positionierung von Interviewerin und Interviewten betrifft die Erklärung und tendenziell auch Legitimierung der (familialen) Migration, indem etwa Situationen und Umstände im Herkunftsland (der Eltern) erläutert werden, die ursächlich dafür waren. Diese Tendenz wurde teilweise auch durch mein Nachfrage11 Diese Angst ist vor dem Hintergrund eines öffentlichen Diskurses zu verstehen, in dem – meist unter Ausblendung statistischer Häufigkeiten und struktureller Machtverhältnisse – Fälle von Diskriminierung von Majorisierten durch Minorisierte skandalisiert werden. Bei kritischen Äußerungen im Interview sehen sich die Interviewten deshalb dazu genötigt, den möglichen Verdacht von Ressentiments gegen ‚Deutsche‘ auszuräumen. 12 Das Buch wurde vielfach für seine populistische und pseudowissenschaftliche Argumentationslogik kritisiert, der u.a. von der Anti-Rassismus-Kommission des Europarats eine Nähe zu „eugenischen Theorien der Nationalsozialisten“ bescheinigt wurde (Süddeutsche Zeitung, 25.2.2014).
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verhalten befördert, das oft an der familialen Migrationsgeschichte (als einem meist früh in der Haupterzählung genannten biographischen Datum) ansetzte. In zwei Interviews mit Studenten wurde paradoxerweise offenbar gerade die Anforderung, die eigene Lebensgeschichte in ihrer individuellen Besonderheit zu erzählen, als potenzielle Bedrohung des eigenen Normalitätsanspruches wahrgenommen und durch unterschiedliche Strategien unterlaufen. Die Interviewten waren bestrebt, die Normalität der eigenen Biographie zu betonen und der möglichen Erwartung an ‚besondere‘ Erfahrungen durch normalisierende und distanzierende Präsentationsstrategien zuvorzukommen. In einem Fall versetzte sich der Interviewte in die Position eines Chronisten, der aus einer distanzierten Expertenperspektive über die historischpolitischen Hintergründe der kollektiven Migrationsgeschichte russlanddeutscher Aussiedler*innen sprach. Die wiederholten Versuche, ihn zur Erzählung der eigenen, persönlichen Erfahrungen anzuregen, erwiesen sich als begrenzt erfolgreich. Die Erzählung eigener Erlebnisse und Handlungen erfolgte zudem beständig mit dem Verweis auf die Gewöhnlichkeit der eigenen Erfahrungen. Im zweiten Fall hielt der Interviewte seine Haupterzählung denkbar knapp (vier Minuten) und bezog insbesondere in argumentativer Weise zum Diskurs um Migration und Integration Stellung, was es ihm ebenfalls ermöglichte, sich von der Anforderung des Über-Sich-SelbstSprechens weitgehend zu distanzieren. 6.3.5 Auswertung des Interviewmaterials Transkription und Anonymisierung Die Interviews wurden zunächst vollständig und wörtlich transkribiert. Dabei wurden sie zugleich einer Anonymisierung unterzogen, in der alle Personennamen, Institutions- und Ortsangaben sowie weitere Angaben, die direkte Rückschlüsse auf die Interviewten zulassen, aus dem Transkript entfernt und durch alternative Angaben ersetzt wurden. Diese wurden so gewählt, dass Bedeutungsgehalte, die in den ursprünglichen Angaben enthalten sind und möglicherweise für die Forschung relevant sein könnten, im Anonymisierungsvorgang erhalten bleiben. Dies bedeutet etwa, dass Ortsangaben zwar verfremdet wurden, aber die Zuordnung zu einer Großstadt oder einem Dorf aufrechterhalten wurde. Auch wurden die Namen meiner Interviewpartner*innen jeweils durch Namen gleicher sprachlicher Herkunft ersetzt, da sich mitunter signifikante Erfahrungen mit den „Mitgliedschaftssignalen“ (Mecheril 2003: 154) verbanden, die mit den jeweiligen Namen verknüpft sind. Zweites Sampling Orientiert am Prinzip des Theoretischen Sampling fanden die Erhebung und Auswertung der Interviews zeitlich parallel bzw. in zeitlicher Überschneidung statt. Es ist jedoch kaum möglich, bereits die erste Auswahl von Interviewpartner*innen so zu gestalten, dass sie inhaltlich begründeten (nicht formalen) Kontrastierungskriterien entspricht, da die Besonderheiten des jeweiligen Falls nicht im Vorhinein bekannt sind, sondern erst bei der Auswertung des Materials deutlich werden. Dies ist ein allgemeines Problem von Studien, die auf Interviews basieren. Strauss/Corbin (1996: 164) weisen darauf hin, dass Interviews oft durchgeführt werden, ohne dass die Forschenden „über einen Zugang zu genau den Personen verfügen, die aus theoretischen Gründen als nächste interviewt werden sollten.“ Wenngleich dies bedeutet, dass ein
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theoretisches Sampling bei der Erhebung deshalb in der Regel nur eingeschränkt realisiert werden kann, so ist es doch möglich, innerhalb des erhobenen Materials Auswahlentscheidungen zu treffen und Vergleiche vorzunehmen, die dem Prinzip maximaler und minimaler Fallkontrastierungen folgen (vgl. ebd.). Während maximale Vergleiche darauf abzielen, übergeordnete Strukturprinzipien herauszuarbeiten, die selbst sehr unterschiedlichen Fällen gemein sind (vgl. Schütze 1983a: 288), wird mit minimalen Vergleichen angestrebt, Ergebnisse aus einer Fallanalyse zu differenzieren, indem man sie mit einem Fall konfrontiert, der Ähnlichkeiten aufweist, aber möglicherweise auf weitere Bedingungen und Konstellationen verweist, die eine Differenzierung der Ergebnisse der ersten Fallanalyse ermöglichen. Was einen Fall ausmacht, ergibt sich somit nicht allein induktiv aus dem Material heraus, sondern hängt auch mit dem eigenen Forschungsinteresse und den theoretischen Perspektiven auf das Material zusammen. Dieser Logik folgte das zweite Sampling (die Auswahl der Fälle für eine ausführliche Analyse und Darstellung). Als erstes wurde ein Interview ausgewählt, das aufgrund seiner Dichte und Komplexität als besonders ergiebig für die Analyse zu sein versprach. Im weiteren Verlauf wurden sukzessive drei weitere Fälle für die fallrekonstruktive Analyse ausgewählt.13 Die Auswahl der weiteren Interviews erfolgte auf Basis von Vergleichsdimensionen, die sich bei der Analyse des ersten Interviews herauskristallisiert hatten. Diese Vergleichsdimensionen wurden im Verlauf des weiteren Auswertungsprozesses sukzessive erweitert und differenziert. Zwei Dimensionen wurden schließlich besonders fokussiert: a) die Bedeutung des pädagogischen Studiums in der bildungsbiographischen Prozessstruktur sowie b) die Formation von Zugehörigkeitsverständnissen in der Biographie. Neben diesen inhaltlichen Kriterien wurden bei der Fallauswahl Differenzen und Gemeinsamkeiten berücksichtigt, die eher auf der ‚Außenseite‘ der Biographien anzusiedeln sind; dazu zählte vor allem die Positionierung der Subjekte im sozialen Raum14, der familiengeschichtliche Hintergrund und der Verlauf des Bildungsweges bis zum Studium. Diese Aspekte bildeten nicht die zentralen Auswahlkriterien, wurden aber bei der Entscheidung für einen möglichen nächsten Fall mit berücksichtigt. Aus den Analysen gingen vier Einzelfalldarstellungen hervor, die im Hinblick auf die genannten Kontrastdimensionen als
13 Das Vorgehen bei den Einzelfallanalysen wird in Kapitel 5.3.6 genauer beschrieben. 14 Da meine Auswahlstrategie nicht auf die Rekrutierung von Studierenden eines bestimmten sozio-kulturellen Herkunftsmilieus abzielte, sind im Sample Studierende mit sehr unterschiedlichen Herkunftsgeschichten repräsentiert. Dies zeigt sich bereits bei der Betrachtung der formalen Bildungsabschlüsse der Eltern: An einem Ende des Spektrums sind Fälle vertreten, in denen die Eltern nur eine geringe formale Schulbildung erworben haben und in Deutschland ungelernten beruflichen Tätigkeiten nachgehen. Acht Interviewpartner*innen haben als erste Personen in der Familie ein Studium aufgenommen (Adrijana Coric, Marlena Janowski, Ilena Lang, Kerim Özer, Alicja Pajak, Darja Pohl, Anna Schuster, Sevda Yildirim), in drei weiteren Fällen gibt es ältere Geschwister, die bereits studiert haben (Meral Yilmaz, Cem Keskin, Hans Schneider). Am anderen Ende des Spektrums gibt es Fälle, in denen mindestens ein Elternteil über einen – zum Teil in Deutschland erworbenen – Hochschulabschluss verfügt (Bahar Merizadi, Dilan Karatay, Yanna Galanis, Nuray Coúkun).
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‚Eckfälle‘ des Samples verstanden werden können (genauer dazu vgl. die Ausführungen zu Beginn von Teil III dieser Arbeit). Neben diesen inhaltlichen und formalen Kontrastkriterien ist die Auswahl der präsentierten Fälle auch ein Resultat pragmatischer Entscheidungen. Da die Bildungsgeschichten und Selbstverständnisse der Studierenden im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte untersucht werden sollen, war die Analyse auf Material angewiesen, das eine Rekonstruktion übergreifender biographischer Prozesse ermöglicht. Dafür erwiesen sich nicht alle Interviews als gleichermaßen geeignet. Für die Falldarstellungen wurden daher Interviews ausgewählt, bei denen die biographische Haupterzählung in ihrer formalen Struktur und ihrer inhaltlichen ‚Dichte‘ eine ausreichende Basis für eine solche Analyse bot. Dies hatte den ungewollten Nebeneffekt, auf ausführliche Fallrekonstruktionen der Biographien meiner männlichen Interviewpartner verzichten zu müssen (vgl. dazu auch Kap. 6.3.1). Die drei Interviews, die mit männlichen Studierenden geführt wurden, gingen zwar in die Auswertung ein, eigneten sich aber nicht für eine intensive Einzelfallrekonstruktion. Sie werden, ebenso wie weitere Interviews, im fallkontrastiven Teil der Arbeit berücksichtigt. Das Vorhaben, Studierende unterschiedlicher Geschlechterzugehörigkeiten in das Sample einzubeziehen, konnte damit nur eingeschränkt eingelöst werden. Auch in dieser Studie15 liegt der Schwerpunkt somit auf der Rekonstruktion der Bildungsbiographien junger Frauen. Analysen auf der Einzelfallebene Die Analyse des erhobenen Interviewmaterials erfolgte in einem mehrstufigen Prozess. Zunächst wurde eine Grobanalyse aller Interviews vorgenommen: Zu allen Interviews wurden formale Übersichten erstellt, in denen der Ablauf des Interviews und die Abfolge der angesprochenen Themen festgehalten wurden. Für alle Fälle wurde eine chronologische Übersicht über die biographischen Eckdaten erstellt, um einen Überblick über die zentralen lebensgeschichtlichen Ereignisse zu erhalten. Darüber hinaus wurde der Interviewbeginn in allen Fällen einer Analyse unterzogen, um erste Thesen zu den Besonderheiten des Interviews festhalten zu können. Diese Schritte ermöglichten eine erste Annäherung an das vorhandene Interviewmaterial, auf deren Basis dann Auswahlentscheidungen für den weiteren Analyseprozess getroffen werden konnten. Die Auswertung der für eine ausführliche Fallrekonstruktion ausgewählten Interviews (vgl. Kap. 6.3.2) erfolgte in Anlehnung an das Vorgehen der Narrationsanalyse (vgl. Schütze 1983a; 1984; 1987). Die Interviews wurden zunächst einzelfallbezogen in ihrer jeweiligen Prozesslogik rekonstruiert, bevor in einem nächsten Schritt durch vergleichende Analysen Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen Fällen herausgearbeitet wurden.16 Dieses Vorgehen erschien angemessen, da sich das Forschungsvorhaben auf die Analyse von Bildungswegen und -erfahrungen im lebensgeschichtlichen Zusammenhang und die Verknüpfung von Erfahrungen in bildungsrele15 Wie in Kapitel 2.1 aufgezeigt wurde, ist die Bedeutung der Kategorie ‚Geschlecht‘ für Bildungsgeschichten im Kontext von Migration bislang eher einseitig beleuchtet, da sich die Mehrzahl der vorliegenden Studien auf die Biographien von Frauen bezieht. 16 Allerdings setzte der Prozess der Auswahl des jeweils nächsten Falles für die Einzelfallanalyse bereits zumindest implizite Vergleiche zwischen den Interviews voraus.
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vanten Kontexten bezieht. Das narrationsstrukturelle Verfahren schien dafür besonders geeignet, hat es doch zum Ziel, „die Prozesshaftigkeit, die in dieser [der biographischen, D.S.] Erfahrungsrekapitulation zum Ausdruck kommt, wissenschaftlich zu rekonstruieren“ (Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 223, Hervh. i. Orig.). Allerdings wurden die Auswertungsschritte dem Untersuchungsgegenstand und -material entsprechend variiert. So wurden etwa die diskursiven und interaktiven Rahmungen der Forschungssituation (vgl. Dausien 2003a: 180ff.; s.a. Kap. 6.2.3) systematisch in die Analyse einbezogen. In einem ersten Schritt wurden die Interviewtexte auf ihre formale Struktur hin analysiert (vgl. Schütze 1987). Es erfolgte dabei eine Einteilung in Textsegmente, die sich an formalen Merkmalen des Texts (z.B. Wechsel zwischen den jeweils dominanten Modi der Sachverhaltsdarstellung, Rahmenschaltelemente, Pausen, unterschiedliche Detaillierungsgrade) sowie inhaltlichen Aspekten (z.B. Themenwechsel) orientierten. Ziel der formalen Textanalyse war es, übergeordnete Erzählstränge zu identifizieren, Zusammenhänge zwischen verschiedenen Segmenten zu erkennen und so die formale Gestalt der Erzählung sichtbar zu machen. Die Ergebnisse der formalen Analyse wurden in Form von Verlaufsprotokollen festgehalten, die eine Übersicht über den Ablauf des Interviews, die angesprochenen Themen sowie die wechselnden Modi der Sachverhaltsdarstellung geben (vgl. Dausien 1996: 128). Anschließend wurden die biographischen Haupterzählungen einer sequenziellen Analyse unterzogen, die sich an der strukturellen inhaltlichen Beschreibung (vgl. Schütze 1983a: 286) orientierte. Die strukturelle Beschreibung ist ein kleinschrittiger Analysevorgang, der dazu dient, „die biographischen Ereignisse in ihrer dargestellten Verkettung und die sich verändernde Haltung der Erzählerin zu diesen Ereignissen, ihrer Lebensgeschichte und zu sich selbst herauszuarbeiten“ (Dausien 1996: 129). Sequenzanalytischen Verfahren liegt die Prämisse zugrunde, „dass die temporale Abfolge von Interaktionen ‚eine eigene Art von Ordnung erzeugt‘ (Willems 1996: 446). Ziel der Analyse ist die Rekonstruktion dieser im prozessualen Geschehen immer wieder neu herzustellenden und sich verändernden sozialen Wirklichkeit“ (Rosenthal 2014: 71). Soziale Handlungsabläufe werden als eine Abfolge von Auswahlprozessen verstanden, mit denen sich jeweils bestimmte Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder verschließen (vgl. ebd.). Für die Analyse von Erzählungen bedeutet dies, dass die jeweils gewählte Form ein Ereignis zu erzählen vor dem Horizont möglicher anderer Formen der Darstellung zu analysieren ist. Erst so wird erkennbar, worin die Besonderheit der im konkreten Fall getroffenen Auswahl liegt und welche Möglichkeiten sie für die Gestaltung des weiteren Verlaufs der Erzählung erzeugt. Dieses Vorgehen korrespondiert mit dem Prinzip der Offenheit, da es die Forscher*innen zwingt, sich auf die Prozesslogik des jeweiligen Falls einzulassen und damit die vorschnelle Kategorisierung von Phänomenen erschwert. Durch das schrittweise Vorgehen bei der Interpretation wird es möglich, der Prozesshaftigkeit der Herstellung sozialer Wirklichkeit, die der Entstehung des Datenmaterials zugrunde liegt, in der Textanalyse Rechnung zu Tragen. In sequenziellen Analysen können auf diese Weise sowohl falltypische Muster als auch Diskontinuitäten und Brüche herausgearbeitet werden. Die Haupterzählungen wurden dafür in Sinneinheiten, d.h. abschnittsweise, lineby-line oder in bestimmten Fällen auch in noch kleineren Einheiten interpretiert, ohne bereits den weiteren Verlauf des Texts bei der Analyse einzubeziehen. Viel-
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mehr wurden möglichst verschiedene Lesarten bzw. Hypothesen zu der jeweiligen Textsequenz entwickelt. Diese bezogen sich sowohl auf deren Inhalt der jeweiligen Sequenz – was wird gesagt und was nicht – als auch darauf, wie ein Sachverhalt präsentiert wird. 17 Während Fritz Schütze die strukturelle Beschreibung auf die narrativen Teile des Interviewtexts beschränkt und die Analyse der Eigentheorien der Interviewten in einem separaten Analyseschritt – der „Wissensanalyse“ (Schütze 1983a: 286) – durchführt, wurde auf eine Trennung der beiden Analyseschritte in der vorliegenden Studie verzichtet. Vielmehr wurden die gegenwärtigen Deutungen und Eigentheorien der Interviewten bereits in der strukturellen Beschreibung immer wieder in Bezug zu den erzählten Handlungen, Ereignissen und Deutungsweisen gesetzt. Als analytisches ‚Werkzeug‘ in der Einzelfallanalyse wurden die „kognitiven Figuren des autobiographischen Stegreiferzählens“ (Schütze 1984; vgl. Kap. 6.2.2) herangezogen. Insbesondere die von Fritz Schütze als zweite kognitive Figur bezeichnete Heuristik der „Darstellung lebensgeschichtlich relevanter Zustandsänderungen des Biographieträgers und seiner entsprechenden Ereignisverstrickungen“ erwies sich dabei als hilfreich. Schütze differenziert hierbei unterschiedliche verschiedene biographische „Erfahrungshaltungen, die der Biographieträger den lebensgeschichtlichen Erfahrungsabläufen gegenüber einnimmt“ (ebd.: 92). Für verschiedene Phasen der Lebensgeschichte lassen sich damit unterschiedliche Erfahrungshaltungen rekonstruieren, die im Hinblick auf die jeweilige lebensgeschichtliche Phase bestimmend sind. Schütze unterscheidet dabei vier Varianten biographischer Prozessstrukturen: (1) Biographische Handlungsschemata, (2) Institutionelle Ablaufmuster, (3) Verlaufskurven und (4) Wandlungsprozesse. Diese unterscheiden sich im Hinblick auf den Grad der Intentionalität und der Handlungsmacht, welche die Biograph*innen sich selbst für die jeweilige Lebensphase zuschreiben (vgl. Schütze 1984: 95). So stehen Handlungsschemata für eine planende Haltung und die Erfahrung der (versuchten) Umsetzung dieser Pläne (vgl. ebd.: 92), was eine Disposition gegenüber der ‚Welt‘ voraussetzt, die durch eine hohe Selbstwirksamkeitserwartung gekennzeichnet ist. Für die Prozessstruktur institutioneller Ablaufmuster ist dagegen eine Orientierung des Biographen bzw. der Biographin an einem sozio-kulturellen und/oder institutionellen „Erwartungsfahrplan[…]“ (ebd.) charakteristisch. Verlaufskurven, die von Schütze am ausführlichsten untersucht worden sind, repräsentieren Erfahrungshaltungen, in denen sich die Biograph*innen zunehmend heteronomen Bedingungen unterworfen sehen, die sie als „übermächtig“ (ebd.) wahrnehmen und sie den Verlauf der Ereignisse infolgedessen als nicht kontrollierbar erfahren. Wandlungsprozesse beschreiben schließlich Prozesse, in denen es durch für die Biograph*innen selbst unerwartete Ereignisse zu einer spontanen Veränderung der eigenen „Erlebnis- und Handlungsmöglichkeiten“ (ebd.) kommt.18 17 Für die Generierung unterschiedlicher Lesarten, die über den eigenen Horizont hinausreichen, war insbesondere die gemeinsame Interpretation von Interviewsegmenten im Rahmen von Forschungswerkstätten und Interpretationsgruppen immer wieder hilfreich. 18 Die von Schütze beschriebenen Prozessstrukturen, insbesondere das Konzept des Wandlungsprozesses, sind in verschiedenen biographieanalytischen Studien für die empirische Analyse von Lern- und Bildungsprozessen herangezogen worden (vgl. z.B. Nohl 2006; von Felden 2011).
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Im Anschluss an die strukturelle Beschreibung der Haupterzählung wurden Feinanalysen von weiteren ausgewählten Kernstellen aus dem (stärker strukturierten) Nachfrageteil des Interviews durchgeführt.19 Diese ermöglichten zum einen eine Überprüfung und Differenzierung der vorläufigen Hypothesen, die sich in der strukturellen Beschreibung der Haupterzählung ergaben. Zum anderen wurden gezielt solche Interviewpassagen für eine Feinanalyse ausgewählt, die im Hinblick auf die Rekonstruktion der Erfahrungen der Interviewten im Kontext des (pädagogischen) Studiums relevant waren.20 Dabei wurde ein weiteres Analyseinstrument herangezogen – das Konzept der Positionierung(sanalyse) (vgl. Lucius-Hoene/Deppermann 2002; 2004). Dieses erwies sich als geeignetes Analyseinstrument, um die Selbst- und Fremdverortungen der Subjekte in wechselnden sozialen und institutionellen Kontexten genauer zu rekonstruieren. Das Konzept der Positionierung wird von den Autor*innen als Analysestrategie im Rahmen ihres Ansatzes der Rekonstruktion Narrativer Identität eingeführt. Es bezeichnet demnach „zunächst ganz allgemein die diskursiven Praktiken, mit denen Menschen sich selbst und andere in sprachlichen Interaktionen aufeinander bezogen her- und darstellen“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2004: 171). Konkreter werden Positionierungen als eine interaktive (sprachliche) Praxis verstanden, in denen Personen den sozialen Raum und „ihre jeweiligen Positionen darin festlegen, beanspruchen, zuweisen und aushandeln“ (Lucius-Hoene/Deppermann 2002: 196). Vor dem Hintergrund der doppelten Zeitlichkeit in biographischen Erzählungen unterscheiden die Autor*innen zwei Ebenen der Positionierung: Zum einen finden sich in biographischen Erzählungen „Positionierungen innerhalb des erzählten Ereignisses“ (ebd.: 201): Hierunter werden konkrete (Interaktions-)Handlungen des erzählten Ich und/oder anderer Akteur*innen in der erzählten Zeit verstanden, in denen diese ihre jeweiligen Positionen und Relationen zueinander aushandeln (vgl. ebd.: 203f.). Bei diesen erzählten Positionierungsakten handelt es sich nicht um ein ‚Abbild‘ der ‚tatsächlichen‘ damaligen Interaktionshandlungen, sondern immer um narrative Konstruktionen, die seitens des erzählenden Ich aus der Gegenwartsperspektive vorgenommen werden (vgl. ebd: 205). Zum anderen findet eine „selbstbezügliche Positionierung des erzählenden Ich durch die Positionierung des erzählten Ich und anderer Personen der Geschichte“ (ebd.: 206) in der Erzählzeit statt. Die Erzählerin/der Erzähler bezieht sich also aus der Gegenwartssituation heraus auf die damaligen Ereignisse und setzt sich dazu reflexiv ins Verhältnis. Durch retrospektive Evaluationen, Stellungnahmen oder Neubewertungen des damaligen Handelns (oder des Handelns anderer Beteiligter) werden Positionsverschiebungen und Neupositionierungen möglich. 19 Als Kernstellen sind Interviewpassagen zu verstehen, die „gleichsam Schnittmengen zwischen der Präsentationslogik des Einzelfalls und der übergeordneten Forschungsfrage“ bilden (Alheit/Bast-Haider/Drauschke 2004: 137). 20 In der Analyse galt es zu beachten, dass die befragten Studierenden sich in unterschiedlichen Phasen ihres Studiums befanden. Dies bedeutet, dass sich ihre jeweiligen Perspektiven auf das Studium unterscheiden – für die einen lag diese Zeit schon beinahe in der unmittelbaren Vergangenheit, andere standen noch ganz am Anfang des Studiums. In der Auswertung war daher zu berücksichtigen, dass die Studienerfahrungen daher unterschiedlich stark biographisch ‚bearbeitet‘ sind.
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Durch den Gedanken, dass Positionierungen eine relationale Praxis darstellen, sind die Individuen stets zugleich Subjekte und ‚Objekte‘ von Positionierungshandlungen. Sie müssen sich zu den Positionszuweisungen anderer verhalten und sich in ihren eigenen Positionierungshandlungen auf vorangegangene Positionierungsakte beziehen. Selbstpositionierungen sind dadurch nicht beliebig ‚frei‘, sondern durch die vorausgegangen Ereignis- bzw. Erzählsequenzen bestimmt, welche die weiteren Positionierungsmöglichkeiten strukturieren. Das Konzept eröffnet damit sowohl Analysemöglichkeiten im Hinblick auf den Aspekt des (heteronomen) PositioniertWerdens als auch auf die Möglichkeiten des Sich-Positionierens seitens der Subjekte im jeweiligen Kontext. In der vorliegenden Studie wurde die Positionierungsanalyse dazu genutzt, die jeweiligen Strategien sowie Möglichkeiten und Grenzen der (Selbst-)Positionierung der Studierenden in den jeweiligen Räumen, vor allem im Kontext Universität, zu rekonstruieren. Dabei wurde davon ausgegangen, dass die Selbstpositionierungen, die sich im Interviewtext herausarbeiten lassen, auch Rückschlüsse auf die feldspezifischen Bedingungen und Praktiken in ermöglichen, die den Möglichkeitsraum für die Selbstpositionierungen der Subjekte präfigurieren. Zum Abschluss der Einzelfallanalysen wurde schließlich eine „analytische Abstraktion“ (Schütze 1983a: 286) des jeweiligen Falls vorgenommen. Diese zielte darauf ab, die „biographische Gesamtformung, d.h. die lebensgeschichtliche Abfolge der erfahrungsdominanten Prozeßstrukturen in den einzelnen Lebensabschnitten“ (ebd.) fallbezogen herauszuarbeiten. Die analytische Abstraktion der Einzelfälle wurde auch dafür genutzt, die Besonderheiten des jeweiligen Falls im Hinblick auf Bildungsprozesse und Zugehörigkeitskonstruktionen noch einmal konturiert zu formulieren. Die analytische Abstraktion bildete damit zugleich die Basis für die vergleichende Interpretation der Fälle. Vergleichende Analysen Der Vergleich zwischen verschiedenen Interviewtexten begleitete den Auswertungsprozess kontinuierlich. Dieses vergleichende Vorgehen machte die sukzessive Auswahl und Analyse von Fällen, die sich hinsichtlich der zentralen Kontrastierungskriterien minimal und maximal unterscheiden, erst möglich. Der Vergleich dieser Fälle bildete die Grundlage für eine Darstellung kontrastierender Varianten bildungsbiographischer Prozessverläufe, in denen das pädagogische Studium in je unterschiedlicher Weise eingelassen ist (vgl. Kapitel 7-10). Vergleiche wurden im Analyseprozess aber auch in Form von Quervergleichen zu ausgewählten Themen und Dimensionen durchgeführt, die sich in den Einzelfallanalysen herauskristallisierten und die vor dem Hintergrund des Forschungsinteresses – biographische Bildungswege und Zugehörigkeitserfahrungen – von besonderem Interesse waren. In diese ‚kleinräumigen‘ Fallvergleiche wurden alle Interviews einbezogen, darunter auch jene, die sich aufgrund ihrer formalen Struktur nicht für die Herausarbeitung umfassender biographischer Prozesse eigneten, wohl aber für die Untersuchung bestimmter bildungsbiographisch relevanter Sequenzen und Phänomene. Dafür wurden ausgewählte Kernstellen in den Interviews einer Feinanalyse unterzogen. Die Auswahl und Analyse der Kernstellen folgte dabei wiederum dem Prinzip der Sequenzialität, d.h., die Interviewpassagen wurden bei der Interpretation nicht aus dem Kontext der Erzählung herausgelöst, sondern im Gesamtzusammenhang der
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jeweiligen Geschichte interpretiert. Durch diese vergleichende Analyse konnten zentrale Themen und Dimensionen auf einer breiteren Materialbasis differenzierter ausgearbeitet werden (vgl. Kap. 11). Theoretische Verallgemeinerung der Ergebnisse Die vergleichenden Analysen auf verschiedenen Ebenen des Materials bildeten die Grundlage für die Formulierung fallübergreifender Analyseergebnisse und ihre theoretische Generalisierung. Folgt man dem Verfahren der Narrationsanalyse, so mündet der Prozess des Fallvergleichs in der „Konstruktion eines theoretischen Modells“ (Schütze 1983a: 288). In der Sprache der Grounded Theory Methodologie ist dies mit den Schritten des axialen und selektiven Kodierens vergleichbar, durch die eine enger werdende Verknüpfung der im Prozess der Analyse gebildeten Kategorien und Dimensionen angestrebt wird (vgl. Strauss/Corbin 1996: 88ff.). Wie der Schritt der fallübergreifenden Abstraktion und theoretischen Integration der Ergebnisse konkret gestaltet wird, ist dabei abhängig vom jeweiligen Erkenntnisinteresse (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008: 239). Fritz Schütze sieht sowohl die Möglichkeit, „spezifische[…] Arten von Lebensabläufen, ihrer Phasen, Bedingungen und Problembereiche“ bestimmter „Betroffenengruppen“ (1983a: 288) zum Gegenstand der Modellentwicklung zu machen als auch die Option, ein Modell zu entwickeln, das sich eher auf allgemeine „Phasen und Bausteine von Lebensabläufen generell“ (ebd.) bezieht. In der vorliegenden Studie war der Gedanke leitend, zu einer Form der Verallgemeinerung von Ergebnissen zu gelangen, die nicht auf eine kollektive Typisierung der untersuchten Lebensgeschichten abzielt (vgl. dazu genauer den Beginn von Teil IV). Im Analyseprozess wurde deutlich, dass die Lebenserzählungen auf äußerst unterschiedliche soziale Bedingungskonstellationen, Verläufe und Erfahrungen sowie biographische Konstruktions- und Verarbeitungsweisen verweisen, die sich nicht als Ausdruck einer alle verbindenden, migrationsspezifischen Konfiguration verstehen lassen. Stattdessen wurden die differenten Verortungen der Subjekte im sozialen Raum und die individuellen Prozesse der Erfahrungsaufschichtung und -verarbeitung erkennbar, die einen Rahmen für je spezifische Bildungsprozesse, Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen bilden. Diese Komplexität und Uneinheitlichkeit (sowohl zwischen den untersuchten Fällen als auch innerhalb der Einzelfälle) sollten im Schritt der Verallgemeinerung nicht zugunsten einer Reduzierung auf wenige gemeinsame Aspekte wieder zum Verschwinden gebracht werden. Zugleich ging es darum, fallübergreifende Bedingungskonstellationen und Prozessdimensionen, die sich in den Einzelfallanalysen als relevant für die Struktur der untersuchten Bildungswege und -geschichten erwiesen haben, weiter auszuarbeiten und zu systematisieren. Daraus entstand ein zeitlich geordnetes ‚Modell‘ bildungsbiographischer Prozesse, das die verschiedenen Dimensionen in sich vereint. Viele dieser ausgearbeiteten Dimensionen sind dabei nicht als ‚migrationsspezifische‘ Aspekte der Bildungsgeschichte zu verstehen, sondern können als bedeutsam für den Verlauf von Bildungswegen und -prozessen junger Erwachsener bzw. Studierender im Allgemeinen angesehen werden. Einige Dimensionen verweisen auf die biographische Bedeutsamkeit familialer Migrationserfahrungen sowie von ‚Migration‘ als einer relevanten Differenzierungs- und Diskriminierungskategorie für die Verortung der Interviewten in der gesellschaftlichen Differenz- und Zugehörigkeitsordnung.
TEIL III – Falldarstellungen
Die nachfolgenden detaillierten Einzelfallanalysen dienen einerseits der Herausarbeitung der Komplexität und Einzigartigkeit der bildungsbiographischen Prozessverläufe und Konstruktionsweisen. Andererseits bilden sie die Grundlage für die Herausarbeitung fallübergreifender Vergleichshorizonte und -dimensionen. Die Auswahl der Fälle für eine ausführliche Analyse und Darstellung erfolgte sukzessive und gemäß des Prinzips der maximalen und minimalen Kontrastierung. Ausgehend von der ersten Fallanalyse wurden Vergleichskriterien entwickelt, die im weiteren Auswertungsprozess differenziert wurden. Die zentralen Kontrastlinien, an denen sich die Darstellung der Fallrekonstruktionen orientiert, sind a) die Bedeutung des Studiums im lebensgeschichtlichen Zusammenhang sowie b) die Gestaltung biographischer Zugehörigkeitskonstruktionen und die Bedeutung der Differenzlinie ‚Migration‘ für die Studienbiographie. Zu a) Im Hinblick auf die Bedeutung des (pädagogischen) Studiums in der biographischen Prozessstruktur repräsentieren die ausgewählten Fälle maximal kontrastierende Varianten innerhalb des Gesamtsamples und können in diesem Sinne als ‚Eckfälle‘ verstanden werden. Mit den Beispielen Nuray Coúkun und Dilan Karatay werden zwei Fälle präsentiert, die hinsichtlich der familialen Migrationsgeschichten der Biograph*innen und der Positionierung der Familien im sozialen Raum minimal miteinander kontrastieren. In beiden Fällen gibt es eine Tradition politischintellektuellen Engagements und höhere, teilweise akademische, Bildungsabschlüsse in der Elterngeneration. Die Bildungsgeschichte von Nuray Coúkun ist in einen biographischen Emanzipationsprozess eingelagert, der zunächst in einen riskanten bildungsbiographischen Verlauf führt, aus dem sich die Biographin erst mühevoll herausarbeiten muss. Trotz der zeitweilig dramatischen Geschehnisse konstruiert sich Nuray Coúkun in weiten Teilen als Akteurin ihrer Bildungsbiographie. Ihre Studienerfahrungen stehen im Zeichen des Anknüpfens an diese handlungsschematische Prozessstruktur. Trotz sehr ähnlicher sozio-kultureller Ressourcen und migrationsgeschichtlicher Ausgangslagen folgt Dilan Karatays Bildungsbiographie einem anderen Verlauf: Im Anschluss an eine lineare Schulkarriere steht das Studium im Zeichen einer biographischen Suchbewegung. Der Studienbeginn geht mit einem Autonomiegewinn einher, erzeugt aber auch eine Irritation in der bildungsbiographischen Prozessstruktur. Die Struktur des Studiums und die studentische Fachkultur sind nicht unmittelbar anschlussfähig an Dilan Karatays Erfahrungs- und Erwartungshaltung. Die Fallrekonstruktion Anna Schuster bildet sowohl in Bezug auf die familiale Migrationsgeschichte und das sozio-kulturelle Herkunftsmilieu als auch hinsichtlich
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des bildungsbiographischen Prozesses einen maximalen Kontrastfall zu Nuray Coúkun und Dilan Karatay. Anna Schusters Schulbiographie zeichnet sich maßgeblich durch die Erfahrungsstruktur des Unterworfenseins unter heteronome institutionelle Bedingungen aus. An ihrer Geschichte werden sowohl spezifische institutionelle Behinderungen und Marginalisierungsprozesse sichtbar, die u.a. mit dem Quereinstieg ins deutsche Schulsystem in Zusammenhang stehen, als auch biographische Ressourcen und Bewältigungsstrategien. Mit dem Studienbeginn ist ein Wendepunkt in der Bildungsgeschichte verbunden, der einen Ausgangspunkt für eine veränderte Erfahrungshaltung der Biographin darstellt. Der Fall Alicja Pajak repräsentiert schließlich eine Bildungsgeschichte, die durch ein widersprüchliches Verhältnis zwischen der Unterordnung der Biographin unter ein familiales Bildungs- und Aufstiegsimperativ einerseits und Autonomiebestrebungen andererseits bestimmt ist. Mit der widerstrebenden Erfüllung des wahrgenommenen Bildungsauftrags ist das „Fremdwerden“ (Riemann 1987) der eigenen Bildungsbiographie verbunden. Der Studienbeginn bedeutet eine Verschärfung der verlaufskurvenförmigen Prozessstruktur, die sich im weiteren Studienverlauf zuspitzt. Zu b) Im Hinblick auf die biographischen Zugehörigkeitskonstruktionen und die Bedeutung der Kategorie ‚Migration‘ im pädagogischen Studium kontrastieren die Fälle Nuray Coúkun, Dilan Karatay und Anna Schuster insofern minimal miteinander als ‚Migration‘ und die Positionierung in der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeitsordnung in allen drei Fällen eine erkennbare Rolle für die Studienerfahrungen der Interviewten spielen. Die drei Fallbeispiele verbindet also die subjektive Bedeutsamkeit von ‚Migration‘ als Kategorie für Differenz- und Zugehörigkeitserfahrungen, die allerdings in verschiedenen Zusammenhängen relevant wird und auf die die Biograph*innen sich in unterschiedlicher Weise beziehen. Der Fall Alicja Pajak bildet in dieser Hinsicht einen maximalen Kontrast zu den drei anderen Fällen, insofern ‚Migration‘ in Bezug auf das Studium keine relevante Kategorie für die Erfahrungen und Selbstverortungen der Biographin darstellt. Die vier Fallbeispiele stehen für exemplarische Varianten von Bildungsgeschichten und Zugehörigkeitskonstruktionen. Sie weisen über sich selbst insofern hinaus als sich in den Fallrekonstruktionen Prozessverläufe und Dynamiken aufzeigen lassen, die auch in anderen Interviews des Samples eine Relevanz haben. Durch den Aufbau der Falldarstellungen sollen einerseits das Vorgehen und die Schritte bei der Analyse des Interviewmaterials transparent gemacht werden, andererseits folgt die Darstellung der Fallanalysen einer anderen Logik als die Analyse selbst. Bei der Analyse der Interviews war das Prinzip der Offenheit leitend; dementsprechend wurde das Interviewmaterial zunächst sequenziell gemäß seiner eigenen (formalen und inhaltlichen) ‚Logik‘ aufgeschlüsselt und interpretiert. Erst im Laufe des Interpretationsprozesses wurden erste Thesen generiert, die im weiteren Verlauf überprüft, modifiziert, differenziert und stärker auf das eigene Forschungsinteresse bzw. die eigene Fragestellung bezogen wurden. Dieses Vorgehen der Analyse wird in den nachfolgenden Falldarstellungen nicht mehr im Detail nachvollzogen. Stattdessen orientieren sich diese bereits stärker an Ergebnissen der Analyse. Bei der ersten Falldarstellung wird der Auseinandersetzung mit dem Material und der Entfaltung von Interpretationen allerdings noch mehr Raum gegeben. Sie dient als „Ankerfall“ (Dausien 1996: 134), anhand dessen Vergleichsdimensionen entwickelt wurden, die die weiteren Auswahl- und Analyseschritte anleiteten.
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Die Darstellung von Fallanalysen erfordert eine Entscheidung für bzw. die Konzentration auf bestimmte Interpretationsstränge und Lesarten, die sich als anschlussfähig für das Forschungsinteresse erweisen. Interpretationen, die ebenfalls plausibel und vor dem Hintergrund anderer theoretischer Aufmerksamkeitsrichtungen interessant sind, aber für das eigene Forschungsinteresse nicht bedeutsam erscheinen, werden deshalb in der Darstellung nicht mehr verfolgt. Die Darstellung eines ‚Falls‘ bedeutet auch eine Entscheidung für die Präsentation ausgewählter Interviewsequenzen und Interpretationen. Bei der Auswahl der Materialstellen kommt das eigene Forschungsinteresse maßgeblich ins Spiel, denn der ‚Fall‘ wird ja erst vor dem Hintergrund eines bestimmten Forschungsinteresses als solcher beschreibbar. Die Herausforderung der Falldarstellung besteht darin, eine Darstellungsform zu finden, die es ermöglicht, sowohl das Spezifische des individuellen Falls herauszuarbeiten und diesen in seiner Komplexität und Vielschichtigkeit zugänglich zu machen als auch eine Vergleichbarkeit mit anderen Fallgeschichten herzustellen. Ich habe deswegen eine Darstellungsstruktur entwickelt, die einerseits offen genug ist, die Fälle in ihrer individuellen ‚Eigentümlichkeit‘ präsentieren zu können, andererseits aber bereits eine fallübergreifende Ordnung und Vergleichbarkeit im Hinblick auf die zentralen Fragen dieser Arbeit ermöglicht. Die vier Falldarstellungen sind in mehrere Teile gegliedert. Die biographische Kurzbeschreibung dient dazu, den Leser*innen auf Basis der durch die erzählten Lebensgeschichte zugänglichen ‚Ereignisdaten‘ einen knappen Überblick über den ‚äußeren‘ Verlauf des biographischen Geschehens zu vermitteln. Es geht an dieser Stelle weder um ein detailliertes Nachvollziehen der Perspektive der Biographin noch um die Präsentation einer eigenen Interpretation des Geschehens, sondern um eine Skizze der wesentlichen lebensgeschichtlichen Ereignisse und Abläufe. Dementsprechend wird auf Interpretationen, die mögliche Motive des Handelns der Ereignisträger*innen oder Zusammenhänge zwischen verschiedenen Ereignissen betreffen, weitgehend verzichtet. Es folgen jeweils einige Informationen zur Vorgeschichte des Interviews sowie zum Rahmen und Verlauf des Interviews selbst. Diese sind bereits als ein Teil der Fallrekonstruktion zu verstehen, insofern hier Kontexte rekonstruiert werden, die für das Verständnis des ‚Falls‘ bedeutsam sind. Dieser existiert nicht unabhängig von diesen Rahmen, sondern wird immer (auch) im Kontext einer bestimmten Forschungskonstellation und einer konkreten Interviewsituation interaktiv hergestellt (vgl. Kap. 6.2.3). Diese Rahmungen können daher für das ‚Fallverständnis‘ durchaus bedeutsam sein. Im Hauptteil der Fallrekonstruktion wird (auf Basis der strukturellen Beschreibung) die jeweilige Lebensgeschichte in ihrer Prozessstruktur rekonstruiert. Da sich ein zentrales Interesse auf die Herausarbeitung der Bedeutung des (pädagogischen) 1
Allerdings soll damit nicht der Eindruck einer ‚objektiven‘ Beschreibung der Geschehnisse erzeugt werden. Die Daten, auf denen die biographischen Portraits beruhen, entstammen den Lebensgeschichten der Interviewten und sind in diesem Sinne immer schon ein Ergebnis einer subjektiven Interpretation, in dem die Interviewten bestimmten Ereignissen eine Bedeutung verleihen, während sie andere nicht erwähnen. Eine weitere Interpretation trifft die Forscherin, indem sie manchen ‚Daten‘ beim Verfassen des Texts eine Relevanz zuweist und andere unerwähnt lässt.
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Studiums in der biographischen Prozessstruktur richtet, wird zunächst die Analyse der Lebensgeschichte bis zu Beginn des Studiums dargestellt, bevor in einem zweiten Schritt die Studienerfahrungen fokussiert werden. Im ersten Teil folge ich (auch) in der Darstellung einer sequenziellen Logik, um die lebensgeschichtlichen Prozesse in ihrer verzeitlichten Struktur herausarbeiten zu können. Im zweiten Teil, in dem die studienbiographischen Erzählungen ins Zentrum rücken, wird das sequenzielle Darstellungsprinzip durch eine stärker thematisch fokussierte Darstellungsform abgelöst. Zunächst wird herausgearbeitet, wie die Erzähler*innen ihre Studienerfahrungen konstruieren, wie sie sich vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Geschichte zum Studium ins Verhältnis setzen und wie das Studium in die Erfahrungsgeschichte und biographische Sinnstruktur eingebettet ist. Anschließend wird genauer fokussiert, (in)wie(fern) ‚Migration‘ als Differenz- und Zugehörigkeitsdimension in der Studienbiographie relevant wird und wie sich die Studierenden selbst positionieren. Die zentralen Ergebnisse der Teilkapitel werden jeweils in Form von (Zwischen-) Resümées festgehalten.
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Dieses Vorgehen resultiert zum einen daraus, dass die Thematisierung der Studienerfahrungen vielfach im Nachfrageteil des Interviews vertieft wurde und die entsprechenden Interviewpassagen sich dementsprechend durch eine stärkere Vorstrukturierung auszeichnen. Zum anderen lag das Studium für die Erzähler*innen noch nicht in der Vergangenheit, sondern war eine noch gegenwärtige Erfahrung, die somit einer stärker gegenwartsbezogenen Präsentationslogik folgt. In der Falldarstellung ‚Alicja Pajak‘ fällt der letztgenannte Punkt weg, da ‚Migration‘ im Gegensatz zu anderen Differenzthematiken in der studienbiographischen Konstruktion der Erzählerin keine explizite Bedeutung erlangt.
7. Das pädagogische Studium als biographische Fortsetzung und Neupositionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung – Fallrekonstruktion ‚Nuray Coúkun‘
7.1 R AHMUNGEN
UND
V ERLAUF
DES I NTERVIEWS
In Kapitel 6.3 sind die Implikationen der Anlage der Forschung und des Vorgehens bei der Ansprache der Interviewpartner*innen bereits auf einer allgemeinen Ebene reflektiert worden. Allerdings lässt sich die Bedeutung, die diese ‚Rahmung‘ im konkreten Einzelfall entfaltet, nicht allgemein bestimmen, sondern nur individuell rekonstruieren. Nach einer biographischen Kurzbeschreibung (Kap. 7.1.1) wird daher zunächst ein Überblick über die Vorgeschichte des Interviews (Kap. 7.1.2) sowie Interviewsituation und Interviewverlauf gegeben (Kap. 7.1.3). Dabei werden auch die dem Interview vorausgehenden Interaktionen zwischen Forscherin und Interviewter reflektiert, die weitere Rahmen für die Gestaltung der biographischen Selbstpräsentation bilden. 7.1.1 Biographische Kurzbeschreibung Nuray Coúkun wird 1985 in einer Kleinstadt in Norddeutschland geboren und wächst in der Großstadt B-Stadt auf. Zum Zeitpunkt des Interviews lebt sie zusammen mit ihrem Stiefvater und ihrer 11-jährigen Halbschwester in einer Wohnung in einem Mehrfamilienhaus in B-Stadt. Sie studiert seit einem Semester Spanisch und Geschichte mit dem Abschlussziel Lehramt für die Sekundarstufe II. Zum Interviewzeitpunkt ist Nuray Coúkun 23 Jahre alt. Die Mutter der Erzählerin ist in der Türkei aufgewachsen.4 Sie hat dort die Schule besucht und mit einem abituräquivalenten Abschluss beendet, bevor sie als junge Erwachsene nach Deutschland migrierte. Hier erwarb sie zunächst das deutsche Abi-
4 Die genaue Herkunftsregion wird von der Erzählerin nicht genannt.
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tur, bevor sie eine sozialpädagogische Ausbildung absolvierte.5 Die Familie des Vaters der Erzählerin stammt aus Kurdistan. Er ist vermutlich als Kind mit seiner Familie nach Deutschland gekommen und in B-Stadt aufgewachsen. Die Familie des Vaters ist weit verzweigt, viele Familienangehörige leben in B-Stadt. Über die Bildungsgeschichte des Vaters geht aus Nuray Coúkuns Erzählung nichts hervor. Wie ihre Eltern sich kennen lernten, erzählt Nuray Coúkun nicht. Kurz nach der Geburt der Biographin zieht die Mutter mit ihr aus Norddeutschland zur Familie des Vaters nach B-Stadt. Als sie nach der Geburt unter gesundheitlichen Problemen leidet, die sie dazu zwingen, längere Zeit im Krankenhaus zu bleiben, wird Nuray Coúkun von ihrer Großmutter mütterlicherseits mit in die Türkei genommen, wo sie ihre ersten Lebensjahre verbringt. Im Alter von etwa zwei oder drei Jahren kehrt sie zu ihren Eltern nach B-Stadt zurück. Die Mutter der Erzählerin arbeitet als Sozialpädagogin in verschiedenen Frauenhäusern in B-Stadt und leistet Beratung und Unterstützung für Migrant*innen und Flüchtlinge. Der Vater engagiert sich in der kurdischen Befreiungsbewegung. Nuray Coúkuns Erzählung zufolge geht ihr Vater in dieser Zeit keiner geregelten Erwerbstätigkeit nach, sondern arbeitet sporadisch in sehr unterschiedlichen Berufsfeldern (Gastronomie, Baubranche, Tourismus, Kinderbetreuung). Das politische Engagement des Vaters, in das er auch finanziell viel investiert, hat Differenzen zwischen den Eltern zur Folge, die schließlich zu einer Trennung führen. Nuray Coúkun, die zu diesem Zeitpunkt vier oder fünf Jahre alt ist, bleibt bei ihrer Mutter. Nach dem Ende der Grundschulzeit besucht die Erzählerin ein Gymnasium. Etwa in dieser Zeit beginnt ihre Mutter eine neue Beziehung. Zwei Jahre später zieht sie mit ihrer Tochter mit ihrem neuen Partner zusammen und bringt bald darauf eine zweite Tochter zur Welt. Nur kurze Zeit später trennen sich ihre Mutter und ihr Stiefvater. Nuray Coúkun bezieht daraufhin gemeinsam mit ihrer Mutter und ihrer Schwester eine Wohnung im Stadtteil C. Es kommt zu zunehmend heftigen und lang anhaltenden Konflikten zwischen der Biographin und ihrer Mutter, die sich an der Wahl des Freundes der Tochter entzünden. Der Konflikt zwischen der Erzählerin und ihrer Mutter spitzt sich schließlich soweit zu, dass Nuray Coúkun aus der gemeinsamen Wohnung ausziehen muss. Den Kontakt zur Mutter und dem Rest der Familie bricht sie vorübergehend ab. Nachdem sie die neunte Klasse nach einer Klassenwiederholung erneut nicht zum Abschluss gebracht hat, muss die Biographin das Gymnasium verlassen. Zwar kann sie dank einer Ausnahmeregelung die zehnte Klasse der Realschule ohne Hauptschulabschluss besuchen, aber sie erlangt auch hier keinen Abschluss. Nachdem sie die Schule nach der zehnten Klasse ohne Schulabschluss verlässt, erhält sie einen Platz in einer vollzeitschulischen Jugendmaßnahme, in der sie erste schulische Erfolge hat. An dieser Schule holt sie binnen eines Jahres ihren Hauptschulabschluss 6 nach. 5
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Nuray Coúkun spricht von einer schulischen Ausbildung als Sozialpädagogin; möglicherweise hat die Mutter aber auch eine Erzieherinnenausbildung absolviert und später als Sozialpädagogin gearbeitet. Die Biographin erwähnt in einem Einschub, dass sie in der Zwischenzeit eine oder mehrere Therapien abgeschlossen hat. Im Zusammenhang mit der Therapie steht u.a. ihre gegenwärtige Deutung der problematischen Beziehung zu ihrem Freund, die sie als Strategie der
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Nach mehreren Zwischenstationen kehrt Nuray Coúkun zu ihrer Mutter zurück, die – nach einer zwischenzeitlichen Rückkehr in die Türkei – vorübergehend wieder in B-Stadt lebt. Das Zusammenleben bleibt jedoch angespannt. Einen Versuch, an der Handelsschule ihren Realschulabschluss nachzuholen, bricht die Biographin nach wenigen Monaten ab. Nach einem Aufenthalt in der Türkei bei der Familie mütterlicherseits besucht die Erzählerin eine Abendschule in B-Stadt und holt dort ihren Realschulabschluss nach. Sie übernimmt neben der Schule die Betreuung ihrer kleinen Schwester. Später zieht sie mit ihr und ihrem Stiefvater in eine gemeinsame Wohnung. Sie unternimmt einen ersten ernsthaften Versuch, sich von ihrem Freund zu trennen. Weitere Trennungsversuche folgen. In dieser Zeit bewirbt Nuray Coúkun sich um einen Platz an einer Gesamtschule mit dem Ziel, ihr Abitur nachzuholen. Sie trennt sich nun endgültig von ihrem Freund. Nach Abschluss des Abiturs beginnt sie ein BA-Studium Geschichte und Spanisch in B-Stadt mit dem Ziel, Lehrerin für die Sekundarstufe zu werden. Sie wohnt weiter mit ihrem Stiefvater und ihrer Halbschwester zusammen. Zum Zeitpunkt des Interviews steht sie am Ende ihres ersten Studiensemesters. Sie hat sich vorgenommen, ihr Studium erfolgreich zu absolvieren und als Lehrerin in Deutschland oder einem anderen Land tätig zu werden. Sie erwägt, das MA-Studium in den USA zu absolvieren. 7.1.2 Kontaktaufnahme und Vorgespräch Der Kontakt mit Nuray Coúkun kam durch die Vermittlung durch Lehrende an der Universität B-Stadt zustande. Ich hatte mehrere Lehrende mit einem Anschreiben kontaktiert, in dem ich über mein Forschungsvorhaben informierte und darum bat, in Lehrveranstaltungen ein Informationsblatt über mein Projekt an die Studierenden zu verteilen.7 Ich verband damit die Hoffnung, durch diese breitere Ansprache eine größere Zahl möglicher Interviewpartner*innen zu erreichen als dies durch persönliche Besuche in einzelnen Lehrveranstaltungen möglich gewesen wäre. Zudem hoffte ich, dass die Vermittlung durch Personen, die den Studierenden bekannt sind, dazu beitragen würde, Vertrauen aufzubauen und die Hemmschwelle, mit einer unbekannten Forscherin in Kontakt zu treten, herabzusetzen. In dieser Hinsicht erwies sich diese Strategie auch tatsächlich als erfolgreich. Ein Nachteil der Einbeziehung von Vermittlungspersonen liegt jedoch darin, dass die Art und Weise, wie die Vermittlung erfolgt, nicht mehr in der Hand der Forscherin selbst liegt.8 Der Kontakt zu Nuray Coúkun ergab sich durch die Vermittlung eines Tutors, der von einer Professorin mit der Suche nach Interviewpartner*innen betraut worden war. Er hatte – wie sich später herausstellte – die Studierenden nicht nur informiert, sondern einzelne Studieren-
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Verarbeitung des Verlustes ihres Vaters deutet. Der genaue Zeitpunkt und Dauer der Therapie gehen aus dem Interview nicht hervor. Dies stellte einen von mehreren Zugängen dar, in Kontakt mit Interviewpartner*innen zu kommen. Für diese Vorgehensweise hatte ich mich entschieden, nachdem ich bereits andere Zugangswege erprobt hatte (vgl. Kapitel 6.3.2). Ein weiterer Nachteil ist darin zu sehen, dass sich Studierende gerade bei der Ansprache durch Lehrende angesichts des institutionellen Machtverhältnisses möglicherweise verpflichtet fühlen, sich zur Mitwirkung bereit zu erklären.
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de ganz direkt auf ihre mögliche Bereitschaft zu einem Interview angesprochen. Diese Art der Ansprache bedeutete zugleich eine stark reifizierende Zuschreibung, da einzelne Studierende durch den Tutor als „Studierende mit Migrationshintergrund“ identifiziert und angesprochen wurden.9 Dies war auch ein Thema in dem Vorgespräch, zu dem ich Nuray Coúkun in einem B-Städter Café traf. Neben einem persönlichen Kennenlernen und einer Klärung der Besonderheiten eines biographischen Interviews ging es dabei vor allem um eine Verständigung über unsere jeweiligen Interessen und Motivationen. Nuray Coúkun wirkte aufgeschlossen und hatte ein offenkundiges Interesse, mehr über mich und das Forschungsvorhaben zu erfahren. Ich erzählte zunächst etwas über mich selbst, meinen Bildungsweg und die Entwicklung meines Forschungsinteresses, das ich in der Diskussion um Migration, Bildung und gesellschaftliche Ungleichheiten verortete. Daneben betonte ich mein Interesse an den persönlichen Lebensgeschichten meiner Interviewpartner*innen und ihren Erfahrungen an der Universität. Ich sprach auch den Widerspruch an, der in meinem Vorhaben angelegt ist – durch die Forschung über Bildungsprozesse in gesellschaftlichen Differenzverhältnissen auf Basis von Erzählungen Studierender ‚mit Migrationsgeschichte‘ unweigerlich kategorisierende Zuschreibungen zu wiederholen. Nuray Coúkun teilte zwar die Kritik an Festschreibungen von Individuen auf ihre Migrationsgeschichte, unterstrich aber ihre Bereitschaft zu einem biographischen Interview und bezog selbst eine differenzierte Position zum Forschungsthema. Sie erzählte, dass es in ihrer Familie langjährige Erfahrungen mit der beruflichen oder ehrenamtlichen Arbeit mit Migrant*innen und Flüchtlingen gibt und sie Interesse an einer Kritik des Diskurses um Migration und Integration habe. Sie berichtete auch von ihrer persönlichen Wahrnehmung, dass es in ihrem Studiengang nur wenige Studierende mit Migrationsgeschichte gebe. Im Hinblick auf ihre eigene Lebensgeschichte kündigte sie an, dass sie viel zu erzählen habe; ihr bisheriges Leben sei recht turbulent und ungewöhnlich verlaufen (vgl. Interviewprotokoll). Nuray Coúkun nahm im Vorgespräch somit einerseits die zugeschriebene Position als Lehramtsstudentin ‚mit Migrationsgeschichte‘ ein. Andererseits führte sie sich als eine Person ein, die eine andere Geschichte zu erzählen hat als die Interviewerin möglicherweise erwartet. Zudem positionierte sie sich als jemand, die durch ihre Familie über ein professionelles (Expertinnen-)Wissen zum Thema Migration und Integration verfügt. 7.1.3 Aushandlung des Interviewrahmens und Interviewverlauf Das Interview fand etwa zwei Wochen später in der Wohnung der Interviewten statt. Nuray Coúkun lebt zusammen mit ihrem Stiefvater und ihrer 11-jährigen Schwester in einer Wohnung in einem Innenstadtbezirk von B-Stadt. Der Stiefvater verließ die Wohnung kurz nach meiner Ankunft, nachdem er einige Worte mit mir gewechselt hatte. Sein Aufbruch wirkte geplant, möglicherweise wollte er nicht stören. Die Schwester der Erzählerin war nicht anwesend. Nuray Coúkun kochte zunächst Tee 9
Reifizierende Zuschreibungen waren zwar auch bei der allgemeineren Ansprache durch den Flyer nicht zu vermeiden, jedoch bietet diese Form der Adressierung mehr Möglichkeiten, sich ihr zu entziehen als dies bei einer direkten, persönlichen Ansprache der Fall ist.
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und wir sprachen über kleinere Ereignisse der letzten Tage. Danach zeigte sie mir die Wohnung. In Vorbereitung auf das Interview platzierte sie einen Ausdruck ihres Lebenslaufs neben sich, mit dem Hinweis darauf, dass sie ihn benötige, um die Stationen ihrer Schullaufbahn rekonstruieren zu können. Die Erzählerin leitet ihre biographische Selbstpräsentation mit dem Zeigen eines Fotoalbums ein, wodurch relevante Personen und lebensweltliche Kontexte bereits vor der Erzählaufforderung eingeführt werden.10 Das Zeigen der Fotos in dieser konkreten Situation kann dabei als eine Praxis der biographisierenden Selbstdarstellung verstanden werden, durch die Nuray Coúkun der Interviewerin vermittelt, dass es bestimmte Rahmenbedingungen gibt, die eine Voraussetzung für das ‚richtige‘ Verstehen ihrer Lebensgeschichte sind. Darauf deutet auch hin, dass sie das Zeigen des Albums mit den Worten „kleine Einführung vorweg“ (3/10) abschließt. Durch die Fotoeinführung verortet sich Nuray Coúkun in einem größeren Familienzusammenhang, in dem es seit mehreren Generationen eine Verbundenheit sowohl mit B-Stadt als auch mit der Türkei gibt. Es werden zwei Seiten der Familie präsentiert: Die Familie väterlicherseits, von der die meisten Familienmitglieder in B-Stadt leben und die Familie der Mutter, deren Mitglieder – bis auf einen Onkel und dessen Frau – in der Türkei leben. Es gibt aber auch Familienanghehörige, die zwischen disen Kontexten hin- und herwechseln. Die Familien der Eltern sind weit verzweigt – Nuray Coúkun kennt nicht alle ihre in der Türkei lebenden Verwandten persönlich und sie muss nachzählen, wie viele Onkel und Tanten sie in Deutschland hat. Die Biographin präsentiert die Familie zum einen als eine Großfamilie, in der die Kinder nicht nur von den Eltern, sondern auch von Onkeln und Tanten mit erzogen werden. Zugleich wird die Familie aber als nicht-traditionell präsentiert. Insbesondere die Frauen in der Familie stehen für eigenwillige, selbstbestimmte Lebensentwürfe, die im Kontrast zu möglichen Erwartungen an traditionelle Formen von ‚Familie‘ stehen.11 Die Frauen der Familie erscheinen als ökonomisch unabhängige Akteurinnen, die ihr Leben – und das ihrer Kinder – in die eigenen Hände nehmen und nach eigenen Vorstellungen gestalten. Dieser Eindruck setzt sich auch im Folgenden fort, als die Erzählerin auf ihre Mutter zu sprechen kommt: Präsentiert werden Fotos von einem Ausflug, der von der Arbeitsstelle ihrer Mutter aus organisiert wurde, an dem sie als Kind teilgenommen hat. Dabei wird klar, dass Nuray Coúkuns Mutter viele Jahre als Sozialpädagogin in einem Frauenhaus tätig war. Sie wird damit als berufstätige und frauenpolitisch engagierte Akteurin eingeführt. Die Erzählerin deutet an, dass die Mutter sich in Kreisen von „politisch aktiv(en)“ Personen und Künstler*innen bewegte, in die sie als 10 Da das Aufnahmegerät währenddessen eingeschaltet wurde, ist die Aufzeichnung dieser Episode nicht vollständig. 11 Nuray Coúkun berichtet von einer Großmutter väterlicherseits, die neben ihren leiblichen Kindern auch weitere Kinder ihres Mannes (aus anderen Ehen) in einem Stadtteil von BStadt „alleine großgezogen“ (1/6) hat. Ihrer Großmutter mütterlicherseits, die nur kurze Zeit in Deutschland gelebt hat, ordnet Nuray Coúkun dagegen „mehrere Männer“ zu (1/15). Erwähnt wird zudem eine Tante (die Schwester des Vaters), die in Deutschland Modedesign studiert und in der Türkei Karriere gemacht hat. Von ihr berichtet Nuray Coúkun zudem, dass sie ihr Kind (das mit Hilfe moderner Reproduktionsmedizin enstanden ist) allein in Deutschland aufziehen will.
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Kind eingebunden wurde. Dabei entsteht auch der Eindruck, dass die unmittelbare soziale Umgebung, in der Nuray Coúkun aufwächst, durch politisch und gesellschaftlich engagierte Erwachsene gestaltet wird.12 Nachdem das Zeigen des Fotoalbums beendet ist, leite ich zum ‚eigentlichen‘ Interview über. Ich knüpfe dabei an die Ankündigung Nuray Coúkuns aus dem Vorgespräch an, dass sie „viel zu erzählen“ habe. Diese Erwartungshaltung wird von ihr bestätigt und sie signalisiert ihre Bereitschaft zum Beginnen, zugleich äußert sie eine Unsicherheit darüber, wie ausführlich sie welche Ereignisse erzählen solle: N: ich weiß halt nicht genau - inwieweit ich - w=was ausführlich - erzählen soll also - weil es gibt halt viele Faktoren, muss ich auch so sagen, es gibt einfach viele Faktoren auch in meiner Sozialisation wo ich - ähm extrem - beeinflusst wurde sag ich mal in dem Sinne. Also jetzt nicht nur in meiner - im Sinne von=von I: mhm mhm N: meinem schulischen Lebenslauf, sondern halt auch extrem durch meine Familie und vor allen Dingen durch meine Mutter so. (3/18-24)
Nuray Coúkun erklärt ihre Unsicherheit argumentativ, indem sie deutlich macht, dass sie keine Lebensgeschichte erzählen kann, die sich allein auf den „schulischen Lebenslauf“ beschränkt. Darin kommt eine Unklarheit über die an sie gerichteten Erwartungen zum Ausdruck, nämlich die Frage, ob es der Interviewerin nur um den institutionellen Bildungsweg geht.13 Zugleich signalisiert sie das Interesse, eine umfassende Version der eigenen Geschichte zu präsentieren, die sich eben nicht auf die institutionellen Stationen des Bildungswegs beschränkt. Die Erläuterung der Interviewten enthält dabei bereits weitreichende Reflexionen: Neben dem „schulischen Lebenslauf“ gibt es andere „Faktoren“ wie ihre Familie, vor allem ihre Mutter, denen Nuray Coúkun eine hohe Bedeutung für ihre Lebensgeschichte zuweist. Die Differenzierung zwischen „schulischem Lebenslauf“ und anderen biographisch relevanten Einflüssen macht deutlich, dass Nuray Coúkun eine analytisch reflektierte Perspektive auf ihre Geschichte einnimmt und über Deutungen verfügt, die es ihr ermöglichen, in abstrakterer Weise darüber zu sprechen. Durch die Verwendung des Terminus „Sozialisation“ positioniert sie sich darüber hinaus der Forscherin gegenüber als ein fachlich kompetentes Gegenüber. In der weiteren Aushandlung stelle ich klar, dass es nicht nur um schulische Bildung geht, sondern es mir um die „persönliche Geschichte“ (4/1) der Interviewten geht und sie alles erzählen soll, was sie für ihr Gewordensein für wichtig hält. Dies kann anderes beinhalten als ein Lebenslauf. In der Erklärung fallen fachsprachliche Begriffe („Bildung“ und „Bildungswege“ (3/27-29)), die wiederum in einer Distanz
12 Interessant ist, dass in dem Fotoalbum Situationen festgehalten sind, die die Erzählerin im beruflichen und sozio-kulturellen Umfeld ihrer Mutter zeigen. Dagegen werden keine Fotos von z.B. Kindergeburtstagen, Kindergartenfesten oder anderen Situationen des Kinderlebens gezeigt. 13 Diese Unklarheit ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass Nuray Coúkun im Vorgespräch über das Interesse der Forscherin an Bildungswegen informiert wurde, gleichzeitig aber betont wurde, dass es um die gesamte Lebensgeschichte gehen soll.
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zur Alltagssprache stehen und damit den Übergang zu der angestrebten biographischen Stegreiferzählung eher erschweren. Es folgen einige Ankündigungen zur Rollenverteilung im Interview, die Nuray Coúkun ratifiziert, ehe sie – ohne explizite Erzählaufforderung, nur ermutigt durch nonverbale Signale – das Wort übernimmt. Das Interview verlief ungestört und dauerte insgesamt etwas mehr als drei Stunden. Nuray Coúkun hatte keine Schwierigkeiten ins Erzählen zu kommen; sie erzählte zunächst etwa 65 Minuten lang teils sehr engagiert und lebhaft, teils langsam und konzentriert. Die Haupterzählung folgt in weiten Teilen einem chronologischen Verlauf. Lediglich an einer Stelle verlor die Erzählerin vorübergehend den Überblick über die zeitliche Abfolge der Geschehnisse, fand aber – unter Zuhilfenahme ihres Lebenslaufs – schnell wieder in die Chronologie der Ereignisse zurück. Die Haupterzählung wird an wenigen Stellen durch kurze Verständnisfragen der Interviewerin unterbrochen, die Nuray Coúkun jedoch nicht nachhaltig in ihrer Erzählung zu irritieren scheinen. Ihre Erzählweise zeichnet sich durch ein Hin-und-her-Oszillieren zwischen Narration und Reflexion aus. Sie nimmt die Rolle der Erzählerin ein und füllt diese aus, fügt jedoch auch immer wieder Erläuterungen, Kommentare und Evaluationen hinzu, die von einer distanziert-analytischen und teilweise selbstironischen Sicht auf die Dinge zeugen. In der Haupterzählung überwiegen die narrativen Passagen, die jedoch stets durch Kommentierungen, Evaluationen und Bilanzierungen begleitet werden. Infolge der erheblichen Diskontinuitäten in Nuray Coúkuns Biographie (insgesamt 13 Umzüge innerhalb von B-Stadt und mehrere Schulwechsel), wird es für sie in ihrer Erzählung immer wieder notwendig, das jeweilige Geschehen mit Orientierungshinweisen zu versehen. Die Haupterzählung endet nicht mit einer expliziten Erzählkoda, sondern wird durch die Interviewerin herbeigeführt, nachdem Nuray Coúkun mit ihrer Erzählung in der Gegenwart angelangt ist und eine Selbstpositionierung formuliert, die ich (etwas vorschnell) als Abschluss der biographischen Selbstpräsentation deute. Nach einer kurzen Pause, die in ein Gespräch überging, wurde das Aufnahmegerät wieder eingeschaltet. Danach ging ich dazu über, Verständnis- und Detaillierungsfragen zu stellen, die erneut meist längere Ausführungen hervorriefen. Insbesondere zum Thema Studium wurden vertiefende Fragen gestellt. Im Nachfrageteil überwiegen dabei phasenweise stark argumentative Passagen, insbesondere dort, wo Nuray Coúkun Position zum Thema ‚Integration‘ bezieht. Zudem finden sich im Nachfrageteil auch explizite biographische Bilanzierungen und selbsttheoretische Reflexionen der Erzählerin. Das Interview wurde schließlich durch die Biographin selbst abgeschlossen. Mit der Feststellung „jetzt weißt du mein ganzes Leben“ (60/29) setzte Nuray Coúkun eine deutliche Koda. Diese unterstreicht einerseits die Ernsthaftigkeit ihrer biographischen Selbstpräsentation: Sie hat viel von sich Preis gegeben. Andererseits adressiert sie die Interviewerin direkt als ein Gegenüber, das nun im Besitz dieses Wissens ist und dafür Verantwortung trägt. Abschließend bezog sich Nuray Coúkun erneut auf den übergeordneten Rahmen der Interviewsituation, indem sie ihre Hoffnung äußerte, mit ihrer Erzählung einen Beitrag zu meinem Forschungsanliegen geleistet zu haben. Zugleich bot sie eine Art ‚Interpretationsfolie‘ dafür an, wie sie ihre Geschichte verstanden haben möchte: „Ja ich hoffe das bringt dich auch in deiner Studie so – hat
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da irgendwie was – vielleicht mal n anderer Fall“ (60/33-34). Mit dieser Deutung wechselt Nuray Coúkun ihre Position und begibt sich aus der Rolle der Erzählerin in die einer Wissenschaftlerin oder Mitforscherin, die in Distanz zu sich selbst tritt und ihre Lebensgeschichte als einen Forschungsgegenstand betrachtet, an dem man etwas zeigen kann. Indem sie ihre Lebensgeschichte als „andere(n) Fall“ markiert, grenzt Nuray Coúkun sich von einem (unbestimmt bleibenden) ‚Normalfall‘ oder ‚typischen‘ Fall ab. Dieser Abschluss deutet auf ein spezifisches Präsentationsinteresse hin: das Interesse, durch die Beteiligung an einem Forschungsprojekt zur Produktion eines (wissenschaftlichen) Wissens auch über solche ‚Fälle‘ beizutragen, die nicht den gängigen Erwartungen an die Biographien von jungen Erwachsenen (oder Studierenden) ‚mit Migrationsgeschichte‘ entsprechen.
7.2 „E S
HÄTTE AUCH SCHLIMMER AUSGEHEN KÖNNEN , ABER ICH HAB ECHT NOCH DIE K URVE GEKRIEGT “ – N URAY C OùKUNS B IOGRAPHIE BIS ZUM S TUDIUM
Im folgenden Abschnitt wird die biographische Selbstpräsentation der Erzählerin ins Zentrum gestellt. Die Darstellung folgt der Chronologie der lebensgeschichtlichen Ereignisse und orientiert sich dabei so weit wie möglich am Verlauf der Haupterzählung. Sporadisch werden Textstellen aus dem Nachfrageteil der Interviews hinzugezogen, um wichtige Details zu ergänzen, Interpretationen zu differenzieren oder zu stärken. Der fallübergreifenden Darstellungsstruktur entsprechend, bezieht sich die nachfolgende Rekonstruktion zunächst nur auf die Zeit vor Beginn des Studiums. Ziel dieses Textabschnitts ist die Herausarbeitung zentraler Aspekte der biographischen Selbstkonstruktion, die gleichsam die ‚Vorgeschichte‘ für die Studienbiographie bilden. 7.2.1 Biographische Ausgangsbedingungen und lebensweltliche Kontexte Erzählbeginn – Bildungsgeschichte der Mutter und politisches Engagement der Eltern N: also - m - ja fang ich mal von Anfang an, meine Mutter die ist mit - 16 Jahren nach Deutschland gekommen, hat hier ihren - Abschluss nachgeholt, ihr Abitur aner_ sich anerkennen lassen in Deutschland und ähm - hat dann die Sozialpädagogenausbildung gemacht (4/22-24)
Nach der Ankündigung, „von Anfang an“ zu erzählen, lässt Nuray Coúkun ihre Geschichte nicht mit ihrer Geburt beginnen, sondern mit der Migration ihrer Mutter nach Deutschland. Die Formulierung „mit 16 Jahren nach Deutschland gekommen“ legt nahe, dass die Mutter allein nach Deutschland kommt; die Hintergründe der Migration werden dabei nicht ausgeführt. In der verdichteten Darstellung des nachfolgenden Geschehens steht der Bildungs- und Berufsweg der Mutter im Zentrum, was vermuten lässt, dass Bildung und Qualifizierung ein wichtiges Motiv für die Migration bilden. Ihre Mutter investiert Zeit und Mühe, das deutsche Abitur nachzu-
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holen, obwohl sie bereits über einen vergleichbaren Abschluss verfügt, der aber in Deutschland nicht anerkannt wird. Dies deutet darauf hin, dass sie beabsichtigt, in Deutschland zu bleiben und dort zu arbeiten. Durch die schnelle Aufzählung der Handlungsschritte ihrer Mutter nach der Migration („Abschluss nachgeholt“, „Abitur anerkennen lassen“ und „Sozialpädagogenausbildung gemacht“) entsteht der Eindruck, dass sie eine Bildungs- und Karrierestrategie verfolgt und die einzelnen Schritte zielstrebig umsetzt. Indem sie ihre Lebensgeschichte mit der Migration ihrer Mutter beginnen lässt, knüpft Nuray Coúkun an die vorherige Ankündigung an, ihrer Mutter eine zentrale Rolle in ihrer Lebensgeschichte einzuräumen. Ihre eigene Geburt wird von der Biographin nachfolgend eher beiläufig erwähnt und mit der Geschichte ihrer Mutter verknüpft: N: ja und - da war ich - genau da war ich ja schon auf der Welt im Grunde genommen, also 85 auf die Welt gekommen da - war sie gerade fertig mit ihrer ähm - Ausbildung als Sozialpädagogin und ähm ist dann - also ich bin ja in R-Stadt geboren I: mhm N: und ist dann quasi f=fast direkt nach meiner Geburt nach B-Stadt gezogen. So, zu der Familie meines Vaters in dem Sinne weil die - waren hier schon - sesshaft. (4/26-31)
Nuray Coúkun nimmt in ihrer Erzählperspektive die Sicht ihrer Mutter ein, aus der ihre Geburt nicht als zentrales Ereignis erscheint, sondern lediglich als ein Ereignis in einer Reihe von Handlungen und Geschehnissen nach der Migration. Die Geburt der Tochter scheint sich in den Lebensplan der Mutter einzufügen, die zu diesem Zeitpunkt gerade einen wichtigen Schritt ihres Bildungs- und Berufswegs beendet hat. Der Vater wird dagegen nur indirekt erwähnt. Die Eltern leben zum Zeitpunkt der Geburt der Biographin noch nicht zusammen. Die Formulierung „zu der Familie meines Vaters [gezogen]“ legt nahe, dass der Umzug nicht in erster Linie für die Realisierung eines Lebensentwurfs als Paar und die gemeinsame Elternschaft steht, sondern für den Anschluss an die gesamte Familie, die bereits seit längerer Zeit in B-Stadt ansässig („sesshaft“) ist. Möglicherweise hat der Umzug für Nuray Coúkuns Mutter also in erster Linie die Bedeutung einer Absicherung ihres doppelten Lebensentwurfs durch ein familiales Netzwerk. Wie sich im weiteren Verlauf zeigt, ist ein solches Netzwerk besonders deshalb von Bedeutung, weil der Vater sich nicht als verlässlicher Partner zeigt. Allerdings ist fraglich, inwiefern die Unterstützung durch die Familie des Vaters tatsächlich gegeben ist. Im Nachfrageteil thematisiert Nuray Coúkun beiläufig, dass sie als Kleinkind zwei Jahre lang von ihrer Großmutter mütterlicherseits in der Türkei betreut wurde, nachdem ihre Mutter nach ihrer Geburt aufgrund gesundheitlicher Probleme längere Zeit im Krankenhaus verbringen musste.14 Dieses transnationale Betreuungsarrangement legt den Schluss nahe, dass zumindest in dieser Zeit weder der Vater noch dessen Familie die Betreuung gewährleisten können. Mit der Formulierung, die Familie väterlicherseits sei „schon“ in B-Stadt gewesen, wird B-Stadt als relevanter Ort markiert, der auch für die weitere Lebensge14 Ihre ersten Lebensjahre bei der Großmutter in der Türkei sind nicht Teil der Haupterzählung und möglicherweise auch nicht Teil von Nuray Coúkuns eigener Erinnerung.
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schichte der Biographin bedeutsam ist. Durch die ungewöhnliche Verwendung des Wortes „sesshaft“ entsteht der Eindruck, dass das Niedergelassensein an einem Ort kein selbstverständlicher Zustand ist. Mit der Gebundenheit an einen Ort bildet die Familie des Vaters eine Art Gegenpol zum bisherigen Leben der Mutter, das sich durch viel Dynamik und räumliche Veränderungen auszeichnet. N: Und ähm - ja dann sind die beiden halt hierher gekommen, zu der Zeit ähm - war mein Vater sehr politisch aktiv der hat ähm - sag ich mal für die - es gab halt hier in Deutschland sehr viele politische Organisa=Organisationen - vor allem die linke Bewegung, also er war halt in der linken Bewegung drinne, und wir haben halt auch kurdische Wurzeln, das heißt es gab auch kurdische Vereine wo er - die er besucht hat (4/33-37)
Im Gegensatz zu vorher erscheint der Umzug nach B-Stadt hier als gemeinsame Entscheidung der Eltern, die beide erst nach Nuray Coúkuns Geburt nach B-Stadt kamen.15 Parallel zum Umzug nach B-Stadt wird die politische Aktivität des Vaters erwähnt. Die Erzählerin führt ihren Vater somit nicht über ihre persönliche Beziehung zu ihm oder seinen Beruf ein, sondern über sein politisches Handeln. Er wird als politisch aktiv beschrieben und sein Engagement wird in einer Hintergrundkonstruktion zeitgeschichtlich kontextualisiert, indem es im Rahmen einer – unterschiedliche Organisationen umfassenden – „linken Bewegung“ verortet wird, die es in dieser Zeit in der Bundesrepublik gab. Auch wenn offen bleibt, von welcher politischen Gruppierung genau die Rede ist, legt die nachfolgende Erwähnung der „kurdische[n] Wurzeln“ und „kurdische[n] Vereine“ nahe, dass es sich um eine Organisation im Umfeld der kurdischen Befreiungsbewegung gehandelt haben könnte, die in den 1980er Jahren in Deutschland aktiv war. Nuray Coúkun spricht hier aus der Perspektive einer Chronistin, die durch das Engagement ihres Vaters über ein spezifisches Wissen über die politischen Bewegungen der damaligen Bundesrepublik verfügt, das sie bei der Interviewerin nicht voraussetzt. Der Aspekt des politischen Engagements wird im Folgenden von der Biographin weiter ausgeführt. Dabei wird deutlich, dass die politischen Aktivitäten des Vaters weitreichende Folgen nach sich zogen: N: und ähm - war auch oft halt im Gefängnis deswegen weil die - plakatiert haben und erwischt wurden und solche Sachen also - es war halt - beide Eltern, von beiden Eltern beide Eltern waren sehr - politisch muss ich sagen. Also meine Mutter war mehr in die Richtung - Frauenarbeit ähm - Beratungsstellen und Integrationsarbeit I: mhm N: also viel mit Migranten gearbeitet, und mein Vater der hat halt dieses politische Ding gemacht und war halt immer auf den Demos und diesen ganzen Treffen und Veranstaltungen und so weiter und hat wirklich auch teilweise Haus und Hof verkauft um=um=um ähm - die Leute zu finanzieren und politisch da auch was bewegen zu können - was meine Mutter natürlich nicht so toll fand - und deshalb haben sie sich im Endeffekt auch irgendwann getrennt weil das ging einfach nicht mehr, die Interessen haben sich so weit auseinander - gelebt dass=dass es nicht mehr ging. (5/1-12) 15 Im Nachfrageteil erklärt die Erzählerin, dass ihre Eltern zunächst in einem Nachbarort lebten und erst nach ihrer Rückkehr aus der Türkei nach B-Stadt zogen.
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Der Vater wird hier zunächst als jemand beschrieben, der sich leidenschaftlich für seine politischen Ziele und Ideale einsetzt und dafür sogar seine Freiheit aufs Spiel setzt. Etwas unklar bleibt dabei, wie ihm sein Engagement, das in Nuray Coúkuns Darstellung eher als harmloses Abenteuer erscheint (Plakatieren gemeinsam mit anderen, bei dem er „erwischt“ wurde), mehrere Gefängnisstrafen einbringen konnte. Betont wird die politische Haltung beider Elternteile, die sich für verschiedene Ziele eingesetzt haben. Die sozialpädagogische Tätigkeit der Mutter im Bereich der Frauenarbeit und Arbeit „mit Migranten“ interpretiert Nuray Coúkun als eine Form politischer Arbeit. Beide Eltern werden damit als „politisch“ charakterisiert, zugleich verfolgen beide ihre jeweils eigene ‚Mission‘. Die Biographin berichtet, dass das Engagement des Vaters zu Konflikten zwischen ihren Eltern führte, da ihr Vater seinen Einsatz für seine politischen Ziele über das Wohl der Familie stellte. Dies kommt in der Formulierung zum Ausdruck, er habe „Haus und Hof“ für die Bewegung verkauft. Die politische Arbeit des Vaters beinhaltet damit auch ein Risikopotenzial, das schließlich zur Trennung der Eltern führt. Die Trennung der Eltern wird nicht als Folge persönlicher Unstimmigkeiten, sondern als Ergebnis verschiedener Prioritäten konstruiert: Ihre „Interessen haben sich auseinander gelebt“. Mit dieser Beschreibung des Geschehens nimmt Nuray Coúkun eine sachlich wirkende Außenperspektive ein, die sich vermutlich an retrospektiven Aussagen ihrer Mutter orientiert. Wie sie die Trennung ihrer Eltern und die Zeit davor selbst erlebte, wird dagegen nicht thematisiert. Bis hierher lassen sich folgende Aspekte festhalten: Nuray Coúkun beginnt ihre Lebensgeschichte, indem sie zunächst die Geschichte ihrer Mutter seit deren Migration nach Deutschland skizziert. Die Mutter erscheint als eine politisch engagierte und bildungsaktive Frau mit einem eigenständigen Lebensentwurf, die ihren Bildungs- und Berufsweg zielstrebig realisiert. Auch Nuray Coúkuns Geburt ändert daran nichts. Auch der Vater wird als politisch aktiv charakterisiert, wobei sich das politische Engagement der Eltern auf unterschiedliche Bereiche bezieht. Während die Mutter ihr Engagement mit ihrer beruflichen Tätigkeit in der sozialen Arbeit mit Frauen und mit Flüchtlingen verbindet, ist der Vater in politischen Organisationen in Zusammenhang mit der kurdischen Befreiungsbewegung aktiv. Die Eltern werden damit beide als ‚starke‘ Akteur*innen mit je eigenen politischen Ambitionen und Überzeugungen beschrieben, die sie zielstrebig und mit Leidenschaft verfolgen. Damit ist eine biographische Ausgangslage markiert, die ein hohes Potenzial beinhaltet – beide Eltern haben Ziele, die über die Gestaltung des eigenen beruflichen und privaten Lebens hinausreichen, an denen sie ihr Handeln ausrichten. Es sind aber auch Risiko- und Konfliktpotenziale in dieser Konstellation angelegt. Der Vater geht für seine politischen Ziele hohe Risiken ein und räumt ihnen tendenziell eine höhere Priorität als seiner Familie ein. Er ist insofern kein verlässliches Mitglied des Familienzusammenhangs und sein politisches Engagement geht zulasten einer sicheren Perspektive für die Familie. Dadurch kommt es zu Konflikten zwischen den Eltern, die schließlich im Auseinanderbrechen der Familie münden. Die Biographin spricht in einem retrospektiv-kategorisierendem Modus. Sie orientiert sich bei ihrer Erzählung einerseits stark an der Sicht ihrer Mutter, andererseits spricht sie als Chronistin, die sachlich über den Ablauf der Geschehnisse berichtet und diese in den zeitgeschichtlichen Kontext einordnet. Nuray Coúkun hat sich zwar durch die Erwähnung ihrer Geburt selbst eingeführt, ihr eigenes Leben wird aber zu-
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nächst in das der Mutter ‚eingebaut‘. Sie führt sich somit als Tochter politisch aktiver Eltern mit Migrationsgeschichte ein. Die Perspektive ihres eigenen Erlebens wird bislang noch nicht sichtbar. Grundschule am K-Platz Das nächste lebensgeschichtliche Ereignis, das Nuray Coúkun in ihrer Haupterzählung erwähnt, ist ihre Einschulung. N: Und ich bin dann mit - sechs Jahren bin ich eingeschult worden, da sind wir - da haben wir ähm am K-Platz gelebt, das ist auch n Gebiet mit achtzig Prozent - von Menschen mit Migrationshintergrund vor allen Dingen türkischer Herkunft - und das war (3) schwierig. An der Schule. I: mhm N: also ich - hab vier Jahre die C-Grundschule besucht (3) und ähm - ja wir haben halt - viel Gewalt erlebt an dieser Schule, wirklich, und haben – muss_ also ich musste früh lernen mich=mich zu wehren in dem Sinne, die Neunt- und Zehntklässler haben und einfach wenn die mal Lust drauf hatten oder n gefrusteten Tag hatten haben sies an uns rausgelassen aufm Pausenhof, und wir habens natürlich an den nächsten ausgelassen so ungefähr, ähm - ja, so war es an der Grundschule (5/12-22)
Nuray Coúkun orientiert ihre Erzählung nun an der ersten institutionell vorgegebenen biographischen Zäsur, der Einschulung in die Grundschule, die regulär „mit sechs Jahren“ erfolgte. Die Beschreibung der Situation, die sie an der Grundschule vorfindet, wird durch eine Hintergrundkonstruktion der sozialen Zusammensetzung des Stadtteils eingeleitet, in dem die Schule und die Wohnung ihrer Familie lokalisiert sind (ein „Gebiet mit achtzig Prozent - von Menschen mit Migrationshintergrund vor allen Dingen türkischer Herkunft“). Dabei fällt die distanzierte, wissenschaftlich anmutende Sprache der Erzählerin auf. Der eigene Stadtteil wird mit Worten beschrieben, die auch in einer stadtsoziologischen Abhandlung zu lesen sein könnten. Nuray Coúkun positioniert sich nicht als Bewohnerin dieses Stadtteils und auch nicht als der dortigen Bevölkerung „mit Migrationshintergrund“ zugehörig, sondern nimmt vielmehr die Position der distanzierten Beobachterin ein, die über die soziale Struktur des Stadtteils berichtet. Denkbar ist, dass sie hier eine Perspektive einnimmt, die ihr dadurch vertraut ist, dass ihre Mutter als Sozialpädagogin professionell mit Migrant*innen und Flüchtlingen arbeitet. Durch die nachfolgend zögernd formulierte Evaluation („das war (3) schwierig. An der Schule.“) stellt Nuray Coúkun einen vagen Zusammenhang zwischen der Bevölkerungszusammensetzung am K-Platz und der Situation an der Schule her, die sie als problematisch bewertet. Das Zögern der Biographin deutet dabei auf hin, dass sie ihre Worte vorsichtig wählt. Die Grundschulzeit wird unter dem Aspekt der hohen Gewaltbereitschaft unter den Schüler*innen und des Umgehens mit Gewalterfahrungen thematisiert. Wie sich später klärt, handelt es sich um eine Grund-, Haupt- und Realschule. Als Grundschülerin hat Nuray Coúkun es mit vielen wesentlich älteren Schüler*innen (Neunt- und Zehntklässler*innen) zu tun, die ihr vermutlich auch körperlich überlegen sind. Sie nimmt in der Erzählung die Kollektivperspektive der jüngeren Schüler*innen ein, die sich in der schwächeren Position befinden und lernen müssen, sich „zu wehren“. Als Jüngere ist sie der willkürlichen Gewalt der Älteren ausgesetzt, die ihre Aggression
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„einfach wenn die mal Lust drauf hatten“ an den Jüngeren „aus[…]lassen“. Die Jüngeren lernen, sich gegenüber den Stärkeren zu behaupten und eigene Demütigungen an unterlegene Schüler*innen weiterzugeben. Es zeigt sich in dieser Sequenz das Bemühen der Erzählerin, ihre Erlebnisse in soziale Kontexte einzubetten. Die Schule wird als ein Ort konstruiert, der in die soziale Geographie der Stadt eingebunden ist. Diese Präsentationsweise ermöglicht die Thematisierung eigener negativer Erfahrungen, ohne das Gewaltproblem zu personalisieren oder es zu individualisieren. Implizit greift Nuray Coúkun zugleich auf hegemoniale Erklärungsmuster zurück, indem sie einen scheinbar selbstverständlichen Zusammenhang zwischen dem hohen ‚Migrant*innenanteil‘ im Stadtteil und der Gewaltbereitschaft der Schüler*innen unterstellt. Sich selbst positioniert sie dabei als neutrale Beobachterin, deren Standpunkt unmarkiert bleibt. Mit der Erzählung über die Grundschulzeit wird nach der Familie ein weiterer sozialer Rahmen aufgemacht, dem Nuray Coúkun Relevanz für ihre Biographie zuspricht. Die soziale Welt, in der sie ihre Grundschulzeit verortet, zeichnet sich durch Probleme und Konflikte aus, die sich in einer hohen Gewaltbereitschaft unter den jugendlichen Schüler*innen manifestieren. Während die Ausführungen der Biographin über ihre Familie deutliche Hinweise darauf geben, dass ihr Herkunftsmilieu als bildungsorientiert und politisch-intellektuell einzuschätzen ist, so legt die Beschreibung der Grundschule und der sozialräumlichen Umgebung nahe, dass Nuray Coúkun nicht in durchweg sozial privilegierten Verhältnissen aufwächst und spätestens mit dem Eintritt ins Schulsystem mit Konventionen und Umgangsformen konfrontiert wird, die anderen Regeln folgen und andere Handlungsweisen erfordern. Hier geht es darum, Härte zu zeigen und mit Gewalt umgehen zu lernen. Damit zeichnet die Biographin kein einheitliches Bild ihrer Lebenswelt, sondern positioniert sich in durchaus divergenten sozialen Welten, die ihre (Selbst-)Verortung im sozialen Raum nicht eindeutig erscheinen lassen. Übergang ins Gymnasium – den „Dickkopf durchgesetzt“ Standen in der bisherigen Selbstpräsentation eher die Kontexte ihres Aufwachsens im Zentrum, so kommt in dieser Sequenz das handelnde ‚Ich‘ ins Spiel. N: die hab ich dann beendet und meine Mutter wollte unbedingt dass ich auf ne Gesamtschule gehe, und ich hab mich aber strikt dagegen gewehrt weil meine Tanten von meiner Vaterseite das waren halt - die waren relativ jung damals als ich noch kleiner war und die haben auch ihr Abi gemacht und halt alle aufm Gymnasium. Und das waren halt so meine Vorbilder und ich wollte natürlich auch aufs Gymnasium und deshalb hab ich meinen Dickkopf durchgesetzt I: (schmunzelt) N: und bin dann ähm - ans S-Gymnasium, in Stadtteil C. (5/22-29)
Mit dem Übergang in die weiterführende Schule wird ein zweiter Bildungsübergang thematisiert. Anders als bei Schuleintritt wird dieser Übergang nicht als altersgebundenes, quasi-natürliches Ereignis beschrieben, sondern als Anlass für einen Konflikt zwischen Mutter und Tochter über die Schulform, die Nuray Coúkun künftig besuchen soll. Die Alternative besteht in der Wahl zwischen Gesamtschule und Gymnasium – und damit zwischen zwei Schulformen, die zum Abitur führen. Eine niedrige Schulform wird offenbar von niemandem in Erwägung gezogen und die Entschei-
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dung scheint allein zwischen Mutter und Tochter ausgehandelt – oder ausgefochten – zu werden.16 In einer kurzen Hintergrundkonstruktion erläutert die Biographin ihr Beharren auf der Bildungsoption „Gymnasium“ mit dem Hinweis auf ihre Tanten väterlicherseits, die ihr Abitur am Gymnasium erworben haben. Dieser Verweis macht (erneut) deutlich, dass es auch im weiteren Kreis der Familie mehrere Frauen gibt, die die Schule mit dem Abitur abgeschlossen haben; das Abitur wird vielleicht auch deshalb von allen Beteiligten als eine selbstverständlich erreichbare und anzustrebende Bildungsoption antizipiert. Es zeigt sich hier, dass das in der Familie vorhandene kulturelle Kapital, repräsentiert durch die Bildungsabschlüsse der Tanten, nicht nur eine abstrakte Relevanz hat, sondern subjektiv bedeutsam für Nuray Coúkuns Bildungsvorstellung ist: Als weibliche Familienmitglieder, die noch „relativ jung“ sind, stellen ihre Tanten wichtige „Vorbilder“ dar, mit denen sie sich identifiziert. Die Erzählerin präsentiert ihr erzähltes Ich in dieser Episode als eine Akteurin mit starkem Willen, die sich gegen die Pläne ihrer Mutter „strikt wehrt“ und ihren „Dickkopf“ gegen den Willen ihrer Mutter „durchsetzt“. Sie schreibt sich damit zu, bereits im Alter von zehn Jahren über eigene Bildungsvorstellungen zu verfügen und kann diese – legitimiert durch den erfolgreichen Weg ihrer Tanten – gegen ihre Mutter durchsetzen. Bereits an dieser Stelle deutet sich eine Konfliktlinie an, die sich auf das Verhältnis zwischen der Biographin und ihrer Mutter bezieht. Die Erzählerin nimmt retrospektiv eine selbstironische Distanz zu ihren Motiven und ihrer kindlichen Perspektive ein. Sie scheint ihre damals fraglose, kindliche Orientierung am Bildungsweg der Tanten rückblickend ironisch zu belächeln und indirekt infrage zu stellen. Obwohl sie ihr erzähltes Ich also als handlungsmächtig und durchsetzungsfähig präsentiert, deutet sich hier an, dass die Biographin sich mit ihrer damaligen Sicht nicht mehr ungebrochen identifiziert – möglicherweise aufgrund ihres heutigen Wissens über den Fortgang der Ereignisse. „Pubertätskrise“ und kein „Familienleben“ Im folgenden Segment wendet sich Nuray Coúkun einem anderen Thema zu, das zeitlich parallel zum Übergang ins Gymnasium relevant wird, nämlich Veränderungen im Zusammenleben und der Wohnsituation. Aufgrund der Bekanntschaft ihrer Mutter mit ihrem neuen Partner, dem späteren „Stiefvater“ (5/32), die sich binnen zwei Jahren zu einer festen Beziehung entwickelt, erfolgt weitere zwei Jahre später ein Umzug aus der bisherigen Wohnung in eine Wohngemeinschaft. Es handelt sich dabei um ein alternatives Wohnprojekt in einer alten Fabrik, die von Nuray Coúkun als „Riesengebäude“ (6/1) beschrieben wird. Die Wohngemeinschaft erscheint nicht als ein Raum gemeinschaftlichen Zusammenlebens, sondern als ein feindseliger und für die Erzählerin potenziell bedrohlicher Ort. Die Mitbewohner*innen werden von Nuray Coúkun zunächst vage als „nicht so toll“ (6/2), dann sogar als zum Teil „faschistisch“ (6/4) bezeichnet. Diese Kontextbeschreibung bildet den Rahmen für die nachfolgend geschilderten Ereignisse: Die Geburt der Schwester und die Trennung ihrer Mutter von ihrem Partner.
16 Die Übergangsempfehlung der Grundschule wird an dieser Stelle nicht erwähnt. Auf Nachfrage berichtet Nuray Coúkun, dass sie eine Gymnasialempfehlung erhalten hat.
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N: dann haben sie sich auch getrennt (kichert), also direkt - im Grunde genommen direkt nach der Geburt von=von meiner kleinen Schwester haben die sich auch getrennt - das war für die klar dass sie zusammen dieses Kind haben wollen und deshalb haben sies auch gemacht so aber die haben - sind - auf der menschlichen Ebene nicht mehr miteinander ausgekommen I: mhm N: also beziehungsmäßig so, ne? Sonst ging alles so ganz gut freundschaftlich aber in der Beziehung lief es halt nicht mehr (6/12-19)
Das Leben von Nuray Coúkuns Mutter und ihrem Partner folgt keinem traditionellen ‚Familienentwurf‘. Das gemeinsame Kind wird von der Erzählerin hier zwar wie ein absichtsvoll geplantes ‚Projekt‘ beschrieben, auf das kurze Zeit später aber die Trennung des Paares folgt. Diese Trennung markiert wiederum keinen dramatischen Einschnitt in der Erzählung, sondern wird von Nuray Coúkun lediglich nüchtern bilanziert. Allerdings wird deutlich, dass die Gesamtsituation für sie in dieser Zeit sehr belastend ist: N: Ähm (2) dann haben wir halt zu viert in dieser Riesen WG gelebt, das war n bisschen komisch weil ich hab zu der Zeit war ich halt total in der Krise, da kam halt die totale Pubertätskrise und ich war - ähm - wirklich extrem am Grenzen austesten und bin - also wirklich ich bin - völlig daneben gewesen und hab das Leben meiner Eltern wirklich zur Hölle gemacht zu der Zeit. Und das war sehr - belagert auch von=von=von der - Abkapselung zu meinem Vater. Also zu meinem biologischen Vater. Es war halt die Zeit wo ich ähm - diese ganzen Sachen aus meiner Kindheit die ich mit ihm erlebt hab versucht hab zu verarbeiten und ähm - das war halt ziemlich schwierig für mich. (6/19-27)
Das Segment beginnt mit der Ankündigung einer Krise. Dies wird aus der Retrospektive einerseits als eine adoleszenztypische Entwicklung qualifiziert („totale Pubertätskrise“). Dabei beschreibt sich Nuray Coúkun aus der Perspektive von Erwachsenen als pubertierenden Teenager („Grenzen austesten“). Andererseits nennt sie Probleme in Zusammenhang mit der Verarbeitung ihrer Beziehung zu ihrem Vater, die diese Zeit für sie individuell besonders belastend machten. Der Vater wird dabei durch die Präzisierung „biologischer Vater“ in große Distanz gerückt. Etwas später im Interview wird genauer ausgeführt, worin die Belastung bestand: Nuray Coúkun leidet darunter, dass sie ihren Vater als unverlässlich erlebt und sich vom ihm wiederholt im Stich gelassen gefühlt hat. Eine direkte Auseinandersetzung mit dem Vater scheint in dieser Zeit kaum stattzufinden; er stellt kein greifbares Gegenüber dar, sondern Nuray Coúkun ist in diesem Prozess weitgehend allein. Die Wohngemeinschaft bietet dabei keinen Raum, um diese Probleme im Gespräch zu bearbeiten. Auch innerhalb der Familie findet Nuray Coúkun keinen Halt, da die innerfamiliale Situation durch die Geburt der Halbschwester und der unmittelbar darauf folgenden Trennung der Eltern ebenfalls instabil ist. N: Das war ne wirklich schwierige Zeit und - ich hab mich son bisschen allein gelassen gefühlt in dieser WG weil - es gab halt kein wirkliches F=Familienleben in dem Sinne, also ich bin nach Hause gekommen, bin in mein Zimmer gegangen im ersten Stock und hab so quasi nicht viel mitbekommen von diesem familiären also zusammen sitzen und essen und reden und ankommen und - keine Ahnung so das war - halt nicht - die Zeit. Und - klar meine kleine Schwes-
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ter war da, n kleines Kind, und die ganze Aufmerksamkeit war - auf sie gerichtet und - ähm und ich war mit Mama wirklich Kopf an Kopf wir waren wie Katze und Maus in - unter einem Dach, es war ganz schlimm (1) ähm - ja. (6/26-35)
Die Zeit in der Wohngemeinschaft wird in einer vorwegnehmenden Bilanzierung als „wirklich schwierige Zeit“ bewertet, was die Erzählerin damit begründet, dass sie sich „allein gelassen“ fühlte. Bereits vorher hatte sie erwähnt, dass ihr Stiefvater und ihre Mutter einen „abgetrennt[en]“ Teil des Gebäudes im Erdgeschoss bewohnen, während ihr eigenes Zimmer im ersten Stock liegt. An dieser Stelle wird klar, dass die räumliche Trennung vom Wohnbereich ihrer Mutter und ihres Stiefvaters auch ein Nebeneinander zweier Lebensbereiche bedeutet. Falls im Erdgeschoss ein „Familienleben“ stattfindet, so hat Nuray Coúkun nicht daran teil. Mit der Deutung des fehlenden „Familienleben[s]“ thematisiert sie den empfundenen Mangel eines Rahmens, der Kommunikation ermöglicht den Alltag strukturiert und das Zusammenleben verlässlich macht („zusammen sitzen und reden und ankommen“). Dabei bezieht sie sich auf ein Bild des Zusammenlebens, das sich an bürgerlichen Normalitätsvorstellungen orientiert und in einem Spannungsverhältnis zum Lebensentwurf ihrer Mutter steht. Die Formulierung, „das war halt nicht die Zeit“ kann dabei entweder so interpretiert werden, dass sie sich selbst in dieser Zeit solchen Formen familialen Zusammenlebens entzog und deswegen „nicht viel mitbekommen“ hat, obwohl sie gleichzeitig die Nähe vermisste. Es könnte auch bedeuten, dass es für Formen gemeinschaftlichen Lebens in der damaligen Zeit schlicht keinen Raum gab, weil die Aufmerksamkeit der Eltern sich auf die neugeborene Tochter richtete. Für Nuray Coúkun bedeutet dies möglicherweise eine Schwierigkeit, in dieser neuen Familienkonstellation ihren Platz zu finden. In jedem Fall wird damit markiert, dass die Biographin in dieser Konstellation in dieser Zeit keinen Raum findet, um mit den anwesenden Erwachsenen über die Dinge zu sprechen, die sie beschäftigen und belasten. Die Beziehung zu ihrer Mutter ist darüber hinaus durch Spannungen und Konflikte gekennzeichnet, was in der Aussage, „wie Katze und Maus unter einem Dach“ bildhaft zum Ausdruck gebracht wird. Mit der Beschreibung der problematischen Situation in der Wohngemeinschaft und des angespannten Verhältnisses zu ihrer Mutter ist ein Rahmen vorbereitet, der weitere Komplikationen schon erahnen lässt. Die Biographin beschreibt sich selbst in diesem Segment sowohl als Handelnde, die ihren Familienmitglieder „das Leben zur Hölle“ macht, als auch als Erleidende, die von der Bewältigung der schwierigen Beziehung zu ihrem Vater zeitweise überwältigt wird und keinen Halt in anderen findet. Auffällig ist die distanziertanalytische Darstellungsweise, mit der Nuray Coúkun über diese Zeit spricht. Es handelt sich offensichtlich um eine gefestigte Deutung eines abgeschlossenen Prozesses, den die Biographin deshalb nicht mehr emotional nacherlebt, sondern mit Hilfe abstrahierender Worte aus einer analytischen Außenperspektive thematisieren kann. Dies lässt sich vermutlich auch darauf zurückführen, dass sie sich – wie sie selbst anschließend erwähnt – später im Rahmen einer Therapie mit der damaligen Lebensphase auseinander gesetzt hat.17 17 Die Erzählerin weist direkt im Anschluss darauf hin, dass es sich bei dem Zusammenhang, den sie zwischen der Beziehung zu ihrem Vater und der Beziehung zu ihrem Freund herstellt, um eine nachträgliche Deutung handelt, die sie erst durch „die ganzen Therapien“ er-
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7.2.2 Kampf gegen die Mutter als Handlungsschema und Verlaufskurvenpotenzial „Der absolute Mädchenschwarm“ – Beginn einer Beziehung Thema des nachfolgenden Segments, das sich an die Erzählung über die schwierige Zeit in der WG anschließt, ist Nuray Coúkuns erste Liebesbeziehung. Diese Sequenz wird durch einen Einwurf eingeleitet, durch den die Biographin das Erzählte als eine Einsicht ausweist, zu der sie in ihrer Therapie gelangt ist („und - dann hab ich ähm haha - das hab ich alles natürlich erst im Nachhinein durch die ganzen Therapien äh gelernt“ (7/2-3)). Damit wird explizit angekündigt, dass es sich um eine nachträgliche Deutung der damaligen Ereignisse, also eine Re-Interpretation der Vergangenheit handelt. N: dann hab ich - n Typen kennen gelernt, und es war halt n Türke, da war ich - dreizehn und er war vierzehn - ähm - ja. Und - das war halt so - ich hätte nicht gedacht dass es in dem Sinne dass ich mit ihm wirklich zusammen - bleibe so in dem Sinne. Ich bin mit ihm zusammen gekommen und er war halt n typischer kleiner türkischer Macho ähm, und ich war so /(hohe Stimme) hao!/ total blöd und naiv und rosarote Brille und der hat Fußball gespielt und ich dachte jey, der ist voll cool, der sah halt auch total gut aus, er war der absolute Mädchenschwarm in Stadtteil C, und ähm - dann über n Freund sind wir dann irgendwie zusammen gekommen (7/3-10)
Die Biographin ordnet das Kennenlernen ihres späteren Freundes zunächst zeitlich ein („da war ich - dreizehn und er war vierzehn“). Wie es zu der Beziehung kam, wird von Nuray Coúkun ironisch und karrikaturistisch überspitzt dargestellt, wobei eine Mischung aus Jugendklischees, ethnischen Stereotypen und Geschlechterklischees mobilisiert werden: Mit der Beschreibung des Freundes als „typischer kleiner türkischer Macho“ wird der Freund abwertend als Repräsentation eines Prototyps eingeführt, von dem die Erzählerin voraussetzt, dass dieser der Interviewerin geläufig ist. Sich selbst typisiert sie in ihrer damaligen Begeisterung für den Jungen ebenso überspitzt als „blöd[es]“, „naiv[es]“ Mädchen, das sich von seiner ‚Coolness‘ und seinem Status als „Mädchenschwarm“ blenden lässt. Durch diese selbstironische Überzeichnung distanziert sich die Erzählerin von ihrem damaligen Ich, ohne dies explizit aussprechen zu müssen. Die Hervorherbung der eigenen Jugendlichkeit bzw. Unreife bei Beginn der Beziehung steht dabei in einem Spannungsverhältnis zu der angedeuteten Dauerhaftigkeit der Beziehung („zusammen bleiben“), die nicht unbedingt der kulturellen Erwartung an eine Beziehung zwischen Teenagern entspricht. Dies zeigt sich auch dadurch, dass Nuray Coúkun zum Zeitpunkt des Beginns der Beziehung selbst nicht davon ausging, dass sie mit dem Jungen „wirklich zusammen bleibe[n]“ würde. Nachfolgend deutet sich an, dass die begonnene Beziehung die bereits angelegten Spannungen zwischen der Biographin und ihrer Mutter verschärft. langt hat. Im Nachfrageteil ist von „zwei Therapien“ die Rede. Zu welchem Zeitpunkt die Biographin in therapeutischer Behandlung war, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Die Therapieerfahrung wird in der Erzählung nur beiläufig erwähnt; dennoch ist davon auszugehen, dass sie für die Selbstdeutungen der Biographin bedeutsam ist.
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N: und ich weiß noch ganz genau wie meine Mutter ihn dann gesehen hat und meinte mein Gott Nuray ey de-der ist halt n Stück Holz so, der=der hat zwar Aussehen aber der ist hohl innen drin so ungefähr ne? Und das hab ich dann auch gemerkt weil bei dem ersten Treffen wo er dann bei mir war, wir waren halt relativ offen, meine Mutter hat mir ja nichts verboten in dem Sinne, ich durfte n Freund haben, der durfte zu mir kommen und - dann hab ich halt angefangen zu rauchen und dann hab ich halt auch zuhause geraucht und es war alles kein Thema so und - dann kam er halt zu uns, aus ner richtig traditionellen Familie und kannte das natürlich in der Weise nicht, und er saß dann auf meiner Couch und hat wirklich - stundenlang nicht geredet. Und wir haben uns einfach nur blöd angekuckt /(lachend) so ungefähr!/ Na ja! Und - das hat dann im Endeffekt neun Jahre gehalten diese Beziehung! (lacht) (7/11-20)
Die Sichtweise der Mutter, die dem Freund nach der ersten Begegnung mit ihm zwar gutes „Aussehen“, aber keinen Intellekt attestiert, erscheint durch die Ankündigung („ich weiß noch ganz genau“) und die Hervorhebung durch wörtliche Rede als eine Art Prophezeiung, die sich die Erzählerin im Rückblick zu eigen macht. Die folgenden Ausführungen stützen die kritische Einschätzung der Mutter. In einer Hintergrundkonstruktion werden grundlegende Gegensätze zwischen dem Herkunftsmilieu und der Lebenswelt Nuray Coúkuns und der ihres Freundes markiert: Die liberalen Umgangsformen zuhause, die damit belegt werden, dass sie „n Freund haben“ darf und die Beziehung nicht verstecken muss, und ihre Mutter ihr das Rauchen zuhause zugesteht – werden mit den Herkunftsbedingungen ihres Freundes kontrastiert, der aus „ner richtig traditionellen Familie“ kommt, in der andere Regeln gelten. Die Begegnung wird also als ein Zusammentreffen verschiedener sozio-kultureller Milieus oder ‚Welten‘ konstruiert; in der Beziehung scheinen damit bestimmte Spannungen von grundauf angelegt zu sein. Die Mutter wird in der erzählten Sequenz einerseits als liberale Mutter, die ihr viele Freiheiten zugesteht, entworfen, andererseits als ‚starke‘ Akteurin mit einer eindeutigen Position: Sie hält den Freund für ihre Tochter für ungeeignet und teilt dies ihrer Tochter auch unverblümt mit. Es wird aber auch deutlich, dass sie ihrer Tochter das Vertrauen und die Hoffnung entgegen bringt, dies letztlich selbst zu erkennen. Sie setzt auf die Klugheit und Selbstverantwortung ihrer Tochter. Die Darstellungsweise der Biographin ist zweifellos durch ihre gegenwärtige Sicht auf die damaligen Ereignisse bestimmt, die sich an der ‚weitsichtigeren‘ Perspektive ihrer Mutter orientiert. Dagegen wird nicht näher ausgeführt, wie sie die Sichtweise ihrer Mutter in der damaligen Situation erlebt hat. Durch die Vorwegnahme der langen Dauer der Beziehung einerseits und der Erwähnung der ablehnenden Haltung der Mutter andererseits deutet sich aber implizit bereits ein Konfliktpotenzial zwischen Mutter und Tochter an, das im Folgenden weiter entfaltet wird.
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Schuleschwänzen für den Freund und „Kampfansage“ an die Mutter Nuray Coúkun setzt ihre Erzählung fort, indem sie u.a. die Konsequenzen ihrer Beziehung für ihre Schullaufbahn thematisiert. N: Dann fings halt an mit ähm - ähm - mit den schulischen Leistungen bergab zu gehen, also ich hab dann - sehr oft die Schule geschwänzt und bin dann zu ihm in die Schule gefahren um ihn zu sehen und solche Geschichten, er halt dann angefangen - sein Milieu zu ändern, also eher mit den Straßenkids aus Stadtteil C abzuhängen, hat angefangen zu kiffen und Drogen zu nehmen und halt auf Partys zu gehen und - keine Ahnung halt so diese typischen - Jugendsachen die man so macht (7/27-32)
Das Absinken der eigenen„schulischen Leistungen“ wird zunächst als eine Komplikation in der bisherigen Schullaufbahn angekündigt, wobei die einleitenden Worte „dann fings halt an“ nahe legen, dass es sich dabei um den Beginn eines längeren Prozesses handelt, den Nuray Coúkun selbst nicht kontrolliert. Zunächst weist sie sich die Verantwortung für die nachlassenden Schulleistungen aber selbst zu, indem sie diese als Folge einer veränderte Prioritätensetzung deutet: Die Schule tritt hinter die Beziehung zu ihrem Freund zurück; sie schwänzt“ den Unterricht, um ihren Freund zu treffen. Die Entwicklung wird zugleich mit Veränderungen in der PeerGroup des Freundes verknüpft: Er beginnt seine Zeit „mit den Straßenkids“ aus dem Stadtteil zu verbringen, mit denen er Dinge unternimmt, die Nuray Coúkun als „typische Jugendsachen“ qualifiziert: Kiffen, Drogen nehmen, auf Partys gehen. Mit dieser Distanzierung von den Erwartungen der Erwachsenenwelt und der Orientierung an jugendkulturellen Praktiken gehen Konflikte mit den Eltern und der Schule einher. Die Biographin hat an diesen Entwicklungen einerseits teil – etwas später berichtet sie, dass die Eltern ihres Freundes ihr die Schuld dafür zuweisen, dass sie ihren Sohn „vom Weg abbringe“ (7/33-34). Andererseits positioniert sie sich selbst als diejenige, die sich auf Kosten der eigenen Schulkarriere dafür einsetzt, ihrem Freund „wenigstens seinen Haupt[schulabschluss]“ (7/38) zu ermöglichen. Damit wird in der Darstellung der Beziehungskonstellation auch erkennbar, dass Nuray Coúkun über Ressourcen verfügt, die ihrem Freund nicht zur Verfügung stehen: Sie weiß um die Wichtigkeit eines Schulabschlusses und ist in der Lage, ihm einen Platz an einer Schule zu organisieren, um ihm die Fortsetzung seiner Schullaufbahn zu ermöglichen. Sie präsentiert sich damit nicht in erster Linie als Opfer der Geschehnisse, sondern als handlungsmächtige Akteurin. Die negative Dynamik in Bezug auf die eigene Schulbiographie gewinnt im weiteren Verlauf der Erzählung allerdings an Tempo und Dramatik. Dies wird durch die folgende Sequenz markiert: N: und bei mir gings - radikal bergab so, keine Kommunikation mehr zuhause mit meiner Mutter gehabt und nur noch - Kampfansage und meine Mutter war völlig fertig am - mit ihren Nerven ich hab - ständig Briefe nach Hause gekriegt und Anrufe von der Schule dass ich da nicht mehr hingehe und=und keine Ahnung halt solche Sachen und Rauchen auf m Klo und ständig kam irgendwas so, mein Schulleiter hat mir sogar Geld gegeben dass ich mir n Wecker kaufe weil ich jedes Mal zu spät gekommen bin I: (schmunzelt)
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N: also es waren dann auch so Situationen - die waren /(schmunzelnd) im Nachhinein ganz lustig aber ich glaub für meine Mutter war das einfach nur die Hölle/ (lacht) - na ja. (7/32-8/13)
Mit einer Globalevaluation („und bei mir gings – radikal bergab“) nimmt die Biographin eine negative Vorab-Bilanzierung der nun folgenden Entwicklung vor, die als Beginn einer Abwärtsspirale ausgewiesen wird. Es folgen Detaillierungen, die dies plausibilisieren und verdeutlichen, wie es dazu kam. Das Nachlassen der schulischen Leistungen und wiederholte schulische Regelverstöße (Fehlen in der Schule, „Rauchen auf m Klo“) führen zu Interventionen seitens der Schule (Briefe, Anrufe zu Hause), die eine Verschärfung der ohnehin angespannten Beziehung zu ihrer Mutter zur Folge haben. Die Zuspitzung der Konflikte mit ihrer Mutter wird nicht detailliert beschrieben, sondern durch zusammenfassende Formulierungen markiert („keine Kommunikation mehr“, „nur noch - Kampfansage“), die auf eine konfrontative und aggressive Haltung der Biographin gegenüber ihrer Mutter verweisen. Es scheint nur noch wenige Spielräume für eine Auseinandersetzung zu geben. Die Mutter erscheint in der Darstellung dagegen als Opfer, die durch Nuray Coúkuns Verhalten „völlig fertig mit den Nerven“ ist. Die Schule scheint dabei weniger der Zielpunkt der Aggression zu sein, sondern fungiert in erster Linie als ‚Spielfeld‘ für den Konflikt mit ihrer Mutter. Dafür spricht, dass die Verstöße gegen die Schulordnung als willkürliche Handlungen dargestellt werden, nicht etwa als Reaktionen auf konkrete Anlässe, die in der Schule selbst liegen. Die Biographin beschreibt ihr Handeln als eine Reihe von Verstößen gegen die schulische Ordnung. Dabei stellt sie nicht die einzelnen ‚Vergehen‘ ins Zentrum, sondern beschreibt eine Form von Routine. Die Regelbrüche erscheinen durch die Formulierung „und sowas“ als zahlreich und beliebig. Auch die Schule reagiert routiniert mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln, indem sie Nuray Coúkuns Mutter wiederholt über die Regelverstöße informiert („ständig Briefe nach Hause gekriegt“). Bemerkenswert ist, dass mehrere Lehrpersonen und der Rektor sich persönlich um Nuray Coúkun bemühen. Dies kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass sie als eine Schülerin mit Potenzial wahrgenommen wird, die nicht nur diszipliniert und ansonsten ihrem Schicksal überlassen wird, sondern für die sich ein persönlicher Einsatz lohnt. Die Interventionen von schulischer Seite laufen aber anscheinend ins Leere; es tritt eine Form der Gewöhnung ein („ständig kam irgendwas“). Die geschilderte Dynamik gleicht einem Ping-Pong-Spiel zwischen Nuray Coúkun, ihrer Mutter und der Schule, bei dem es darum zu gehen scheint, wer ‚am längeren Hebel‘ sitzt. Dass die Bemühungen der Lehrkräfte bei Nuray Coúkun keine Resonanz finden, deutet darauf hin, dass die Verstöße gegen die Schulordnung sich nicht eigentlich gegen die Schule richten, sondern vor allem als Mittel zum Zweck – den „Kampf“ gegen die Mutter – zum Tragen kommen. Obwohl es sich bei Nuray Coúkuns Handlungen um Aktionen handelt, die in ihrer Summe für die Schulkarriere der Biographin bedrohlich werden können, stellt die Erzählerin das Geschehen mit einer humorvollen Distanz dar. Die Leichtigkeit, die der Erzählung trotz des angedeuteten Verlaufskurvenpotenzials immanent ist, kommt auch dadurch zustande, dass die Probleme im Wesentlichen als selbst verursacht dargestellt werden. Nuray Coúkun inszeniert sich als handlungsmächtige Akteurin, die gegen ihre Mutter und die Schule opponiert und dadurch entsprechende Reaktionen
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provoziert. Sie schreibt sich die Verantwortung für die Konflikte mit der Schule und die Verzweiflung ihrer Mutter selbst zu. In der abschließenden Evaluation markiert Nuray Coúkun eine Differenz zwischen ihrer heutigen Perspektive („im Nachhinein ganz lustig“) und dem Erleben ihrer Mutter, die erneut als Erleidende positioniert wird („ich glaube für meine Mutter war das einfach nur die Hölle“). Dass die Situation auch für sie selbst eine weniger „lustig[e]“ Seite hatte, zeigt sich in der folgenden Sequenz, in der die Erzählerin die Perspektive wechselt und eine Beschreibung ihrer Innenwelt vornimmt. So erwähnt Nuray Coúkun – nahezu beiläufig –, dass es in dieser Zeit offenbar mehrere Suizidversuche gab: N: ja und dann fings auch - an mit=mit diesen ganzen - Selbstmordversuche hab ich dann gehabt also es war richtig - ich war einfach - weg. Ich war in einer anderen Welt, ich hab - ähm die Schotten dicht gemacht hab niemanden an mich rangelassen und ähm - war nur noch auf ihn fixiert. Also er war dann sozusagen - so mein Mittelpunkt. Und alles andere war mir egal, also ich bin wirklich über Leichen gegangen zu der Zeit, mit meinem Vater also mit meinem biologischen Vater ähm - hab ich zu der Zeit auch - keinen Kontakt gehabt ich hab halt ganz viel versucht zu verarbeiten indem ich Gedichte geschrieben hab und=und v_ und sowas und hab ihm die auch - mal vorgelesen und er hat tierisch geweint und es war halt total emotional alles und Drama Drama Drama so - ähm - ja (8/15-24).
Die Suizidversuche, die Nuray Coúkun mit der schwierigen Beziehung zu ihrem „biologischen Vater“ in Zusammenhang bringt, werden nicht als herausgehobene Ereignisse präsentiert und narrativ ausgestaltet, sondern lediglich kurz erwähnt. Sie scheinen rückblickend für ein bestimmtes Selbst- und Weltverhältnis in dieser Phase ihres Lebens zu stehen, das sich durch eine selbstbezogene Wendung nach Innen („Schotten dicht gemacht“) und die Abwehr von Beziehungen zu anderen auszeichnet, wovon lediglich der Freund ausgenommen ist. In Beziehungen zu anderen beschreibt Nuray Coúkun sich als destruktiv und verletzend („über Leichen gegangen“). Es fällt hier erneut die ‚abgeklärte‘ Perspektive der Biographin auf. Die Suizidversuche werden z.B. nicht als Handlungen des erzählten Ich dargestellt, sondern als Passivkonstruktion formuliert („Selbstmordversuche hab ich dann gehabt“). Darin kommt eine erhebliche Distanz, ja geradezu Fremdheit gegenüber dem eigenen Handeln und Erleben zum Ausdruck. Auch die retrospektive Evaluation („es war halt total emotional alles und Drama Drama Drama“) macht deutlich, dass es sich um ein abgeschlossenes Geschehen handelt, auf das die Biographin aus einer grundlegend veränderten Gegenwartsperspektive zurückblicken kann. Zuspitzung der Schulkonflikte und „Krieg“ zuhause Die begonnene ‚Abwärtsspirale‘ spitzt sich im Verlauf der Erzählung weiter zu. Dies wird u.a. durch die Einleitungen der aufeinander folgenden Segmente markiert, die eine zunehmend problematische Entwicklung indizieren: „dann fings halt an“ (7/27), „bei mir gings radikal bergab“ (8/5), „dann kam der Bruch“ (9/15), „dann ging gar nichts mehr“ (9/31). In diesen Eingangsformulierungen zeichnet sich ab, dass das aufgeschichtete Verlaufskurvenpotenzial für die Biographin zunehmend bedrohlich wird und ihre Handlungsfähigkeit gefährdet. Die Abwärtsbewegung ergibt sich durch sich verkettende Ereignisse, die auf zwei zentralen Ebenen der Erzählung wirksam werden:
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Bezogen auf die Schulbiographie werden die institutionellen Mechanismen thematisiert, die nun massiv in den Verlauf von Nuray Coúkuns Schulkarriere intervenieren – die Biographin muss aufgrund ihrer Fehlzeiten die neunte Klasse wiederholen. Diese Disziplinarmaßnahme hat jedoch keine Konsequenzen für ihr Handeln; Nuray Coúkun bleibt auch im Wiederholungsjahr weiterhin der Schule fern. Die Appelle ihrer Lehrer, doch regelmäßig zum Unterricht zu erscheinen, scheinen Nuray Coúkun erneut wenig zu beeindrucken („es war mir egal was die gesagt haben, und ich hab mein=mein Ding durchgezogen damals“ (9/14-15)). Ihre Position wird dadurch gestärkt, dass sie trotz Fehlzeiten „gute Noten“ (9/12) für ihre schriftlichen Leistungen erhält. Sie kann sich dadurch als eine Schülerin konstruieren, die die Leistungsanforderungen der Schule durchaus erfüllt. Durch ihre unregelmäßige Anwesenheit verletzt sie zwar eine Regel, die ebenfalls entscheidend für schulische Teilhabe ist. Das Erfüllen der schulischen Leistungsanforderungen ermöglicht es ihr aber, die Entwicklung ihrer Schulkarriere vorerst nicht als Prozess des Scheiterns darzustellen. Sie kann sich als Akteurin konstruieren, die lediglich ein anderes Ziel verfolgt als die Schule („mein Ding durchgezogen“) und für das sie die institutionellen Konsequenzen scheinbar bewusst in Kauf nimmt. Worin das eigene „Ding“ allerdings besteht, wird nicht näher ausgeführt. Dies legt nahe, dass es hier nicht um einen positiv bestimmbaren Gegenentwurf geht. Vielmehr wird hier ein Gegenhandeln inszeniert, in dem eine grundlegende Oppositionshaltung gegenüber den sozialen Normalitätserwartungen zum Ausdruck kommt, wie sie durch die Schule ebenso wie durch ihre Mutter repräsentiert werden. Von Nuray Coúkun wird erwartet, dass sie ihr (Bildungs-)Potenzial nutzt und sie sich an die institutionellen Regeln der Schule und im weiteren Sinne an die Normen eines sozial akzeptierten Lebensentwurfs hält. Das Handlungsschema der Biographin lässt sich in erster Linie negativ bestimmen – als Handeln gegen diese Erwartungen. Im Wechsel mit der Erzählung über die Entwicklungen in der Schule thematisiert die Erzählerin die Eskalation der Konflikte mit ihrer Mutter zuhause. Diese führt sie einerseits auf ihre ignorante Haltung gegenüber zur Schule zurück, der auch ihre Mutter machtlos gegenübersteht. Vor allem aber rückt die Beziehung zu ihrem Freund erneut ins Zentrum der Konflikte, nachdem dieser gewalttätig gegen sie geworden ist. Die Mutter ist durch ihre professionelle Tätigkeit als Sozialpädagogin in einem Frauenhaus täglich mit Opfern von Gewalt in der Beziehung konfrontiert und interveniert daraufhin energisch in die Beziehung ihrer Tochter: N: genau dann kam der Bruch wirklich wo - die Schule auch gesagt hat wir - können das nicht mehr - das geht einfach nicht mehr, das können wir nicht mehr tragen, und meine Mutter wirklich - am Ende auch gewesen ist, also ich hab ph - ähm mein[en] ph - mein[en] Exfreund hat sie gehasst wie die Pest weil sie meinte es kann nicht wahr sein irgendwie dass ehm meine Tochter ähm=ph ich hab dich nicht auf die Welt gesetzt dass irgendson kleiner Pupskopf hier ankommt und=und=und denken kann er kann hier meine Tochter knechten und du hast hier wirklich alles miterlebt Nura_ also ich war ja wirklich - in den Frauenhäusern immer dabei gewesen ehm die Leute waren bei uns zuhause also wir haben also als wir aufm K_ also als wir am K-Platz gewohnt haben da hatten wir ne Zweizimmerwohnung und es waren wirklich ständig Flüchtlinge Asylanten und Frauen bei uns ähm mit ihren Kindern - w=wo ich diese Gewalt auch hautnah erlebt hab im Grunde genommen so ne? Und - ähm - der hat dann halt auch angefangen mich zu schlagen mein Ex und so weiter und meine Mutter ist halt - das ging
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gar nicht. Also sie meinte ich - so lange du unter meinem Dach lebst ähm lass ich das nicht zu, und ich will diesen Typen hier nicht mehr sehen, und am besten du trennst dich (9/15-28)
Die bestehende Skepsis der Mutter gegenüber der Beziehung ihrer Tochter spitzt sich dramatisch zu, nachdem sie Parallelen zu den von ihr betreuten Opfern von Gewalt aufweist. In der Äußerung der Mutter reinszeniert Nuray Coúkun die Empörung, Fassungslosigkeit und Enttäuschung darüber, dass die Tochter sich von ihren normativen Erwartungen weit entfernt hat. Durch die eingeschobene Hintergrundkonstruktion wird deutlich, dass Nuray Coúkun durch die berufliche Tätigkeit ihrer Mutter, die Klient*innen mit nach Hause bringt, bereits zu einem frühen Zeitpunkt „hautnah“ mit Gewalt in Beziehungen konfrontiert worden ist. An dieses Erfahrungswissen appelliert ihre Mutter in dieser Situation. Ausgehend von der impliziten Annahme, dass das (Mit-)Erleben von Gewalt eine Art immunisierende Wirkung haben müsse, scheint es Nuray Coúkuns Mutter unverständlich zu sein, wie ihre eigene Tochter trotz dieser unmittelbaren Erfahrungen zum Opfer von Gewalt werden konnte. Die Mutter wird einerseits als Erleidende positioniert, die aufgrund dieser Entwicklung „am Ende“ ist. Andererseits wird sie als eine starke Person positioniert, die Nuray Coúkun zunächst überhaupt „in die Welt gesetzt“ hat und bestimmte Erwartungen an sie richtet, die im Widerspruch dazu stehen, sich „knechten“ zu lassen. Nuray Coúkun wird dadurch einerseits als jemand angesprochen, die die Erwartungen ihrer Mutter tief enttäuscht, indem sie sich in ihrer Beziehung einem Jungen unterwirft.18 Zugleich wird die Biographin durch den Appell, sich zu trennen, als grundsätzlich handlungsfähige Person angesprochen, die sich selbst aus der Situation befreien kann. Mit der Ansage ihrer Mutter, „so lange du unter meinem Dach lebst lass ich das nicht zu“ und der Forderung, den „Typen“ nicht mehr sehen zu wollen, wird jedoch auch das Ende der Bereitschaft markiert, der Situation länger zuzusehen. Die Aussage kann als implizite Androhung einer Aufkündigung der Solidarität mit ihrer Tochter interpretiert werden, sofern diese nichts an ihrer Situation ändert. Bei der Art und Weise der Darstellung fällt auf, dass Nuray Coúkun erneut nicht ihr eigenes Erleben der Situation ins Zentrum stellt, sondern das Geschehen vielmehr aus der Perspektive der anderen Beteiligten thematisiert – aus Sicht der Schule, die ihr Verhalten „nicht mehr tragen“ kann, sowie insbesondere aus der ihrer Mutter, die „am Ende“ ist. Dies kann als ein weiterer Hinweis darauf interpretiert werden, dass es der Biographin aus ihrer gegenwärtigen Perspektive heraus leichter fällt, sich mit dem Standpunkt ihrer Mutter zu identifizieren als mit ihrem damaligen eigenen Erleben, von dem sie sich entfernt hat. Erzählstrategisch führt das Einnehmen der Position ihrer Mutter überdies dazu, dass das Erleiden der Gewalt des Freundes nicht detailliert geschildert werden muss, sondern mit einem allgemeinen Hinweis abgehandelt werden kann. Eine Thematisierung der eigenen Verletzungen und die Selbstpositionierung als Opfer von Gewalt werden dadurch umgangen. Vielmehr reklamiert Nuray Coúkun indirekt weiterhin die Handlungsmacht für das erzählte Ich, indem sie dieses als ein Subjekt positioniert, dessen Handlungen die Institution Schule ans Ende der Geduld und ihre Mutter ans Ende ihrer Nerven bringen. 18 Später wird deutlich, dass die Dominanz des Freundes sich nicht nur auf die körperliche Ebene bezieht, sondern Nuray Coúkun von ihrem Freund auch in ihrem Alltag kontrolliert wird.
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Für diese Interpretation spricht auch, dass Nuray Coúkun das Festhalten an der Beziehung trotz der Gewalterfahrungen im Folgenden als Teil des „Kampf[es]“ gegen ihre Mutter deutet: N: das war ja absoluter Kampf gegen meine Mutter so - was sie sagte dann absolut das Gegenteil machen und ähm - ja und - dann - genau dann ging - dann ging mit der Schule nichts mehr mit meiner Mutter nichts mehr und ich hab dann auch teilweise meinen Exfreund immer mal wieder reingeschmuggelt in die Wohnung und es gab halt wirklich Krieg. Es war Krieg angesagt zuhause. (9/29-32)
Damit wird der „Kampf“ gegen die Mutter retrospektiv als Handlungsschema gedeutet, hinter das die eigenen körperlichen und seelischen Verletzungen, die Nuray Coúkun durch die Misshandlung durch den Freund sicherlich erlitten hat, zurücktreten. Es zeigt sich hier erneut das Spannungsverhältnis zwischen dem Verlaufskurvenpotenzial, das in der Handlungssituation wirksam wird, und der gegenwärtigen Deutung der Biographin. Dies verweist darauf, dass zurückliegende Erleidensprozesse durch die spätere Verarbeitung der Erfahrungen und die Gegenwartssituation der Biographin zum Interviewzeitpunkt stark überformt sind. Im Folgenden kehrt Nuray Coúkun zurück zum Erzählschema. Mit der Formulierung „dann ging mit der Schule nichts mehr mit meiner Mutter nichts mehr“ wird angedeutet, dass es auf beiden Ebenen, denen die Biographin in ihrer Erzählung Relevanz zuweist, zu einer Blockade kommt. Die Kommunikationsmöglichkeiten scheinen an ein Ende gelangt zu sein. Das Verhältnis der Beteiligten wird als kriegsähnlich bilanziert. Dabei trägt das erzählte Ich – durch die heimlichen Verstöße gegen die Auflagen der Mutter, den Freund nicht mehr zu treffen – aktiv dazu bei, den Konflikt scheinbar willkürlich weiter zu schüren. Zwar wird durch die Erwähnung des ‚Einschmuggelns‘ des Freundes der Eindruck aufrechterhalten, dass Nuray Coúkun die Situation (durch ‚Tricks‘) kontrolliert. Zugleich kann darin aber auch ein Hinweis auf eine zunehmende Verengung der Handlungsmöglichkeiten aller Beteiligten gesehen werden. Zudem zahlt die Biographin für den „Kampf“ gegen ihre Mutter einen hohen Preis. Die beschriebene Entwicklung kann daher auch als ein weiteres Fortschreiten der verlaufskurvenförmigen Dynamik gedeutet werden, in die das erzählte Ich zunehmend verstrickt wird und die in der Erzählung auf einen Höhepunkt zusteuert. „Vor die Tür gesetzt“ – Destabilisierung der Wohnsituation Auf schulischer Ebene hat Nuray Coúkuns unverändertes Fernbleiben im Wiederholungsjahr zur Konsequenz, dass sie das Gymnasium verlassen muss. Der Ausschluss von der Schule erscheint dabei nicht als ein Scheitern an den Leistungsanforderungen der Schule, sondern wird als willkürlich und durch eigene Handlungen herbei geführtes Geschehen konstruiert. Durch eine Intervention des Rektors wird Nuray Coúkun ‚unter der Hand‘ ein Weg eröffnet, in die zehnte Klasse der Realschule zu wechseln, ohne dass sie über den Hauptschulabschluss verfügt. Die Konsequenzen ihrer antischulischen Haltung treffen sie damit nicht in der vollen Härte, sondern werden dank des persönlichen Eingreifens des Rektors noch abgefedert. Trotz dieser ihr zugestandenen „zweiten Chance“ kommt es aber zu einer weiteren Destabilisierung der Ge-
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samtsituation, da inzwischen der Konflikt auf der zweiten ‚Bühne‘ der Erzählung – der ‚Kampf-Front‘ („zuhause“) seinen Höhepunkt erreicht hat: N: ähm - ja, bin dann an diese Schule, allerdings war die Situation zuhause dann schon so extrem dass äh meine Mutter gesagt hat ich geb dich jetzt auf - äh - du - hörst nicht auf mich du machst was du willst und wenn du denkst du bist so erwachsen, dann leb mal. Dann mach mal. So. Und hat mich dann quasi vor die Tür gesetzt (10/4-7)
Der ‚Rauswurf‘ von zuhause erfolgt als Initiative der Mutter und wieder rekapituliert die Biographin das Geschehen an dieser Stelle aus der Position der handelnden Person – ihrer Mutter. Der Rauswurf wird dabei als eine Kapitulation der Mutter dargestellt, die sich zu einem weiteren Ringen mit der Tochter nicht mehr länger in der Lage fühlt und die Verantwortung für sie nicht mehr tragen will.19 In der widergegebenen Äußerung der Mutter schwingt mit, dass sie die Tochter in die Autonomie entlässt, obwohl sie ihr diese eigentlich noch nicht zutraut. Die Darstellung legt hier zunächst nahe, dass der ‚Rauswurf‘ aus der gemeinsamen Wohnung nach dem Wechsel der Biographin in die zehnte Klasse der Realschule geschah. Anschließend korrigiert die Erzählerin (mit Hilfe ihres Lebenslaufdokuments) den Zeitpunkt auf das Wiederholungsjahr am Gymnasium. Es ist damit auch möglich, dass die Wiederholung der neunten Klasse auch daran scheitert, dass sich auf einer sehr elementaren Ebene – nämlich der Wohnsituation – eine enorme Instabilität ergeben hat. Die Tatsache, dass die Biographin hier (zum ersten und einzigen Mal in ihrer Erzählung) die Reihenfolge der Ereignisse durcheinander bringt, kann dabei als ein Hinweis darauf interpretiert werden, dass die Ereignisse (auch zum Zeitpunkt ihres damaligen Erlebens) eine zunehmend unüberschaubare Dynamik entwickelt haben, auf die sie selbst immer weniger Einfluss hat. Nuray Coúkun verliert hier zunehmend die Kontrolle über das Geschehen, da sie die ‚Spielzüge‘ ihrer ‚Gegenspielerin‘ nicht vorhersehen, geschweige denn kontrollieren kann. Nachdem sie die Ereignisse wieder in die ‚richtige Reihenfolge‘ gebracht hat, nimmt die Erzählerin den Faden ihrer Erzählung wieder auf. Im Folgenden schiebt sich das Thema Wohnen – und damit ein Thema, das die Grundlagen der Existenz betrifft – in den Vordergrund der Erzählung. Die Situation der Biographin zu diesem Zeitpunkt ist prekär: Sie ist siebzehn Jahre alt, verfügt über keinen Schulabschluss und steht vor dem Problem, einen Ort zu finden, an dem sie wohnen kann. In den folgenden Sequenzen berichtet Nuray Coúkun von verschiedenen vorübergehenden ‚Aufenthaltsstationen‘, die jedoch alle keine endgültige Lösung des Wohnproblems bieten. Sie findet zunächst Unterschlupf bei der Familie einer ihrer Tanten in B-Stadt, muss dort jedoch bereits nach kurzer Zeit und unter dramatischen Umständen wieder ausziehen, nachdem sie ihrer Tante eine Lüge eingestehen muss. Die Geschichte wird als eine dramatische Anekdote präsentiert. Es wiederholt sich darin das
19 Diese Interpretation wird auch durch die Formulierung gestärkt, die die Erzählerin wählt, nachdem sie den Faden ihrer Erzählung wieder aufnimmt: „da hat mich meine Mutter auf die Straße gesetzt und hat gesagt so jetzt - Sense, ich kann nicht mehr, und hat gesagt jetzt ähm sieh mal zu dass du - irgendjemanden findest so. Und geh mal zu deiner Vaterfamilie, ne“. (10/24-26)
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Konstruktionsmuster, letztlich durch das eigene Handeln zu einer weiteren Destabilisierung der ohnehin fragilen Situation beizutragen. Nach diesem zweiten Rauswurf scheint die Souveränität des erzählten Ich allerdings schwer beeinträchtigt zu sein: N: ja und dann - stand ich da und dachte ja gut Scheiße, wohin mit mir so ne? Und hab dann meinen Stiefvater angerufen, und /(verstellte Stimme, weinerlich) ich weiß nicht wohin und so/ und es war total schlimm und er meinte, setz dich ins Taxi und komm jetzt zu mir. So. (11/4-7)
An dieser Stelle vermittelt die Erzählerin einen Einblick in ihre Gefühlswelt; durch die wörtliche Rede und die verstellte Stimme wird die Dramatik der Situation reinszeniert. Erkennbar werden die Orientierungs- und Hilflosigkeit des erzählten Ich; Nuray Coúkun weiß nicht mehr „wohin“ und wendet sich schließlich an ihren Stiefvater. Dieser wohnt gemeinsam mit einer neuen Freundin und seiner Tochter noch immer in der Wohngemeinschaft und nimmt Nuray Coúkun bei sich auf; sie kann dort ihr ehemaliges Zimmer beziehen. Später ziehen die vier gemeinsam in die Wohnung der Mutter, die – wie die Erzählerin in einer Hintergrundkonstruktion beiläufig erläutert – inzwischen in die Türkei zurückgekehrt ist. Hier kommt es allerdings zu einem weiteren Eklat, nachdem der Freund der Biographin die Partnerin des Stiefvaters beschimpft und beleidigt. Ähnlich wie zuvor ihre Mutter stellt sie auch der Stiefvater daraufhin vor die Wahl: N: mein Vater20 meinte dann so Nuray - ich mach das jetzt auch nicht mehr mit, entweder bleibst du hier und trennst dich von diesem Typen, oder du packst deine Sachen und gehst. Und dann hab ich meine Sachen gepackt und bin gegangen. Da hatt ich aber schon die Betreuerin. So. Und die hat mir dann sofort - notgedrungen innerhalb von drei Tagen diese Jugendwohnung organisiert, und dann bin ich halt dahin - genau. (11/20-26)
Das Ende der Geschichte wird sachlich-nüchtern bilanziert; Nuray Coúkun entscheidet sich gegen die Trennung und verlässt stattdessen das Feld. Durch diesen Akt demonstriert die Biographin Autonomie gegenüber ihrem Stiefvater, was sich auch in der handlungsorientierten Sprache widerspiegelt („dann hab ich meine Sachen gepackt und bin gegangen“). Sie inszeniert sich damit erneut als selbstbestimmte und unabhängige Akteurin, ohne dass sie sich in einer Situation befindet oder über Ressourcen verfügt, die eine solche Positionierung tatsächlich stützen würden. Es handelt sich um eine riskante Entscheidung, bei der die Biographin die Unterstützung des Stiefvaters – und damit eine der wenigen Ressourcen, über die sie noch verfügt – anscheinend willkürlich aufs Spiel setzt. Diesmal wird Nuray Coúkun nicht mehr von Familienangehörigen ‚aufgefangen‘, sondern findet sich in der Obhut staatlicher Institutionen in der Person einer Betreuerin wieder, die ihr eine Wohnung „organisiert“ (11/26). Es folgt eine zusammenfassende Beschreibung der Zeit in der Jugendwohnung, die sich dadurch auszeichnet, dass die Biographin „total allein und auf [s]ich ge20 Nuray Coúkun bezeichnet ihren Stiefvater in weiten Teilen des Interviews als „mein Vater“, während sie ihren leiblichen Vater meist als „biologischen Vater“ ausweist. Die Bezeichnungen deuten auf die unterschiedliche Qualität der Beziehungen hin, die sich an verschiedenen Graden von Verbundenheit und Nähe festmacht.
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stellt“ (11/28) ist. Dies wird zum einen als Folge davon gedeutet, dass ihr Freund sie „hängen“ ließ, zum anderen als Konsequenz dessen, dass sie selbst den Kontakt zu ihrer Familie ein Jahr lang abbrach. Unterbrochen wird diese Beschreibung von dem Einschub, dass Nuray Coúkun in der Zwischenzeit ihren Schulabschluss auf der Haupt- und Realschule „wieder nicht bekommen“ (11/34) hat. Diese und die anschließende Formulierung, den Abschluss „nicht geschafft“ (37/11) zu haben, legt die Interpretation nahe, dass die Biographin diese wiederholte Erfahrung als individuelles Scheitern an den institutionellen Anforderungen deutet. Somit zeigt sich hier eine andere Deutung als in der Erzählung über den vorzeitig beendeten Gymnasialbesuch, den die Biographin als Folge einer scheinbar selbstbestimmten Oppositionshaltung gegenüber der Schule bilanziert. Diese veränderte Darstellungsweise entspricht möglicherweise auch einem veränderten Erleben in der damaligen Situation. Denn durch das Nichterreichen des Realschulabschlusses hat Nuray Coúkun ihre „zweite Chance“, die ihr durch den außerregulären Wechsel in die zehnte Klasse geboten wurde, vergeben. Damit rückt nicht nur die Möglichkeit, den Realschulabschluss noch auf einfachem Weg zu erlangen, endgültig in die Ferne. Es bedeutet auch, dass sie nach wie vor über keinen Hauptschulabschluss verfügt. 7.2.3 Stabilisierungsversuche Hauptschulabschluss und Verlust der Jugendwohnung Das weitere Geschehen zeichnet sich durch Versuche der Biographin aus, die eigene Lebenssituation zu stabilisieren und die Kontrolle wieder zu erlangen. Dies gelingt teilweise, allerdings wird die Stabilisierung im schulischen Bereich durch die erneut prekär werdende Wohnsituation der Biographin überschattet. N: und war dann in dieser Jugendwohnung, und die haben mir dann ne neue Schule gesucht, und zwar die C-Schule, da hätt ich dann meinen Hauptschulabschluss nachholen können, also ich musste von Null wieder anfangen. Und ähm - das hab ich dann auch durchgezogen, das war - auch ne ganz tolle Schule weil - das war ne BVJ Schule, und ich war in dem - Bereich Filmschnitt, und das hat mich halt total interessiert weil ich hab ähm - seit meiner Kindheit halt auch immer vor der Kamera gestanden und - es war total interessant auch mal - hinter der Kamera zu stehen und eh zu filmen, Interviews zu machen und Sachen zu schneiden, also auch mit der Technik und Ton und alles, das war total interessant. Und - da hab ich dann meinen Haupt nachgeholt - und da war ich dann - genau in diesem einen Jahr in dieser Jugendwohnung, da hab ich dann meinen Haupt beendet, und war dann auch achtzehn, das heißt die Jugendmaßnahme war dann auch beendet, und ich musste dann da raus. So. (11/37-12/10)
Nuray Coúkun beschreibt sich hier nicht mehr als Akteurin, sondern als abhängig von den Bemühungen anderer. Der Wechsel in eine schulische Jugendmaßnahme, das Berufsvorbereitende Jahr (BVJ), wird wiederum von anderen Akteuren – vermutlich dem Jugendamt – initiiert („die haben mir dann ne neue Schule gesucht“). Während sie zuvor eine Schule für ihren Freund gesucht hat, ist sie nun selbst auf die Unterstützung anderer angewiesen. Mit dem BVJ geht es zudem nicht mehr um das Erreichen des Realschulabschlusses, sondern nur noch um das Minimalziel: den Hauptschulabschluss. Nuray Coúkun steht schulisch gesehen damit ganz am Anfang. In der Formulierung „musste von Null wieder anfangen“ scheint sich einerseits das Zu-
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rückgeworfenwerden in ein früheres Stadium des Bildungsweges widerzuspiegeln. Nuray Coúkuns bisherige Schulzeit scheint an diesem Punkt weitgehend wertlos zu sein, da sie zu keinem formalen Abschluss geführt hat. Andererseits verbindet sich mit der Formulierung aber auch die Chance auf einen neuen Anfang. Im Gesamtzusammenhang ihrer Bildungsgeschichte markiert der Hinweis, zu einem so späten Zeitpunkt ihrer Bildungsbiographie noch einmal „von Null anfangen“ zu müssen überdies, dass die Biographin sich den Weg bis zu ihrem gegenwärtigen Status als Studentin hart erarbeiten musste. In der Formulierung das BVJ „dann auch durchgezogen“ zu haben, scheint die Erzählerin zurück zu einer handlungsbezogenen Sprache zu finden.21 Etwas durchzuziehen deutet auf eigene Aktivität, Dynamik, Entschlossenheit und Zielstrebigkeit hin, die hier vermutlich durch den Druck zustande kommt, nach einer Reihe abgebrochener Anläufe die Schule schleunigst zu einem guten Abschluss bringen zu müssen. Die Erfahrungen im BVJ werden ausgesprochen positiv bilanziert, was Nuray Coúkun damit begründet, dass sie sich hier mit dem Filmbereich auseinandersetzen kann, ein Tätigkeitsfeld, das ihr aus eigener Erfahrung vertraut ist und das sie „total interessiert“.22 Ihre schauspielerischen Erfahrungen werden in der Schule zu Ressourcen. Sie kann ihr bisheriges Wissen einbringen und es um Erfahrungen mit Techniken des Filmemachens erweitern („mal hinter der Kamera stehen“, „Interviews machen und Sachen schneiden“). Die Unterrichtsinhalte und -formen sind außergewöhnlich; die Schüler*innen werden durch partizipatorische und kreative Arbeitsformen und das Arbeiten mit verschiedenen Medien zum selbssttändigen Lernen, Ausprobieren und Experimentieren angeregt. Für Nuray Coúkun werden im Rahmen des BVJ Lernprozesse möglich, die im Anschluss an die Lerntheorie Klaus Holzkamps als „expansiv“ bezeichnet werden können (vgl. Holzkamp 1993: 187 ff.).23 Sie tragen auch dazu bei, dass sie innerhalb eines Jahres ihren Hauptschulabschluss erlangt.
21 Offen bleibt, warum Nuray Coúkun von der Möglichkeit, ihren Hauptschulabschluss nachzuholen, im Konjunktiv spricht („hätte ... können“), obwohl sie dann berichtet, dass sie das Ziel tatsächlich erreicht hat. 22 Im Nachfrageteil berichtet Nuray Coúkun, dass sie sich aus genau diesem Grund für diese Schule entschieden hat: „die haben mir das quasi – organisiert, also es gab verschiedene Schulen und ähm ich bin dann - ich hab mich dann für diese entschieden. Weil da diese Filmwerkstatt drinne war“ (42/14-16) 23 Als expansive Lernprozesse bezeichnet Holzkamp Lernhandlungen, die zustande kommen, weil die Lernenden antizipieren, dass sie dadurch ihre Handlungsmöglichkeiten erweitern und ihre „subjektive[…] Lebensqualität“ verbessern können (ebd.: 190). Im Hinblick auf Unterricht, der expansives Lernen ermöglicht, bedeutet dies, dass „das schulische Unterrichtsgeschehen wesentlich durch die von Schülerseite eingebrachten Lernproblematiken initiiert und strukturiert“ (ebd.: 447) sein müsste. Im Rahmen der konventionellen Organisation schulischen Unterrichts sind Lernprozesse Holzkamp zufolge dagegen meist „defensiv begründet[…]“ (ebd.: 447, Herv. i. Orig.), d.h. sie erfolgen im Wesentlichen aufgrund der antizipierten „Beeinträchtigungen“ der eigenen „Lebensmöglichkeiten“ (ebd.), die bei einer Missachtung der schulischen Regeln zu befürchten sind.
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Parallel zum Abschließen der Hauptschule wird eine weitere Zäsur in der Biographie der Erzählerin markiert: das Erreichen der Volljährigkeit, die hier mit Blick auf ihre Folgen thematisiert wird („die Jugendmaßnahme war dann auch beendet“). Der achtzehnte Geburtstag steht für das Wirksamwerden bürokratischer Regelungen, die sich der Kontrolle der Biographin entziehen; sie verliert den Anspruch auf die betreute Jugendwohnung. Der biographischen Stabilisierung, die durch das Erreichen des Hauptschulabschlusses markiert wird, steht damit eine erneute Destabilisierung der Wohnsituation gegenüber. Wie die Biographin im Folgenden ausführt, versucht sie das Wohnproblem zunächst durch einen Umzug zu ihrem „biologischen Vater“ zu lösen. Es wird allerdings schnell deutlich, dass dieser Versuch zum Scheitern verurteilt ist. Dies wird in einer Hintergrundkonstruktion mit dem Umfeld des Vaters erklärt, das die Biographin als düster und bedrohlich beschreibt: N: Also die Wohnung war ständig voll mit irgendwelchen Leuten die waren ständig besoffen und bekifft und ähm es war wirklich so ne richtige Mafiaszene also - da saßen dann auch mal Zuhälter bei uns und irgendwelche hardcore russischen Drogendealer die mit Koks gedealt haben und - ähm - das war dann so die Situation wo ich gedacht hab ey - w=wer weiß was mir hier passieren kann so ne und mein Vadder ist doch total breit und kriegt dann nix mit oder so, also es war wirklich krass. (12/23-28)
Der Vater wird hier nicht mehr als politischer Kämpfer beschrieben, sondern als jemand, der sich in eine kriminelle ‚Unterwelt‘ verstrickt hat. Nuray Coúkun kann sich auf ihren Vater nicht verlassen und sie traut ihm nicht zu, sie vor möglichen Bedrohungen in ihrem unmittelbaren Umfeld zu beschützen. Diese Darstellung plausibilisiert die Entscheidung der Biographin, nach wenigen Wochen abermals die Zelte abzubrechen und sich von seiner Welt fernzuhalten. Das Verlassen dieser Welt wird dabei erneut als autonomer Akt des erzählten Ich dargestellt („Sachen gepackt und gegangen“). Da Nuray Coúkun ihrem Vater mangelndes Verantwortungsgefühl vorwirft, erscheint die eigene Entscheidung, sich ihm nicht anzuvertrauen, als rationale und selbstverantwortliche Entscheidung („der Typ - kann keine Verantwortung tragen so und das - ge_das ist mir zu gefährlich“ (12/33-34)). Die unstete Wohnsituation der Biographin setzt sich damit allerdings fort. Nach dem Auszug von ihrem Vater kommt sie einige Zeit bei ihrem Freund unter, bis dessen Familie aus dem Urlaub zurückkehrt. Nuray Coúkun ist zwar in der Lage, zu ihrem Vater in Distanz zu gehen, um sich selbst zu schützen. Dies gilt jedoch nicht für ihre Beziehung zu ihrem Freund, von dem sie sich nicht löst, obwohl dieser sie während der Zeit in der Jugendwohnung „total hängen lassen“ (11/27) hat. Neben der psychologischen Deutung, die Nuray Coúkun selbst für die Struktur der langjährigen Beziehung zu ihrem Freund bereit hält24, lässt sich dies zu diesem Zeitpunkt vermutlich auch mit der sozial weitgehend isolierten Situation der Biographin erklären: Au24 Die Biographin hat die Beziehung zu ihrem Freund bereits zu einem früheren Zeitpunkt im Interview als Spiegelbild des Verhältnisses zu ihrem Vater gedeutet. Diese Deutung führt sie auf die Therapie zurück, in der sie gelernt hat, dass die Beziehungsstruktur zu ihrem Freund der zu ihrem Vater ähnelt. Das Festhalten daran bedeutet somit eine Orientierung an vertrauten Mustern und Rollen.
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ßer ihrem Freund sind ihr kaum noch andere vertraute Personen geblieben, zu denen sie gehen könnte. Für diese Deutung spricht die folgende Sequenz, in der Nuray Coúkun ihre eigene Hilflosigkeit thematisiert, die sie – nach dem Ende einer weiteren Zwischenstation in der Wohnung einer Freundin – verspürt: N: das war dann die pure Verzweiflung im Grunde genommen weil ich dachte oh Gott ähm w=wo bist du gelandet was machst du überhaupt und wie solls weitergehen - und bin dann wieder - zu meiner Mutter. (lacht) /(lachend) Och Gott is das ne Chaosgeschichte/ - na ja und dann stand ich halt bei meiner Mutter vor der Tür und ähm - meinte ja so und so sieht das aus und - ähm ich komm halt nicht klar. (13/4-9)
Die Rückkehr zu ihrer Mutter erscheint als ein ‚Verzweiflungsakt‘ in einer Situation, in der Nuray Coúkun nicht mehr weiter weiß und sich gewissermaßen ‚geschlagen‘ geben muss. Die Narration wird dabei durch einen Einwurf der Erzählerin selbst unterbrochen, die einen Moment lang aus dem erzählten Geschehen ‚aussteigt‘ und ihre Geschichte aus einer Metaperspektive lachend als „Chaosgeschichte“ kommentiert. Dies kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass sich Nuray Coúkun selbst erst im Prozess des Erzählens der ganzen Dramatik ihrer eigenen Geschichte gewahr wird. Das Lachen macht zugleich den Abstand deutlich, den sie aus ihrer gegenwärtigen Sicht zum damaligen Geschehen und ihrem eigenen Handeln einnehmen kann. Das Leben bei ihrer Mutter wird im Folgenden als ein fragiles Arrangement beschrieben, das die Biographin aus Mangel an Alternativen eingeht: Sie unterwirft sich den „Regeln“ (13/18) ihrer Mutter und verzichtet auf Provokationen, ohne dabei aber ihre Beziehung aufzugeben. Es ist dadurch absehbar, dass das Wohnen bei der Mutter ebenfalls keine Lösung auf Dauer darstellt. „Ich wollte mit den Leuten nichts mehr zu tun haben“ – soziale Distanzierung vom Bildungsmilieu der Handelsschule Die zweite Erzähllinie, die Nuray Coúkun verfolgt – ihre Schulbiographie – ist in diesem Teil ihrer Erzählung hinter den Veränderungen der Wohnsituation zurückgetreten, wird jedoch zwischendurch wieder von der Biographin aufgegriffen. N: Ja und dann ähm - dachte ich okay ich hab jetzt meinen Haupt ich muss jetzt irgendwie meinen Real machen, und hab mich dann an der Handelsschule beworben, R-Straße, bin auch reingekommen, ähm (3) (12/38-13/2)
Die Biographin berichtet in einem nüchternen, faktenorientierten Modus von ihrer Entscheidung, den Realschulabschluss nachzuholen. Diese Entscheidung bedarf dabei aus Sicht der Erzählerin offenbar keiner näheren Begründung. Es werden keine beruflichen Pläne thematisiert, sondern der Realschulabschluss wird als logischer nächster Schritt nach dem erreichten Hauptschulabschluss konstruiert, zu dem es biographisch keine Alternative zu geben scheint.25 Dies kann zum einen als Ausdruck der gesellschaftlichen Entwertung des Hauptschulabschlusses interpretiert werden, 25 Eine ähnliche Formulierung findet sich auch im Nachfrageteil: „Da war dann ja auch die Jugendmaßnahme beendet und ehm - da hab ich dann - zusehen müssen wie ich an meinen Realschulabschluss komme.“ (42/16-19)
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dessen niedriger Status jede Begründung dieses Schritts obsolet macht. Zum anderen lässt sich die scheinbare Alternativlosigkeit des Realschulabschlusses als Ausdruck einer Orientierung an (familial verfügbaren) Ablaufmustern einer höheren Bildungslaufbahn interpretieren, an die Nuray Coúkun anknüpft, ohne schon konkrete Vorstellungen mit dem Realschulabschluss zu verbinden. In jedem Fall zeigt sich, dass die Biographin sich selbst ein neues Bildungsziel setzt und eigenständige Schritte unternimmt, um dieses umzusetzen. Sie beginnt damit, (wieder) selbst Verantwortung für ihren Bildungsweg zu übernehmen. Die Entscheidung für die Handelsschule, die von der Erzählerin nicht näher begründet wird, erweist sich jedoch bald als problematisch. Aus einer Bemerkung kurz vorher ging bereits hervor, dass der Besuch der Handelsschule lediglich drei Monate währte. Die folgende argumentative Erläuterung lässt sich daher als Versuch einer Legitimation des Abbruchs der Handelsschule lesen: N: hab dann aber auch gemerkt dass die Handelsschule nicht das Wahre für mich war weil einfach so viele verplante Leute auf dieser Schule waren und viele auch aus K-Platz die ich von damals gekannt hab und ähm - es waren 80 Prozent Jungs an dieser Schule und zwar wirklich Leu_also Jungs die keinen Plan hatten also die - ne? Und die waren halt echt - hi_ es gab jedes Mal - vor allem diese Schule liegt so dass ähm aus Stadtteil C aus Stadtteil D aus K-Platz und und keine Ahnung so aus der ganzen Umgebung die ganzen Leute dahin - geschmissen wurden und es gab jedes mal Stress und Beulereien und - ähm die haben - halt auch ganz - stark also ganz viel Drogen genommen, die waren jedes Mal breit wenn die dann im Unterricht gesessen haben und so, und diese Szene - konnt ich einfach nicht mehr, ich wollte da nicht mehr - rein und ich wollte mit den Leuten nichts mehr zu tun haben (13/23-31)
Mit der Aussage, dass die die Handelsschule „nicht das Wahre“ für sie ist, wird markiert, dass es sich offenbar um keine ‚passende‘ Schule für die Biographin handelte. Dies begründet Nuray Coúkun in einer längeren Argumentation. Das Hauptargument besteht darin, dass die Schule ein Sammelbecken für (hauptsächlich männliche) Schüler darstellt, die aus ‚Problemstadtteilen‘ kommen und keine Perspektiven entwickelt haben (und „planlos“ sind). Der Schulalltag wird mit drastischen Bildern beschrieben; Drogenkonsum und Gewalt („Beulereien“) sind in der Schule an der Tagesordnung. Die Biographin schildert das Geschehen nicht aus der Perspektive einer Teilnehmerin am Geschehen, sondern – ähnlich wie schon bei der Beschreibung ihrer Grundschule – aus der distanzierten Perspektive einer sozialkritischen Beobachterin. Sie beschreibt das Klientel und die Zustände an der Schule mit drastischen Bildern, ohne dabei jedoch individuelle Mitschüler*innen für ihr Verhalten anzuklagen. Die Zustände an der Schule werden vielmehr durch den Verweis auf die Stadtteile, aus denen die Jugendlichen stammen, kontextualisiert. Mit der räumlichen Verortung und der Feststellung, dass Schüler*innen der Schule zugewiesen („dahin geschmissen“) wurden, werden eher die sozialen Bedingungen als das Verhalten der Schüler*innen problematisiert. Nuray Coúkun positioniert sich einerseits als jemand, der die Herkunftskontexte und Lebenswelten der Jugendlichen aus eigener Erfahrung vertraut sind. Dies wird u.a. dadurch plausibilisiert, dass sie hier auf Bekannte aus ihrem früheren Wohnbezirk trifft. Andererseits grenzt Nuray Coúkun sich in dieser Sequenz von ihren Mitschüler*innen und deren „Szene“ explizit ab: „ich wollte da nicht mehr - rein und
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ich wollte mit den Leuten nichts mehr zu tun haben“. Damit kündigt sie eine bewusste Distanzierung von einem Peer-Zusammenhang an, dem sie sich einmal zugehörig gefühlt hat. Der Abbruch der Handelsschule nach drei Monaten wird also durch eine Abgrenzung von einem als schuldistanziert beschriebenen Schüler*innenmilieu legitimiert. Das vorzeitige Ende der Handelsschule wird damit anders gedeutet als das Ende der gymnasialen Schulkarriere. Es ist nicht mehr Ausdruck einer Absage an schulische Bildungsprozesse, sondern erscheint eher als eine Abkehr von einem sozialen Kontext, der den eigenen Bildungsplänen potenziell im Weg steht. 7.2.4 Biographischer Wendepunkt und Stabilisierung Besuch bei der Familie der Mutter als biographischer Wendepunkt Im Folgenden folgt Nuray Coúkun weiter der Chronologie der Ereignisse. Sie erzählt über einen dreimonatigen Aufenthalt bei der Familie ihrer Mutter in der Türkei.26 Ob dieser dem Motiv entspringt, dem Schulbesuch zu entfliehen oder sie diese Reise unternimmt, nachdem sie sich bereits zum Abbruch der Handelsschule entschlossen hatte, bleibt offen. Der Türkeiaufenthalt markiert eine tiefgreifende Zäsur in der Biographie der Erzählerin, die sie als biographischen Wendepunkt konstruiert.27 Die Reise wird mit einer zusammenfassenden Bilanzierung eingeführt („das war ne ganz krasse Erfahrung“ (13/33-34)). Der Aufenthalt bei der Familie ihres Onkels in der Türkei bedeutet für die Biographin einen Wechsel der sozialen Welten. Nuray Coúkun beschreibt die Konfrontation mit ihr fremden Normen und Lebensweisen. Die Familie des Onkels, die als „sehr stark traditionell“ (13/35) charakterisiert wird, bildet in ihrer Erzählung eine Kontrastfolie zum „liberale[n]“ (14/1) Lebensstil ihrer Mutter. Traditionalität verbindet die Biographin mit der Orientierung an religiösen Regeln – konkret dem Einhalten der Fastenzeit, die in die Zeit ihres Aufenthalts fällt – sowie einer traditionellen „Familienstruktur“ (13/37). Die Lebensweise der Familie zeichnet sich somit auch durch eine Ordnung und Regeln aus, die Nuray Coúkun – so ihre rückblickende Deutung – immer vermisst hat. Die Familie ihrer Mutter in der Türkei verkörpert dadurch das Andere, das in seiner Differenz zwar fremd, aber zugleich begehrenswert wirkt. Der Familienalltag wird für Nuray Coúkun jedoch zu einer desillusionierenden Erfahrung. N: da als ich dann in der Türkei war hab ich erst wirklich gemerkt was es - was dieses Familie überhaupt bedeutet. Und das war - für mich der absolute Horror. Also ich war - ich hab drei Monate hab ich=hab ich da gelebt und es war - ich hab meine Mutter auch das erste Mal wirklich verstanden warum - warum sie so ist wie sie ist und warum sie - ständig unter diesem Druck dieser Familie gelitten hat und ähm im Grunde genommen alles für die gemacht hat und 26 Die Erzählerin erwähnt weder hier, noch an einer anderen Stelle die Region oder den genauen Ort, an dem ihre Familienangehörigen leben, sondern nur die nationale Markierung „Türkei“, weshalb dies in der Darstellung beibehalten wird. 27 Dabei handelt es sich um eine subjektive Konstruktion. Die Rekonstruktion ihrer Biographie lässt eher darauf schließen, dass der Verlaufskurvenprozess schon mit dem Nachholen des Hauptschulabschlusses und der Entscheidung gegen das Wohnen beim Vater ‚abgebremst‘ wird und spätestens mit der Bewerbung an der Handelsschule bereits eine biographische Neuorientierung stattfindet.
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am Ende auch noch beschimpft wurde, von wegen ähm - w=wie kannst du uns nen neuen LKW kaufen, so in Anführungsstrichen, was hast du denn da in Deutschland für ne Arbeit? Also immer dieses, du bist ne Hure, im Grunde genommen, sonst würdest du niemals so viel Geld verdienen können (14/7-15)
Im Nachhinein deutet Nuray Coúkun die Konfrontation mit der Lebensweise der Familie als eine Art ‚heilsamen Schock‘, den ihre Idealvorstellung von Familie und ihre Sehnsucht nach einem traditionellen „Familienleben“ erfährt. Familie bedeutet nicht nur Geborgenheit, sondern auch Macht und Kontrollansprüche, die die Handlungsspielräume ihrer Mitglieder begrenzen und Grenzen der Legitimität definieren. Dies zeigt sich darin, dass die Familienmitglieder die Migration von Nuray Coúkuns Mutter offenbar nie akzeptiert haben und die moralische Integrität ihres Lebens in Deutschland infrage stellen, obwohl sie finanziell davon profitieren. Diese Erfahrung wird als ein umfassender biographischer Lernprozess konstruiert, der weitreichende Konsequenzen sowohl für ihr Verhältnis zu sich selbst als auch für das Verhältnis zu ihrer Mutter hat. N: ja und das war dann so der - da hab ich mich auch richtig ausgekotzt dann - in=in der Türkei, da hab ich dann - da hab ich alles verarbeitet, ich hab auch zu also ich hab halt als ich in bevor ich in die Türkei geflogen bin hab ich halt auch äh stark gekifft und so weiter und das war dann so ne - Entgiftung im Grunde genommen diese drei Monate und da kam alles raus so, da kam alles - bush und - dann hab ich da mich erstmal ausgekotzt in der Türkei, und nach drei Monaten als ich dann zurück gekommen bin hab ich mit meiner Mutter n klärendes Gespräch gehabt und da hab ich mich auch nochmal richtig ausgekotzt und hab ihr dann alles an den Kopf geknallt was sie falsch gemacht hat mit meiner Erziehung so ungefähr, so das=das=das=das=das - und ähm das hat mir richtig gut getan also danach - kam so der Punkt wo ich gesagt hab so - und (klopft auf den Tisch) jetzt hörst du auf damit immer wieder den anderen die Schuld in die Schuhe zu schieben so nur wegen euch bin ich so, nur wegen euch krieg ich das nicht hin, und versuchst dein Leben jetzt alleine in die Hand zu kriegen so. Und das war - da war ich ja dann auch schon - achtzehn. (14/16-28)
Durch die Formulierungen „richtig ausgekotzt“, „Entgiftung“ und „da kam alles raus“ wird die Erfahrung in der Türkei als ein körperlicher Reinigungsprozess beschrieben, in dem die Biographin sich aller schädlichen Substanzen entledigt, die sie zuvor in sich trug.28 Dies markiert zunächst eine körperliche Erfahrung, die auch eine Nähe zu dem zuvor thematisierten Ritual des Fastens aufweist. Das Bild symbolisiert jedoch auch eine Reinigung im übertragenden Sinn, wie bereits mit der Formulierung „da hab ich alles verarbeitet“ angedeutet wird. Damit wird deutlich, dass die Biographin parallel zu den körperlichen Erfahrungen auch in einen Prozess der Auseinandersetzung mit sich selbst eintritt. 28 Der Hinweis, selbst „auch stark gekifft“ zu haben und die drastische Schilderung des Reinigungsprozesses lassen sich auch als mögliche Hinweise darauf lesen, dass Nuray Coúkun selbst zwischenzeitlich durchaus gefährdet gewesen sein könnte, in soziale Welten ‚abzudriften‘, von denen sie sich explizit abgrenzt. Die Distanzierung vom Lebensstil des Vaters und vom Schulmilieu der Handelsschule lassen sich vor diesem Hintergrund auch als Ausdruck einer Selbstschutz-Strategie interpretieren.
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Anschließend werden die Folgen dieses ‚Verarbeitungsprozesses‘ thematisiert: Nach ihrer Rückkehr führt Nuray Coúkun ein „klärendes Gespräch“ mit ihrer Mutter, in dem sie diese mit den Fehlern konfrontiert, die sie ihrer Ansicht nach in der Erziehung gemacht hat. Der Verlauf dieses Gespräch wird als durchaus konfrontativ beschrieben („alles an den Kopf geknallt was sie falsch gemacht hat“), die Biographin erlebt diese Konfrontation jedoch als entlastend („das hat mir richtig gut getan“). Sie scheint zudem die Voraussetzung dafür zu sein, dass Nuray Coúkun anschließend eine veränderte Haltung zu ihrem eigenen Leben einnehmen kann. Mit dem Vorsatz, ihr Leben fortan „alleine in die Hand kriegen“ zu wollen, anstatt anderen die Verantwortung dafür zuzuschreiben, übertritt sie symbolisch eine Schwelle, die als eine Grenze zwischen einer kindlichen und einer erwachsenen Haltung zum Leben interpretiert werden kann. Diese Deutung wird durch die abschließenden Worte der Erzählerin plausibilisiert („da war ich auch schon achtzehn“). Die Erwähnung der Volljährigkeit an dieser Stelle kann als symbolische Unterstreichung der Verantwortungsübernahme für das eigene Leben gedeutet werden. Der Aufenthalt bei der Familie und seine Folgen markieren somit auch eine symbolische ‚Selbstinitiation‘ in den Erwachsenenstatus. Im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte stehen der Besuch und seine Folgen für das Abschließen einer Lebensphase, die als schädlich und belastend konstruiert wird, was durch die Metapher der „Entgiftung“ markiert wird. Darüber hinaus ist damit der Beginn von etwas Neuem verbunden: Die Biographin gewinnt eine veränderte Sicht auf Familie und ein Verständnis für den Lebensentwurf ihrer Mutter. Die Auseinandersetzung mit der Mutter erfolgt dabei (anders als zuvor) auch mit Worten und Argumenten. Im Zuge dessen kann sie ihre Mutter von Schuldzuweisungen entlasten, die sie ihr gegenüber empfunden hatte. Damit ist auch ein Zugewinn an Autonomie verbunden, insofern als Nuray Coúkun von nun an die Verantwortung für ihr Leben selbst reklamieren kann. Damit stellt sie allerdings auch hohe Anforderungen an sich selbst. „Das erste Mal – diesen Boden wieder unter den Füßen“ – emotionaler Rückhalt als Basis für eigene Bildungsentwürfe Die nachfolgenden Ereignisse folgen einer aufsteigenden Dynamik. Nach dem beschriebenen biographischen Wendepunkt stabilisiert sich die Situation der Biographin auf beiden Ebenen der Erzählung (der Schulbiographie und der Familien- und Wohnbiographie). Die erste große Entscheidung, die Nuray Coúkun nach ihrer Rückkehr nach B-Stadt erwähnt, ist eine Bildungsentscheidung: Das Nachholen des Realschulabschlusses an einer privaten Abendschule. Die Entscheidung für diese Schule kann dabei als Ausdruck des Wunsches interpretiert werden, sich ein anderes soziales Umfeld zu schaffen. Es ist davon auszugehen, dass die soziale Zusammensetzung der Schüler*innen in einer kostenpflichtigen, privaten Abendschule eine andere ist als in der Handelsschule. Möglicherweise hat Nuray Coúkun die Entscheidung für diese Schule auch nicht allein getroffen, denn sie ist dafür auf finanzielle Unterstützung angewiesen. An diesem Punkt ihrer Biographie kann sie wieder auf im Familiennetzwerk vorhandene ökonomische und soziale Ressourcen zurückgreifen: Die Tante, die sie zuvor herausgeworfen hatte, finanziert den Schulbesuch. Dies lässt sich auch als Ausdruck eines neu gewonnenen Vertrauens der Familie in den Bildungs-
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weg der Biographin deuten, den sie hier nach einer langen Schleife nun aus eigenem Antrieb weiter verfolgt. Zugleich ist mit der Finanzierung durch die Tante für Nuray Coúkun eine gewisse Verpflichtung und Verbindlichkeit des Bildungsvorhabens verbunden. Auch auf der zweiten Erzähllinie, der ‚Wohnbiographie‘, stabilisiert sich die Sitaution mit Hilfe familialer Netzwerke. Der Wunsch nach einer eigenen Wohnung, der auch als Ausdruck des veränderten Status des Erwachsenseins interpretiert werden kann, ist zwar aus finanziellen Gründen nicht realisierbar. Nuray Coúkun kann aber bei einer langjährigen Freundin und Kollegin ihrer Mutter einziehen, zu der sie ein „nettes Verhältnis“ (14/38) hat. Dadurch bekommt sie den Status einer WGBewohnerin, mit dem vermutlich auch ein hoher Grad an Autonomie und Selbstbestimmung verbunden ist. Ein weiteres Element, das zu einer Stabilisierung beiträgt, ist das Engagement der Biographin für die Betreuung ihrer kleinen Schwester, die sie gegen ein Taschengeld übernimmt. Sie verbringt dadurch einen Teil des Tages in der Wohnung ihres Stiefvaters und ihrer Schwester. Nuray Coúkun beginnt dadurch nun, nicht nur für sich selbst, sondern auch für eine weitere Person Verantwortung zu übernehmen, die auf ihre Verlässlichkeit angewiesen ist. Mit der Betreuung sind zudem regelmäßige Tätigkeiten verbunden – das Abholen der Schwester um eine bestimmte Tageszeit, das Zubereiten einer Mahlzeit, das gemeinsame Erledigen der Hausaufgaben. Das Betreuungsarrangement führt dadurch zu einem festen Tagesrhythmus, der nicht nur der Schwester, sondern auch ihr selbst eine verlässliche Struktur gibt. In gewisser Weise beginnt Nuray Coúkun durch die Sorge für ihre Schwester, eine eigene Form des „Familienlebens“ zu praktizieren, die sie selbst als Jugendliche vermisst hat. Anscheinend funktioniert dieses Arrangement so gut, dass sie nach einer Zeit in Übereinstimmung mit ihrem Stiefvater und ihrer Schwester in die Wohnung mit einzieht. Der ‚äußeren‘ Stabilisierung der Situation der Biographin entspricht auch eine ‚innere‘ Stabilisierung. Dabei spricht Nuray Coúkun ihrem Stiefvater eine entscheidende Rolle zu: N: ja, und dann ähm (3) hab ich das erste Mal auch das Gefühl gehabt - dass jemand ähm wirklich auch für mich da ist. Also - dann mein Stiefvater der - hat halt echt wirklich bewiesen in meinen Augen dass egal was war er=er derjenige war der immer gesagt hat ich bin da. So. Und ähm - das war für mich - also es hat tierisch viel mit mir - gemacht in dem Sinne ähm - vor allem auch mit diesem=diesem ganzen Prozess halt mit=mit meiner Vatergeschichte und mit meiner Beziehungsgeschichte und so weiter - ähm - hab ich sehr viel abschließen können. Dadurch dass er da war also - weil diese Rolle des Vaters hat sich - verändert durch ihn. Also ich hab n ganz anderes Vaterbild bekommen, vor allem weil die Bindung zwischen mir und meiner Schwester auch so intensiv - geworden ist und ich - ähm - erlebt hab wie die Beziehung zwischen den beiden ist und dass er mich auch wirklich auch als seine Tochter gesehen hat ähm - das war für mich so - da hab ich das erste Mal - diesen Boden wieder unter den Füßen gehabt im Grunde genommen. (15/18-31)
Die mit dem Umzug zum Stiefvater einhergehenden inneren Veränderungen bilanziert die Erzählerin als einen Prozess der Stabilisierung, der dazu führt, dass sie „das erste Mal – diesen Boden wieder unter den Füßen“ hatte. Der Stiefvater repräsentiert Verlässlichkeit und Geborgenheit und bildet dadurch zugleich ein Gegenbild zu ih-
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rem als unverlässlich und verantwortungslos beschriebenen „biologischen Vater“. Wie Nuray Coúkun in dieser eigentheoretischen Reflexion ausführt, trugen die positiven Erfahrungen mit ihrem Stiefvater daher nicht nur dazu bei, selbst neuen Halt zu finden, sondern ermöglichten auch eine Revision ihres „Vaterbild[es]“. Mit der Stabilisierung der Lebenssituation gewinnt die Biographin auch neues Selbstvertrauen, das es ihr ermöglicht, Perspektiven zu entwickeln, die über die Bewältigung der aktuellen Anforderungen hinausreichen. Sie fasst in dieser Zeit den Plan, das Abitur nachzuholen: N: Und auch gemerkt dass ich meinen Weg gehen kann also dass ichs auch schaffen kann so der Wille war einfach da und ich wollte diese Schule machen, ich wollte mein Abi unbedingt, ich hab gesagt, so Nuray jetzt - jetzt oder nie so und - gib_ich hab wirklich alles gegeben so, ich hab gesagt so jetzt - ne? nach dem ganzen Scheiß nach diesem ganzen Gekämpfe und=und um diesen ganzen - ähm - Situationen wo ich im Grunde genommen mich immer als Versagerin gefühlt hab und=und immer dachte boah ey du kriegst es einfach nicht hin, ey dein Leben ist - das reinste - Chaos so ne? (15/31-37)
Es scheint nun eine einmalige Gelegenheit dafür gekommen zu sein, ihrem Leben eine andere Ausrichtung zu geben („jetzt oder nie“). Die Formulierung erinnert an eine sportliche Herausforderung, die gemeistert werden muss; das Ziel scheint klar zu sein und Nuray Coúkun scheint nur noch auf ein ‚Startsignal‘ zu warten. Ihr Plan wird durch eine in hohem Maße handlungsschematische Haltung getragen, die sich nun auf ein konkretes (Bildungs-)Ziel fokussiert. Zentral für die Umsetzung dieses Vorhabens scheinen dabei die hohe Motivation und das neu gewonnene Selbstvertrauen zu sein, das in dem Glauben Ausdruck findet, „dass ich meinen Weg gehen kann also dass ichs auch schaffen kann“. Die zwischenzeitliche Deutung eines individuellen Scheiterns wird durch das Vertrauen in das eigene Vermögen abgelöst. Die Gegenüberstellung des bisherigen „Gekämpfes“ mit dem neuen Ziel kann dabei auch als Hinweis darauf interpretiert werden, dass Nuray Coúkun die Energien, die lange Zeit in den „Kampf“ gegen die Mutter geflossen sind, nun für die Entwicklung eigener biographischer Projekte nutzen kann. Im Nachfrageteil thematisiert sie darüber hinaus, dass sie sich in einer Vorbildrolle für ihre jüngere Schwester erlebt, die sich an ihr orientiert. In den Zusammenhang der Stabilisierung der Lebenssituation stellt Nuray Coúkun im Folgenden auch den ersten „ernsthaften“ (16/5) Versuch, sich von ihrem Freund zu trennen. Das Vertrauen zu ihrem Stiefvater und das wiedergewonnene Selbstvertrauen werden dabei als Voraussetzungen für diesen Trennungsversuch konstruiert. Allerdings deutet bereits die Formulierung der Biographin an, dass es nicht endgültig bei der Trennung bleibt, sondern weitere Trennungsversuche folgen werden. Während Nuray Coúkun die Wohnsituation beim Stiefvater und die Abendschule ihrem Leben in dieser Zeit ein festes „Standbein“ (16/14) verleihen, stellt die Beziehung zu ihrem Freund damit nach wie vor ein Element dar, das den biographischen Neuentwurf potenziell gefährdet.
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7.2.5 Neupositionierungen in der Oberstufe „Weg mit dem Ghetto-Kram“ – Neupositionierungen während der Oberstufenzeit Im Folgenden greift die Erzählerin erneut das Thema Abitur auf und erzählt über ihre Oberstufenzeit in einer Gesamtschule in B-Stadt. Diese Lebensphase wird von Nuray Coúkun als Prozess der Überwindung verschiedener Hürden thematisiert, der schließlich zu einem umfassenden verändeten Selbst- und Weltverhältnis führt. Zu den Hürden zählen neben Übergangsschwierigkeiten, die mit der Gewöhnung an einen veränderten (Schul-)Alltag zu tun haben, Veränderungen in Nuray Coúkuns Freundschaftsbeziehungen. Am Beginn steht die Suche der Biographin nach einer „passend[en]“ Schule, an der sie das selbst gesteckte Ziel, ihr Abitur nachzuholen, realisieren kann. Zur Auswahl stehen eine Gesamtschule und ein Gymnasium, das jedoch als schlechtere Option erscheint, was mit der fachlichen Ausrichtung der Schule („in Richtung Wirtschaft“ (16/25)) und der Lage der Schule in der Umgebung des ehemaligen eigenen Wohnbezirks begründet wird. Darin zeigt sich erneut, dass Nuray Coúkun sich zu diesem Zeitpunkt von ihrer Vergangenheit zu distanzieren versucht. Dies gelingt ihr allerdings nur bedingt, denn bei der Gesamtschule handelt es sich um die ehemalige Schule ihres (Ex-)Freundes, so dass sie auch in dieser Schule „mit ganz vielen Erinnerungen“ (16/28-29) konfrontiert wird. Die Vergangenheit erscheint in ihrer Schilderung als Bürde, von der sie sich nicht befreien kann. Der Übergang in die Oberstufe der Gesamtschule wird von der Erzählerin als „schwierig“ (16/32) bilanziert. Neben der Konfrontation mit ihrer Vergangenheit, die ihr einen unbeschwerten Neuanfang erschwert, schildert sie Probleme, sich an den veränderten Rhythmus der Ganztagsschule anzupassen. Auch die Erfahrungsdifferenzen zwischen Nuray Coúkun und ihren Mitschüler*innnen erschwert den Einstieg in die Oberstufe. Sie positioniert sich als „Älteste[…] in dem ganzen Jahrgang“ (16/33), die als Quereinsteigerin in eine bereits bestehende Jahrgangsstufengemeinsschaft hineinkommt. Sie verfügt zudem über einen völlig anderen Erfahrungshorizont und es fällt ihr schwer, an die Lebenswelten ihrer Mitschüler*innen Anschluss zu finden. N: meinen Platz zu finden in dieser Klasse war für mich total schwer so, weil ich hatte halt so das Gefühl ich kam da rein und ich war in nem ganz anderen - Lebensabschnitt und ich hab soviel hinter mir gehabt und - hab dann diese jungen Leute gesehen die total unbeschwert - da ihre Hausaufgaben (lacht kurz) gemacht haben und das war für mich - so zwei Welten prallen aufeinander irgendwie und ich - konnte damit überhaupt nicht umgehen. (17/1-5)
Nuray Coúkuns diskontinuierliche Schulbiographie wird damit zunächst zu einer Hürde für die Herstellung einer sozialen Zugehörigkeit zu ihrer Jahrgangsstufe. Die Kluft zwischen den Erfahrungshorizonten der Biographin und ihrer jüngeren Mitschüler*innen, deren bisheriges Leben anscheinend im Wesentlichen durch die Schule bestimmt ist, wird durch den Vergleich mit einem Zusammenprall zweier Welten stark gemacht. Die Thematisierung der Übergangsschwierigkeiten bildet zugleich die Erklärung für erneute hohe Fehlzeiten im ersten Halbjahr der elften Klasse, die wie-
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derum das Hineinwachsen in die Jahrgangsstufe weiter erschweren. Der schulische Neuanfang der Biographin an der Gesamtschule gestaltet sich insofern krisenhaft. Dass sich diese Krise im weiteren Verlauf nicht weiter verschärft, führt die Erzählerin im Wesentlichen auf ihre Lehrer*innen zurück. Sie erwähnt zum einen die Vertrauenslehrerin der Schule, mit der sie regelmäßige Gespräche führen und ihre soziale Situation in der Klasse kommunikativ aufarbeiten kann. Durch die Möglichkeit zum Dialog und zur Reflexion fühlt Nuray Coúkun sich von der Lehrerin „aufgefangen“ (17/7). Zum anderen versuchen ihre Lehrer*innen sie durch wiederholte Appelle zum regelmäßigen Unterrichtsbesuch zu bewegen. Dabei scheinen sie weniger auf die Androhung von Sanktionen zu setzen, sondern auf die Unterstützung der Schülerin und die Bestärkung in ihrer Leistungsfähigkeit („du bist hier genau richtig und du kannst das und ähm du hast es drauf so“ (17/15-16)). Auffällig ist, dass sich hier eine Erfahrung wiederholt, die Nuray Coúkun bereits im Gymnasium gemacht hat: Sie hat trotz hoher Fehlzeiten schulische Erfolge und erhält „Einsen und Zweien“ (17/13). Die Lehrer*innen scheinen erneut ihr Potenzial zu erkennen, bestärken sie trotz ihres nonkonformen Verhaltens in ihrem eingeschlagenen Bildungsweg und ermöglichen durch eine unbürokratische Ausnahmeregelung ihren Verbleib in der Jahrgangsstufe. Dies kann als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass Nuray Coúkun trotz der Normabweichungen in ihrer Biographie und ihrem Schulbesuchsverhalten von den Lehrer*innen als förderungswürdige bzw. habituell ‚passfähige‘ Schülerin wahrgenommen wird. Dafür spricht auch der Fortgang der Ereignisse. N: in der Zwölften wars dann wieder so dann haben wir - neue Profile, es war ja ne Profiloberstufe, sind wir - also die Klassen wurden dann wieder gemischt und dann bin ich wieder mit neuen Leuten in eine Klasse gekommen, und das war - auch noch mal sag ich mal in Anführungsstrichen schwierig weil ich gemerkt habe dass in der elften Klasse schon die ganzen Leute mit denen ich mich so verstanden hab ehm quasi raus sind also entweder andere Pläne dann gemacht haben oder halt einfach ausselektiert wurden. Ähm und die Lehrer auch knallhart gesagt haben, so du hast hier keine Chance such dir ne Ausbildung. Und w=wo ich mich dann wiederum - auch son bisschen reflektieren konnte und gesehen hab, ey guck mal, bei dir - sagen die das nicht! (lacht) So! Weißt du? (17/33-18/3)
Die soziale Einbindung der Biographin wird in der zwölften Klasse erneut auf die Probe gestellt. Dies steht zum einen mit Veränderungen in der Klassenkonstellation (durch die Bildung fachlicher Schwerpunkte) in Zusammenhang. Zum anderen lässt Nuray Coúkuns Erzählung darauf schließen, dass zwischen der elften und der zwölften Klasse Entscheidungsprozesse virulent werden, an denen sowohl die Lehrkräfte als auch die Schüler*innen selbst beteiligt sind. Sie führen dazu, dass die Freund*innen der Biographin sich entweder selbst für einen anderen Weg entscheiden oder „einfach ausselektiert“ werden. Die Lehrer*innen werden an dieser Stelle als Gatekeeper*innen beschrieben, die ihre Funktion „knallhart“ ausüben. Das ‚glatte‘ Durchlaufen der Oberstufe scheint damit in Nuray Coúkuns Freundeskreis keineswegs die Regel zu sein. Im Gegensatz zu ihren Freund*innen bleibt die Biographin selbst jedoch von diesen Selektionsmechanismen verschont. Trotz ihrer diskontinuierlichen schulischen Vergangenheit und ihrer Fehlzeiten wird ihr nicht von der Abiturperspektive abgeraten. Nuray Coúkun wird somit Zeugin davon, wie ihre Freunde die Schule verlassen, während sie erlebt, dass ihr eigener Mitgliedschaftssta-
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tus durch die Pädagog*innen nicht infrage gestellt wird. Sie bleibt als einzige aus ihrem Freundeskreis ‚übrig‘. Diese Erfahrung bilanziert sie als „in Anführungsstrichen schwierig“. Dabei ist nicht ganz klar, ob sich diese zurückgenommene Negativbewertung auf die Konsequenz bezieht, „wieder mit neuen Leuten“ in der Klasse zu sein und hier den eigenen Platz finden zu müssen, oder auf die Erfahrung, als Einzige aus dem Kreis ihrer Freund*innen die Schwelle zum Abitur überwunden zu haben. Für beide Lesarten finden sich im weiteren Verlauf der Erzählung Hinweise, die diese plausibilisieren. Nuray Coúkun selbst richtet ihren Fokus in der Fortsetzung ihrer Erzählung auf die Herausforderungen, die sich durch die veränderte Klassenkonstellation für sie ergeben. N: Und das war dann - der Punkt, also wir waren dann - in der zwölften Klasse - zu achtzig Prozent Deutsche in=in=in dieser Klasse, und das war natürlich dann nochmal - für mich nochmal so ne Überwindung sag ich mal in Anführungsstrichen - weil ich vorher immer nur n Freundeskreis hatte - nicht nur, also ich hatte auch deutsche Freunde, so wars nicht, aber zum größten Teil meine engsten Freunde waren halt doch ähm Afghanerinnen oder Türkinnen oder ich hab mich halt immer in diesem Milieu bewegt, und ich hatte auch mal ne deutsche Freundin aber es war halt nicht so - eng sag ich mal. (18/3-10)
Der Übergang in die neue Klasse wird als eine „Überwindung“ beschrieben, weil damit Veränderungen der Klassenzusammensetzung einhergehen, die hier unter der Perspektive nationaler bzw. ethnischer Zugehörigkeiten beschrieben werden. Wähend Nuray Coúkuns Freundeskreis sich bislang im Wesentlichen aus Schüler*innen mit Migrationsgeschichte zusammensetzte, besteht die ‚neue‘ Klasse mehrheitlich aus ‚deutschen‘ Schüler*innen. Mit der veränderten Konstellation ist also neben der allgemeinen Herausforderung, die sich beim Übergang in eine neu zusammen gesetzte Klasse mit teilweise unbekannten Mitschüler*innen stellt, also auch eine Neupositionierung verbunden: Nuray Coúkun zählt in ihrer Klasse nun zu einer Minderheit von Schüler*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘. Auffällig ist hier die wiederholte Apostrophierung der eigenen Aussagen („in Anführungsstrichen“), wodurch sich die Erzählerin bereits im Moment des Sprechens wieder von dem Gesagten distanziert. Die Aussage, den Übergang in die mehrheitlich von Schüler*innen ohne Migrationsgeschichte besuchte Klasse als eine Überwindung empfunden zu haben, scheint nicht legitim zu sein; jedenfalls nicht im Gespräch mit der Interviewerin, die als Angehörige der ‚Mehrheitsgesellschaft‘ positioniert ist. Auch die Relativierung der Aussage, mehrheitlich mit migrantischen Schüler*innen befreundet gewesen zu sein („ich hatte auch deutsche Freunde, so wars nicht“) deutet darauf hin, dass Nuray Coúkun sich hier unter Legitimationsdruck fühlt. Sie bewegt sich offenbar in einem ‚heiklen‘ Themenfeld, bei dem ein unbefangenes Sprechen schwer fällt. Dies lässt sich zum Teil mit der Interviewkonstellation und der Positionierung der Erzählerin gegenüber der Interviewerin erklären, der Nuray Coúkun sich möglicherweise nicht als voreingenommen gegenüber „Deutschen“ präsentieren will. Darüber hinaus kann es auch als ein Hinweis darauf gedeutet werden, dass es zumindest legitimierungsbedürftig ist, sich in sozialen Gruppen zu bewegen, in denen ‚Migrant*innen‘ die Mehrheit bilden. Angesichts des dominanten gesellschaftlichen und politischen Diskurses besteht die Gefahr, dass dies als ers-
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ter Hinweis auf ‚mangelnde Integrationsbereitschaft‘ ausgelegt wird. Damit steht potenziell auch die eigene Zugehörigkeit zur Gruppe der als ‚gut integriert‘ Geltenden auf dem Prüfstand. Mit der Aussage, sie habe sich „halt immer in diesem Milieu bewegt“ nimmt Nuray Coúkun dann auch eine Abwertung ihrer ehemals engen Freund*innen vor und kündigt eine Distanzierung von diesem „Milieu“ an. Vor dem Hintergrund der vorangegangenen Sequenz könnte es sich dabei um eine Strategie handeln, mit der sie sich mit den verlorenen Freundschaften und der damit einhergehenden ‚Vereinzelung‘ arrangiert. Die Entpersonalisierung ihrer Freund*innen durch den Begriff „Milieu“ führt dazu, dass nicht mehr der Verlust persönlicher Bindungen und sozialer Zugehörigkeiten im Zentrum der Erfahrung steht. Der heteronom herbeigeführte Bruch in den bisherigen Freundschaftsbeziehungen erscheint vielmehr als eine eigenständige Distanzierung von einer abgewerteten Gruppe. Die verstörende Erfahrung, als Einzige aus ihrem (migrantischen) Freundeskreis in die zwölfte Klasse gelangt zu sein, wird für eine Veränderung der eignenen sozialen Positionierung genutzt. Im Zentrum der weiteren Erzählung über die Gesamtschulzeit steht dann auch dieser Prozess der Neupositionierung. Die Biographin betont erneut die Differenzen zwischen dem erzählten Ich und den (neuen) Mitschüler*innen, wobei hier nicht die natio-kulturelle Zugehörigkeit ins Zentrum gestellt wird. N: klar hatt ich auch Angst wie die mich annehmen - ich hatte Angst ähm - wie die mit meinem Hintergrund - also ob die das akzeptieren dass ich - so ne Vergangenheit hab und klar, ich war halt n Straßenkind, ich hab mich halt auch damals geschlagen und ich war halt ich hatte diese=diese Straßenjargon hatt ich halt auch drauf und - ich war halt - son - ne? (lacht) DIESE KATEGORIE HALT ne (18/17-21) N: weil das war halt Mittelklasse wirklich die - die Leute zu achtzig Prozent die um mich herum waren dann an der Schule waren halt wirklich Mittelklasse so, und sogar auch drüber. Und für mich - ich kam halt aus der Arbeiterklasse so ne und das waren natürlich auch wiederum Welten die aufeinander getroffen sind. (18/26-29)
Nach der natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeit und der Alters- und Erfahrungsdifferenz führt Nuray Coúkun nun weitere kategoriale Unterscheidungen zwischen sich und ihren Mitschüler*innen ein. Durch die Positionierung als Angehörige der „Arbeiterklasse“ und die Selbstbezeichnung als „Straßenkind“, die durch den Verweis auf bestimmte soziale Praxen (sich schlagen, „Straßenjargon“) plausibilisiert wird, betont die Erzählerin eine große soziale Distanz zu den neuen Mitschüler*innen, die als „Mittelklasse“-Schüler*innen gelabelt werden. Dies lässt sich weniger als Ausdruck einer kämpferischen Klassenposition lesen (darauf deutet neben der Inkonsistenz der genannten Positionen auch die unspezifische Formulierung „diese Kategorie halt“ hin). Die verwendeten Kategorien sind vielmehr von strategischer Bedeutung für die Erzählung. Durch die Hervorhebung der erheblichen sozio-kulturellen Differenzen zu ihren Mitschüler*innen erscheinen die Hürden, die Nuray Coúkun zu überwinden hat, um eine soziale Zugehörigkeit zu ihrer neuen Klassengemeinschaft herzustellen, dramatisch (es treffen „Welten aufeinander“).
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Diese Dramatisierung der Differenzen bildet die Basis für die Schilderung eines umfassenden biographischen Lern- und Bildungsprozesses, der Nuray Coúkuns Erzählung über die Oberstufenzeit bestimmt: N: Und da in der elften hab ich dann Claudia kennen gelernt, und sie wurde dann quasi so meine Seelenverwandte (lacht kurz) und ähm mit ihr bin ich echt durch dick und dünn gegangen und ähm - hab mich dann auch auf diese Situation also f_ eingelassen. Ich hab dann gesagt so jetzt wirklich - weg mit diesem ganzen Ghetto Kram, und du bist jetzt - in ner ganz anderen Situation, du machst jetzt dein Abitur und du ziehst das jetzt durch und du hast ganz andere Leute um dich herum, erweitere deinen Horizont im Grunde genommen hab ich mir dann echt gesagt so, mach dich frei, mach dich offen. Und das hat - sehr gut geklappt. (18/10-16)
Das Kennenlernen einer Klassenkameradin markiert eine Zäsur, mit der Nuray Coúkun sowohl einen inneren Veränderungsprozess verbindet als auch eine veränderte Haltung gegenüber der neuen Klasse und ihrer Position darin. Die Freundschaft zu ihr bildet eine Art Brücke, die es ihr ermöglicht, sich „auf diese Situation ein[zu]lassen“. Das ‚Sich-Einlassen‘ konstruiert die Biographin als einen bewussten Entschluss, mit „diesem ganzen Ghetto-Kram“ zu brechen. Dieser Ausdruck wird nicht näher erläutert, kann aber möglicherweise als Label für bestimmte Formen jugendkultureller Praxis gelesen werden, mit denen bewusst marginalisierte Positionen eingenommen und für die eigene Identitätskonstruktion genutzt werden. Die Maxime „weg mit diesem ganzen Ghetto Kram“ scheint eine radikale Abkehr von bisherigen Orientierungen und sozialen Bezügen zu implizieren, die Nuray Coúkuns veränderter Lebenssituation und ihrer sozialen Position als Abituranwärterin offenbar nicht mehr angemessen sind. Die Distanzierung davon wird als eine Überwindung von Selbstbegrenzungen konstruiert, die von der Biographin selbst gesteuert werden. Sie erscheint als ein reiner Willensakt, zu dem sich die Biographin nur selbst ermutigen muss („erweitere deinen Horizont“, „mach dich frei, mach dich offen“ (18/15-16)). Die Loslösung von bisherigen Orientierungen und sozialen Bindungen und das SichEinlassen auf einen neuen Zugehörigkeitskontext werden somit als Akte der Selbstbefreiung aus der Selbstmarginalisierung konstruiert. „Weg mit dem Ghetto-Kram“ bedeutet also die Abkehr von einer Praxis, die Nuray Coúkun rückblickend als eine Art ‚Selbst-Ghettoisierung‘ betrachtet.29 Die Einfachheit, mit der sie ihre Position offenbar verlassen kann, stärkt die Lesart, dass die Selbstkonstruktion als „Straßenkind“ in erster Linie eine Rolle darstellt, mit der die Biographin spielt und die sie relativ leicht aufgeben kann. Der Verlauf dieses ‚Selbstbefreiungsprozesses‘ wird von Nuray Coúkun positiv evaluiert („das hat - sehr gut geklappt“ (18/16)). Die Erfahrungen während der Oberstufenzeit werden als umfassender Prozess der (Selbst-)Veränderung bilanziert, dessen Ausmaß sie selbst überrascht: „Und da hab ich wirklich also da ist mein Ho29 So beschreibt Nuray Coúkun einen Aspekt der Veränderungen ihrer sozialen Beziehungen als das Vermögen, nun „mit Leuten Freundschaften einzugehen die du vorher - auf der Straße beschimpft hättest oder=oder ausgegrenzt hättest“ (18/34-36). Indem sie dem erzählten Ich die Macht zuschreibt, andere beschimpft und ausgegrenzt zu haben, positioniert sie sich nicht als Opfer der Marginalisierung durch andere, sondern als handlungsmächtige Akteurin, die andere von sich selbst abgrenzt.
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rizont - meilenweit - /(lachend) über mich hinweg geschwungen“ (18/36-37). Dass dieser Prozess gelingt, führt Nuray Coúkun – neben ihrer eigenen Entschlossenheit zu einem Neuanfang – auch auf die (unerwartete) Bereitschaft ihrer Mitschüler*innen (und Lehrer*innen) zurück, sie mitsamt ihrem „Hintergrund“ (18/18) und ihrer „Vergangenheit“ (18/18) zu akzeptieren. Sie erhält von ihnen sogar soziale Anerkennung („Respekt“ (18/33)) für ihre biographischen Leistungen: „weil sie gesagt haben boah ey du hast es geschafft irgendwie ehm nach diesem ganzen Scheiß den du erlebt hast ähm - und dich da alleine durchgekämpft“ (18/30-33). Damit wird Nuray Coúkun auch von ihren Mitschüler*innen als autonome und handlungsmächtige Akteurin wahrgenommen, die sich aus eigener Kraft aus einer schwierigen Lebenslage befreit und sich ihren Weg selbst erkämpft hat. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Übergänge in die Oberstufe und in die neue Klasse von Nuray Coúkun als zentrale Punkte ihrer Bildungsbiographie konstruiert werden. Es geht dabei nicht nur um die Gewöhnung an schulische Zeitabläufe und Routinen, sondern auch um eine Neupositionierung im sozialen Raum. Die Erzählerin beschreibt den Prozess, den sie im Laufe der Oberstufe durchläuft, als eine grundlegende Wandlung vom „Straßenkind“ mit einer ‚schwierigen‘ Biographie hin zu einer von Lehrer*innen wie Schüler*innen gleichermaßen akzeptierten und geachteten Oberstufenschülerin. Der geschilderte Prozess erscheint dadurch auf den ersten Blick als ein sozio-kultureller Assimilationsprozess, der Anstrengungen und Opfer erfordert, die am Ende aber mit einer anerkannten Position ‚belohnt‘ werden. Bei genauerem Hinsehen lässt sich jedoch die These aufstellen, dass es sich weniger um eine grundlegende habituelle Wandlung, sondern – zumindest zu einem gewissen Teil – um das Aufgeben einer Selbstinszenierung handelt. Dafür spricht die Leichtigkeit, mit der Nuray Coúkun ihre bisherige ‚Identität‘ über Bord werfen und in eine neue Rolle schlüpfen kann. Sie kann ihre Selbstkonstruktion als Angehörige der Arbeiterklasse und marginalisiertes Straßenkind nicht dauerhaft aufrechterhalten – nicht zuletzt weil sich diese nicht (mehr) mit ihren Erfahrungen deckt. Sie macht in der Gesamtschule (zum wiederholten Mal) die Erfahrung, trotz ihres nicht normkonformen Lebenslaufs und ihres schulischen ‚Fehlverhaltens‘ von der Schule nicht ausgeschlossen zu werden. Im Gegensatz zu ihren Mitschüler*innen passiert sie die ‚Selektionsschleuse‘ in die zwölfte Klasse mühelos. Auch von den Klassenkamerad*innen wird sie nicht ausgegrenzt. Dies alles spricht dafür, dass Nuray Coúkun trotz ihrer diskontinuierlichen und ‚dramatischen‘ Biographie eine bestimmte habituelle Passung zu den schulischen Erwartungen mitbringt und diese während der Oberstufenzeit weiter ausbauen kann. Dies hat mit der Kultur der betreffenden Schule zu tun: Ähnlich wie zuvor das BVJ, lässt sich auch die Gesamtschule als ein Bildungsraum verstehen, in dem Nuray Coúkuns Handlungsvermögen anerkannt wird und in dem sie an biographische und kulturelle Ressourcen anknüpfen kann. Etwas später in der Haupterzählung beschreibt sie die Gesamtschule als eine „ganz besondere Schule“ (20/13), die über eine außergewöhnliche, vielseitige Lernkultur verfügt. Ein zentraler Aspekt, den sie herausstellt, ist die Ablösung des Frontalunterrichts durch partizipatorische Lernformen, die nicht nur durch Gruppenarbeiten, sondern auch durch die Gestaltung von Unterrichtseinheiten durch die Schüler*innen ermöglicht werden. Auch fächerübergreifender Unterricht und die kreative Arbeit mit Medien (Theateraufführungen, Filmerstellung) gehören zum Konzept der Schule. Diese Schul- und Lernkultur bietet
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vielfältige Anknüpfungspunkte für Nuray Coúkuns Interessen und Fähigkeiten. Sie verfügt schon über viele Erfahrungen mit der kreativen Arbeit mit Medien. Bereits während ihrer BVJ-Maßnahme hat sie ein Interesse am Filmeschneiden entwickelt, an das sie hier anschließen kann. Auch durch die Möglichkeit des durch die Schüler*innen selbst gestalteten Unterrichts kann die Biographin sich erfolgreich einbringen; für ihre Unterrichtsstunden erhält sie sowohl von ihren Lehrer*innen als auch von ihren Mitschüler*innen viel Anerkennung. Im Nachfrageteil erzählt Nuray Coúkun darüber hinaus, dass sie sich an schulinternen Aktivitäten zum Thema ‚Integration‘ beteiligt (so leitet sie z.B. eine Podiumsdiskussion mit Vertreter*innen politischer Parteien) und hier kritisch Position bezieht (sie äußert sich u.a. kritisch zum Integrationsverständnis der Schule, das sie für scheinheilig hält). Dabei macht sie die Erfahrung, dass ihr Mut zu kritischen Positionierungen in der Schule nicht nur toleriert, sondern wertgeschätzt wird. N: Ich hab die ständig kritisiert die Leute (lacht) und das fanden die gut also - das mochten die Lehrer. Das war so - ja endlich mal eine die auch mal was gegenhält die auch mal - die schlechten Seiten irgendwie auch - anspricht oder Sachen die nicht funktionieren oder die nicht so toll sind. Und das hat keiner gemacht an der Schule also das war - für mich auch noch mal n Erlebnis so - diejenige zu sein die - da son bisschen stichelt und nachhakt und so weiter. Und ich hätte auch nicht gedacht dass das so gut ankommt aber die - fanden das irgendwie - toll. (36/3-9)
Es gibt somit viele Hinweise darauf, dass das Erfahrungswissen und die Dispositionen der Erzählerin im Bildungsmilieu der Gesamtschule anschlussfähig werden. Die genannten Beispiele lassen darauf schließen, dass die Schule ein Bildungsmilieu repräsentiert, das es Nuray Coúkun ermöglicht, ihre biographischen Ressourcen zum Kapital zu machen. Die Schule verfügt über ein implizites Idealbild ihrer Lernenden, dem Nuray Coúkun mit ihrer Bildungsbiographie und ihrem Erfahrungsschatz anscheinend perfekt entspricht. Die Schule fordert von ihren Schüler*innen, ihre Lernprozesse selbstständig zu gestalten und ermutigt sie dazu, an der Gestaltung der Schule aktiv zu partizipieren. Die Schüler*innen werden nicht als Personen, die ein Curriculum zu durchlaufen haben, sondern als selbstverantwortlich Lernende und Mitgestalter*innen des Schullebens adressiert. Während diese Erwartungen für andere Schüler*innen zu einer Hürde werden können, sind sie mit Nuray Coúkuns Selbstsicht und ihren biographischen Ressourcen in hohem Maße kompatibel. Dennoch hat die Biographin auch weiterhin eine Position inne, die sie von ihren Mitschüler*innen unterscheidet. Darauf verweist u.a. die Deutung der Erzählerin, dass diese es „sehr gut [fanden] dass ich - auch n anderen Blickwinkel hatte, dass ich die Sachen auch ähm - ganz anders betrachten konnte als=als die es getan haben“ (18/24-26). Nuray Coúkun bringt aufgrund ihrer biographischen Erfahrungen eine besondere Perspektive mit, die auch im Verlauf der Oberstufe erhalten bleibt. Es zeigt sich aber, dass sie in der Lage ist, mit verschiedenen Facetten sozialer Zugehörigkeiten zu spielen und diese für ihre Identitätskonstruktion zu nutzen. Die Selbstklassifizierung als „Straßenkind“ und Angehörige der „Arbeiterklasse“ sowie die Dramatisierung von Anschlussproblemen und erbrachten Akkulturationsleistungen ermöglichen es ihr, sich als Person zu konstruieren, die – trotz einer soziokulturell eher privilegierten Ausgangslage – Hindernisse überwinden und sich den Weg zum Abitur selbst ebnen musste.
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Der „endgültige Cut“ – Trennung vom Freund Nuray Coúkuns schulische Erfolge stehen auch mit dem Ende ihrer Beziehung in Verbindung, mit dem sie beginnt, ihre Zeit verstärkt in die Schule zu investieren. Während der Gesamtschulzeit vollzieht die Biographin die endgültige Trennung von ihrem Freund. Diese wird als eine letztlich befreiende Erfahrung konstruiert, in der sie sich auch von den Kontrollansprüchen ihres Freundes löst. Ihren Lehrer*innen und ihren Freund*innen schreibt die Erzählerin eine wichtige Rolle in dem schmerzhaften Trennungsprozess zu. N: Und das - fand ich f_ - also ich fand das wahnsinnig wie die - wie die sich engagiert haben zu der Zeit auch für m_ für mich und auch gesehen haben boah ey - wir müssen sie da irgendwie rausholen. Und meine Lehrerin die hat dann auch immer ganz treu, die meinte wenn er dich dann nochmal anruft, wir machen ne Fangschaltung, du musst zur Polizei gehen, du musst ne Anzeige machen, und wenn er dann hier in Deutschland ist und dann - der hat mich auch gestalkt, der stand auf einmal vor meiner Tür, hat mich abgefangen und solche Sachen - ähm als ich mich dann getrennt hatte von ihm, dann meinte sie, ich hol dich auch ab jeden Tag von zuhause und bring dich dann zur Schule und bring dich wieder nach Hause, und es war wirklich so - ich hab mich so wohl gefühlt und ich hab soviel Rückhalt von den Leuten bekommen dass ich - gemerkt hab ich brauch ihn nicht mehr. So. Und dann hab ich - den endgültigen Cut auch gemacht. (19/26-38)
Nuray Coúkun beschreibt den ungewöhnlichen Einsatz einer Lehrerin, die sie im Trennungsprozess durch ihr persönliches Engagement unterstützt. Die Unterstützung, die sie erfährt, gibt ihr so viel Sicherheit, dass sie die Trennung dieses Mal „endgültig[…]“ vollziehen kann, obwohl ihr Freund diese Entscheidung offenbar zunächst nicht akzeptieren will. Die Lösung von ihrem Freund ist in ihrer Darstellung direkt mit den Erfahrungen der Anerkennung und Unterstützung im schulischen Kontext verknüpft. Dies kann auch so interpretiert werden, dass die scheinbare ‚Sicherheit‘, die Nuray Coúkun zuvor in der Beziehung gesucht hatte, nun durch den „Rückhalt“ abgelöst wird, den sie in der Unterstützung der Lehrerin und ihrer Klassenkamerad*innen findet. Hier scheint sich ein Muster zu wiederholen, das bereits in der Erzählung über das Wohnen beim Stiefvater zeigte: Der emotionale Rückhalt, den Nuray Coúkun von signifikanten Anderen erhält, gibt ihr den Mut zu Entscheidungen, die zu ihrer Autonomie beitragen – zuvor das Nachholen des Abiturs, hier die Trennung vom langjährigen Freund. 7.2.6 Zwischenfazit: Abgrenzung und Wiederannäherung an das familiale Erbe – Bildungsgeschichte als Emanzipationsgeschichte Betrachtet man die ‚objektiven‘ Stationen und Passagen von Nuray Coúkuns Lebensund Bildungsverlauf, so fällt zunächst vor allem eine beträchtliche Dynamik in den Blick. Ihre Biographie entspricht in vielen Punkten nicht dem (fiktiven) ‚Normallebenslauf‘, wie er für eine Studentin, die direkt nach dem Abitur ein Studium begonnen hat, angenommen werden könnte. Ihr Bildungsweg zeichnet sich durch erhebliche Diskontinuitäten und Brüche aus und bewegt sich bereits formal betrachtet zwischen Extremen: Sie beginnt eine ‚hoffnungsvolle‘ Schulkarriere, die jedoch in einen
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schulischen Abstiegsprozess übergeht, und vollzieht anschließend einen erneuten schulischen Aufstieg. Damit verbunden sind mehrere irreguläre Schul(form)wechsel und eine Vielzahl von Anfängen, Abbrüchen und ‚Schleifen‘. Brüche kennzeichnen aber nicht nur die Schullaufbahn der Biographin, sondern auch Nuray Coúkuns soziale Beziehungen zu anderen und – in Zusammenhang damit – ihre Wohnsituation. Es ist daher vor allem diese Brüchigkeit, die in der biographischen Selbstpräsentation bearbeitet werden muss. Die Situation der Biographin zum Zeitpunkt des Interviews zeichnet sich im Kontrast zu ihren bisherigen Lebenserfahrungen durch eine hohe Stabilität und Geordnetheit aus: Nuray Coúkun hat ihr Abitur nachgeholt und ein Studium begonnen, die Dynamik in der Beziehung zu ihrer Mutter und anderen Familienangehörigen hat sich entspannt, sie hat ihre langjährige, belastende Beziehung aufgegeben und ihre Wohnsituation ist seit einiger Zeit unverändert und sicher. Die chaotischen Ereignisverkettungen gehören somit der Vergangenheit an, auf die Nuray Coúkun aus einer gefestigten Position heraus zurückblicken kann. Auch die Therapieerfahrungen der Biographin tragen vermutlich dazu bei, dass sie in der Lage ist, eine ungewöhnlich reflektierte Perspektive auf ihre Biographie einzunehmen. Zum Zeitpunkt des Interviews deutet Nuray Coúkun ihre Vergangenheit als ein vorübergehendes Abgekommen-Sein vom ‚eigentlichen‘ Weg, auf den sie aber noch rechtzeitig zurückfinden konnte. Ihre Bilanz lautet: „Es hätte auch schlimmer kommen können aber ich hab echt noch die Kurve gekriegt“ (41/7). Das Wissen darum, die Verlaufskurvendynamik überwunden zu haben und den gegenwärtigen Anforderungen des Studiums gewachsen zu sein, ermöglicht es ihr, mit einer teilweise selbstironischen Distanz auf die Dynamik der Vergangenheit zurückzublicken und die Abweichungen von ‚normalbiographischen‘ Schemata für die Präsentation einer ‚besonderen‘ und ‚interessanten‘ Geschichte zu nutzen. Die Bearbeitung der biographischen ‚Brüche‘ geschieht in Nuray Coúkuns Erzählung durch die Konstruktion von Prozessen der Abgrenzung/Distanzierung und Neupositionierung, die die Biographin sowohl im Hinblick auf ihre Familie als auch in Bezug auf schulische und peerkulturelle Einbindungen vollzieht. Nuray Coúkun präsentiert ihre Geschichte, indem sie ihre schulische Bildungsgeschichte mit der Erzählung über die sich verändernden Haltungen zu signifikanten Anderen verwebt. In ihrer Selbstdarstellung sind dabei von Beginn an zwei Perspektiven oder mögliche ‚Plots‘ angelegt: Einerseits die Geschichte der Tochter politisch-intellektueller Eltern mit Verbindungen in politische und künstlerische Kreise, die über vielfältige kulturelle Ressourcen verfügt und früh eigene Bildungsvorstellungen entwickelt; andererseits die Geschichte eines Kindes getrennter Eltern aus einem benachteiligten Stadtteil, das früh lernen muss, sich gegen andere zu behaupten. Beide ‚Plots‘ sind relevante Bezugsrahmen für die Konstruktion der Geschichte darüber ‚wie alles kam‘; sie bilden die Rahmen für den in der Geschichte angelegten Verlaufkurvenprozess ebenso wie für die handlungsschematischen Potenziale und den Prozess des schulischen ‚Wiederaufstiegs‘. Nuray Coúkun konstruiert ihre Biographie als eine Emanzipationsgeschichte, in der sie sich zunächst von der ‚starken‘ Figur ihrer Mutter und deren Lebensmaximen lösen muss, bevor sie aus eigenem Antrieb heraus ihre Biographie gestalten kann. Mit ihrer kritisch-intellektuellen Weltsicht und ihrem politischen Engagement repräsentiert die Mutter eine ‚starke‘ Akteurin, der Nuray Coúkun einen erheblichen Ein-
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fluss auf ihren eigenen Lebensentwurf zuschreibt. Während sie den Lebensentwurf und die Lebensleistungen ihrer Mutter aus ihrer Gegenwartsperspektive heraus würdigen und anerkennen kann, bringt sie mit der ‚Stärke‘ der Mutter in der Vergangenheit auch Überforderungen und Leidensprozesse in Verbindung. Nuray Coúkun wird als Kind eng in den beruflichen, politischen und privaten Alltag ihrer Mutter eingebunden, wodurch ihre eigenen Bedürfnisse zeitweise ins Hintertreffen geraten. Dies deutet sich sowohl in der Erzählung über die Zeit in der Wohngemeinschaft an, als auch in (späteren) bilanzierenden Äußerungen über die Fälle von häuslicher Gewalt, mit denen sie als Kind durch das berufliche Engagement ihrer Mutter „hautnah“ konfrontiert war. Das Engagement ihrer Mutter bildet damit ein durchaus ambivalentes soziales Erbe in Nuray Coúkuns Biographie. Das spannungsreiche Verhältnis zu ihrer Mutter bildet die Ausgangslage für die Ausbildung einer Oppositionshaltung, die Nuray Coúkun als Teenagerin kultiviert, die sich zu einem „Kampf“ mit der Mutter ausweitet, der eine beachtliche Dynamik entwickelt. Dieser Kampf wird auf den beiden Ebenen ausgetragen, auf denen ihre Mutter als bildungsaktive und frauenrechtlich engagierte Akteurin am stärksten getroffen werden kann: Durch die Beziehung zu einem Jungen, in der Nuray Coúkun sich dominieren und demütigen lässt, und durch den Widerstand gegen schulische Bildung. Damit bricht Nuray Coúkun mit jeglichen normativen Rahmen und Erwartungen ihrer Mutter.30 Dieser Befreiungsprozess dauert über mehrere Jahre an und ist für alle Beteiligten mit Leiderfahrungen verbunden. Im Verlauf dieser Konfrontation kommt es zu einem Abbruch der Beziehung der Biographin zu ihrer Mutter sowie zu sämtlichen anderen Familienmitgliedern und schließlich zu einer Destabilisierung ihrer Wohnsituation. Damit gehen die ‚nach außen sichtbaren‘ Brüche in Nuray Coúkuns Schulkarriere einher. Sie inszeniert bzw. deutet ihren ‚Kampf gegen die Mutter‘ zwar insofern als einen handlungsschematischen Prozess, als sie die Rolle des handelnden Subjekts beansprucht und sich die Macht zuschreibt, andere zu verletzen. Dieses Handlungsschema scheint sich jedoch zunehmend zu verselbstständigen, so dass sich eine verlaufskurvenförmige Dynamik entwickelt, die Nuray Coúkun nicht mehr überblicken kann – nicht zuletzt weil sie die ‚Spielzüge‘ ihrer ‚Gegenspielerin‘ ebenso wenig kontrollieren kann wie die Verletzungen, die sie sich selbst dabei zuzieht. Nuray Coúkun katapultiert sich somit letztlich selbst aus der ‚normalbiographischen‘ Bahn heraus. Mit siebzehn steht sie ohne Schulabschluss und festen Wohnort da. Es folgen institutionell flankierte Versuche einer Stabilisierung bzw. ‚Reparatur‘ (BVJ, Jugendwohnung). Diese sind einerseits erfolgreich – Nuray Coúkun erlangt ihren Hauptschulabschluss – andererseits wird eine weitere Festigung durch die erneute Instabilität ihrer Wohnsituation erschwert, die dadurch zustande kommt, dass die Biographin durch ihre Volljährigkeit die Unterstützung staatlicher Institutionen verliert. Zum subjektiven biographischen Wendepunkt wird ein Aufenthalt bei der Familie mütterlicherseits. Danach wird es Nuray Coúkun möglich, ihren „Kampf gegen die Mutter“ in ein anderes Handlungsschema zu überführen, bei dem es um die Entwicklung eigener Lebens- und Bildungsvorstellungen geht, sowie um die Übernahme 30 Eine gewisse Ironie dabei ist, dass die Biographin in ihrem ‚Befreiungsprozess‘ in gewisser Hinsicht durchaus einem ähnlichen Muster folgt wie ihre Mutter, die durch ihre Migration und ihren autonomen Lebensentwurf ebenfalls in radikaler Form mit den normativen Vorstellungen ihrer Familie gebrochen hat.
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von Verantwortung für sich selbst und andere. Die Erfahrung eines verlässlichen Rückhalts durch den Stiefvater und die Übernahme von Verantwortung für ihre jüngere Schwester bilden die Basis für den Prozess der Stabilisierung. Damit einher geht auch eine Wiederannäherung an die Wertvorstellungen ihrer Mutter (und weiterer Familienmitglieder). Nuray Coúkun vollzieht einen schulischen (Wieder-)Aufstieg, bei dem sie sowohl finanzielle als auch emotionale Unterstützung von Familienangehörigen, insbesondere ihres Stiefvaters und ihrer Tante, erhält. Sie knüpft dabei sowohl an Bildungsnormen in der Familie an, in der viele Personen über höhere Bildungsabschlüsse verfügen, als auch an ein früheres eigenes Bildungsmotiv: Den Wunsch, wie ihre Tanten das Abitur zu machen – wenn auch nicht am Gymnasium. Besonderheiten des schulischen Bildungswegs Aus einer an Bildungswegen und -geschichten interessierten Sicht fallen bei Nuray Coúkuns Geschichte insbesonder folgende Aspekte auf: Interessant ist zunächst die Tatsache, dass Nuray Coúkuns schulischer Abstieg nicht mit einem Mangel an ökonomischen oder kulturellen Ressourcen erklärt werden kann. Obwohl in der Familie der Biographin vielfältige formale und informelle Bildungsressourcen vorhanden sind und Nuray Coúkun über Vorbilder für eine ‚erfolgreiche‘ Bildungskarriere verfügt, helfen diese Ressourcen ihr für ihre Schulkarriere zwischenzeitlich nicht viel. Sie kann diese kulturellen Privilegien aufgrund der eingetretenen biographischen Dynamik auf der Ebene der sozialen Beziehungen nicht für sich nutzbar machen; das familial verfügbare kulturelle und soziale Kapital bewahrt sie daher zunächst nicht vor dem schrittweisen schulischen Abstieg. Erst nachdem sie ohne Hauptschulabschluss dasteht und „wieder von Null anfangen“ muss, kann sie ihre informell erworbenen Kenntnisse und Kompetenzen schrittweise erschließen und für die Entwicklung einer eigenen Bildungsperspektive nutzen. Der Prozess des schulischen Wiederaufstiegs wird einerseits durch den emotionalen Halt flankiert, den Nuray Coúkun durch ihren Stiefvater erfährt. Andererseits kann sie hier nun auch von den sozialen Netzwerken und dem kulturellen und ökonomischen Kapital der Familie profitieren. Ihre Tante finanziert ihr den Besuch einer privaten Abendschule und eröffnet ihr damit einen vergleichsweise privilegierten Weg zum Realschulabschluss. Vom Zusammenleben mit ihrem Stiefvater kann Nuray Coúkun – wie später deutlich wird – auch in intellektueller Hinsicht erheblich profitieren: Sie übt sich mit ihm während der Oberstufenzeit beispielsweise in das gemeinsame Lesen und Diskutieren von Fachliteratur ein und entwickelt ein Interesse für diese Art der kommunikativen Auseinandersetzung. Diese Lernprozesse finden dabei keineswegs gezielt, sondern beiläufig statt. Interessant ist jedoch nicht nur die (sich verändernde) Bedeutung der familialen Ressourcen für Nuray Coúkuns Bildungsbiographie, sondern auch die Relationierung der Biographin zu den Institutionen des Bildungssystems. Im Zuge ihres schulischen Abstiegs und Wiederaufstiegs durchläuft sie unterschiedlichste Schulen, die zugleich auch verschiedene Bildungsmilieus repräsentieren. Zu diesen setzt Nuray Coúkun sich in verschiedener Weise ins Verhältnis. Das Gymnasium ist in ihrer Erzählung im Wesentlichen als ‚Kriegsschauplatz‘ im Konflikt mit ihrer Mutter von Bedeutung.31 31 Im Nachfrageteil beschreibt Nuray Coúkun das Gymnasium als ein konservatives Bildungsmilieu mit einer ‚frontalen‘ Lernkultur, in dem die SchülerInnen auf den klassischen
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Es repräsentiert zuerst eine Bildungsoption, die gegen die Mutter durchgesetzt wird, später wird es zu einem der Austragungsorte des ‚Kampfs‘ gegen die Mutter. Dagegen gewinnt die Schule, an der Nuray Coúkun ihr BVJ absolviert hat, ebenso wie die Gesamtschule, eine Relevanz als Ort für umfassende Lern- und Bildungsprozesse. Dabei kann die These aufgestellt werden, dass die pädagogische Ausrichtung der individuellen Schule von erheblicher Bedeutung für die Erfahrungen der Biographin ist. Beide Schulen arbeiten mit pädagogischen Konzepten, die auf das eigene Tun, die Anregung eigener Aktivitäten, Handlungs- und Ausdrucksmöglichkeiten der Schüler*innen fokussiert sind. Nuray Coúkuns Erzählung gibt viele Hinweise darauf, dass sie für eine solche partizipative Schul- und Lernkultur nahezu prädisponiert ist. Sie kann ihre intellektuellen, kommunikativen und fachlichen Kompetenzen in beiden Schulen daher erfolgreich zur Geltung bringen und weiterentwickeln. In diesem Sinne kann man hier durchaus von der Herstellung eines „schulbiographischen Passungsverhältnisses“ (Kramer 2008) sprechen. Nuray Coúkun erfährt zudem viel Ermutigung und Unterstützung seitens ihrer Lehrer*innen. Dies ist dabei kein Spezifikum dieser beiden Schulen, sondern zieht sich wie ein roter Faden durch nahezu sämtliche Schulerfahrungen, von denen sie berichtet. Die Lehrer*innen im Gymnasium und in der Realschule intervenieren zwar auch als Gatekeeper*innen in Nuray Coúkuns Schullaufbahn, jedoch wird sie aus den beiden Schulen erst ausgeschlossen, nachdem alle anderen Mittel und Sonderregelungen wirkungslos geblieben sind. Die Lehrer*innen zeigen viel Geduld und Verständnis. Nuray Coúkuns Normübertretungen werden zwar gerügt und mit Disziplinierungsmaßnahmen beantwortet, vorzugsweise aber nicht mit den härtesten Mitteln geahndet. Ausgehend von der These, dass dies nicht unbedingt die Norm im Umgang von Schulen mit ihren Schüler*innen ist und gerade für die Schulbiographien von Schüler*innen mit Migrationshintergrund in der Literatur oft gegenteilige Phänomene beschrieben worden sind, erscheint diese Beobachtung bemerkenswert. Eine mögliche Erklärung dafür könnte darin liegen, dass die Biographin – trotz ihrer Normverstöße – bestimmte Kriterien einer ‚guten Schülerin‘ erfüllt. Sie wird von ihren Lehrer*innen offenbar als ‚intelligente‘ bzw. ‚begabte‘ Schülerin ‚mit Potenzial‘ wahrgenommen, die förderungswürdig ist und für die sich ein persönlicher Einsatz lohnt. Zu vermuten ist, dass hier – neben ihren Leistungen – habituelle Dispositionen, die den im Schulsystem geforderten Haltungen entsprechen, eine Rolle spielen. Dabei kommen familial erworbene Dispositionen und Haltungen wie Selbstständigkeit und Kritikfähigkeit zum Tragen. Es ist auch möglich, dass mit Normverstößen entlang von Geschlechtergrenzen unterschiedlich umgegangen wird und Nuray Coúkun als Schülerin ein ‚sanfterer‘ Umgang zuteil wird als ihn Schüler in vergleichbarer Situation erleben würden. Dabei könnten auch Zuschreibungen von Hilfs- bzw. Schutzbedürftigkeit eine Rolle spielen, die angesichts der Belästigungen der Biographin durch den Ex-Freund aufgerufen werden. Inwiefern dabei auch kulturalisierende Deutungen und Typsierungen zum Tragen kommen, die Nuray Coúkun mit der Rolle des ‚unter-
Bildungskanon verpflichtet werden. Dass dieser weitab von den Interessen und Lebenswelten der Schüler*innen liegt, kommt exemplarisch in der Figur der „alt[en]“, „Hornbrille“ tragenden Deutschlehrerin zum Ausdruck, bei der die Schüler*innen „Goethe rauf und runter – auswendig lernen“ müssen (35/1).
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drückten türkischen Mädchens‘ (vgl. Weber 2003) identifizieren, lässt sich dabei nur vermuten. Nuray Coúkuns Bildungsgeschichte zeigt damit, dass dieser von verschiedenen sozialen Differenzordnungen gerahmt wird, die für ihren Bildungsweg bedeutsam werden. Sie werden jedoch nicht kategorial wirksam – etwa als soziale Privilegien oder Nachteile –, sondern gewinnen erst im Rahmen des individuellen bildungsbiographischen Prozesses Sinn und Bedeutung. Ihre Bedeutung kann sich zudem in wechselnden sozialen Kontexten verändern. Die Macht, die Differenzverhältnisse an bestimmten Punkten der jeweiligen Bildungsgeschichte (‚für‘ oder ‚gegen‘ die Akteur*innen) entfalten können, ist nicht zu unterschätzen, aber ihre Bedeutung für die jeweilige biographische Prozessstruktur lässt sich nicht prognostizieren. Es zeigt sich an Nuray Coúkuns Biographie, dass Bildungswege durch wechselnde biographische Konstellationen ihre Richtung ändern können und in ihrer Dynamik – in gewissem Maße – kontingent sind. Nuray Coúkuns Erzählung zeigt auch, dass prekäre Schulverläufe und schulische Abstiegsdynamiken keineswegs immer auch als Geschichten des Getriebenwerdens präsentiert werden müssen. Sie können auch in eine individuelle Prozesslogik eingelagert sein, die es den Subjekten ermöglicht, sich trotz bedrohlicher schulbiographischer Dynamiken als Konstrukteur*innen ihrer Bildungsgeschichte zu entwerfen. So lässt sich Nuray Coúkuns Schulverlauf von außen betrachtet als Beispiel für eine durchaus prekäre Schullaufbahn lesen, insofern als es ihr nur auf erwartungswidrigem Wege und mit finanzieller Unterstützung von Verwandten gelingt, durch das sukzessive Nachholen von Schulabschlüssen doch noch das Abitur zu erlangen. Nuray Coúkun konstruiert sich selbst jedoch als Akteurin, die den Abstiegsprozess selbst verursacht und dessen Folgen selbst verantwortet. Dies verweist auf die Verschränkung des Schulabstiegsprozesses mit der handlungsschematischen Konstruktion des ‚Kampfs gegen die Mutter‘, die es ihr ermöglicht, die schulischen Misserfolge als ‚Gewinn‘ im Ringen mit der Mutter zu deuten. Zugleich gibt es Hinweise darauf, dass die Biographin die Ereignisse zum Zeitpunkt des Geschehens keineswegs durchwegs kontrolliert, sondern ihr Handlungsschema eine destruktive Eigendynamik entfaltet, die durchaus Verlaufskurvenpotenzial beinhaltet. In der gegenwärtigen biographischen Konstruktion ist ihre Schulgeschichte aber eingebunden in die Erzählung einer (inzwischen abgeschlossenen) Emanzipationsgeschichte, die die schulische ‚Abwärtsspirale‘ retrospektiv überformt. In der Divergenz zwischen erzählten Ereignisabläufen und der retrospektiven Präsentation zeigen sich die Transformationspotenziale biographischer Verarbeitung. Bildungsbiographische Prozesse sind in ihrer Bedeutung nicht statisch und ein- für alle Mal festgelegt, sondern vorläufig und unabgeschlossen. Die Prozessverläufe lassen sich zwar nicht nachträglich umgestalten, wohl aber ist ihre biographische Deutung durch spätere Erfahrungen (in Grenzen) veränderbar. Differenzerfahrungen und Selbstpositionierungen in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung bis zum Studium Die Differenzlinie ‚Migration‘ wird in Nuray Coúkuns Selbstpräsentation bis zu Beginn des Studiums zwar immer wieder mit verhandelt, bildet aber nicht das Zentrum ihrer Selbstkonstruktion. So werden etwa eigene Erfahrungen mit Rassismus zwar angesprochen – z.B. in der Sequenz über die Mitbewohner*innen in der Wohnge-
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meinschaft –, sie haben in der Erzählung aber lediglich den Status von Hintergrundkonstruktionen.32 Auch im Nachfrageteil berichtet Nuray Coúkun von einer Konfrontation mit einer Gymnasiallehrerin, in der die Lehrerin sich allgemein rassistisch gegenüber Migrant*innen äußert, aber auch diese Episode dient allein als Belegerzählung, mit der die Erzählerin ihre Selbstbeschreibung als Schülerin, die ‚den Mund aufmacht‘, plausibilisiert. Diese Konstruktionsweise lässt sich auch als eine Strategie der Selbstermächtigung deuten, da die Erzählung einer ‚Opfergeschichte‘ der handlungsbezogenen Selbstkonstruktion der Biographin zuwiderlaufen würde. Sie entspricht zudem der Erfahrung der Biographin, in entscheidenden Situationen gerade nicht von Diskriminierung betroffen gewesen zu sein. So beschreibt sie die Auswahlmechanismen, die den Zugang in die Oberstufe regeln, zwar als ethnisch diskriminierend, insofern mehrheitlich Schüler*innen mit Migrationshintergrund negativ davon betroffen sind. Sie selbst macht aber die Erfahrung, von den Lehrer*innen unterstützt zu werden. Die Bezugnahme der Biographin auf migrationsrelevante Phänomene zeichnet sich vielfach dadurch aus, dass sie eine distanzierte Außenposition einnimmt, aus der heraus sie diese beschreibt. Diese Perspektive verweist auch auf Erfahrungen, die aus der politischen ‚Bewegungsgeschichte‘ der Eltern und deren Lebens- und Berufsentwürfen resultieren. Darauf deuten bereits die ‚Fotoeinführung‘ vor Interviewbeginn sowie ihre Eingangserzählung hin. Nuray Coúkun führt sich selbst nicht als ‚Kind aus einer Migrantenfamilie‘ o.ä. ein,33 sondern als in Deutschland geborene Tochter von politisch engagierten Eltern. Nuray Coúkuns Mutter pflegt Verbindungen zu einer intellektuellen Elite künstlerisch und politisch aktiver Personen (‚mit‘ und ‚ohne‘ Migrationsgeschichte). Das Thema ‚Migration‘ spielt hier eine Rolle als Gegenstand der künstlerischen Auseinandersetzung und des politischen Kampfes um die Gleichstellung gesellschaftlich marginalisierter Gruppen (u.a. für Frauenrechte und die Gleichstellung von Homosexuellen). Dies hat insofern eine Bedeutung für Nuray Coúkuns Selbstpositionierung als sie ‚Migration‘ als eine politische (Identitäts-)Kategorie verstehen lernt – dies wird sich im Folgenden noch genauer zeigen. Dies bedeutet auch, dass sie soziale Differenzierungspraktiken nicht nur erlebt und erleidet, sondern lernt, dass sie zum Gegenstand der Reflexion und – wenn nötig – der Skandalisierung gemacht werden können. Eine weitere Ebene, die für Nuray Coúkuns spezifische Positionierung im Hinblick auf die Differenzlinie ‚Migration‘ relevant wird, ist die professionelle Tätigkeit ihrer Mutter. Sowohl ihre Mutter als auch – wie sich später herausstellt – ihre Tante sind professionell in der Arbeit mit Migrant*innen und Flüchtlingen tätig. Durch die Einbindung in die Arbeit ihrer Mutter wird die Biographin aus nächster Nähe mit den Problemlagen von Flüchtlingen und Opfern von Gewalt konfrontiert. Sie lernt dadurch aber auch zu einem lebensgeschichtlich frühen Zeitpunkt, sich davon abzugrenzen und eine quasi-professionelle Außenperspektive einzunehmen, die zeitweilig auch sozial distinktiv ist. Dies spiegelt sich z.B. in den aus einer Außensicht formulierten Äußerungen über ‚Migrantenanteile‘ in der Bevölkerung wider, oder auch in 32 Dennoch machen diese beiläufigen Hintergrundkonstruktionen deutlich, dass Nuray Coúkun im Alltag durchaus Erfahrungen mit rassistischen Diskursen und Verweisungen macht. 33 Solche und ähnliche Selbsteinführungen finden sich in anderen Interviews.
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Formulierungen im weiteren Verlauf des Interviews, in denen Nuray Coúkun die Position einer pädagogisch Professionellen einnimmt, die für ihre ‚Klient*innen‘ Partei ergreift. Als spezifisch für Nuray Coúkuns Positionierung erweist sich eine Form des ‚Spiels‘ mit verschiedenen sozialen Differenzkategorien und sozio-kulturellen ‚Welten‘. Dies zeigt sich besonders in der Selbstinszenierung als „Straßenkind“, das diese Rolle abstreift und die Transformation zur Musterschülerin vollzieht. Auch in ihren Erzählungen über ihren Freund wird deutlich, dass sie mit Kulturalisierungen und Geschlechterstereotypen spielt und diese zum Gegenstand ironischer Selbstbezüge macht. Ganz explizit macht sie dies selbst in einer beiläufigen Bemerkung gegen Ende des Interviews. Hier deutet Nuray Coúkun die langjährige Beziehung zu ihrem Freund als eine Art Rollenspiel, in dem sie – am Ende ohne Erfolg – versucht habe, „diese türkische Ayúe zu spielen“ (60/18). Damit zitiert sie ein kulturalistisches Geschlechterstereotyp – gewissermaßen das Pendant zum „türkischen Macho“. Das eigene Handeln wird so als Teil eines Spiels gedeutet, in dem die Akteur*innen stereotype Rollen ausfüllen, zu denen die Biographin sich im Nachhinein ironischreflektierend ins Verhältnis setzen kann. Dass sie in der erzählten Zeit nicht immer die alleinige Macht über die Spielregeln hatte, rückt dabei in den Hintergrund. Dieser spielerische Umgang mit sozialen Differenzierungen verweist darauf, dass die Biographin soziale Zugehörigkeiten nicht als essentialistische Kategorien, sondern eher als wandelbare und gestaltbare Positionierungen deutet.
7.3 „S O NACH ZWEI M ONATEN WAR ICH VOLL DRIN “ – DER S TUDIENBEGINN ALS BIOGRAPHISCHE F ORTSETZUNG Im Folgenden wird rekonstruiert, wie sich der Übergang ins Studium vor dem Hintergrund der bisherigen Lebensgeschichte Nuray Coúkuns gestaltet und wie dieser Prozess biographisch ‚bearbeitet‘ wird.34 Der Studienbeginn liegt zum Zeitpunkt des Interviews in der unmittelbaren Vergangenheit. Die Biographin hat ihr erstes Studiensemester abgeschlossen und blickt auf eine noch kurze Studienzeit zurück. 7.3.1 Von den Lehrer*innen zum Lehramtsstudium „gedrängt“ Für die Entwicklung einer Studienperspektive schreibt Nuray Coúkun ihren Lehrer*innen eine wichtige Rolle zu. In der dreizehnten Klasse erzielt die Biographin außergewöhnliche schulische Erfolge. Diese zeigen sich zum einen in guten Noten, zum anderen in den positiven Rückmeldungen, die sie von Mitschüler*innen und Lehrer*innen zu ihren selbst konzipierten Unterrichtseinheiten bekommt, die als Klausurersatzleistung gelten. In diesem Zusammenhang kommt Nuray Coúkun auf die Entwicklung ihrer Studienperspektive zu sprechen:
34 Die Darstellung folgt in diesem Teilkapitel nicht mehr dem sequenziellen Verlauf der Erzählung, sondern orientiert sich stärker an zentralen Themen, die sich als bedeutsam für die Frage erweisen, wie das Studium biographisch ‚integriert‘ wird.
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N: in der dreizehnten Klasse war ich dann der absolute Überflieger, da hab ich dann fünf Einsen im Zeugnis gehabt und ähm die Lehrer haben mich quasi ähm - gedrängt dazu dieses Lehramtsstudium zu machen, weil die meinten boah Nuray, solche Leute wie dich - die brauchen wir, also - du hast - (lacht) das fand ich dann auch immer ganz süß, du warst auf jeder Schulform die es gibt, du hast die Erfahrung die praktische gemacht (20/8-12)
Die Erzählerin schreibt sich die Idee für ein Lehramtsstudium nicht selbst, sondern ihren Lehrer*innen zu, sie sie für die perfekte Kandidatin für den Lehrberuf halten. Ihre Eignung wird nicht allein mit den guten Noten begründet, sondern mit Nuray Coúkuns Erfahrungen mit unterschiedlichen Schulformen. Sie wird von ihren Lehrer*innen also nicht trotz, sondern gerade aufgrund ihrer diskontinuierlichen Schullaufbahn als prädestiniert für den Lehrerberuf angesehen. Ihrem Erfahrungswissen wird der Status einer biographischen Ressource für ihren künftigen Berufsweg zugesprochen. Nuray Coúkuns Bildungsweg wird damit durch legitimierte Vertreter*innen dieser Bildungsinstitution aufgewertet und anerkannt. Nicht die vielfachen Brüche stehen im Vordergrund, sondern die informellen Lernprozesse, das persönliche Erfahrungswissen, das sie durch den Besuch unterschiedlicher Schulformen und Bildungsmilieus gewonnen hat. Nuray Coúkun konstruiert ihren Weg zum Lehramtsstudium somit als Ergebnis eines ‚Auserwählt-Werdens‘ durch signifikante Andere, die legitime Repräsentant*innen der Institution Schule sind. Während sie zunächst allgemein von „Lehrern“ spricht, die sie auf diese Weise angesprochen haben, so schreibt sie ihrem Spanisch- und Geschichtelehrer eine Schlüsselrolle für ihre Studienentscheidung zu. N: Mein größtes Vorbild an der Schule war mein Spanisch und meine Geschichtslehrer, Herr López der war auch der - gefürchteteste Lehrer an der ganzen Schule, ähm, Baske, auch, also son bisschen radikaler Typ, in dem Sinne, und der hat einen - also wirklich - zerstört - in dem der hat einen fertig gemacht wenn der mal n schlechten Tag hatte oder wenn man mal nicht die Leistung gebracht hat die er von einem erwartet hat, aber andererseits hat er einen auch eh so wie kann ich das denn - wie kann man das denn mal beschreiben? Also das war halt, wenn man ne gute Leistung bei ihm abgegeben hat dann hat er das so gewürdigt und so geschätzt und - da wusstest du okay, wenn du bei ihm ne Zwei oder ne Eins kriegst, dann hast du auch wirklich was gemacht so dafür, ne, dann hast du wirklich dann bist du Top. So ungefähr ne? Und der als ich dann so meine Phase mit Che Guevara und Revolution hatte, da hat er dann natürlich geliebt über alles, da meinte er, Nuray du bist meine Traumfrau und so und das - waren dann halt auch so Momente wo ich - immer mehr gemerkt hab - also wo mein Selbstbewusstsein auch immer mehr so gestiegen ist, wo ich dachte wow, also von so nem Lehrer die Anerkennung zu kriegen, das war schon für mich ähm - Eins A, also besser hätt ichs und er war halt dann auch mein absolutes Vorbild. Und der meinte dann auch, also der hat mich auch immer wieder gedrängt und meinte Nuray, du musst - du musst Lehramt studieren (lacht) das geht nicht, du, also so ne? (20/24-21/3)
Nuray Coúkuns berufliche Zukunft als Lehrerin scheint aus Herrn López‘ Sicht nahezu alternativlos zu sein. Seinem Rat kommt in der Deutung der Biographin aus verschiedenen Gründen eine hohe Relevanz zu. Herr Lopéz genießt aufgrund seiner hohen Erwartungen und seiner vernichtenden Kritik an unzureichenden Leistungen einen besonderen Respekt unter den Schüler*innen, die sich vor seinem harten Urteil
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fürchten. Angesichts dieses Rufs haben Lob und Anerkennung von ihm einen hohen Wert und werden als besondere Auszeichnung erfahren. Doch auch auf einer persönlichen Ebene scheint Herr López seiner Schülerin Interesse und Anerkennung entgegenzubringen. Dies führt Nuray Coúkun darauf zurück, dass er ihre politische Haltung wertschätzt: Sie führt Herrn López als „Baske“ und „radikalen Typ“ ein, der aufgrund ihrer Begeisterung für die Helden der kubanischen Revolution besondere Sympathie für sie hegt. Darüber hinaus kommt in ihrer Darstellung eine geschlechtlich konnotierte Form der Ansprache ins Spiel („Traumfrau”), die Nuray Coúkun in die Position einer begehrenswerten jungen Frau versetzt. Die mehrmals betonte Vorbildrolle des Lehrers verweist umgekehrt darauf, dass auch der Lehrer, der als politisch denkender Angehöriger einer Bevölkerungsminderheit positioniert wird, für die Biographin eine wichtige Identifikationsfolie bietet. Die herausgehobene Rolle ihres Lehrers kommt abermals in der Erzählung über ihre Fächerwahl zum Tragen. N: Ähm - und dann - klar in der dreizehnten Klasse war ich am Anfang noch total verplant und wusste nicht was ich machen sollte, und je mehr die Lehrer aber mit mir geredet haben desto mehr hab ich auch gemerkt dass es mir Spaß bringt und dass es - im Grunde genommen ähm mich interes_ also es interessiert mich und es bringt mir Spaß und ich krieg nur gutes Feedback und es ist toll und die Leute nehmen das an und es - bringt irgendwas so, ne? Und dann hab ich mich auch entschieden hab gesagt, gut, ich mach das. Also ich zieh das jetzt durch, ich=ich ähm - bin dann wirklich in die Fußstapfen von Herrn López von meinem Vorbildslehrer getreten und hab dann auch sogar die Fächer gewählt die er st_ also die er, in der in denen er mich unterrichtet, Spanisch und Geschichte so, und ähm - (zündet sich eine Zigarette an) - ja, krass. Ja. So. (21/3-13)
Nuray Coúkun entschließt sich, auch in fachlicher Hinsicht die Nachfolge von Herrn López anzutreten.35 Durch die Selbstkonstruktion als seine Nachfolgerin stellt sie eine symbolische Verbindung zu ihm her, die über das Ende ihrer Schulzeit hinausreicht. Diese Verbundenheit scheint auch in der Aussage „die Fächer, (...) in denen er mich unterrichtet“ zum Ausdruck zu kommen, die nahelegt, dass es sich um ein privates und bis in die Gegenwart andauerndes Unterrichtsarrangement handelt. Wenngleich die Biographin den Rückmeldungen und Ratschlägen der Lehrkräfte eine hohe Bedeutung beimisst, schreibt sie sich die letztendliche Entscheidung für das Lehramtsstudium selbst zu („ich mach das. Also ich zieh das jetzt durch“). Sie erklärt das Lehramtsstudium damit zum eigenen und selbst verantworteten Projekt. Dass sie sich tatsächlich für ein Lehramtsstudium entscheidet, führt sie auch auf die positiven Erfahrungen zurück, die sie selbst mit dem Unterrichten gemacht hat. Sie erlebt das Unterrichten als eine sinnvolle Praxis („es bringt irgendwas“) und erfährt eine positive Resonanz seitens der anderen Schüler*innen. Die Perspektive des Lehramtsstudiums wird somit nicht nur als eine durch die Lehrer*innen legitimierte Entscheidung präsentiert, sondern auch als ein ‚erfahrungsgesättigter‘ eigener Handlungsentwurf. 35 Der Umstand, dass Spanisch auch die Erstsprache ihres Stiefvaters ist, wird zwar von der Erzählerin selbst nicht relevant gemacht, kann jedoch als ein weiterer Aspekt betrachtet werden, der diese Wahl biographisch anschlussfähig macht.
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7.3.2 Studienzugang als strategischer Akt Nuray Coúkun thematisiert den Übergang ins Studium zum ersten Mal in der Haupterzählung. Die nachfolgende Passage schließt unmittelbar an die Schilderung der Oberstufenzeit an: N: Abi durchgemacht und dann ähm - gleich beworben an der Uni, da hatt ich natürlich ähm Bedenken gehabt am Anfang weil ich dachte - ich hab mir dann die NCs angeguckt im Internet, und Lehramt hatte n NC von 2,2, und ich hatte gerade n Durchschnitt von 2,3 gemacht, also es hätte wirklich - es war minimal - ähm - ja und okay für diese ganzen Bürokratiesachen das war für mich alles kein Thema weil ich hatte das alles rauf und runter mit - vorher mit den Jugendämtern und mit den Arbeitsämtern und, also ich hab alle Ämter durch die es im Grunde genommen gibt, und ähm - da muss ich sagen - ne? (klopft auf den Tisch) deutscher Staat, hast du gute Arbeit geleistet, hast du - wirklich - ich könnte Bürokratin werden in dem Sinne I: (kichert) N: ähm - das war dann kein Thema für mich, im Gegenteil ich hab dann quasi die ganzen Leute die - mit mir Abi gemacht haben und sich dann bew_ bewerben wollten die hab ich dann beraten und hab die dann, hab gesagt so das und das brauchst du und dies und das musst du machen und das und das musst du abgeben und äh, hier für die Bafög Anträge musst du das machen und für den Widerspruch und bla, also es war dann so - ich war dann der absolute Crack (lacht) in dem Gebiet und ähm - hab mich dann auch eingeklagt weil - dieser NC halt nicht gereicht hat und hab dann ähm - genau und hab dann - in den=in=äh=in dieser S=SchfEinklageschreiben hab ich dann (schmunzelt) netterweise auch um positive Diskriminierung gebeten (lacht) (21/13-31)
Der Übergang von der Schule ins Studium wird stark gerafft als konsequente Abfolge von Schritten dargestellt, die Nuray Coúkun schnell und ohne Zögern vollzieht. Die Bewerbung an der Universität schließt sich unmittelbar an das Abitur an; es scheint hier keine Orientierungsphase zu geben, Unsicherheiten bezüglich der Fächerwahl werden ebenso wenig thematisiert wie die Frage des Studienorts (dieser scheint so klar zu sein, dass der Ort gar nicht genannt wird).36 Das Ziel scheint klar zu sein, es geht nur noch um die Bewältigung der formalen Anforderungen beim Übergang an die Hochschule. Die Formulierung „gleich beworben an der Uni“ weist darauf hin, dass der Hochschulzugang nicht als ‚automatischer‘ Übergang, sondern als ein kompetitives Verfahren gedeutet wird, das bewältigt werden muss. Konkret wird der Zugang zum Studium von Nuray Coúkun als bürokratischer Akt dargestellt, den sie professionell und strategisch angeht. Sie konstruiert sich dabei als Expertin für bürokratische Abläufe, mit denen sie – nicht zuletzt dank ihres eigenen diskontinuierlichen Bildungsverlaufs – bestens vertraut ist. Die Biographin lässt sich von den bürokratischen Hürden bei Studienbeginn nicht verunsichern, sondern erfährt sich im Umgang damit als souverän. Sie ist über den Numerus Clausus informiert, und die Formalitäten der eigenen Bewerbung bereiten ihr keine Schwierigkeiten. Sie hat ihren Mitbewer36 Nuray Coúkun bewirbt sich ausschließlich an der Universität in B-Stadt. Diese Wahl begründet sie auf Nachfrage damit, dass sie weiterhin für ihre jüngere Schwester da sein will, nachdem ihre Mutter endgültig in die Türkei zurückgekehrt ist (45/25-46/10).
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ber*innen auf diesem Gebiet ein Erfahrungswissen voraus und kann die Position der Expertin ausfüllen, indem sie ihre Klassenkamerad*innen unterstützt, die sich weniger gut mit „Bürokratiesachen“ auskennen. Nuray Coúkun kann das Wissen um die Logik administrativer Abläufe bei Studienbeginn nutzen, um der Bürokratie nun mit ihren eigenen Mitteln ‚ein Schnippchen zu schlagen‘: Sie weiß, dass es die Möglichkeit gibt, sich einzuklagen und nimmt diese Möglichkeit wahr. Das Überleben im ‚Dschungel der Bürokratie‘ wird damit als Spiel präsentiert, das Nuray Coúkun zu spielen gelernt hat und beherrscht. Die Präsentation des eigenen Know-How im Umgang mit den administrativen Anforderungen des Studiums erfolgt dabei nicht ohne Ironie („ich könnte Bürokratin werden“, „ich war der absolute Crack“). Das Studium an einer Hochschule wird hier als eine Bildungsoption erkennbar, die potenziell mit bestimmten Hürden verbunden ist. Nuray Coúkuns Inszenierung ihres souveränen Umgangs mit den Erfordernissen im Übergang zum Studium lässt sich nämlich nur vor dem Hintergrund verstehen, dass der Übergang ins Studium in Deutschland nicht allein durch die Einschreibung erfolgt, sondern unter anderem durch den Numerus Clausus reglementiert ist.37 Studienplätze sind ein begehrtes und zugleich begrenztes Gut, zu dem der Zugang formal beschränkt ist. Wie sich hier zeigt, ist die Frage, ob Studienbewerber*innen tatsächlich Zugang zum Studium erhalten, aber eben nicht nur vom Abiturnotendurchschnitt abhängig. Daneben gibt es (an manchen Universitäten) offenbar Spielräume für Studierende, ihre Chancen auf einen Studienplatz zu verbessern, indem sie durch einen juristischen ‚Trick‘ die Logik des Systems unterlaufen. Die Prozedur des Einklagens setzt dabei allerdings ein gewisses Expert*innenwissen voraus und erfordert zudem ein Maß an Unerschrockenheit, sich rechtlicher Mittel zu bedienen, um eigene Ziele durchzusetzen. In mehreren Interviews zeigt sich, dass Studierende sich das Wissen um die Möglichkeit des Sich-Einklagens untereinander weitergeben. Nuray Coúkun nutzt diese Mittel und sie verleiht ihrem Anliegen besonderes Gewicht, indem sie zusätzlich um „positive Diskriminierung“ ansucht. Mit dieser ‚Bitte‘ positioniert sie sich der Institution Universität gegenüber strategisch als Angehörige einer gesellschaftlich diskriminierten Gruppe. Sie ist sich offenbar darüber bewusst, dass Studierende mit Migrationsgeschichte noch nicht angemessen in der Hochschule repräsentiert sind und macht sich dieses Wissen zunutze. Der Hintergrund dafür ist, dass Nuray Coúkun die Existenz einer rechtlichen Regelung vermutet, die eine Bevorzugung dieser Studierendengruppe vorschreibt. Sie scheint sich dabei selbst über die aktuelle Existenz einer solchen Quotenregelung für migrantische Studierende nicht ganz sicher zu sein – der Verweis darauf wird in der Vergangenheitsform formuliert. Der ‚Migrationshintergrund‘ kommt hier also als eine Differenzkategorie ins Spiel, die Nuray Coúkun strategisch einsetzt, weil sie sich davon verspricht, ihre Chancen auf einen Studienplatz verbessern zu können („dann dachte ich gut dann 37 Dabei gibt der Numerus Clausus Studienbewerber*innen lediglich eine ungefähre Orientierung über den für die Zulassung erforderlichen Notendurchschnitt, da er sich aus den Studierendenzahlen des jeweils vorherigen Semesters errechnet. Da die Anzahl der Studienbewerber*innen pro Semester vorher nie sicher absehbar ist, bleibt der tatsächlich notwendige Notendurchschnitt für die Bewerber*innen selbst unsicher.
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versuchs ich mal auf dem Wege“ (21/36)). Unabhängig von der realen Existenz dieser Regelung38 wird die theoretische Möglichkeit positiver Diskriminierung als Ressource für das eigene Handeln angeeignet. An dieser Stelle fügt die Erzählerin eine Hintergrundkonstruktion ein, in der sie auf die schulischen ‚Selektionsprozesse‘ zu sprechen kommt, die sie während ihrer Zeit in der Oberstufe beobachtet hat: N: ich habs ja an der Schule erlebt, an=an der Oberstufe, ähm da haben wir wirklich in den neunten und zehnten Klassen - ähm achtzig Prozent Schüler mit Migrationshintergrund gehabt und ähm, dann ab der elften wurde - krass ausselektiert. Also wir sind in der Oberstufe - das konntest du an zwei Händen abzählen wie viele Leute mit Migrationshintergrund ihr Abi gemacht haben, und ähm - da hab ich mich dann manchmal auch gefragt gut vielleicht äh müssen sie die Statistik ausfüllen und haben mich /(lachend) deshalb an der Schule gelassen/ aber ähm - das stell ich jetzt einfach mal so hin, ich weiß es nicht und es ist mir auch egal ich hab mein Abi gemacht und - ich bin eine der wenigen ich kann mich glücklich schätzen (22/2-10)
Nuray Coúkun hat beobachtet, dass die Anzahl der Schüler*innen „mit Migrationshintergrund“ in der Oberstufenzeit nach und nach dezimiert wurde und nur wenige das Abitur erlangen konnten. Dies deutet sie als ein Ergebnis von diskriminierenden Auswahlprozessen. Sie selbst war eine der wenigen Schüler*innen, die von dieser ‚Sortierung‘ nicht negativ betroffen waren. Um ihren eigenen Verbleib in der Oberstufe zu erklären, zieht Nuray Coúkun hier in Erwägung, dass sie ohne ihr Wissen von einer Quotenregelung für Schüler*innen mit Migrationshintergrund profitiert haben könnte („vielleicht müssen sie die Statistik ausfüllen“). Sie scheint diese Theorie zwar nicht ernsthaft zu verfolgen, dennoch stellt sie in ihrer Erzählung eine Verbindung zwischen dieser Erfahrung und der Einforderung von „positive[r] Diskriminierung“ im Einklageschreiben her. Die biographische Erfahrung wird also beim Hochschulzugang zu einem relevanten Erfahrungswissen. Nuray Coúkun versucht, beim Studienzugang die möglichen ‚Sortierungslogiken‘ und Förderinstrumente der Institution (Quotenregelung für ‚Migrant*innen‘) in ihrem Sinne zu nutzen. Sie setzt damit die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ situationsspezifisch und strategisch ein. Die Grundlage dafür ist ein Wissen um ungleiche Repräsentationsverhältnisse, das sie mit ihren Handlungen und Deutungen sinnhaft verknüpft. Sowohl das Einklagen als auch die Einforderung positiver Diskriminierung machen deutlich, dass Nuray Coúkun die Zukunft ihres Studiums nicht den institutionellen Mechanismen überlassen will, sondern sie selbst mit den ihr zu Verfügung stehenden Mitteln darauf Einfluss zu nehmen versucht, um ihre Studienperspektive abzusichern. Sie begreift das Studium als ein ihr zustehendes Recht, das sie notfalls bereit ist, sich zu erkämpfen:
38 Tatsächlich gab es bis in die 1990er Jahre eine Regelung, die den Zugang für Studierende mit nicht-deutscher Staatsangehörigkeit in einigen Studiengängen limitiert hat (vgl. Kap. 3.1). Eine Bevorzugung von Studienbewerber*innen mit Migrationsgeschichte existiert hingegen meines Wissens nicht. Die theoretische Möglichkeit positiver Diskriminierung wird hier aber dennoch als Ressource für das eigene Handeln angeeignet.
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N: Also ich bin ja erst durch das Nachrückverfahren rein und es hat dann nochmal n paar Wochen gedauert bis ich dann - die Zusage hatte. Das heißt, am Anfang war es so Zittern Zittern Zittern, und für mich wars aber klar, gut, wenn da jetzt was kommt, von wegen du schaffst es nicht, dann geh ich vor Gericht. Und ich zieh das durch, also das war für mich auch klar, ich kämpfe. Und ich hab das Recht darauf und ich nehm es mir, so ungefähr. (48/24-27)
Da Nuray Coúkun ihren Studienplatz erst über das Nachrückverfahren erhält, muss sie eine Zeit von mehreren Wochen Wartezeit überbrücken. Die Universität wird hier einerseits als machtvolle Institution konstruiert, die ‚Eintrittskarten‘ vergeben oder verwehren kann. Nuray Coúkun befürchtet, dass ihr der Zutritt verwehrt werden könnte, weil sie die Eintrittsbedingungen (Numerus Clausus) nicht erfüllt. Andererseits macht sie ihre Entschlossenheit deutlich, in jedem Fall ihr Studium aufzunehmen und setzt sich damit in ein kämpferisches Verhältnis zur Universität. Sie ist dem Mechanismus der Studienplatzvergabe nicht etwa machtlos ausgeliefert, sondern sieht auch im Falle einer Ablehnung durchaus noch Handlungsmöglichkeiten – „dann geh ich vor Gericht“. Sie demonstriert damit ihre Entschlossenheit, ein Studium aufzunehmen und sich von keiner Hürde aufhalten zu lassen. Dies kann als Betonung der eigenen handlungsschematischen Orientierung gelesen werden: Nach den ‚Schleifen‘ in ihrem Bildungsweg hat Nuray Coúkun ein klares Ziel vor Augen, das sie unbeirrt verfolgt. Allerdings deutet die Tatsache, dass die Studienzulassung hier als eine Frage eines notfalls zu erkämpfenden Rechts verhandelt wird, darauf hin, dass hier noch andere Aspekte eine Rolle spielen: Die Teilhabe an (universitärer) Bildung ist nicht selbstverständlich, sondern stellt sich aus Nuray Coúkuns Perspektive als etwas dar, das ihr unter bestimmten Bedingungen vorenthalten oder verwehrt werden kann. Es handelt sich nicht etwa um ein gesichertes Recht, auf das sie vertrauen kann, sondern um etwas, das potenziell verteidigt und abgesichert werden muss. Dies kann als Hinweis darauf interpretiert werden, dass Nuray Coúkun ihrem Studienzugang nicht nur im Rahmen ihrer persönlichen Bildungsbiographie Bedeutung verleiht, sondern sie ihn in einen weiteren Deutungsrahmen stellt: Den Kampf um Teilhabe an einem Bildungsbereich, der sich durch seine Exklusivität auszeichnet und nicht unbeschränkt zugänglich ist. Die Metaphorik des ‚Kampfs‘, die bereits in anderen Zusammenhängen eine Rolle spielte, wird hier erneut aufgegriffen. Die kämpferische Haltung, die zuvor in dem destruktiven Emanzipationsprozess von der Mutter zum Tragen kam, kann Nuray Coúkun nun auf andere Bereiche übertragen und damit positiv für sich nutzbar machen. 7.3.3 Lehramtsstudium als Kampf um gesellschaftliche Anerkennung und Repräsentation Im weiteren Verlauf zeigt sich, dass Nuray Coúkun ihr Studium in einen Deutungshorizont stellt, der mit Fragen der gesellschaftlichen Repräsentation und Teilhabe von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen verknüpft ist. Sie konstruiert ihr Studium als Teil eines kollektiven Kampfes um Anerkennung: N: ich glaub das wird so mit der Zeit irgendwann - sich verändern, also je mehr Leute auch Fuß fassen hier und diesen Weg gehen und auch studieren und sagen ey ich bin hier und ich kann das und ich mach das und ich will das - ich denke desto mehr wird die - Anerkennung
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auch wachsen in der Gesellschaft, also man sieht das ja in Amerika so (…) Also, allein dass jetzt n Schwarzer Präsident geworden ist ist irgendwie hier noch unvorstellbar, dass n Türke hier Kanzler wird oder irgendwie sowas. Und die haben halt ne längere Zeit gehabt um das zu revolutionieren in diesem Land und die haben gekämpft und da ist Blut geflossen und alles, so, bis sie es geschafft haben in gewisser Weise diese Anerkennung zu kriegen. Und ich denk hier ist es genauso, es dauert einfach. (57/26-38)
Mit dieser Deutung stellt Nuray Coúkun das Studium in einen größeren gesellschaftspolitischen Rahmen. Sie präsentiert es nicht als ein individuelles biographisches Projekt, etwa als Etappe eines Bildungsaufstiegs, sondern als strategischen Schritt auf einem kollektiven Weg zur Anerkennung für eine gesellschaftliche Gruppe, die um ihre Rechte kämpfen muss. Im zweiten Teil des Zitats wird klar, dass es ihr um die gleichberechtigte Teilhabe von Migrant*innen in Deutschland geht. Je mehr Menschen ihr Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft einfordern bzw. geltend machen, desto eher wird diese Forderung anerkannt werden. Durch den Vergleich mit der Entwicklung in den USA und dem impliziten Verweis auf die schwarze Bürgerrechtsbewegung in den USA wird deutlich, dass es sich aus Nuray Coúkuns Sicht um einen langwierigen gesellschaftlichen Emanzipationsprozess handelt, der Zeit und Opferbereitschaft erfordert. Die Aufnahme eines Hochschulstudiums markiert aus dieser Sicht einen politischen Akt, durch den Migrant*innen die Grenzen der Positionen, die ihnen in der migrationsgesellschaftlichen Dominanzordnung zugewiesen werden, überschreiten. Der Zugang zu Hochschulbildung wird als Ausdruck des Ringens um Repräsentation, Zugehörigkeit und gesellschaftliche Anerkennung konstruiert: N: da zu stehen und zu sagen ey ich bin hier auch, so, ne, ich bin hier und ich mach das auch und ich - gehöre dazu, also so, einfach auch dieses Gefühl oder dieses Bild auch zu vermitteln find ich - so wichtig und ich merke das kommt jetzt erst, also das kommt jetzt mit dem Studium erst. So beim Abitur okay da hast du die kleinen kiddies irgendwie beeindruckt dass du jetzt dein Abi machst aber jetzt ist es so, das hat ne viel größere Auswirkung. Ja, es ist viel weitreichender zu sagen ich studiere - in Deutschland - mit meinem Migrationshintergrund. (51/6-13)
Das Studium wird als ein Akt mit einer besonderen Symbolkraft gedeutet. Als Studentin repräsentiert Nuray Coúkun eine Person ‚mit Migrationshintergrund‘, die bis in die höheren Ränge des Bildungssystems gelangt ist. Hat sie als Abiturientin „die kleinen kiddies beeindruckt“, so hat das Studium „ne viel größere Auswirkung“. Der Statuswechsel zur Studentin wird hier als Möglichkeit entworfen, eine „weitreichende[re]“ gesellschaftliche Vorbildfunktion einzunehmen. Als Studentin kann Nuray Coúkun anderen ‚vermitteln‘, dass ein solcher Weg möglich ist, und sie dazu ermutigen, diesen Weg ebenfalls zu beschreiten. Die Biographin deutet ihr Studium somit als ein Bildungshandeln mit gesellschaftlicher ‚Signalwirkung‘. Der Eintritt in die Institutionen des höheren Bildungswesens stellt eine Strategie in einem gesellschaftlichen Emanzipationsprozess dar. Der Übergang in den Student*innenstatus bedeutet für sie insofern eine Zäsur in der Bildungsbiographie als für sie damit eine veränderte Positionierung in der (migrations-)gesellschaftlichen Ordnung verbunden ist. Mit dem Eintritt ins Hochschul-
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system erfährt Nuray Coúkun sich in einer veränderten Art und Weise und sie nimmt wahr, dass ihr Freund*innen und Bekannte, aber auch Unbekannte anders begegnen: N: Studentin und hier Matrikelnummer acht null dreisieben und - also es ist - man fühlt sich schon anders. Und ich - äh - also ich f=f-ich lauf schon so durch die Gegend, also wenn ich ne? Ich denke dann auch so, ja, wenn die Leute mich dann fragen und was machst du? Ich studiere (lacht) das ist schon - ich merke das - ist - ja - man ist, man wird ganz anders auch gesehen von den Leuten. So und - okay die ganzen kiddies jetzt so zum Beispiel mein Nachhilfeschüler und so weiter die denken boah ey, boah! Wahnsinn, so ne? Und für mich ist das so yeah! (lacht) (…) Jetzt bin ich offiziell Studentin (lacht) seit einem Semester. Das ist schon toll, schon n tolles Gefühl. Ja. Doch echt, und man wird also - wie gesagt von der Gesellschaft ganz anders angenommen und ganz anders angesehen, also selbst wenn ich meine, mein Semesterticket nur vorzeige beim Bus oder so was, ist es schon so, merkt man schon die Reaktionen ne, also das ist halt was ganz anderes, ne ganz andere Ebene. (50/23-51/3)
Der Übergang ins Studium wird von Nuray Coúkun hier euphorisch als ein persönlicher ‚Empowerment‘-Prozess konstruiert und bilanziert, mit dem erhebliche Anerkennungsgewinne verbunden sind. Dabei spielen die bewundernden und würdigenden Reaktionen anderer in alltäglichen Interaktionen eine Rolle. Es ist aber zu vermuten, dass die eigene Überzeugung von der gesellschaftspolitischen Bedeutsamkeit ihres Studiums entscheidend für die Deutung dieser Interaktionserfahrungen ist. Eine besondere gesellschaftliche Relevanz erlangt das Studium für Nuray Coúkun dadurch, dass es sich um ein Lehramtsstudium handelt. Dabei zeigt sich erneut, dass ihre Konstruktion des Studiums als ‚Kampf‘ um Anerkennung und ihre Selbstpositionierung als gesellschaftliches Vorbild auch durch die Zuschreibungen signifikanter Anderer in ihrem privaten Umfeld möglich wird: N: also wenn ich zum Beispiel - Freunde von meiner Mutter treffe aus dem Bereich Sozialarbeit und so weiter, die das auch seit Jahren machen diese ganze Integrationsarbeit und so weiter, wenn ich die heutzutage treffe und die fragen ey Nuray was machst du und ich sag ich studiere, ja was denn, ja Lehramt irgendwie, dann ist es so wow, du bist jetzt die nächste Generation von Lehrern mit Migrationshintergrund ne. (51/19-24)
Die Biographin wird in der erzählten Interaktionssituation von den Freunden ihrer Mutter nicht nur gefragt was sie jetzt „macht“, sondern auch, was sie studiert. Mit ihrer Antwort „Lehramt“ rückt sie nicht ihre Studienfächer in den Vordergrund, sondern ihre späteres berufliches Handlungsfeld. Damit positioniert sie sich auch als künftige Lehrerin, deren beruflicher Entwurf anschlussfähig an das berufliche Milieu und die Wirkungsinteressen der Freunde ihrer Mutter ist, die „seit Jahren diese ganze Integrationsarbeit [machen]“. Für ihre Studienentscheidung bekommt Nuray Coúkun von ihnen Anerkennung und Respekt und wird in ihrem Weg ermutigt. In der Formulierung „solche Leute die müssen wir jetzt endlich mal hervorbringen“ (51/27) zeigt sich, dass ihre Entscheidung für das Lehramtsstudium auch im Umfeld ihrer Mutter als ein Projekt von gesellschaftlicher Bedeutung wahrgenommen wird. Sie wird in diesem Kreis als Pionierin einer neuen Generation von Lehrer*innen mit Migrationsgeschichte angesehen. Dies bildet einen Kontext dafür, dass Nuray Coúkun ihr pädagogisches Studium und ihre zukünftige berufliche Position als Leh-
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rerin explizit als strategische Schritte auf dem Weg in die Funktionssysteme der Gesellschaft deutet: N: wir sind jetzt die Leute die auch in die Richtung Erziehungswissenschaft und auch in die also mehr in diese Richtung gehen, nicht nur dieses wirtschaftliche und Management und so weiter, sondern auch versuchen so in diese Systeme reinzugehen, auch in diese Erziehungssysteme (51/31-35)
Mit ihrem Studium und ihrer künftigen Tätigkeit als Lehrerin verbindet sich für Nuray Coúkun die Perspektive, sich als ein Mitglied einer diskriminierten Gruppe für ein gerechteres Bildungssystem einzusetzen. Sie repräsentiert (in den Augen anderer, aber auch ihrem Selbstverständnis nach) eine neue Generation von Migrant*innen, die Positionen im Erziehungs- und Bildungssystem einnehmen wollen, von denen aus Veränderungen initiiert werden können.39 Dabei wird das Einmünden in ein pädagogisches Wirkungsfeld als Alternative zu einem Berufsweg in Organisationen der Wirtschaft entworfen. Die beiden Bereiche – das Bildungssystem und die Wirtschaft – stellen idealtypische Felder für die Realisierung gesellschaftlicher Partizipationsund Gestaltungsansprüche dar. Dies bestärkt erneut die Lesart, dass Nuray Coúkun ihr Lehramtsstudium als Teil einer kollektiven Strategie für das Erreichen einer gleichberechtigten gesellschaftlichen Teilhabe deutet. Wahrscheinlich ist, dass die Biographin in ihrer Argumentation Diskurselemente übernimmt, mit denen sie im Rahmen ihres Studiums oder durch die Freund*innen ihrer Mutter in Berührung gekommen ist. In jedem Fall handelt es sich aber um eine Deutung des Lehramtsstudiums, die an ihren biographischen Horizont unmittelbar anschließt. An einer anderen Stelle wird deutlich, dass Nuray Coúkun mit dieser Sinnkonstruktion auch an die Traditionslinie des politischen Engagements ihrer Mutter anknüpft. Dies zeigt sich, als sie auf Nachfrage davon berichtet, dass ihre Mutter inzwischen zurückgezogen in der Türkei lebt, nachdem sie eine schwere Krankheit überwunden hat. N: [sie] hat halt ihre kleine Hütte im Dorf da gebaut und die macht halt so Sachen wie Fußreflexzonenmassage und irgendwelche Chakras öffnen und irgendwelche Massagen und /(lachend) Entspannungsmusik und sowas (…) also ihr gehts gut (lacht) - doch ja. (1) Ja, und wir kämpfen hier. (lacht) Sie hat aber auch echt genug gekämpft. (39/25-33)
Während ihre Mutter sich also verdientermaßen zur Ruhe gesetzt hat und ihre Prioritäten mittlerweile anders liegen, sieht Nuray Coúkun sich in der Nachfolge ihres Einsatzes für mehr Gerechtigkeit und gesellschaftliche Teilhabe. Mit der Deutung ihres Lehramtsstudiums als Teil eines kollektiven Ringens um Chancengleichheit und so39 Dies zeigt sich auch in der folgenden Aussage: „Ähm - wünschen würd ich mir natürlich ehm mehr von solchen Leuten wie mir an=an der Uni und vor allen Dingen im Bereich Erziehungswissenschaft. Das würd ich mir echt wünschen. Also - dass viel mehr - ähm Leute mit Migrationshintergrund diesen Weg einschlagen und versuchen in die Richtung was zu verändern auch“ (56/34-38).
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ziale Anerkennung, knüpft Nuray Coúkun somit an ein familial tradiertes Handlungsschema an, das im Rahmen des Studiums zu einer biographischen Sinnressource wird. Nuray Coúkun stellt ihre zukünftige berufliche Position als Lehrerin auch in den Kontext einer beruflichen ‚Familientradition‘. Neben ihrer Mutter bezieht sie sich auch auf die Arbeit ihrer Tante, die ebenfalls in der sozialen Arbeit „mittendrin im Brennpunkt“ (30/22) involviert ist. Ausgehend von der beruflichen Erfahrung der Tante entwirft die Biographin ein professionelles Selbstverständnis pädagogischen Handelns, das sich durch „Leidenschaft“ auszeichnet. Sich selbst beschreibt sie vor diesem Hintergrund als geradezu prädestiniert für die Arbeit in der Schule: „Es ist eigentlich der perfekte Beruf für mich“ (31/3). 7.3.4 „So nach zwei Monaten war ich voll drin“ – Strategien der Konstruktion von Zugehörigkeit Die beschriebene Verknüpfung des pädagogischen Studiums mit der familialen Tradition des politischen Kampfes lässt sich als eine Form der Sinngebung verstehen, durch die das pädagogische Studium biographisch anschlussfähig gemacht wird. Daneben lassen sich weitere Formen biographischer Arbeit rekonstruieren, die es der Biographin ermöglichen, Zugehörigkeit zu ihrem Studienkontext herzustellen. Kontinuität durch Anknüpfen an fachliche Interessen Die erste Begegnung mit der Universität, über die Nuray Coúkun auf meine Nachfrage hin berichtet, findet während der Oberstufenzeit an einem „Tag der Offenen Tür“ statt. N: ich hab in der zwölften Klasse, da hatten wir dieses Tag der offenen Tür an der Uni gehabt, und da bin ich halt auch hingegangen und hab mir ne Vorlesung in Geschichte angehört ähm Tag der offenen Tür fand ich - also diese Vorlesung in Geschichte fand ich einfach super, die hat mich - nochmal bestärkt in meiner Entscheidung im Grunde genommen Richtung Geschichte zu gehen auch, ähm - und vor allem es war genau unser Thema, also wir haben dann in der Vorlesung das Thema Sparta gehabt und das war halt auch Abi Thema und das war mein Lieblingsthema so. Und das hat das dann noch mehr verstärkt und ich dachte ja, geil das ist das was ich machen will so. (46/21-32)
Der Tag der Offenen Tür ist eine institutionalisierte Möglichkeit, die Studieninteressierten die Möglichkeit bieten soll, einen Einblick in die Welt der Universität zu erhalten. Nuray Coúkun nutzt diese Möglichkeit für eine Prüfung ihrer bereits entworfenen Studienperspektive. Die Auswahl einer Vorlesung im Fach Geschichte ist nicht beliebig, sondern folgt einem bereits bestehenden fachlich-inhaltlichen Interesse, in dem sie sich durch die Vorlesung bestätigt sieht („das will ich machen“). Sie kann somit plausibel machen, dass sie nicht zufällig in ihr Studium und ihre Fächerkombination ‚hineinrutscht‘, sondern eine überlegte Entscheidung trifft. Den Zufall, dass in der Vorlesung ein Thema behandelt wird, das Nuray Coúkun als Prüfungsthema vertraut ist („Sparta“) und für das sie eine besondere Leidenschaft hat („Lieblingsthema“), nutzt sie für die Herstellung einer Verbindung zwischen Gegenwart und Zukunft. „Sparta“ bildet eine Brücke zwischen ihren bisheri-
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gen fachlichen Interessen und ihrem zukünftigen Studium, dem Vertrauten und dem Unvertrauten. Die Fremdheit der Universität und des Studiums wird auf diese Weise in etwas Vertrautes umgewandelt. Das bewusste Verknüpfen von inhaltlichthematischen Interessen aus der Schulzeit mit dem Geschichtsstudium wird zu einer Möglichkeit der Herstellung bildungsbiographischer Kontinuität. Die Verknüpfung zwischen Schule und Universität wird sprachlich auch durch die Selbstversortung der Biographin in beiden Kontexten hergestellt: Nuray Coúkun positioniert sich hier simultan im „Wir“ des Geschichtskurses als auch im „Wir“ der Vorlesungsteilnehmer*innen. Dadurch wird auch auf der Ebene der Darstellung ein gleitender Übergang in die Gruppe der Studierenden vollzogen. Vergeschichtlichung Nuray Coúkun thematisiert zwar auch Fremdheitsgefühle bei ihrem ersten Besuch an der Universität – wie die meisten meiner Interviewpartner*innen ist sie nicht schon mit dem Ort vertraut. Dennoch ist es nicht die Betonung von Fremdheit, die in der Erzählung über den Tag der Offenen Tür im Zentrum steht. N: Ähm - vom Gefühl her - kam ich mir echt n bisschen verloren vor, also es war riesig für mich alles es war unvorstellbar da mich irgendwann mal zurechtfinden zu können, ähm zu wissen wo ich hingehen muss und=und=und dann diese Riesen - Vorlesungs=Säle im Grunde genommen, war n ganz neues - Erlebnis für mich. Also ich - und ABER ich hab mich - also ich hatte schon da das Gefühl hier gehörst du hin. Also das ist=das ist das was - zu dir passt. Also im Grunde genommen - war ich da schon auf dem Stand - hatte ich=hatte ich so innerlich dieses Gefühl ich war=ich war schon bereit dafür. Also ich war schon so weit zu sagen, ich - studiere I: mhm N: so. Und ich bin bereit diese=dieses Große was jetzt so alles noch fremd ist so mir anzueignen und ähm auch diese=diese Anonymität in diesem Großen und Ganzen irgendwie, ähm - so positiv zu sehen und gar nicht mal so - ängstlich und=und=und verschreckend oder sowas, sondern ich fand es toll, ich fand es so - ja cool ey, das wird=das wird ne tolle Zeit werden, also mit=mit dieser Einstellung bin ich dann auch aus dieser Uni gegangen an diesem Tag. (46/3247/7)
Die Ausführungen der Biographin haben hier den Charakter eines reflektierenden inneren Dialogs, in dem sie das (beginnende) Verhältnis zwischen sich selbst und der Universität bzw. dem Studium thematisiert. Sie empfindet die Universität bei ihrer ersten Begegnung einerseits als groß und unüberschaubar; es ist ein Ort, an dem es ihr nicht leicht fällt, sich zu orientieren und zu „wissen wo ich hingehen muss“. Sie kommt sich „verloren“ vor, die Räumlichkeiten der Universität sind ihr unvertraut und es ist Nuray Coúkun „unvorstellbar“, wie sie sich in Kürze in der Universität zurechtfinden soll. Damit wird eine Diskrepanz zwischen dem Ist-Zustand des erzählten Ich und der antizipierten Zukunft betont. Auf der anderen Seite konstruiert sie jedoch – trotz ihrer Verunsicherung – ein Verhältnis von Zugehörigkeit, das sich (so ihre retrospektive Konstruktion) bereits am ersten Tag an der Universität herstellt. Dies wird mit den Begriffen des Hingehörens und des Passens gefasst („schon da das Gefühl hier gehörst du hin“, „das ist das was zu dir passt“). An einen Ort zu „gehören“, hat offenbar nicht nur etwas mit
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dem Zurechtfinden, der Orientierung zu tun. Es verweist vielmehr auf ein Verhältnis der Übereinstimmung zwischen eigenen Dispositionen und der Qualität des Kontexts. Bereits die ersten Eindrücke am Tag der Offenen Tür vermitteln Nuray Coúkun das „Gefühl“, dass die Universität ihr angemessen ist, sie sich dort wohlfühlt.40 Die rückblickende Konstruktion dieses Passungsverhältnisses kann auch als eine Strategie der Herstellung von Zugehörigkeit zur Universität in der Erzählzeit interpretiert werden: Nuray Coúkun konstruiert eine Geschichte der Verbundenheit, die bis zum ersten Tag der ersten Begegnung mit der Universität zurückreicht. Durch diese Genealogie der Verbundenheit ‚vom ersten Tag an‘ unterstreicht sie die Legitimität und Stabilität ihres Zugehörigkeitsstatus. Auch die Betonung, damals „innerlich“ „schon bereit“ für das Studium gewesen zu sein, lässt sich als ein Moment dieser ‚Vergeschichtlichung‘ interpretieren. Das Sprechen von der „inneren“ Bereitschaft zum Studium beinhaltet die implizite Theorie, dass die Aufnahme eines Studiums nicht nur von formalen Voraussetzungen abhängig ist, sondern auch eine bestimmte Disposition erfordert. Dazu zählt die Bereitschaft, sich auf Unbekanntes einzulassen und sich dieses zueigen zu machen, auch wenn es zunächst vielleicht beängstigend wirkt. Diese Disposition nimmt die Biographin rückblickend bereits für den Zeitpunkt der zwölften Klasse für sich in Anspruch.41 Die zögernden Formulierungen und das Ringen nach Worten lassen sich in diesem Zusammenhang vielleicht mit der Diskrepanz erklären, die zwischen der subjektiven Bereitschaft zum Studium und dem ‚objektiven‘ Möglichkeitsraum besteht: Nuray Coúkun hat zu dem Zeitpunkt, auf den sie sich bezieht, das Abitur noch vor sich; als Schülerin der zwölften Klasse ist sie formal noch nicht zum Studium berechtigt. Die Aneignung des Studiums kann zu diesem Zeitpunkt deshalb nur in die Zukunft entworfen bzw. imaginiert werden. Soziale Einbindung und räumliche Aneignung Die Betonung einer unmissverständlichen Zugehörigkeit zur Universität und der Ungleichzeitigkeit zwischen der formalen Mitgliedschaft und der praktischen Teilhabe am Studium setzt sich auch in der Thematisierung des Studienbeginns fort. In Bezug auf den Studienbeginn findet sich eine Sequenz mit einer ähnlichen Struktur wie in der obigen Passage.
40 Während ‚Hingehören‘ eher das Verhältnis zwischen einem bereits existenten Raum und einem hinzukommenden Subjekt qualifiziert (an einen Ort kommen, an den man passt), betont die Formulierung „das was zu dir passt“ genau die andere Seite; hier ist das Subjekt die Konstante und findet etwas (z.B. eine kulturelle Praxis), das zu ihm passt. Es werden somit zwei Dimensionen des ‚Passungsverhältnisses‘ zwischen der Universität und dem erzählten Ich angesprochen, die von der Biographin positiv bewertet werden. 41 Interessant ist, dass die Bereitschaft, sich auf ein neues Bildungsmilieu einzulassen, auch in Nuray Coúkuns Erzählung über ihre Schulerfahrungen während dieser Zeit von Bedeutung ist. Möglich ist, dass der Positions- und Perspektivwechsel, den sie in der Oberstufenzeit vollzieht, auch eine Relevanz für ihre Haltung zu einem möglichen Studium hat.
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N: Ne, ja es war halt - aufregend. Ich war aufgeregt. Ich war richtig aufgeregt, ich hab richtig gezittert und - phhh war ganz - also fremd alles ganz fremde Leute um mich herum und ich wusste nicht wie das alles laufen wird in welche Kurse ich kommen werde, wie das aussieht, wie mein Plan wird also - ein Fragezeichen nach m anderen im Grunde genommen ich wusste noch nicht mal zu dem Zeitpunkt ob ich auch angenommen bin oder nicht. Also ich bin ja erst durch das Nachrückverfahren rein und es hat dann nochmal n paar Wochen gedauert bis ich dann - die Zusage hatte (…) Und dann hatten wir, das weiß ich noch, da=da hatten wir dann die erste Pause nach dieser Einführungskennenlernveranstaltung, und dann stand ich halt draußen und es war überhaupt kein Thema für mich mit Leuten mich dahin zu stellen und mich zu unterhalten mit denen und da - so zu fragen oder auf die Leute zuzugehen oder so, überhaupt nicht, und es war - ich hab sofort - Kontakte bekommen und ähm - auch Leute gefunden die mit mir den gleichen Studiengang machen wollen und ähm auch mit de_mit der einen zum Beispiel schon abgeplant gut dann machen wir das zusammen und so, also gleich am ersten Tag schon im Grunde genommen (48/18-49/5)
Nuray Coúkun thematisiert die Hürden und Anforderungen, mit denen sie zu Beginn ihres Studiums konfrontiert ist. Der Studienanfang gestaltet sich nicht nur objektiv „aufregend“, sondern er wird auch leiblich so erlebt („ich hab richtig gezittert“). Die Aufregung wird zum einen damit begründet, dass Nuray Coúkun offenbar niemanden unter den Mitstudierenden kennt und der Ablauf des Semesters noch unklar ist. Gesteigert wird die Unsicherheit dadurch, dass zu diesem Zeitpunkt noch ungewiss ist, ob sie überhaupt zum Studium zugelassen („angenommen“) wird. Sie muss also zu studieren beginnen, obwohl sie noch keinen offiziellen Status als Studentin innehat. Die Wartezeit in diesem Zwischenstatus, die sich über mehrere Wochen erstreckt, bedeutet für Nuray Coúkun daher „ein Fragezeichen nach m anderen“. Während die äußeren Rahmenbedingungen ihrer Mitgliedschaft zu diesem Zeitpunkt noch unklar sind, wird der Übergang ins Studium von Nuray Coúkun im sozialen Handeln bereits vollzogen. Sie betont, dass sie „sofort“ Kontakte mit anderen Mitstudierenden knüpft und „gleich am ersten Tag“ mit ihnen Pläne für gemeinsame Aktivitäten schmiedet. Die Tatsache, dass die Biographin die Problemlosigkeit des sozialen Anschlusses vom „ersten Tag“ an so stark hervorhebt („es war überhaupt kein Thema für mich“), kann als Hinweis darauf gedeutet werden, dass sie betonen will, dass es ihr – trotz der äußeren Unsicherheiten – gelingt, den Übergang ins Studium auf der Ebene der sozialen Praxis bereits zu vollziehen. Das Knüpfen von Kontakten scheint ein wesentlicher Aspekt zu sein, um sich als zugehörig erleben und präsentieren zu können. Möglicherweise kommt darin auch zum Ausdruck, dass sich der Aufbau von Kontakten angesichts der Größe und Anonymität der Universität für die Biographin überraschend leicht gestaltet hat. Darüber hinaus ist möglich, dass die starke Betonung der problemlosen sozialen Einbindung einer Interaktionssituation geschuldet ist, in der Nuray Coúkun sich aufgefordert fühlt, ihre soziale Zugehörigkeit zur Universität zu plausibilisieren bzw. sie unter Beweis zu stellen. Es scheint Nuray Coúkun in jedem Fall wichtig zu sein, zu vermitteln, dass sie trotz eines bürokratisch erschwerten Studienzugangs bereits nach kurzer Zeit innerlich in der Universität ‚angekommen‘ ist und sich dieser neuen ‚Welt‘ zugehörig fühlt:
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N: ähm - ging es echt, es ging relativ schnell, und ich war relativ schnell drin. Also in diesem ähm - in diesem - Gefühl so, du bist jetzt Studentin. So klar hat das dann noch=nochmal gedauert ähm, bis ich überhaupt n Überblick hatte, überhaupt diesen Campus zu überblicken und=und dann meine Stundenpläne zu erstellen und - sowas, also das war dann natürlich nochmal - das hat dann doch noch gedauert diese Sachen auch abzuklären, aber - so nach zwei Monaten war ich voll drin. Also ich - hab mich auch gar nicht mehr fremd gefühlt sondern so es war, phh, ja meine Uni (lacht), so I: mhm N: also wirklich so dieses Gefühl ich kann - ich bin dann dahin in meiner Freizeit hab mich dann hingechillt in die Bibliothek und gelesen oder keine Ahnung bin dann essen gegangen mit den Leuten unten (48/37-49/9)
Nuray Coúkun unterscheidet die formale Seite des Studiums (Zugangsregeln, organisatorische Rahmenbedingungen, die durchschaut und erfüllt werden müssen) von einem grundlegenden „Gefühl“, am richtigen Ort zu sein, das sich „schnell“ eingestellt habe. Dies scheint das Entscheidende zu sein; die Tatsache, dass es noch einiger Zeit bedurfte, um sich räumlich zu orientieren, einen Stundenplan zu erstellen und „diese Sachen abzuklären“ (womit vermutlich die formale Berechtigung zum Studium gemeint ist) erscheint dagegen nebensächlich. Die formale Mitgliedschaft und der informelle Zugehörigkeitsstaus sind für Nuray Coúkun also bis zu einem gewissen Grad voneinander unabhängig. Fremdheitserfahrungen an der Universität werden von Nuray Coúkun explizit in die Vergangenheit verwiesen; die Phase des Einfindens ist spätestens nach zwei Monaten überwunden. An die Stelle tritt eine Identifizierung mit der Universität, die nicht nur als (Aus-)Bildungsort, sondern auch als lebensweltlich relevanter Bezugsort angeeignet wird, wie im Folgenden durch kurze Illustrationen plausibilisiert wird. Der Hinweis auf Aufenthalte in der Bibliothek und anderen universitären Einrichtungen unterstreichen Nuray Coúkuns Aneignung des sozialen Raums Universität. In der Formulierung „meine Uni“ wird das positive Zugehörigkeitsverhältnis der Biographin zu diesem Raum unmissverständlich zum Ausdruck gebracht; die Universität wird in diesem Bild gewissermaßen ‚einverleibt‘. Identifikation mit der künftigen Berufsrolle An anderer Stelle zeigt sich, dass Nuray Coúkun auch prospektiv – nämlich durch die Identifikation mit der künftigen Berufsrolle – eine „biographische Verbundenheit“ (Mecheril 2003) zu ihrem Studium entwirft. Ihre folgende Äußerung steht in Zusammenhang mit einer Frage der Interviewerin danach, wie „das erste Semester für dich gelaufen“ (49/19-20) ist und nach Situationen und Erlebnissen, die die Biographin erinnert. N: meine Grammatiklehrerin die fand ich einfach spitzenmäßig in Spanisch, also da dachte ich ja geil, so, endlich mal - keine Schlaftablette wie ich das sonst so in den Vorlesungen erlebt hab sondern auch eine jüngere Frau die mit Witz und Humor in den Unterricht gekommen ist und auch mit uns gelacht hat und Witze gerissen hat und trotzdem diesen Unterricht und den Stoff auch gut=gut durchgezogen hat mit uns und ähm - tough also fand ich=fand ich cool so, dachte ich ja, das - so kann ich mir vorstellen, also ich konnte es mir selber, ich konnte mich selber auch in diese Situation dann irgendwie - vorstellen, also vorstellen dass ich irgendwann auch
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vielleicht so ne - son Kurs leite oder sowas, also das - ne, und nicht so dieses - dieses total Ferne, so oh, das schaff ich nie und boah Wahnsinn oder so, gar nicht, sondern so schon dieses Erlebnis gehabt das ist alles machbar (49/32-50/3)
Nuray Coúkun nimmt hier auf eine Dozentin Bezug, bei der sie einen Kurs in spanischer Grammatik besucht hat. Durch ihr Alter („jüngere Frau“), ihre lebendige Seminargestaltung („keine Schlaftablette“) sowie ihren unhierarchischen Umgang mit den Studierenden wird sie implizit von anderen Lehrenden unterschieden. Der Hinweis darauf, dass sie auch „den Stoff durchgezogen“ habe, sichert andererseits ihre Seriosität ab.42 In der Formulierung „auch eine jüngere Frau“ deutet sich an, dass die Erzählerin eine Parallele zwischen der Dozentin und sich selbst herstellt. Die junge, engagierte Dozentin macht es ihr leicht, sich mit ihr zu identifizieren. Dies hat vermutlich mit ihrem Alter, Geschlecht und wenig hierarchischen Auftreten zu tun. Nuray Coúkun wechselt hier virtuell die Seite, tritt aus ihrer Rolle als Lernende heraus und versetzt sich in die Rolle der Lehrenden: Sie kann sich „vorstellen“, selbst auch „irgendwann so einen Kurs“ zu leiten, die Vorstellung einer eigenen Lehrtätigkeit ist ihr keineswegs „fern“.43 Das Ziel, selbst einmal zu unterrichten, wird durch die Identifikation mit der Dozentin in den Bereich des Erreichbaren geholt („das ist alles machbar“). Damit stellt Nuray Coúkun auch eine Verknüpfung zwischen der Gegenwart des Studiums und ihrem beruflichen Selbstentwurf her. Reflexive Identifikation mit der Wissenschaftswelt Das erste Semester zeichnet sich für Nuray Coúkun vor allem durch das Vertrautwerden mit den Regeln und Konventionen der akademischen Welt und des wissenschaftlichen Arbeitens aus: N: es war halt alles neu so für mich, ne, und=und allein - so Sachen wie, ja schreib mal n Exzerpt irgendwie ja gut, was isn das überhaupt und=und, so mit diesen grundlegenden Sachen erstmal sich auseinander zu setzen das war - so das Haupt Ding für mich, jetzt im ersten Semester, ähm (49/25-27) N: ich hab meine erste Hausarbeit geschrieben, ja. /(schmunzelnd) Ja, es ist ganz k_ ja, es ist komisch. (lacht) Auch jetzt wenn Begrifflichkeiten so - das - boa ich hab meine Haus-ar-beit ge-schrie-ben (lacht), ich hab ein Exzerpt abgegeben, hallo, es ist ne Zusammenfassung! (beide lachen) Ne aber - nein, es heißt Exzerpt. (50/20-23)
Auffällig sind hier erneut die Souveränität der Erzählerin und die Reflexivität ihrer Bezugnahme auf wissenschaftliche Praxen. Nuray Coúkun nimmt wahr, dass mit dem Studium viel Neues verbunden ist und andere Erwartungen an sie gerichtet werden als in der Schule (etwa die Anforderung an das Verfassen von Hausarbeiten und Ex42 Mit den Formulierungen „Grammatiklehrerin“, „Unterricht“, „Stoff durchgezogen“ benutzt Nuray Coúkun Begriffe, die eher an schulischen Lernsettings erinnern und weniger dem Sprachcode der Universität entsprechen. Möglicherweise sind Grammatikseminare aber auch eher schulisch organisiert und legen solche Begriffe deshalb nahe. 43 Dass ihr dieser Rollenwechsel so leicht fällt, hat dabei vermutlich auch mit eigenen ersten Erfahrungen des Unterrichtens während der Oberstufenzeit in der Gesamtschule zu tun.
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zerpten). Das langsame und betonte Aussprechen dieser Begriffe verweist auf das Irritationspotenzial bei der Begegnung mit Wissenschaftssprache. Es handelt sich nicht um Alltagsvokabular, sondern um Fachausdrücke, die ‚Noviz*innen‘ in diesem Feld zunächst fremd sind. Diese Fremdheit wird von der Erzählerin jedoch gleich im nächsten Moment entdramatisiert, indem sie das Fremde ins Vertraute überführt („hallo, es ist ne Zusammenfassung“). Nuray Coúkun deutet die an sie gerichteten Aufgaben also letztlich weniger als ein Erlernen gänzlich neuer Arbeitstechniken und Textformen, sondern vor allem als Anforderung, sich mit den in der Universität gültigen Sprachcodes und Konventionen vertraut zu machen. Sie ‚durchschaut‘, dass es um das Erlernen feldspezifischer Spielregeln geht, die eine Voraussetzung für das Mitspielen sind. Die Art und Weise wie sie sich zur Hochschule ins Verhältnis setzt, lässt sich – ausgehend von dieser Sequenz – als eine reflexive Identifikation mit den ungeschriebenen Regeln und Anforderungen des akademischen Feldes beschreiben. Die Souveränität der Biographin im Umgang mit den Anforderungen in der akademischen ‚Welt‘ wird nicht nur im Hinblick auf den Umgang mit dem feldspezifischen Sprachcode erkennbar. Erklärbar wird sie unter anderem vor dem Hintergrund kultureller Ressourcen, die im familialen Umfeld sowie in schulischen Lernprozessen erworben wurden. Aus der Rekonstruktion der Bildungsgeschichte ist hervorgegangen, dass Nuray Coúkun die kritisch-politische Haltung ihrer Eltern und ihres nähren sozialen Umfeldes als entscheidend für ihr biographisches Gewordensein betrachtet. Die Fähigkeit, sich in kritischer Art und Weise mit der Welt auseinanderzusetzen und sich in ihr zu positionieren stellt, eine wesentliche bildungsbiographische Ressource dar, die sie in ihrer Schullaufbahn nutzen und (in der Gesamtschule) weiter entwickeln kann und die ihr auch den Übergang zur Universität erleichtert. N: mein Stiefvater, der hat - der hat sehr viel - ähm - auch - Zeit mit mir verbracht, also der hat - wir haben - ständig Texte zusammen gelesen und darüber diskutiert und - er hat mich auf Punkte gebracht die ich vorher gar nicht gesehen hab, er hat meinen=meinen Blickwinkel verändert in=in vielen Sachen, genauso wie mein - Vorbildslehrer Herr Lopéz der ähm auch gerade dieses kritische Denken auch immer wieder gefordert hat auch und ähm - da bin ich - über meinen Schatten gesprungen in=in vielen Situationen und hab dann auch meinen Mund aufgemach_hab=musste es erst lernen meinen Mund richtig aufzumachen und meine Meinung zu vertreten und ähm meine Ansichten den Leuten zu verdeutlichen (55/3-11)
Daneben zeigt eine Passage im Nachfrageteil des Interviews, dass Nuray Coúkun schon während ihrer Schulzeit durch ihrem Stiefvater in die Praxis der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit komplexen Theorien eingeführt worden ist. N: Und stän_also diese ständigen Diskussionen der hat auch n Freund, sein bester Freund Matthias, und der ist - Rentner und der is n totaler Crack, der hat irgendwie - ähm sich auf die Systemtheorie spezialisiert von Luhmann und - dann saßen wir haben hier echt stundenlange Diskussionen geführt über ähm - diese Systemtheorie (55/37-56/2)
An diesem Beispiel zeigt sich anschaulich, wie kulturelle Praxen in informellen Bildungsprozessen tradiert werden. Entscheidend ist hier weniger das themenbezogene Wissen, das in solchen Diskussionen erworben wird, als das Vertrautwerden mit und
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das Einüben in Praxen, die eine relevante Ressource für die Teilnahme am ‚akademischen Diskurs‘ darstellen. Es ist davon auszugehen, dass die Vertrautheit mit Praxisformen wie diesen dazu beitragen, dass die Biographin den Herausforderungen des Studienbeginns mit Gelassenheit begegnen kann. 7.3.5 Fazit: Studienbeginn als biographische Fortsetzung und Zäsur In der Gesamtgestalt der Bildungsbiographie Nuray Coúkuns steht das Studium zunächst für eine Fortsetzung und weitere Stabilisierung der biographischen Prozessstruktur. Mit der unmittelbaren und zügigen Aufnahme des Studiums direkt nach dem Abitur setzt sich das bildungsbezogene Handlungsschema, das Nuray Coúkun kultiviert hat, fort. Die Aufnahme des Studiums verlangt zunächst die Bewältigung formaler Zugangshürden. Diese weiß die Biographin allerdings zu nehmen; sie kann sich (selbstironisch) als souveräne Akteurin stilisieren, die durch ihre ‚brüchige‘ Bildungsgeschichte über das nötige Erfahrungswissen im Umgang mit bürokratischen Strukturen verfügt. Zwar ist der Studienbeginn für Nuray Coúkun mit Orientierungsleistungen und Lernprozessen verbunden, aber sie konstruiert ihn nicht als einen ‚Bruch‘ oder einen biographischen Übergang, der sehr viel Aufwand oder Energie erfordert. Sie kann vielmehr auf Wissen und Erfahrungen zurückgreifen, die den Übergang in die ‚Welt‘ der Universität ebnen. Das mühelose Einfinden in die wissenschaftliche Welt und die souveräne Selbstkonstruktion als dieser Welt zugehörige Studentin gelingt Nuray Coúkun aufgrund von kulturellen Ressourcen und Kompetenzen, die mit lebensweltlichen und schulischen Lernprozessen vermittelt sind. Dazu zählt neben dem spielerischen Einüben in akademische Lese- und Diskussionspraxen vor allem eine ‚habitualisierte‘ kritisch-reflexive Haltung zur Welt, die auch von ihr selbst als Bildungsressource wahrgenommen und reflektiert wird. Der Übergang in den Studierendenstatus wird somit als ‚fließender‘ Übergang präsentiert, der ohne erheblichen Aufwand bewältigt werden kann. Allerdings markiert der Statuswechsel von der Schülerin zur Studentin in Nuray Coúkuns Biographie insofern eine Zäsur als sich damit eine symbolische Grenzüberschreitung verbindet. Mit dem Statuswechsel zur ‚(Lehramts-)Studentin mit Migrationshintergrund‘ verbindet sich für Nuray Coúkun eine veränderte Positionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung. Dies hat mit Zuschreibungen von signifikanten Anderen (Lehrer*innen, Arbeitskolleg*innen ihrer Mutter) zu tun, die Nuray Coúkun eine besondere Eignung für den Lehrberuf attestieren und ihr als Pionierin einer neuen Generation angehender Lehrkräfte mit Migrationsgeschichte Anerkennung entgegenbringen, durch die sie sich selbst sich in veränderter Weise erfährt. Nuray Coúkun eignet sich diese Position affirmativ an, indem sie sich als Vorbild für „die Leute mit Migrationshintergrund“ präsentiert. Das Selbstverständnis als Vorbild gewinnt zwar schon in der Oberstufenzeit – durch die Betreuung der jüngeren Schwester – eine Bedeutung in der Biographie, aber mit dem Studienbeginn wird dieses noch einmal erheblich gesteigert.
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Biographische Zugehörigkeitsarbeit Nuray Coúkun setzt sich zu ihrem Studium auf unterschiedliche Weise in ein biographisches Verhältnis: Sie verleiht ihrem Studium einen ‚übergreifenden‘ biographischen Sinn, indem sie es als Teil eines kollektiven Ringens um die gesellschaftliche Repräsentation und gleichberechtigte Teilhabe von Migrant*innen deutet. Die Aufnahme eines Studiums, speziell des Lehramtsstudium, wird als gesellschaftspolitisch relevanter Akt gedeutet, der eine Chance für das Hinarbeiten auf mehr soziale Gerechtigkeit im Schulsystem der Migrationsgesellschaft bietet. Dabei greift die Biographin auf familial und sozio-kulturell tradierte Handlungsmotive als biographische Sinnressource zurück: Ihre eigene künftige Tätigkeit als Pädagogin stellt Nuray Coúkun auch in die Traditionslinie eines politisch inspirierten pädagogischen Handelns. Das Studium steht somit auch für die (fortgesetzte) Wiederannäherung an familiale Normen und Handlungsmotive, nämlich den Einsatz für mehr gesellschaftliche Gerechtigkeit. Das Anknüpfen an diese ‚Familientradition‘ stellt sich in einer gesamtbiographischen Perspektive aber keineswegs als eine ungebrochene Übernahme tradierter Handlungsentwürfe dar. Nuray Coúkun nähert sich an diese familial verfügbaren Handlungsmaximen und Orientierungen vielmehr erst an, nachdem sie sich zwischenzeitlich weit davon entfernt hat. Und sie führt den „Kampf“ ihrer Mutter mit anderen Mitteln und an einem anderen sozialen Ort fort. Neben dieser übergreifenden biographischen Sinngebung lassen sich weitere, ‚kleinräumige‘ Strategien beschreiben, mit denen die Biographin den Übergang in die Universität biographisch vollzieht und bearbeitet: Durch die Verknüpfung des Studiums mit bestehenden fachlichen Interessen, die rasche Etablierung sozialer und räumlicher Bindungen und die Antizipation der (beruflichen) Zukunft stellt Nuray Coúkun eine biographische Verbundenheit zum Studium her. Diese verschiedenen Relationierungen zu Universität und Studium lassen sich auch als Formen biographischer Zugehörigkeitsarbeit interpretieren. Zugehörigkeit wird dabei sowohl dargestellt als auch performativ hergestellt. So kann etwa die Ungleichzeitigkeit zwischen „Mitgliedschaft“ und „Verbundenheit“ (Mecheril 2003) einerseits als Darstellung eines Zugehörigkeitsverhältnisses interpretiert werden. Andererseits kann sie auch als eine performative Strategie der Herstellung und Stabilisierung von Zugehörigkeit zur Universität gedeutet werden, mit der die Biographin ihren Zugehörigkeitsstatus performativ absichert und ausbaut.
7.4 D IFFERENZKONSTRUKTIONEN UND (S ELBST -) P OSITIONIERUNGEN IM K ONTEXT DES L EHRAMTSSTUDIUMS Ziel des nun folgenden Teilkapitels ist es, zu zeigen, wie ‚Migration‘ als Differenzkonstruktion in der Studienbiographie zum Tragen kommt, auf welche Differenzierungspraktiken im universitären Kontext dies verweist und wie die Erzählerin sich selbst dazu positioniert. Nuray Coúkuns Erzählung steht dabei für einen Fall, in dem Adressierungen im Studium, die sich auf die Differenzlinie ‚Migration‘ beziehen, eine ambivalente Bedeutung zukommt. Ihre Selbstpositionierung bewegt sich in einem Spannungsfeld: Sie positioniert sich einerseits als engagierte Sprecherin einer margi-
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nalisierten Gruppe, andererseits weiß sie um die Risiken einer solchen Positionierung und problematisiert kategoriale Zuordnungen. Ihre Selbstpositionierungen lassen sich dabei nicht nur als Reaktionen auf situativ erlebte ‚Anrufungen‘ deuten, sondern sind auch vor dem Hintergrund der spezifischen Erfahrungsgeschichte der Biographin zu verstehen. 7.4.1 Engagement aus ‚Betroffenheit‘: Aufklärung, Dialog, Widerspruch Es wurde bereits gezeigt, dass Nuray Coúkun ihr Lehramtsstudium in den Sinnzusammenhang eines kollektiven Ringens um gesellschaftliche Anerkennung und für mehr Gerechtigkeit im Bildungssystem stellt. Diese kritisch-engagierte Haltung spiegelt sich auch in der Art und Weise wider, wie sie sich im studentischen Feld positioniert. In Seminarsituationen scheut sie nicht davor zurück, Stellung zu beziehen und ‚abweichende‘ Sichtweisen einzubringen: N: Und wir haben das auch in=in Geschichte zum Beispiel gehabt das, also das wird auch nächstes Semester unser Thema werden, ähm, wie - diese Identifikation hier ist in diesem Land. Und, da hatten wir in der letzten Stunde vor den Semesterferien hatten wir das Thema auch angeschnitten, und ähm - da standen dann so Sachen wie - unsere eigene Vergangenheit und so weiter, das stand auf Kärtchen an der Tafel und da hab ich gesagt also ich hab Schwierigkeiten damit zu sagen unsere eigene, also allein dieses eigen, ähm - ge=geht nicht. Es haut nicht hin. Es haut einfach nicht hin. So. (58/11-17)
Über den thematischen Kontext des Geschichte-Seminars wird nichts gesagt, es lässt sich lediglich vermuten, dass hier Fragen von nationaler Vergangenheit und Identität verhandelt werden. Die Beschreibung der Seminarsituation („Kärtchen an der Tafel“) deutet darauf hin, dass es sich bei den Tafelanschriften um eine Sammlung von Gedanken der Studierenden handelt. Nuray Coúkun bezieht sich kritisch auf Statements ihrer Kommiliton*innen, die auf den Kärtchen festgehalten sind. Sie artikuliert ein Unbehagen mit homogenisierenden Aussagen über „unsere eigene Vergangenheit“, die ein einheitliches nationales „Wir“ unterstellen. Indem sie sich mit dieser Formulierung als nicht einverstanden erklärt, macht sie auf die Standortgebundenheit der Aussage und die damit verbundenen Ausschließungen aufmerksam. Denn diese Aussage setzt eine unhinterfragte und einheitliche nationale Zugehörigkeit voraus. Nuray Coúkuns Intervention bildet den ein Auftakt für eine längere Diskussion mit ihren Kommiliton*innen über Fragen von Zugehörigkeit und Identität. Dabei geht es nicht mehr um Fragen des Umgangs mit Vergangenheit, sondern es wird auch das Thema ‚Integration‘ verhandelt. Die Biographin erwähnt verschiedene Diskussionsteilnehmende, mit denen sie in einen Dialog eintritt. Sie nimmt hier die Position einer Expertin ein, die den Auftrag übernimmt, ihren Kommiliton*innen die Komplexität der Problematik von Zugehörigkeit in der Migrationsgesellschaft begreifbar zu machen. Sie verfolgt damit ihren Kommiliton*innen gegenüber einen Zugang, den man als ‚aufklärerisch‘ bezeichnen könnte. Sie praktiziert eine Strategie der Sensibilisierung bzw. der Bewusstseinsbildung, indem sie dafür sorgt, dass Stimmen und Perspektiven Aufmerksamkeit finden, die im Diskurs marginalisiert oder ‚übersehen‘ werden, denen darin keine anerkannte Position zugestanden wird, und die daher sonst
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nicht zur Sprache kämen. Mit dieser Positionierung reagiert sie auf eine Situation, in der es nicht selbstverständlich ist, dass Studierende im Raum sind, deren Verortungen im Raum nationaler Zugehörigkeiten sich nicht in einheitlichen Kategorien abbilden lassen. Aus Nuray Coúkuns Darstellung lässt sich schließen, dass ihre Positionierung in der geschilderten Episode dabei für eine Strategie steht, die auch über diese konkrete Situation hinaus Gültigkeit hat: N: Ja ich versuch das Beste draus zu machen so, ich - versuch die Leute um mich herum irgendwie - drauf aufmerksam zu machen, mit denen zu reden und zu diskutieren und - bei vielen kommt das auch an und das ist toll und ich freu mich dann und denk ja cool, wenigstens n paar Leute die - drauf aufmerksam gemacht wurden so. (59/24-27)
Die Positionierung als ‚Aufklärerin‘ wird dadurch untermauert und legitimiert, dass Nuray Coúkun für sich in Anspruch nimmt, sich auf biographisches Wissen zu beziehen, das sie von ihren Kommiliton*innen unterscheidet. Sie argumentiert, dass sie ihren Kommiliton*innen ein Erfahrungswissen voraus hat, das aus ihrem eigenen Standort in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung resultiert: N: ich versteh auch dass es total schwierig sein muss für viele Leute das nachzuvollziehen in was für ner - Situation man steckt hier in Deutschland mit Migrationshintergrund also wie das für einen selber ist. Weil ich bin zum Beispiel - in der Türkei bin ich - almanci, so nennen die uns, Eingedeutschte, und hier bin ich Kanake, also das ist - schwierig, verdammt schwierig zu sagen ich hab ne eigene Geschichte, ich hab ne eigene Vergangenheit, ich hab ne eigene Identität, ich bin das, ich bin dies - kann man nicht. So. Und das können die natürlich nicht nachvollziehen die das nicht erlebt haben. Und - da so dieses - die drauf aufmerksam machen und zu so diesen Austausch zu haben, (seufzt) das wird n schwieriger Weg (lacht kurz), das dauert. Ja. Ja. (4) Ja. Aber - tschacka! (beide lachen) (59/3-12)
Nuray Coúkun weiß aus eigener Erfahrung, was es bedeutet, nicht als legitimes Mitglied des nationalen ‚Wir‘ anerkannt zu werden und sich darum auch selbst nicht so identifizieren zu können. Sie kann keine einheitliche nationale Identität beanspruchen, weil ihr diese in beiden nationalen Kontexten abgesprochen wird.44 Diese eigene Ausschlusserfahrung verleiht ihren Stellungnahmen zu diesem Thema eine besondere Glaubwürdigkeit und Überzeugungskraft. Ihre Kommiliton*innen verfügen über dieses Wissen dagegen nicht und sind sich der Ausschließungen, die mit ihren Aussagen über eine nationale Identität verbunden sind, nicht bewusst. Dies wird von Nuray Coúkun mit Nachsicht quittiert. Sie entschuldigt die ‚Unwissenheit‘ oder ‚Ah44 Dies macht Nuray Coúkun auch anderer Stelle fest: „[H]ier bist du immer noch irgendwie mit deinem Hintergrund in der dritten Generation oder so - definiert. (…) Ja woher kommst du? Ja aus B-Stadt. Aus Deutschland so. Hä? Okay, ja mein Hintergrund ist türkisch kurdisch arabisch (lacht kurz), mein Stiefvater ist Spanier, also - ne? Da ist es irgendwie (lacht) sch_ hier ist es schwieriger. Sich - mit dem Deutschsein auch zu identifizieren.“ (58/1-11) Die hier beschriebene, im Alltag oft anzutreffende Art des Dialoges ist von Santina Battaglia (2007) als „Herkunftsdialog“ bezeichnet worden, der die so Adressierten dazu zwingt, sich als ‚Andere‘ zu repräsentieren und sie infolgedessen auch als solche „belangt“ (ebd.: 185) werden können.
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nungslosigkeit‘ der anderen; sie können es nicht besser wissen, weil „die das nicht erlebt haben“. Das eigene Erfahrungswissen wird damit einerseits zu einem Mittel der Distinktion, andererseits wird damit eine Notwendigkeit bzw. Alternativlosigkeit der eigenen Rolle als ‚Aufklärerin‘ konstruiert, die aus diesem Wissen resultiert. Nuray Coúkun führt ihre engagierte Haltung dabei jedoch nicht nur auf ihre Positionierung als ‚Migrationsandere‘ und das damit verbundene Erfahrungswissen mit Mehrfachzugehörigkeiten und verwehrten Zugehörigkeiten zurück, sondern stellt sie auch in den Zusammenhang ihrer familialen Erfahrungsgeschichte: N: Ich bin auch - ich bin ja auch betroffen, also ich bin - gut ich sag ja das hat viel mit=viel mit meiner - viel mit meiner - Geschichte mit meiner Sozialisation zu tun dass ich son Mensch bin der sich dann auch hinstellt und=und diese Punkte anspricht und sich damit auseinandersetzt und versucht was zu verändern, ich kenn auch viele - denen ist das EGAL - also phh - so die machen sich überhaupt gar keinen Kopf darüber und es ist - klar ich=ich=es ist auch in Ordnung so ne? Nicht jeder - hat so diese - diese Leidenschaft dafür sich mit sowas auseinander zu setzen oder überhaupt diese Grundlagen - und bei mir ist das so - yeah mit der Muttermilch aufgenommen (lacht) (59/15-22)
Das eigene Engagement wird damit in den breiteren Rahmen eines kritischpolitischen Denkens und Handelns gestellt, das sie für eine solche Haltung prädestiniert hat. Der Wille zur Auseinandersetzung und der Initiierung von sozialer Veränderung wird hier als ‚Sozialisationserbe‘ gedeutet. Mit der Metapher der „Muttermilch” wird dabei das Bild eines physischen Prozesses gewählt, in dem der von der Mutter abhängige Säugling über die Nahrung etwas aufnimmt, über das er selbst keine Kontrolle hat, das ihn aber ,prägt‘. Durch diese Deutung wird das „leidenschaft[liche]“ politische Denken und Handeln ihrer Mutter zu einem wirkmächtigen biographischen Sozialisationsfaktor erklärt, der einen nachhaltigen Einfluss auf das eigene Denken und Handeln hat. Nuray Coúkun scheint dieses Erbe durchaus als Privileg zu deuten, ihre Deutung impliziert aber auch, dass es ihr aufgrund dessen kaum möglich ist, anders zu agieren. Die Bezugnahme auf biographisches Wissen, mit der sie ihre Position als engagierte ‚Aufklärerin‘ festigt, macht deutlich, dass sie sich bei migrationsgesellschaftlich relevanten Themen nicht auf die Position einer neutralen Expertin zurückziehen kann, sondern selbst als Person „leidenschaft[lich]“ involviert ist. An anderer Stelle zeigt sich, dass Nuray Coúkun nicht nur in Seminarkontexten Stellung bezieht, sondern auch in ihrem künftigen beruflichen Handlungsfeld. Im Nachfrageteil berichtet sie von einer Hospitation an einer Schule, in deren Rahmen sie gemeinsam mit einigen Mitstudierenden ein Interview mit Vertreter*innen der Schulleitung geführt hat.45 Die Schule zeichnet sich u.a. durch ihren hohen Anteil an Schüler*innen mit Migrationshintergrund aus und präsentiert sich als besonders in45 Die Passage ist Teil einer Belegerzählung/Argumentation. Nuray Coúkun hatte zuvor argumentiert, dass es ihr im Studium – im Gegensatz zu ihren KommilitonInnen – leicht fällt, eine kritische Perspektive einzunehmen. Dies führt sie auf ihr Aufwachsen in einem politisierten Umfeld zurück. Auf die Frage, ob sie sich an eine konkrete Situation erinnere, wo dies deutlich geworden sei, berichtet Nuray Coúkun von dem Besuch der Schule und von einer Gesprächssituation mit hochrangigen Vertreter*innen der Schule.
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tegrativ. Nuray Coúkun berichtet hier über den Verlauf des Gesprächs und die Position, die sie selbst in diesem Gespräch einnahm: N: bei der Diskussion auch, da hab ich viele Punkte auch angesprochen wo ich dann meinte okay, ähm - schön und gut dass Sie diese tollen Projekte machen, auch versuchen mit den Eltern und so weiter obwohl Sie auch gesagt haben dass es nicht so gut läuft, ne, aber - wie sieht es denn zum Beispiel aus mit dem Sitzenbleiben an dieser Schule? Wenn Sie so viele Schüler haben mit Migrationshintergrund und solche Schwierigkeiten in den Familien ähm - wie sieht es aus, so? Ja und dann ist die Frau, also das hab ich dann gemerkt, ne, diese - Schulleiterin, die ist knallrot geworden und hat - a - so ne, reagiert, und - der stellvertretende Schulleiter dann, der ist dann auch irgendwie rot geworden und der hat ja, also m - ja also Sitzenbleiben, das muss es geben. So. Ne? Und da war ich dann anderer Ansicht (lacht) und hab dann gesagt so, ich mein wir haben die Pisa Studie jetzt gemacht und wir wissen aus anderen Ländern dass das Sitzenbleiben zum Beispiel abgeschafft wurde und dass das viel - erfolgreicher für die Kinder ist auch so, ne, und ähm - das ist halt bewiesen, und wie=wie sehen Sie also w=wie sehen Sie das? Haben Sie da oder können Sie sich vorstellen sowas an Ihrer Schule einzuführen und - da hab ich dann unter meinen Kommiliton*innen hab ich dann auch also wirklich so entrüstet - also die waren wirklich teilweise entrüstet darüber wie ich - da sagen kann man müsse das Sitzenbleiben gerade an so ner Schule abschaffen.
Nuray Coúkun reinszeniert sich hier als mutige Kritikerin, die sich mit der Schulleitung in ein Streitgespräch begibt und es wagt, Fragen zu stellen, die am Selbstverständnis der Schule als integrative Schule rühren. Die Projektarbeit der Schule, über die diese sich offenbar profiliert, wird dabei als Makulatur ‚entlarvt‘ und abgewertet („schön und gut“). Stattdessen konfrontiert sie die Schulleitung mit Fragen, die auf grundlegende schulische Routinen (Versetzungspraxen) abzielen. Klassenwiederholungen stellen eine etablierte Form des Umgangs mit Leistungsunterschieden dar, die auch als ein Mittel der Herstellung einer größtmöglichen Homogenität von Lerngruppen durch den Ausschluss von schwächeren Schüler*innen betrachtet werden kann. Insofern spiegelt diese Praxis ein grundlegendes Prinzip des Umgangs der Institution Schule mit der Heterogenität ihrer Schüler*innen wider, das Nuray Coúkun durch ihre Frage zur Disposition stellt bzw. skandalisiert. Indem sie die Frage nach dem Sitzenbleiben mit dem hohen Anteil von Schüler*innen aus Migrantenfamilien und aus sozial prekären Familienverhältnissen in Zusammenhang bringt, macht sie deutlich, dass sie über ein Wissen darüber verfügt, dass das Instrument der Klassenwiederholung eine Benachteiligung gerade solcher Schüler*innen noch verstärken kann. In ihrer Argumentation bezieht sie sich u.a. auf wissenschaftliches Wissen (PISA-Studie) und verleiht ihrer Position dadurch Seriosität und Macht („das ist halt bewiesen“). Solange die Schule nicht bereit ist, ihren alltäglichen Umgang mit Heterogenität infrage zu stellen, ist die Biographin nicht dazu bereit, die Selbstdarstellung der Schule als integrative bzw. inklusive Schule gelten zu lassen. Die Schulvertreter*innen scheinen sich Nuray Coúkuns Darstellung zufolge in der Situation sichtlich unwohl zu fühlen (sie „werden rot“) und gehen in eine Verteidigungshaltung, ohne ihre Position zu begründen („Sitzenbleiben muss es geben“). Dies lässt sich auch als ein Hinweis darauf deuten, dass Nuray Coúkun mit ihren Fragen eindeutig eine Grenze überschreitet. Ihre Frage wird als Provokation aufgefasst. Sie verstößt gegen die ihr zugedachte Rolle. Von einer Studienanfängerin, die eine
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Schule besucht, wird vermutlich ein weniger offensives und kritisches Auftreten erwartet. Und sie stellt etwas infrage, das offenbar nicht infrage gestellt werden darf – darin scheinen sich nicht nur die (etablierten) Lehrer*innen einig zu sein, sondern auch Nuray Coúkuns Kommiliton*innen, die künftigen Professionellen. Betrachtet man die Positionierungen der Akteur*innen in dieser Sequenz, so wird deutlich, dass Nuray Coúkun in dieser Episode eine machtvolle Sprecher*innenposition reklamiert. Sie nimmt ihren Kommiliton*innen gegenüber eine distinktive Haltung ein, indem sie sich als diejenige profiliert, die die ‚tatsächlich‘ relevanten Fragen stellt. Ihre Studienkolleg*innen folgen der Selbstdarstellung der Schule als ‚integrative‘ Schule scheinbar fraglos und zeigen sich ebenso „empört“ über Nuray Coúkuns Vorschlag, das Sitzenbleiben abzuschaffen wie die beruflich etablierten Kolleg*innen. Ihre Studienkolleg*innen werden damit als ‚unkritisch‘ dargestellt und dadurch abgewertet. Gegenüber der Schulleitung positioniert sie sich als unerschrockene und unbequeme Kritikerin, die ‚ihren Finger in die Wunde legt‘ und ihr Gegenüber dadurch in eine peinliche Situation bringt. Nuray Coúkun inszeniert sich somit als handlungsmächtige Akteurin mit einem legitimen Wissen und guten Argumenten. Sie ist in der Lage, gegenüber formal höher gestellten Personen kritisch Stellung zu beziehen, ‚bewährte‘ Praxen der Schulorganisation zu skandalisieren und die Selbstdarstellung der Schule öffentlich infrage zu stellen. Betrachtet man jedoch die ‚realen‘ Machtverhältnisse, so ergibt sich ein anderes Bild. Nuray Coúkun steht mit ihrem Veränderungswillen und dem Hinterfragen etablierter Strukturen weitgehend allein. Sie verfolgt eine Mission, die sowohl im Handlungsfeld der ‚konservativen Schule‘ (Bourdieu 2001) als auch im studentischen Feld wenig Anklang findet, sondern auf Widerstände stößt. Ihre Kommiliton*innen bilden mit den etablierten Lehrkräften eine Koalition und verteidigen gemeinsam die dominante schulische Ordnung. Nuray Coúkuns Positionierung innerhalb des studentischen Feldes, aber auch in ihrem künftigen beruflichen Wirkungsfeld ist insofern riskant als sie es wagt, Praxen und Glaubenssätze zu hinterfragen, die in dieser Ordnung anscheinend als unantastbar gelten. Dies lässt erahnen, dass sie als künftige Pädagogin in ein umkämpftes Feld eintritt, in dem sie keineswegs sicher sein kann, Mitstreiter*innen zu finden. Es zeichnet sich auch ab, dass eine so exponierte Position mit hohen Anforderungen einhergeht. Im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen zu dem Besuch an der Schule wird zudem deutlich, dass Nuray Coúkun durch ihre Positionierung auch persönlich angreifbar und verletzbar wird. N: ACH JA GENA_oh das war der Hammer, diese Frau diese Schulleiterin auch wieder an dieser Schule, die hat dann die ganze Zeit durchgehend, also ich bin - echt ich bin fast geplatzt und dachte nur oh ich kann nicht mehr ich kann nicht mehr ich lauf gleich raus sonst hau ich dieser Frau - /(lachend) irgendwie/ - das geht nicht mehr! Die hat die ganze Zeit davon geredet ähm, dass es in Familien mit Migrationshintergrund (holt tief Luft) keine Bücher gebe und ehm dass diese Leute sich eh - dass es genau, das fand ich ja noch der Hammer, es gäbe keine Kommunikation zwischen Mutter und Kind - in diesen Familien, also zwischen den Eltern und dem Kind gebe es keine Kommunikation, wo ich mir denke, wie kann das sein? Es gibt immer ne Art von Kommunikation also - vielleicht nicht die die von ihnen gewünscht_das hab ich ihr dann auch gesagt, das hab ich ihr dann auch direkt gesagt so, vielleicht nicht die die von Ihnen gewünscht wird, aber es gibt eine Kommunikation so, das können sie den Leuten jetzt nicht un-
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terstellen, (…) am Ende hat sie dann noch erwähnt dass sie im Unterricht mal ne Geschichte über einen indianischen Jungen gelesen hätten der in seiner - Familie oder bei denen es überhaupt keine - Gewalt gibt oder irgendwie=irgendwie so ne Geschichte, und dann hat sie dann so erzählt total bedrückt ähm wie dann ein Kind zu ihr kam und meinte, ich wäre auch gern ein Indianer. Und das war natürlich n türkisches Kind ne? Also das heißt im Grunde genommen, die Kinder werden nur geschlagen, die - findet keine Kommunikation statt und keine Bildung, keine Bücher, die Eltern interessieren sich überhaupt nicht dafür ob die Kinder das jetzt schaffen oder nicht mit der Schule (…) Und da hab ich son Hals gehabt, das war dann auch Ende der Diskussion weil sonst wär ich echt explodiert glaub ich, und war die Erste die aus diesem Zimmer rausgerannt ist erstmal - eine Zigarette, weil ich dachte das kann nicht wahr sein, so. (…) Aber klar das ist dann wieder mein Hintergrund, ich fühl mich in dem Moment auch persönlich angesprochen, muss ich auch sagen, so, weil - ich bin zum Beispiel das beste Beispiel dafür in dem Sinne - dass es doch Bücher bei diesen Leuten zuhause gibt und dass ähm es den Eltern nicht nur scheißegal ist ob die Kinder das jetzt schaffen oder nicht mit der Schule, und ähm also das - so, ne?
Die Lehrerin führt im Laufe der erzählten Diskussion Beispiele an, mit denen sie kulturalisierende Stereotype reproduziert und ein defizitäres Bild von ihren Schüler*innen und deren Familien zeichnet. Die Familien werden als ‚sprachlos‘, ‚bildungsfern‘ und gewalttätig dargestellt, die Kinder als hilfsbedürftig und bemitleidenswert. Nuray Coúkuns Position verändert sich im Vergleich zum Anfang dahingehend, dass sie sich nicht mehr als souveräne Wortführerin präsentieren kann, sondern – noch in der Interviewsituation – zunehmend wütend auf diese Ausführungen reagiert. Ihre Wut und Empörung ist einerseits ein Resultat der Situation, dass die Schulleiterin in einer Runde angehender Lehrer*innen unhinterfragt stereotypisierende und stigmatisierende Diskurse über ‚Migrant*innen‘ reproduziert. Nuray Coúkun erklärt ihre emotionale Reaktion aber auch damit, dass sie sich von den Stereotypisierungen und verbalen Diskriminierungen der Schulleiterin „persönlich angesprochen“ fühlt. Dies hängt damit zusammen, dass sie sich selbst gerade nicht in den stereotypen Darstellungen der Schulleiterin wiederfindet. Sie ist „das beste Beispiel“ für die Unzulässigkeit und Ungültigkeit der Ausführungen der Schulleiterin; sie kann diese durch Hinweise auf ihr eigene Familie widerlegen. Ob Nuray Coúkun sich selbst auch in der erzählten Situation als ‚Gegenbeispiel‘ ins Spiel bringt, ist ungewiss – es scheint eher, dass die Schwierigkeit, sich in dieser Interaktionssituation zu positionieren, schließlich zu einem Rückzug führt. Sie meldet sich nicht mehr zu Wort und verleiht ihrer Wut keinen Ausdruck mehr, sondern hält sich zurück, während sie innerlich kurz davor ist, zu „explodieren“. Am Ende verlässt sie dann als Erste fluchtartig den Raum. An dieser erzählten Episode wird deutlich, dass Nuray Coúkun sich mit ihrer Entscheidung für ein Lehramtsstudium in ein Feld begibt, bei dem schon gleich zu Beginn des Studiums klar wird, dass sie hier in hohem Maße gefordert wird, Stellung zu beziehen. Ethnisierende Stereotype und Defizitkonzepte über migrantische Schüler*innen und Eltern gehören in der Schule zu den institutionalisierten Wissensbeständen, die jederzeit aktualisiert werden können. Nuray Coúkun ist dazu gezwungen, sich dazu ins Verhältnis zu setzen. Sie ‚muss‘ intervenieren und kann sich dabei nicht auf eine distanzierte Position zurückziehen. Sie steht ständig in die Gefahr, sich in der Rolle der ‚Betroffenen‘ oder des ‚Gegenbeispiels‘ wiederzufinden. Durch ihre
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‚Betroffenheit‘ wird sie sowohl verletzbar als auch in ihrer Position (potenziell) diskreditierbar, weil sie als ‚befangen‘ wahrgenommen wird. 7.4.2 Selbstverstrickungen und Selbstabsicherung Nuray Coúkuns offensive Selbstpositionierung ist jedoch nicht konsistent. Während sie in den oben vorgestellten Episoden klar Stellung bezieht und dabei auch auf ihre Erfahrungen als ‚Migrationsandere‘ rekurriert, zeigt sich in der folgenden Passage der Versuch, eine Selbstpositionierung als ‚Migrantin‘ gerade zu vermeiden: N: ja, und dann bin ich in diese Einführungs=s=woche dahin und ähm - hab da auch gemerkt dass relativ wenige - Kommiliton*innen mit Migrationshintergrund ähm - sich da - vor allem auch für diesen Bereich beworben haben, ähm - ja. Und das war - gut - ich hab dann - also für mich wars ja dann sowieso kein Thema mehr weil ich hab mich - also - f=ich=f - es klingt jetzt echt bescheuert wenn ich das so sage aber, ähm - ich komm besser mit - na ja kann man auch nicht sagen aber - ich hab einfach - ich kannnnn mit - ich bin ja auch Deutsche aber ich kann mit Deutschen halt - in dem Sinne - also für mich ist es kein Problem sage ich mal in dem Sinne so mich zu integrieren in=in=in so ne Gruppe wenn halt=wenn halt nur Deutsche also es ist überhaupt gar kein Thema so, und ich - seh das auch nicht als Problem oder sowas. Ich finde das jetzt - ich finds schade dass so wenige L=Leute mit Migrationshintergrund an der Uni sind, aber für mich stellt das jetzt nicht ähm - n extremes Problem dar dass ich das Gefühl hab ich kann mich da jetzt nicht ich finde das keine=keine Kontakte ich finde keine Leute mit denen ich irgendwie auf einer Ebene bin oder zu denen ich mich irgendwie - fühle also das - muss nicht sein. Aber es ist natürlich - schade und es fällt - extrem auf. Leider. (22/25-23/2)
Nuray Coúkun stellt in der Einführungswoche fest, dass sich nur wenige „Kommiliton*innen mit Migrationshintergrund“ für das Lehramtsstudium beworben haben. Diese Feststellung bildet den Ausgangspunkt für eine komplizierte Verhandlung dieses Sachverhalts, in deren Verlauf sie sich zunehmend in ihrer Argumentation verstrickt. Sie ringt nach Worten, unterbricht und korrigiert sich mehrmals. Es geht hier ganz offensichtlich um ein schwieriges Thema, bei dem es auf die richtigen Worte ankommt. Der Umstand, dass nur wenige Lehramtsstudierende mit Migrationshintergrund ein Lehramtsstudium aufnehmen, wird zunächst als unproblematisch qualifiziert („kein Thema mehr“).46 Die Versuche, die die Biographin unternimmt, um dieses Statement zu erklären, werden allesamt abgebrochen. Bei den Anläufen, die sie nimmt, könnte sich die Aussage andeuten, dass Nuray Coúkun mit „Deutschen“ ohnehin besser zurechtkommt. Dies wird aber nicht ausgesprochen, sondern im Sprechen bereits revidiert oder zurückgezogen. Eine solche Positionierung wäre einerseits deshalb unaussprechbar, weil sie mit dem politischen Selbstverständnis der Biographin als Kämpferin für gerechtere Verhältnisse in der Migrationsgesellschaft schwer vereinbar wäre. Zudem ist ihre eigene Positionierung alles andere als klar. Bei dem (nachfolgenden) Versuch einer Selbstpositionierung – „ich bin ja auch Deutsche“ – 46 Die zeitliche Dimension dieser Äußerung könnte sich auf die vorangegangene Erfahrung in der Gesamtschule beziehen, wo sie die Veränderung ihrer sozialen Bezüge und die Hinwendung zu ‚deutschen‘ Mitschüler*innen noch als „Überwindung“ beschrieben hat.
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handelt es sich nämlich offensichtlich um keine Position, die Nuray Coúkun fraglos für sich reklamieren kann, ansonsten würde es solch einer komplizierten Verhandlung gar nicht erst bedürfen. Es zeigt sich hier das Dilemma, dass es für sie letztlich nahezu unmöglich ist, eine legitime bzw. anerkennungsfähige Position zu finden. Mit der Aussage, dass es für sie kein „Problem“ sei, sich in Gruppen von „halt nur Deutsche[n]“ zu „integrieren“, negiert Nuray Coúkun nachfolgend jede mögliche negative Konsequenz dieser Konstellation für ihre soziale Zugehörigkeit zur Gruppe der Studierenden. Es ist für sie „überhaupt gar kein Thema“, sich in solchen Gruppen zu bewegen. Die Biographin präsentiert sich damit als ‚reibungslos integrationsfähig‘ in Kontexten, in denen es keine (anderen) Personen mit Migrationshintergrund gibt. Dies lässt sich auch als Referenz auf den hegemonialen Integrationsdiskurs und das darin enthaltene Integrationsgebot deuten, das die Eingliederung in die ‚Mehrheitsgesellschaft‘ zum erstrebenswerten Ziel deklariert, während die Orientierung an migrantischen Sozialbezügen als potenzielles ‚Integrationshindernis‘ verhandelt wird (Stichwort „Parallelgesellschaften“). Zwar findet Nuray Coúkun es „schade“, dass wenige Kommiliton*innen mit Migrationshintergrund an der Universität sind. Diese Feststellung wird jedoch – anders als in der Episode in der Oberstufe – nicht skandalisiert, sondern lediglich im Modus des Bedauerns formuliert. Die Biographin spricht aus einer distanzierten Außenposition und bezieht sich selbst sprachlich nicht in diese Gruppe ein. Das beobachtete Phänomen (die geringe Zahl von Lehramtsstudierenden mit Migrationshintergrund) wird damit vollständig von der eigenen Position im studentischen Feld und eigenen Zugehörigkeitserfahrungen abgekoppelt. Nuray Coúkuns Argumentation kann als eine Strategie gedeutet werden, die eigene Zugehörigkeit zur Gruppe der Studierenden und der universitären Welt abzusichern. Sie demonstriert dadurch, dass sie nicht auf die Anwesenheit von Kommiliton*innen mit Migrationshintergrund angewiesen ist, um sich als Mitglied des studentischen Feldes erfahren zu können. Sie ist sehr wohl in der Lage, Mitstudierende zu finden, mit denen sie sich verbunden („auf einer Ebene“) fühlt. Indem sie betont, dass die Anwesenheit anderer migrantischer Studierender für ihre Positionierung im Feld unerheblich ist, sichert Nuray Coúkun sich gegenüber möglichen Infragestellungen ihres Zugehörigkeitsstatus als Lehramtsstudentin ab. Dies verweist im Umkehrschluss darauf, dass sie eine solche Infragestellung befürchten muss. Wie sich im Folgenden zeigt, hat dies u.a. damit zu tun, dass sie als Mitglied einer unterrepräsentierten Gruppe ‚erkannt‘ und adressiert wird. Darauf kommt sie bereits gegen Ende ihrer biographischen Haupterzählung zu sprechen. 7.4.3 „Dann wird man halt doch rausgepickt“ – Kritik an Praktiken der Besonderung N: Und dann an der Uni - a=a=f=heftig, war=war ganz schön heftig, ähm - diese - gerade auch in Erziehungswissenschaft ähm, diese Einteilung, ja also Leute die jetzt auf Lehramt studieren und n Migrationshintergrund haben, die sind natürlich sehr gefragt, das war dann wieder diese positive Diskriminierung die man ständig - eh die=also immer noch, die ich ständig - mitbekomme, also von=von also gerade auch von den=von den Professoren und von den Dozenten und so weiter, die einen dann schon - nochmal zweimal ankucken wenn man da im Seminar drinne sitzt oder in den Vorlesungen und ähm - einen auch wirklich direkt ansprechen, das hatt
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ich dann in der - Einführung, ähm - weil - ja klar, weil das jetzt halt total gefragt ist und=und die Leute brauchen Lehrer mit Migrationshintergrund wird das immer=immer=immer wieder komm=kommt der Punkt dann auch immer so auf mich hab ich so das Gefühl gehabt, ähm - wo dann auch n Professor halt kam und das erwähnt hatte, diese Zukunftsperspektiven für - Studenten - wie mich, und ähm mich dann halt auch ständig angekuckt hat dabei und - klar kommt man sich dann son bisschen (zieht zischend Luft ein) wieder - wird man wieder in diese Situation gebracht auch wenns positiv ist dass man irgendwie anders ist. Und dass man irgendwie ähm - aus diesem Rahmen fällt hat man so das Gefühl, ne? (1) Ja. Also das=das hab ich st=ständ=also es ist ständig - da. Präsent. Durchgehend. I: mhm N: Ja. Und ich werd - also ich wurde auch angesprochen oftmals, auch von=von meiner - Professorin in der Einführung, für - ähm - so Sprachcamps die sie organisieren und so weiter, ähm - gerade weil ich halt auch Deutsch Englisch, Türkisch und Spanisch spreche, in dem Bereich was zu machen - so - ähm - wo ich mir denke okay das könnten jetzt andere auch machen aber (lacht) das ist dann - dann wird man halt - doch rausgepickt. In dem Sinne. (23/4-25)
An der Universität wird Nuray Coúkun von Lehrenden als eine Studentin wahrgenommen und adressiert, die für eine Gruppe steht, welche dringend gebraucht wird. Der Hintergrund für diese Bezugnahme bildet der aktuelle Diskurs um den ‚Mangel‘ von Lehrkräften mit Migrationsgeschichte‘ (vgl. Kap. 4.1). Die Formulierungen, die Nuray Coúkun dabei benutzt („gefragt“ sein; „die Leute brauchen Lehrer mit Migrationshintergrund“) legen dabei nahe, dass es sich um einen ‚konjunkturabhängigen‘ Diskurs handelt – derzeit sind „Studenten wie“ Nuray Coúkun stark nachgefragt; sie sind sozusagen ‚Mangelware‘ und stehen daher ‚hoch im Kurs‘. Dies kann sich aber schnell wieder ändern. Dass die Biographin von Lehrenden „zweimal angeguckt“ wird, verweist darauf, dass sie nicht als ‚Deutsche‘ ‚durchgeht‘, weil sie äußerlich nicht der „prototypischen Fiktion […] der Deutschen“ (Mecheril 2003: 308) entspricht. Sie kann sich dem identifizierenden Blick der Lehrenden somit nicht entziehen. Im Blick des Professors wird Nuray Coúkun als Migratin ‚erkannt‘ und ihr wird damit die Position einer ‚begehrten‘ ‚Anderen‘ zugewiesen. Die Biographin bewertet die Aufmerksamkeit, die ihr entgegengebracht wird, als eine irritierende bis unangenehme Erfahrung. Sie erlebt die (Fremd-)Positionierung durch die Lehrenden als einen Akt der ‚Besonderlichung‘ oder des Othering, der ihr das „Gefühl“ vermittelt, „aus dem Rahmen“ zu fallen. Dieses Gefühl kann sie nicht abschütteln; darauf deuten die Worte „ständig“ und „durchgehend“ hin. Sie wird aber nicht nur durch den Blick, sondern auch durch die wiederholte Ansprache („wurde oft angesprochen“) zur ‚Anderen‘ gemacht. Als Beleg dafür wird ein Beispiel angeführt, in dem Nuray Coúkun von ihrer Professorin angesprochen wird, die sie für ein Projekt gewinnen möchte, in dem es um die Förderung von Mehrsprachigkeit geht. Dieses zweite Beispiel scheint insofern etwas anders gelagert zu sein als Nuray Coúkun hier aufgrund eines konkreten Vermögens (ihrer multilingualen Kompetenz) zur Adressatin eines Angebots wird, in dem sie genau dieses Vermögen einbringen kann. Für sie ist jedoch entscheidend, dass sie auch in dieser Situation durch die Handlungen anderer markiert und zum Objekt gemacht wird; darauf deuten die Passivkonstruktionen „angesprochen“, „rausgepickt“ und „aufgedrückt“ hin. Es handelt sich hier also nicht um eine aktive Selbstpositionierung, sondern es wird etwas mit ihr ‚gemacht‘, auf das sie selbst wenig Einfluss
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hat. Es scheint die Heteronomie der Zuschreibung und des Kategorisiert-Werdens zu sein, die die beiden Situationen verbindet. Da die Ansprache ihrer Professor*innen aber nicht abwertend, sondern wohlwollend ist (es ist „positiv, dass man irgendwie anders ist“), deutet Nuray Coúkun den Umgang ihrer Professor*innen als eine Form der „positiven Diskriminierung“. Interessanterweise bezieht sie sich damit auf das gleiche Konzept wie in der Episode über den Studienzugang, in der sie positive Diskriminierung eingefordert hat (vgl. Kap. 7.3.2). In beiden Fällen wird ‚Migrationshintergrund‘ als Differenzlinie relevant gemacht. Ein wichtiger Unterschied besteht jedoch darin, dass Nuray Coúkun mit dieser Kategorie in ihrem Einklageschreiben selbst strategisch ‚spielen‘ kann, während sie in diesem Fall darauf festgeschrieben wird. Der „positiven Diskriminierung“, die die Biographin durch einige Lehrende erfährt, stehen gegensätzliche Erfahrungen gegenüber, die sie mit einigen ihrer Mitstudierenden macht. N: Also es ist ähm - es ist halt - man ist=man ist einerseits besonders, ähm - aber dieses Besondere ist nicht - wird nicht immer als positiv angesehen. Also es - ich=ich bekomme auch von meinem Umfeld mit, dass viele - das nicht so gern sehen. Also hab ich so das - hab ich diese Empfindung zumindestens ne? Also dass - oder viele - zum Beispiel in meiner Einführung wo es wirklich auch um kulturelle und sprachliche Heterogenität ging und wo ich einfach mit meinem Hintergrund klar sehr viel einbringen konnte, ähm - und viele halt nicht. So. Die halt diesen Hintergrund nicht haben. Und das ist dann=dann kriegst du wieder diese=diese Hasser im Grunde, also dieses, ne? Dieses Gefühl so, mh! - so. Sonst waren wir immer diejenigen die negativ diskriminiert wurden und wenns dann mal in das positive umschlägt dann fühlen - einige Leute sich ähm - benachteiligt und=und irgendwie - so und dieses Gefühl das=das kriegt man auch mit und das=das=das spürt man, man merkt es auch an den Reaktionen von anderen Leuten so. Und für mich ist das natürlich phhhh also - ja. Blöd. Weil warum - ne? Also ich mein es läuft ja beidseitig irgendwie und das ist - unangenehm und - find ich eigentlich - schade dass es=dass es so - so - geprägt ist irgendwie so irgendwie immer dieses - in diesen Kategorien denken, immer dieses mal positiv mal negativ positiv negativ aber immer immer irgendwie dieses - Abgeschoben werden so in eine Richtung. Und das wird von den anderen natürlich auch anders - aufgenommen und dann kommt auch ne=ne=ne=ne - entsprechende Reaktion sag ich mal. Und bei den einen ist es eher positiv und bei den anderen ist es halt eher so, mm. Ja. - Ne? - Toll. Das kann ich jetzt natürlich nicht vorweisen. (52/35-53/15)
Nuray Coúkun nimmt wahr, dass sie in Lehrveranstaltungen, in denen sie aus ihrem Erfahrungswissen schöpfen kann, mit negativen Reaktionen von Kommiliton*innen zu tun bekommt, die „diesen Hintergrund nicht“ haben und über bestimmte Erfahrungen oder Kompetenzen (dies bleibt unklar) nicht verfügen, die in diesem Kontext relevant sind. Nuray Coúkun berichtet zwar nicht von einer konkreten Situation und beschreibt auch keine direkten Angriffe, aber sie hat eine klare „Empfindung“, ein „Gefühl“, dass die anderen sich deswegen ihr gegenüber „benachteiligt“ fühlen. Die Formulierung „Hasser“ deutet auf die Wahrnehmung hin, dass dabei durchaus Aggressionen im Spiel sind. Nuray Coúkun markiert zwar, dass sie die Unterstellung von Privilegien für unangemessen hält („sonst waren wir immer diejenigen die negativ diskriminiert wurden“). Dies macht aber zugleich deutlich, dass sie hier in eine Lage gebracht wird, in der sie sich rechtfertigen bzw. verteidigen muss. Infolge des-
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sen ist es für sie kaum möglich, sich in dieser Situation anders zu positionieren denn als Mitglied einer strukturell diskriminierten Gruppe. Die Haltung „diese[r] Hasser“ scheint die Biographin auch darauf zurückzuführen, dass die „negative Diskriminierung“, der viele Migrant*innen gesellschaftlich ausgesetzt sind, im Kontext des Lehramtsstudiums „in das Positive umschlägt“ – gemeint ist damit die Zuschreibung besonderer Kompetenzen. Dies provoziere, so ihre Deutung, bei den anderen „ne entsprechende Reaktion“. Die Bedeutung der eigenen ‚Migrationsgeschichte‘ stellt sich damit im Kontext des Studiums als höchst ambivalent dar. Die Wertschätzung migrationsbezogener Differenz („man ist einerseits besonders“) kann jederzeit „umgedreht“ werden und sich in Missachtung und Abwertung verwandeln. Ob der ihr zugeschriebene ‚Migrationshintergrund‘ gerade eher einen Vorteil darstellt oder zum Nachteil gemacht wird, entzieht sich dabei der Einflussnahme der Biographin; die Bedeutung dieser Differenzsetzung ist unvorhersehbar. Die beiden scheinbar unvereinbaren Positionen, mit denen Nuray Coúkun konfrontiert wird – der Neid und die Distanzierung einerseits und die wertschätzende, anerkennende Zuschreibung migrationsbezogener Differenzen andererseits – werden von ihr daher nicht als Gegensätze interpretiert, sondern als zwei Seiten der gleichen Medaille. Die Gemeinsamkeit liegt darin, dass Nuray Coúkun in machtvoller Weise etikettiert und in ihrer ‚Identität‘ festlegt wird. Sie problematisiert darum nicht nur die aggressive Haltung einiger Mitstudierenden, sondern vielmehr die Praxis der Kategorisierung selbst, die auch die Basis für die Aufwertung von Mehrsprachigkeit und natio-ethno-kultureller Mehrfachzugehörigkeit bildet. Dass Nuray Coúkun sich reflexiv auf die paradoxen und die produktiven Effekte von Kategorisierungen bezieht, zeigt sich auch noch an einer anderen Stelle. Die folgende Äußerung steht im Kontext des Sprechens über die Anerkennung, die ihr als Lehramtsstudentin ‚mit Migrationshintergrund‘ entgegengebracht wird: N: es ist auch von=von der in Anführungsstrichen weil ich hasse dieses - von der deutschen Gesellschaft weil es ist - ich werde ja nicht dazu gezählt in dem Sinne von=von=von=von dem Allgemeinbild die mir aufgedrückt wird im Grunde genommen werde ich ja nicht dazu gezählt, so und dann kann ich nur sagen, gut, von dieser deutschen Gesellschaft kriege ich natürlich auch diese Anerkennung und diesen Respekt (51/27-32)
Anerkennung und „Respekt“ für ihren Schritt ins Lehramtsstudium bekommt Nuray Coúkun nicht nur von konkreten, signifikanten Anderen (vgl. Kap. 7.3.3), sondern auch vom verallgemeinerten Anderen, nämlich „dieser deutschen Gesellschaft“. Dass sie diese Formulierung apostrophiert („in Anführungsstrichen“) verweist auf die Sensibilität der Biographin für die produktive Wirkung von Kategorisierungen und die subtile Reproduktion von Marginalisierungen, die auch durch Sprache aufrechterhalten werden: Würde Nuray Coúkun hier ohne Einschränkung von der „deutschen Gesellschaft“ sprechen, würde sie eine dominante Ordnungsfigur, die zwischen Mehrheitsangehörigen und ‚Migrationsanderen‘ differenziert, ungebrochen bestätigen. Sie würde sich dadurch selbst als „dieser Gesellschaft“ nicht zugehörig positionieren. Aber es zeigt sich hier nicht nur eine reflexive Haltung der Sprecherin, sondern die Passage verweist auch auf eine ‚außertextliche‘ Erfahrung: Bei der Anerkennung, die Nuray Coúkun zuteil wird, handelt es sich um ein zweischneidiges
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Schwert. Sie impliziert immer auch eine Wiederholung der Differenz zwischen einem natio-kulturellen ‚Wir‘ und den davon ausgeschlossenen ‚Anderen‘. Indem Nuray Coúkun von „diese[r] deutsche[n] Gesellschaft“ Anerkennung für ihren Schritt ins Lehramtsstudium erhält, wird sie symbolisch erneut aus der (imaginierten) nationalen ‚Gemeinschaft‘ ausgeschlossen („nicht dazu gezählt“) und auf die Position der ‚Anderen‘ verwiesen. Die potenziellen Risiken der Kategorisierung als Migrantin antizipiert Nuray Coúkun auch im Hinblick auf ihre künftige berufliche Funktion als Lehrerin: N: Ich hab - auch die Erfahrung gemacht an meiner Schule zum Beispiel dass Frau Öztürk, das war das is ne Türkischlehrerin, das ist auch wiederum so ne andere Seite, die hat Deutsch und noch irgendwas anderes studiert, wurde aber als Türkischlehrerin eingesetzt - so. (1) Das ist auch wieder son Ding - (stöhnt) okay sie wird jetzt als Lehrerin eingesetzt und hat schon so diese Funktion als Lehrerin aber - doch nicht in dem Bereich den sie eigentlich studiert hat und den sie eigentlich machen will, sondern wieder in diese Kategorie - du musst jetzt Türkischlehrerin sein, so, ne? I: mhm N: Und das hoffe ich verändert sich jetzt - bisschen - mehr. Also ich werd auf jeden Fall Terror machen (lacht) wenn die mich dann in den Türkischunterricht stecken wollen! (beide lachen) Geht gar nicht! (52/16-26)
Die Biographin bezieht sich hier auf eine Beobachtung aus ihrer eigenen Schulzeit: Eine Kollegin wird trotz ihrer Qualifikation als Deutschlehrerin fachfremd im Türkischunterricht eingesetzt. Ihre formalen Qualifikationen werden damit entwertet, sie wird aufgrund der ihr zugeschriebenen informell erworbenen Kompetenzen in der türkischen Sprache „wieder in diese Kategorie“ verwiesen und zur ‚Türkin‘ gemacht. Sie fällt damit einem Prozess der Ethnisierung und Dequalifizierung im schulischen Feld zum Opfer, der durch die Kategorisierung der Lehrerin als Migrationsandere möglich wird. Nuray Coúkun nutzt dieses Beispiel als Abgrenzungsfolie, um ihre eigene Haltung zu verdeutlichen. Sie äußert zwar Hoffnung, dass solche diskriminierenden Praxen an Legitimität verlieren, sie antizipiert aber auch, dass sie selbst in ihrer beruflichen Zukunft durchaus ebenfalls davon betroffen sein könnte. Vor dem Hintergrund solch eines Szenarios entwirft sie ihr eigenes Handeln und betont dabei ihre Widerständigkeit („Terror machen“). Nuray Coúkun verfügt also über ein Bewusstsein darüber, dass die Identifikation mit der Subjektposition der Lehramtsstudentin bzw. Lehrerin mit Migrationshintergrund, die ihr im Studium offeriert wird, mit Risiken verbunden ist, da die Kategorie ‚Migrationshintergrund‘ jederzeit instrumentalisiert bzw. funktionalisiert werden und Ausschließungen oder Marginalisierungen produzieren kann. Die Bezugnahme der Biographin auf die Position der Lehrkraft mit Migrationsgeschichte ist damit keineswegs uneingeschränkt affirmativ. 7.4.4 Fazit: Engagement und Verletzbarkeit – ambivalente Selbstpositionierung Differenz- und Zugehörigkeitskonstruktionen im Kontext des Lehramtsstudiums kommen in Nuray Coúkuns Fall in durchaus ambivalenter Art und Weise zum Tragen. Die (Selbst-)Positionierung der Biographin im Kontext des Lehramtsstudiums
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pendelt zwischen einer affirmativen Ausgestaltung ihrer Positionierung als Lehramtsstudentin ‚mit Migrationsgeschichte‘ und der reflexiven Zurückweisung identifizierender Zuschreibungen. Sie positioniert sich als engagierte Sprecherin und ‚Aufklärerin‘, die in unterschiedlichen Settings und Situationen dazu bereit ist, Stellung zu migrationsgesellschaftlich relevanten Themen zu beziehen. Dabei beruft sie sich auf biographisches Wissen – auf ihre Erfahrungen als jemand, die in der migrationsgesellschaftlichen Differenzordnung als ‚Andere‘ positioniert ist, und auf das familiale Erbe ihrer politischen Sozialisation, das sie dazu befähigt, Ausschlüsse und Einseitigkeiten schneller zu erkennen als andere. Damit kann sie sich zwar eine ‚starke‘ Position erarbeiten, die es ihr ermöglicht, den Diskurs mitzugestalten, auf Veränderungsbedarfe hinzuweisen und Lernprozesse zu initiieren. Sie wird durch ihre exponierte Positionierung aber auch in hohem Maße angreifbar und verletzbar. Nuray Coúkun bezieht sich – so betrachtet – durchaus affirmativ auf die ihr diskursiv angebotene Position als (angehende) Lehrerin ‚mit Migrationshintergrund‘. Sie eignet sich die Rolle der Dialogpartnerin und ‚Aufklärerin‘ an, indem sie sich mit den begrenzten Perspektiven ihrer künftigen Kolleg*innen auseinandersetzt, sie erprobt die Rolle der Veränderungsakteurin, die sich in Strategien für eine gerechtere Gestaltung von Schule einmischt, und sie sieht sich als Vorbild für nachfolgende Generationen minorisierter Schüler*innen. Damit erfüllt sie – bereits im Studium – verschiedene Dimensionen der an „Studenten wie“ sie gerichteten Hoffnungen und Erwartungen. Diese Position ist für Nuray Coúkun deshalb attraktiv, weil sie unmittelbar an ihr politisches Selbstverständnis und ihre biographische Selbstkonstruktion als ‚Kämpferin‘ in der zweiten Generation anzuschließen scheint. Die Erfahrungen, die sie dabei macht – die ‚Erfolge‘, die sie sieht und die Grenzen, an die sie stößt – lassen dabei jedoch auch die hohen Verletzungspotenziale erahnen, die mit solch einer Positionierung verbunden sind. Allerdings zeigt sich auch, dass Nuray Coúkun sich weder ungebrochen noch naiv mit der ihr zugeschriebenen Position identifiziert oder sich vollständig davon vereinnahmen lässt. Dagegen spricht bereits der Umstand, dass sie die Ambivalenz ihrer Erfahrungen sprachlich zum Ausdruck bringen kann. Nuray Coúkun verfügt über ein Bewusstsein für die Produktivität von sozialen Kategorisierungen und Identifikationen. Dieses Bewusstsein ist nicht nur ein Ergebnis der Auseinandersetzung mit den Zuschreibungen, mit denen sie aktuell im Studium konfrontiert wird. Vielmehr wird hier erneut die Bedeutung der ‚politischen Sozialisation‘ klar, die hier als kritisches Potenzial zum Tragen kommt: Die Biographin ist mit Fragen gesellschaftlicher Teilhabe und Ausgrenzung ebenso vertraut wie mit den Strategien und Fallstricken von Identitätspolitik. Sie selbst versucht, mit der Kategorie Ethnizität bzw. ‚Migrationshintergrund‘ zu ‚spielen‘ und diese strategisch zu verwenden, indem sie sie situationsabhängig relevant setzt oder entdramatisiert bzw. ‚unsichtbar‘ zu machen versucht. Dabei werden jedoch auch Grenzen erkennbar: Sie erlebt immer wieder Situationen, in denen nicht sie selbst, sondern andere die Macht und das ‚Sagen‘ darüber haben, welche Bedeutung die Differenzkategorie ‚Migrationshintergrund‘ hat und wer dieser Kategorie zugerechnet wird. Nuray Coúkun lehnt es ab, sich über eine einheitliche nationale Identität zu definieren. Sie kann die Position als „Deutsche“ aber offensichtlich auch nicht fraglos für sich reklamieren, weil eine solche Positionierung ihr von anderen nicht ‚abgenommen‘ wird; sie wird als ‚Andere‘ identifiziert. Nuray Coúkun kann
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deshalb der (fremdbestimmten) Kategorisierung als ‚Migrationsandere‘, die sie im Studium erlebt, nicht entgehen. Ihr Bewegungsspielraum für das ‚Spiel‘ mit den sozialen Zugehörigkeiten sind somit Grenzen gesetzt – auch im Studium. Die Positionierungsmöglichkeiten, die der Diskurs um Lehrende ‚mit Migrationshintergrund‘ bietet, stellen in Nuray Coúkuns Fall einerseits eine Möglichkeit der Selbstermächtigung dar, insofern die Biographin sich zeitweise als souveränes Subjekt konstruieren kann, die durch ihr Erfahrungswissen in der Lage ist, die ihr angebotene Position professionell auszufüllen. Auf der anderen Seite sind damit bestimmte ‚Fallstricke‘ und Zumutungen verbunden. Die Biographin wird in stärkerem Maße als zuvor durch die Zuschreibungen anderer auf die Position des ‚migrantischen Subjekts‘ festgelegt und muss ständig darauf gefasst sein, mit Privilegierungen und Deprivilegierungen, die sich in diesem Feld damit verbinden, reflektiert umzugehen. Zwischenüberlegung Die Ausgangsfrage richtete sich darauf, wie sich Bildungsgeschichten Studierender in der Migrationsgesellschaft in lebensgeschichtlicher Perspektive gestalten und wie das pädagogische Studium in die Bildungsgeschichte und die biographische Zugehörigkeitskonstruktion eingelassen ist. Mit Nuray Coúkun wurde ein Fall ausgewählt, der sich in mancher Hinsicht gegen typisierende und vereindeutigende Interpretationen sperrt. Der Bildungsweg der Biographin beginnt in einem familialen Kontext, der sich durch vielfältige bildungsrelevante Ressourcen auszeichnet. Diese finden sowohl in hohen formalen Bildungsabschlüssen der Familienmitglieder Ausdruck als auch in einer Tradition politisch-gesellschaftlichen Engagements und der Einbindung in entsprechende Netzwerke. Zudem finden sich in den bereits zurückliegenden Generationen besonders emanzipatorische Lebensentwürfe unter den Frauen. Die starke Orientierung an Autonomie und politischem Engagement wird in besonderem Maße durch die Figur der Mutter repräsentiert, die sich darauf auch in der Erziehung ihrer Tochter bezieht. Sowohl im biographischen Handeln der Mutter als auch in der Biographie des (leiblichen) Vaters wird deutlich, dass im Autonomiedenken und politischen Engagement der Eltern auch ein Risikopotenzial enthalten ist, insofern als damit die Bedürfnisse anderer Familienmitglieder tendenziell in den Hintergrund treten. Die Familienstruktur in Nuray Coúkuns Geschichte ist diskontinuierlich, die Beziehungsmuster sind dynamisch und zeichnen sich durch eine eher geringe Verbindlichkeit zwischen den Familienmitgliedern aus. Die Akteur*innen verfügen dadurch einerseits über große Spielräume, die Konstellation birgt aber auch das Erfahrungspotenzial von Einsamkeit und fehlenden Bindungen. Die spezifische biographische und familiale Bedingungskonstellation (Trennung der Eltern, Einbindung in das berufliche und politische Leben der Mutter) mündet im weiteren Verlauf in eine starke intergenerationale Abgrenzungsdynamik. Diese führt in einen dramatischen Verlaufskurvenprozess, der mit einem schulischen Abstieg verknüpft ist und Nuray Coúkuns Schulkarriere um viele Schritte zurückwirft. Die Position der Biographin als souveräne Akteurin wird in diesem Prozess zunehmend brüchig. Die familienbiographischen Ressourcen – das kulturelle Kapital und die ‚starken‘ Vorbilder in der Familie – stellen in Nuray Coúkuns Geschichte somit Ressourcen dar, die sie zunächst nicht für ihre Bildungskariere nutzen kann; die Emanzipation von diesem familienbiographischen ‚Erbe‘ führt sogar in einen verlaufskurvenförmigen bildungsbiographischen Prozess. Bei ihrem (schulischen) ‚Wiederauf-
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stieg‘ knüpft sie jedoch an tradierte familiale Bildungsnormen und Handlungsmotive an und kann sie für sich nutzen. Ausschlaggebend dafür, dass der nachgeholte Bildungsaufstieg gelingt, ist neben der finanziellen Unterstützung durch Familienangehörige die stabilisierende Beziehungs- und Wohnkonstellation mit dem (Stief-)Vater und der jüngeren Schwester. Das Studium stellt eine nahezu reibungslose Fortführung des begonnenen ‚Wiederaufstiegs‘-Prozesses dar. Es steht aber auch in einer familiengeschichtlichen Kontinuität, insofern als Nuray Coúkun sich die ‚Familientradition‘ des politischen Denkens und Handelns als Sinnressource erschließt und ihr im Rahmen ihres Lehramtsstudiums eine eigene Form verleiht. Die Frage der eigenen Positionierung in der migrationsgesellschaftlichen Differenz-Ordnung gewinnt in Nuray Coúkuns Erzählung mit dem Übertritt in die Universität an Bedeutung. Die verstärkte explizite Bezugnahme auf migrationsbezogene Differenz im Sprechen über das Studium verweist darauf, dass Nuray Coúkun im Lehramtsstudium in viel massiverer Form mit diesem Thema konfrontiert ist als noch in der Schule. Die Selbstpositionierung der Biographin im Kontext des Lehramtsstudiums zeichnet sich dadurch aus, dass sie sich die Position der Pädagogin mit Migrationsgeschichte einerseits – mit Bezug auf biographisches Wissen – aneignet und diese ausfüllt, andererseits jedoch die problematischen Effekte kategorialer Zuordnungen reflektiert und kritisiert. In dieser Selbstpositionierung kommen Handlungs- und Deutungsressourcen zum Tragen, die wiederum mit der intergenerationalen Tradierung und Aneignung politischer Selbstverständnisse und Handlungsmotive in Verbindung stehen. Als zentrale Dimension in Nuray Coúkuns Bildungsgeschichte erweist sich somit das Verhältnis zwischen ihrem formalen Bildungsweg und dem durchlaufenen Emanzipations- bzw. Autonomisierungsprozess, durch den sie sich schließlich in ein verändertes Verhältnis zu ihrer Mutter und deren Lebenskonstruktion setzen kann. Im Hinblick auf Nuray Coúkuns Zugehörigkeitsverhältnis zum Kontext Universität lassen sich die Bedeutung kultureller Ressourcen und die Verknüpfung des Studiums mit dem familialen ‚Erbe‘ als relevante Dimensionen identifizieren. Die Verknüpfung ihres pädagogischen Studiums mit der Sinnressource des familiengeschichtlichen Erbes vollzieht sich dabei aber nicht im ‚leeren Raum‘, sondern in einem bestimmten diskursiven Kontext: Die Biographin wird im Rahmen des Studiums mit Differenzzuschreibungen konfrontiert, die eine Positionierung erforderlich machen. Zugleich stellt ihre Biographie auch einen positiven Resonanzraum für diese diskursiven Zuschreibungen und ‚Anrufungen‘ dar; Nuray Coúkun bringt durch die Geschichte ihrer politischen Sozialisation eine Sensibilität für Differenzierungspraktiken und Formen von Diskriminierung mit. Im Folgenden werden weitere Fallbeispiele untersucht, in denen sich andere bildungsbiographische Verläufe zeigen. Dabei wird mit Dilan Karatay zunächst ein Fall herangezogen, der (im Sinne einer minimalen Kontrastierung) bestimmte Gemeinsamkeiten der Bildungsvoraussetzungen mit Nuray Coúkun aufweist, um die Bedeutung dieser Voraussetzungen für die Bildungsgeschichte und insbesondere für die Studienerfahrungen detaillierter untersuchen zu können. In Dilan Karatays Geschichte gibt es Parallelen im Hinblick auf die in der Familie vorhandenen sozio-kulturellen Ressourcen und Erfahrungshintergründe, jedoch unterscheiden sich Dilan Karatays Bildungsweg und ihre Relationierung zur Universität deutlich von Nuray Coúkun.
8. Das pädagogische Studium als biographische Irritation – Fallrekonstruktion ‚Dilan Karatay‘
Die nachfolgende zweite Fallanalyse wurde aufgrund verschiedener Parallelen zu Nuray Coúkuns Lebensgeschichte ausgewählt. Die Lebensgeschichte der Biographin wird nicht in all ihren Facetten exploriert, sondern fungiert im Wesentlichen als Kontrastfall, der zu einer Differenzierung der bisherigen Erkenntnisse über das Verhältnis von Biographie und Studienerfahrungen beiträgt. Die beiden Fälle weisen große Ähnlichkeiten hinsichtlich des familienkulturellen Hintergrundes der Biographinnen und der dominanten handlungsschematischen Prozessstruktur auf, jedoch kontrastieren sie hinsichtlich des bildungsbiographischen Verlaufs, insbesondere im Hinblick auf die Studienerfahrungen. Beide Fälle bieten sich auch deshalb für einen Vergleich an, da sich Dilan Karatay zum Interviewzeitpunkt an einem ähnlichen Punkt ihres Studiums (Ende des 2. Studiensemesters) befindet. Damit bezieht sich ihre Studienerzählung ebenso wie Nuray Coúkuns auf die unmittelbare Vergangenheit. Um die Verknüpfungen zwischen (bildungs-)biographischen Voraussetzungen und Studienerfahrungen herausarbeiten zu können, orientiert sich die Falldarstellung in ihrer Grundstruktur an der vorangegangenen: Sie beginnt mit einer knappen biographischen Kurzbeschreibung und einigen Anmerkungen zum Interview und zur Struktur der biographischen Selbstpräsentation (6.1). Anschließend werden ausgewählte Aspekte genauer analysiert, die für Dilan Karatays Biographie bis zum Studium relevant sind (6.2). Danach werden der Übergang ins Studium und die Studienerfahrungen selbst ins Zentrum gestellt (6.3). Im letzten Unterkapitel wird schließlich die Bedeutung von ‚Migration‘ als Differenz- und Zugehörigkeitsdimension im Kontext des Studiums näher betrachtet (6.4). Anders als im Fall Nuray Coúkun wird auf eine ausführliche Darstellung der strukturellen Beschreibung der biographischen Haupterzählung verzichtet. Dies hat primär darstellungsökonomische Gründe. Um dennoch Erkenntnisse der formalen Analyse der Haupterzählung in die Interpretation einbeziehen zu können, wird zuvor ein Einblick in die Struktur und Gestalt der Haupterzählung gegeben, um die Relevanzsetzungen der Erzählerin transparent zu machen, thematische Erzähllinien zu markieren und formale Besonderheiten der Selbstpräsentation aufzuzeigen (Kap. 8.1.3).
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8.1 R AHMUNGEN
UND I NTERVIEWVERLAUF
8.1.1 Biographische Kurzbeschreibung Dilan Karatay wird als Tochter türkisch-kurdischer Eltern in einer deutschen Großstadt in der Nähe von A-Stadt geboren. Der Vater der Biographin migrierte als junger Erwachsener zum Studium nach Deutschland. Er ist als Sozialpädagoge in unterschiedlichen Einrichtungen tätig, u.a. in der offenen Jugendarbeit. Daneben engagiert er sich in einer kurdischen Organisation. Dilan Karatays Mutter leitet einen Frisiersalon. Sie kam als Kind zusammen mit ihren Eltern aus der Türkei nach Deutschland, besuchte hier die Schule und erwarb einen mittleren Schulabschluss. Anschließend absolvierte sie die Ausbildung zur Frisörin und machte sich später selbstständig. Dilan Karatay hat einen zwei Jahre jüngeren Bruder, der zum Interviewzeitpunkt noch zur Schule geht. Dilan Karatay besucht den Kindergarten in dem Stadtteil, in dem die Familie lebt. Als sie zehn Jahre alt ist, zieht die Familie in einen anderen Stadtteil, wo die Eltern eine Eigentumswohnung erworben haben. Dilan Karatays Schullaufbahn verläuft – anders als Nuray Coúkuns – ohne Brüche. Sie besucht das Gymnasium und gelangt auf direktem Weg zum Abitur. In der elften Klasse verbringt sie einen Highschool-Aufenthalt in den USA, mit ihrer Gastmutter verbindet sie seither eine enge Beziehung. Nach dem Abitur nimmt Dilan Karatay ein BA-Studium Erziehungswissenschaft auf. Mit dem Beginn des Studiums zieht sie in eine eigene Wohnung an ihrem Studienort. Ihre Familie sieht sie regelmäßig am Wochenende und in den Semesterferien. Zum Zeitpunkt des Interviews ist die Biographin 20 Jahre alt und hat ihr zweites Studiensemester absolviert. 8.1.2 Kontaktaufnahme und Interviewverlauf Dilan Karatay erfuhr über den Flyer, der in einer Vorlesung verteilt worden war, von meinem Projekt und nahm zu mir Kontakt auf. Wir führten ein telefonisches Vorgespräch, indem sie Interesse daran zeigte, mehr über den Hintergrund meines Vorhabens zu erfahren. Ich erzählte daraufhin etwas über mein Interesse am Thema Bildung und Migration und über den Weg zu meinem Forschungsthema. Nachdem auch das methodische Vorgehen und der Umgang mit dem Material (Anonymisierung) geklärt waren, erklärte Dilan Karatay sich zum Interview bereit. Sie erzählte, dass sie bereits einmal eine Anfrage erlebt habe, mit der sie meine in Verbindung bringe. Eine Gruppe von Künstler*innen habe beabsichtigt, die Bewohner*innen des Viertels, in dem ihre Mutter ihren Frisörsalon hat, zu portraitieren. Sie seien damals als Familie gefragt worden, ob sie mitmachen wollten. Sie selbst sei damals noch ein Kind gewesen und habe es abgelehnt, weil sie es merkwürdig gefunden habe. Dies sehe sie mittlerweile aber anders und bereue ihre damalige Ablehnung. Dilan Karatay signalisierte damit ihre Bereitschaft, sich auf eine Forschungssituation einzulassen, von der sie weiß, dass diese auch bedeutet, sich und das eigene Leben in einem bestimmten Rahmen öffentlich zu präsentieren. Das Interview fand etwa zwei Monate später in G-Stadt in der Wohnung von Dilan Karatays Eltern statt, wo sie ihre Semesterferien verbrachte. Sie holte mich
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vom Bahnhof ab und wir kamen auf dem Weg zur Wohnung schnell ins Gespräch. Sie erzählte mir unter anderem, dass sie sich in G-Stadt nicht mehr wohl fühle, da sie sich zunehmend zu einem Treffpunkt für die Neonaziszene entwickle. Offenbar war auch während sie auf mich gewartet hatte eine Gruppe grölender Neonazis durch den Bahnhofsgang gestürmt. Die Eigentumswohnung der Familie liegt in einer ruhigen, eher bürgerlichen Wohngegend. Ich wurde freundlich von Dilan Karatays Mutter begrüßt, die sich mir ungezwungen mit Vornamen vorstellte. Das Interview führten wir im Zimmer der Biographin, das auch nach ihrem Auszug persönlich gestaltet wirkte, an der Wand hingen Fotos von ihrer Gastfamilie in den USA. Dilan Karatay räumte eine Ecke am Schreibtisch für uns frei, an die wir uns setzten und sorgte für Getränke und Kekse. Ich nahm die Atmosphäre als entspannt wahr, zugleich gibt es im Transkript Hinweise darauf, dass Dilan Karatay die bevorstehende Anforderung an die Erzählung der Lebensgeschichte anfangs als verunsichernd empfand. Dafür sprechen u.a. Rückversicherungsversuche, die sie sowohl vor Beginn ihrer Erzählung als auch am Ende ihrer Haupterzählung unternimmt. Ihre Befürchtungen scheinen sich zum einen darauf zu beziehen, nicht genug zu erzählen zu haben,1 zum anderen darauf, den (vermuteten) Interessen der Interviewerin nicht zu entsprechen.2 Der Einstieg ins Erzählen fiel ihr möglicherweise aufgrund dessen anfangs schwer. Später löste sich die Unsicherheit jedoch und sie fand eine Form, die Aufgabe der lebensgeschichtlichen Selbstpräsentation zu bewältigen. Obwohl Dilan Karatays Art der Selbstpräsentation die Erwartung an eine lebensgeschichtliche Stegreiferzählung insofern erfüllt, als sie spontan und unvorbereitet erfolgt, werden die Zugzwänge des Erzählens nur sehr eingeschränkt wirksam. Dilan Karatay nutzte das Interview weniger als Raum für biographische Erinnerungsprozesse denn als Gelegenheit zur Reflexion und ‚Standortbestimmung‘ aus der Gegenwartsperspektive. Der starke Gegenwartsbezug und die eher reflexive als narrative Struktur der Selbstpräsentation kann meiner Erzählaufforderung an die Biographin geschuldet sein, in der ich sie nicht nur um die Erzählung ihrer Lebensgeschichte bitte, sondern auch darum, alles zu erzählen, was ihr heute an ihrer Lebensgeschichte wichtig sei. Diese Erzählaufforderung war darauf angelegt, ihr die (vermutete) Angst vor einer ‚unvollständigen‘ Lebensgeschichte zu nehmen und die Schwelle für den Einstieg in ein biographisches Erzählen ohne Themenvorgabe zu ebnen. Sie produziert aber ein anderes Problem: Sie legt nahe, die Ereignisse aus der Vergangenheit nach der Relevanz auszuwählen, die sie aus der Gegenwartsperspektive haben. Diese Anforderung ist kontraproduktiv für das Sich-Einlassen auf Erinnerungsprozesse, weil sie auf Seiten der Erzählerin ständige Reflexions- und Bewertungsleistungen erforderlich macht. Zudem kann der starke Gegenwartsbezug auch mit Dilan Karatays damaliger Lebenssituation zusammenhängen: Sie befand sich zum Interviewzeitpunkt in einer biographischen Übergangsphase, in der unmittelbar zurückliegende biographische Veränderungen (Studienbeginn, Auszug aus dem Elternhaus, Tren1 2
Darauf verweist die (erstaunte) Feststellung am Ende der Haupterzählung, „echt viel“ erzählt zu haben. Nachdem die Erzählaufforderung formuliert ist, geht Dilan Karatay sicher, dass die Interviewerin „nichts Spezielles wissen“ möchte und am Ende der Haupterzählung verleiht sie ihrer Hoffnung Ausdruck, erzählt zu haben, „was du hören wolltest“.
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nung von ihrem Freund) verarbeitet werden und die Lebenssituation neu geordnet werden musste. Die Notwendigkeit der Auseinandersetzung mit diesen unmittelbar zurückliegenden Ereignissen und die eigene Neuverortung hatte in dieser Situation möglicherweise Priorität. Das Interview mit Dilan Karatay hat eine Länge von drei Stunden. Die Haupterzählung dauerte etwa 45 Minuten, danach ging ich zu Detaillierungsfragen über, die sich auf die Familie, auf Freundschaften und Schulerfahrungen sowie das politische Engagement der Biographin bezogen. Zentrale Themen des exmanenten Nachfrageteils bildeten Dilan Karatays Studienerfahrungen sowie ihre Zukunftswünsche. Es gab zwei Unterbrechungen; einmal legten wir übereinstimmend eine kurze Pause ein, in der meine Interviewpartnerin uns mit neuen Getränken versorgte. Dabei kam es zu Begegnungen mit ihrer Mutter sowie mit ihrem Vater und einer Cousine. Die zweite kurze Unterbrechung entstand dadurch, dass die Mutter, die auf dem Sprung zu einer Verabredung war, sich von uns verabschiedete. Ansonsten verlief das Gespräch ungestört. 8.1.3 Struktur der biographischen Haupterzählung Im Folgenden wird eine knappe Interpretation des Erzähleinstiegs präsentiert, bevor die weitere Struktur der biographischen Haupterzählung zusammenfassend dargestellt wird. Der Einstieg in Dilan Karatays biographische Selbstpräsentation gestaltet sich folgendermaßen: D: Hm. Ja. Also ich bin zum Beispiel son Mensch ich - äh - kann mich /(lachend) sehr schlecht/ an meine Kindheit erinnern, ich hab da echt da so - kleine Fetzen wenn überhaupt. I: mhm D: Ich weiß gar nichts, immer nur vom - Erzählen (lacht), also ich hab echt irgendwie komplett alles gelöscht obwohl - ich ha_ich hatte eine schöne Kindheit, bin ich mir /(lachend) hundertprozentig sicher/, ich hab tolle Eltern - ehm - ja. Ich bi_ähm bin zum Beispiel ähm (1) also bis zu meinem dritten Lebensjahr konnte ich kein Deutsch sprechen, I: mhm D: also ich=ähm meine Eltern haben Türkisch mit mir gesprochen, was ich sehr bedauer ist dass mein Papa mir - gar kein Kurdisch beigebracht hat, I: mhm D: also kein Wort - immer nur Türkisch, also das ist - ich finde das ist ein Verlust. Weil - ne? Also, er hat ja genauso eine Sprache mit ähm in=in=in die Familie gebracht und - hat sie quasi nicht weitergegeben. Find ich sehr traurig. I: mhm D: Ja. Danach, nächste Station, war ich dann in=im Kindergarten Kita beziehungsweise, da hab ich dann Türkisch ge_also D_also nicht mehr Türkisch sondern Deutsch gesprochen, Deutsch gelernt, (schnalzt) das ging auch ratzfatz, und ich wusste dann schon gar nicht mehr /(lachend) was überhaupt Türkisch sein soll/ weil ich mich dann - weiß ich nicht. So verfahren hab irgendwie in die andere Sprache - ja.
Dilan Karatay beginnt ihre lebensgeschichtliche Selbstpräsentation mit der Feststellung, sich an ihre Kindheit kaum erinnern zu können und nur über einzelne „Fetzen“ zu verfügen. Diese Aussage signalisiert, dass sie ihre Aufgabe in einer ‚wahrheitsge-
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treuen‘ und umfassenden Präsentation lebensgeschichtlich relevanter Ereignisse sieht. Für ihre Kindheit verfügt sie über keine eigenen Erinnerungen, die diesen Kriterien gerecht werden würden, sondern nur über Wissen aus zweiter Hand, auf das sie sich nicht verlassen kann. Die nachfolgende, generalisierende Evaluation, dass die Kindheit „schön“ gewesen sei und sie „toll[e] Eltern“ gehabt habe, wird zwar als sicheres Wissen ausgewiesen („hunderprozent sicher“), kann aber nicht durch eine Belegerzählung plausibilisiert werden. Der Anlauf einer Plausibilisierung („ich bin zum Beispiel“) wird abgebrochen. Stattdessen erfolgt die Selbsteinführung der Biographin über eine Negativaussage – Dilan Karatay verweist auf ein persönliches Unvermögen, das darin besteht, bis zum „dritten Lebensjahr kein Deutsch“ sprechen zu können. Das damalige Nicht-Beherrschen der deutschen Sprache wird so als ein Defizit bzw. ein Abweichen von einer Norm markiert, das daraus resultiert, dass die Eltern Türkisch mit ihrer Tochter sprechen. Dabei muss es sich um eine bewusste Entscheidung der Eltern gehandelt haben, da beide Eltern einen Teil ihres Bildungswegs in Deutschland durchlaufen haben und Deutsch im Alltag ebenfalls verwenden. Während Türkisch als Familiensprache tradiert wird, ist Kurdisch, die andere Sprache des Vaters, von der Weitergabe ausgenommen. Die Formulierung „kein Wort“ deutet darauf hin, dass es sich dabei um eine Entscheidung gegen die Weiterführung der Sprache handelt, die beinahe einem Tabu gleichkommt.3 Es wird damit auf eine sprachbiographische Leerstelle hingewiesen, die von Dilan Karatay nicht weiter erklärt, aber aus ihrer Gegenwartsperspektive reflektiert und als bedauerlich ausgewiesen wird. Der argumentative Einwand, dass der Vater auch eine Sprache in die Familie gebracht habe, kann damit in Verbindung stehen, dass Dilan Karatay – dies wird später erwähnt – im Rahmen ihres Studiums mit dem Thema Mehrsprachigkeit und Bildung in Berührung gekommen ist und dadurch eine wissenschaftliche Perspektive auf ihre eigene Sprachbiographie einnimmt. Mit diesem Einstieg nimmt die Biographin auf die Migrationsgeschichte der Familie Bezug, die sie durch das Thema Sprache einführt. Durch die Verwendung der Familiensprache Türkisch wird die Familie als ein von der (amtlich) deutschsprachigen Umgebung unterschiedener Kontext beschrieben, in dem die Erzählerin sich in ihren ersten Lebensjahren verortet. Mit dem Übertritt in die Kindertagesstätte und damit in eine öffentliche Institution wird eine grundlegende Wende indiziert. Die Biographin konstruiert ihren Deutscherwerbsprozess nicht nur als ein sehr schnelles Geschehen („ratzfatz“), sondern gleichzeitig auch als Prozess des Verlernens der türkischen Sprache. Diese Konstruktion kann einer verbeugenden Entkräftung der möglichen Unterstellung dienen, dass die Sprachsozialisation im Türkischen in den ersten drei Lebensjahren für die ‚Entwicklung‘ bzw. den Bildungsweg der Biographin von Nachteil gewesen sein könnte.
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Die Gründe für diese Entscheidung des Vaters bleiben ungeklärt und sind Dilan Karatay selbst nicht bekannt. Die Nichtverwendung des Kurdischen steht nicht in einem Kontext eines generellen Verschweigens der kurdischen Herkunft des Vaters; so engagiert sich dieser in einem kurdischen Verein und ‚bekennt‘ sich insofern als Kurde. Auch seine Frau ermutigt ihn zur Verwendung des Kurdischen. Es ist allerdings nicht selten, dass in mehrsprachigen Familien Minderheitensprachen zugunsten der offiziellen Staatssprache (Türkisch) aufgegeben werden (vgl. Briziü 2006).
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Mit dieser Konstruktion ist auch eine Selbstpositionierung der Biographin verbunden: Dilan Karatay tritt aus dem sprachlichen Raum der Familie heraus, bewegt sich in die anderssprachige Umgebung und vollzieht einen mühelosen Assimilationsprozess an die in der (Bildungs-)Institution geforderte Sprache, die zugleich die hegemoniale Sprache ist. Zwar ist anzunehmen, dass Türkisch in der Familie (auch) weiterhin praktiziert wurde, Dilan Karatay selbst konstruiert den Eintritt in die KiTa jedoch als eine Zäsur, mit der für sie ein umfassender Sprachwechsel verbunden ist. Neben dem ‚Gewinn‘ einer anderen Sprache wird auch der Verlust der bisherigen Sprache indiziert. Es handelt sich insofern um eine Neupositionierung des erzählten Ich in der migrationsgesellschaftlichen Sprachordnung. Zugleich reproduziert sich in dieser Konstruktion des Spracherwerbsprozesses ein Muster von Sprachgewinn und -Verlust, das in Bezug auf die Aufgabe der kurdischen Sprache bereits in ähnlicher Weise wirksam wurde. Es ist nicht ausgeschlossen, dass es sich bei diesem Erzähleinstieg um eine Art Verlegenheitslösung handelt, mit der Dilan Karatay den angenommenen Erwartungen meinerseits zu entsprechen versucht. Es könnte sich beim Thema ‚Mehrsprachigkeit‘ weniger um eine zentrale biographische Thematik als um eine Möglichkeit der Bearbeitung der Anforderung an eine selbst gestaltete biographische Präsentation handeln. Dilan Karatay versucht, mit dem Thema Mehrsprachigkeit den vermuteten Erwartungen an die Lebensgeschichte einer Studentin ‚mit Migrationsgeschichte‘ zu entsprechen. Eine zweite Lesart, die die erste durchaus nicht ausschließen muss, besteht darin, dass über den Erzähleinstieg auch Positionierungen markiert und vorgenommen werden, die für die Erzählerin eine persönliche Relevanz haben. Über das Thema Sprache werden implizit soziale Zugehörigkeiten hergestellt und präsentiert. Die Biographin positioniert sich einerseits als jemand, die sprachliche Grenzen problemlos überschreiten kann. Allerdings scheint mit dem Überschreiten auch ein vollständiger Wechsel verbunden zu sein. Während Dilan Karatays Darstellung des Deutschspracherwerbs das Moment der sprachlichen Assimilation in den Vordergrund rückt, werden die anderen Sprachen durch die Biographin damit nicht abgewertet. Vielmehr markiert das Bedauern über die fehlende Weitergabe der kurdischen Sprache eine wertschätzende Betrachtungsweise Dilan Karatays hinsichtlich der Familiensprachen ihrer Eltern. Es lässt sich daher die These aufstellen, dass der Erzähleinstieg auch als Ausdruck einer zum Erzählzeitpunkt aktuellen Suchbewegung nach einer identitären Selbstverortung seitens der Biographin ist. Sprachen stellen Ressourcen dar, die eine Bedeutung für die eigene Verortung und Zugehörigkeitskonstruktion haben können. Die fehlende Vermittlung des Kurdischen bedeutet eine verpasste Chance, durch die Dilan Karatay eine potenziell identitätsrelevante Ressource vorenthalten wird. Zugleich verfügen Sprachen aber über ein unterschiedliches Prestige und sind gesellschaftlich nicht gleichermaßen anerkannt; dies gilt für die kurdische Sprache in mehrfacher Hinsicht, für das Türkische im Kontext des Migrationslandes Deutschland ebenfalls. Diese Machtdifferenzen im nationalen (Sprach-)Raum haben konkrete Folgen für die hier thematisierten sprachlichen Vermittlungs- und Aneignungsprozesse und auch für die Möglichkeiten der Zugehörigkeitskonstruktion. Denkbar ist daher, dass die Auseinandersetzung mit dem Thema Sprache auf den unabgeschlossenen Prozess bzw. die Suche nach einer Positionierung verweist. Dilan Karatays
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Begegnung mit dem Thema Mehrsprachigkeit, Migration und Bildung im Studium könnte diesen Prozess angestoßen haben, zugleich liegt darin aber auch ein Potenzial möglicher ‚Antworten‘ auf die entstehenden Fragen. In der weiteren Erzählung finden sich weitere Hinweise auf die These einer biographischen Suchbewegung, die sich nicht nur auf die Frage der Zugehörigkeit, sondern auch auf den biographischen Entwurf der Biographin im Allgemeinen bezieht. Mit der Thematisierung von Kindergarten und Grundschulzeit orientiert sich Dilan Karatay im weiteren Verlauf ihrer Erzählung an der institutionellen Struktur ihres Bildungswegs. In der Erzählung über die Grundschulzeit rückt erstmals das Verhältnis zu signifikanten Anderen jenseits des Elternhauses ins Zentrum. Die Zeit im Gymnasium wird zunächst unter dem Aspekt des Absinkens der Schulnoten thematisiert. Das Thema ‚Leistungsbewertungen‘ wird jedoch nicht zu einer dominanten Erzähllinie ausgebaut, es bildet vielmehr den Ausgangspunkt einer Beschäftigung mit Freundschaftsbeziehungen und dem Verlust von Schulfreund*innen im Laufe der Schulzeit. Die starke Präsenz des Themas ‚Veränderungen und Verlust von Freundschaften‘ steht dabei vermutlich u.a. damit in Zusammenhang, dass die Veränderung sozialer Bindungen – wie sich später zeigt – für Dilan Karatay auch in ihrer aktuellen Lebenssituation bedeutsam ist. Es wird hier also ein Thema entwickelt, das eine Art ‚roten Faden‘ bildet. Teil der Erzählung über die Schulzeit ist auch der Aufenthalt bei der Gastfamilie in den USA. Dabei stellt Dilan Karatay in ihrer Darstellung insbesondere die emotionale Nähe und Verbundenheit zu ihrer Gastmutter ins Zentrum. Über Schulerfahrungen in den USA wird dagegen gar nichts berichtet. In der Folge wird das Thema ‚soziale Beziehungen‘ fortgeführt, allerdings mit einem anderen Schwerpunkt. Mit Beginn der Oberstufe wird eine Zäsur markiert, mit der Dilan Karatay eine Veränderung ihrer Selbstwahrnehmung verbindet, die sie mit den Worten „du bist halt doch die Ausländerin“ beschreibt. Diese Veränderung wird dabei nur markiert, und die Erzählerin verliert an dieser Stelle den Faden. Meine Ermunterung, von der Oberstufe weiterzuerzählen, wird dann zunächst als Gelegenheit genutzt, etwas über einen „tollen LK-Lehrer“ zu erzählen. Offenbar lässt sich das Thema Differenzerfahrungen und Rassismus jedoch nicht langfristig aus der Geschichte heraushalten; Dilan Karatay greift es von sich aus wieder auf. Auch in den sich anschließenden Ausführungen der Biographin über ihre Liebesbeziehung spielt das Thema Rassismus eine Rolle, und es bildet eine thematische Klammer für die ausführlichen Reflexionen der Probleme dieser Beziehung. Die thematische Erzähllinie ‚Rassismuserfahrungen‘ wird anschließend von einer Erzählung über den Beginn des politischen Engagements der Biographin abgelöst. Dieses Datum wird durch eine längere Hintergrundkonstruktion untermauert, in der eine neue Freundschaft als Ausgangspunkt des eigenen Politisierungsprozesses konstruiert wird. Mit dem Übergang ins Studium wird das Thema ‚(Verlust von) Beziehungen‘ wieder aufgenommen, allerdings diesmal unter einer etwas anderen Perspektive, nämlich dem Aspekt des Selbstständigwerdens. Thematisiert werden der Umzug nach A-Stadt und das Abstandnehmen von G-Stadt sowie die damit verbundenen Implikationen und zum Teil problematischen Folgen im Hinblick auf bestehende soziale Beziehungen, darunter die Trennung von ihrem Freund. Dilan Karatay beendet ihre Haupterzählung mit einer positiven Bilanzierung ihrer Gegenwartssituation nach der
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Trennung und einem Bekenntnis zu Autonomie als Maxime für künftiges Handeln – es gehe darum, „die Sachen zu verfolgen die einem richtig erscheinen“ (13/38). Nachdem sie mit einer Koda („jetzt bin ich quasi am Ende“) den Abschluss ihrer Erzählung markiert hat, bietet sie an, noch etwas „über die Uni“ zu erzählen. Nachdem ich diesen Vorschlag ratifiziert habe, zieht Dilan Karatay – in einem reflektierenden Modus – ein kurzes Resümée über ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Studium, die negativ bilanziert werden. Sie beendet ihre Reflexion allerdings mit einem hoffnungsvollen Ausblick. Die Erzählerin strukturiert ihre biographische Selbstpräsentation, indem sie sich an den institutionellen ‚Stationen‘ und Phasen ihres Bildungswegs orientiert, und folgt damit einer chronologischen Darstellungsform.4 Innerhalb der einzelnen Phasen lässt sich eine thematische Orientierung an der Präsentation von Beziehungen zu signifikanten Anderen und deren Veränderung erkennen. Dabei werden nicht nur die Veränderungen in Dilan Karatays eigener Biographie, sondern auch solche in den Biographien der anderen zum Thema gemacht. Die Haupterzählung folgt nicht dem Muster einer ausführlichen Darstellung von Ereignissen und der narrativen Entfaltung biographischer Erfahrungszusammenhänge. Die Haupterzählung enthält nur wenige narrative und viele reflexive Anteile. Die binnensegmentale Struktur ist so aufgebaut, dass Dilan Karatay ein biographisches Ereignis benennt, das eine Veränderung indiziert, dieses kurz evaluiert und anschließend aus der Gegenwartsperspektive ausführlich diskutiert und reflektiert. Anders als bei Nuray Coúkun weist die Erzählung dadurch keine klare ‚Plot‘-Struktur auf. Wie es von einem Ereignis zum nächsten kam, bleibt meist implizit; es lassen sich lediglich Ansätze einer deutenden Herstellung übergreifender autobiographischer Zusammenhänge erkennen. Auch Dilan Karatays biographische Bilanzierungen fallen deutlich weniger einheitlich und eindeutig aus als bei Nuray Coskun. Dies lässt sich auch als ein weiterer Hinweis auf die These einer unabgeschlossenen biographischen Suchbewegung interpretieren.
8.2 D ILAN K ARATAYS B IOGRAPHIE BIS ZUM S TUDIUM – R EKONSTRUKTION AUSGEWÄHLTER T HEMEN Im Folgenden gehe ich genauer auf einige Themen ein, die in Dilan Karatays Biographie bis zum Studium bedeutsam sind. Dabei wurden solche Themen ausgewählt, die entweder neue Erkenntnisse für die Fragestellung ergeben, oder an denen sich Bedingungsgefüge, Handlungs- und Deutungsweisen aufzeigen lassen, die in einem interessanten Verhältnis zu der vorangegangenen Fallanalyse stehen. Wenngleich dadurch nicht alle erwähnten Ereignisse in die Darstellung einfließen, folgt diese einer chronologischen Logik, um biographische Zusammenhänge herausarbeiten zu können. Anders als in der vorangegangenen Falldarstellung werden Textpassagen aus unterschiedlichen Phasen des Interviews einbezogen, da sich in der Nachfragephase zum Teil ausführlichere Darstellungen finden als in der Haupterzählung.
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Die Orientierung an Bildungsinstitutionen zeigt sich dabei an Markierungen wie „nächste Station“, oder „ja wie war die Schule an_sonst die Schulzeit“.
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8.2.1 Familiengeschichtlicher Kontext: Migrations- und Bildungsgeschichten der Eltern Über ihre Familie erzählt Dilan Karatay erst auf Nachfrage hin genauer, dann aber recht ausführlich. Die Ausführungen der Biographin zur Familie väterlicherseits bleiben etwas vage; aus ihrer Erzählung lässt sich schlussfolgern, dass die Familie des Vaters „auf dem Land“ (15/38) in prekären sozio-ökonomischen Verhältnissen lebt, denen der Vater durch seine Migration entkommen will. D: Meine O_meine Großmama hat v=viele Kinder gekriegt die ge_früh gestorben sind, auch glaub ich verloren und was nich alles, also - damals ähm - ich glaub - mein O_Papa ist glaub ich da=das dreizehnte Kind sogar. Äh - danach auch - kam auch keins mehr, (…) Mein Opa wollte - dass mein Vater bei ihm bleibt weil alle andern Kinder gegangen sind. Und mein Papa (klopft auf den Tisch) hat rebelliert, ist abgehauen, und hat studiert (15/30-37)
Die Position des Vaters in der Familie ist eine besondere, da er das jüngste von (vermutlich) dreizehn Kindern ist und von ihm erwartet wird, dass er – anders als seine Geschwister – die Eltern nicht verlässt. Er handelt jedoch gegen den Willen seines Vaters und setzt sich über die ihm zugedachte Rolle hinweg. Die Migration ist eng an ein Bildungsmotiv geknüpft.5 In Dilan Karatays Darstellung wird seine Migration als ein widerständiger Akt konstruiert, durch den ihr Vater sich seine Freiheit erkämpft. Ein gewisser Stolz auf den Vater ist offensichtlich. Es ist zu vermuten, dass es sich hierbei um eine Geschichte handelt, die in der Familie weitergegeben wurde und öfter erzählt worden ist. Dem Wunsch nach Autonomie und Bildung wird damit eine hohe Bedeutung zugemessen, die auch das Verlassen der Familie legitimiert. Über mögliche Hindernisse bei der Anerkennung des Bildungsabschlusses des Vaters in Deutschland oder den Anstrengungen des Erlernens der deutschen Sprache erzählt Dilan Karatay nichts. Es entsteht durch die geraffte Darstellung vielmehr der Eindruck, dass der Vater direkt nach seiner Migration sein Studium aufnahm. Nach Abschluss seines Architekturstudiums macht der Vater jedoch die Erfahrung, dass er sein erworbenes Bildungskapital in keine adäquate berufliche Position umsetzen kann. Er findet in der näheren Umgebung keine Stelle als Architekt. Dafür führt Dilan Karatay verschiedene Gründe an: fehlende berufliche Netze und die Vermutung, dass der Vater auf dem Arbeitsmarkt diskriminiert wurde. Das Sozialpädagogikstudium stellt vor diesem Hintergrund einen zweiten Versuch dar, beruflich Fuß zu fassen – in einem Segment des Arbeitsmarktes, das deutlich weniger soziales Ansehen und ökonomischen Gewinn verspricht als der Beruf des Architekten. Als Sozialpädagoge arbeitet Dilan Karatays Vater seither in unterschiedlichen Handlungsfeldern und erlebt auch Phasen der Arbeitslosigkeit. Seine gegenwärtige Tätigkeit in der offenen Jugendarbeit in einem marginalisierten G-Städter Stadtteil stellt die Biographin als belastend und wenig erfüllend dar.
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Ob bei der Migration auch politische Gründe im Spiel waren, weiß Dilan Karatay nicht genau. Sie vermutet jedoch, dass das politische Engagement ihres Vaters erst in Deutschland begonnen hat.
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D: ja jetzt arbeitet der ähm - /(flüstert) ich weiß nicht wie lange schon/ - ähm, im X-Viertel in G-Stadt, Brennpunkt, in einer Jugendfreizeitstätte. Und ähm - ja der ist jetzt einer der führenden - Mitarbeiter oder Pädagogen was auch immer, ähm - aber er findet es grauenhaft da. Weil er findet dass die Leute da verblöden. Weil - die kommen da hin, kickern, die kommen da hin, spielen Tischtennis, die kommen da hin und gehen an den PC. Ne? es wird nichts gemacht mit denen, die hängen rum. Dann werden da Kurse angeboten wie Tanzen, Bewerbung schreiben und sonstwas. Aber was sonst? Nichts. (18/7-22)
Dilan Karatay übernimmt hier die Perspektive ihres Vaters, der seine Arbeit im Jugendzentrum „grauenhaft“ findet. Ihr Vater scheint diese Arbeitsstelle schon länger innezuhaben; die Erzählerin „weiß nicht wie lange schon“. Seine Unzufriedenheit führt Dilan Karatay darauf zurück, dass die Jugendlichen in der Einrichtung „verblöden“. Das Jugendzentrum bietet ihnen zwar diverse Aktivitäten an, diese werden von Dilan Karatay jedoch abgewertet. Sie decken sich offenbar nicht mit den normativen Ansprüchen, die sie selbst oder ihr Vater, auf dessen Sichtweise sie sich hier vermutlich bezieht, hinsichtlich einer sinnvollen Freizeitgestaltung vertreten. Dabei bleibt in der Schwebe, worin diese Ansprüche genau bestehen. Interessant ist, dass der Vater zwar eine führende Position in dem Jugendzentrum einnimmt, es aber offenbar nicht in seiner Macht steht, etwas an diesem Umstand zu ändern. Die berufliche Situation des Vaters wird damit als eine ‚Sackgasse‘ beschrieben, in der ihr Vater seine Ziele und Handlungsvermögen nicht einbringen kann. Er wird als ein ‚starker‘ Akteur mit hohen Bildungs- und Berufsambitionen konstruiert, der jedoch durch strukturelle Hürden am Arbeitsmarkt ‚ausgebremst‘ wurde und seine Ambitionen nur teilweise realisieren konnte. Es gibt aber auch ein Leben neben dem Beruf: Dilan Karatay beschreibt ihren Vater als politischen Aktivisten, der sich in einer Gruppe kurdischer Flüchtlinge engagiert, die sich in Deutschland u.a. für die Belange der kurdischen Minderheit und die Rechte von politisch verfolgten und inhaftierten Aktivist*innen in der Türkei einsetzen.6 Im Gegensatz zu seinem Beruf kann ihr Vater in seinem politischen Engagement sein Handlungspotenzial entfalten. Seine Aktivitäten werden von der Mutter der Biographin mitgetragen. Die Eltern haben einen gemeinsamen Freundeskreis, zu dem auch politisch aktive Kurd*innen gehören. Über ihre Mutter berichtet Dilan Karatay, dass sie als Sechsjährige mit ihren Eltern aus der Türkei migrierte, die als Arbeiter*innen nach Deutschland kamen. Die Erzählerin hebt hervor, dass ihre Mutter aus einer sunnitischen Familie stammt und die Mutter und ihre drei Geschwister nicht religiös erzogen wurden. Ihre Mutter besucht von Anfang an die Schule in Deutschland und absolviert nach dem Abschluss eine Ausbildung zur Frisörin. Die Biographin äußert die Vermutung, dass eine weiterführende Bildungslaufbahn für ihre Mutter nicht möglich war, weil ihre Großeltern nur ein Kind unterstützen konnten und den älteren Bruder der Tochter gegenüber bevorzugten (vgl. 38/25-29). Dieser Umstand wird von der Erzählerin jedoch nicht als Einschränkung dargestellt, sondern sie betont vielmehr, dass ihre Mutter mit ihrer 6
Dilan Karatay weist darauf hin, dass die Gruppe sich nicht nur mit der Situation der Kurden in der Türkei befasst, sondern auch Teil der antirassistischen Bewegung in Deutschland ist und mit Vertreter*innen anderer politischer Gruppierungen und Parteien zusammenarbeitet.
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Tätigkeit als Friseurin ihren Wunschberuf realisiert hat und dabei sehr erfolgreich ist. Die berufliche Selbstständigkeit steht zudem für einen selbstbestimmten Lebensentwurf. D: ja. Ähm meine Mama, hat früher ihren Puppen immer die Haare abgeschnitten und sowas, (lacht) wollte schon immer in die Richtung, ähm - also die hat nachdem sie die Schule abgeschlossen hat, sich direkt ne - Ausbildungsstelle gesucht, (…) ähm - die hat direkt echt selbst sich aufn Weg gemacht, auch ne richtig gute ähm Ausbildungsstelle gefunden, also bei einem bekannten Friseur, ähm - sie ist echt gut in ihrem Beruf, wirklich, ähm das sagt jeder - also, d=der Laden läuft - also sie hat sich irgendwann auch selbstständig gemacht, also sie steht im Leben, sie ist eh quasi diejenige die die Hosen anhat bei uns (lacht), ähm - das find ich auch richtig toll, und mein Papa das ist auch son Mensch - der findet das auch toll (lacht) (15/4051/15)
Durch den Hinweis auf das kindliche Spiel der Mutter mit ihren Puppen wird eine biographische Kontinuität konstruiert, die den Frisörberuf als eine perfekte Möglichkeit der Professionalisierung bisheriger eigener Interessen erscheinen lässt. Auch hier bezieht sich Dilan Karatay auf Wissen aus zweiter Hand. Der Bildungs- und Berufsweg ihrer Mutter wird als geradliniger Karriereweg präsentiert. Die Erzählerin hebt zum einen die Zielstrebigkeit und Selbstbestimmtheit ihrer Mutter hervor („direkt ne Ausbildungsstelle gesucht“, „selbst auf den Weg gemacht“), zum anderen legt sie Wert darauf, den Beruf der Mutter als etwas sozial Anerkanntes darzustellen (Ausbildung bei einem „bekannten Friseur“). Ihre Mutter wird so als eine Person präsentiert, die über klare Zielvorstellungen, Kompetenzen und ein großes Selbstbewusstsein verfügt, und deren berufliche Erfolge allseits anerkannt werden. Dies hat auch Konsequenzen für das Machtverhältnis zwischen ihren Eltern, das Dilan Karatay zufolge zugunsten ihrer Mutter ausfällt – sie hat in der Familie „die Hosen an“. Es zeichnet sich also ab, dass beide Elternteile emanzipatorische Lebensentwürfe haben, die sie zielgerichtet verfolgt haben, wobei Dilan Karatays Mutter sowohl im Beruf als auch im Privatleben Selbstbestimmung verwirklichen konnte, während ihr Vater zwar über ein hohes Bildungskapital verfügt, aber in seiner beruflichen Karriere ausgebremst wurde. Seine Gestaltungsansprüche kann er in seinem Beruf als Sozialpädagoge nur sehr eingeschränkt verwirklichen und verfolgt sie im Wesentlichen im Rahmen seiner politischen Arbeit. 8.2.2 Grundschule und Übergang ins Gymnasium: Zwischen Eigensinn und Orientierung an signifikanten Anderen Die Orientierung an den eigenen Vorstellungen, die Dilan Karatay ihren Eltern attestiert, bildet auch ein wichtiges Element der Selbstkonstruktion der Biographin. Dabei wird das Thema ‚Autonomie‘ von ihr zugleich eng mit Bindungen an andere Personen verknüpft. Dies zeigt sich erstmals in der Erzählung über die Grundschule. Ihre Grundschulzeit bilanziert die Erzählerin rundum positiv als eine unbeschwerte Zeit, die besonders durch die Person der Grundschullehrerin bestimmt ist: D: Ja - (schnalzt) also die Grundschule war total schön und wir hatten eine supersuper Grundschullehrerin, also ich - wenn ich mich jetzt zurück erinner ich bin - e=ehrlich gesagt auch n
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bisschen traurig weil - seitdem ich fertig war, bin ich nicht einmal die Frau besuchen gegangen und - dabei war sie echt so - /(schmunzelnd) mein Vorbild ne?/ (lacht) Ähm ich hab sogar noch so Briefe, die hat immer Briefe mit uns geschrieben, /(lachend) die haben meine Eltern aufbewahrt/ (lacht) I: aha, ist ja toll. D: Ja, und ich hab auch alles was Frau Berkner mir erzählt hat, das war die=die=die die Richtlinie, das war richtig, meine Eltern waren /(lachend) immer im Unrecht/ I: (lacht) D: da war sogar einmal also - son Konflikt dass meine Eltern dann äh Frau Berkner /(lachend) gesagt haben, ja sagen Sie unserer Tochter auch mal dass sie auch mal auf uns hören kann/ (lacht) (3/9-22)
Die Grundschullehrerin stellt für Dilan Karatay eine wichtige Identifikationsfigur („Vorbild“) dar. Sie pflegt ein persönliches Verhältnis zu den Kindern und tritt mit ihnen durch das Briefeschreiben in eine persönliche Form der Kommunikation. Dabei wird sie als eine Art Konkurrentin zu den Eltern konstruiert – Dilan Karatay orientiert sich an den Vorstellungen und Aussagen ihrer Lehrerin und schließt sich in fraglichen Fällen ihrer Position und nicht der ihrer Eltern an. Die Position der Eltern als primäre Orientierungspersonen wird damit brüchig. Sie müssen aktiv darum kämpfen, dass ihre Tochter „auch mal“ auf sie hört; sie werden als Bittsteller*innen gegenüber der Lehrerin positioniert, die selbst nur mehr wenig Einfluss auf die Tochter haben. Die Biographin selbst positioniert sich dadurch als durchaus mächtige Akteurin, die sich bis zu einem gewissen Grad unabhängig von ihren Eltern machen bzw. sich deren ausschließlichem Einfluss entziehen kann.7 Dieses Konstruktionsmuster setzt sich auch in der Darstellung ihres Übergangs in die weiterführende Schule fort. Ähnlich wie Nuray Coúkun schreibt auch Dilan Karatay sich zu, die Entscheidung für die weiterführende Schule selbst – und gegen ihre Eltern – getroffen zu haben. D: ähm - ich wurd erst mal - natürlich fürs Gymnasium empfohlen, ne? Also das - und ähm meine Eltern wollten immer dass ich auf ne an=ich weiß gar nicht andere Schule _ich weiß gar nicht obs n anderes Gymnasium war oder was auch immer aber ich wollte halt mit den drei anderen gehen, weil wir befreundet waren
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Dieses Muster wiederholt sich später bei der Beschreibung des Verhältnisses zu ihrer Gastmutter, die ebenfalls als enge Vertraute und ‚alternative‘ Ansprechpartnerin zur Mutter der Biographin ausgewiesen wird, der sie Dinge erzählen kann, die sie ihrer Mutter vorenthält. Es gibt dabei keine Hinweise auf ein problematisches Verhältnis der Biographin zu ihren Eltern. Zwar thematisiert sie, dass sie als Jugendliche ihre Freiheiten (Ausgehzeiten, einen Freund vor Ende der Schulzeit haben etc.) gegenüber ihren Eltern durchsetzen musste. Dies bedeutet jedoch zugleich, dass Grenzen verhandelbar waren. Es gibt also keine Hinweise darauf, dass Dilan Karatay sich an anderen Erwachsenen orientiert, um etwa einem übermäßig ‚strengen Regiment‘ ihrer Eltern zu entgehen. Die Bezugnahme auf andere erwachsene Bezugspersonen als die Eltern scheint eher eine zusätzliche Ressource in ihrer Biographie darzustellen, die ihr es ihr erlaubt, in eine partielle Distanz zu den Eltern zu gehen.
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I: mhm mhm, ah - ah ja, ja ja okay D: ne? Ja - und die Schule=also diese Grundschule ist in der Nähe von der - äh von dem Gymnasium. Fünf Minuten, noch nicht mal - drei - und dann wollte ich auch mit denen dahin gehen. Also ich hab entschieden welche Schule ich besuche! (lacht) (23/24-33)
Die Gymnasialempfehlung am Ende der Grundschule wird als selbstverständlich („natürlich“) dargestellt, es gibt jedoch unterschiedliche Schulen, die infrage kommen. Die Eltern bevorzugen eine andere Schule als die Tochter, die ihre Schulwünsche an der Aufrechterhaltung ihrer Freundschaftsbeziehungen und der räumlichen Nähe des Gymnasiums zur Grundschule orientiert. Ob es sich bei der von ihren Eltern bevorzugten Schule ebenfalls um ein Gymnasium handelte, bleibt ungeklärt. Dilan Karatay präsentiert sich hier als handlungsmächtige Akteurin, die sich gegenüber ihren Eltern durchsetzt und die Wahl ihrer weiterführenden Schule selbst trifft; dies wird im Nachsatz noch einmal unmissverständlich bekräftigt. Ähnlich wie bei der Sequenz davor geht die Selbstkonstruktion als handlungsmächtiges Subjekt mit der Orientierung an signifikanten Anderen einher, hier den drei Freundinnen aus der Grundschule. Durch die Möglichkeit der Fortsetzung von Freundschaftsbeziehungen stellt die Erzählerin eine Kontinuität zwischen der Grundschulzeit und der Zeit in der weiterführenden Schule her. Allerdings bleibt diese Kontinuität nicht erhalten. 8.2.3 Gymnasium: ‚Leistungseinbruch‘ und Verlust von Freundschaften Obwohl Dilan Karatay bei der Schulwahl ihren Willen durchsetzen kann, bilanziert sie den Übergang ins Gymnasium negativ. Dies steht damit in Zusammenhang, dass sie einen Einbruch in der Bewertung ihrer Leistungen erlebt: „ich fand das gr_ Gymnasium - grauenhaft, ich bin erstmal so abgesackt, es ging gar nichts mehr, ich war sehr schlecht“ (3/26/27). Im Nachfrageteil äußert sich Dilan Karatay zu dieser Erfahrung etwas detaillierter: D: Und dann=dann hab ich auf dem Gymnasium erst mal so - fünf, vier, fünf, vier und das war dann _ also ich hatte noch nie ne Fünf oder ne Vier in der Grundschule, das war dann schlecht. Das war ja auch nicht leicht für mich, weil äh ich - bin glaub ich die Einzige so, ich hatte _ vielleicht hatte ich auch nur das Gefühl, dass ich die Einzige bin, die jetzt dann nicht direkt mitziehen kann. Weil - also zum Beispiel, die drei anderen, die hatten keine Probleme am Anfang, ne? Ich war diejenige, die nicht konnte. Die waren wirklich immer besser als ich - ja. (24/23-27)
Der Beginn der Gymnasialzeit steht unter dem Eindruck zunehmender Leistungsanforderungen, durch die sich die Position der Biographin in der Schule ebenso verändert wie das Verhältnis zu ihren Schulfreundinnen. Dilan Karatay erlebt einen ‚Leistungseinbruch‘, der sich an schlechten Noten zeigt. Den Maßstab für diese schulischen Misserfolgserlebnisse bilden dabei nicht nur ihre besseren Noten in der Grundschule, sondern auch der Vergleich mit den Freundinnen, die bessere Leistungen erzielen. Mit Beginn des Gymnasiums treten also Leistungsvergleiche in den Vordergrund der Erzählung, die die vier Freundinnen in ein kompetitives Verhältnis zueinander setzen. Dilan Karatay fällt in diesem Vergleich hinter den anderen zurück (sie
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kann nicht „mitziehen“). Durch die Formulierung „die hatten keine Probleme am Anfang“ deutet sich zwar auch an, dass die Freundinnen ihren Vorsprung nicht halten konnten, zunächst einmal sind sie der Biographin aber in den erzielten Leistungsbewertungen überlegen. Der Vergleich mit ihnen führt auch dazu, dass die Erzählerin ihre Misserfolge nicht auf strukturelle Bedingungen (etwa die gestiegenen Anforderungen oder die strengeren Bewertungskriterien im Gymnasium), sondern nur auf ihr persönliches ‚Können‘ zurückführen kann. Die weiteren Ausführungen der Biographin in der Haupterzählung legen nahe, dass es sich bei dem ‚Leistungseinbruch‘ um ein vorübergehendes Phänomen handelt: „hab mich dann irgendwie aufgepäppelt, es - ging dann, hab mich dann da reingelebt“ (3/28-29). Die schlechten Benotungen bilden also nicht den Auftakt für eine krisenhafte Schulkarriere, sondern es gelingt Dilan Karatay, die Übergangsschwierigkeiten aus eigener Kraft zu bewältigen. Ihre Leistungen scheinen sich im weiteren Verlauf ihrer Gymnasialzeit im mittleren Spektrum einzupendeln. Darauf deutet u.a. die Selbstbezeichnung als „Durchschnittsschülerin“ hin, ebenso wie die Aussage, die Einzige aus ihrer Klasse gewesen zu sein, die das Gymnasium ohne Klassenwiederholungen bis zum Abitur an der gleichen Schule durchläuft. Das Gymnasium wird damit – ähnlich wie bei Nuray Coúkun die gymnasiale Oberstufe an der Gesamtschule – als eine hochselektive Bildungsinstitution ausgewiesen. Dennoch hat der schwierige Start der Gymnasiallaufbahn langfristige Nachwirkungen: Dilan Karatay erwähnt an verschiedenen Stellen, dass sie sich auf die Position einer ‚schlechten‘ Schülerin festgelegt fühlt und gegen eine ‚Schubladisierung‘ durch die Lehrkräfte ankämpfen muss: D: Und dann - ich finde, wenn man dann so schlecht angefangen hat dann ist man immer schlecht in den Augen von Leuten. Und dann sich da durchzuboxen und dann noch n gutes Abi hinzulegen - das war echt nicht leicht. (24/6-9)
Die Leistungsverschlechterung nach dem Übergang ins Gymnasium führt somit zwar nicht zu einer Gefährdung der Schulkarriere, wohl aber scheint die Kategorisierung als „schlecht[e]“ Schülerin Dilan Karatay anzuhaften und ihre Schullaufbahn zu überschatten. Der Begriff des Durchboxens könnte signalisieren, dass die Biographin einen besonderen Aufwand erbringen musste, um das Negativimage abzuschütteln, und dass sie ihr Abitur gegen Widerstände erlangt. Auch an anderen Stellen deutet die Erzählerin die schlechte Benotung durch einige Lehrer*innen als Effekt des einmal entstandenen Negativeindrucks. Die Etikettierung haftet der Schülerin an und ist nur schwer wieder los zu werden, aber Dilan Karatay erfährt sie auch nicht als irreversibles Schicksal – dies deutet sich bereits in der Metapher des Durchboxens an. So berichtet sie etwa, dass es ihr gelingt, die negative Leistungsbeurteilung ihrer Italienischlehrerin durch autodidaktische Anstrengungen und die Demonstration von Leistungsbereitschaft noch ins Positive zu wenden. Dilan Karatay konstruiert sich also durchaus als handlungsmächtig, und ihre Bemühungen bleiben nicht wirkungslos. Dennoch attestiert sie sich selbst bis zur zehnten Klasse8 eine eher negative Haltung 8
Mit Beginn der Oberstufe wandelt sich diese Haltung: Dilan Karatay hebt die positiven Qualitäten ihrer Leistungskurslehrer*innen hervor, die sie insbesondere an deren persönlichem Engagement für die Schüler*innen festmacht. Darüber hinaus kontrastiert sie die
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zum Gymnasium, und das Thema der Leistungsbewertungen taucht in mehreren Passagen auf. Die Aussage, dass Dilan Karatay als einzige aus ihrer Klasse das Gymnasium „in der Regelschulzeit“ durchläuft, hat noch eine weitere Implikation: Sie steht im Kontext der Enttäuschung über das Zerbrechen von Freundschaften. D: Weil ich dachte - also - wir sind alle da zusammen in der Schule gewesen, wir haben uns da alle durchgeboxt - ich hab gedacht wir boxen uns genauso auch irgendwie - durch=durch die weiterführende Schule, ne, also aber - es sind alle, echt alle auf der Strecke geblieben (3/34-38)
In Dilan Karatays Formulierungen erscheint die Schule als ein System, das den Individuen tendenziell feindlich gegenübersteht und dem sie durch Kampfgeist und Hartnäckigkeit trotzen müssen, um ans Ziel zu gelangen. Entscheidend ist dabei, dass sie die Schüler*innen als solidarische Gemeinschaft sieht, die sich gemeinsam „durchboxen“. Dieses Idealbild wird jedoch dadurch erschüttert, dass die anderen diesen Weg nicht mit ihr gemeinsam bis zum Ende gehen, sondern „alle, echt alle auf der Strecke“ bleiben. Etwas später wird deutlich, dass die Biographin das ‚Verschwinden‘ ihrer Schulfreund*innen im Laufe der Schulzeit weniger auf äußere Bedingungen zurückführt, sondern es als eine Art Ausstieg aus der freundschaftlichen Solidargemeinschaft deutet. Während Dilan Karatay (trotz des ‚Leistungseinbruchs‘ in der fünften Klasse) auf direktem Weg das Abitur erreicht, kommen ihre Schulfreundinnen auf unterschiedliche Weise von diesem ‚geraden Weg‘ ab. Die Freundinnen aus der Grundschule verlieren dabei nicht nur ihren Leistungsvorsprung, sondern sie orientieren sich auch anders als die Biographin: Die eine Freundin „ist an eine falsche Freundin geraten“, was offenbar auch Folgen für ihre Schulkarriere hat, die andere beginnt Drogen zu nehmen und bricht in der zwölften Klasse die Schule ab. Die Biographin selbst präsentiert sich in dieser Konstellation als diejenige, die derartigen Versuchungen konsequent standhält.9 Während die anderen gefährdet sind, die Kontrolle über ihr Leben zu verlieren, hat Dilan Karatay sich „irgendwie im Griff“ (4/10). Obwohl sie betont, die Gelegenheit gehabt zu haben, ebenfalls Drogen auszuprobieren, entscheidet sie sich konsequent dagegen. Statt sich ihnen anzuschließen, versetzt sie sich ihren Freundinnen gegenüber in die (überlegene) Position einer Helferin. Ihr Hilfeangebot wird von den Freundinnen jedoch nicht angenommen. D: du kennst die Leute quasi dein halbes Leben, du versuchst echt alles, die lernen neue Leute kennen und - die vergessen einen einfach ne? Und egal wieviel man dahinter ist, da hinterher ist, irgendwie was verändern will, oder was auch immer, ähm (1) ts - die denken du willst denen was Böses ne - irgendwie. I: okay, mhm.
9
Freiwilligkeit des Oberstufenbesuchs mit dem ‚Zwang‘, der sich mit dem Besuch der Unter- und Mittelstufe verbindet. Die unterschiedlichen Entwicklungen führt Dilan Karatay rückblickend darauf zurück, dass ihre Freundinnen – im Gegensatz zu ihr – alle aus prekären Familienverhältnissen kommen („n schwieriges Elternhaus [hatten]“ (25/2)), in denen Gewalt und Suchtprobleme zum Alltag gehören. Dagegen beschreibt sie ihre eigene Familie als „intakt“.
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D: Also das=das sind so das - das - finde ich total traurig. Das hat mich auch - echt mitgenommen, zwei Freundinnen so verlieren zu müssen. (4/23-30)
Dilan Karatay kann sich somit zwar als ‚standhaft‘, prinzipientreu und ihren Freundinnen überlegen präsentieren, jedoch kann sie die mit Sorge und Unverständnis betrachtete Entwicklung ihrer Freundinnen nicht aufhalten. Sie wird von ihnen gewissermaßen ‚verlassen‘. Der Verlust der Freundinnen im Laufe der Schulzeit wird als eine schmerzhafte und enttäuschende Erfahrung ausgewiesen, die die Biographin als eine Form von Verrat an der Gemeinschaftlichkeit und Verbundenheit deutet („die vergessen einen einfach“). Die soziale Verbundenheit, die für Dilan Karatay einen hohen Stellenwert hat und die sie als entscheidend für die Durchsetzung ihres Schulwunschs gegenüber ihren Eltern ausgewiesen hat, wird im Laufe der Gymnasialzeit also brüchig. Auch Dilan Karatays Positionierung im Gefüge der Schulklasse wandelt sich im weiteren Verlauf ihrer Erzählung. 8.2.4 „du bist irgendwie doch die Ausländerin“ – Rassismuserfahrungen in der Oberstufenzeit Neben dem Verlust von Schulfreundschaften thematisiert Dilan Karatay eine weitere biographische Veränderung, die sie zeitlich in der Oberstufenzeit verortet: D: Ähm (1) ja - als ich dann in der Oberstufe war (1) ähm hab ich irgendwie - angefangen irgendwie - auch s=so richtig bewusst wahrzunehmen, ja du bist irgendwie doch di_ne Ausländerin ne? Du bist irgendwie doch anders, mh - warum. Warum merkt man das? An den Lehrern? An den Noten? (1) teilweise, wirklich (1) mh (1) (6/21-25)
Mit einer Rahmenschaltung („als ich dann in der Oberstufe war“) wird eine Zäsur markiert. Dilan Karatay verbindet mit der Oberstufenzeit die (veränderte) Wahrnehmung, „irgendwie doch die Ausländerin“ zu sein. Im Sprechen sucht die Erzählerin nach Belegen, die diese veränderte Positionierung plausibilisieren und veranschaulichen können, sie sucht nach möglichen Antworten auf die (selbst gestellte) Frage nach dem „warum“ bzw. „woran“. Erneut kommt dabei die Leistungsbewertung durch die Lehrer*innen ins Spiel. Es scheint jedoch nicht ganz einfach zu sein, die Hinweise eindeutig zu benennen, die ausschlaggebend für die veränderte Wahrnehmung waren. Neben der für Dilan Karatay nicht immer nachvollziehbaren Benotung durch Lehrer*innen bringt sie ihr verändertes Selbstverständnis auch in Zusammenhang mit Äußerungen ihrer Klassenkamerad*innen und anderen Peers: D: Also, ich hab gemerkt dass meine Freunde äh - zum Beispiel über - Ausländer gesprochen haben oder - Migranten oder w=wie auch immer man das jetzt nennen soll, ähm - und dann immer: ja aber du doch nicht. Oder: ja ihr doch nicht. Ja - ihr seid doch was anderes. Oder mein Nachbar /(lachend) derundder, der ist ja auch nicht so/. Also so richtig - ähm - das hat_das hat mich echt angekotzt. (7/25-30) D: zum Beispiel, es gab ja, es gab noch son paar andere Ausländer mit mir. Ihr seid ja anders, ne? Euch meinen wir ja nicht, ne? Wir meinen damit jetzt nicht euch, und wir meinen auch nicht eure Familie, also wir meinen die und die. Aber wir sind - ne? Also es ist irgendwie komisch. (…)
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I: mhm - und wenn=wenn so was kam, ähm, also mit dem D: erstmal ha=früher hab ich halt nichts gesagt - Ich hab dann immer was gesagt, und weißte was die dann gesagt haben? Ja - öööh - vor Dilan nicht, die mag das nicht - äh - Dilan regt sich über so was auf. (1) /(fassungslos) echt (1) ja./ (30/3-18)
Die Rassismuserfahrung, die Dilan Karatay hier beschreibt, lässt sich als ‚Exklusion durch Verausnahmung‘ bezeichnen: Sie wird zur Zeugin alltagsrassistischer Äußerungen und „Sprüche“ (29/32) über „Ausländer“. Dabei wird sie selbst nicht adressiert, sondern sie wird sogar explizit aus dem Kollektiv der Migrationsanderen, über die gesprochen wird, exkludiert. Sie wird beschwichtigt, indem ihr versichert wird, dass nicht sie die Zielscheibe der rassistischen Äußerung darstellt („euch meinen wir ja nicht“). Zugleich wird sie aus dem ‚Wir‘ der Sprecher*innen ausgeschlossen. Die Logik, nach der die Existenz von ‚Gegenbeweisen‘ zu einer Revision des getroffenen Urteils führen müsste, greift hier ganz offensichtlich nicht. Dilan Karatay wird vielmehr als ‚untypische Ausländerin‘ oder ‚Ausnahmemigrantin‘ positioniert. Ihre Freunde müssen ihr Urteil über die Kategorie „Ausländer“ dadurch nicht infrage stellen. Dilan Karatay wird durch diese doppelte Exklusion die Möglichkeit der Artikulation weitgehend entzogen; es wird ihr keine Sprecherinnenposition zugestanden, aus der heraus sie Stellung beziehen und Partei ergreifen könnte. Auf die (unvollständig formulierte) Frage nach ihrem Umgang mit solchen Situationen konstruiert Dilan Karatay eine Veränderung in ihrer Haltung: Während sie in solchen Situationen „früher“ geschwiegen habe, ergreift sie später das Wort und artikuliert Widerstand. Allerdings führt dies keineswegs dazu, dass ihre Klassenkamerad*innen ihre Äußerungen reflektieren. Sie nehmen lediglich ‚Rücksicht‘ und unterlassen rassistische Äußerungen im Beisein der Biographin („vor Dilan nicht“). Dadurch wird sie ein zweites Mal vom Diskurs ausgeschlossen. Ihre Empörung wird als ein persönliches Problem ausgelegt, das sich in einer unangemessenen emotionalen Reaktion äußert („Dilan regt sich auf“), auf das Rücksicht genommen werden muss. Der Alltagsrassismus der anderen wird damit zu Dilan Karatays persönlichem Problem gemacht, während diese sich selbst in ihrer Überlegenheit bestätigen. Darüber hinaus wird das bestehende Machtverhältnis auch noch auf einer anderen Ebene fortgeschrieben: Es liegt in der Hand der anderen, zu entscheiden, ob und wann sie ‚Rücksicht nehmen‘ wollen. Trotz ihrer Gegenrede bleibt es der Erzählerin damit letztlich kaum möglich, die Position des Unterlegenseins zu transzendieren. In ihrer retrospektiven Darstellung wird jedoch deutlich, dass sich die Biographin hoch reflexiv auf diese Ausgrenzungserfahrung bezieht und sie als verletztend deutet, ohne sie aber ganz sicher in Kategorien fassen zu können („irgendwie komisch“). Rassismuserfahrungen macht Dilan Karatay nicht nur in der Schule, sondern auch in anderen sozialen Beziehungen. In der zwölften Klasse beginnt sie – zunächst gegen den Willen ihres Vaters, der seine Tochter noch für zu jung hält, – eine Liebesbeziehung mit einem Jungen. Dilan Karatay führt diese als „deutsch-türkisch[e]“ (7/41) Beziehung ein, die sie als „sehr schwer aber auch sehr schön“ bilanziert. Die Probleme in der Beziehung mit dem Freund liegen unter anderem in dessen Freundeskreis:
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D: mh (1) - ja dann auch - also - man merkte halt wie=wie wie manche Leute einfach gesprochen haben, auch seine Freunde ne? und sein bester Freund. Ähm - mit dem hat er dann äh irgendwann den Kontakt abgebrochen weil der so - rassistisch war. Der war auch echt offen rassistisch. (7/43-8/2)
Durch den „besten Freund“ des eigenen Freundes wird Dilan Karatay mit „offen[em]“ Rassismus konfrontiert. Dieser wird damit als mächtiger und unhintergehbarer Bestandteil der eigenen Alltagswelt ausgewiesen. An anderer Stelle findet sich eine Belegerzählung, in der das Ausmaß und die Form des Rassismus im Freundeskreis ihres damaligen Freundes deutlich werden: D: Da waren wir zum Beispiel auf ner Feier - ne Geburtstagsfeier von nem Freund von ihm und irgendwie hatte jemand so _ das ist echt son Arschloch, ne? So ähm - solche ähm - ja Schuhe an und äh, da haben wir darüber gesprochen, die sind neu und bla bla bla und dann meinte er ja äh, die hab ich damit j=ich Türken die Fresse einschlagen, oder eintreten kann oder so ne? Boa, und dann ist mein Freund - so ausgerastet und hat sich fast mit dem geschlagen. (1) Das muss nicht sein (lacht) - ja, aber ähm - der ist so ausgerastet und meinte so bist du eigentlich bescheuert? also, weißt du eigentlich mit wem ich zusammen bin? und mit was für Leuten du am Tisch sitzt? ne, oder der Typ - boa, also, (klopft auf den Tisch) DASS DIE DEN KONTAKT ZU SOM WICHSER NICHT ABBRECHEN, OBWOHL ICH DABEI BIN, NE? Das kotzt mich an - wie kann der mit mir an einem Tisch sitzen? Ich hab auch immer zu ihm gesagt, wenn der dann kam, oder=also=wir _ äh, ich hatte noch n marrokanischen Freund I: ja D: hm, hab ich immer gesagt ja - geh und verpiss dich, setzt dich an einen anderen Tisch, wenn wir so- scheiße sind. Ha=ich - ich sag dann sowas, es ist mir scheißegal, was wer denkt, ich sag auch zu jedem - also mich regt sowas einfach auf, ich kann auch nicht - ich kann nicht mehr still sein - ja. (30/23-39)
Dilan Karatay wird hier zur Zeugin brutaler Androhungen rassistischer Gewalt, von denen sie auch selbst potenziell betroffen ist. Auch in diesem Fall sind es keine anonymen Fremden, sondern Personen aus dem Freundeskreis ihres Freundes, die sich rassistisch äußern. Die Biographin wird in der Situation von ihrem (‚deutschen‘) Freund beschützt, der sich vor sie stellt; durch seine Bereitschaft, sich notfalls für sie zu schlagen, wird dessen Mut betont, sich seinem Freund entgegen zu stellen.10 Dilan Karatay konstruiert sich jedoch nicht nur als potenzielles Opfer der rassistischen At10 Zwar betont die Biographin, dass ihr Freund mit seinem ehemals besten Freund gebrochen habe. Seine Distanzierung geht ihr jedoch nicht weit genug, denn er pflegt weiterhin Freundschaft mit Personen, die solche rassistischen Angriffe „lustig finden“. Darin sieht sie einen wesentlichen Grund für ihre spätere Trennung: „Die finden sowas lustig (1) Und dann - wissen die ja genau, dass ich - ich sag denen dann da - was, ne? Ich hab auch nicht=mit den Leuten hab ich auch einfach nichts mehr zu tun, ich glaub - auch deswegen sind Markus und ich nie - so (2) angekommen, weil - solche dummen Leute um uns herum waren, und Markus sich einfach nicht anders orientieren kann. Weil er immer noch solche dummen Freunde hat und ich find man muss solche dummen Freundschaften nicht pflegen, - ne? Weiß ich nicht, das passt dann nicht, dann soll er sich ne deutsche Freundin suchen. mh, also - ich kann mir das nicht reinziehen.“ (31/15-22)
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tacke und als abhängig vom Schutz ihres Freundes. Sie beschreibt sich auch als Akteurin, die sich nicht einschüchtern oder vertreiben lässt, sondern den betreffenden ‚Freund‘ ihrerseits von sich fern hält bzw. ihm einen Verweis erteilt. Ähnlich wie in der Situation mit den Klassenkamerad*innen ergreift sie das Wort und erhält sich dadurch eine gewisse (wenn auch eng begrenzte) Handlungsmacht. Zwar bricht ihr Freund den Kontakt zu diesem Freund ab, jedoch äußert er selbst sich zeitweise ebenfalls auf eine Art und Weise, die Dilan Karatay als „Angriff“ wahrnimmt: D: Ähm dann bin ich ähm - wir hatten echt viele Konflikte auch am Anfang - äh weil ich - so vieles einfach so - mh - wie soll ich sagen? Wenn er sich dann ausgedrückt hat dann eh dachte ich so boh, das is n Angriff gegen mich. /(lachend) ne?/ Also äh er äußert sich irgendwie so komisch. Und - man lacht nicht über so irgendwelche Witze die - mit Ausländern sind oder so, das hat mir so weh getan, ne? (1) (9/19-22)
Zwar distanziert sich ihr Freund von offenem Rassismus, jedoch weist Dilan Karatay mit der Formulierung, dass er sich „komisch geäußert“ und nicht klar von rassistischen Witzen distanziert habe, sein Handeln als alltagsrassistisch aus. Die Erzählerin fühlt sich zwar von Markus’ Verhalten verletzt und es kommt zu Konflikten, jedoch kann sie die Bedeutung der Äußerungen ihres Freundes und die eigene Verletzung nicht eindeutig benennen oder dechiffrieren. Sie wiederholt die Inhalte der Aussagen, die sie verletzt haben, nicht, sondern sucht nach Worten („wie soll ich sagen“) und bleibt bei eher vagen Formulierungen. Die Schwierigkeit, die richtigen Worte für sein Verhalten zu finden, kann auf die Subtilität des Rassismus verweisen, kann aber auch als Ausdruck einer paradoxen (Fremd-)Positionierung in der Beziehung gedeutet werden: Dilan Karatay macht die Erfahrung, dass sich für ihren Freund Markus rassistisches Sprechen und eine intime Beziehung zu ihr nicht ausschließen. Dies steht im Gegensatz zu gängigen Erwartungen an eine Liebesbeziehung, die auf wechselseitigem Vertrauen und Wertschätzung basiert. Markus’ Verhalten stellt insofern einen Vertrauensbruch dar. Ähnlich wie in der vorigen Sequenz wird Dilan Karatay aber offenbar auch von ihrem Freund nicht den ‚Anderen‘ zugerechnet, über die rassistisch gesprochen und ‚gescherzt‘ wird; sie ist ‚nicht gemeint‘ (ansonsten wäre Markus’ Verhalten kaum erklärbar). Ihr fällt damit erneut eine paradoxe Position im Diskurs zu, die es schwer macht, sich selbst darin klar zu verorten. Dies spiegelt sich auch in den suchenden Formulierungen wider. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass Dilan Karatay mit dem Beginn der Oberstufe eine Zäsur verbindet, die mit Rassismuserfahrungen in ihrem persönlichen Umfeld in Zusammenhang stehen. Dabei erfährt sie eine doppelte Ausschließung, indem sie (alltags-)rassistischen Äußerungen anhören muss, die hinter ihrem Rücken oder gewissermaßen ‚durch sie hindurch‘ ausgetauscht werden. Dilan Karatay wird weder dem ‚Wir‘ zugerechnet, noch ‚den Anderen‘, über die gesprochen wird; ihr wird eine Position im Abseits zugewiesen, indem sie aus der (imaginären) Gruppe der ‚Anderen‘ gewissermaßen herausdefiniert und zugleich aus dem ‚Wir‘ ausgeschlossen wird.11 Dies führt jedoch nicht etwa zu einer positiven Identifikation mit der ihr zu11 Die beschriebene Form der ‚Verausnahmung‘ kann dabei als eine Form der Positionszuweisung gedeutet werden, die durchaus typisch für die Erfahrungen aufstiegsorientierter
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gewiesenen Position der ‚Ausnahmemigrantin‘, sondern stattdessen zu einer (Selbst-) Identifikation als ‚Migrationsandere‘ („du bist irgendwie doch ne Ausländerin“). Sowohl in der Episode mit den Klassenkamerad*innen als auch in der Sequenz mit dem rassistischen Angriff konstruiert sich die Biographin als widerständig, und in beiden Fällen wird das eigene aktive Eingreifen in die Situation als etwas qualitativ Neues markiert – Dilan Karatay „kann nicht mehr still sein“. Sie markiert damit einen Wandel ihrer Selbstwahrnehmung und ihrer Handlungsweisen, der auch als biographischer Bildungsprozess interpretiert werden kann. Es erscheint zumindest fraglich, dass diese veränderte Wahrnehmung und Selbstpositionierung allein mit veränderten ‚äußeren‘ Bedingungen (z.B. einem zunehmenden Rassismus in Nuray Coúkuns Freundeskreis) zu erklären ist. Im Gesamtzusammenhang der biographischen Erzählung zeigt sich, dass sie (auch) mit einem gesteigerten Bewusstsein für gesellschaftliche Differenz- und Diskriminierungsverhältnisse in Zusammenhang steht. Dieses steht in Zusammenhang mit einem Politisierungsprozess. Dilan Karatay selbst stellt diese Verbindung im Interview zwar nicht explizit her, sie lässt sich aber aus der Struktur der Haupterzählung rekonstruieren. 8.2.5 Politisierung: Erschließung neuer Denkund Handlungsweisen In der dreizehnten Klasse entsteht eine neue Freundschaft, die in Dilan Karatays Haupterzählung als biographisch bedeutsam ausgewiesen wird: Durch ihren Vater lernt sie zwei junge Frauen kennen, die sich gemeinsam mit ihm politisch engagieren. Zu der einen der beiden jungen Frauen entwickelt sich – trotz eines nicht unbeträchtlichen Altersunterschiedes – eine enge Freundschaft. Während die Biographin sich selbst bis zu diesem Zeitpunkt als unpolitisch beschreibt, sich für die Aktivitäten ihres Vaters nicht interessiert und seine Appelle an sie, sich gesellschaftlich zu engagieren, „genervt“ zurückweist, wird die neue Freundschaft zu einem Schlüsselereignis für ihren Politisierungsprozess: „Ja, dann ist ne neue Freundschaft entflammt, echt. Und die ist_dadurch dass sie politisch aktiv war, ich hab mich total mitreißen lassen“ (10/13-14). Die neue Freundschaft wird als plötzliches und ‚zündendes‘ Ereignis dargestellt (sie „entflammt“). Die Freundin wird zu einer Türöffnerin, die Dilan Karatay den Weg zu einer Form des politischen Handelns eröffnet. Diese ist ihr zwar durch ihren Vater vertraut, jedoch rückt sie erst durch die Freundschaft mit einer jüngeren Frau näher an ihre Lebenswirklichkeit heran und erlangt dadurch eine veränderte Bedeutung und subjektive Relevanz. Während die Biographin sich dabei zunächst als passiv beschreibt – die Freundin ist die politische Akteurin, sie selbst lässt sich „mitreißen“ – so verändert sich dies im weiteren Verlauf der Erzählung. D: ähm - und ich bin so glücklich dass ähm - das wirklich dazu gekommen ist - ähm (1) also ich liebe es mich zu engagieren, wir haben ähm - letztes Jahr den Bildungsstreik in G-Stadt, da hab ich viel gemacht - äh (1) ich bin plakatieren gegangen obwohl man d_ nicht darf (lacht) Ich habe viele Sachen gemacht die einfach total toll sind - auch=auch wenn se nicht erlaubt sind Jugendlicher und junger Erwachsener ist, die als ‚Migrant*innen‘ identifiziert werden. Sehr ähnliche Beispiele für diese Interaktionspraxis hat Herman Blom (2011) im Hinblick auf Erfahrung von Polizist*innen, die als Migrationsandere identifiziert werden, beschrieben.
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(lacht), total aufregend, eh - auch mit meinem Papa, also s=super also so vom alten Holz so (lacht) I: (lacht) /(schmunzelnd) mhm/ ja, mhm D: uns das beizubringen und so, is so einfach geil gewesen, ähm - ja - andere Leute kennen gelernt, die auch mal n bisschen was eh im Kopf haben, und nicht immer - an was weiß ich Vergnügen denken oder was, die - n Bewusstsein haben wie es eigentlich auch sein_ ist - also die ihre Augen nicht verschließen vor - irgendwelchen wirklichen Problemen die=die existieren. Ja. - Also - das ist - echt sehr wichtig mittlerweile für mich (10/16-27)
Dilan Karatays Vater wird hier als Vorbild und Mentor konstruiert, der den Jüngeren Orientierung geben und Erfahrungswissen vermitteln kann. Sie selbst tritt gewissermaßen in seine Fußstapfen und lernt von ihrem Vater. Allerdings geht ihr Engagement nicht in den Zielen auf, für die sich ihr Vater einsetzt, sondern Dilan Karatay verfolgt eigene Ziele, die sie selbst und ihre Alltagswelt und damit verbundene Probleme betreffen (Bildungsstreik). Mit dem eigenen Engagement geht auch das Kennenlernen „andere[r] Leute“ einher, die sich in ihrer Weltsicht von ihren bisherigen Freund*innen unterscheiden – sie haben „was im Kopf“, verfügen über ein „Bewusstsein“ über gesellschaftliche Probleme und machen es sich zur Aufgabe, diese zu bearbeiten. Auf Nachfrage geht die Biographin etwas genauer darauf ein, um welche Themen es sich handelt und beschreibt verschiedene kulturelle und politische Aktivitäten, in die sie eingebunden ist. Als persönlich zentral benennt sie dabei das Thema „Gleichberechtigung“, das sie sowohl auf das Geschlechterverhältnis als auch auf das Verhältnis „von Menschen verschiedener Nationen“ (33/4) bezieht. Auch die Auseinandersetzung mit Rassismus spielt eine wichtige Rolle; Dilan Karatay berichtet u.a. über einen Vortrag über die G-Städter Naziszene, den sie erarbeitet und gehalten hat. Das Kennenlernen der neuen sozialen Welt und das Sich-Einlassen auf andere Weltdeutungen und Selbstverständnisse eröffnen der Erzählerin neue Handlungsmöglichkeiten und machen andere Deutungsressourcen für ihre Erfahrungen verfügbar. Die Politisierung markiert eine Veränderung, die als biographischer Wandlungsprozess (vgl. Schütze 1983b: 103ff.; 1984: 92) bezeichnet werden kann: Er kommt für die Biographin überraschend und ohne ihr aktives Zutun und hat veränderte Denk- und Handlungsmöglichkeiten sowie eine soziale Neuorientierung der Biographin zur Konsequenz. Obwohl die Ressource des politischen Handelns im Prinzip bereits lange als Potenzial in der Familie angelegt ist, erlangt sie erst durch das Kennenlernen der Freundin eine subjektive biographische Relevanz. Mit Dilan Karatays Politisierung geht eine Neuformierung ihres Freundeskreises bzw. eine Umordnung ihrer sozialen Beziehungen einher, die zum Zeitpunkt des Interviews noch nicht abgeschlossen ist. D: Ja. Ähm (schnalzt) (1) irgendwann hatt ich dann mein Abi in der Tasche - äh - ja, es war komisch. Zwischen zwei - ich hatte zwei Freundeskreise, einmal die ganz - anders Orientierten, ähm - tja. Äh - politisch organisiert, ähm - dann die - äh nach Vergnügen strebend - das ist immer noch so, ich hab irgendwie immer noch, ich bin immer noch zweigespalten (1) ähm (2) eh weil ich finde auch, viele von denen die - politisch aktiv sind, die quasseln und quasseln und quasseln und die kommen zu nichts. (lacht) also - jeder erzählt seinen Standpunkt und die kommen auch nich_zu nix. Und äh, die ganzen Freunde von meinem Papa die sich auch poli-
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tisch engagieren, äh - die kommen auch nicht - zu irgendwas. Es ist immer nur - Gelaber /(lachend) Gelaber Gelaber/ und - ja. Das ist /(lachend) schade find ich/. (11/7-16)
Dilan Karatays Neuorientierungsprozess überschneidet sich zeitlich mit dem Abitur und damit mit einem institutionell vorgegebenen Bildungsübergang, der Entscheidungen auf anderer Ebene notwendig macht. In ihrer Darstellung scheint der Zustand der Entwicklung ihrer Freundschaften durch den Einschnitt des Abiturs gewissermaßen auf halbem Wege stehen geblieben zu sein. Die Haltung der Erzählerin zu ihren Freund*innen ist mit Abschluss der Schulzeit gespalten – sie positioniert sich zwischen zwei Freundeskreisen, wobei die Kluft, die beide voneinander trennt, einen Zwiespalt für sie bedeutet. Kontrastiert wird eine eher hedonistisches Peer-Gruppe („nach Vergnügen strebend“) mit der Gruppe der „politisch Organisiert[en]“. Während Dilan Karatay sich tendenziell von dem erstgenannten Kreis distanziert, steht sie der zweiten Gruppe ebenfalls nicht unkritisch gegenüber. Sie grenzt sich von der Kultur des „Gelabers“ ab, das sie – generationenübergreifend – als typisch für die politischen Kreise wahrnimmt. Der langwierige Austausch über Positionen („jeder erzählt seinen Standpunkt“) führt nach Auffassung der Biographin dazu, dass konkretes Handeln zu kurz kommt („die kommen zu nichts“). Dilan Karatay nimmt damit eine Randposition ein; sie positioniert sich nicht im Zentrum der Aktivist*innen, sondern nimmt die kritische Haltung einer Person ein, deren eigene Verortung in diesem Kontext noch nicht endgültig geklärt ist.
8.3 „V IELLEICHT
IST DAS U NILEBEN NICHT FÜR MICH BESCHAFFEN “ – DER Ü BERGANG INS S TUDIUM ALS BIOGRAPHISCHE I RRITATION
Die Entscheidung für ein Studium ist für Dilan Karatay klar, jedoch ist sie zunächst „absolut unentschlossen“ (11/19), was sie studieren soll. Dabei hat sie durchaus einen Wunsch – sie möchte wie ihr Vater Pädagogik studieren. Die Studienentscheidung fällt ihr jedoch schwer, weil dieser ihr vom Pädagogikstudium abrät. D: mein Papa äh wollte auf keinen Fall dass ich Pädagogik studier weil er selbst Pädagoge ist (lacht), und er meint äh, du verdienst nicht viel, du reißt dir den Arsch auf, das ist n toller Job, du findest keine Arbeit, ähm - aber ich wollte immer Pädagogin werden, ich fand das immer toll was er gemacht hat. (11/20-24)
Der Vater der Biographin zeigt ihr die ökonomischen Nachteile und Belastungen des pädagogischen Berufsfeldes auf, die er selbst durch seine sozialpädagogische Tätigkeit erfahren hat. Aufgrund seines Rats rückt Dilan Karatay zunächst von ihrem Wunsch ab und orientiert sich in verschiedene andere Richtungen. Unter anderem zieht sie das Studieren von Sprachen in Betracht und strebt schließlich ein Psychologiestudium an. Dies erweist sich allerdings als ein aussichtsloses Unterfangen, weil sie den verlangten Notendurchschnitt nicht vorweisen kann. Dilan Karatay verfolgt jedoch eine rationale Bewerbungsstrategie, indem sie sich neben Psychologie auch für andere Studiengänge bewirbt, darunter auch Pädagogik als erste Alternative. Sie
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erhält schließlich eine Zusage für einen Studienplatz im BA-Studiengang Erziehungswissenschaft in A-Stadt und entscheidet sich dafür, diese Option anzunehmen. Damit folgt sie einerseits ihrem Vater – gegen dessen Wunsch – nach, andererseits nimmt sie ihr Studium, anders als er, an einer Universität, nicht an der Fachhochschule auf und eröffnet sich dadurch erweiterte berufliche Möglichkeiten. 8.3.1 Verzögertes Ankommen: Umzug nach A-Stadt als Autonomiegewinn und Risikopotenzial D: Und dann hab ich meinen Eltern, wirklich, ich hab m_ ich hab diesen dieses Zulassungsbescheid denen vor die Tür gelegt, weil die schon geschlafen haben, /(lachend) und hab noch n Zettelchen dazu geschrieben so ich geh nach A-Stadt/ (lacht) und ich war so - voll - voll fasziniert von=von der Idee, ich dachte du kommst n bisschen weg von den Leuten, du kommst vielleicht tut auch deiner Beziehung Abstand gut und was weiß ich nicht, kriegst n freien Kopf, du stehst auf deinen eigenen Beinen das wollt ich eh immer machen, deswegen bin ich auch nach Amerika gegangen, weil ich dachte - du willst weg von zuhause, ich hab immer gesagt ich will weg von zuhau_egal wie sehr ich meine Familie liebe - egal wie sehr ich die vermisse - ich wollte immer weg, ich wollte immer auf meinen Beinen stehen. Ich mein - klar du stehst nicht auf deinen Beinen deine Eltern unterstützen dich ja irgendwo - aber - ja. Dann kam es also dazu dass ich direkt auch nachm Abi ausgezogen bin, ich bin die Einzige von meinen Freundinnen die ausgezogen ist, und alleine wohnt, das find ich richtig richtig toll (12/11-25)
Der Studienbeginn bedeutet für die Erzählerin in erster Linie einen Ortswechsel und damit die Möglichkeit, sich von Vertrautem (Familie, Freunde, Beziehung) zu lösen und „auf eigenen Beinen“ zu stehen. Dilan Karatay stellt ihren Wunsch nach Autonomie als ein durchgehendes biographisches Handlungsmotiv dar („wollte immer weg“), das bereits bei ihrem USA-Aufenthalt eine Rolle gespielt hat. Das Streben nach Autonomie wird noch dadurch unterstrichen, dass die Biographin in A-Stadt „alleine wohnt“ und nicht gemeinsam mit anderen. In Dilan Karatays Darstellung verbindet sich mit der Entscheidung nach A-Stadt zu ziehen auch ein Moment der symbolischen Distanzierung von den (Schul-)Freundinnen. Der Auszug aus dem Elternhaus nach dem Abitur ist in ihrem Freundeskreis offenbar nicht die Regel, sondern die Ausnahme („ich bin die Einzige“). Jedoch zeigt sich, dass die Erzählerin ihren Umzug nach A-Stadt nicht durchgehend positiv bilanzieren kann. Mit dem Umzug gehen nämlich durchaus gewisse emotionale und soziale Kosten einher. So thematisiert Dilan Karatay, dass ihre Entscheidung für den Auszug für ihre Mutter sehr schmerzlich ist und diese sie bei ihrer Wohnungssuche in A-Stadt daher zunächst nicht unterstützt. Auch aus einem weiteren Grund erweist sich der Umzug nach A-Stadt im ersten Semester als Belastung: D: Ja dann äh hatten wir ne ziemlich schwierige Phase, weil - ja kurz nachdem ich in A-Stadt angenommen bi_ worden bin, die Wohnung hatte, ja dann kam die Nachricht denn der Opa hatte Krebs. Die sind dann hierhin gekommen - und ich war da, es war echt total scheiße, er wurde in F-Stadt behandelt und meine Oma kann kein=kein Auto fahren, ich bin die ganze Zeit gependelt, das erste Semester war einfach so scheiße, ich dachte mir einfach nur, toll warum bist du nach A-Stadt gegangen. Ne? (12/43-13/3)
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Die Erkrankung ihres Großvaters stellt ein unerwartetes Ereignis dar, bedeutet einen Bruch mit der Normalität des Alltags und fordert Dilan Karatays ganze Aufmerksamkeit ein. Die Situation ist nicht nur emotional belastend, sondern erfordert auch organisatorische Solidaritätsleistungen für die Familie, die die Biographin fraglos erbringt. Der Umzug nach A-Stadt und die Distanz zur Familie stellen sich in dieser Situation als Belastung dar; möglicherweise sind auch Schuldgefühle damit verknüpft, nicht noch mehr für ihre Familie da sein zu können. Die Umstände führen dazu, dass Dilan Karatay die Entscheidung für A-Stadt infrage stellt und dort nicht richtig ‚ankommt‘; dies wird durch das Bild des ständigen Pendelns symbolisiert. Die Erkrankung des Großvaters überlagert die Erzählung der Biographin über den Studienbeginn zunächst vollständig – in der Haupterzählung wird dieser nicht unter der Perspektive von Erfahrungen mit der Universität und dem Studium thematisiert, sondern steht allein unter dem Eindruck parallel stattfindender biographisch relevanter Ereignisse, die einen ‚geregelten‘ Studieneinstieg verunmöglichen. Dies setzt sich auch im zweiten Semester fort – nach der Erkrankung des Großvaters ist die Trennung von ihrem Freund das zweite (außeruniversitäre) Ereignis, das Dilan Karatay emotional und zeitlich sehr beansprucht und das Studium überlagert. Die Beziehungsprobleme spitzen sich zu, da ihr Freund offenbar kein Verständnis dafür aufbringt, dass sie sich um ihren erkrankten Großvater kümmert. Dies führt dazu, dass sie „echt keinen Bock mehr“ hat und sie sich von ihrem Freund trennt. Obwohl die Erzählerin die Trennung aus der Gegenwartssituation heraus positiv bilanzieren kann, ist sie zum damaligen Zeitpunkt mit Schmerz und Trauer verbunden („das war grauenhaft, schrecklich“). Zudem werden die Bindungen zu ihren Freund*innen in G-Stadt brüchig. Dies deutete sich bereits in der symbolischen Distanzierung gegenüber den Schulkamerad*innen an, die nach dem Abitur nicht von zuhause ausgezogen sind. Die in G-Stadt verbliebenen Freund*innen haben den mit Dilan Karatays Umzug verbundenen biographischen Übergang ins Erwachsenenleben bislang nicht mitvollzogen: D: Ähm sonst mit den Freunden - ja. Äh - es ist irgendwie - blöd, find ich - äh (1) weiß ich nicht, meine=meine Freunde haben erst mal - nicht geschafft ihren Arsch - nach A-Stadt zu bewegen aus G-Stadt. Also - da hab ich mir so gedacht, ey ich wohn da, ihr erwartet von mir jedes Mal, dass ich nach G-Stadt komme, ihr könntet aber genauso auch mal nach A-Stadt kommen, weil ich hab da ne Wohnung. Es ist nicht - irgendwas, es ist doch mal so, ne? Aber es ist einfach, die checkens einfach nicht, weil, sie selbst noch zuhause bei Mama wohnen. I: /(schmunzelnd) mhm/ D: Es ist wirklich so, und ich kann mir das nicht anders vorstellen, aber sie denken, das wär so für mich so - voll normal jedes Wochenende nach Hause zu kommen, ist es aber nicht wenn man alleine wohnt. (36/39-37/7)
Dilan Karatay thematisiert aber auch den Verlust einer Freundin, den sie mit ihrem Umzug unmittelbar in Verbindung bringt, indem sie das Ende der Freundschaft darauf zurückführt, „dass ich sie [die Freundin, D.S.] einfach hiergelassen hab“ (12/28-29). Der hoffnungsvoll antizipierte „Abstand“ von signifikanten Anderen in G-Stadt durch den Umzug nach A-Stadt stellt sich für Dilan Karatay somit nicht als ganz unbeschwert dar; er impliziert auch die Notwendigkeit, Beziehungen neu aus-
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zuhandeln und hat eine (zumindest temporäre) Entfremdung von denjenigen zur Folge, die sie bei diesem Schritt nicht begleiten. Die parallel zum Studienanfang stattfindenen Ereignisse bedeuten nicht nur eine emotionale Belastung, sondern führen auch dazu, dass die Biographin wenig Zeit in A-Stadt verbringt. Ihre geringe Präsenz in A-Stadt erschwert den Aufbau neuer sozialer Netzwerke und hat auch zur Folge, dass Dilan Karatay an ihrem Studienort „noch nichts Politisches gemacht“ hat. Sie hat noch keine Kontakte geknüpft und befürchtet, dass es nicht leicht sein wird, „in diese Kreise zu kommen“. Sie befindet sich durch den Umzug nach A-Stadt somit in sozialer Hinsicht in einem ‚Dazwischen‘. Sie hat zwar Kontakte zu Kommiliton*innen, aber sie befindet sich in einem Prozess der Neusortierung ihrer sozialen Netze – alte Verknüpfungen werden gelöst oder zerrissen, neue müssen noch geknüpft werden oder ihre Bindungskraft noch unter Beweis stellen. Der Umzug nach A-Stadt hat für Dilan Karatay zum Interviewzeitpunkt also ein ambivalentes Potenzial. Sie kann ihn einerseits als Autonomiegewinn deuten, durch den sie sich von ihren G-Städter Freund*innen abgrenzen kann: Anders als sie hat sie einen Schritt ins Erwachsenenleben vollzogen und stellt ihre Autonomie mit ihrem Umzug unter Beweis. Andererseits ist mit dem geographischen Wechsel aber die Erosion und der Verlust von (haltgebenden) Bindungen verbunden, die biographisch erst bearbeitet werden müssen, und die es Dilan Karatay schwer machen, in den ersten zwei Semestern in A-Stadt und im Studium anzukommen. 8.3.2 „Ich hab mir das ganz anders vorgestellt“ – der Studienbeginn als Befremdungserfahrung Anders als für Nuray Coúkun stellt der formale Zugang zum erziehungswissenschaftlichen Studium (aufgrund des niedrigen NC) für Dilan Karatay keine Hürde dar. Der Einstieg ins Studium gestaltet sich für sie aber in verschiedenen anderen Hinsichten als weitaus herausfordernder als für Nuray Coskun. Eine Dimension der Übergangsproblematik ist bereits deutlich geworden – die Überlagerung des Studienbeginns durch andere biographisch relevante Ereignisse und die damit verbundenen Folgen. Eine weitere, ebenfalls damit zusammenhängende Dimension ist darin zu sehen, dass es Dilan Karatay deutlich weniger ‚reibungslos‘ als Nuray Coúkun gelingt, eine soziale Zugehörigkeit zum Studium zu etablieren. Sie erlebt das Studium in mehrfacher Hinsicht als befremdlich und enttäuschend. Irritationen über die studentische ‚Kultur‘ Ein Aspekt, der sich in Dilan Karatays Erzählung zeigt, ist die Schwierigkeit, einen Zugang zur dominanten studentischen Kultur und den sozialen und kulturellen Praxen ihrer Kommiliton*innen zu finden. Dies zeigt sich in verschiedenen Passagen im Interview, in denen fehlende ‚Anschlüsse‘ thematisiert werden. D: du sitzt in der Vorlesung und alle machen irgendwas anderes. Und ich denk mir immer so hä? /(lachend) warum sitzen die hier alle?/ Die machen die ganze Zeit irgendwas, aber n=n_hören nicht zu. - Äh das ist sehr komisch. Dann denk ich mir immer so warum studiert ihr? /(lachend) Ihr müsst doch nicht studieren/. Ne? I: ja. (1) mhm.
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D: Und - ich hab auch schon oft mich umgedreht und gesagt, könnt ihr bitte leise sein. Ne? Mhm. Dann biste so ne Zicke (lacht) ja, irgendwie ja schon. (1) Weil du willst ja was hören. (lacht) Total blöd. (2) (21/27-37)
Dilan Karatay beschreibt eine Situation in einer Vorlesung, die sie als ‚typische‘ Situation indiziert („du sitzt in der Vorlesung“, „schon oft“). Sie nimmt dabei zwei Perspektiven zugleich ein: die der Teilnehmerin und die der Beobachterin. Gegenstand der Beschreibung ist eine Situation, die aus der Perspektive der unbeteiligten Beobachterin absurd anmutet, aber kein seltenes Phänomen des universitären Alltags ist: Die Studierenden sitzen in einer Vorlesung, deren ‚eigentlicher‘ (institutionell vorgesehener) Zweck es ist, Wissen anzueignen bzw. durch Zuhören etwas zu lernen. Dilan Karatays Kommiliton*innen beschäftigen sich jedoch mit ganz anderen Dingen und unterlaufen damit den offiziellen Zweck der Veranstaltung. Die Erzählerin positioniert sich nicht als Mitglied des Kollektivs der Studierenden, die an deren ‚dissidenten‘ Praktiken partizipiert, sondern als außenstehende Beobachterin, der diese Praxis – scheinbar als Einziger – unverständlich erscheint. Dilan Karatay plausibilisiert ihre Irritation argumentativ mit dem Hinweis auf die Freiwilligkeit des Studiums. Da niemand zum Studium gezwungen wird, ist ihr der subjektive Zweck des Veranstaltungsbesuchs ihrer Kommiliton*innen unklar. Deren Aktivitäten geraten zudem in Konflikt mit ihren eigenen Interessen, denn sie will im Gegensatz zu den anderen „was hören“. Während Dilan Karatay also für sich selbst in Anspruch nimmt, ein legitimes Anliegen für ihren Vorlesungsbesuch zu haben und sich selbstverantwortlich für das Studium entschieden zu haben, spricht sie ihren Kommiliton*innen diese Selbstverantwortung ab und wertet ihre Praxis als illegitim. Damit gerät sie jedoch in eine soziale Randposition: Als sie ihr Interesse den anderen gegenüber durchzusetzen versucht, indem sie um Ruhe bittet, wird dies von den anderen als ‚Zickigkeit‘ ausgelegt. Dilan Karatay nimmt also eine Position ein, die zwar den formalen Regeln und institutionellen Anforderungen durchaus entspricht und diese bestätigt, jedoch bei ihren Kommiliton*innen keine Anerkennung findet. Auch an anderen Stellen zeigt sich, dass Dilan Karatay sich der lokalen studentischen Kultur nicht zugehörig macht. D: Ähm - ich find zum Beisp=ich kann nochmal was sagen zur Infowoche zum Beispiel. Da die Fachschaft kam - kam uns - wir kamen das erste Mal dahin - mit Bier entgegen. Da hab ich so gedacht, oh mein Gott, wie= ihr rep-präsentiert die Uni, wie asozial, ne? Ich hab nichts gegen Alkohol - ge=auf keinen Fall! Ich nicht! Niemals! Aber - da hab ich echt so gedacht, Mann - ne? Voll peinlich. (49/6-12)
Dilan Karatay hat „nichts gegen Alkohol“, aber sie findet es „asozial“, dass sich die studentische Vertretung öffentlich mit alkoholischen Getränken in der Öffentlichkeit zeigt. Nicht die Praxis des Alkoholkonsums an sich steht also in der Kritik, sondern kritisiert wird sie vor dem Hintergrund der Repräsentationsfunktion der Fachschaft und dem Image des Fachs, das den Erstsemester*innen auf diese Weise vermittelt wird. Ebenso wie im vorangegangenen Beispiel nimmt Dilan Karatay auch hier wieder eine distinktive Position gegenüber ihren Kommiliton*innen ein, deren Praxis sie abwertet. Erneut geht es um das Thema Verantwortung, diesmal die mangelnde Verantwortung der Fachschaft für das Image des Fachs und seiner Studierenden. Ihre
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Kommiliton*innen verhalten sich nicht so verantwortlich wie Dilan Karatay dies von ihnen erwarten würde. Neben diesen Irritationen fehlen auch auf anderen Ebenen Anschlussmöglichkeiten. Dilan Karatay findet – ähnlich wie Nuray Coúkun – unter ihren Kommiliton*innen keine Mitstreiter*innen für ihre politischen Ziele: D: Die regen sich alle auf, dass das so in der Fakultät Erziehungswissenschaft so is, ne? Wie es is so. Seminarplätze, sitzen, Tische, blabla, Toiletten, wie alt die noch sind, oder was auch immer - regen se sich alle darüber auf. Es ist Bildungsstreik >klopft auf den Tisch@, in A-Stadt, und wer geht dahin? Nur ich! (lacht kurz) Ja. Warum? Warum gehen auch nicht meine anderen Studienkolleg*innen dahin? Zwei Stück hab ich da hin ge_ dahinge - boxt quasi. Die andern nicht. Und die sind auch noch später gekommen. Ich war ganz alleine auf der Demo (lacht) /(lachend) weil ich dachte mir so, nur weil ihr blöden Zicken nicht geht soll ich jetzt auch zuhause sitzen? I: mhm (schmunzelt) D: /(schmunzelnd) ja. Auch blöd. (3)/(22/29-38)
Obwohl die Missstände des Studiums für alle offensichtlich sind und sie von den Studierenden kritisiert werden, gibt es offenbar wenig Bereitschaft, dem Unmut auch öffentlich Luft zu machen. Die Situation wird von der Biographin hier überspitzt und dramatisiert – sie ist die Einzige, die zum Bildungsstreik geht, lediglich zwei Kommiliton*innen kann sie durch Druck („hingeboxt“) mobilisieren, die sie dann zunächst auch noch versetzen. Es entsteht dadurch das Bild, dass Dilan Karatay die einzige Studentin ist, die bereit ist, sich öffentlich für bessere Studienbedingungen zu engagieren. Im gesamtbiographischen Zusammenhang lässt sich dies so interpretieren, dass Dilan Karatay ihre politische Orientierung und ihre Aktivitäten im Studium fortzusetzen versucht, jedoch damit in ihrem neuen sozialen Umkreis ihrer Kommiliton*innen nicht auf Resonanz stößt. Die Biographin betont zwar, dass dies nichts an ihrer eigenen Haltung ändert (sie will nicht „zuhause sitzen“, nur weil die anderen dies tun). Auch an anderer Stelle betont sie, dass ihre engeren Freund*innen im Studium ihre politische Haltung akzeptieren und „nicht falsch darüber denken“ (43/5). Dass sie dies eigens hervorhebt, deutet jedoch auch darauf hin, dass ein gemeinsames Handeln für übergeordnete ‚politische‘ Ziele in weiter Ferne liegt. Erfahrungen mit der Massenuniversität – Universität als anonymer und bürokratischer Raum Neben den sozialen Irritationen werden auch die institutionellen Studienbedingungen für Dilan Karatay zum Anlass für Befremdungserfahrungen. In vielen ihrer Beschreibungen spiegeln sich die Bedingungen einer überfüllten ‚Massenuniversität‘ in Zeiten der Umsetzung der Bologna-Reformen wider. D: Wo wir uns für dieses Modul anmelden mussten. Da mussten wir echt ernsthaft /(empört) da hin gehen morgens, ein Zettelchen ziehen wie beim Arbeitsamt, und dann stundenlang warten bis wir drankamen ne? Da hab ich echt so gedacht wie bescheuert ist das./ Ja und wer zuerst kommt, der mahlt zuerst. Wir waren eine Stunde früher da (klopft auf den Tisch) um dieses Zettelchen zu ziehen und ich war, Nummer, äh - weiß ich gar nicht mehr, Nummer - dreißig oder was, die ersten waren wahrscheinlich um sechs Uhr morgens da damit sie son - Ding da
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ziehen können, und - nur um dann das Modul zu besuchen die se wollen. Das ist doch ungerecht oder? (1) Echt da denkt man so man ist clever /(lachend) man kommt eine Stunde früher/ (lacht) da waren wir echt so - irgendwie doch noch im Nachzug. I: mhm, ja, ja. D: Nächstes Mal wollen wir vor=vor dem Raum zelten, haben wir gesagt. I: (lacht) D: ja, is so. Damit wir auch was wählen können was wir wählen wollen. (1) (42/14-27)
Beschrieben wird hier eine absurd anmutende Situation, in der die Studierenden um ihre Seminarplätze kämpfen müssen. Aufgrund des Andrangs auf eine begrenzte Zahl von Plätzen können ihre Wünsche nur mittels eines Wartesystems bearbeitet werden, wobei diejenigen, die später kommen, das Nachsehen haben. Es geht hier nicht mehr um die Gewährleistung von Wahlmöglichkeiten und möglicher inhaltlicher Präferenzen, sondern um die möglichst reibungslose administrative Bewältigung bzw. ‚Abwicklung‘ einer hohen Zahl von Studierenden. Diese werden dadurch zu (anonymen) Konkurrent*innen, die mit „Nummern“ gegeneinander antreten und sich in der zeitigen Anwesenheit übertrumpfen müssen, um sich ein Mindestmaß an Wahlmöglichkeiten zu sichern. Das Studium wird hier als eine in erster Linie administrative Herausforderung dargestellt, bei der es für die Studierenden darum geht, möglichst wirksame Strategien zu entwickeln, um diese individuell bestmöglich zu meistern. Dilan Karatay macht einerseits deutlich, dass sie bereit dazu ist, sich dieser Herausforderung zu stellen. Mit der Ankündigung, beim nächsten Mal vor dem Raum zu zelten, folgt sie dem Motto, dass ungewöhnliche Umstände kreative Handlungsweisen erfordern. Andererseits skandalisiert sie ihre Studienbedingungen und macht – durch den Vergleich mit dem Arbeitsamt – deutlich, dass sie die erlebte Praxis und den Umgang mit den Studierenden einer Universität nicht für angemessen hält. Auch an anderen Stellen zeigt sich, dass die Bedingungen eines ‚Massenfachs‘ Dilan Karatays Wahrnehmung der Universität maßgeblich strukturieren. I: gibt es - also deine=deine Kontakte oder Begegnungen die du bisher gehabt hast mit äh Lehrenden, mit Dozentinnen Dozenten an der Uni? Kannst du darüber n bisschen was erzählen? D: Also ehrlich gesagt (1) mit keinem so richtig ne? Die sind so fern - da frag ich mich - wie soll ich denn irgendwann sagen - hey, ich schreib bei Ihnen meine Bachelorarbeit. Ne? Die kennen mich nicht, die wissen nicht wer ich bin. Ich bin einer unter Millionen. (lacht) Also ich weiß nicht - ich find das ist auch irgendwie so alles so - alles vo vorges_vor_ ja, vorbestimmt, ne? Wie die Noten gegeben werden ähm wie was ist, wann wie welche Prüfung geschrieben wird - wei_weiß ich nicht - also wie man ersch_ zu erscheinen hat oder auch nicht, ne, also - auf so ner persönlichen Ebene bin ich glaub ich noch keinem begegnet. So richtig. (44/11-17)
Aufgrund des schlechten Betreuungsschlüssels kann sich Dilan Karatay bislang an keine persönlichen Kontakte mit Lehrenden erinnern. Sie erlebt sich als Element in einer anonymen Menge, als „einer unter Millionen“ Studierenden, die nicht erwarten kann, dass Lehrende sie kennen. Die Prüfungen, die potenziell eine Gelegenheit bieten würden, in einen persönlichen Kontakt zu treten, werden in Form von standardisierten Klausuren abgewickelt und geben den Studierenden keine Gelegenheit, als Individuen aus der Masse hervorzutreten. Diese Umstände führen dazu, dass die Do-
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zent*innen Dilan Karatay unerreichbar erscheinen („die sind so fern“) und es für sie derzeit noch unvorstellbar ist, eine Lehrperson anzusprechen und für die Betreuung ihrer Bachelorarbeit zu gewinnen. Lehrende und Studierende stehen sich in dieser Darstellung als anonyme Akteur*innen gegenüber, deren Welten miteinander unvermittelt sind, und es ist unklar, wie die Kluft zwischen ihnen überbrückt werden kann. An anderen Stellen im Interview stellt sich interessanterweise heraus, dass Dilan Karatay durchaus einzelnen Lehrenden persönlich begegnet ist – etwa im Rahmen einer Hausarbeitsbesprechung und, was als herausgehobenes Ereignis präsentiert wird, in einem ‚Vorstellungsgespräch‘ für eine Tutorinnen-Stelle (vgl. Kap. 8.4). Diese besonderen Situationen treten aber offensichtlich hinter die alltäglich präsente Erfahrung des anonymen Massenbetriebs zurück und führen (noch) nicht zu einer grundlegend veränderten Wahrnehmung des Studierenden-Lehrenden-Verhältnisses seitens der Biographin. Zwischen Verschulung und Selbstorganisation Eine weitere Irritation, die von der Biographin thematisiert wird, betrifft das Spannungsverhältnis zwischen ihrer Erwartung an ein akademisches Studium und dessen Verschulung. Dilan Karatay beginnt ihr Studium mit der Erwartung, sich selbstständig mit Inhalten zu beschäftigen, die sie interessieren. Vor dem Hintergrund der Studienerfahrungen ihres (damaligen) Freundes verbindet sie die Praxis des Studierens mit der Vorstellung, etwas zu tun, was „einen erfüllt“ (14/13). Diese Erwartung wird jedoch enttäuscht. Dilan Karatay befindet sich in einem modularisierten (Massen-) Studiengang, der sich u.a. dadurch auszeichnet, dass die Studierenden eine Vielzahl an standardisierten Prüfungen absolvieren müssen. Diese Prüfungsform strukturiert auch die Lernkultur der Studierenden. Die Erzählerin setzt sich dazu in ein kritisches Verhältnis: D: Also (2) ähm - ich bin - so a=absolut dagegen, äh - , dass wir einfach nur das sagen müssen, was=was die hö=hörn wolln - und immer nur das wiedergeben, was die uns gesagt haben. (2) Ähm (3) Ich merk das an mir selber, du wirst einfach - blöde. Du weißt einfach selbst dann nicht mehr was - du denkst. Ne? Du hast ja gar keine Gelegenheit - zu denken. Und selbst zu reflektieren, was=was du meinen würdest. (…) (2) Ich hatte zum Beispiel eine Klausur, da hab ich echt original _ ich hab die Folien einfach _ die hatte so Lücken gelassen oder - was auch immer, so die Überschrift von der Folie, wie die war. Und du hast einfach genau die Folie da hingeschrieben. (…) (2) Aber ich merk das wirklich a=an mir selber. Ich kann mir selbst keine Meinung mehr bilden - so - in der Hinsicht dann. (1) Wie soll ich das dann machen? (2) Das ist echt (lacht) traurig. (49/26-50/10)
In der Prüfung werden die Inhalte der Vorlesung so abgefragt, dass die Studierenden die Aufgabe am erfolgreichsten bewältigen, wenn sie den Inhalt der Vorlesungsfolien möglichst originalgetreu reproduzieren. Die möglichst genaue Widergabe der erlernten Inhalte wird belohnt, es bleibt kein Raum für eigenes Denken. Diese Lehr-Lernund Prüfungskultur hat aus Dilan Karatays Sicht negative Konsequenzen: Die Studierenden werden dadurch „blöde“. In der Formulierung „ich kann mir keine Meinung mehr bilden“ wird diese Lernkultur als Ursache für eine regressive Entwicklung der Studierenden ausgewiesen, die sie an sich selbst beobachtet. Die Universität wird dadurch als ein Raum konstruiert, in dem das Gegenteil von dem geschieht, was als
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Auftrag der Universität gilt: Sie sorgt dafür, dass die Studierenden gewissermaßen im Stadium der ‚Unmündigkeit‘ gehalten bzw. sogar in diesen Zustand zurück versetzt werden. Dass die Biographin die fehlende Förderung der Urteilsfähigkeit der Studierenden problematisiert, zeigt an, dass sie sich mit der ihr zugewiesenen Rolle als Reproduzentin angelernter Wissensbestände nicht identifiziert. Dilan Karatay scheitert nicht an der Bewältigung der Studienanforderungen, sondern sie hat eine Vorstellung davon, was Studieren bedeuten könnte, die mit dem vorgefundenen Anforderungsprofil nicht harmoniert. Ihr – sicherlich auch familial vermitteltes – Bildungsverständnis und die Erwartungshaltung, dass es im Studium darum gehe, die eigene Analyse- und Urteilsfähigkeit zu schulen, erfüllen sich nicht bzw. finden unter den gegebenen Bedingungen der Studienorganisation keine Resonanz. Es zeigt sich zudem, dass die mangelnde Übung darin, sich selbstständig Inhalte zu erarbeiten, an anderen Stellen im Studium zu Nachteilen führt. Das Studium ist nämlich nicht durchgängig ‚schulisch‘ strukturiert und organisiert, sondern es gibt immer noch Situationen und Räume, in denen die Studierenden dazu aufgefordert werden, selbstständig wissenschaftlich tätig zu werden. Dilan Karatay berichtet beispielsweise von der Erstellung einer Hausarbeit, bei der den Studierenden kein Thema vorgegeben wird, sondern sie sich selbst ein Thema suchen und dieses adäquat eingrenzen sollen. Dies führt bei Dilan Karatay und ihren Studienkolleg*innen zu Unsicherheiten, weil sie nicht wissen, „was sie [die Dozentinnen, D.S.] hören wollen“ (47/20-21). Die Orientierung daran, was Lehrende „hören wollen“ lässt sich dabei als Ausdruck einer Haltung deuten, die durch die Praxis von Großvorlesungen und standardisierten Prüfungen eingeübt wird. In anderen Veranstaltungsformen führt diese Haltung zu Schwierigkeiten und im schlechten Falle also dazu, dass die Studierenden der Anforderung an selbstständiges Arbeiten nicht entsprechen können. Die Diskrepanz zwischen Dilan Karatays Erwartung an das Studium als Raum für Selbstentfaltung und den ernüchternden Erfahrungen eines „Paukstudiums“ (Köhler/Bülow-Schramm 2008 [o.S.]) bearbeitet sie unter anderem dadurch, dass sie beginnt, ihre Eignung für ein universitäres Studium bzw. ihre Passung zur Universität infrage zu stellen: D: also ich m=mags nicht weil (1) ich finde da ist soviel Input - und die wollen dass du den ganzen Input einfach genau so wiedergibst. (1) Nee, also - ich stell mir das ganz anders vor. Und ich finde, du kriegst immer so Brocken (klopft auf den Tisch) serviert, und dann - was sollst du mit diesen ganzen Brocken machen? Du - du - als Pädagogin arbeitet do_man doch nicht später mit solchen bl=blöden Sachen die man da irgendwie aufgesetzt kriegt. Ne? Ich stell mir das ganz anders vor. Vielleicht ist das Unileben nicht für mich beschaffen, hab ich das_könnte ja sein. (14/27-33)
Anders als Nuray Coúkun, die ein quasi natürliches ‚Passungsverhältnis‘ zwischen sich und der Universität konstruiert, wird die Herstellung und Präsentation einer solch fraglosen Zugehörigkeit zur Universität für Dilan Karatay durch die Befremdungserfahrungen, die mit dem verschulten Studium verbunden sind, erschwert. Obwohl sie die Studienanforderungen formal erfolgreich bewältigt, kann sie sich nicht als fraglos zugehörig präsentieren, weil sich ihre Vorstellung vom Studium nicht mit den tatsächlichen Erfahrungen deckt (Wiedergabe von „Input“, „Sachen“, die man „aufgesetzt kriegt“). Dilan Karatay nimmt wahr, dass „das Unileben“ ihrer biogra-
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phischen Disposition nicht entspricht und hält es aufgrund dieser Diskrepanz für möglich, dass sie nicht am richtigen Ort ist. Es entsteht hier also die Situation, dass Dilan Karatays enttäuschte Erwartung an ein eigenverantwortliches akademisches Studium zum Anlass für eine – zumindest partielle – Infragestellung von Zugehörigkeit zum sozialen Kontext Universität wird. Daran knüpft sich für die Biographin die Frage, ob die Fachhochschule vielleicht eine Alternative sein könnte, die ihren Vorstellungen vom Studium näher kommt. Allerdings ist dies nicht die einzige Strategie, mit der Dilan Karatay die Irritationen beim Studienbeginn bearbeitet. Im Interview zeigen sich auch deutliche Versuche, die Erfahrung der Befremdung aktiv zu bearbeiten.
8.4 „ ICH FÜHLTE MICH DANN ANGESPROCHEN “ – ‚M IGRATIONSGESCHICHTE ‘ ALS R ESSOURCE UND B ESONDERUNGSPOTENZIAL Trotz der Irritationen, die Dilan Karatays Verhältnis zur Universität kennzeichnen, beendet sie ihre Haupterzählung zunächst mit einem hoffnungsvollen und freudigen Ausblick auf das bevorstehende dritte Studiensemester. Den Ausgangspunkt dafür bildet die kürzlich erfolgte Trennung von ihrem Freund, die als Grundlage für die Besinnung auf eigene Pläne und Aktivitäten konstruiert wird: D: es geht mir, seitdem ich getrennt bin, so gut, so lange ging es mir nicht mehr so gut, ich glaub das war - auch - ich weiß nicht, das war - so eine schöne Beziehung also so - schön also (1) weiß ich nicht, immer so auflebend, immer so glücklich und weiß ich nicht aber - irgendwie dann auch total schrecklich, hab ich gemerkt, also das muss mich ja echt überall mit runtergezogen haben, äh weil ich mich so gut fühle wie noch nie (…) Ehrlich, ich bin gut drauf, ich mach was ich will, ähm ich hab mich jetzt für Sportkurse angemeldet voller Elan ne (lacht), ähm, ich freu mich total auf das dritte Semester, ich hab jetzt sogar auch noch n Job, bei Frau Schmidt bin ich jetzt ähm, Tutorin, I: wow D: ähm ich hoffe, jetzt einfach alles anders angehen zu können (13/19-31)
Der Trennungsprozess stellt sich für Dilan Karatay – ebenso wie die Beziehung selbst – als eine intensive und ambivalente Erfahrung dar. Sie beinhaltet einerseits einen Prozess von Schmerz und Trauer, der auch zum Interviewzeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist. Andererseits wird die Trennung vom Freund auch als eine Befreiung von einer Last konstruiert. Die Deutung der Trennung als Befreiung ermöglicht es der Biographin, ihren Blick nach vorn zu richten und sich wieder stärker an ihren eigenen Wünschen und Interessen zu orientieren („ich mach was ich will“). Sie präsentiert sich als Akteurin, die durch die Trennung Lebensfreude, aber auch Stärke und Souveränität zurück gewinnt und ihr Leben selbstbewusst in die Hand nimmt. Die Dynamik dieses (zweiten) Aufbruchs (nach dem Auszug aus dem Elternhaus) wird durch die verschiedenen Aktivitäten plausibilisiert, die Dilan Karatay seit ihrer Trennung bereits in Angriff genommen hat. Dazu zählt auch die Aufnahme einer Tätigkeit als Tutorin bei einer namentlich genannten Professorin, was in Kontrast zu der
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zuvor beschriebenen Anonymität im Verhältnis zwischen Lehrenden und Studierenden steht. Dies kann als erster Hinweis darauf interpretiert werden, dass die Biographin ihre Befremdungserfahrungen zu überwinden versucht, indem sie durch die Tätigkeit als Tutorin aktiv eine Zugehörigkeit zur Universität aufbaut. Im Nachfrageteil komme ich auf diesen Punkt zurück und frage danach, wie es zu dem Job als Tutorin gekommen ist. Dilan Karatay berichtet daraufhin von ihrer Teilnahme an der Vorlesung von Frau Schmidt: D: und dann hat sie auch im Laufe der Vorlesung gesagt dass eine Tutorin von ihr halt aufhört, und äh dass sie gerne jemanden - dafür ähm - gewinnen wollen würde der jetzt in diesem Semester die Vorlesung besucht hat. Und da hab ich gedacht ja, total geil, ähm - macht sich gut wenn du - ja ich denk mal schon dass sich das sehr gut macht wenn man dann hinterher irgendwie sagt ja ich hab an der Uni - Erfahrung oder was ne? Und ähm - ich finde das Thema ist einfach super von Frau Schmidt, ich_also_bist du da bekannt was die da hat oder? - Es geht halt immer so ähm, Migration und Bildungsungleichheit, und, die beleuchtet das dann aus verschiedenen Perspektiven. Einmal ähm aus dem f=familiären Bereich und dann ähm - also - mit - Blickpunkt Schule. Und dann hat sie zum Beispiel bei dem familiären ähm - Mehrsprachigkeit und all solche Unterpunkte dann nochmal, ja und - ich fand die Vorlesung wirklich sehr sehr interessant, sehr informativ, das war eine der Sachen die also - n_weiß ich nicht Vorlesungen, Seminare, Veranstaltungen, die mir am besten gefallen haben. Und - ich denke auch wenn ich in diesem Bereich bleiben sollte, dass mich das am meisten interessieren wird. Auch mit meinem - ich hab ja selbst Migrationshintergrund, is ja klar. Okay aber - manche finden das gar nicht so - ne, also ich f=fühlte mich dann angesprochen. Ja und dann hab ich gedacht ja - probierst dus, und dann hab ich Glück gehabt, und sie hat mich zum Vorstellungsgespräch eingeladen, ja. Und /(lachend) ich war so absolut - nervös/ (lacht) und völlig fertig irgendwie, und ich dachte mir so mein Gott /(lachend) du sitzt ner Professorin gegenüber und musst dich mit der unterhalten/ - aber es hat ja ganz gut /(lachend) hingehauen, ne?/ Zum Glück. (44/30-45/4)
Die Erzählerin beschreibt ihren Weg zum Tutorium als Prozess, in dem sie eine Gelegenheit ergreift: Die Professorin kündigt an, dass sie eine neue Tutorin aus dem Kreis der Vorlesungsteilnehmenden sucht. Dilan Karatay erfüllt diese formale Voraussetzung und begeistert sich für diese Möglichkeit, was sie mit verschiedenen Argumenten begründet. Die Tutorinnen-Tätigkeit wird zunächst allgemein als potenziell nützliches ‚Aushängeschild‘ für den Lebenslauf antizipiert (der Nachweis von Arbeitserfahrung an der Hochschule „macht sich gut“). Neben diesem strategischen Argument begründet Dilan Karatay ihr Interesse an der Tutorinnen-Tätigkeit inhaltlich: Das Thema der Vorlesung, Migration und Bildungsungleichheit, hat ihr Interesse geweckt. Mit der Formulierung „am besten gefallen“ weist sie der Vorlesung im Vergleich mit ihren anderen Veranstaltungen einen herausgehobenen Status zu. Die Vorlesung ist nicht nur „informativ“, sondern hat die Biographin auch subjektiv angesprochen. Der Themenschwerpunkt der Veranstaltung wird als richtungsweisend für ihren weiteren Studienweg entworfen. Zwar hält Dilan Karatay sich offen, ob sie „in diesem Bereich bleiben“ wird (ob damit der Studiengang oder die Universität im Allgemeinen gemeint ist, bleibt unbestimmt). Jedoch geht sie davon aus, dass das Thema Migration und Bildungsungleichheit im Falle ihres Verbleibs im Studiengang Erziehungswissenschaft an der Universität ihr stärkstes Interesse sein wird. Das Vorlesungsthema wird damit als ein potenzielles Bindeglied zwischen der Biographin
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und der Universität konstruiert, das Dilan Karatay ein ‚Andocken‘ an diesen Kontext ermöglicht. Über das Thema der Vorlesung kann sie eine Zukunftsperspektive für ihr Studium entwerfen und damit prospektiv eine „Verbundenheit“ (Mecheril 2003: 220) zu ihrem Studium herstellen. Ihr Interesse an dem Thema begründet sie auch mit einem weiteren Argument – dem Hinweis auf die eigene familiale Migrationsgeschichte („ich hab ja selbst Migrationshintergrund“). Dieses Argument scheint ihr zunächst nicht erläuterungsbedürftig zu sein („is ja klar“). Der Zusammenhang zwischen den familialen Migrationserfahrungen und dem Interesse am Thema Migration und Bildungsungleichheit wird dadurch als selbstverständlich dargestellt. Gleich darauf korigiert Dilan Karatay diese essentialisierende Deutung jedoch – nicht für alle Studierenden mit diesem Erfahrungshintergrund erzeugt das Thema ‚automatisch‘ eine Resonanz, es handelt sich vielmehr um eine Verbindung, die spezifisch für sie persönlich ist („ich fühlte mich dann angesprochen“).12 Der eigene Erfahrungshintergrund wird damit als eine Ressource und als Resonanzraum für die Entwicklung eines thematischen Interesses konstruiert, das jedoch individuell-biographisch konfiguriert ist. Vor dem Hintergund von Dilan Karatays bisheriger Biographie lässt sich die Ansprechbarkeit für das Thema Bildungs(un)gerechtigkeit u.a. mit ihrem politischen Bewusstseinsbildungsprozess erklären, der sie für diesen Aspekt sensibilisiert. Im weiteren Verlauf wird deutlich, dass die Verbindung des Vorlesungsthemas mit Dilan Karatays eigener Erfahrungsgeschichte nicht nur von der Erzählerin selbst hergestellt wird, sondern auch von ihrer Professorin und künftigen Chefin. I: Und da habt ihr schon drüber gesprochen was=was da auf dich zukommt sozusagen deine Aufgaben? D: (räuspert sich) ja also die Vorlesung verändert sich nicht wirklich - viel aber ähm - sie findet das halt jetzt auch sehr interessant dass ich auch n Migrationshintergrund hab und - die andere Tutorin die sie wohl jetzt noch hat, die hat auch n Migrationshintergrund. Und - sie hat auch gefragt ob man das auch so einfließen lassen könnte in die Vorlesung - /(lachend) von mir aus, mir egal/ - ne also - ganz ehrlich mir ist das egal, solange ich jemandem damit - helfen kann warum nicht? (45/9-16)
Meine Frage zielt darauf ab, etwas über die Inhalte des Vorstellungsgesprächs zu erfahren, wobei ich unterstelle, dass es in dem Gespräch um die künftigen Aufgaben als Tutorin gegangen ist. Dilan Karatays Antwort legt nahe, dass die TutorinnenTätigkeit sich auf die Unterstützung der Vorlesung fokussiert. Mit dem Hinweis darauf, dass die Vorlesung sich wenig „verändert“, wird einerseits eine Routine angedeutet, die sich auf die Konzeption der Vorlesung bezieht und vermutlich auch Konsequenzen für die Aufgaben der Tutor*innen hat. Es werden keine völlig neuen Aufgaben an sie gestellt, sondern sie kann sich an der Arbeit ihrer Vorgänger*innen orientieren. Eine Abweichung von dieser Routine stellt der Umstand dar, dass Dilan Karatay – ebenso wie die zweite Tutorin – „auch n Migrationshintergrund“ hat. Die
12 Der Satz impliziert darüber hinaus einen doppelten Sinngehalt: den einer individuellen Vorliebe (das Thema spricht Dilan Karatay an) und den eines Adressierungsvorgangs, der ein Echo erzeugt (sie wird angesprochen).
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familiale Migrationsgeschichte der Biographin weckt die Aufmerksamkeit und das Interesse der Professorin. Zudem wird die Biographin danach gefragt, ob sie damit einverstanden sei, dass dies in die Vorlesung ihrer Professorin „einfließen […] könnte“. Zwar erläutert die Biographin nicht genauer, welche Vorstellung damit konkret verbunden ist (möglichwerweise war dies auch nicht Gegenstand des Gesprächs). Es entsteht jedoch der Eindruck, dass Dilan Karatays familiale Migrationsgeschichte zum Lerngegenstand in der Vorlesung gemacht werden soll. Ihre betont indifferente Posititionierung dazu („von mir aus, mir egal“) lässt sich dabei als eine implizite Distanzierung lesen, wenn sie die Anfrage auch nicht explizit zurückweist – was in dem beschriebenen Setting des Vorstellungsgesprächs nur schwer möglich wäre. Indem sie die Frage retrospektiv als Hilfeersuchen der Professorin auslegt, nimmt Dilan Karatay zudem eine Umdeutung der Machtverhältnisse in der Situation vor: Die Professorin wird als hilfesuchend konstruiert, während sie über eine ‚passende‘ Biographie verfügt, mit der sie die Professorin bei der Vorlesung unterstützen („helfen“) kann. Durch diese Situationsdeutung wird die Besonderung, die in der Anfrage enthalten ist, zwar nicht außer Kraft gesetzt, aber sie wird doch so bearbeitet, dass Dilan Karatay sich selbst als handlungsmächtig präsentieren kann.
8.5 F AZIT UND VERGLEICHENDE Ü BERLEGUNGEN ZUM F ALL N URAY C OùKUN 8.5.1 Lebensgeschichte bis zum Studium Die biographischen Ausgangsbedingungen in den Fällen Nuray Coúkun und Dilan Karatay weisen formal betrachtet viele Gemeinsamkeiten auf. Beide Biographinnen sind als Töchter türkisch-kurdischer Eltern in Deutschland geboren und wachsen im großstädtischen Raum auf. Nuray Coúkun und Dilan Karatay sind jeweils das erste Kind ihrer Eltern, beide haben ein jüngeres Geschwister. Sie kommen aus Familien, in denen das Streben nach Bildung und Autonomie bereits in der Elterngeneration eine hohe Relevanz hat. Dies zeigt sich in den Migrationsgeschichten der Eltern ebenso wie in deren Bildungsgeschichten und ihren formalen Bildungsabschlüssen. Weitere ähnliche Voraussetzungen sind das politische Engagement mindestens eines Elternteils, womit auch die Einbindung in ein breites Netzwerk sozialpolitisch engagierter Akteur*innen verbunden ist. Darüber hinaus gibt es die Parallele, dass in beiden Familien eine ‚Tradition‘ pädagogischer Berufe existiert; mehrere Familienmitglieder, darunter der Vater bzw. die Mutter sind bzw. waren als Pädagoge bzw. Pädagogin tätig. Es lässt sich somit von einer bemerkenswert ähnlichen biographischen Ausgangslage sprechen. Die Gemeinsamkeiten bleiben nicht nur auf die objektiven Daten beschränkt, es verbinden sich damit auch gewisse Ähnlichkeiten der biographischen Handlungsmuster und Erfahrungshaltungen der Erzählerinnen. Beide präsentieren ihre Eltern als ‚starke‘ Akteur*innen mit Vorbildcharakter. Ähnlich wie Nuray Coúkun konstruiert auch Dilan Karatay sich selbst ebenfalls als handlungsmächtige Akteurin, die sich bereits als Kind Autonomiespielräume erkämpft und ihren Bildungsweg in die eigenen Hände nimmt – gegebenenfalls auch gegen die Wünsche ihrer Eltern. Das Stre-
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ben nach Autonomie und einem eigenen Lebensentwurf zeigt sich an verschiedenen Stellen, allerdings gestaltet sich Dilan Karatays Emanzipationsgeschichte weit weniger dramatisch als Nuray Coúkuns. Allerdings spielen dafür in beiden Fällen Beziehungen zu signifikanten Anderen eine Rolle. Während die Beziehung zu ihrem Freund in Nuray Coúkuns Biographiekonstruktion jedoch ein ‚Vehikel‘ darstellt, um gegen ihre Mutter zu opponieren, werden Beziehungen zu anderen in Dilan Karatays Erzählung eher genutzt, um Erfahrungswelten jenseits ihres Elternhauses zu explorieren und dadurch ‚kleine‘ Schritte auf dem Weg in die Selbstständigkeit zu machen. Dilan Karatay weitet ihre Spielräume sukzessive aus: Sie handelt zwar nicht immer in Übereinstimmung mit den Eltern (dies zeigt sich beispielhaft an dem Beginn ihrer Beziehung und dem Auszug von zuhause), letztendlich werden ihre Schritte aber akzeptiert und unterstützt. Eine hohe Relevanz haben in Dilan Karatays Biographie die Beziehungen zu Gleichaltrigen, in denen sie sich einerseits als überlegen positioniert, insofern sie bereits früher als die anderen in der Lage ist, für sich selbst Verantwortung zu tragen. Andererseits beinhalten die Beziehungen zu Peers in ihrer Geschichte ein hohes Verletzungspotenzial. Dilan Karatay macht mehrfach die Erfahrung, von Freund*innen, denen sie vertraut, verraten, verlassen oder „vergessen“ zu werden. Dies trifft für die Beziehungen zu ihren Grundschulfreundinnen ebenso zu wie für die zu ihren späteren Schulkamerad*innen und nicht zuletzt für die Beziehung zu ihrem Freund. Dabei spielen auch Erfahrungen mit Alltagsrassismus eine bedeutende Rolle. Dilan Karatays Schulgeschichte gestaltet sich in mehrfacher Hinsicht gegensätzlich zu der Nuray Coúkuns. Während Nuray Coúkun sich als leistungsstarke Schülerin konstruiert, die durch eigenes Verschulden vom eingeschlagenen Weg ‚abkommt‘, gestaltet sich Dilan Karatays Schullaufbahn formal betrachtet ohne Brüche. Jedoch muss sie sich im Gymnasium „durchboxen“ und bessere Leistungsbewertungen teilweise mühsam erkämpfen. Dabei spielt – so die eigene Deutung der Erzählerin – die Praxis der ‚Schubladisierung‘ eine Rolle, die beinhaltet, dass das einmal entstandene Negativbild als schlechte Schülerin nur schwer abzulegen ist. Ob die schlechtere Benotung auch auf Diskriminierung zurückzuführen sein könnte, muss offen bleiben; die Möglichkeit wird von Dilan Karatay zwar erwogen, aber nicht zu einer festen Deutung ‚ausgebaut‘. Die eigene Positionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung wird in Dilan Karatays biographischer Selbstkonstruktion neben dem Erzählbeginn, in dem es um Spracherwerbsprozesse geht, vor allem in ihren Erzählungen über die Schulzeit sowie in Bezug auf lebensweltliche Kontexte ihrer Jugend relevant. In diesen Schilderungen wird Ethnizität als Differenzkategorie durch Mitschüler*innen und andere Peers relevant gemacht. Obwohl Dilan Karatay nicht selbst in direkter Form von rassistischen Angriffen betroffen ist, wird die Frage der eigenen Positionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung durch das Sprechen der anderen für sie bedeutsam. Ebenso wie bei Nuray Coúkun setzt auch in Dilan Karatays Biographie mit dem Beginn der Oberstufe ein Prozess einer veränderten Selbstpositionierung im Kontext ihrer Peers ein. Dieser steht jedoch in einem anderen Erfahrungszusammenhang. Während Nuray Coúkun ihre Gesamtschulzeit in gewisser Weise einen Prozess der De-Ethnisierung bzw. der Befreiung aus einer ‚Selbstghettoisierung‘ konstruiert, verbinden sich für Dilan Karatay mit der Oberstufenzeit Erfahrungen des ‚Othering‘ durch diskursive Ausschließungen. Diese macht sie sowohl im schulischen als auch
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in lebensweltlichen Kontexten in Interaktionsbeziehungen mit Gleichaltrigen. Der in dieser Zeit beginnende Politisierungsprozess der Biographin lässt sich dabei als eine Reaktion auf diese Erfahrungen deuten ebenso wie als ein Prozess, der die Sensibilisierung für alltagsrassistische Ein- und Ausschließungspraxen bestärkt. Das politische Engagement der Biographin lässt sich als eine Strategie der Selbstermächtigung verstehen, die es Dilan Karatay ermöglicht, sich aus der Position der vom Diskurs Ausgeschlossenen in die eines handlungsfähigen Subjekts zu bewegen, das sich in gesellschaftlichen und politischen Diskursen artikulieren kann. In diesem Zusammenhang kommt – ähnlich wie bei Nuray Coúkun – das familiale ‚Erbe‘ des politischen Engagements ins Spiel. Während die Aneignung einer kritisch-politischen Haltung bei Nuray Coúkun als ‚natürlicher‘ Prozess der ‚Einverleibung‘ konstruiert wird („Muttermilch“), wird die Politisierung in Dilan Karatays Fall als bewusster Prozess präsentiert. Beiden gemeinsam ist jedoch, dass dieses familiale Erbe nicht von Anfang an subjektiv bedeutsam ist, sondern erst zu einem späteren Zeitpunkt als Handlungsressource erschlossen wird. In Dilan Karatays Fall wird dies erst durch eine Vermittlungsperson initiiert, die durch ihr Alter zwischen der Biographin und ihrem Vater steht, und durch die es ihr erst möglich wird, einen eigenen Zugang zum ‚Politischen‘ zu finden. In beiden Fällen findet zudem keine direkte Übernahme, sondern eine Form der Neuformierung des familialen politischen Erbes statt. Dilan Karatay eignet sich Deutungs- und Handlungsressourcen aus dem politischen Umfeld ihres Vaters an, nutzt diese aber, indem sie sich für Themen engagiert, die für sie selbst relevant sind. 8.5.2 Das Studium in der Biographie Im Gesamtzusammenhang von Dilan Karatays Lebensgeschichte steht das Studium in einem Erfahrungs- und Deutungszusammenhang des Strebens nach Autonomie und des Erwachsenwerdens. Mit dem Studienbeginn verbinden sich für sie – anders als für Nuray Coúkun – der Auszug aus ihrem Elternhaus und die erste eigene Wohnung in einer fremden Stadt. Die geographische Distanznahme geht auch mit Veränderungen und Verlusten von vertrauten sozialen und lebensweltlichen Bezügen einher. Die Veränderung von Freundschaftsbeziehungen erfolgt von beiden Seiten her – Dilan Karatay distanziert sich von den Freund*innen, die den Schritt in die (räumliche) Selbstständigkeit noch nicht vollzogen haben, und diese begleiten sie nicht in die neue Lebensphase. Die Entfernung vom Wohnort der Familie wird – durch die Erkrankung des Großvaters und durch die belasteten Beziehungen zu bisherigen Freund*innen – in den ersten zwei Semestern zu einem Krisenpotenzial. Längerfristig gesehen eröffnen sich dadurch aber auch Freiräume, die Dilan Karatay für die Entwicklung eigener Handlungsentwürfe nutzen kann. Dies zeigt sich in der Loslösung von ihrem Freund und der (Wieder-)Entdeckung eigener Ziele, Pläne und Aktivitäten. Ebenso wie bei Nuray Coúkun hat die ‚Tradition‘ pädagogischer Berufe in ihrer Familie für Dilan Karatay eine orientierende Funktion und ist relevant für die Studienentscheidung. Ein unmittelbares Anknüpfen an diese Tradition ist für sie aber nicht möglich, weil ihr Vater seinen Beruf als Sozialpädagoge als prekär und nicht erfüllend erlebt. Mit der Entscheidung für ein Pädagogikstudium tritt Dilan Karatay
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somit einerseits in die Fußstapfen ihres Vaters, andererseits handelt sie damit gegen seine Empfehlung. Obwohl die Biographin – wie auch Nuray Coúkun – sich bewusst für das Studium entscheidet und es mit Überzeugung und Interesse aufnimmt, gestalten sich der Übergang in die Hochschule und die Herstellung von sozialer Zugehörigkeit keineswegs reibungslos. Dilan Karatay kann sich zum Ende ihres zweiten Semesters der Universität nicht als fraglos zugehörig konstruieren. Dass das Studium trotz ähnlicher kultureller Ressourcen wie im Fall Nuray Coúkun nicht unmittelbar biographisch anschlussfähig wird, hat mehrere Gründe: Es beginnt erstens zu einem (subjektiv) ungünstigen Zeitpunkt. Durch zeitlich parallele außeruniversitäre Ereignisse wird der Neuanfang in A-Stadt zu einer emotionalen und logistischen Bewältigungsprobe. Der Studienbeginn wird dadurch überlagert und Dilan Karatay findet keinen Raum, den institutionellen und sozialen Übergang in den Studentinnenstatus tatsächlich zu vollziehen. Sie kann sich auf ihr Studium „nicht einlassen“ und hat wenig zeitliche Kapazitäten, ihre Befremdungserfahrungen an der Universität zu bearbeiten. Es zeigt sich somit, dass für einen ‚reibungslosen‘ Übergang ins Studium nicht nur kulturelle Ressourcen bedeutsam sind, sondern diese auch auf situative Rahmenbedingungen angewiesen sind, die ein Einlassen auf den neuen Kontext möglich machen. Zweitens lässt sich Dilan Karatays gebrochenes Verhältnis zum Studium als ein Fall von „Disponiertheit-Kontext-Diskrepanz“ (Mecheril 2003: 309) interpretieren. Dabei sind es nicht etwa ungenügende Studienvoraussetzungen oder ein ‚bildungsunsicherer Habitus‘, die Wirksamkeitserfahrungen der Biographin im Kontext der Hochschule erschweren würden. Vielmehr werden paradoxerweise gerade solche Dispositionen zum Problem, von denen anzunehmen wäre, dass sie eigentlich gute Voraussetzungen für ein sozialwissenschaftliches Studium sein müssten: Die Erwartung an ein Studium, in dem man eigenständig denken und urteilen lernt, erfüllt sich in Dilan Karatays Fall nicht; sie erlebt das Studium vielmehr als eine Veranstaltung, in der ihr das Denken abgewöhnt wird. Eine hohe Prüfungsbelastung und eine Vielzahl von Klausuren,13 in denen Vorlesungsinhalte lediglich reproduziert werden sollen, lassen das Studium zu einem reinen ‚Paukstudium‘ werden. Die Universität tritt der Biographin drittens als ein bürokratischer Apparat gegenüber, in dem Studierende in erster Linie verwaltet werden. Der Wechsel in den Status der Studentin ist für Dilan Karatay – anders als für Nuray Coúkun – biographisch nicht mit Erfahrungen gesellschaftlicher Anerkennung und Aufwertung verbunden, sondern bedeutet das Verschwinden in einer anonymen ‚Masse‘ von Studierenden, die für die Lehrenden und das administrative Personal nicht als Individuen erkennbar werden und sich durch ein standardisiertes ‚Lernprogramm‘ kämpfen müssen. Dilan Karatays Erwartung, Veranstaltungen belegen zu können, die den eigenen Interessen entsprechen, kann höchstens durch außergewöhnlich hartnäckigen Einsatz gegen die administrativen Regelungen erkämpft werden. Obwohl sie nicht die einzige ist, die unter den Studienbedingungen leidet, findet sie keine Mitstreiter*innen dafür, sich aktiv für eine Veränderung dieser Bedingungen einzusetzen. Dies markiert einen vierten Aspekt, der Dilan Karatay eine Herstellung sozialer Zugehörigkeit zum Studium erschwert. Während sie selbst sich als poli13 Im Vorgespräch berichtete die Biographin, dass sie innerhalb einer Woche fünf Klausuren schreiben musste.
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tisch handlungsfähiges Subjekt begreift und das aktive Eintreten für soziale Gerechtigkeit und eine Verbesserung der Verhältnisse (hier: des Studierens) für selbstverständlich hält, stößt sie auf eine studentische Mehrheit, die sich eher passiv verhält. Dies ist für die Biographin allerdings keine neue Erfahrung; bereits in der Schulzeit moniert sie die Antriebslosigkeit ihrer Mitschüler*innen, die nicht dazu bereit sind, sich zu engagieren. Das angeeignete familiale ‚Erbe‘ des politischen Denkens und Handelns wird (auch) im Studium also zunächst nicht anschlussfähig. Dieses Thema spielte auch im Fall Nuray Coúkun eine Rolle – beide Biographinnen stoßen an Grenzen ihrer sozialen Zugehörigkeit im studentischen Feld, weil sie sich mit bestehenden Verhältnissen nicht arrangieren wollen und für ihre Anliegen keine Mitstreiter*innen finden. Ein Unterschied besteht darin, dass Nuray Coúkuns Handeln von einem biographischen Entwurf getragen wird, der den Motor dafür bildet, sich durch Rückschläge nicht entmutigen zu lassen – nämlich als Studentin und angehende Lehrerin ‚mit Migrationsgeschichte‘ für einen institutionellen und gesellschaftlichen Wandel zu kämpfen. Dilan Karatays Positionierung und ihre Pläne und Ziele sind noch weniger konkret. Gefragt nach ihren Zukunftsvorstellungen nennt sie sehr unterschiedliche Optionen, deren Gemeinsamkeit darin besteht, „anderen zu helfen“. Besonders gut kommt Dilan Karatays noch unabgeschlossene und suchende Haltung in der Aussage zur Geltung „ich versteh schon so was von der Welt, aber ich weiß nicht, was ich machen soll“ (52/25-26). 8.5.3 Die Bedeutung von ‚Migration‘ im Studium Trotz der Schwierigkeiten einer Verknüpfung zwischen Studium und Biographie lassen sich auch in Dilan Karatays studienbiographischer Konstruktion Aspekte sozialer und biographischer Zugehörigkeitsarbeit zum Studium rekonstruieren. Eine Form der Verknüpfung des Studiums mit bisherigen Orientierungen und Wissensbeständen der Biographin wird durch eine Vorlesung zu Migration und Bildungsgerechtigkeit hergestellt. Die Vorlesung bildet einen Resonanzraum für Dilan Karatays Interesse an der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten und für die Herstellung biographischer Verbindungen vor dem Hintergrund der familialen Migrationsgeschichte und der eigenen Mehrsprachigkeit. Die Bewerbung als Tutorin im Rahmen dieser Vorlesung lässt sich als ein Schritt interpretieren, die Verknüpfung zwischen eigenen Relevanzen und der Universität als Zugehörigkeitskontext zu festigen und auszubauen. Die Tätigkeit als Tutorin birgt darüber hinaus das Potenzial, aus der anonymen Menge der Studierenden herauszutreten und als Individuum sichtbar zu werden. Inwiefern die Einbeziehung der eigenen familialen Migrationsgeschichte als Lerngegenstand in der Vorlesung zu einer solchen Individualisierung beitragen kann und ob dies nicht (auch) eine erneute ‚Schubladisierung‘ bedeutet, bleibt eine Frage, über die sich zum Interviewzeitpunkt, der vor Beginn der Tätigkeit liegt, nur spekulieren lässt. Es ist nicht auszuschließen, dass Dilan Karatay in der Vorlesung damit rechnen muss, als ‚Migrantin‘ typisiert und befragt zu werden, und um die Deutungshoheit über ihre Biographie ringen zu müssen. Welche Verletzungspotenziale mit einer solch exponierten Position verbunden sind, ist bereits am Beispiel von Nuray Coúkun gezeigt worden. Deutlich wird in jedem Fall, dass auch Dilan Karatay, ähnlich wie Nuray Coúkun, mit dem Diskurs um Migration und Bildung in Berührung kommt
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und die Erfahrung macht, im Studium als ‚Migrationsandere‘ angesprochen zu werden. Dass die Erfahrungen mit dieser Ansprache verschieden angeeignet werden, lässt sich u.a. mit den unterschiedlichen Positionszuweisungen erklären, die beide Biographinnen bisher erfahren haben. Während die Kategorisierung als ‚Migrantin‘ in Nuray Coúkuns Biographie erst mit Studienbeginn an Relevanz gewinnt und sie sich nun verstärkt mit dieser Zuschreibung auseinandersetzen muss, sind Erfahrungen mit (Alltags-)Rassismus und Othering in Dilan Karatays voruniversitärer Erfahrungsgeschichte bereits stärker präsent und werden in der Oberstufenzeit auch zum Gegenstand einer reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung. Die Biographin macht dabei im Peer-Zusammenhang die Erfahrung mit einer Positionszuweisung als ‚Ausnahmemigrantin‘, die ihre Möglichkeiten des Sprechens beschränkt. Vor diesem Hintergrund stellt die Positionierung als Studentin ‚mit Migrationsgeschichte‘ für sie möglichwerweise auch eine Option dar, sich in gesellschaftliche, politische und fachliche Diskurse einbringen und Stellung beziehen zu können. Die Beschäftigung mit dem Thema Migration eröffnet im Fall Dilan Karatay überdies eine Möglichkeit zur reflexiven Auseinandersetzung mit der eigenen Positionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung. Diese ist gerade in der Phase des biographischen Übergangs bedeutsam, in dem sich Fragen nach der eigenen Verortung und eigenen Lebensentwürfen insgesamt verstärkt stellen. Die Beschäftigung der Biographin mit migrationswissenschaftlichen Fragestellungen und das Experimentieren mit eigenen Positionierungen lassen sich vor diesem Hintergrund auch als Schritte in einem biographischen Suchprozess und der Suche nach Selbstverortung interpretieren. Zwischenüberlegung Mit Dilan Karatay wurde ein zweiter Fall herangezogen, der im Hinblick auf die sozio-kulturellen Ausgangsbedingungen und der Position der Familie im sozialen Raum einige Gemeinsamkeiten mit ‚Nuray Coúkun‘ aufweist. Diese Gemeinsamkeiten erweisen sich auch als bedeutsam für die biographische Konstruktion: In beiden Fällen stellen familial tradierte Ressourcen und Orientierungen (Bildungskapital, Orientierung an Autonomie, politische Denk- und Handlungsweisen, Tradition pädagogischer Berufe) eine bildungsbiographisch relevante Dimension dar. Die Biographinnen eignen sich diese Ressourcen an und konstruieren sich dabei als ‚eigensinnige‘ und (meist) handlungsmächtige Akteurinnen, die ihren eigenen Weg gehen. Der Prozess, in dem die Biographinnen sich zu den familial tradierten Orientierungen ins Verhältnis setzen, unterscheidet sich jedoch. Findet bei Nuray Coúkun ein radikaler Bruch und eine spätere Wiederannäherung an die Familie statt, so gestaltet sich dieser Prozess bei Dilan Karatay als schrittweise Ablösung. Im Hinblick auf eine andere zentrale Kontrastdimension, nämlich die der Bedeutung des Studiums in der Biographie, stehen sich die Fälle Nuray Coúkun und Dilan Karatay diametral gegenüber. Wird das Studium in Nuray Coúkuns Konstruktion reibungslos anschlussfähig (gemacht), kommt es bei Dilan Karatay zumindest übergangsweise zu Dissonanzen und Irritationen. Diese wurden als Resultat der Überschneidung von biographischen Ereignissen mit der institutionellen Zeitstruktur sowie als Ausdruck einer Diskrepanz zwischen biographischer „Disponiertheit“ (Mecheril 2004: 147f.) und den Studienbedingungen sowie der dominanten Kultur des studentischen Feldes gedeutet. Die Fallanalyse ‚Dilan Karatay‘ hat damit gezeigt,
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dass familial tradiertes kulturelles Kapital nicht automatisch zu einer bildungsbiographischen Ressource wird, sondern dass es auf ‚passende‘ Kontextbedingungen angewiesen ist, um sich entfalten zu können. Dazu zählen institutionelle Voraussetzungen und Anforderungsstrukturen, die an eigene Erwartungshaltungen und Handlungsentwürfe anschlussfähig sind. Auch die Möglichkeit, soziale Räume zu finden, in denen die eigenen Orientierungen auf Resonanz stoßen, stellt eine entscheidende Bedingung für Zugehörigkeitserfahrungen dar. Um wirksam zu sein, müssen die eigenen Ressourcen auch von anderen Akteur*innen im Feld ‚gesehen‘ und anerkannt werden. In beiden Fällen lässt sich festhalten, dass ‚Migration‘ zu einer relevanten Dimension für die Positionierung der Biographinnen im jeweiligen Studienkontext wird. Dabei spielen in beiden Beispielen ‚Anrufungen‘ und Zuschreibungen von Lehrenden eine Rolle, die die Biographinnen als Migrantinnen positionieren. Die Positionierung als Pädagogik- bzw. Lehramtsstudentin ‚mit Migrationsgeschichte‘ wird in beiden Fällen aber auch von den Biographinnen selbst relevant gemacht und genutzt – als strategische Ressource für den Zugang zu Positionen, die Veränderungen im Bildungssystem ermöglichen, (Nuray Coúkun) und als biographische Ressource für die sinnhafte Aneignung des Studienangebots und die Herstellung von Zugehörigkeit zur Universität (Dilan Karatay).
9.
Das pädagogische Studium als „selektives Bildungsmoratorium“ und biographische Ermächtigungserfahrung – Fallrekonstruktion ,Anna Schuster‘
Im Folgenden wird – im Sinne einer maximalen Kontrastierung – ein Fall herangezogen, der sich im Hinblick auf die lebensweltlichen Ausgangsbedingungen, den bildungsbiographischen Prozessverlauf sowie die Bedeutung des Studiums in der Biographie deutlich von den beiden ersten Beispielen unterscheidet. Ziel der Einführung dieses Kontrastfalls ist es, das Spektrum möglicher Varianten im Hinblick auf Verknüpfung von Studium und Biographie sowie der Konstruktion und Bearbeitung von Differenz- und Zugehörigkeitsthematiken im Studium weiter auszuloten. Die Strategie des maximalen Vergleichs biographischer Interviews zielt darauf ab, „alternative Strukturen biographisch-sozialer Prozesse in ihrer unterschiedlichen lebensgeschichtlichen Wirksamkeit herauszuarbeiten und mögliche Elementarkategorien zu entwickeln, die selbst den miteinander konfrontierten Alternativprozessen noch gemeinsam sind“ (Schütze 1983a: 288). Der Aufbau der Falldarstellung orientiert sich an den vorangegangenen: Nach einem Kurzportrait und einigen Erläuterungen zu bedeutsamen biographischen Rahmungen sowie zur Anbahnung und zum Verlauf des Interviews (Kap. 9.1) steht die Lebensgeschichte der Biographin bis zum Studium im Zentrum (Kap. 9.2). Anschließend wird die Studienzeit fokussiert (Kap. 9.3) und schließlich die Bedeutung von ‚Migration‘ für Zugehörigkeits- und Differenzerfahrungen im Studium beleuchtet (Kap. 9.4).
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9.1 R AHMUNGEN
UND
V ERLAUF
DES I NTERVIEWS
9.1.1 Biographische Kurzbeschreibung Anna Schuster wird 1980 in einem Dorf im russischen Wolgagebiet geboren. Sie ist die Zweitälteste und hat drei jüngere Geschwister. Die Familie zählt zur deutschen Minderheit und gehört einer freikirchlichen Gemeinde an.1 Als Anna Schuster zehn Jahre alt ist, siedelt die Familie nach Deutschland aus. Sie folgt damit anderen Familien aus dem Dorf, die sich bereits vorher zur Aussiedlung entschlossen haben. Die Migration der Familie fällt damit in einen Zeitraum, in dem der Zuzug von Aussiedler*innen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, Polen und Rumänien seinen Höhepunkt erreicht (vgl. Bade/Oltmer 1999). Für einige Wochen leben Anna Schuster und ihre Familie in Auffanglagern, danach wird dem Wunsch der Familie stattgegeben, sich in C-Stadt, einer Kleinstadt im ländlichen Raum, niederzulassen.2 Dort leben bereits Familienmitglieder und es gibt Kontakte zur dortigen Gemeinde. Die Familie bezieht ein Haus in der Umgebung von C-Stadt. Die Eltern der Biographin nehmen an Sprachkursen teil. Ihr Vater – ein ausgebildeter Schneider – findet danach eine Arbeit als Warenprüfer in einer Textilfirma in C-Stadt. Ihre Mutter, die in Russland eine Ausbildung als Buchhalterin absolviert hat, versucht zunächst ebenfalls, an ihre Qualifikationen anzuknüpfen, indem sie an EDV-Schulungen teilnimmt. Die Hoffnung auf einen beruflichen Einstieg in Deutschland wird ihr jedoch bald genommen; ihr werden aufgrund ihres Alters von etwa 40 Jahren geringe Chancen auf einen beruflichen Neuanfang vorhergesagt. Sie gibt daraufhin ihre Qualifizierungsbemühungen auf und ist seither als Reinigungskraft in der Firma tätig, in der auch ihr Mann beschäftigt ist. Die Familie ist aktiv in die freikirchliche Gemeinde in C-Stadt eingebunden, die von Russlanddeutschen getragen wird. Anna Schuster wird nach der Migration der Familie in die fünfte Klasse der Hauptschule im Nachbarort eingeschult. Trotz Schwierigkeiten mit dem parallelen Erlernen von zwei Fremdsprachen (Deutsch und Englisch) und der Lernkultur der Schule schließt sie die Hauptschule erfolgreich mit der Fachoberschulreife ab und 1
2
Zwar benennt Anna Schuster ihre religiöse Zugehörigkeit nicht explizit, es gibt jedoch verschiedene Hinweise darauf, dass es sich um eine mennonitische Glaubensgemeinschaft handelt. Den deutlichsten Hinweis auf die Zugehörigkeit zur mennonitischen Gemeinschaft liefert die Familiensprache (Plautdietsch), ein niederdeutscher Dialekt, durch den sich die Mennonit*innen von anderen russlanddeutschen Siedler*innen unterscheiden. Weitere Hinweise ergeben sich aus kurzen Ausführungen zu den religiösen Vorschriften der von der Erzählerin als „bibeltreu“ (30/19) bezeichneten Gemeinde, in denen sie auf die besondere Kleiderordnung und das Gebot des Tragens langer Haare verweist. Zwar geht aus der Literatur hervor, dass die Familien im Jahr 1990 ihren Wohnort noch frei wählen konnten (erst 1996 wurde ein Gesetz erlassen, das einen Verteilungsschlüssel vorsah), allerdings scheint es bereits 1990 lokale Zuzugsbegrenzungen gegeben zu haben. Anna Schuster berichtet jedenfalls, dass die Familie zwar Wünsche zum künftigen Wohnort äußern, aber nicht frei darüber entscheiden konnte. Der Umstand, dass bereits Familienangehörige in C-Stadt lebten, trug dazu bei, dass dem Ansuchen der Familie entsprochen wurde.
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wechselt anschließend in die elfte Klasse eines Gymnasiums. Dort hat sie zunächst Schwierigkeiten, die Anforderungen zu erfüllen und muss die elfte Klasse wiederholen. Obwohl sie sich von ihrem Deutschlehrer entmutigt fühlt, besucht Anna Schuster die gymnasiale Oberstufe bis zum Ende der 13. Jahrgangstufe und schließt sie mit dem Abitur ab. Gegen Ende der Oberstufenzeit entwickelt sie die berufliche Perspektive, Grundschullehrerin werden zu wollen. Gemeinsam mit einer Freundin bewirbt sie sich um einen Studienplatz in A-Stadt und beginnt dort das Lehramtstudium für die Primarstufe. Sie wohnt weiterhin bei ihrer Familie in C-Stadt und pendelt gemeinsam mit der Freundin zwischen Wohnort und der Universität in A-Stadt. Im Jahr 2003, kurz vor der Examensanmeldung, muss Anna Schuster aufgrund starker Rückenschmerzen, unter denen sie bereits seit einiger Zeit leidet, ihr Studium unterbrechen. Nachdem zunächst vermutet wird, dass die Schmerzen psychosomatische Ursachen haben (Prüfungsangst), wird später festgestellt, dass sie einen Bandscheibenvorfall hatte. Sie wird daraufhin beurlaubt und muss längere Zeit weitgehend im Bett liegend verbringen. 2005 nimmt sie das Studium wieder auf und legt ihre fachpraktische Prüfung ab. Ein Jahr nach Wiederaufnahme des Studiums muss sie ihr Studium aufgrund eines erneuten Bandscheibenvorfalls abermals unterbrechen. Sie hat zu diesem Zeitpunkt allerdings bereits alle Studienleistungen erbracht. Weitere zwei Jahre später beginnt sie, die noch ausstehenden Prüfungen abzulegen. Zum Zeitpunkt des Interviews stehen ihr noch drei Prüfungen bevor. Kurz zuvor hat sie die Information erhalten, dass sie für das Referendariat dem Studienseminar in einer etwas weiter entfernten Großstadt zugewiesen wird, was bedeutet, dass sie C-Stadt verlassen und von zuhause ausziehen wird. Zum Zeitpunkt des Interviews ist Anna Schuster 28 Jahre alt. 9.1.2 Kontaktaufnahme und Vorgespräch Anna Schuster nahm per E-Mail Kontakt zu mir auf, etwa drei Monate nachdem ich einen Aushang am erziehungswissenschaftlichen Institut der Universität A-Stadt angebracht hatte. Wir verabredeten einen Termin für ein Vorgespräch, das zwei Wochen später in einem Café stattfand. Anna Schuster erklärte, dass sie auf den Aushang reagiert habe, weil sie selbst im Rahmen ihrer Examensarbeit eine empirische Studie durchgeführt und ebenfalls auf die Mitwirkung anderer angewiesen gewesen sei. Daher wolle sie nun selbst Unterstützung für ein Forschungsprojekt leisten. Anna Schuster erklärte, dass die Wahl des Themas für ihre Examensarbeit in erster Linie biographisch begründet war. In ihrer Arbeit behandelt sie einen Vergleich zwischen dem russischen und dem deutschen Schulsystem und geht der Frage nach, was die Unterschiede beim Übergang von einem Schulsystem zum anderen aus Sicht der Schüler*innen bedeuten. Die Arbeit sei gut bewertet worden, obwohl sie nach Aussage der Betreuerin für eine Veröffentlichung „zu persönlich“ geraten sei. Anna Schuster hatte ihre Examensarbeit ins Café mitgebracht und präsentierte sie mir mit sichtbarem Stolz. Sie positionierte sich im Vorgespräch somit als jemand, die ein biographisch begründetes Interesse an Fragen von Migration und Bildung hat und dieses Thema selbst auch schon wissenschaftlich bearbeitet hat. Anna Schuster stellte im Vorgespräch nur relativ wenige Fragen und bestätigte ihre Bereitschaft, als Interviewpartnerin an meinem Vorhaben mitzuwirken. Ich hatte
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den Eindruck, dass sie es nach ihren eigenen Interviewerfahrungen interessant fand, selbst in der Rolle der Interviewten in ein Projekt eingebunden zu werden. Sie suchte in dem Vorgespräch den Austausch über Forschungserfahrungen und interessierte sich für mein methodisches Vorgehen. Wir sprachen über die Herausforderungen im Forschungsprozess, später erzählte ich ihr mehr über mein Forschungsinteresse und erwähnte, dass mich im Rahmen der biographischen Interviews besonders die Studienerfahrungen interessierten. Wir verabredeten einen Termin für die nachfolgende Woche. Anna Schuster zog es vor, das Interview nicht bei sich zuhause zu führen, da es dort selten Ruhe gebe, weil noch fünf weitere Familienmitglieder dort wohnten. Wir verabredeten uns deswegen in einer Wohnung in A-Stadt, die mir von einer Freundin für Interviews zur Verfügung gestellt wurde. 9.1.3 Interviewverlauf und Struktur der biographischen Haupterzählung Meine Interviewpartnerin traf aufgrund von Bahnverspätung etwas später in der Wohnung ein. Wir hielten ein wenig ‚Small Talk‘, nebenbei kochte ich Kaffee. Der zeitliche Rahmen war – wie sich erst in der Situation herausstellte – durch einen Termin, den Anna Schuster bei ihrer Krankengymnastin hatte, begrenzt. Dies entsprach zwar nicht meinem Wunsch, andererseits erschien mir (ebenso wie Anna Schuster) der zeitliche Spielraum von etwa vier Stunden ausreichend, zumal meine Interviewpartnerin im Vorfeld die grundsätzliche Möglichkeit eines zweiten Gesprächs bestätigt hatte. Die Frage, ob nach unserem Vorgespräch noch Fragen entstanden seien, verneinte sie. Ich hatte im Vorgespräch noch offen gelassen, ob ich sie nach ihrer ganzen Lebensgeschichte fragen würde oder nur nach ihrer Studiengeschichte.3 Nun teilte ich ihr mit, dass ich sie um die Erzählung ihrer gesamten Lebensgeschichte bitten würde. Das Interview hatte eine Dauer von knapp zwei Stunden und verlief ohne Unterbrechungen. Ich war etwas nervös, da es sich erst um mein zweites Interview handelte. Anna Schuster ließ sich auf die Aufgabe, ihre Lebensgeschichte zu erzählen, ohne längeres Zögern oder besondere Unsicherheiten ein. Ihre biographische Selbstpräsentation hat eine Dauer von etwa 20 Minuten, in denen sie ruhig und bedächtig spricht. Den roten Faden ihrer Erzählung bildet ihre Bildungsbiographie. Diese umfasst zum einen den formalen Bildungsverlauf vor und nach der Migration, zum anderen bezieht sie sich auch auf informelle Lernprozesse und Erfahrungen in der Schule und im Studium. Ein wesentlicher Aspekt ihrer Bildungsbiographie, auf den Anna Schuster sich immer wieder bezieht, ist ihre Sprachbiographie. Dagegen gibt ihre Eingangserzählung nur wenig Auskunft über lebensweltliche Bedingungen und Erfahrungen, die nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Bildungsweg stehen. 3
Das Interview fand relativ zu Anfang meines Forschungsprozesses statt, als ich mein Forschungsinteresse noch enger auf die Studienzeit begrenzt und zwischenzeitlich erwogen hatte, meine Erzählaufforderung auf die Erlebnisse nach Ende der Schulzeit zu fokussieren. Gerade Anna Schusters Interview machte dann jedoch die wichtige Bedeutung von biographischen, insbesondere schulischen, Vorerfahrungen für das Verstehen der Studienbiographie deutlich.
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Als Anna Schuster mit ihrer Erzählung in der Gegenwart angelangt ist, formuliert sie keine explizite Erzählkoda, aber nimmt eine Gestaltschließung vor, indem sie die Hoffnung äußert, die letzten Prüfungen bald abgeschlossen zu haben und sie eine positive Bilanz ihres Studiums zieht. Bei meinen Nachfragen ging ich nicht chronologisch vor, sondern ermunterte Anna Schuster zunächst, über die Punkte mehr zu erzählen, über die sie offenbar gerne sprach – zum Beispiel ihre Studienzeit. Erst später ging ich dazu über, nach länger zurückliegenden Erlebnissen zu fragen (Kindheit, Migration), die sie noch kaum thematisiert hatte. Anna Schuster ging ausführlich auf meine Nachfragen ein, allein das Sprechen über ihre Kindheit vor der Aussiedlung fiel ihr schwer.4 An einigen Stellen des Interviews zeigen sich Schwächen und Unsicherheiten bei der Interviewführung; Fragen sind mehrschichtig formuliert und der Abschluss des Interviews wird – durch die Einleitung meiner Frage nach ihren Zukunftsperspektiven mit den Worten „vielleicht einfach noch mal so zum Abschluss“ (34/2) – (unbewusst) von mir vorgegeben. Meine nachfolgende Frage, ob sie noch über etwas erzählen möchte, worüber wir noch nicht gesprochen haben, verneint Anna Schuster zunächst, fügt dann aber doch noch eine kurze Zwischenbilanz ihrer Geschichte hinzu. Nachdem ich das Aufnahmegerät (im Nachhinein betrachtet zu früh) ausgestellt hatte, berichtete sie noch etwas mehr über ihre Krankheit und die Zeit, die sie zuhause verbringen musste. Das dominante Kommunikationsschema in Anna Schusters biographischer Haupterzählung ist das des Berichtens. Sie folgt in der Präsentation ihrer Geschichte dem chronologischen Verlauf, wobei die Erzählung sehr gerafft ist und keinen hohen Detaillierungsgrad aufweist, sondern gewissermaßen ‚sparsam‘ gestaltet ist. Es finden sich auch immer wieder erklärende Passagen, die insbesondere dazu dienen, der Interviewerin die Schwierigkeiten der Schulbiographie nahezubringen. Zum anderen gibt es evaluierende und bilanzierende Passagen, die sich vor allem auf die positiv erlebte Studienzeit beziehen. Die orientierende Struktur für die Lebensgeschichte bilden insbesondere die institutionellen Übergänge und Brüche im Bildungsverlauf. Die Fokussierung auf den Bildungsweg kann dem Bemühen der Biographin geschuldet sein, dem Forschungsinteresse zu entsprechen, die ihr im Vorgespräch mitgeteilt wurden. Daneben ist es jedoch wahrscheinlich, dass dieser Fokus auch Anna Schusters eigenem Präsentationsinteresse entspricht. Im Vorgespräch war deutlich geworden, dass sie ein eigenes Interesse am Thema Migration und Bildung hat, das sowohl biographisch als auch wissenschaftlich gerahmt ist. Mit dem Thema ihrer Examensarbeit war das Interesse verbunden, sich aus wissenschaftlicher Perspektive mit der eigenen Erfahrung des Übergangs zwischen zwei Schulsystemen zu befassen. Es lässt sich vor diesem Hintergrund die These aufstellen, dass Anna Schuster das biographische Interview vor allem als eine Gelegenheit wahrnimmt, (nach der wissenschaftlichen Beschäftigung mit den Schulerfahrungen anderer russlanddeutscher Quereinsteiger*innen) zum Ende ihrer Studienzeit eine Zwischenbilanz ihrer eigenen
4
Sie berichtet, dass sie ihr Heimatdorf vor einigen Jahren besucht habe, was für sie jedoch eine befremdende Erfahrung gewesen sei, weil die Realität dort nur wenig mit ihren Erinnerungen gemein hatte; ihre Kindheit in Russland komme ihr seither beinahe wie eine „Phantasiewelt“ (22/39) vor.
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Bildungsbiographie zu ziehen. Eine solche Zwischenbilanz lag dadurch nahe, dass sie zum Interviewzeitpunkt kurz davor war, ihr Studium zu beenden und mit dem Referendariat und dem Auszug aus dem Elternhaus eine neue biographische Phase unmittelbar bevorstand.
9.2 „W ENN
ICH DAS SO ERZÄHL DANN DENK ICH IMMER DAS IST SO NEGATIV . A BER ES IST HALT ERLEBT “ – A NNA S CHUSTERS B IOGRAPHIE BIS ZUM S TUDIUM
Im Zentrum der nachfolgenden Ausführungen steht die Rekonstruktion von Anna Schusters Biographie bis zum Übergang ins Studium. Um die zentralen biographischen Prozesse in ihrer Verlaufslogik darstellen zu können, orientiere ich mich in an der Chronologie der Ereignisse. Ich stütze mich dafür maßgeblich auf die biographische Haupterzählung, die einem chronologischen Verlauf folgt. Ergänzend ziehe ich Passagen aus dem Nachfrageteil des Interviews hinzu, sofern diese für die Herausarbeitung der biographischen Prozessstruktur bis zum Beginn des Studiums bedeutsam sind. Der Schwerpunkt liegt dabei – der Relevanzsetzung der Biographin in der Haupterzählung entsprechend – auf Erfahrungen, die mit dem Schulverlauf in Zusammenhang stehen. 9.2.1 Kindheit in Russland Anna Schuster beginnt ihre biographische Erzählung mit ihrer Geburt: A: Ja also geboren bin ich in Russland ja es ist so Gebiet L-Stadt es is - bin eher ländlich aufgewachsen also wirklich aufm Dorf, Bauernhof I: mhm A: Kühe Schweine mit allem drum und dran (1/29-32)
Die Biographin führt sich selbst ein, indem sie den Beginn ihres Lebens nicht zeitlich, sondern räumlich verortet. Dies erfolgt zunächst über die Nennung des nationalen Kontexts („Russland“) und wird dann durch die Benennung eines regionalen Kontexts („Gebiet L-Stadt“) eingegrenzt. Der genaue Geburtsort wird dagegen nicht genannt. Dies kann entweder als Hinweis auf eine Besonderheit gelesen werden, die L-Stadt und Umgebung als Region spezifisch macht, oder die Erzählerin erwartet nicht, dass ich mich in der russischen Geographie ausreichend gut auskenne, um eine genauere Ortsangabe einordnen zu können. Schließlich kann die Nennung der Region als erster Hinweis auf ein ländliches Gebiet gelesen werden, in dem L-Stadt die nächstgrößere Stadt ist. Nachfolgend skizziert Anna Schuster den unmittelbaren räumlichen Kontext ihrer Kindheit. Sie beschreibt die Umgebung als „ländlich“, was nachfolgend durch die Worte „Dorf“, „Bauernhof“ und „Kühe und Schweine“ plausibilisiert und veranschaulicht wird. Mit dem Zusatz „mit allem drum und dran“ wird die weitere Konkretisierung dann abgekürzt; Anna Schuster scheint darauf zu vertrauen, dass die kurze Beschreibung ausreicht, um bei ihrer Zuhörerin ein Bild vor dem geistigen Au-
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ge zu erzeugen. Mit wenigen Worten hat sie damit die räumlichen Rahmenbedingungen ihrer Kindheit skizziert. Wie die Biographin dieses „ländliche“ Aufwachsen erlebt hat, oder wie sie es retrospektiv bewertet, bildet dagegen keinen Inhalt ihrer Darstellung. Auch eine Einordnung der Rahmen in einen größeren gesellschaftlichen oder historischen Kontext unterbleibt. Anna Schuster fokussiert sich vielmehr auf das Konkrete. Was darüber hinaus auffällt, ist das Ausbleiben einer Einführung weiterer Personen. Aus dem Nachfrageteil geht hervor, dass das skizzierte Aufwachsen in der bäuerlichen Umgebung nicht auf eine berufliche Tätigkeit ihrer Eltern in der Landwirtschaft verweist – Anna Schusters Mutter hat eine Ausbildung als Buchhalterin, ihr Vater hat eine Schneiderlehre absolviert und ist als Fahrer tätig. Die Landwirtschaft dient daher vermutlich in erster Linie der Selbstversorgung der Familie. Die Kombination aus Erwerbsarbeit und landwirtschaftlicher Selbstversorgung stellt eine Wirtschafts- und Lebensform dar, die als in dieser Zeit durchaus typisch für die russlanddeutschen (mennonitischen) Familien in der Region beschrieben wird (vgl. Wisotzki 1992: 187).5 Anna Schuster führt keine weiteren Details über ihre Kindheit aus, sondern setzt ihre Erzählung mit der ersten Station ihres institutionellen Bildungsweges fort – ihrer Einschulung im Alter von sechs Jahren. A: mit sechs Jahren bin ich dann eingeschult worden - ähm - ja ich bin vier Jahre in Russland zur Schule gegangen I: mhm A: ähm das heißt ich hab die Grundschule da abgeschlossen - ähm - ja, hab dann Russisch gelernt - äh in der Schule Deutsch haben wir zuhause gesprochen I: mhm A: aber eher mh Plattdeutsch haben wir gesprochen. Also der - so ostpreußische Dialekt. (1/32-2/4)
Durch die Erwähnung ihres Alters bei der Einschulung und der vierjährigen Dauer der Grundschulzeit werden Normvorgaben zitiert; Anna Schuster markiert, dass sie die erste Etappe ihrer Schullaufbahn als den institutionell vorgegebenen Altersnormen und Zeitspannen entsprechend durchläuft. Zugleich wird aber auch eine Besonderheit sichtbar: Der Beginn des schulischen Bildungswegs markiert für Anna Schuster nicht nur ihren (der Altersnorm entsprechenden) Eintritt ins Bildungssystem, sondern bedeutet zugleich ein Überschreiten des bisher vertrauten sprachlichen Rahmens: Russisch, die Sprache der Schule, zugleich auch die Amts- und Verkehrssprache der weiteren Umgebung, ist eine andere als die in der in der Familie gesproche5
Bei der Herkunftsregion der Biographin handelt es sich um ein Siedlungsgebiet der russlanddeutschen mennonitischen Minderheit. Die wirtschaftliche Situation der Familien in der Region wird als bescheiden beschrieben: Viele der mennonitischen Siedler*innen bewirtschafteten ein Stück Land und hielten einige Tiere für die eigene Versorgung (Wisotzki 1992: 187). Allerdings ließ sich ein (Über-)Leben auf Basis von Subsistenzwirtschaft meist nicht realisieren, so dass die Erwachsenen häufig außerhalb der eigenen Landwirtschaft und des Dorfes den Lebensunterhalt für die Familie erwirtschafteten (ebd.: 189). Diese Beschreibung trifft auch auf die berufliche Situation von Anna Schusters Eltern zu.
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nen Sprache („Deutsch“).6 Russisch erhält damit implizit den Status als erste Fremdsprache der Biographin, die sie erst durch das institutionell herbeigeführte Verlassen des vertrauten Kontexts der Familie erlernt. Dadurch wird eine Differenz zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ angedeutet; Russisch ist die Sprache der Umgebung, während sich das familiale Wir durch das Sprechen einer gemeinsamen (anderen) Sprache konstituiert. Über das Thema Sprache werden somit zwei für Anna Schusters Kindheit lebensweltlich relevante Bezugskontexte – Familie und Schule – eingeführt, zwischen denen sie sich bewegt, die aber durch die Sprache klar voneinander unterschieden sind. Darüber hinaus werden damit Grenzen und Zugehörigkeiten markiert: Anna Schusters Familie wird als nicht der dominanten Sprachgemeinschaft in Russland zugehörig, sondern als sprachliche Minorität ausgewiesen. Mit der anschließenden Präzisierung der Familiensprache als „Plattdeutsch“ wird eine weitere Besonderheit angedeutet: Es handelt sich bei der Familiensprache um einen niederdeutschen Dialekt. Die Familie bildet damit einen sprachlichen Raum, der sowohl im Hinblick auf den russischsprachigen als auch auf den deutschsprachigen Kontext von der je dominanten, nationalen (standard-)sprachlichen Norm abweicht. Unter Einbeziehung historisch-gesellschaftlichen Kontextwissens lässt sich Anna Schusters Darstellung auch als ein Ausdruck der spezifischen (kollektiven) Positionierung der Erzählerin in der sowjetischen natio-ethno-kulturellen Gesellschaftsordnung lesen: Anna Schuster und ihre Familie sind Angehörige einer sprachlichen und religiösen Minderheit, die sich durch die Pflege der plattdeutschen Sprache ihre Religion sowohl von der russischen Mehrheitsgesellschaft als auch von nicht- oder andersgläubigen Angehörigen der deutschsprachigen Minderheit unterscheidet. Die Erzählerin markiert den Minderheitsstatus der Familie allerdings ausschließlich implizit und nur im Hinblick auf die sprachliche Differenz. Ihre Stellung im Dorf wird ebenso wenig thematisiert wie ihre Einbindung in die Gemeinde. Die Erwähnung der eigenen und familialen sprachlichen Ausgangssituation markiert hier also nicht den Anfang genauerer Ausführungen über die Stellung der Familie (oder der mennonitischen Minderheit) in der sowjetischen Gesellschaftsordnung, sondern sie bildet – wie sich im Folgenden zeigt – den Auftakt für die Erzählung von Anna Schusters Bildungsgeschichte. 9.2.2 Auswanderung nach Deutschland und „sprachliche Barriere“ Über ihre Kindheit und/oder ihre Grundschulzeit erzählt die Biographin keine weiteren Details, sondern sie setzt ihren Bericht chronologisch fort – mit der Aussiedlung der Familie im Jahr 1990.
6
Aus der Literatur geht hervor, dass die Dörfer der Region L-Stadt als mehrheitlich von deutschen Siedler*innen bewohnt waren, während nur vereinzelte russische oder baschkirische Familien in diesen Orten lebten (vgl. Löneke 2000: 92 f.). Die Dörfer der Region hatten demzufolge den Charakter mehr oder weniger exklusiver ethnischer Enklaven, die sich auch durch die Verwendung der deutschen Sprache als Verkehrssprache auszeichneten (vgl. ebd.).
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A: /(gedehnt) ja/ wo ich dann zehn Jahre alt war sind wir nach Deutschland - ausgewandert I: mhm A: ähm Deutschland ähm - also dass ich mit meinem Plattdeutsch nicht weit gekommen bin (lacht) dass ich erstmal eine sprachliche Barriere hatte, ähm, ich habe Hochdeutsch verstanden I: mhm A: aber ich konnte nicht reden also ich konnte halt nix sagen [erstmal ja] I: ja A: also durch das Plattdeutsche konnte man sich viel herleiten aber ich konnte halt nicht zurück antworten (2/6-16)
Die Erzählerin markiert hier die nächste biographisch relevante Zäsur: die Migration nach „Deutschland“ als sie zehn Jahre alt war.7 Mit der Formulierung „nach Deutschland ausgewandert“, die Anna Schuster nach kurzem Zögern wählt, wird die Migration als eine Bewegung von einem nationalen Kontext in einen anderen präsentiert. Deutschland wird dabei als Ziel einer Auswanderung entworfen und erscheint dadurch weniger als ein Raum, mit dem sich ein ‚Ankommen‘ oder eine ‚Beheimatung‘ verbindet. Das Verhältnis des „Wir“ zum nationalen Kontext „Deutschland“ bleibt unbestimmt. Die weiteren Ausführungen der Erzählerin legen nahe, dies damit in Zusammenhang damit zu lesen, dass sich für Anna Schuster mit der Migration nach „Deutschland“ keine positiven Zugehörigkeitserfahrungen verbinden, sondern vielmehr Erfahrungen eingeschränkter (sprachlicher) Handlungsfähigkeit. Mit dem Überschreiten der nationalen Grenze verbindet sich die Erfahrung einer anderen Art von Gren7
Die gesetzliche Grundlage für die Aussiedlung bildet das Bundesvertriebengesetz (BVG), das 1953 in Kraft trat. Das Gesetz garantiert allen Personen, die als deutsche „Volkszugehörige“ in der UdSSR, den baltischen Staaten, Polen und den Ländern Südosteuropas gelebt haben und diese Staaten verlassen, den Status als Vertriebene (vgl. BVG §1, Abs. 2). Mit dem Vertriebenenstatus sind das Recht auf Einreise in die BRD sowie die deutsche Staatsbürgerschaft verbunden. Diese gesetzliche Regelung wurde mit dem „Vertreibungsdruck“ erklärt, dem Angehörige der deutschen Minderheit infolge des durch das faschistische Deutschland begonnenen zweiten Weltkriegs nach wie vor ausgesetzt seien (vgl. Roll 2003: 24). Daneben erfüllte die bundesdeutsche Aussiedler*innenpolitik aber auch eine starke symbolische Funktion in der Politik gegenüber den kommunistischen Ostblockstaaten. Um als deutsche/r „Volkszugehörige/r“ anerkannt zu werden, muss durch einen Nachweis von „Merkmale[n] wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur“ glaubhaft gemacht werden, dass man sich in der „Heimat zum deutschen Volkstum bekannt“ hat (§6 BVG). Durch Erleichterungen in den Ausreisebestimmungen in der Sowjetunion und den Ostblockstaaten stieg die Zahl der Personen, die in die Bundesrepublik aussiedelten, seit 1987 stark an. Den steigenden Zuzugszahlen begegnete die BRD zunächst mit dem Bundesaufnahmegesetz, das vorsieht, dass Ausreisewillige aus den Staaten der ehemaligen UdSSR und Osteuropa bereits in ihrem Herkunftsland ihre Ausreise beantragen und ihre „Volkszugehörigkeit“ nachweisen müssen (vgl. Roll 2003: 27). 1993 trat dann das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz in Kraft, das das Ende der bisherigen Politik markiert. Diskriminierung aufgrund der ethnischen Zugehörigkeit kann seither nur noch individuell geltend gemacht werden, da ein kollektiver „Vertreibungsdruck“ als nicht mehr gegeben angesehen wird (vgl. ebd.).
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ze: Der Wechsel in den deutschsprachigen Kontext bedeutet für Anna Schuster „eine sprachliche Barriere“. Diese Formulierung, ebenso wie die Aussage, mit dem Plattdeutschen „nicht weit gekommen“ zu sein, ruft das Bild eines blockierten Weges auf. Die „Barriere“ besteht darin, dass Anna Schuster Standarddeutsch zwar rezeptiv beherrscht („verstehen“ kann), sie aber selbst nicht aktiv darüber verfügen kann. Das mennonitische Plattdeutsch unterscheidet sich erheblich von der deutschen Standardsprache. Die Kommunikation verläuft für Anna Schuster daher einseitig und mühsam: Sie kann zwar die Äußerungen von anderen verstehen, dies macht allerdings erst eine innere Übersetzungsleistung erforderlich (sie kann sich die Worte lediglich „herleiten“), und sie kann selbst „nicht zurück antworten“. Mit der Formulierung „ich konnte nicht reden, also ich konnte halt nix sagen“ konstruiert Anna Schuster einen Zustand der ‚Sprachlosigkeit‘ – obwohl sie zum Zeitpunkt der Migration bereits über zwei Sprachen verfügt. Im übertragenen Sinne lässt sich diese Selbstkonstruktion als ‚sprachloses‘ Subjekt als Ausdruck eingeschränkter Teilhabemöglichkeiten im Zugehörigkeitskontext „Deutschland“ interpretieren: Die Biographin kann sich nicht in einer Art und Weise artikulieren, die in ihrem neuen sozialen Kontext auf Resonanz stoßen würde. Denn Sprechen-Können bedeutet auch, sich an einem Diskurs beteiligen zu können. Anna Schusters Handlungs- und Teilhabemöglichkeiten werden mit der „Auswanderung“ nach Deutschland jedoch eingeschränkt, da ihr die wirksame Artikulation jenseits des unmittelbar vertrauten Kontexts von Familie und Gemeinde erschwert ist. Sie verfügt (noch) nicht über die Amts- und Verkehrssprache, und ihre mitgebrachten Sprachen haben im Alltag nach der Migration im sozialen Nahraum außerhalb der Familie und der Gemeinde wenig Gebrauchswert. Im weiteren Sinne verweist die narrative Selbstkonstruktion als ‚sprachlos‘ auf den machtvollen Diskurs einsprachiger Nationalstaaten nach dem Prinzip „ein Volk – eine Nation – eine Sprache“ (vgl. Krüger-Potratz 2005: 84f.). Die Imagination eines einheitlichen Nationalstaats wird u.a. durch die Verwendung einer gemeinsamen ‚Nationalsprache‘ möglich und dadurch aufrechterhalten. Damit einher geht die Konstruktion einer in sich sprachlich homogenen Gemeinschaft, die sich durch die Abund Ausgrenzung von Sprecher*innen anderer Sprachen konstituiert. Durch die Fiktion einer sprachlich einheitlichen Nation wird also eine sprachliche Differenzordnung erzeugt, die Ein- und Ausschlüsse produziert und legitimiert, indem sie die Zugehörigkeit zur ‚Nation‘ u.a. von der sprachlichen Disponiertheit der Subjekte abhängig macht. Zudem werden auch sprachliche Hierarchien innerhalb des nationalen Raumes wirksam, wobei der deutschen Standardsprache innerhalb der nationalen Grenzen Deutschlands der Status als einzig „legitimer Sprache“ (vgl. Bourdieu 1982) zukommt.8 Dagegen werden andere Sprachvarietäten und Dialekte vielfach abgewertet und gelten in vielen Kontexten als illegitim. Gerade Bildungsinstitutionen tragen aktiv dazu bei, diese Hierarchien fortzuschreiben. Anna Schuster verfügt mit ihrer Familiensprache Plautdietsch und der Schulsprache Russisch über zwei Sprachen, 8
Pierre Bourdieu (1982) hat die Herausbildung einer einzig legitimen Sprache im Zuge der Konstitution von Nationalstaaten als Produkt eines Herrschaftsverhältnisses beschrieben, das durch staatliche Institutionen, insbesondere die des Bildungswesens, abgesichert wird, die die praktizierten Sprachvarietäten und -varianten am Maßstab der legitimen Sprache messen und ihr unterordnen.
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die innerhalb der sprachlichen Differenzordnung Deutschlands nicht als legitim bzw. anerkennungsfähig gelten. Die Konstruktion als ‚sprachlos‘ lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Ausdruck einer sprachlichen Entwertungserfahrung interpretieren. Anna Schusters Präsentationsstil zeichnet sich auch hier durch die Beschränkung auf das ‚Wesentliche‘ aus. Sie berichtet nüchtern und faktenorientiert – auf Hintergrundinformationen etwa zum Anlass oder den rechtlichen Voraussetzungen der Migration sowie die Schilderung der organisatorischen Vorbereitungen der Ausreise wird ebenso verzichtet wie auf eine Darstellung des ‚inneren‘ Erlebens. Erst auf Nachfrage berichtet die Biographin später genauer über die Migration der Familie. Dabei wird die Migration als Ergebnis einer kollektiven Entscheidung präsentiert, mit der sich Anna Schusters Eltern anderen Familienangehörigen anschlossen, die bereits die Entscheidung für die Wanderung nach Deutschland getroffen hatten. Mit der Migration verbindet die Elterngeneration u.a. die Hoffnung, sich selbst, insbesondere aber ihren Kindern bessere Voraussetzungen für ein selbst gestaltetes und diskriminierungsfreies Leben zu bieten. Dieses Auswanderungsmotiv resultiert aus kollektiven Erfahrungen mit sozialer Abwertung und Ausgrenzung aufgrund der ethnisch-religiösen Zugehörigkeit sowie dem staatlich verhinderten Zugang zu prestigeträchtigeren beruflichen Bildungsgängen.9 A: unsere Eltern konnten halt nicht immer die Ausbildung machen die sie gerne wollten also Ärzte, Lehrer das war halt verboten für Deutsche weil man eben in Russland deutsch war, nicht? ja. Und dann eben viele Eltern sich Gedanken gemacht, gesagt also damit unsere Kinder nicht diese Erfahrungen machen müssen ähm wollen wir ihnen was Besseres bieten. Also dass 9
Die Generation von Anna Schusters Eltern wurde in staatlichen Schulen ausgebildet, in denen kein Deutsch unterrichtet wurde (vgl. Wisotzki 1992: 186). Der Aufbau eigener Bildungseinrichtungen und die religiöse Erziehung ihrer Nachkommen waren der mennonitischen Minderheit in der UdSSR untersagt. Obwohl die Mennonit*innen die Vereinnahmung ihrer Kinder durch die sowjetische Kultur in den staatlichen Bildungseinrichtungen befürchteten, sahen viele Familien in einer guten Ausbildung ihrer Kinder das Fundament für bessere Lebensbedingungen (vgl. ebd.: 186). Allerdings ließen sich diese Bildungsaspirationen nur eingeschränkt realisieren. Aus Zeitzeug*innenberichten geht hervor, dass Kinder und Jugendliche, die in den 1950er und 1960er Jahren die Schule besuchten, aufgrund ihrer ethnischen Identität in der Schule vielfältigen Benachteiligungen und Diskriminierungen ausgesetzt waren (vgl. ebd.: 186). Über die Teilhabe der Generation von Anna Schusters Eltern an beruflicher Bildung lassen sich auf Basis der Literatur zwar keine gesicherten Aussagen treffen; Zeitzeug*innenberichte legen allerdings nahe, dass ihnen die Aufnahme höher qualifizierender beruflicher Bildungsgänge von staatlicher Seite zumindest erschwert wurde (vgl. ebd.). Eine indirekte Diskriminierung beim Zugang zum Studium resultierte auch daraus, dass die mennonitischen Jugendlichen in der Regel nicht in die kommunistischen Jugendorganisationen integriert waren, weil die Familien bestrebt waren, sie gemäß ihres eigenen Weltbildes zu erziehen und sie von der sowjetischen Ideologie fernzuhalten. Die Mitgliedschaft in den staatlichen Jugendorganisationen bildete jedoch eine Voraussetzung für die Aufnahme eines Studiums (vgl. Löwen 1998: 219, zit. n. Schäfer 2010: 40). Auch Anna Schuster berichtet davon, dass ihre Mutter ihren Berufswunsch, als Lehrerin zu arbeiten, aufgrund staatlicher Einschränkungen nicht realisieren konnte.
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sie jetzt nicht hier - Traktorist oder irgendwie solche Ausbildung haben also Melkerin oder so was halt Gang und Gäbe war bei den Eltern, ähm man wollte halt für seine Kinder mehr, man wollte ihnen etwas ermöglichen was sie selber nicht hatten. Und ich habe hier erst, ich glaube vor zwei Jahren erst erfahren dass der WUNSCH meiner Mutter Lehrerin zu werden. Und ähm so ich glaube so ihr - sie hat es bisher - also ich hab es nie gehört - und so ihr persönlicher Wunsch dass=dass meine Kinder was Besseres lernen dass sie was Besseres verdienen, dass sie einfach auch dass - die eigentlich wollten dass die Kinder nicht dieses - wertende Gefühl also in Russland waren wir Deutsche und Außenseiter, ja, dass ihre Kinder das nicht haben, dass sie /(lauter) eigentlich in eine Heimat kommen, ja also eben da wo sie hingehören zu den Ursprüngen zurück/, das war halt so deren Wunsch eben auch so dass man den Kindern eine neue Welt neue Möglichkeiten eben auch ermöglichen kann. (23/16-31)
Mit der Migration nach Deutschland verbinden die Eltern auch die Hoffnung, dass ihre Kinder „eigentlich in eine Heimat kommen, ja also eben da wo sie hingehören zu den Ursprüngen zurück“ (23/29-30). Anna Schusters Erklärung der Gründe für die Migration spiegelt damit einerseits Topoi aus dem hegemonialen Diskurs über die Aussiedlung der Russlanddeutschen wider, die die Migration legitimieren: die strukturelle und alltägliche Diskriminierung als natio-ethno-religiöse Minderheit und der Wunsch, „als Deutsche unter Deutschen leben“ zu können (Bade/Oltmer 1999: 26).10 Andererseits gibt es in Anna Schusters Familie auch konkrete eigene Erfahrungen mit vorenthaltenen Bildungs- und Berufsmöglichkeiten, die dieser Argumentation eine individuelle Bedeutung verleihen: Anna Schuster berichtet, von ihrer Mutter erst vor kurzem erfahren zu haben, dass diese gerne Lehrerin geworden wäre, ihr dieser Berufsweg aber aufgrund staatlicher Vorgaben versperrt war. Auch die Hoffnung, den Kindern eine „Heimat“ zu schaffen, verweist auf die spezifische Positioniertheit der Familie als Angehörige der deutschsprachigen mennonitischen Minderheit, in der das Selbstverständnis als ethnisch ‚deutsch‘ (nicht allein durch den politischen und rechtlichen Kontext der Aussiedlung) sehr ausgeprägt ist. Bezieht man die Hintergründe der Migration auf Anna Schusters Darstellung des Erlebens der eigenen Positionierung im Einwanderungskontext in der Haupterzählung, so zeichnen sich deutliche Spannungen zwischen den mit der Migration verbundenen Hoffnungen und den tatsächlichen Erfahrungen ab. Die Hoffnung der Eltern, ihren Kindern in Deutschland eine „Heimat“ zu bieten, scheint zumindest für die Anfangszeit nach der Migration wenig Resonanz in den Erfahrungen der Biographin zu finden. Bezogen auf den Zugehörigkeitsstatus der Biographin und ihrer Familie bleibt festzuhalten, dass die Migration nach Deutschland nicht als eine sprachliche und soziale ‚Beheimatung‘ konstruiert wird, sondern der (sprachliche) Minoritätenstatus grenzüberschreitend fortgeschrieben wird und auch in Deutschland erhalten bleibt.
10 Die hohe Bedeutung dieser ethnischen Identifikation zeigt sich u.a. darin, dass in der überwiegenden Mehrzahl der in Russland lebenden mennonitischen Familien nach wie vor die (platt-)deutsche Sprache im Alltag verwendet wurde: Während in anderen russlanddeutschen Minderheiten 1989 weniger als die Hälfte aller Personen die deutsche Sprache beherrschte, traf dies lediglich für einen kleinen Teil der Mennonit*innen zu (vgl. Wisotzki 1992: 192).
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9.2.3 ‚Kanalisierung‘ in die Hauptschule Die Erfahrung von eingeschränkter Teilhabe- und Handlungsfähigkeit im Zusammenhang mit Sprache setzt sich auch im Folgenden weiter fort. Anna Schuster führt den Faden ihrer Bildungsbiographie weiter, indem sie den Schulwechsel nach der Migration thematisiert. A: und dann ähm - zuerst sollte ich ehm ein Jahr zurück versetzt werden also noch mal in die vierte Klasse in die Grundschule I: mhm A: ähm aber ähm weil das auch wieder aufm Dorf war und die all die Fördermöglichkeiten in (schluckt) Deutsch halt nicht gegeben waren bin ich dann ähm -- weiter gefahren ähm dann wurd ich in die Hauptschule in die fünfte Klasse, sofort, I: mhm A: eingeschult ähm und da hatt ich eben noch ein zusätzliches sprachliches Problem da kam noch Englisch dazu. Also hab ich zwei Sprachen gleichzeitig gelernt I: mhm A: oder musste ich lernen. Ähm - ja. (2/16-26)
Die Migration der Familie erfolgt, nachdem die Biographin in Russland die Grundschule abgeschlossen hat. Nach der Migration wird eine Bildungsentscheidung notwendig, die sich zunächst auf die Frage bezieht, ob Anna Schuster die vierte Grundschulklasse in Deutschland wiederholen, oder – der institutionellen Verlaufsnorm entsprechend – ohne Verzögerung in eine weiterführende Schule übergehen soll. Von wem diese Alternativen ins Spiel gebracht werden, geht aus ihrer Erzählung nicht hervor. Die Erzählerin selbst schreibt sich jedenfalls keine aktive Rolle in diesem Entscheidungsprozess zu, sie konstruiert sich als Objekt der Entscheidungen anderer. Die Option der Klassenwiederholung wird von anderen Beteiligten (vermutlich den Eltern und/oder der Schule) zunächst favorisiert, dann jedoch verworfen. Grund dafür ist eine eingeschränkte Bildungsinfrastruktur – fehlende Fördermöglichkeiten in Deutsch als Zweitsprache in der Grundschule –, die Anna Schuster auf die ländliche Struktur ihres Wohnumfeldes zurückführt („weil das auch wieder aufm Dorf war“). Dies hat zur Folge, dass die Schulwahlentscheidung pragmatisch am Kriterium der Verfügbarkeit eines Deutschförderangebots ausgerichtet wirI: Anna Schuster wird „sofort“ in die fünfte Klasse der nächstgelegenen Hauptschule eingeschult, die über eine entsprechende Möglichkeit verfügt. Auffällig ist an dieser Stelle, dass offenbar von niemandem eine andere Sekundarschulform in Betracht gezogen wird. Vor dem Hintergrund des Arguments der Deutschförderung lässt sich dies als Hinweis darauf interpretieren, dass die Hauptschule die einzige Schule in erreichbarer Nähe ist, in der Fördermöglichkeiten in Deutsch als Zweitsprache angeboten werden. In anderen Schulformen sind diese Möglichkeiten wahrscheinlich nicht gegeben, wodurch sie automatisch aus dem Spektrum des Möglichen rücken. Die Hauptschule erscheint auf diese Weise als einzige Option. Dass mit der Entscheidung für die Hauptschule zugleich auch eine durchaus weitreichende Weichenstellung für den weiteren Bildungsweg der Biographin verbunden ist, scheint eine untergeordnete Rolle zu spielen. Mit dem Argument der Deutschför-
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derung wird somit eine Kanalisierung in eine Schulform mit geringem Prestige und eingeschränkten Abschlussmöglichkeiten begründet, die Anna Schusters (schulbezogene) Handlungsspielräume langfristig präformiert und ihre Chancen auf eine Teilhabe an höherer Bildung faktisch stark limitiert. Im Nachfrageteil zeigt sich, dass die Implikationen der damaligen Schulwahlentscheidung von Anna Schuster und ihren Eltern in der Zwischenzeit bereits kritisch reflektiert worden sind. Es zeichnet sich ab, dass die Eltern mit der Entscheidung gegen das Wiederholungsjahr in der Grundschule das Ziel verbanden, ihrer Tochter eine rasche Fortsetzung ihrer Schullaufbahn zu ermöglichen und keine Zeit zu verlieren. Anna Schuster selbst verbindet mit der „sofort[igen]“ Einschulung in die fünfte Klasse aber gerade nicht die reibungslose Fortsetzung ihres Bildungsweges ohne Verzögerung. Vielmehr steht das „sofort“ für ein zeitlich gerafftes Geschehen, dessen Tempo die Biographin zu überfordern droht. Mit dem Übertritt in die Hauptschule ist nämlich zwar die Deutschförderung gesichert, aber es tut sich zugleich eine neue Komplikation auf: Anna Schuster muss parallel zur deutschen auch die englische Sprache erlernen. Das gleichzeitige Erlernen von zwei (weiteren) Fremdsprachen wird als eine institutionelle Vorgabe ohne Alternativen präsentiert. Es gibt offenbar keine Möglichkeit, statt Englisch zunächst Russisch als erste Fremdsprache zu wählen. Mit der Bewertung dieses Umstandes als „zusätzliches sprachliches Problem“ deutet sich eine Kumulation der (sprachlichen) Hürden an, mit denen Anna Schuster sich beim Eintritt ins deutsche Schulsystem konfrontiert sieht. Was sie nicht an dieser Stelle, aber in einem anderen Zusammenhang erwähnt, ist die Tatsache, dass mit dem Erlernen der deutschen Sprache zugleich auch die Notwendigkeit einer zweiten Alphabetisierung (in lateinischer Schrift) verbunden ist. Die Probleme, denen sie durch diese zweite Alphabetisierung und das zeitgleiche Erlernen zweier Sprachen an der Hauptschule ausgesetzt ist, wurden bei der Übergangsentscheidung von den beteiligten Akteur*innen offenbar nicht vorhergesehen oder unterschätzt. Mit Blick auf die Gesamtheit des Bildungswegs der Biographin muss die „sofort[ige]“ Einschulung auf die Hauptschule als problematisch bewertet werden, denn eine Wiederholung der vierten Klasse hätte Anna Schuster immerhin einen Aufschub der Entscheidung der Wahl einer Sekundarschulform ermöglicht. Entsprechende Fördermöglichkeiten in Deutsch als Zweitsprache vorausgesetzt, hätte sie diese Zeit für das Erlernen der deutschen Standard- und Bildungssprache nutzen können, was möglicherweise Spielräume dafür geschaffen hätte, nach der vierten Klasse auch andere Schulformen außer der Hauptschule in Betracht zu ziehen. Das Fehlen einer Infrastruktur von Fördermöglichkeiten in Deutsch an der Grundschule erzwingt jedoch eine frühzeitige Entscheidung für eine Sekundarschule.11 Dies führt dazu, dass keine zeitlichen Spielräume bleiben – weder für das Erlernen der deutschen Standardsprache, noch für eine ausreichend informierte ‚Bildungsentscheidung‘ seitens der Eltern. Das Schulwahlspektrum wird überdies durch die fehlenden Deutsch-Förderangebote in anderen Schulformen massiv eingeengt, so dass die Hauptschule den Beteiligten letztlich als einzig realistische Option erscheint. Dabei gibt es keine Hinweise darauf, 11 Nach dem derzeitigen Stand der Fachdiskussion sollte eine solche sprachliche Förderung zudem nicht als seperates Förderangebot angelegt sein, sondern in erster Linie im Sinne des Prinzips einer „durchgängigen Sprachbildung“ in den Regelunterricht aller Schulformen und Unterrichtsfächer integriert sein (vgl. Gogolin et al. 2010).
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dass die Hauptschule (abgesehen von der Deutschförderung) in irgendeiner Hinsicht auf die Aufnahme von Seiteneinsteiger*innen aus anderen Schulsystemen vorbereitet wäre: Anna Schuster kann ihre mitgebrachte erste Fremdsprache, Russisch, an der Hauptschule nicht weiterführen, sondern ist dazu gezwungen, wie alle anderen Schüler*innen in der fünften Klasse mit Englisch zu beginnen. Ihre Russischkenntnisse werden im Kontext der (west-)deutschen Schule entwertet und erfahren keine weitere Förderung. Auch im Hinblick auf die vorgefundene Lehr-Lernkultur ermöglicht die Hauptschule für Anna Schuster keinerlei Anschlüsse an ihre bisherigen Schulerfahrungen. 9.2.4 Schulkultureller Bruch und Verletzungserfahrungen Ihre Erfahrungen unmittelbar nach dem Wechsel an die Hauptschule bewertet Anna Schuster als „schwierig“: A: Das war schwierig. Muss ich ganz ehrlich sagen, das war erstens diese sprachliche Barriere dann ähm - also Hauptschule an sich äh das Umfeld (lacht auf) war sehr - ähm, äh - krass. Also es war wirklich krass weil=weil es einfach sehr viele verschiedene Persönlichkeiten gab ähm das war für mich eine neue Welt dann ähm die Schule an sich ähm - im Schulalltag im Unterricht diese Freiheit dass man eh die Füße aufn Tisch legt dass man den Sch-Lehrer einfach mal zurück sagt dass man einfach im Klassenraum schreit also es war für mich alles komplett neu, ich war wirklich Disziplin und Ordnung gewöhnt I: mhm A: und dass man wirklich strammsaß und aufzeigte und aufstand und auswendig lernte und nach vorne an die Tafel ging, das war ja alles nicht gegeben also (holt tief Luft) was ist denn hier los also das war ähm schon eine Erfahrung /(lachend) die mich sehr geprägt hat/ glaub ich, also ich war eher dieses Disziplinierte gewöhnt und hab mich da auch - wohler gefühlt wenn=wenn=wenn es auch hier an der Hauptschule zum Beispiel einen Lehrer gab der mehr auf Disziplin geachtet hat weil dann hat=hab ich persönlich einfach mehr lernen können I: mhm A: als in diesem lauten Umfeld. (holt tief Luft) (2/26-3/7)
Die Biographin konstruiert den Übergang in die Hauptschule als eine Situation, in der sich verschiedene Problemkonstellationen überlagern bzw. kumulieren: Neben den genannten sprachlichen Hürden (das Nicht-Verfügen über Deutsch als Standardund Bildungssprache sowie die Notwendigkeit des Erlernens einer weiteren Fremdsprache) wird der Übergang auch in sozio-kultureller Hinsicht als Bruch mit dem Vertrauten konstruiert. Während Anna Schuster aus der Grundschule in Russland „Disziplin und Ordnung gewöhnt“ ist, ist die ‚Kultur‘ der Hauptschule durch „Freiheit“ gekennzeichnet, die in ihren Beschreibungen jedoch eher als Regellosigkeit erscheint: Die Schüler*innen legen die „Füße auf den Tisch“, widersprechen den Lehrkräften und ‚schreien‘ undiszipliniert in den Klassenraum hinein. Es handelt sich um eine Situation, die die Biographin vor dem Hintergrund ihrer Erfahrungen mit der hierarchischen, disziplinierenden Schulkultur in der Grundschule als einschüchternd erlebt. Die Lehr-Lernkultur in der Hauptschule eröffnet ihr nicht etwa erweiterte Handlungsspielräume und Partizipationsmöglichkeiten, sondern sie hindert Anna Schuster im Gegenteil daran, sich „in diesem lauten Umfeld“ lernend einzubringen.
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Dies gilt umso mehr, als Anna Schuster sich in ihren sprachlichen Handlungsmöglichkeiten ja ohnehin als weitgehend eingeschränkt erlebt. Dabei lassen sich die Ausführungen der Biographin wohl weniger als grundsätzliche Kritik an einer demokratischen Schulkultur bzw. als Idealisierung einer autoritären Erziehungspraxis lesen. Darauf deutet hin, dass Anna Schuster darauf bedacht zu sein scheint, keine Verallgemeinerungen vorzunehmen und die Partikularität ihrer subjektiven Erfahrung betont („ich persönlich…“). Auch deutet die fast militärisch anmutende Beschreibung der disziplinierenden Praxis in der Grundschule („dass man wirklich strammsaß und aufzeigte und aufstand und auswendig lernte“) eher eine skeptische Haltung dazu an. Es handelt sich hier eher um den Versuch einer Erklärung der Schwierigkeit des ‚Andockens‘ an eine andere Schulkultur vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrungsgeschichte.12 Anna Schuster ist in der Hauptschule mit einer spezifischen Ausprägung einer ‚liberalen‘ Schulkultur konfrontiert, die dazu führt, dass sie die von ihr erwartete Rolle als Schülerin nur in sehr eingeschränktem Maße ausfüllen kann. Dies ist auch vor dem Hintergrund zu verstehen, dass die Schule offenbar keinerlei Begleitung für Seiteneinsteiger*innen aus den Nachfolgestaaten der UdSSR vorsieht, die die Schüler*innen dabei unterstützen würde, diesen Übergang zu bewältigen – obwohl Anna Schuster keineswegs die einzige Schülerin an ihrer Schule ist, die aus dem sowjetischen ins deutsche Schulsystem wechselt. Die Deutung des Übergangs in die Hauptschule als sprachlicher und schulkultureller ‚Bruch‘ bildet die Grundlage für die kritische Bilanzierung der eigenen Leistungen und der damit verbundenen Konsequenzen: A: /(gedehnt) ja/ - meine Leistungen an der Hauptschule waren /(lachend) nicht so toll/ also es war einfach so durch diese sprachliche Barriere kam ich einfach nur so im mittleren Bereich so durch, meine Eltern wollten gern - ähm dass ich die Schule wechsle also auf die Realschule gehe aber äh es war einfach, weil ich vom Typ her eher leise war weil dies ganze mich, ja eingeschränkt hat, gehindert hat ähm - ich war das gewöhnt dass man einfach aufgerufen wurde und dass man seine Antwort gibt hier mit dem Aufzeigen und dazwischen bin ich einfach nicht wirklich klargekommen also dies=dies=dieses Manko ist mir auch geblieben (lacht kurz) ähm dass ich eher zurückhaltend bin ja dass ich nicht von selbst äh so viel spreche I: mh A: also - äh - jetzt so zu zweit ist es nicht so schwierig aber in so einem größeren Umfeld im Seminar in der Schulklasse - oh hab ich eine Heidenangst gehabt was zu sagen, weil einfach immer dieses du bist anders, du kannst was Falsches sagen, du wirst ausgelacht - das ist einfach geblieben v-von Anfang an. Ja. (3/7-20)
Zu welchem Zeitpunkt Anna Schusters Eltern für einen Wechsel auf die Realschule plädieren, wird in der kurzen Schilderung ebenso wenig expliziert wie die Motive. 12 In Anna Schusters Erzählperspektive deuten sich zwei Sichtweisen an – während sie einerseits ihr damaliges Unwohlsein in und Überforderung mit dieser Schulkultur betont („was ist denn hier los“), nimmt sie zugleich eine reflexive Perspektive ein, indem sie dieses Unwohlsein auf ihre Vorerfahrungen zurückführt („ich war Disziplin und Ordnung gewöhnt“). An dieser Stelle kommt zum Tragen, dass sie sich bereits wissenschaftlich mit dem Thema des Schulsystemwechsels befasst und in Rahmen ihrer Examensarbeit ihre eigenen Erfahrungen reflektiert und kontextualisiert hat.
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Aus dem Gesamtzusammenhang der biographischen Erzählung heraus lässt sich jedoch schließen, dass in diesem Wunsch Bildungs- und Aufstiegsaspirationen der Eltern zum Ausdruck kommen. Diese legen Wert darauf, dass die Tochter einen Schulabschluss erlangt, der mehr Möglichkeiten eröffnet als der Hauptschulabschluss.13 Diese Bildungsaspirationen lassen sich zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht realisieren. Der erwogene Übertritt in die Realschule kommt nicht zustande – offen bleibt, ob die „nicht so toll[en]“ Leistungen diesen Schritt objektiv verhindern, oder ob Anna Schuster sich den Schulwechsel zu diesem Zeitpunkt subjektiv nicht zutraut. Dass ihre schulischen Leistungen „nicht so toll“ sind, sondern „so im mittleren Bereich“ liegen, führt die Erzählerin auf die bereits erwähnte andere Schulkultur sowie die „sprachliche Barriere“ zurück, die verhindern, dass sie sich angemessen beteiligen kann.14 Diese Argumentation dient der Erklärung ihrer mittelmäßigen Leistungen in der Hauptschule sowie der Plausibilisierung des nicht erfolgten Wechsels auf die Realschule. Anna Schusters Erläuterung, dass sie sich durch die Lehr-LernKultur der Hauptschule „eingeschränkt“ fühlte, scheint zwar zunächst für einen Wechsel der Schulform und des Lernmilieus zu sprechen. Sie lässt sich allerdings auch so lesen, dass die Lernbedingungen einen kommunikativen Rückzug der Biographin provozieren, der dazu führt, dass sie die Kriterien, die eine notwendige Voraussetzung für den Übertritt in eine Realschule wären, nicht erfüllt. Auffällig ist dabei, dass Anna Schuster ihre kommunikative Zurückhaltung („dass ich von selbst nicht so viel spreche“) nicht als ein kontext- und zeitspezifisches Phänomen interpretiert, sondern sie zum Teil einer übergreifenden Selbstcharakterisierung macht, indem sie sich als eher „leise(n) Typ“ und als „zurückhaltend“ beschreibt. Die kommunikative Zurückhaltung wird damit untrennbar mit ihrer Person verbunden und mit einer negativen Bedeutung besetzt: In Gruppensituationen (Seminar, Schulklasse) stellt die Hemmung, etwas „zu sagen“ ein „Manko“ dar15. Die Hemmung, sich verbal zu äußern, wird so als eine Art Stigma konstruiert, das negative Auswirkungen auf Anna Schusters künftige Handlungsmöglichkeiten hat.
13 Denkbar (allerdings nicht belegbar) ist außerdem, dass sie einen Schulwechsel anstreben, um ihrer Tochter das Leiden unter der spezifischen Lehr-Lernkultur der Hauptschule zu ersparen. 14 Auffällig ist der hier bereits zum zweiten Mal benutzte Ausdruck „sprachliche Barriere“. Dieser kann einerseits als Bild für eine (nicht selbstverschuldete) Blockade gelesen werden, die nicht einfach überwunden werden kann. Der Ausdruck ruft aber auch die Assoziation mit einer Krankheitsdiagnose auf. In diesem Fall würde die „Barriere“ die Zuschreibung eines individuellen Defizits symbolisieren. Denkbar ist, dass darin eine diagnostische Außenperspektive auf die sprachliche Situation der Biographin zum Ausdruck kommt, mit der sie in der Schule konfrontiert wurde. Da sich die Schule als monolingual konstruiert, wird die sprachliche Situation von mehrsprachigen Kindern in erster Linie als defizitär wahrgenommen. Dies kann zu individualisierenden Defizitdiagnosen führen, die die Schule als Institution davon entlasten, adäquate Antworten auf die mehrsprachige lebensweltliche Realität der SchülerInnen zu finden. 15 Dieser Beleg ist notwendig, weil die Interviewerin Anna Schusters Selbstcharakterisierung im Setting des narrativen Interviews möglicherweise nicht nachvollziehbar oder überzeugend findet, denn hier spricht sie ja ohne ersichtliche Hemmungen.
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Die Formulierung „Manko, das mir geblieben ist“ legt zugleich nahe, dass es sich dabei nicht um eine ‚schon immer dagewesene‘, sondern um eine durch Erfahrung erworbene Haltung handelt, die sie nicht mehr ohne Weiteres ‚abschütteln‘ kann. In Anlehnung an Pierre Bourdieu (1987a: 97ff.) könnte man von einem Prozess der Inkorporierung und Habitualisierung sprechen: Die verbale Zurückhaltung wird zu einem Teil ihrer selbst. Darüber hinaus legt die Formulierung „das Manko, das mir geblieben ist“, die Assoziation mit einer Narbe dar, die bei einer Verletzung entstanden ist. Worin diese Verletzung bestehen könnte, deutet sich im letzten Teil der Sequenz an: Anna Schuster vermeidet es in der Gruppe zu sprechen, weil sie dadurch als ‚Andere‘ erkennbar und damit verletzbar wird. Sie muss damit rechnen, von ihren Mitschüler*innen „ausgelacht“ zu werden, sobald sie sich äußert. Die Zurückhaltung der Biographin lässt sich somit (auch) als eine Strategie des Selbstschutzes in einer sozialen Situation interpretieren, in der sie durch öffentliches Sprechen eine Angriffsfläche bieten würde. Ihre Darstellung legt allerdings nahe, dass es sich dabei um eine Strategie handelt, die am Ende zu einer Beschränkung führt. Bis hierhin lässt sich zunächst festhalten, dass für Anna Schuster mit dem Übertritt ins deutsche Schulsystem Erfahrungen des Unwirksamwerdens und der Abwertung der eigenen Artikulationsmöglichkeiten verbunden sind, die sie als Erfahrung der Sprachlosigkeit konstruiert. Die Hauptschule tritt Anna Schuster als eine sprachlich und sozio-kulturell ‚fremde‘ Institution entgegen, in der sie sich selbst in ihrer sprachlichen Disponiertheit nicht wirksam einbringen kann, oder – wenn sie sich mit ihren sprachlichen Mitteln artikuliert – mit Verletzungen rechnen muss. Sie schützt sich davor mit einer defensiven Strategie, indem sie vermeidet, sich öffentlich zu artikulieren. Diese Strategie hinterlässt jedoch Spuren – und sie ist biographisch betrachtet im negativen Sinne ‚produktiv‘: In Situationen, in denen sprachliche Beteiligung eine Voraussetzung für Teilhabe darstellt – wie z.B. in einem Seminar oder einer Lerngruppe – bietet sie nicht nur Schutz, sondern wird zu einem Hindernis. Welche Rolle die Lehrer*innen in diesem Zusammenhang gespielt haben, thematisiert Anna Schuster nicht. Sie berichtet an keiner Stelle davon, dass Lehrkräfte bei Angriffen und Ausgrenzungen ihrer Mitschüler*innen interveniert hätten. Vielmehr macht die Erzählerin Missachtungserfahrungen auch mit Lehrer*innen. Im Nachfrageteil berichtet sie beispielsweise von ihrem Klassenlehrer in der Hauptschule, der ihr vorwirft, „deine Schrift ist wie abgekochte Hühnerkacke“ (18/26). In dieser Äußerung kommt sowohl eine persönliche Missachtung zum Ausdruck als auch eine erhebliche Ignoranz gegenüber dem Schriftspracherwerbprozess seiner Schülerin: dem Umstand, dass Anna Schuster nach ihrem Übertritt ins deutsche Schulsystem zunächst das lateinische Schriftsystem erlernen muss. Die negativen Erfahrungen mit Lehrer*innen werden von der Biographin zwar nicht explizit auf eine Kategorisierung oder Stigmatisierung als ‚Migrationsandere‘ zurückgeführt. Ihre Ausführungen an einer anderen Stelle legen jedoch nahe, dass Anna Schusters Erfahrungen auch im Lichte einer vorwiegend ablehnenden Haltung gelesen werden müssen, die im Schulkollegium gegenüber ‚Aussiedlerschüler*innen‘ besteht. So wird der Rektor der Hauptschule, den Anna Schuster an anderer Stelle erwähnt, von ihr als „einer der wenigen“ bezeichnet, der an der Schule „für Aussiedler war“ (20/8). Sein Engagement für Aussiedlerschüler*innen macht die Biographin daran fest, dass er den Schüler*innen Akzeptanz und Wertschätzung entgegenbringt
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und sich dafür einsetzt, dass sie die Chance bekommen, auf statushöhere Schulformen zu wechseln. Die Formulierung „einer der Wenigen der für Aussiedler war“ deutet darauf hin, dass die Anwesenheit von Schüler*innen aus ausgesiedelten Familien innerhalb der Schule zu einem Diskussionsthema geworden ist.16 Anna Schusters Bemerkung verweist darauf, dass „Aussiedler“ im Schulkollegium als eine homogene Kategorie von Schüler*innen konstruiert werden, der die Mehrheit der Lehrkräfte eher misstrauisch oder ablehnend gegenübersteht. Mit dem Rektor verfügen die Schüler*innen zwar über einen mächtigen Fürsprecher, er vertritt im Kollegium jedoch eine Minderheitenposition. Die kurze Bemerkung über den Rektor stellt Anna Schusters Erfahrungen mit der Abwertung durch Lehrer*innen in einen breiteren Kontext: Es handelt sich um eine Situation, in der die Biographin von Lehrer*innen als ‚Aussiedlerin‘ typisiert und dadurch verletzbar wird. 9.2.5 Das Streben nach Leistung und die Willkür von Leistungsbeurteilungen Anna Schuster besucht die Hauptschule bis zum Ende der zehnten Klasse, mit dem Ziel, die Qualifikation zu erlangen, die zum Besuch der gymnasialen Oberstufe berechtigt. Dies entspricht sowohl ihrem eigenem Wunsch als auch den Vorstellungen ihrer Eltern, die sich für ihre Tochter mehr wünschen als einen Hauptschulabschluss. Ein „vernünftiger Abschluss“ hat (auch) „in Russland“ etwas bedeutet und wird daher aus Sicht der Familie als wertvolles Bildungskapital verstanden. Ein Hindernis auf dem Weg zu diesem Ziel sind allerdings Anna Schusters Leistungen im Fach Englisch, für die ihr ihre Englischlehrerin schlechte Noten ausstellt.17 Dies erschwert den Zugang zur zehnten Klasse des Typs „10b“, die sie absolvieren muss, um die Fachoberschulreife erwerben zu können, die dann (bei Erfüllung bestimmter Notenvoraussetzungen) zum Besuch der gymnasialen Oberstufe berechtigt. Anna Schuster muss sich deswegen zu Beginn der zehnten Klasse einer Prüfung in Englisch unterziehen, die von einer anderen Lehrerin abgenommen wird. A: und ähm (schluckt) habe dann ähm zum Anfang des zehnten Schuljahres so ne Prüfung machen müssen und dann hat sich halt rausgestellt das war nicht ich das war meine Lehrerin (lacht) ähm die halt einfach nicht wollte dass ich das äh weitermache. Und diese Prüfung hat jemand anders gemacht und die hat gesagt ja ich weiß gar nicht was für ein Problem sie hat, nech also du hast gar nicht so=so Englisch Schwierigkeiten ähm es kam halt einfach auf die Art an ähm ja, was man da jetzt abgefragt hat, nicht? I: mhm A: also was man da verlangte. Auf jeden Fall hab ich die 10 b dann noch (lacht) - erreicht I: mhm 16 Diese Lesart erscheint insbesondere vor dem Hintergrund plausibel, dass in den Jahren 1989/90 besonders viele russlanddeutsche Familien nach Deutschland migrierten und die Anwesenheit der Kinder an den Schulen zunehmend spürbar und problematisiert wurde. 17 Die Eltern treten hier als mentale Unterstützer*innen auf, die an ihre Tochter ‚glauben‘ und sie zum „Weitermachen“ ermutigen. Zugleich können sie ihr vermutlich gerade in Englisch keine Unterstützung geben, da sie selbst im russischen Schulsystem keinen Englischunterricht hatten.
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A: und ähm dann auch ähm mit gutem Erfolg bestanden ich hab meine Qualifik-Qualifikation bekommen ähm - ja. (3/34-4/7)
Durch die ‚neutrale‘ Prüferin werden Anna Schusters Leistungen und ihre bisherige Beurteilung in ein anderes Licht gerückt. Das positive Ergebnis der Prüfung wird als eine Fehldiagnose der Englischlehrerin präsentiert – es ‚stellt sich heraus‘, dass Anna Schusters Leistungen in Englisch weniger schwach sind als die bisherige Bewertung nahe gelegt hat und sie kein ‚objektives‘ Hindernis auf dem Weg zur Fachoberschulreife darstellen. Bei der Prüfung stehen also nicht nur Anna Schusters Leistungen auf dem Prüfstand, sondern auch die Bewertungsmaßstäbe ihrer Englischlehrerin, die sich als unangemessen erweisen. Anna Schuster wird es dadurch möglich, die schlechte Benotung nicht mehr als objektive Widerspiegelung ihrer Leistungen zu interpretieren, sondern als ein Ergebnis einer spezifischen Prüfungs- und Bewertungspraxis. Die Englischlehrerin wird dabei als Gatekeeperin konstruiert, die die Macht hat, Anna Schuster an der Fortsetzung ihres Bildungswegs zu hindern. Dabei wird ihr auch eine persönliche Absicht zugeschrieben (sie „wollte nicht, dass ich das weitermache“). Die Erfahrung mit der Englischprüfung erschüttert somit den Glauben der Biographin an objektive Bewertungsmaßstäbe und ‚gerechte‘ Leistungsbeurteilungen. Diese Erfahrung bedeutet einerseits eine Entlastung, da schlechte Noten nicht mehr allein auf das eigene Versagen zurückgeführt werden müssen. Andererseits bedeutet sie jedoch eine Verunsicherung: Anna Schuster erfährt, dass das meritokratische Versprechen der Schule nicht eingehalten wird und daher kein ‚automatischer‘ Zusammenhang zwischen schulischem Bemühen und Erfolg in Form der Anerkennung von Leistungen gegeben ist. Die Wirksamkeit der eigenen Strategie, durch Anstrengungen Leistungen zu erzielen18, steht damit ebenso infrage wie die Mechanismen der Leistungsbeurteilung, die durch diese Erfahrung zunehmend undurchschaubar werden. Anna Schuster bewältigt somit zwar die konkrete Hürde der Englischprüfung und ebnet sich dadurch den strategisch wichtigen Zugang zu einer Abschlussklasse des Typs 10b (die Voraussetzung für die Fachoberschulreife) – zugleich wird aber das Fundament ihrer schulischen Orientierung an individueller Anstrengung und Leistung brüchig: Anna Schusters Leistungen werden von anderen anhand intransparenter Maßstäbe gemessen und beurteilt. Dass sie die Fachoberschulreife mit dem Qualifikationsvermerk für die Oberstufe schließlich erreicht, scheint letztlich nur dem glücklichen Zufall zu verdanken zu sein, dass die Englischprüfung zur 10b von einer Lehrerin abgenommen wird, deren Prüfungs- und Bewertungspraxis sich von der von Anna Schusters Englischlehrerin unterscheiden. Die ‚lokalen‘ Erfolgserlebnisse ändern daher nichts an der grundlegenden Erfahrung eines heteronom gesteuerten schulischen Verlaufs; Anna Schusters Bildungsweg ist (weiterhin) von Bedingungen abhängig, auf die sie selbst nur wenig Einfluss hat. An anderer Stelle wird deutlich, dass die Biographin auch mit ihrem Klassenlehrer die Erfahrung macht, dass ihre Anstrengungen nicht gewürdigt und ihre Leistun-
18 Anna Schuster selbst führt ihre Leistungsorientierung auf ihre Erfahrungen im russischen Schulsystem zurück. Sie verweist möglicherweise aber auch auf eine Leistungsethik, die charakteristisch für das streng protestantische Herkunftsmilieu ist.
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gen nicht adäquat anerkannt werden. Anna Schuster beschreibt ihr Verhältnis zu ihrem Klassenlehrer als einen „stille[n] Kampf“: A: ich war nie laut aber ähm so - ja=a ein=ein stiller Kampf gegen diesen Lehrer quasi, nicht?, so dass man beweisen möchte ich kanns trotzdem auch wenn du mir diese Leistung nicht GÖNNST oder was auch IMMER ich weiß es nicht also - wir sind halt nie so in Konflikt gekommen aber es war halt immer - die Leistung war für ihn nicht gut genug. (18/27-31)
In dieser Formulierung wird erneut die Undurchsichtigkeit der Bewertungsmaßstäbe deutlich; Anna Schuster „weiß es nicht“, warum ihre Leistungen „für ihn [den Lehrer, D.S.] nicht gut genug“ sind. Sie interpretiert seine Leistungsbewertung daher als eine Weigerung bzw. Vorenthaltung einer ihr zustehenden Anerkennung ihrer Leistungen. Es ist ihr dabei offenbar nicht möglich, diese Frage offen zu thematisieren, was angesichts der Abwertungserfahrungen, die Anna Schuster mit ihrem Klassenlehrer macht, nicht schwer nachzuvollziehen ist: Sie muss befürchten, dass mit einer offenen Thematisierung des Eindrucks einer ungerechten Leistungsbeurteilung auch die Gefahr weiterer Verletzungen verbunden ist. Zudem verfügt der Lehrer über eine besondere Machtposition, da er Anna Schuster in „acht Schulfächern“ (4/8-9) unterrichtet. Ihm kommt daher eine Schlüsselrolle für den weiteren Verlauf ihrer Schullaufbahn zu; sie ist von seinen Leistungsbeurteilungen in hohem Maße abhängig. Auch ihre Eltern erlebt die Biographin in diesem Zusammenhang als machtlos.19 Sie tritt darum nicht in einen offenen „Konflikt“ mit ihrem Lehrer, sondern begibt sich in eine „stille“ Oppositionshaltung. Sie verfolgt die Strategie, dem Klassenlehrer durch Anstrengungen zu „beweisen“, dass er mit seiner Einschätzung ihrer Leistungen falsch liegt. Diese Strategie erscheint von außen betrachtet jedoch als riskant, da sie die Mobilisierung enormer Kräfte erfordert und zudem den Erfolg nicht garantiert. Anna Schuster versucht, sich die Anerkennung ihrer Leistungen gegen eine Person zu erkämpfen, die immer ‚am längeren Hebel‘ sitzt, da sie über die Legitimation der Leistungsbewertung verfügt und die Definitionsmacht über die Bewertungsmaßstäbe besitzt, die über Erfolg und Misserfolg entscheiden. Die Anerkennung ihrer schulischen Anstrengungen und Leistungen bleibt Anna Schuster letztlich bis zum Ende der Schulzeit verwehrt. Obwohl sie formal die Qualifikation erlangt, die zum Besuch des Gymnasiums berechtigt, erkennt ihr Klassenlehrer ihre Leistungen nicht an, sondern wertet sie bei der Zeugnisausgabe sogar öffentlich ab, indem er deutlich macht, dass sie lediglich weniger schlecht seien als erwartet. In einer rückblickenden Evaluation ihrer Hauptschulzeit im Nachfrageteil des Interviews wird erkennbar, dass die Biographin ihre Strategie, durch Anstrengungen Leistungen und dadurch Erfolge zu erzielen, im Kontext der Hauptschule als wirkungslos erfährt. A: ich denke auch durch die Prägung im russischen Schulsystem dass ja, also Leistung hat immer was gezählt ja, also wenn du mittelmäßig, schlecht warst das war halt dann warst du halt 19 A: Das=das, ja man ist zum Elternsprechtag gegangen und=und jaaa (atmet tief ein) man kann den Lehrer halt nicht verändern und seine Einstellung auch nicht ja, und ähm wenn er halt dagegen ist dann ist er dagegen. Und da kann man von zuhause aus eben ermutigen, nicht, weiterzumachen trotzdem. (24/34-37)
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ne Null in der Gesellschaft im Umfeld ja welche Noten haben denn deine Kinder es war halt immer - Leistung musste man zeigen und wahrscheinlich hat mich das damals so geprägt dass ja und hier eben dass ich die Leistung nicht bringen konnte oder dass die Leistung ähm - ja nicht so gewertet wurde wie ich dachte dass ich sie gebracht habe ja so dieses Gefühl - eigentlich hättest du es nicht besser sagen können aber es war eben nicht genug. Und dann immer diese Rückschläge das war=das war halt immer so ja, biste halt doof ne. So ne. (17/22-30)
Trotz der Erfahrung vorenthaltener Anerkennung ihrer Leistungen fasst sie jedoch – auch durch Ermutigung der Eltern – genügend Vertrauen in das eigene Leistungsvermögen, um eine weiterführende Bildungsperspektive entwickeln und verfolgen zu können. Sie bewertet den Umstand, dass „mehr Zweien auf dem Zeugnis standen als Vieren“ als ein persönliches „Erfolgserlebnis“, das sie dazu motiviert habe, das Abitur anzustreben. Es gelingt ihr also, entgegen der Abwertung durch ihren Klassenlehrer, einen wertschätzenden Blick auf ihre Leistungen einzunehmen. Es lässt sich allerdings vermuten, dass die Entwicklung und das Verfolgen einer weiterführenden Bildungsperspektive gegen das Urteil legitimierter Professioneller erhebliche Anstrengungen und eine enorme Frustrationstoleranz erfordern. 9.2.6 „Lesen kannst du“ – die Liebe zu Büchern als (bildungs-)biographische Ressource und Lesen als Assimilationsstrategie Neben Anna Schusters überwiegend negativer Bilanzierung ihrer Hauptschulzeit kommt ein Aspekt zur Sprache, der mit den Misserfolgs- und Abwertungserfahrungen kontrastiert: A: das Einzige war ähm, wo ich auch immer halt durchgekommen bin, lesen kannst du. Also das war auch im Englischen, das war auch im Deutschen so ähm das war auch glaube ich so ne Prägung vom russischen Schulsystem Lesen war sehr wichtig man sollte viel lesen also auch außerhalb also auch in der Freizeit lesen zur Bibliothek Bücher ausleihen also - das war kein Zwang aber die Schule war bei mir ähm -- also über die Straße und ähm wir hatten einen ähm ich hab immer nachmittags Schule gehabt so dass ich vormittags in der Bibliothek war (lacht). Also ich hab mir ganz oft Bücher ausgeliehen ich hab - ich hatte damals auch einen Strick- also so ne Strick AG die fand auch in der Bibliothek statt also ähm waren wir immer umgeben von Büchern so tja und so dieses ähm - ich weiß nicht - ähm - also ich liebe Bücher ich liebe die lesen und=und alles Mögliche auch und das ist wahrscheinlich damals auch nicht nicht bewusst aber so=so=so=son Grund gelegt worden, Lesen ist wichtig und durch Märchen also dadurch dass ich gerne gelesen hab dass es bunte Bilder durch Märchen einfach ähm immer weiter gelesen hab immer mehr ähm ich hatte irgendwann alle Kinderbücher in der Bibliothek durch dadurch dass ich eben auch sehr nah dran wohnte ähm auch halt ständig da vorbei gehen konnten (18/41-19/15)
Anna Schuster thematisiert mit dem Lesen eine Kompetenz, über die sie verfügt, und der sie eine besondere Bedeutung für ihre Bildungsgeschichte zuweist. Das positive Urteil über das Lesevermögen („lesen kannst du“) impliziert Anerkennung, transportiert zugleich aber auch eine negative Aussage über Fähigkeiten in anderen Bereichen. Dass Anna Schuster diese zwiespältige Würdigung in der zweiten
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Person Singular widergibt, deutet darauf hin, dass diese von anderen (vermutlich ihrem Lehrer) ausgesprochen wurde. Das Lesen erhält den Status einer singulären Kompetenz der Biographin, die in der Schule Anerkennung findet. Ihre Fähigkeiten im Lesen erklärt Anna Schuster (im Rückgriff auf ein gängiges Erklärungsmuster) mit der eigenen Lesesozialisation. Die „Prägung“ durch das Lesen führt sie sowohl auf ihre formale Bildung in der russischen Grundschule zurück als auch auf ihre lebensweltliche Lesesozialisation. Die räumliche Nähe zur Bibliothek in Anna Schusters Herkunftsort und der Nachmittagsunterricht in der Schule machen die Bibliothek zu ihrem bevorzugten Aufenthaltsort an den Vormittagen. Auch organisierte Freizeitaktivitäten („Strick-AG“) finden dort statt. Die Bibliothek ist mithin ein Ort, der in Anna Schusters Kindheit als sozialer Bezugspunkt und Lernort in vielfältiger Hinsicht Bedeutung erlangt. Das Entleihen und Lesen von Büchern wird zu einem regelmäßigen Bestandteil ihres Alltags. Ihre besondere Verbundenheit zu „Büchern“ wird durch die Betonung der räumlichen Nähe zur Bibliothek, die Regelmäßigkeit ihrer Entlehnungen und schließlich die Aussage, alle verfügbaren Kinderbücher gelesen zu haben, verdeutlicht. Darüber hinaus wird auch eine emotionale Dimension erkennbar – die spontane Äußerung „ich liebe Bücher“ hebt sich deutlich von dem sonst eher ‚kargen‘ Präsentationsstil der Erzählerin ab und markiert eine besondere Verbundenheit zum Lesen und zur Literatur. Das Vermögen, gut lesen zu können, wird im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen als eine Ressource charakterisiert, die ihren Wert auch durch die Migration nicht verliert. A: ähm dieses Lesen ist halt dann einfach wichtig geworden, nicht?, so wie Leistung (lacht) war eben auch Lesen und ähm mit Leistung hat es nicht so wirklich geklappt aber mit Lesen bin ich halt immer ja also mit Vorlesen dann - ähm das war dann immer das war glaube ich immer so wirklich - fast die einzige positive Erfahrung die ich so machen konnte. Also in Kunst eh - JA - da hab ich auch in er Hauptschule keine Probleme gehabt halt weil - es lag mir irgendwie aber gerad so in den Sprachen wo man sich vielleicht nicht richtig ausdrücken konnte oder (atmet tief aus) /(gedehnt) ja/ nicht genug wusste weil dann - mit dem Lesen eben zu punkten war halt - war auch gut. (19/15-23)
Das Lesen wird von Anna Schuster mit der Bedeutung von Leistung parallelisiert – beide haben einen zentralen Stellenwert als Elemente im russischen Schulkontext. Für Anna Schuster selbst stellen beide wichtige Kriterien für ihr subjektives Erleben von Schulerfolg und -versagen dar. Im Hinblick auf den deutschen Schulkontext konstruiert sie ihre Lesekompetenz als Möglichkeit, ihre mangelnden Erfolge auf der Ebene (gut benoteter) Leistungen teilweise zu kompensieren. Das Lesen steht für die Biographin für die „fast einzige“ schulische Erfolgserfahrung neben dem Kunstunterricht, der sich ebenfalls positiv von den sonstigen Misserfolgserlebnissen abhebt. Gerade in den sprachlichen Fächern biete die Fähigkeit, gut (Vor-)Lesen zu können, eine Möglichkeit, andere Schwächen (sich nicht „richtig ausdrücken“ können) auszugleichen. Das Lesen erhält somit die Bedeutung einer biographischen Ressource für Anna Schusters Schulbiographie, die ihr ein gewisses Maß an schulischer Anerkennung garantiert und ihre subjektive Wahrnehmung von Schulerfolg entscheidend mitbestimmt.
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Anna Schuster konstruiert die Liebe zu Büchern als eine Erfahrung, die beide Teile ihrer Bildungsgeschichte über den Schulformwechsel hinweg miteinander verbindet. Dies wird auch durch eine schulische ‚Maßnahme‘ gerahmt. A: Ähm wir hatten ähm Förderunterricht in der Hauptschule und der war auch wieder in der Bibliothek (schmunzelt) (...) ja vielleicht haben wir nicht so viel Förderunterricht gemacht aber es war ein - ähm wir haben dann die Bibliothek umsortiert I: mhm A: und ähm - war vielleicht auch ne didaktische Maßnahme von ihm ich weiß es nicht dadurch dass wir die Bücher umgeräumt haben, haben wir einfach auch reingeguckt. Ähm und ähm es gab halt - die sehen ganz anders aus, nicht es sind ganz andere - Märchen die man halt kennt also Geschichten die man in russischer Sprache vielleicht gekannt hat und die vielleicht gibts hier nicht und dadurch hab ich wieder halt den Zugang auch zu den Büchern bekommen ja. Ich denke äh - also ich kann mich erinnern eh dass ich auch da - Bücher mitgenommen habe also wirklich - dadurch dass wir dann in der Bibliothek waren. (1) Hab ich schon vergessen (beide lachen) aber es ist - ist äh wirklich so - ist halt immer - ist halt doch immer die Bücher das Umfeld. (20/2-25)
Die Bibliothek wird als eine Brücke zwischen den beiden Bildungskontexten konstruiert, die auf räumlicher Ebene eine vertraute Umgebung darstellt. Der Lernort Bibliothek verbindet Anna Schusters Kindheitserfahrungen in Russland in positiver Weise mit dem neuen Bildungskontext der Hauptschule in Deutschland. In der Hauptschule fungiert die Bibliothek als Ort für den Deutsch-Förderunterricht. Zwar relativiert Anna Schuster aus ihrer Gegenwartsperspektive als angehende Primarstufenlehrerin die Intensität des Förderunterrichts, jedoch eröffnet das Umsortieren der Bibliothek für sie den Zugang zu deutschsprachigen Büchern. Zwar kann die Biographin nicht sagen, ob die Wirkung dieser „Maßnahme“ pädagogisch intendiert war. Sie bietet jedoch subjektive Anknüpfungspunkte für ihr biographisch gewachsenes Interesse an Büchern und ihre Liebe zum Lesen. Der Lernort der Bibliothek und das Umsortieren der Literatur eröffnen also – wohl eher zufällig und vor dem spezifischen Erfahrungshintergrund der Biographin – die Möglichkeit einer biographischen Verknüpfung. Anna Schuster weist dem Lesen aber auch noch eine weitere Bedeutung zu: das Lesen wird in der Migrationssituation zu einer assimilatorischen Strategie, die der Herstellung von Zugehörigkeit dient: A: ähm ich glaube da - mh - dass ich viel gelesen hab in russischer Sprache I: mhm A: und ähm es gab hier keine russischen Bücher aber ich wollte lesen. Ich glaube dieser Wunsch einfach zu lesen ähm - hat eben auch so dann ich - mit dazu beigetragen dass ich gesagt hab ich will so schnell wie möglich die deutsche Sprache l-lernen lesen sprechen. Ich hab auch dann, was ich im Nachhinein denke es war nicht so gut ähm also ich hab- kein russisches Wort mehr gesprochen nicht russisch gelesen gar nicht also ich wollte deutsch werden ich wollte - dazu gehören, nicht?, so dieses Gefühl ja ähm endlich mal nicht nicht am Rande zu stehen sondern dazu gehören, das wollte ich eben auch über die Sprache, nicht?, weil das war das erste was ausgegrenzt hat I: mhm
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A: Also Aussehen ist vielleicht eins aber die Sprache war eben das wo - du konntest dich nicht verständigen und ähm - ich glaube dadurch dass ich - dass ich einfach gerne lesen wollte und dass ich dazugehören wollte halt das - das hat dazu beigetragen dass ich auch deutsche Bücher gelesen hab (19/26-40)
Die Ausführungen haben an dieser Stelle den Status von nachträglichen Erklärungsversuchen und Vermutungen, was durch den Zusatz „ich glaube“ indiziert wird. Nachdem Anna Schuster in Deutschland keine russischsprachigen Bücher zur Verfügung hat, beginnt sie deutschsprachige Bücher zu lesen20; dies wird zunächst als rationale Strategie eines effizienten (Schrift-)Spracherwerbs präsentiert. Zudem ist das Lesen von Büchern in deutscher Sprache für die Biographin mit der Hoffnung und Erwartung geknüpft, sich dem neuen Kontext zugehörig zu machen und eine Identitätstransformation zu vollziehen (selbst „deutsch [zu] werden“). Das Lesen als kulturelle Praxis wird somit in Verbindung mit Fragen von Zugehörigkeit gebracht. Anna Schuster konstruiert das Lesen deutschsprachiger Bücher als bewussten Akt der Distanzierung von der russischen Sprache und eine Strategie der Identifizierung als ‚Deutsche‘. Dass sie sich so deutlich vom Russischen abgrenzt („kein russisches Wort mehr gesprochen“), wird mit dem Wunsch begründet, „endlich mal nicht am Rand stehen zu wollen“. Offenbar macht der Wunsch nach Zugehörigkeit zum Kontext „Deutschland“ es notwendig, jegliche Hinweise auf die Herkunft aus dem russischsprachigen Raum unsichtbar zu machen, denn die „Sprache [...] war das erste was ausgegrenzt hat“. Interessant ist, dass die Erzählerin sich hier auf die russische Sprache bezieht, während die Bedeutung ihrer Familiensprache Plattdeutsch nicht thematisiert wird. Die Abgrenzung vom Russischen stellt möglicherweise eine Reaktion darauf dar, dass Anna Schuster – wie sie an anderer Stelle beschreibt – in der Schule zusammen mit anderen Aussiedlerschüler*innen „als Russen abgestempelt“ (28/8) wurde. Die Abgrenzung gegenüber der russischen Sprache lässt sich vor diesem Hintergrund als Reaktion auf eine kollektive Fremdkategorisierung als „Russen“ verstehen, die keinen Spielraum für weitere Differenzierungen jenseits nationaler Zugehörigkeiten (etwa entlang Sprache, Ethnizität oder religiöser Zugehörigkeit) lässt. Im Nachhinein bewertet Anna Schuster das Verbannen des Russischen aus dem lebensweltlichen Alltag und das Bestreben „deutsch werden“ zu wollen als problematisch. Zu vermuten ist, dass die Strategie der Assimilation durch die Abgrenzung von der russischen Sprache nicht die erwünschten Konsequenzen hatte. Es erscheint nämlich zumindest zweifelhaft, dass die Aufgabe des Russischen tatsächlich das ‚Unkenntlichwerden‘ der Biographin als ‚Andere‘ ermöglichte – darauf deutet bereits der Hinweis auf das „Aussehen“ hin. Es gibt also neben der Sprache weitere „Mitgliedschaftssignale“ (Mecheril 2003: 154), die eine Identifizierung und Anerkennung als „Deutsche“ – und damit als legitim Zugehörige – erschweren. Darauf finden sich auch an anderer Stelle im Interview Hinweise: 20 Es lässt sich zwar vermuten, dass Anna Schusters Kenntnisse des Plattdeutschen als gesprochene Sprache den Zugang zum Lesen und Verstehen von Texten in der deutschen Standardsprache erleichterten. Dennoch muss sich das Lesen von Büchern in lateinischer Schrift äußerst mühsam gestaltetet haben, da Anna Schuster das lateinische Alphabet erst noch erlernen musste.
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A: Und dadurch ist eben auch dieses Ausgrenzen oder Auffallen durch das Äußerliche also lange Haare, mit Rock gehen und so was ist halt auffällig. Und das ist äh - das war vielleicht in Russland nicht so, man war vielleicht als Gläubiger auffällig aber nicht ähm äußerlich weil da hatte man die Schuluniform, das war sowieso ein Kleid und fertig. Und das war hier in der Schule dann nicht so. (30/19-23)
Die Zugehörigkeit zur mennonitischen Gemeinde bedeutet das Befolgen religiöser Vorschriften, zu denen u.a. die Einhalten einer bestimmten Kleider- und Frisurenordnung gehört, die für Frauen und Mädchen das Tragen von langen Röcken und langem Haar vorsieht.21 Dieses äußere Erscheinungsbild ist im Kontext der deutschen Schule ‚auffällig‘ und hat zur Folge, dass Anna Schuster – auch jenseits der Sprache – als ‚Andere‘ identifiziert wird. Die ‚äußerliche‘ Auffälligkeit wird erst im Kontext der deutschen Schule virulent, da die Schuluniform in der Grundschule in Russland mögliche sichtbare Unterschiede in der Kleidung der Schüler*innen verdeckt und damit nivelliert hat. In der deutschen Schule dagegen werden Kleidung und Frisur zu relevanten Unterscheidungskriterien, die auf den (zugeschriebenen) Zugehörigkeitsstatus der Schülerin Einfluss nehmen. Die mit der religiösen Zugehörigkeit verknüpften Vorschriften bedeuten in der Schule eine Bürde für Anna Schuster, denn sie verschärfen ihre Sonderstellung in der Klasse und sorgen dafür, dass die Strategie, Differenzen durch sprachliche Assimilation unsichtbar zu machen, an ihre Grenzen gerät. Während das Befolgen der Kleidungsvorschriften für Anna Schuster die ‚Erkennbarkeit‘ als ‚Andere‘ und dadurch ihre Verletzbarkeit in der schulischen Öffentlichkeit erhöht, stellt die Zugehörigkeit zur mennonitischen Gemeinde zugleich eine wichtige soziale Ressource dar: A: Und ähm ja, also Gemeinde war in Russland Zusammenhalt und ist auch hier Zusammenhalt geblieben, der Ort wo man dann eben - zuhause ist. Wenns dann auch Leute sind, nicht, viele aus demselben Umfeld und so aber es ist - ja auch so das wo man dann Halt hat, nicht?, also wo=wo wirklich - ja nicht das Land zuhause ist sondern eben Gemeinde und Zugehörigkeit das man da - entwickelt hat. (30/23-28)
Die Gemeinde wird von Anna Schuster gleichgesetzt mit „Zusammenhalt“ und „Zuhause“; eine Bedeutung, die sich über die Migration zwischen verschiedenen nationalen Kontexten hinweg erhält. Diese Erfahrung der Kontinuität wird auch durch die Aussiedlung und Neuansiedlung von Personen aus „demselben Umfeld“ möglich.22 21 Die strengen Verhaltensregeln der mennonitischen Freikirche – u.a. das Vermeiden von Eheschließungen mit Nicht- oder Andersgläubigen sowie Kleidungsvorschriften für weibliche Gemeindemitglieder – gehen sowohl auf religiöse Grundsätze des Täufertums als auch des Pietismus zurück (vgl. Schäfer 2010: 34). Das Festhalten an solchen Verhaltensvorschriften muss dabei auch vor dem Hintergrund der spezifischen Situation der religiösen Minderheit in der Sowjetunion verstanden werden, die durch den ‚eisernen Vorhang‘ von den Einflüssen einer liberaleren Theologie abgeschnitten waren (vgl. ebd.: 42). 22 Mit der Erleichterung der Ausreise für Angehörige der russlanddeutschen Minderheit aus der ehemaligen Sowjetunion nach dem Fall des ‚eisernen Vorhangs‘ migrierten viele freikirchliche Gemeinden mit ihren religiösen Vorständen mehr oder weniger geschlossen
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Das Gemeindeverständnis, das Anna Schuster hier präsentiert, entspricht der Norm der mennonitischen Glaubensgemeinschaft. Die hohe Bedeutung des Gemeindegedankens verweist dabei sowohl auf die kollektive Verfolgungsgeschichte als auch auf die wiederholte Erfahrung der Migration. Identität wird demnach nicht in der Verbindung mit einer Nation oder einem Staat gesucht („nicht das Land“), sondern es ist die Zugehörigkeit und Verbundenheit mit der Glaubensgemeinde, die Sicherheit und „Halt“ gibt. In einer Welt, die als unsicher und zeitweise feindlich erlebt wird, bietet die Gemeinde einen – scheinbar zeitlosen – Zufluchtsort vor Bedrohungen und eine Ressource für Zugehörigkeitserfahrungen. Für die russlanddeutschen Mennonit*innen hat die ohnehin hohe Bedeutung der Gemeinde durch die mit der Aussiedlung verbundenen Fremdheitserfahrungen und die Realisierung der Unmöglichkeit einer Rückkehr zu den ‚eigenen Wurzeln‘ eine weitere Aufwertung erfahren. Auch in Anna Schusters Situation ist die Gemeinde ein Ort, an dem sie sich – im Gegensatz zur Schule – akzeptiert und zugehörig fühlt. Die Erzählerin positioniert sich im Interview als „aktives Mitglied“, das in der Freizeit in hohem Maße in das Gemeindeleben eingebunden ist. Dies bedeutet u.a. die Mitwirkung an kulturellen Aktivitäten sowie soziales Engagement z.B. in der Kinderbetreuung. Die Gemeinde wird von Anna Schuster dabei als ein Raum beschrieben, in dem es möglich ist, sich als Person einzubringen, „sich zu entfalten“ und die eigenen „Fähigkeiten auszuleben“. Die enge Bindung an die Gemeinde ermöglicht ihr auch Freundschaften mit Gleichaltrigen, mit denen sie die plattdeutsche Sprache teilt, die auch die gemeinsame Umgangssprache der Jugendlichen ist (vgl. 28/8-9). 9.2.7 Gymnasialzeit als Fortsetzung von Anschlussproblemen und Stigmatisierung Nach dem Erreichen der Fachoberschulreife meldet Anna Schuster sich im Gymnasium von C-Stadt an, mit dem Ziel, das Abitur zu erreichen. Das Potenzial des Neuanfangs, das einem Schulwechsel immanent ist, kommt in ihrer Biographie jedoch nicht zum Tragen; die Gymnasialzeit wird vielmehr als eine Verlängerung schulischer Leiderfahrungen präsentiert. A: Ich hab mich dann sehr kurzfristig angemeldet, bin dann auch angenommen worden und dann gingen meine Probleme weiter weil ich einfach eine Riesenlücke von der Hauptschule zum Gymnasium hatte (…) Und ich hab im ersten Jahr in der Elf hab ich - äh ich hab die Welt nicht verstanden. Also einfach weil diese Wissenslücke da war, ich hab einfach ähm Fremdwörter nicht verstanden ich bin nach Hause gekommen hab erstmal nachgeschlagen was erzählen die mir da vorne einfach, ähm nicht dass das ne=ne=ne fremde Sprache war sondern es waren deutsche Fremdwörter die ich einfach nicht verstanden hab. (4/14-27)
Warum die Anmeldung der Biographin am Gymnasium „sehr kurzfristig“ erfolgte, bleibt unklar; es setzt sich dadurch jedoch die Tendenz fort, dass Übergangsentscheinach Deutschland. Die Angehörigen der Glaubensgemeinschaften siedelten sich in Deutschland an den gleichen Orten an und gründeten dort neue Gemeinden, in denen das religiöse Leben vielfach ohne größere Brüche fortgesetzt werden konnte (vgl. Schäfer 2010: 43).
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dungen unter einem gewissen zeitlichen Druck erfolgen. Die Erfahrungen nach dem Übergang ins Gymnasium evaluiert Anna Schuster in einer vorwegnehmenden Bilanzierung als problematisch, wobei die Probleme als eine Fortsetzung bestehender Schwierigkeiten konstruiert werden. Zwischen Hauptschule und Gymnasium wird so eine biographische Kontinuität durch fortgesetzte Leidensprozesse hergestellt. Welcher Art die Probleme sind, deutet Anna Schuster durch den Ausdruck „Riesenlücke“ an. Zwischen dem vorausgesetzten Wissens- und/oder Kompetenzniveau in Hauptschule und gymnasialer Oberstufe besteht offenbar eine erhebliche Kluft, die Anna Schuster bei ihrem schulischen Aufstieg überwinden muss. In ihrer Formulierung wird allerdings weniger die Differenz der schulischen Anforderungsniveaus markiert, sondern vielmehr die Erfahrung, selbst eine „Riesenlücke“ zu haben. Darin zeigt sich, dass Anna Schuster die Probleme im Übergang von der Hauptschule zum Gymnasium als individuelle Kompetenz- und Wissensdefizite deutet, für deren Bearbeitung bzw. Kompensation sie sich selbst verantwortlich macht. Es ist zu vermuten, dass sich darin die Sicht von Lehrkräften widerspiegelt, die den Schüler*innen vermitteln, dass sie die Verantwortung für ‚Wissenslücken‘, die aus einem Schulformwechsel heraus entstehen, selbst zu tragen haben. Das Wesen der „Riesenlücke“ verortet die Biographin erneut auf der Ebene des Sprachlichen: Anna Schuster „versteht die Welt nicht“.23 Die Sprache ihrer Lehrer*innen ist zwar keine „fremde Sprache“, aber sie ist durchsetzt mit „deutsche[n] Fremdwörter[n]“. Anna Schuster tritt die Sprache des Gymnasiums als eine weitere Fremdsprache bzw. eine weitere Ausformung der ‚Fremdsprache Deutsch‘ entgegen, die sie sich erst mühevoll aneignen muss. Der Ausdruck „deutsche Fremdwörter“ legt dabei nahe, dass es sich nicht um fremdsprachliche Wörter, also um Wortentlehnungen aus anderen Sprachen handelt, sondern auch um Unterschiede zwischen den in den verschiedenen Schulformen gesprochenen (Bildungs-)Sprachen. Im Gymnasium herrscht offenbar ein distinguierter bildungssprachlicher Code vor, der sich von dem Sprachcode der Hauptschule so gravierend unterscheidet, dass Anna Schuster die Sprache ihrer Gymnasiallehrer*innen als „fremde Sprache“ erfährt. Der Sekundarschulbereich wird hier als Raum hierarchisierender Differenzen erkennbar, in dem Sprache als Distinktionsmittel und sozialer Platzanweiser fungiert: Um im gymnasialen Raum handlungsfähig zu sein und eine soziale Zugehörigkeit etablieren zu können, ist das Beherrschen der legitimen Sprache dieses Bildungsraums erforderlich. Anna Schuster erfüllt zwar die formalen Mitgliedschaftsbedingungen für den Eintritt in das ‚höhere Bildungswesen‘, sie tritt aber ohne die erforderlichen informellen Voraussetzungen in diesen Raum ein. Die Kompensation der (sprachlichen) „Riesenlücke“ wird von der Erzählerin als ein mühevoller Prozess des autodidaktischen Erschließens der neuen (Schul-)Sprache mittels Wörterbuch dargestellt, den sie allein bewältigen muss. Im Nachfrageteil wird deutlich, dass mit dem Übergang in die elfte Klasse des Gymnasiums zudem eine soziale Stigmatisierung als ehemalige Hauptschülerin verbunden ist, die Anna Schuster durch ihren Deutschlehrer erlebt. 23 Anzunehmen ist, dass darüber hinaus auch weitere „Wissenslücken“ eine Rolle spielen, die sich durch die unterschiedliche Lerngeschwindigkeit und die verschiedenen Anforderungsniveaus zwischen Hauptschule und Gymnasium ergeben; diese werden jedoch nicht thematisiert.
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A: ja so GANZ GANZ besonders also was ich auch - schlimm fand also für mich wars eben auch - ne große Leistung dass ich die 10 b geschafft habe ja dass ich die Qualifikation bekommen hatte trotz dem dass mein Klassenlehrer mich für doof hielt, ja, und dann aufs Zeugnis guckte, ach die Noten sind ja doch nicht schlecht - ähm - also das war schon ein positives Erlebnis. Und dann ähm dieser Rückschlag im Abitur (atmet tief ein) ja (atmet aus) erstmal hat man nichts verstanden, dann hatten wir mm - es war halt so wir hatten halt n Deutschlehrer der uns eben direkt auch an den Kopf geworfen hatte und gesagt also ein Hauptschüler hat bei uns am Gymnasium noch nie ein Abitur bestanden. So. Und das hat er uns JEDE Deutschstunde gesagt und ihr schafft das sowieso nicht auch wenn ihr bis zur Zwölf bleibt ihr werdet=ihr werdet abgehen ihr schafft das nicht ihr werdet nie das Stadium erreichen was die Gymnasiasten haben ähm - also das war wirklich hart also jemand der einen wirklich rausgeekelt hat. I: mhm A: und=und=das ganz=ganz=v-vor der ganzen Klasse also es war jetzt nicht so dass er das einfach gesagt hat also deine Arbeit war schlecht und du wirst es auch nicht schaffen, nein vor der ganzen Klasse. (17/34-18/10)
Die Behandlung, die die Biographin als ehemalige Hauptschülerin durch den Deutschlehrer am Gymnasium erlebt, wird von ihr in Kontrast zu dem Erfolgserlebnis gesetzt, den Qualifikationsvermerk für die Oberstufe erlangt zu haben. Der Lehrer konfrontiert die ehemaligen Hauptschüler*innen mit einer Negativprognose, indem er ihnen „direkt an den Kopf“ wirft, dass sie im Gymnasium keine Erfolgsaussichten haben. Dies wird mit dem Hinweis auf angebliche Erfahrungswerte untermauert („ein Hauptschüler hat […] noch nie ein Abitur bestanden“), womit eine Kausalität zwischen schulischer Vorgeschichte und Erfolgsaussichten in der Oberstufe behauptet wird. Die Schüler*innen werden so auf ihre schulische Vorgeschichte festgelegt; diese wird zu einem Stigma, das ihren weiteren Schulverlauf determiniert. Anna Schuster stellt diese Rede des Lehrers als eine gezielte Zermürbungstaktik dar, der die Schüler*innen über längere Zeit ausgeliefert sind. Eine besondere Härte sieht sie darin, dass der Lehrer seine Negativprognosen öffentlich ausspricht und die Schüler*innen dadurch stigmatisiert. Durch diese machtvolle Inszenierung hat sein Sprechen nicht nur eine prognostische Qualität, sondern entfaltet auch eine unmittelbar produktive Wirkung: Die angesprochenen Schüler*innen fühlen sich „rausgeekelt“. Der Lehrer wird somit als machtvoller Gatekeeper konstruiert, der die Seiteneinsteiger*innen auf ihr unvermeidliches Scheitern vorbereitet und ihnen indirekt einen Selbstausschluss nahelegt. Dass Anna Schuster die Erfahrung mit ihrem Deutschlehrer als ein besonders „schlimm[es]“ Erlebnis evaluiert, lässt sich damit erklären, dass die ‚Ansage‘ des Lehrers im Kern einen Verrat an dem meritokratischen Versprechen bedeutet, dass ein schulischer Aufstieg durch Leistung prinzipiell für alle Schüler*innen möglich sei – unabhängig von ihren schulischen Vorerfahrungen. Dieses Versprechen bildet aber die Grundlage für Anna Schusters schulisches Handlungsmuster, sich durch Leistung Aufstiegschancen zu erarbeiten und dadurch einen „vernünftigen“ Abschluss zu erzielen. Die kategoriale Negativprognose des Lehrers, mit der sie unmittelbar nach der überwundenen Hürde der Fachoberschulreife als ehemalige Hauptschülerin konfrontiert wird, stellt die Sinnhaftigkeit aller zurückliegenden schulischen Bemühungen der Biographin infrage und lässt jegliche weiteren Leistungsan-
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strengungen als sinnlos erscheinen. Anna Schusters schulisches Handlungsmuster erweist sich damit zum wiederholten Male als unwirksam. Diese Erfahrungen bilden dann auch den Hintergrund dafür, dass die Biographin in der elften Klasse in Erwägung zieht, die Schule zu verlassen und eine Ausbildung zu beginnen. A: Ähm ich war ziemlich auch geschlagen ich wollte die Elf dann auch abbrechen und hab dann auch Bewerbungen geschrieben, ich wollte irgendwas mit Kindern machen, hab dann im Kindergarten auf der, im Krankenhaus auf der Kinderstation versucht aber irgendwie war das nicht mein Weg also ich hab keine Stelle bekommen I: mhm A: ähm meine Eltern waren auch dagegen und, ja dann kamen die blauen Briefe und ich, oh ich hatte Fünfen und Sechsen in den Fächern, es ging gar nicht. (holt tief Luft) (4/27-34)
Der bildungsbiographische Entwurf, durch Bildungsanstrengungen einen „vernünftigen Abschluss“ (das Abitur) zu erlangen, gerät nun zunehmend ins Wanken. Die Formulierung „ich war ziemlich geschlagen“ legt die Assoziation mit einem verlorenen Kampf nahe. Anna Schuster sieht keine anderen Handlungsmöglichkeiten als den Schulabbruch. Dass es ihr damit ernst ist, wird dadurch plausibilisiert, dass sie konkrete Schritte unternimmt, um einen Ausbildungsplatz zu finden. In dem Wunsch „irgendwas mit Kindern [zu] machen“ deutet sich dabei ein berufsbiographischer Entwurf der Biographin an, der als potenzielle Alternative zum Abitur antizipiert wird. Der Weg in eine berufliche Ausbildung wird Anna Schuster jedoch durch äußere Umstände versperrt; sie erhält keine Zusage für einen Ausbildungsplatz in den gewünschten Feldern. Auch hätte der Weg in die berufliche Ausbildung bedeutet, gegen den Wunsch der Eltern zu handeln, die trotz der Schulprobleme ihrer Tochter am Abitur als Bildungsziel festhalten. Die schulische Krise entwickelt währenddessen ein zunehmend bedrohliches Potenzial, was durch schlechte Noten und die offizielle Ankündigung der Versetzungsgefährdung („blaue Briefe“) angekündigt wird. Es zeichnet sich damit eine Situation ab, in der sich das Spektrum von Anna Schusters Handlungsmöglichkeiten massiv verengt. Angesichts des Umstandes, dass sich der Weg in die berufliche Ausbildung nicht als realisierbar erweist, stellt die letztlich einzig mögliche Handlungsoption eine Klassenwiederholung dar. A: /(gedehnt) Danach/ - ja war halt der Vorschlag du machst die Elf noch mal. Und ähm das war die richtige Entscheidung also ich - zum Teil hab ich vieles schon gekannt, dieses freie Fächer wählen und=und=und dass dass man die Richtung bestimmt, Leistungskurs und so weiter also das kannt ich schon, ähm, dann waren auch wieder mehr Leute die ich vielleicht von früher kannte ähm - irgendwie hatte ich dann mehr Spaß also ich h-hab dann das Abitur machen können (lacht kurz) I: mhm A: vielleicht auch nicht mit dem besten Erfolg aber ich habs bestanden und ich habs gemacht (4/34-5/4)
Die Klassenwiederholung wird als ein Vorschlag von außen präsentiert, ohne dass konkrete Akteure genannt werden. Auch bleibt unklar, welche anderen Handlungsalternativen es gegeben hätte. Retrospektiv wird die Wiederholung als „richtige Ent-
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scheidung“ bewertet, die eine subjektive Entlastung bedeutet, insofern als sie das Anknüpfen an vertraute Inhalte und Strukturen ermöglicht, zu denen unter anderem die größere Wahlfreiheit zählt. Bezogen auf die bisherige Bildungsgeschichte der Biographin lässt sich die Klassenwiederholung auch als eine Form der Verlangsamung lesen, die einen Kontrast zu der ‚schnellen‘, vielleicht überstürzten Einschulung in die Hauptschule und der kurzfristigen Anmeldung im Gymnasium bildet. Über die weitere Oberstufenzeit erzählt Anna Schuster nichts, wichtig scheint allein der erlangte Abschluss: das Abitur. Der Umstand, keine exzellenten Abschlussergebnisse erzielt zu haben, tritt in ihrer Darstellung dabei hinter den formalen Erfolg des Abschlusses zurück, den sie sich selbst zurechnen kann. 9.2.8 Zwischenfazit: Biographie als mühevoller Bildungsaufstieg mit Rückschlägen Anna Schusters biographische Selbstpräsentation bis zum Beginn des Studiums umfasst im Wesentlichen ihre Schulbiographie. Personen und Ereignisse außerhalb des institutionellen Bildungswegs werden hingegen kaum erwähnt bzw. dienen lediglich als notwendige Rahmen für die Erzählung der Bildungsgeschichte. Die Biographin stellt ihren Bildungsaufstieg als einen Weg mit vielfältigen Hindernissen dar, die ihr von außen auferlegt sind und die sie mehr oder weniger allein zu bewältigen hat.24 Diese Hindernisse beziehen sich auf die Rahmenbedingungen und Folgen des Quereinstiegs ins deutsche Schulsystem, auf die Behinderung des sozialen Aufstiegs durch Erfahrungen von ‚Othering‘ und Abwertung und schließlich auf die Missachtung des meritokratischen Prinzips durch die Schule. Dabei präsentiert sie ihre Geschichte nicht im Modus einer Anklage von Personen oder einer Skandalisierung institutioneller Strukturen. Vielmehr fällt die enthaltsame und undramatische Art und Weise auf, in der Anna Schuster sich auf ihre – vielfach leidvollen – Erfahrungen bezieht. Die Ereignisse werden knapp und sachlich-nüchtern in ihrer Faktizität berichtet, eigene Verletzungen werden in Form reflektierter, vorsichtiger, entdramatisierender Bewertungen bzw. Bilanzierungen höchstens angedeutet („es war nicht so leicht“, „das war nicht so schön“). Anklagen und Schuldzuweisungen bleiben nahezu aus, obwohl es durchaus Anlässe dafür gäbe; Emotionen wie Wut, Verbitterung oder Empörung gegenüber anderen werden nur sehr zurückhaltend artikuliert. Durch diese ‚sparsame‘ Darstellungsweise verbleiben die subjektive Bedeutung der belastenden Erlebnisse und das eigene Erleiden eher zwischen den Zeilen. Möglicherweise ist dieser Verzicht ein Ausdruck des Bestrebens der Biographin, mit der belastenden schulischen Vergangenheit abzuschließen. Anna Schuster hat zudem eine andere Form der Auseinandersetzung mit ihrer schulischen Vergangenheit gefunden: Mit ihrer Examensarbeit hat sie begonnen, ihre Erfahrungen mit wissenschaftlichen Mitteln reflexiv zu bearbeiten. Der zurückgenommene Darstellungsmodus korrespondiert auch mit den eher defensiven Strategien des Umgangs mit den erlebten Ungerechtigkeiten und Abwer24 Die Bedeutung von Anna Schusters Geschwistern bleibt in diesem Zusammenhang im Dunkeln; sie werden zwar kurz erwähnt, spielen aber in ihrer Bildungsgeschichte keine Rolle. Es ist anzunehmen, dass ihr älterer Bruder mit ähnlichen schulischen Problemen zu kämpfen hatte wie Erzählerin selbst.
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tungserfahrungen, von denen die Biographin berichtet („nichts sagen“, „stiller Kampf“). Ihre Geschichte folgt somit nicht dem Muster der Erzählung eines ‚gelungenen Bildungsaufstiegs‘, der als ein Triumph der eigenen Bildungsanstrengungen über strukturelle Hindernisse oder über signifikante ‚Widersacher*innen‘ präsentiert würde. Vielmehr deutet sich an, dass die erzielten Schulerfolge mit erheblichen Rückschlägen einhergehen, die bleibende Spuren in der Biographie der Erzählerin hinterlassen haben. Trotz der nüchtern-sachlichen und entdramatisierenden Darstellungsweise lassen sich die außerordentlichen Anstrengungen erkennen oder mindestens erahnen, die Anna Schuster erbringen musste, um den familial getragenen Bildungsentwurf eines „vernünftigen Abschlusses“ – gegen das ihr institutionell nahelegte Bildungsverlaufsschema – realisieren zu können. Zudem verweist die Erzählung auf vielfältige psychische Belastungen und Verletzungen, denen die Biographin auf dem Weg zu diesem Ziel ausgesetzt war. Anna Schusters Bildungsweg im deutschen Schulsystem unterliegt von Beginn an Bedingungen, auf die sie selbst keinen Einfluss hat. Die Einschulung in die fünfte Klasse der Hauptschule folgt einer institutionellen Logik, die sich nur sehr begrenzt an den Voraussetzungen und Bedürfnissen der Biographin orientiert. Im Vordergrund steht allein die Fördernotwendigkeit in der Schulsprache Deutsch, der aufgrund einer mangelhaft ausgebauten Infrastruktur allein in der Hauptschule entsprochen werden kann. Mit der Einschulung auf die Hauptschule wird Anna Schuster auf eine institutionelle ‚Schiene‘ gesetzt, die ihren Bildungsweg bereits erheblich vorformt. Alle nachfolgenden Versuche, den Bildungsweg in eine andere ‚Schiene‘ umzuleiten, erfordern einen erheblichen Mehraufwand. Zudem erfüllt sich die Hoffnung, mit dem Hauptschulbesuch einen möglichst wenig belastenden Quereinstieg zu gewährleisten, nicht. Jenseits des Deutsch-Förderunterrichts gibt es in Anna Schusters Erzählung keinen Hinweis darauf, dass der Quereinstieg in das deutsche Schulsystem in irgendeiner Form institutionell bearbeitet und begleitet wurde. Die ‚mitgebrachten‘ Sprachen der Biographin finden in der Schule keine institutionelle Anerkennung oder Förderung – eine Möglichkeit, Russisch als Fremdsprache statt Englisch zu belegen, besteht nicht. Es gibt also kaum Indikatoren dafür, dass die Schule – abgesehen vom Deutschförderunterricht – besser als andere Schulen darauf vorbereitet wäre, Schüler*innen wie Anna Schuster den Umstieg in ein anderes nationales Schulsystem zu erleichtern. Ihre Erfahrungen beim Übertritt ins deutsche Schulsystem lassen sich als Erfahrungen mit einer Form von institutioneller Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009) deuten, da die Schule von der Norm einer in Deutschland sozialisierten Schüler*innenschaft ausgeht und ihr Angebot dementsprechend gestaltet. Sprachund Schulbiographien, die dieser Norm nicht entsprechen, sind institutionell nicht vorgesehen und erfahren keine institutionelle Anerkennung und wenig Unterstützung. Die Unterwerfung der ‚ungleichen‘ Schüler*innen unter die gleichen schulischen Erwartungen und Abläufe produziert eine Benachteiligung derjenigen, die beim Eintritt in das Schulsystem nicht der Norm entsprechen. Mit dem Eintritt ins deutsche Bildungssystem ist für Anna Schuster der Beginn eines Leidensprozesses markiert, der die Schulbiographie der Erzählerin maßgeblich strukturiert. Dieser ist (zunächst) sowohl eine Folge der Erfahrung eingeschränkter sprachlicher Handlungsmöglichkeiten als auch der Erfahrung eines Bruchs mit der
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aus Russland vertrauten Schulkultur.25 Anna Schuster erfährt die Hauptschule als einen Raum, in dem ihre bisherigen schulbezogenen Orientierungen nicht mehr wirksam sind. Obwohl sie zum Zeitpunkt der Migration über zwei Sprachen verfügt, konstruiert sie sich infolge der Unwirksamkeit ihrer Artikulationsmöglichkeiten und der Entwertung ihrer mitgebrachten Sprachen im Einwanderungskontext als ‚sprachlos‘. Dies ist dabei nicht allein der fehlenden Beherrschung der deutschen Standardsprache geschuldet, sondern auch der Erfahrung, aufgrund ihrer mitgebrachten Sprachen von ihren Mitschüler*innen als fremd identifiziert und von ihnen verletzt zu werden. Dabei kann Anna Schuster nicht damit rechnen, gegenüber solchen Anfeindungen von Lehrer*innen geschützt zu werden. Diese Bedingungskonstellation hat zur Folge, dass Anna Schusters Handlungsmöglichkeiten im schulischen Raum darauf begrenzt sind, eine Strategie der kommunikativen Zurückhaltung zu kultivieren, die sie vor den befürchteten Angriffen von Mitschüler*innen schützt. Mit dieser eher defensiven Strategie riskiert sie jedoch zugleich, von den Lehrer*innen als schwache Schülerin wahrgenommen zu werden. Zudem verselbstständigt sich die Strategie und entzieht sich der Kontrolle durch die Biographin. Die Angst, sich in Gruppen öffentlich zu äußern, wird so ihrerseits zu einem potenziellen Hindernis, das Anna Schusters soziale Teilhabemöglichkeiten begrenzt. Die einzige ‚Brücke‘, die Anna Schuster zwischen ihrer Bildungsgeschichte in Russland und der Schule in Deutschland schlagen kann, kommt durch ihre Freude am Lesen zustande. Das Lesen repräsentiert eine Bildungspraxis, die sowohl biographisch bedeutsam ist als auch in beiden schulischen Kontexten institutionell gewürdigt wird. Sie stellt dadurch eine biographische Ressource dar, an die sie auch im deutschen Schulkontext anknüpfen kann, und die ihr – allerdings nur sehr begrenzte – Wirksamkeits- und Anerkennungserfahrungen ermöglicht. Dass Anna Schusters Bildungsweg nicht mit der Hauptschule endet, ist wesentlich auf die Bildungsaspirationen ihrer Eltern zurückzuführen, die einen wichtigen ‚Motor‘ in ihrer Bildungsgeschichte bilden. Zwar verfügen die Eltern unmittelbar nach der Aussiedlung noch nicht über die Informationen und Ressourcen, die notwendig gewesen wären, um die Einschulung ihrer Tochter auf die Hauptschule zu verhindern. Ihre Bildungsperspektive ist aber eine andere; sie wissen um die Bedeutung eines „vernünftigen Abschlusses“ und lenken ihre Tochter darauf hin, mehr zu erreichen als den Hauptschulabschluss. Sie treten als Unterstützer*innen in Anna Schusters Bildungsbiographie auf, die, auch als sie selbst an ihren Möglichkeiten zweifelt, daran glauben, dass sie mehr als den Hauptschulabschluss erreichen kann. Die Bildungsaspirationen der Eltern lassen sich dabei als Ausdruck eines Erfahrungswissens um die negative Bedeutung eingeschränkter Bildungs- und Berufsmöglichkeiten interpretieren. Dieses Wissen ist sowohl als kollektives Erfahrungswissen in der russlanddeutschen (mennonitischen) Gemeinde, als auch innerhalb der Familie
25 Darüber hinaus ist zu bedenken, dass der Schulsystemwechsel zeitgleich mit dem Übergang von der Primar- in die Sekundarstufe erfolgt, der seinerseits (für alle Schüler*innen) eine Umstellung bedeutet. Diese Situation birgt zwar auch potenzielle Vorteile – der Schuleinstieg bedeutet nicht den Wechsel in eine bestehende Klassengemeinschaft, sondern diese muss sich diese erst konstituieren – dieser potenzielle Vorteil kommt in Anna Schusters Geschichte aber nicht positiv zum Tragen.
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durch den verhinderten Berufswunsch von Anna Schusters Mutter präsent. Ein wesentliches (familiales, aber auch kollektives) Motiv für die Aussiedlung stellt daher der Wunsch nach einer Überwindung dieser Einschränkungen und erweiterten Bildungs- und Berufschancen, insbesondere für die Kinder, dar. Um ihnen bessere Bildungs- und Berufswege zu ermöglichen, muss Anna Schusters Mutter selbst einen weiteren berufsbiographischen Rückschlag in Kauf nehmen, da ihre Qualifikation in Deutschland nicht anerkannt wird und sie durch die Migration letztlich eine Dequalifizierung erfährt. Umso bedeutsamer wird es für die Eltern, dass die Kinder ihre Bildungschancen realisieren. Das Streben nach einem ‚vernünftigen‘ Abschluss bildet in Anna Schusters Biographie daher eine mit ihren Eltern geteilte Orientierung. Inwiefern die Eltern neben ihren Bildungsaspirationen allerdings auch über kulturelle Ressourcen verfügen, ihre Tochter gezielt schulisch zu fördern, ist eher fraglich. So sind die Eltern der deutschen Standard- und Bildungssprache zunächst ebenso wenig mächtig wie sie selbst, sondern müssen sich diese selbst erst in Sprachkursen aneignen. Insofern bilden die Bildungswünsche der Eltern ein ambivalentes Potenzial, das sicher eine Ressource, möglicherweise aber zeitweise auch eine Last für die Biographin darstellt.26 Das schulbezogene Handlungsmuster, das Anna Schuster entwickelt, um das Ziel eines „vernünftigen“ Abschlusses zu erreichen, besteht darin, mittels eigener Anstrengungen gute schulische Leistungen zu erbringen. Diese Strategie steht jedoch in einem gewissen Spannungsverhältnis zu der Erfahrung, dass das Erbringen schulischer „Leistung“ noch nicht bedeutet, dass diese Anstrengungen von der Institution Schule auch angemessen anerkannt werden. Anna Schusters Handlungsmuster basiert auf dem Glauben an das meritokratische Prinzip, nach dem allein die Leistungen über den Erfolg und die erreichbare (schulische und soziale Position) entscheiden. Die Erfahrungen mit willkürlicher Leistungsbewertung, mangelnder Anerkennung bzw. Abwertung schulischer Anstrengungen sowie (später) Stigmatisierungserfahrungen und Negativprognosen aufgrund der Hauptschullaufbahn lassen allerdings zumindest Zweifel an der Gültigkeit dieses Prinzips aufkommen. Das Spannungsverhältnis zwischen dem Glauben ans Leistungsprinzip und der schulischen Erfahrung einer Chancenverweigerung wird für die Biographin spätestens beim Übergang in die zehnte Klasse offensichtlich. Während Anna Schuster ihre schulischen Schwierigkeiten bis dahin vor allem auf persönliche Defizite zurückgeführt hat („ich konnte nichts sagen“, „sprachliche Barriere“, „Manko“), wird mit der Erfahrung der Englischprüfung ein Gerechtigkeitsdefizit der Institution Schule thematisiert: Leistungen werden nicht ‚gerecht‘ bewertet. Die Schule tritt Anna Schuster damit nicht als meritokratisch organisierte Institution gegenüber, sondern als machtvolles System, in dem Lehrerinnen und Lehrer als Gatekeeper*innen agieren und den Zugang zu weiterführenden Bildungsgängen verhindern oder erschweren können. Die Erfahrung eines heteronom bestimmten Verlaufs ihres Bildungsweges schreibt sich damit fort: Die Möglichkeit des Erlangens eines „vernünftigen“ Abschlusses ist von Bedingungen abhängig, auf die Anna Schuster wenig Einfluss hat. 26 Eine Differenz zwischen den elterlichen Erwartungen und Anna Schusters eigenem Entwurf bzw. der eigenen Einschätzung ihrer schulischen Handlungsmöglichkeiten deutet sich insbesondere in der elften Klasse an, als ihr ‚Ausweg‘ aus der schulischen Krise in die berufliche Ausbildung von ihren Eltern nicht mitgetragen wird.
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Während die Erfahrung mit der Englischprüfung zwar eine gewisse Desillusionierung im Hinblick auf die Wirksamkeit schulischer Anstrengungen bedeutet, führt sie jedoch nicht zu einer grundlegenden Veränderung von Anna Schusters Leistungsstreben. Auch nach dem Übergang ins Gymnasium setzt die Biographin ihre Strategie autodidaktischer Anstrengungen und des Strebens nach guten „Leistungen“ fort. Allerdings gelingt es ihr nicht, die Kluft zwischen dem Anforderungsprofil der Hauptschule und dem des Gymnasiums mit Hilfe dieser Strategie zu überwinden. Es kommt vielmehr zu einer Negativdynamik, die sie nicht mehr aufzuhalten vermag („blaue Briefe“, „Fünfen und Sechsen“). Überdies erleidet das Bild der Schule als ‚leistungsgerechte‘ Bildungsinstitution durch Anna Schusters Erfahrungen mit ihrem Deutschlehrer, der aufgrund ihres Hauptschulbesuchs ihr Scheitern am Gymnasium prognostiziert, einen weiteren Bruch. Dass sie dennoch an der Strategie des mühevollen Erarbeitens von Leistungen festhält und hartnäckig um die Anerkennung dieser Anstrengungen durch ihren Deutschlehrer ringt („stiller Kampf“), verweist einerseits auf hohe Orientierungskraft des bildungsbiographischen Entwurfs des „vernünftigen Abschlusses“. Andererseits wird daran erkennbar, dass die Biographin – weder im familialen Umfeld noch im Rahmen der Schule – auf Unterstützungsressourcen zurückgreifen kann, die eine systematische Form der Bearbeitung der wahrgenommenen bildungssprachlichen Überforderungen und ‚Wissenslücken‘ ermöglichen würden. Mit dem Scheitern in der elften Klasse erlebt Anna Schuster letztlich auch ihr schulische Handlungsstrategie als gescheitert, ohne dass sie über Alternativen dazu verfügt. Sie gibt sich daher „geschlagen“ und zieht außerschulische Alternativen in Erwägung. Dass sie letztlich doch an der Schule verbleibt, führt sie vor allem auf das Scheitern des Alternativwegs in die berufliche Ausbildung und auf das Festhalten ihrer Eltern am Abitur als Bildungsziel zurück. Der Interessenkonflikt zwischen den elterlichen Erwartungen und Anna Schusters eigener Einschätzung ihrer schulischen Handlungsmöglichkeiten, der an dieser Stelle erkennbar wird, wird also zugunsten der Eltern entschieden. Mit der Wiederholung der elften Klasse gewinnt die Biographin jedoch – unvorhergesehen – auch neue Handlungsspielräume: Sie erlebt die Verlangsamung ihres Bildungsweges als Stabilisierung und kann die dadurch gewonnene Zeit für die Entwicklung einer konkreten weiterführenden Bildungs- und Berufsperspektive nutzen, die ihrerseits zu einem Motor für das Festhalten am Abitur wird. Zugehörigkeitserfahrungen – Binarität zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ Das Thema Differenz und Zugehörigkeit durchzieht Anna Schusters Biographie teilweise explizit, zum Teil implizit. Durch ihre Zugehörigkeit zu einer gesellscaftlichen Minderheit, die eine eigene sprachliche und religiöse Praxis pflegt, wächst Anna Schuster in einer Konstellation auf, die sich durch ein Differenzverhältnis zwischen dem familiären ‚Innen‘ und dem ‚Außen‘ der sozialen Umgebung auszeichnet. In Anna Schusters Eingangserzählung werden diese gegensätzlichen Sphären durch das ‚Wir‘ der Familie und die russischsprachige Schule und Umgebung repräsentiert. Die Binarität zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ schreibt sich in Anna Schusters Biographie auch nach der Migration fort und wird von ihr insbesondere auf der Ebene sprachlicher Zugehörigkeitsordnungen verhandelt. An der (sprachlichen) Minderheitenposition der Familie ändert sich – entgegen der Hoffnungen, durch die Aussied-
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lung zu den Wurzeln zurückzukehren – auch in Deutschland nichts. Die Migration nach Deutschland ermöglicht Anna Schuster nicht das Anknüpfen an die Familiensprache, sondern geht stattdessen mit der Erfahrung des Verlusts sprachlicher Handlungsfähigkeit in der Welt außerhalb der Familie einher. Die Fremdheits- und Diskriminierungserfahrungen nach der Aussiedlung markieren das Ende der Illusion, dass mit der Aussiedlung eine Rückkehr zu den (natio-ethno-kulturellen) ‚Wurzeln‘ möglich sei. Die Zugehörigkeit zur freikirchlichen Gemeinde stellt in Anna Schusters Darstellung eine Kontinuität zwischen der Situation vor und nach der Aussiedlung her. Ob die Gemeinde geschlossen nach Deutschland übersiedelt ist, wie dies für viele freikirchlicher Gemeinden aus der ehemaligen Sowjetunion beschrieben wird (vgl. Schäfer 2010), lässt sich zwar nicht eindeutig klären, aber Anna Schuster weist der Gemeinde die Bedeutung einer Brücke zu, die ‚alte‘ und ‚neue‘ Welt miteinander verbindet. Die Gemeinde bietet nach der Aussiedlung einen sozialen „Zusammenhalt“ und einen mentalen „Halt“, was auch dazu führt, dass sich das kollektive Selbst- und Zugehörigkeitsverständnis der ausgesiedelten Gemeindemitglieder über die Migration hinweg erhalten kann. Die äußere Sichtbarkeit der religiösen Zugehörigkeit wird nach der Aussiedlung für Anna Schuster allerdings auch zu einer Bürde: Während die Schuluniform in Russland eine schnelle ‚Identifizierung‘ als ethno-religiös ‚Andere‘ erschwert hat, führt der Wegfall dieser Kleidungsordnung in der deutschen staatlichen Schule dazu, dass sie aufgrund ihrer Kleidung unmittelbar als solche erkannt wird. In der Hauptschule wird Anna Schuster von ihren Mitschüler*innen aufgrund ihrer Sprache und ihres äußeren Erscheinungsbildes als ‚Andere‘ wahrgenommen, angefeindet und ausgegrenzt.27 Die Ausgrenzungs- und Stigmatisierungserfahrungen, die die Biographin macht, schreiben die Erfahrungen fort, die sie selbst und insbesondere die Generation ihrer Eltern in Russland gemacht hat: die Erfahrung, einer diskriminierten Minderheit in einer feindlichen Umgebung anzugehören. Dabei wird Anna Schuster im öffentlichen Raum und in der Schule einem groben Kategorienraster entsprechend „als Russin abgestempelt“ (28/12). Die Zuweisung der Position als „Russin“, die Anna Schuster in der Schule erfährt, wird als ein machtvoller Akt der Fremdzuschreibung konstruiert, der einer kollektiven Stigmatisierung entspricht. Anna Schuster wird dadurch nicht nur als ‚Andere‘ markiert, sondern sie wird auch einem nationalen Kollektiv zugerechnet, dem sie sich nicht zugehörig fühlt. So hat die russische Sprache in Anna Schusters Alltag keine Bedeutung, sondern stellt lediglich die im russischen Schulkontext erlernte Bildungssprache dar. Lebensweltlich bedeutsam und identitätsrelevant ist für sie vielmehr die plattdeutsche Sprache, die zugleich die Verbundenheit der Biographin mit der mennonitischen Gemeinde symbolisiert. Ihre sprachlichen und kulturellen Wurzeln werden in der Migrationssituation also verkannt. Damit setzt sich auch die Erfahrung der Heimatlosigkeit fort; Anna Schuster fühlt sich „halt irgendwie nirgendwo zugehörig, zuhause“. 27 Dass Anna Schuster zu einer Zielscheibe solcher Angriffe wird, lässt sich möglicherweise auch als Folge davon interpretieren, dass sie sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht: Sie entspricht zwar nicht der (imaginären) Normvorstellung einer ‚deutsche‘ Schülerin, durch ihr Plattdeutsch wird aber auch eine eindeutige Identifizierung als ‚Russin‘ erschwert oder zumindest irritiert.
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Die Biographin bearbeitet diese Erfahrungen einerseits durch sprachliche Assimilationsbestrebungen, indem sie u.a. autodidaktische Anstrengungen zum schnellen Erwerb der deutschen Standardsprache unternimmt. Andererseits bleibt sie an die Wir-Gemeinschaft der mennonitischen Gemeinde gebunden, die durch die (individuelle und kollektive) Erfahrung einer nationalen und kulturellen ‚Heimatlosigkeit‘ Sicherheit und Halt verspricht und vor diesem Hintergrund zu einer ‚mentalen‘ Heimat (stilisiert) wird. Die binäre Unterscheidung zwischen ‚Innen‘ (Familie, Gemeinde) und ‚Außen‘ (soziale Umgebung), die Anna Schusters Zugehörigkeitskonstruktion auszeichnet, lässt sich dabei nicht allein als individuelle Ordnungsstruktur verstehen, sondern sie korrespondiert auch mit sozio-kulturellen Wissens- und Deutungsbeständen, die auf die Verbundenheit der Erzählerin mit der mennonitischen Glaubensgemeinschaft verweisen. Die Dualität von Innen-Außen repräsentiert ein Ordnungsschema, das in der Geschichte der russlanddeutschen Mennonit*innen als (unterdrückter) religiöser Minderheit herausgebildet und tradiert wurde (vgl. Löneke 2000). Aus theologischer Sicht lässt sich die Trennung zwischen ‚Gemeinde‘ und ‚Welt‘, die in der Literatur als kennzeichnend für das Selbstverständnis und die Weltanschauung der mennonitischen Glaubensgemeinschaft beschrieben wird, als ein religiöses Relikt der Täuferbewegung deuten. Kennzeichnend für die Täufer war demnach das Postulieren eines Dualismus zwischen „sakraler ‚Gemeinde‘, in der die gläubigen Christen nach Gottes Ordnung leben, und der profanen ‚Welt‘, in der Sünde, Satan und Chaos regieren“ (Schäfer 2010: 22). Aus soziologischer Sicht wird die strikte Trennung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ dagegen auch als eine „Überlebensstrategie“ (Wisotzki 1992) der russlanddeutschen mennonitischen Minderheit interpretiert, die aus ihrer langen Verfolgungsgeschichte und ihrer kulturellen und religiösen Unterdrückung im sowjetischen Gesellschaftssystem resultiert.28 Die Abgrenzungsbestrebungen der russlanddeutschen Mennonit*innen gegenüber der ‚Welt‘, das Streben nach der Bewahrung einer eigenen religiösen und sprachlichen Identität und die Kultivierung eines exklusiven ethnisch-religiösen Selbstverständnisses lassen sich demnach als „Folge eines wechselseitigen Prozesses der Selbst- und Fremdethnisierung“ (Schäfer 2010: 41) verstehen. Die Trennung zwischen ‚Gemeinde‘ und ‚Welt‘ wird in der Literatur auch als charakteristisch für die russlanddeutschen Freikirchen nach der Aussiedlung beschrieben. Dies wird damit erklärt, dass viele mennonitische Gemeinden mehr oder weniger geschlossen ausgesiedelt sind und sich religiöse Traditionen und Praxen in den Gemeinden nach der Aussiedlung erhalten konnten (vgl. Schäfer 2010). Inwiefern dieses Prinzip für die Praxis der Gemeinde und den Alltag der Einzelnen bedeut28 Nachdem die vollständige Zerschlagung der protestantischen Glaubensgemeinschaften unter der Herrschaft Stalins nicht gelungen war, setzte die sowjetische Führung nach Ende des zweiten Weltkriegs zunächst auf die Überwachung und Kontrolle dieser Gruppen, indem sie sie in einem staatlich geleiteten Dachverband versammelte. Andere Gruppen ließen sich nicht registrieren und praktizierten ihre Religion in der Illegalität (vgl. Schäfer 2010: 37). Die Verfolgung von Gläubigen hielt an; in den 1960er Jahren wurden viele Gemeinden zerschlagen und leitende Gemeindemitglieder inhaftiert (vgl. ebd.: 38). Erst mit der Machtübernahme durch Michail Gorbatschow Mitte der 1980er Jahre und der Politik der Perestroika ließ die Repression der deutschsprachigen protestantischen Gruppen nach.
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sam ist und in welcher Form es darin Ausdruck findet, lässt sich daraus allerdings nicht ableiten. Anna Schusters Geschichte verweist darauf, dass die Trennung zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ eine Relevanz als biographisches Ordnungsmuster erlangt. Dessen Erhalt kann jedoch nicht einfach als eine unhinterfragte Fortsetzung von ‚Tradition‘ verstanden werden, sondern das Muster kann sich nur deshalb in der Migrationssituation erhalten, weil es individuell und kollektiv funktional bleibt. Zwar sind die Angehörigen sprachlicher und christlich-religiöser Minderheiten in Deutschland keiner unmittelbaren staatlichen Verfolgung oder kulturellen Repression ausgeliefert. Dennoch schließen die individuellen Erfahrungen mit Ausgrenzung und Diskriminierung, die Anna Schuster in Deutschland macht, an die kollektiven Erfahrungsmuster an und bestätigen die Funktionalität des tradierten Handlungs- und Deutungsmusters der Differenzierung zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘.
9.3 „E INTAUCHEN IN EINE NEUE W ELT “ – S TUDIUM ALS E NTFALTUNGSMÖGLICHKEIT Im Folgenden stehen Anna Schusters Studienerfahrungen und ihre Einbettung in die biographische Konstruktion im Zentrum. In ihrer Haupterzählung gibt die Erzählerin der Thematisierung des Studiums etwa so viel Raum wie ihren Ausführungen über die (negativ bilanzierte) Schulzeit. Im Gegensatz zu Nuray Coúkun und Dilan Karatay, die sich zum Interviewzeitpunkt noch am Beginn des Studiums befinden, steht Anna Schuster kurz vor ihrem Studienabschluss. Ihre Examensarbeit ist fertig gestellt und bewertet, zum Zeitpunkt des Interviews stehen ihr lediglich ihre letzten mündlichen Prüfungen bevor. Auch durch zwei längere Studienunterbrechungen hat sie bereits einen gewissen Abstand zum Studium gewonnen. Sie bezieht sich daher aus einer bereits stärker reflektierten und bilanzierenden Perspektive auf ihre Studienerfahrungen; ihr Blick nach vorn richtet sich auf den bevorstehenden Studienabschluss und das Referendariat. 9.3.1 Grundschullehramt als biographisch gerahmter Berufsentwurf A: und irgendwann, ja im Laufe der Dreizehn war so dies Gefühl diese ganzen Schulerfahrungen und=und alles ähm, das muss doch irgendeinen Sinn haben also [ich hatte] weil ich eben diese Grundschule in Russland auch sehr positiv erlebt habe also auch wirklich strenge Lehrer hatte aber es war schon positiv so dass man dass ich für mich gesagt hab also es muss auch anders gehen also, ähm also hat sich so dieser Wunsch bei mir ähm - einfach - ja - irgendwie erst nur im Kopf und irgendwann so weiß nicht lag das so aufm Herzen so du=du gehst an die Grundschule. Also ähm - nech also wo ich das Abitur denn auch bestanden hatte, das war nicht so toll aber egal also du bewirbst dich also du möchtest gerne selber gerne Lehrer werden. I: mhm A: Ähm jetzt nicht um vielleicht das irgendwie besser zu machen oder so aber ich hab einfach - diese Möglichkeit gesehen ja irgendwie was - bei diesen Kleinen - Dötzges kann man soviel - falsch machen aber auch soviel richtig machen. Ehm war einfach mein Wunsch da dieses weiter zu machen. Ja. (5/5-19)
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Die Entwicklung der eigenen Berufsperspektive in der Oberstufe wird als Prozess des Heranreifens eines Berufswunsches konstruiert, der sich scheinbar rein innerlich und ohne äußere Einflüsse vollzieht. Andere Personen (z.B. Eltern, Freunde, Lehrer*innen), die am Prozess der Entwicklung beruflicher Perspektiven beteiligt gewesen sein könnten, werden nicht erwähnt. Anna Schuster verknüpft ihre Berufsperspektive auf zweierlei Weise mit ihren eigenen Schulerfahrungen: Zum einen verleiht sie ihren eigenen (belastenden) Schulerfahrungen durch ihre Berufsentscheidung einen biographischen „Sinn“ – das als Schülerin erfahrene Leid soll nicht umsonst gewesen sein. Zum anderen betont sie ihre positiven Erfahrungen in der Grundschule in Russland. Die Berufsperspektive ‚Lehrerin‘ wird damit sowohl in Verknüpfung mit eigenen Schulerfahrungen als auch in Abgrenzung davon entworfen.29 Ihre Entscheidung für das Grundschullehramt erklärt Anna Schuster mit den besonderen pädagogischen Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten, die sie „bei diesen Kleinen“ gegeben sieht. Mit der Entscheidung für die Grundschule knüpft sie überdies an ihren früheren Wunsch an, beruflich „etwas mit Kindern machen“ zu wollen. Der Umstand, dass ein Lehramt an statushöheren Schulformen gar nicht in Erwägung gezogen wird, lässt sich von außen betrachtet allerdings auch als Ausdruck des „sozialen Sinns“ (vgl. Bourdieu 1987a)30 deuten, der zu einer Selbstbeschränkung auf ein statusniedriges, abgewertetes, ‚weibliches‘ Berufsfeld führt. 9.3.2 Biographische Zugehörigkeitsarbeit durch Brückenschlag zwischen den ‚Welten‘ In der ersten Erwähnung der Studienzeit (in der autonomen Haupterzählung) wird der Übergang in die Universität als Schritt in eine „neue Welt“ qualifiziert. Der Studienbeginn erfordert erhebliche Orientierungsleistungen, die sich sowohl auf das Zurechtfinden in einem neuen räumlichen Kontext beziehen, als auch auf das Durchschauen der Logik des Studienbetriebes. Gleich im Anschluss daran markiert Anna Schuster, dass sie diesen Schritt nicht allein vollzogen hat, sondern zusammen mit ihrer Freundin aus dem gleichen Dorf, mit der zusammen sie ihr Abitur gemacht hat. Die Freundin wird erstmalig im Kontext des Studienbeginns eingeführt. Ähnlich wie die Biographin ist auch ihre Freundin erst später ins Gymnasium gewechselt, allerdings bereits nach der Orientierungsstufe, und sie hat in der Schule bessere Leistungen erzielt 29 Das biographische Begründungsmuster, Lehrerin zu werden, um „es irgendwie besser machen“ zu wollen als sie selbst es erfahren hat, wird anschließend allerdings wieder relativiert bzw. zurückgenommen. Es entsteht hier fast der Eindruck als sei dies als Begründung für die Berufsentscheidung nicht legitim; möglicherweise ist dieses (vermutlich nicht seltene) biographische Begründungsmuster im Rahmen des Studiums problematisiert worden. 30 Der soziale Sinn („sens pratique“), den der Habitus hervorbringt, fungiert nach Bourdieu im Alltag als Orientierung für die sozialen Akteur*innen, die es ihnen ermöglicht, sich in den Feldern, in denen sie sich gewöhnlich aufhalten, zu bewegen. Zugleich stellt er eine Begrenzung der Praxisformen dar. Durch die Inkorporierung der objektiven Chancenstruktur erwerben die Akteur*innen einen Sinn für die Grenzen des für sie Angemessenen und sozial Möglichen, der auch dazu führt, dass die Einzelnen „ihre Wünsche und Erwartungen den jeweils objektiven Chancen an[...]gleichen und sich in ihre Lage [...] fügen“ (Bourdieu 1987b: 189)
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als Anna Schuster selbst. Dies bedeutet jedoch kein Hindernis für die Freundschaft. Die Freundin wird von Anna Schuster vielmehr als Unterstützerin ihres eigenen Bildungswegs konstruiert, die sie während der Oberstufenzeit dazu motiviert hat, trotz aller Hindernisse an ihrem Ziel festzuhalten. Die gemeinsame Bewerbung an der Universität A-Stadt bildet in Anna Schusters Erzählung die Fortsetzung des Zurücklegens gemeinsamer ‚Bildungs-Wege‘: A: wir sind schon im Abitur immer morgens zusammen mit dem Fahrrad zur Schule gefahren zusammen nach Hause gefahren, wir hatten schon damals äh unterschiedliche Schwerpunkte, sie hatte Mathematik und ich hatte Kunst ähm aber es ist halt irgendwie eine Wellenlänge, wir wohnen in einem Dorf ähm und sie ist dann bei mir vorbei gekommen dann zusammen mit m Fahrrad ist halt einfach so, nicht, so dieses, zusammen einfach hingefahren zusammen zurück (12/4-9)
Anna Schuster markiert Verbindendes, aber auch Unterschiede zwischen den Freundinnen. In der Schule belegen die Mädchen „unterschiedliche Schwerpunkte“; eine fachliche Differenz, die sich auch im Studium fortsetzt. Gemeinsamkeit und Verbundenheit werden hingegen dadurch hergestellt, dass beide Mädchen im gleichen Dorf wohnen und einen Weg zur Schule ins nahe gelegene C-Stadt zurücklegen müssen, den sie zusammen mit dem Fahrrad bewältigen. Das Pendeln zwischen Wohnort und Bildungsort wird also gemeinschaftlich vollzogen. Im übertragenen Sinne kann die Bedeutung dieser gemeinsamen Wege auch darin gesehen werden, dass die freundschaftlichen Bindungen ins (Herkunfts-)Milieu eine Form der Sicherheit vermitteln, die die Distanz zwischen der Welt des Dorfes und der schulischen Welt überbrücken hilft. Mit der gemeinsamen Bewerbung für ein Lehramtstudium in A-Stadt setzen Anna Schuster und ihre Freundin diese Strategie fort. A: dann war halt immer die Frage, nicht, wird der Numerus Clausus hoch sein, ich hatte nicht so einen guten Durchschnitt sie hatte einen besseren, wir wollten das [zusammen studieren, D.S.] aber gerne und wir wollten auch gerne in A-Stadt, nicht?, irgendwie weil m- die Busverbindung war gut und man würde zuhause bleiben man würde im Freundeskreis bleiben weil wir einen Freundeskreis hatten I: mhm A: man würde in der Gemeinde bleiben ähm - weil das alles so Sachen sind wo man dann doch damals auch noch Halt hatte I: mhm A: und auch noch Halt einfach auch behalten wollte dieses - obwohl man was Neues anfängt diese Unsicherheit so dass man n bisschen die Sicherheit zuhause noch hatte (9/28-37)
Der Hintergrund des Entwurfs des gemeinsamen Lehramtstudiums in A-Stadt bildet die Möglichkeit, das vertraute Milieu nur zeitweilig verlassen zu müssen. Der Studienbeginn ist für Anna Schuster und ihre Freundin nicht mit dem Schritt in die (räumliche) Autonomie verbunden, sondern sie orientieren sich an der Aufrechterhaltung sozialer Bindungen ins Herkunftsmilieu: Das Studium im nahe gelegenen AStadt ermöglicht es ihnen, ihre Elternhäuser nicht verlassen zu müssen, den beste-
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henden Freundeskreis bewahren und die Einbindung in die Gemeinde aufrecht erhalten zu können.31 Anna Schusters Darstellung fußt dabei erneut auf einer Gegenüberstellung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘: Während Familie, Freundeskreis und Gemeinde für das Vertraute stehen, „Halt“ und „Sicherheit“ vermitteln, wird das Studium in einer fremden Stadt implizit als etwas Neues, Verunsicherndes entworfen. Die Bindung an das vertraute Milieu sowie das gemeinschaftliche Studienprojekt mit einer Freundin aus dem sozialen Nahraum versprechen vor diesem Hintergrund eine biographische Kontinuität. Durch die Nutzung der Vergangenheitsform („damals“, „noch hatte“) deutet sich jedoch auch eine Differenz zwischen der Gegenwarts- und Vergangenheitsperspektive der Biographin an. Die Gemeinde wird von Anna Schuster auch an anderer Stelle – dem mennonitischen Gemeindeverständnis entsprechend – als haltgebende Gemeinschaft konstruiert, die in der Migration eine besondere Bedeutung hat: A: Außerdem dass man diesen persönlichen Bezug zu Gott und seinen Glauben ausleben aber eben auch dieses Zusammengehörigkeitsgefühl in der Gemeinde eben das - ja einem -- einen Halt halt denk ich auch dass man hier im Umfeld vielleicht nicht zuhause ist aber hier sich vielleicht auch fiktiv aber - vielleicht ähm - ja - eine Krücke aber es ist doch - ich denke notwendig gewesen dass man irgendwo - ein Zuhause hat oder dies Gefühl bekommt so damit man - das Neue erschließen kann. I: mhm A: Weil das ist doch eher etwas was man von früher auch kennt, nicht, so - Gemeindeleben auch so, ja, Feste und Gottesdienste Veranstaltungen, Freunde, Treffen, Familienfeiern so was dass war halt alles von der Gemeinde ausgeht, Kontakte und so weiter, dass das halt im neuen Umfeld auch gegeben ist (30/36- 31/8)
Die Gemeinde wird als eine Brücke zwischen den beiden Lebenskontexten konstruiert, die Kontinuität und Zusammengehörigkeit gewährleistet. Durch die Fortführung von gemeinschaftlichen Traditionen ermöglicht sie die soziale Einbindung der Mitglieder über die Migration hinweg und schafft zumindest die ‚Fiktion‘ von einem „Zuhause“. Die Gemeindezugehörigkeit stellt Anna Schusters Deutung zufolge aber nicht nur Kontinuität her, sondern sie ist auch ein ‚Vehikel‘, um sich „das Neue erschließen“ erschließen zu können.32 Der Vergleich der Gemeinde mit einer „Krücke“ verleiht ihr die Bedeutung eines technischen Hilfsmittels, das einem gehbehinderten Menschen die Fortbewegung ermöglicht. Genau an diese Bedeutungszuschreibung
31 Obwohl die Erzählerin durch die Nutzung des unpersönlichen Personalpronomens „man“ nicht eindeutig markiert, ob alle genannten Punkte für beide Freundinnen gleichermaßen Relevanz haben, lässt ihre Darstellung die Vermutung zu, dass ihre Freundin in die gleichen sozialen Netzwerke eingebunden ist wie Anna Schuster und damit vermutlich auch Mitglied der freikirchlichen Gemeinde ist. 32 In diesen Aussagen scheint sich eine reflexive Distanz der Biographin zum ‚kanonischen‘ Gemeindeverständnis anzudeuten. Für die mögliche These, dass damit auch weitere kritische Distanzierungsansätze verbunden sein könnten, finden sich im Interview allerdings kaum weitere Hinweise.
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knüpft Anna Schuster im Kontext ihres Studiums an und macht sie sich als Handlungs- und Deutungsressource ‚zunutze‘: Durch den Schritt in die Hochschule bei gleichzeitiger Beibehaltung der Nähe zu Familie, Gemeinde und Freundin aus dem sozialen Nahraum setzt sie das Prinzip des ‚Brückenschlags‘ zwischen ‚alter‘ und ‚neuer‘ Welt in die Praxis um. Anna Schuster und ihre Freundin erhalten trotz unterschiedlicher Notendurchschnitte beide den gewünschten Studienplatz in A-Stadt und können ihr Studium zeitgleich beginnen. Die Strategie des gemeinschaftlichen Studierens zieht sich dabei wie ein roter Faden durch die Erzählungen über den Studienbeginn: Die administrativen Schritte ins Studium werden von den Freundinnen ebenso gemeinschaftlich vollzogen wie der Besuch gemeinsamer Pflichtveranstaltungen. Die Praxis des gemeinsamen Studierens erstreckt sich auch auf die Zeit jenseits der Seminare; die Freundinnen machen sich die Universität mit all ihren Einrichtungen (Bibliothek, Mensa) gemeinschaftlich vertraut. Sie knüpfen auch an die tägliche Praxis des gemeinsamen Zurücklegens des Weges zwischen Wohnort und Bildungsort an – allerdings lässt sich der Weg nach A-Stadt nicht mehr mit dem Fahrrad, sondern nur mit öffentlichen Verkehrsmitteln bewältigen. Anna Schuster betont die Bedeutung des „Zusammengehörigkeitsgefühl[s]“ und beschreibt das gemeinsame Zurücklegen der gleichen Schritte als eine lustvolle Praxis, mit der sich die Freundinnen das Studium und die Universität nach und nach erschließen. Rückblickend schreibt die Biographin dem gemeinschaftlichen Studienbeginn eine bedeutende Rolle für ihren eigenen Studienverlauf zu. A: und dadurch dass man zu zweit war, war man offener für neue Leute. Also was ich persönlich alleine wahrscheinlich nicht gemacht hätte, dann haben wir auch zusammen Lerngruppe gehabt ähm ähm - in Deutsch haben wir dann zusammen, wo ich dann in Mathe alleine war hab ich dann auch durch dieses Gefühl es ist egal wenn ich dann auch wieder mit jemand anderem bin auch in eine Lerngruppe gegangen weil es war nicht schlimm, haben wir in der anderen zusammen was gemacht und eben hier aber andere Leute halt auch zusammen was gemacht also es war dieses I: mhm A: Gefühl man steht nicht ganz alleine ja, und das hat sich eben auch diese positive Erfahrung hat sich eben auch auf die anderen Fächer ähm ausgedehnt weil ähm es war nicht schlimm, du kannst auch mit anderen Leuten was zusammen machen I: mhm mhm A: Nur es war damals es war schön, dass man eben ne beste Freundin halt hat und das man das alles so zusammen - mit dem Fahrrad, nicht?, in der Garage am Bahnhof dann losfährt, nicht?, morgens und-und wenn man nicht weiter weiß du hast so was gehört so ähm, nech, wie ist das denn wie planst du deinen Stunden-Stundenplan und so I: mhm mhm A: und dann können wir uns ja vielleicht da treffen oder dann können wir, dann sehen wir uns halt nachmittags oder so, das war in der Anfangsphase schon - wichtig - für mich auch (14/8-26)
Ihre Freundin wird von Anna Schuster dabei in doppelter Hinsicht als bedeutsame Person ausgewiesen: Sie wird als Vertraute konstruiert, die Sicherheit gewährleistet und deren Anwesenheit dazu beiträgt, dass sie sich in der Universität „nicht so verlo-
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ren gefühlt“ hat. Mit ihr kann Anna Schuster gemeinsame Schritte ins Unbekannte machen, sie ist die Gesprächspartnerin, mit der sie Erfahrungen und Informationen austauschen und das Studium zusammen planen kann. Die gemeinsamen Studienerfahrungen eröffnen Anna Schuster aber auch einen eigenständigen Zugang ins universitäre Leben. Die Erfahrungen, die beide zusammen machen, z.B. mit der Zusammenarbeit mit anderen Mitstudierenden in einer Lerngruppe, ermutigen die Biographin dazu, sich in anderen Situationen auch ohne die Freundin auf andere Mitstudierende einzulassen und mit ihnen zusammen zu arbeiten. Das gemeinschaftliche Studieren wird somit als eine ‚Brücke‘ konstruiert, die das angstlose Erschließen unbekannter Situationen ermöglicht, und die Anna Schuster dazu ermutigt, sich auch allein auf Unbekanntes einzulassen. Die Aussage, dass der Übergang in die unvertraute Welt der Hochschule und die damit verknüpften Erlebnisse „nicht schlimm“ gewesen seien, findet sich in mehreren Sequenzen. Darin deutet sich an, dass die Biographin eine andere Erwartungshaltung hatte und sich zuschreibt, den Schritt in die Welt der Universität als etwas potenziell Beängstigendes antizipiert zu haben. Die Freundin aus der vertrauten Welt, mit der sie ihre sozialen Bezüge teilt, stellt eine Weggefährtin dar, die diese Hürde für Anna Schuster überwindbar macht. Die Erzählerin schreibt ihrer Freundin die Rolle einer biographischen Mittlerin zu, insofern als diese ihr einen veränderten, vertrauensvollen Zugang zu ‚neuen‘ sozialen Welten vermittelt. A: durch sie bin ich halt auch glaub ich eher drauf gekommen ähm es ist halt Abenteuer es ist nicht unbedingt - also was Neues muss nicht was Schlimmes sein I: mhm A: auch wenn du dich nicht auskennst nicht Bescheid weißt eh die Leute nicht kennst oder so es ist Abenteuer, du erlebst was und so (lacht kurz) ähm ja hat sie wahrscheinlich glaub ich mehr in meinem Leben bewirkt als mir bewusst war (lacht) (16/1-9)
Dass Anna Schuster sich eine ängstliche Haltung gegenüber ‚Neuem‘ attestiert, ist vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Bildungswegerfahrungen kaum überraschend. Bis zu ihrem Studium erlebt sie die Begegnung mit Neuem, Unbekanntem auf ihrem Bildungsweg vorwiegend als eine heteronom bestimmte Konfrontation, die mit Überforderungen, eingeschränkter Handlungsfähigkeit und Verletzungen einhergeht. Das ‚Neue‘ bedeutet für Anna Schuster in erster Linie die Erfahrung eingeschränkter Handlungs- und Artikulationsmöglichkeiten, die u.a. eine Folge des UnwirksamWerdens des bislang handlungsorientierenden Wissens und bisheriger Handlungsmuster sind. Die zutiefst verunsichernden und verletzenden Erfahrungen der Biographin im deutschen Schulsystem begünstigen die Formierung einer ängstlichen Haltung gegenüber ‚fremden‘ sozialen Welten.33 Die Übergangserfahrungen im Studium in Begleitung der Freundin werden als ein Wendepunkt bzw. Wandlungsprozess konstruiert: Durch ihre Freundin eignet Anna Schuster sich eine veränderte Haltung gegenüber dem ‚Neuen‘ an, der sie auch 33 Inwiefern darüber hinaus möglicherweise auch die vorherrschende Trennung zwischen ‚Innen‘ und (bedrohliches) ‚Außen‘ im Kontext des Milieus der mennonitischen Gemeinde einer solchen Disposition der Vorsicht gegenüber der ‚Welt‘ außerhalb der Gemeinde Vorschub geleistet haben, lässt sich dagegen nur vermuten.
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eine über das Studium hinausreichende Bedeutung zuschreibt. Die Maxime, dass alles Neue zunächst ein „Abenteuer“ darstellt, wird von ihrer Freundin als alternatives Deutungsmuster an sie herangetragen und hilft der Biographin dabei, einen anderen Umgang mit dem Unbekannten zu kultivieren. „Abenteuer“ steht für eine außergewöhnliche Erfahrung, die sich vom Alltag abhebt. Sich auf ein Abenteuer einzulassen beinhaltet eine neugierige Haltung gegenüber der Welt. Damit wird ein Lernprozess symbolisiert, in dessen Verlauf sie sich nach und nach eine veränderte Erfahrungshaltung und einen ‚mutigeren‘ Zugang zu unvertrauten Welten aneignet. Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass in Anna Schusters Darstellung ein Zugang zu (höherer) Bildung erkennbar wird, der auf die Herausforderung verweist, sich in sozial unvertrauten ‚Welten‘ bewegen zu müssen: Der Schritt nach ‚draußen‘ wird durch die Bindung an das Vertraute bewältigbar gemacht. Die Sicherheit des Vertrauten (Familie, Gemeinde) sollen die Aneignung des ‚Neuen‘ erleichtern. Diese Strategie lässt sich zunächst allgemein als Ausdruck einer Unsicherheit gegenüber hoher formaler Bildung deuten, die auch vor dem Hintergrund einer nicht vorhandenen akademischen Bildungstradition in der Familie zu lesen ist. Diese Suche nach Sicherheit im Vertrauten lässt sich zudem als eine Reaktion auf Verletzungserfahrungen verstehen, die Anna Schuster während ihrer Schulzeit gemacht hat. Darüber hinaus kommen dabei Deutungs- und Sinnressourcen zum Tragen, die auch im Kontext des mennonitischen Selbst- und Gemeindeverständnisses bedeutsam sind: Das ‚Pendeln‘ zwischen universitärer Welt auf der einen und den vertrauten sozialen Bezügen (Familie/Gemeinde/Freundeskreis) auf der anderen Seite sowie die vorsichtige, gemeinschaftliche Annäherung an die „neue Welt“ der Universität entsprechen dem Muster einer Trennung von ‚Außen‘ und ‚Innen‘. Anna Schusters (Handlungs- und Deutungs-)Strategie des Pendelns zwischen der vertrauten Welt von Familie und Gemeinde und der Welt der Hochschule lässt sich einer konservativen Lesart folgend als eine Strategie zur Aufrechterhaltung und Fortschreibung der Dualität von ‚Gemeinde‘ und ‚Welt‘ interpretieren: Das Studium wird nicht als Gelegenheit zu einer geographischen Distanzgewinnung genutzt, sondern Anna Schuster bleibt der mennonitischen Gemeinde verbunden – und damit auch deren Weltverständnis. Durch das Wohnen zuhause und das gemeinsame Studium mit einer Freundin aus dem gleichen sozialen Kontext wird die potenzielle ‚Bedrohung‘ durch das ‚Außen‘ minimiert. Zugleich wird dadurch nach ‚innen‘ die Zugehörigkeit zu einer Glaubensgemeinschaft abgesichert, die sich durch christlich-konservative Werte und Traditionen auszeichnet, die Sicherheit geben, aber Anna Schuster auch in ihren Freiheiten begrenzen. Aus einem anderen Blickwinkel lässt sich Anna Schusters Handlungsstrategie dagegen auch als ein gelungener ‚Brückenschlag‘ deuten, durch den soziale Teilhabe und Zugehörigkeit zum Studium überhaupt erst möglich werden: Das Festhalten an etablierten Bindungen und der gemeinsame Studienbeginn mit einer Begleiterin aus der vertrauten Welt ermöglichen es ihr, sich auf die „neue Welt“ des Studiums einzulassen, die sich in vieler Hinsicht von der vertrauten (Innen-) Welt der Gemeinde unterscheidet. Damit eröffnen sich für Anna Schuster unvorhergesehene Erfahrungsspielräume und Lernmöglichkeiten. Die gemeinschaftliche Studienstrategie ist nicht nur unter dem Aspekt der Sicherheit bedeutsam, sondern sie ermöglicht auch eine sukzessive Ausweitung eigener Bewegungsspielräume und die Überwindung der Angst vor dem ‚Unbekannten‘. Das Studium selbst eröffnet Anna Schuster den Zu-
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gang zu anderen Wissensordnungen und ein „Kaleidoskop“ neuer Erfahrungsmöglichkeiten, die sie für Lernprozesse nutzen kann. 9.3.3 Konstruktion des Studiums als Entfaltungsmöglichkeit und Raum für Anerkennungserfahrungen Anna Schusters Ausführungen zum Studium haben eher bilanzierenden Charakter. Das Studium wird von der Biographin – in Abgrenzung zu ihrer Schulzeit – als „positivste Erfahrung meines Lebens“ (11/15-16) bilanziert. Was sie zu dieser positiven Evaluation kommen lässt, lässt sich an der folgenden Episode verdeutlichen, die in Form einer Belegerzählung präsentiert wird.34 Thema der Erzählung sind die Erfahrungen der Biographin mit einer Seminararbeit, die sie im ersten Studiensemester verfassen musste. Die Belegerzählung zeichnet sich durch eine narrative Dramaturgie und einen vergleichsweise hohen Detaillierungsgrad aus. Die Genauigkeit der biographischen Rekapitulation erstaunt dabei angesichts der zeitlichen Distanz des Erlebnisses zum Interviewzeitpunkt. Es liegt daher nahe, dass diese Episode als eine ‚Schlüsselerzählung‘35 verstanden werden kann. A: Ähm, ich hatte ein Erlebnis ähm im ersten Semester. Und zwar musste ich in Textil eine Arbeit schreiben, und es war meine erste Seminararbeit überhaupt, und es war ein Thema, dazu gab es nicht viel aber es war eben ich musste über Wolle schreiben und ich ähm mein Vater arbeitet in einer Firma die ähm produzieren Stoffe aus einer besonderen Wolle. I: mhm A: Das gibt es eigentlich - in Deutschland eigentlich nur diese eine Firma. Die kannten die Damen alle im Institut nicht und ähm - das war wieder so etwas ja - das kannte ich aus meinem persönlichen Umfeld, ich wusste die gibts in der Nach- die ist wirklich in der Nachbarschaft fünf Schritte entfernt von meinem - Haus oder unserem Haus ähm, das war etwas wo ich selber denke ach, da gibt es noch nicht wirklich was und da kannst du eigentlich wirklich alles schreiben w-wozu du Lust hast ja. Hab dann in der Firma angefragt und da war dann zu der Zeit auch so ne Führung, da bin ich dann mitgegangen, son Heimatverein das war so was, da bin ich hinterher und hab mir die Maschinen alle angeguckt und mir da Prospekte mitgenommen und ähm hab da n bisschen was zur Faser halt was in Textil halt auch ähm - son bisschen Pflicht war, nicht, dass man die Fasern und die Behandlung der Fasern eben auch aufschreiben - oder auch be-schreiben musste, und dann eben sehr speziell auf diesen Wollstoff eingegangen bin was man daraus alles machen kann und äh - ja diese Arbeit ich hatte damals kein Problem zwanzig Seiten voll zu kriegen weil das wirklich son Thema war wo ich dann einiges erlebt hatte viel Material hatte, (8/33-9/15)
Mit der Ankündigung „die erste Seminararbeit überhaupt“ wird das Verfassen einer wissenschaftlichen Arbeit als eine bislang unbekannte Anforderung ausgewiesen, zugleich kommt dieser Arbeit damit die Bedeutung einer Initiation in die Welt der Wis34 Der erzählten Episode ging eine Nachfrage voraus, die darauf abzielte, eine Erzählung zu der vorangegangenen positiven Bilanz des Studiums zu evozieren. 35 Als Schlüsselerzählungen können nach Lucius-Hoene/Deppermann (2002: 135) „episodische Schilderungen“ bezeichnet werden, „in denen gesamtbiografisch bedeutsame Ereignisse oder Erfahrungen wiedergegeben […] werden“.
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senschaft zu. Eine gewisse Komplikation wird dadurch markiert, dass das vorgegebene textilwissenschaftliche Thema der Seminararbeit („Wolle“) bislang augenscheinlich wenig wissenschaftlich bearbeitet ist. Es handelt sich also nicht nur um die unvertraute Anforderung des Verfassens einer wissenschaftlichen Arbeit, sondern auch um eine weitgehend offen gestaltete Arbeitssituation, in der Anna Schuster sich wenig konkreten Vorgaben und bestehendes wissenschaftliches Wissen zur Verfügung stehen. Die geringen Anhaltspunkte für die Arbeit werden von ihr jedoch zunächst nicht als Bedrohung und Verunsicherung, sondern als eine Form von Freiheit und Gestaltungsspielraum interpretiert: Sie kann „eigentlich wirklich alles schreiben“, wozu sie „Lust hat“. Anna Schuster bearbeitet die Herausforderung, indem sie sich das fehlende Wissen selbst ‚beschafft‘. Dabei kann sie auf Wissen und Ressourcen aus ihrer vertrauten lebensweltlichen Umgebung zurückgreifen. Durch die Tätigkeit ihres Vaters als Warenprüfer in einer Firma, die Stoffe aus einer speziellen Wollfaser herstellt, verfügt sie über ein privilegiertes Wissen und einen exklusiven Zugang zu den besonderen Produkten dieser Firma. Die Erzählerin betont die unmittelbare Nachbarschaft der Firma zum Wohnhaus der Familie; den eigentlichen Expertinnen, den „Damen im Institut“, ist die Existenz des Betriebs hingegen unbekannt. Anna Schuster verknüpft die Aufgabe des Verfassens ihrer Seminararbeit zu einem speziellen textilwissenschaftlichen Thema somit mit ihrem persönlichen Insiderwissen nutzt den Zugang zur Praxis der Textilherstellung an einem vertrauten Ort für eigenständige fachliche Recherchen. Das eigene Vorgehen wird als souverän, durchdacht und organisiert präsentiert: Anna Schuster erkundigt sich bei der Firma nach einer Besichtigungsmöglichkeit, schließt sich einer Betriebsführung an und recherchiert auf diese Weise eigenständig Material zu ihrem Seminararbeitsthema, das sie anschließend schriftlich verarbeitet. Durch die Aussage, angesichts der Materialfülle und des Erlebten „kein Problem“ damit gehabt zu haben, „zwanzig Seiten voll zu kriegen“ konstruiert sie das Verfassen der Seminararbeit als einen produktiven und kreativen Prozess, der ihr keine Schwierigkeiten bereitet hat. In der Benennung der einzelnen Arbeitsschritte zeichnet sich ein starker Handlungsbezug ab. Zudem spricht Anna Schuster hier deutlich häufiger als in anderen Interviewpassagen, in denen sie oft das unpersönliche „man“ bevorzugt, in der ersten Person Singular und präsentiert sich damit als handelndes Subjekt. Nach der Abgabe der Arbeit überkommen sie jedoch plötzliche Zweifel an der Qualität ihrer Arbeit. In der Dramaturgie der Erzählung wird durch diese plötzliche Verunsicherung ein Spannungsbogen aufgebaut. Ihre nachträgliche Verunsicherung erklärt sie mit den fehlenden Vorgaben, der Freiheit, ohne klare Maßstäbe und „Richtlinien“ zu schreiben. Konkret hat Anna Schuster Zweifel daran, ob die Arbeit den Erwartungen der Dozentin, die als besonders „streng“ (9/24) charakterisiert wird, genügen wird. Sie befürchtet, dass die Arbeit „nicht gut genug“ (9/20) sein könnte, obwohl sie ihrem eigenen Gefühl nach „alles […] gegeben“ (9/20-21) hat. Um möglichen Enttäuschungen vorzubeugen werden die eigenen Hoffnungen auf eine Bewertung der Arbeit bereits vorab heruntergeschraubt („wahrscheinlich wird es nicht besser als ne Vier“ (9/18-19)). Die antizipierte Diskrepanz zwischen der eigenen Einschätzung der eigenen Leistung und der (schlechteren) Beurteilung durch die Lehrperson lässt sich dabei als ein Ausdruck eines Erfahrungsmusters interpretieren,
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das auf Anna Schusters Erfahrungen mit der mangelnden Anerkennung ihrer schulischen Leistungen verweist. A: Und dann ähm ja, hab ich dann eben auch /(gepresste Stimme) mit Bangen gewartet was wird denn da wieder kommen/, was wird sie dazu sagen und so - also es ist das erste Semester aber trotzdem, nicht?, man möchte doch auch positive Rückmeldung bekommen. Und dann bin ich auch /(gedehnt) ganz so schüchtern und vorsichtig reingegangen/ und - (seufzend) oh in ihrem Büro sah es so kreativ und oh und alles so wissenschaftlich so viel Bücher und=und ich da mit meinem meiner Arbeit ich so ooh - ja. Und-und sie so, JA, und ähm das ist ähm ja n bisschen formal wärs halt son bisschen schwierig gewesen und=und so da müsste ich noch n bisschen dran arbeiten aber (lebhaft) das ist ja SO eine Arbeit und Sie haben ja SO viel geleistet und das für eine erste Seminararbeit und ich bin ja gespannt was Sie im Laufe des Studiums mir noch bringen werden und ich so - (Geräusch des Erstaunens) ich /(langsamer, schmunzelnd) hab den Mund vor Staunen nicht mehr zubekommen weil einfach ähm/ - das was ich selber geleistet hatte, alleine, ohne dass jemand dabei war dass jemand gesagt hat das muss (klopft auf den Tisch) so=und=so=und=so und ich will dass es so ist - und es war gut es war wirklich äh es war - super I: mhm A: für sie und=und=und so dass sie sagte ich - werd das mal beobachten was Sie weiter machen werden weil wie Sie da praktisch arbeiten wenn - okay. Wow. Also fürs erste Semester war das für mich wirklich so, eine Bestätigung nech, also so - auch gerade eigene Arbeiten also dass man jetzt nicht guckt wie haben andere das geschrieben oder so ähm, dass das wirklich auch positiv bewertet wurde auch so diese eigene Leistung (9/15-10/6)
Das ängstliche Warten auf das ‚Urteil‘ der Dozentin steht maßgeblich unter der Erwartung bzw. Befürchtung einer negativen Rückmeldung („was wird denn da wieder kommen“). Das Rückmeldegespräch mit der Dozentin wird von Anna Schuster nachfolgend detailliert szenisch reinszeniert – das vorsichtige Betreten des Büros, die eigenen Eindrücke und die Kommentierung der Arbeit durch die Dozentin, die in wörtlicher Rede widergegeben wird. Betont wird dabei zunächst die Hierarchie von Wissen und Erfahrung, die durch die Ausstattung des Büros repräsentiert wird. Das Büro der Dozentin erscheint als ein Raum, der sich durch alle Attribute fachlicher Professionalität auszeichnet („kreativ“, „wissenschaftlich“, „viele Bücher“). Der Abstand zwischen der Position der Dozentin und der von Anna Schuster wird dadurch dramatisiert; die Erzählerin konstruiert sich als Novizin, die mit ihrer Seminararbeit Neuland betreten hat, ohne über ein annähernd ähnliches Wissen und Erfahrung zu verfügen. Vor diesem Hintergrund entfaltet die erzählerische Pointe anschließend ihre überraschende Wirkung. Die Ereignisse werden als erwartungswidrig inszeniert: Anna Schusters Befürchtungen erweisen sich nicht nur als unbegründet, sondern sie verkehren sich sogar in ihr Gegenteil. Abgesehen von einer formalen Kritik an ihrer Arbeit spricht die Dozentin ein geradezu euphorisches, persönliches Lob aus. Ihre Anerkennung geht so weit, dass sie ankündigt, die weiteren Arbeiten ihrer Studentin in Zukunft zu beobachten – Anna Schuster wird damit von der Dozentin als ‚hoffnungsvolle‘ Studentin positioniert, die bereits mit ihrer ersten Seminararbeit auf sich aufmerksam gemacht und ihr Potenzial unter Beweis gestellt hat. In ihrem Lob kommt sowohl eine fachliche Anerkennung als auch eine persönliche Wahrnehmung und Wertschätzung zum Ausdruck. Das erzählte Ich wird damit von einer Vertreterin
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der Universität als legitimes Mitglied des fachlichen und wissenschaftlichen Raumes positioniert, zudem wird ihr ein Entwicklungspotenzial zugesprochen. Die Episode kann insofern auch als Geschichte einer gelungenen wissenschaftlichen und fachlichen (Selbst-)Initiation (vgl. Friebertshäuser 1992) interpretiert werden. Anna Schuster deutet diese Erfahrung als eine wichtige „Bestätigung“ im ersten Studiensemester, die eine besondere Relevanz für ihr weiteres Studium erhält. Betont wird insbesondere, dass die Anerkennung der Dozentin ihrer „eigene[n] Leistung“ gilt, die sie weitgehend ohne fremde Vorgaben erbracht hat („ohne dass jemand gesagt hat das muss so und so“). Diese Erfahrung impliziert, dass im Rahmen des Studienfachs Textilgestaltung Eigenständigkeit und Kreativität gefordert und anerkannt sind und die durch eigene Anstrengung erbrachten Leistungen gewürdigt werden. In beiden Punkten unterscheidet sich die Studienerfahrung damit erheblich von Anna Schusters Schulerfahrungen. In der Episode über die Seminararbeit werden verschiedene Aspekte erkennbar, die sich auch im Gesamtzusammenhang des Interviews als zentral für Anna Schusters biographische Konstruktion von Zugehörigkeit zum Studium erweisen. Diese lassen sich auch in argumentativen Passagen des Interviews wiederfinden, in denen sie sich zu ihrem Studium ins Verhältnis setzt. „Alice in Wunderland“ – Entdeckung neuer ‚Welten‘ und Freiräume für individuelle Entfaltung Sowohl in der Geschichte über die Seminararbeit als auch in weiteren Interviewpassagen wird die Konfrontation mit Situationen thematisiert, die sich durch einen geringen Grad der Vorstrukturierung auszeichnen bzw. einen hohen Grad an Selbstverantwortung erforderlich machen. Diese Gestaltungsspielräume gehen mit beachtlichen Anforderungen an die Selbstständigkeit der Studierenden einher. Sie werden von Anna Schuster aber nicht als Überforderung beschrieben, sondern als Möglichkeitsräume für Lernprozesse konstruiert. A: Also ähm da ähm, trotz allen äh - Grenzen oder Zeiträume die man einhalten musste war es wirklich, oh ja - ein Spaß! /(lachend) zu studieren wirklich/ weil man so seine Persönlichkeit einfach mal ausleben konnte. Ohne=ohne eingeschränkt zu sein, ohne - ja dass jemand einfach dies und das von dir forderte, nein es war wirklich nur dieses was du leisten kannst, und=und dann auch eben mein Fach Textilgestaltung war für mich eben auch noch wo ich eben auch diese kreative Seite eben auch a-ausleben konnte einfach ähm - ja einfach die Gedanken laufen lassen konntest das war wirklich - d-das die Bilder mussten nicht so aussehen wie=wie=wie der Lehrer es wollte sondern es war deine eigene Idee gefragt. (6/33-7/3) A: auch in Pädagogik also, Montessori ja, also was wirklich schon abgegriffen ist, wo ich dann gesagt hab interessiert mich nicht, möchte ich nicht machen (10/7-8)
Die Eigenständigkeit und Freiheit des (noch nicht modularisierten) Studiums und die damit verbundenen Wahlmöglichkeiten und Gestaltungsspielräume für eigene Arbeits- und Lernprozesse werden von der Biographin im Interview als positive Rahmenbedingungen des Studiums hervorgehoben. Im Gegensatz zur Schule wird die Universität als ein Raum konstruiert, in dem die Entwicklung eigener Interessen, „expansive“ Lernprozesse (Holzkamp 1993) und „Selbstentfaltung“ stattfinden können und dadurch Zugehörigkeitserfahrungen möglich werden. Dies gilt insbesondere
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für den Kontext des Textilwissenschaftsstudiums, aber wird von ihr auch auf andere Fächer (Pädagogik) übertragen. Anna Schuster setzt dabei nicht auf eine Strategie der Sicherheit im Altbewährten („Montessori“), sondern wagt sich durchaus auf neue Gebiete vor, die weniger „abgegriffen“ sind. Sie positioniert sich damit als eine Studentin, die die Freiheiten des Studiums nutzt, um ihren eigenen Interessen nachzugehen, aber auch neue Themenbereiche entdeckt, mit denen sie die Grenzen des Vertrauten überschreitet. So lernt sie im Pädagogikstudium didaktische Modelle für die Grundschule kennen, die ihr eigenes Erfahrungswissen, das aus dem russischen Schulsystem stammt („Frontalunterricht“) bei Weitem überschreiten. Das Kennenlernen anderer Unterrichtsansätze konstruiert sie als eine bereichernde und erweiternde Erfahrung, die ihr den Weg in einen Kosmos bislang unbekannter Möglichkeiten eröffnet („Kaleidoskop“, „Alice in Wunderland“).36 Zunächst einmal ist bemerkenswert, dass Anna Schuster den geringen Strukturierungsgrad des Studiums nicht als beängstigend erfährt, sondern die damit verbundenen Freiräume als Raum für „Selbstentfaltung“ erlebt und nutzt. Dies steht in einem deutlichen Kontrast zu ihrer Erzählung über die Hauptschulzeit: Hier hatte die Erzählerin auf die Kluft zwischen der Anforderungsstruktur der Hauptschule und der stärker disziplinierenden Unterrichtskultur im russischen Schulsystem verwiesen, die ihr eine Beteiligung erschwerte. Dass es ihr gelingt, die Offenheit des Studiums für Lernprozesse zu nutzen, lässt sich auf die bereits erwähnte gemeinschaftliche Studienstrategie, aber auch auf die spezifischen Rahmenbedingungen zurückführen, unter denen sie ihr Studium absolviert: Das Fach Textilwissenschaft, dem Anna Schuster einen besonderen Stellenwert für ihre Studienerfahrungen einräumt, stellt ein ‚Nischenfach‘ dar, das sich durch geringe Studierendenzahlen und eine gute Betreuungsrelation auszeichnet. Dies erst ermöglicht persönliche Begegnungen und Interaktionen zwischen Lehrenden und Studierenden wie die von Anna Schuster beschriebene, die in anderen Studienfächern unüblich sind. Eine solche persönliche StudierendenLehrenden-Relation kann Sicherheit und Stabilität bedeuten – sofern es sich um eine respektvolle und anerkennende Beziehung handelt. Sicherheit und Unterstützung bietet zudem ein offenbar gut organisiertes Unterstützungssystem für Studienanfänger*innen, das Anna Schuster an anderer Stelle erwähnt. A: dass man durch diese Einführungsveranstaltungen, dass man aufgefangen wurde, dass ähm dass Tutor*innen da waren, dass ähm Kleingruppen Lerngruppen ähm - dass man wirklich wenn man wollte wenn man sich nicht abgekapselt hat rundum betreut werden kann und ähm das war gut. (11/9-14)
Die Nutzung der vorhandenen Freiheiten des Studiums und die Konstruktion von Lernprozessen erfolgt damit also nicht im ‚luftleeren Raum‘, sondern in dem siche-
36 Dies könnte Annas Schusters inkonsistente bzw. ambivalente Bewertung der Methoden der russischen Grundschule erklären – ihre eigentlich positiven Erinnerungen an die Grundschulzeit erscheinen angesichts der reflexiven Beschäftigung mit alternativen Unterrichtsformen vermutlich in einem anderen Licht und müssen einer kritischen Prüfung unterzogen werden.
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ren Rahmen eines ‚Nischenfachs‘ und flankiert durch bestimmte Strukturen und Unterstützungsleistungen. Leistungsgerechtigkeit und Anerkennung Der zweite Aspekt, der zentral für Anna Schusters Zugehörigkeitserfahrung ist, betrifft die Anerkennung, die sie für ihre Anstrengungen und Leistungen erhält. Diese Erfahrung begrenzt sich nicht auf die geschilderte Situation der ersten Seminararbeit, sondern die ‚Objektivität‘ der Leistungsbeurteilung und das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit werden von Anna Schuster zu charakteristischen Merkmalen der Universität insgesamt erhoben, die diese von der Schule unterscheiden. A: das war einfach komplett offen, Dozentinnen waren offen, die Studenten waren offen äh du konntest so sein wie du bist du musst dich nicht verstellen du bist einfach - jemand - so wie du bist. Und das war eine wirklich positive Erfahrung die sich glaube ich auch auf mein Lernen ausgewirkt hat. Ähm weil ich gemerkt habe es wird einfach nicht gewertet wer du bist sondern was du machst. I: mhm A: Das was du abgibst, dafür bekommst du auch ähm eine Note also nur deine Leistung, es ist nicht mehr dein Aussehen deine Aussprache deine Herkunft das=das ist einfach nicht gegeben das was du abgibst wird bewertet. Das war für mich ein Erfolgserlebnis, weil, da war mal jemand der gesagt hat, du hast das geschrieben und das ist eine Zwei. Du hast das geschrieben und das ist eine Eins und das war - wow. Also das war für mich persönlich wirklich eine Erfahrung ähm - ja die vielleicht auch eine Steigerung war, nicht diese Schulerlebnisse, sondern dass man im Studium gesagt hat, hier kann ich mich entfalten. (6/19-31)
Die Universität wird im Kontrast zur Schule als ein neutraler Raum konstruiert, der sich gegenüber natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten der Studierenden scheinbar indifferent verhält. Dagegen wird die Bewertungspraxis an der Schule an dieser Stelle klar als diskriminierend gedeutet. Herkunft, Religion und Sprache werden als implizite Bewertungsmaßstäbe der Schule ausgewiesen, die zwar illegitim, aber wirksam sind. Während sich Leistungsbeurteilungen in der Schule an kategorialen Zuordnungen orientieren (bewertet wurde „wer du bist“), deutet Anna Schuster die Leistungsbewertung an der Universität als objektiv, insofern als hier allein die „Leistung“ („was du machst“) ohne Ansehen der Person bewertet werde. Die Schulerfahrungen bilden damit die Kontrastfolie für die Idealisierung der scheinbar leistungsgerechten Beurteilungspraxis der Hochschule. Festzuhalten ist, dass es schwierig sein dürfte, einen empirischen Beleg dafür zu finden, der diese Idealisierung der Universität als meritokratische Organisation stützen würde. Es ist nicht anzunehmen, dass die Praxis der Leistungsbewertung an der Hochschule tatsächlich grundsätzlich anderen Regeln folgen würde und ‚objektiver‘ wäre als dies im schulischen Kontext der Fall ist. Allerdings ist das Verhältnis zwischen Studierenden und Lehrenden an der Hochschule in der Regel anonymer, auf engere Bereiche beschränkt und weniger dauerhaft als in der Schule. Studierende sind dadurch deutlich weniger als in der Schule von den (u.U. willkürlichen und diskriminierenden) Leistungsbewertungen einzelner Lehrender abhängig. Im Gegensatz zur Schule, wo Anna Schuster zeitweise eine ganz erhebliche Abhängigkeit von ih-
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rem Klassenlehrer erfahren hat, weist die Universität in dieser Hinsicht eine weniger diskriminierungsanfällige Struktur auf. Ausbleiben von Abwertung In Zusammenhang damit steht auch die dritte wesentliche Erfahrung, die Anna Schuster mit der Universität verbindet: Diese wird als ein Raum konstruiert, der sich durch die Abwesenheit von gruppenbezogener und individueller Abwertung auszeichnet. Dies gilt sowohl für das Verhältnis zu Lehrenden, das Anna Schuster zwar als hierarchisch, aber respektvoll beschreibt, als auch für das Verhältnis zwischen den Studierenden. Das Ausbleiben negativer Kategorisierungen und persönlicher Abwertungen bildet einen weiteren Aspekt, der die Universität grundlegend von der Schule unterscheidet. A: ähm es war ähm auch eine äh Erfahrung äh für mich persönlich dieses Abwertende so du kommst von woanders her, du=du=du sprichst nicht so wie wir du siehst nicht so aus wie wir das war an der Uni nicht. I: mhm A: Also das war eine Erfahrung für mich, wow, das ist vollkommen egal wo du herkommst also hier ist alles vertreten ähm, es ist dieses Wertende was man vielleicht so in einem engeren Rahmen in der Schule hatte, das war gar nicht gegeben (6/11-17)
In der Universität scheinen, anders als in der Schule, äußerliche oder sprachliche Besonderheiten, die auf die ethno-religiöse Zugehörigkeit der Biographin verweisen, nicht ins Gewicht zu fallen oder zumindest nicht zum Anlass von Abwertung und Ausgrenzung zu werden. Dies wird von Anna Schuster u.a. damit erklärt, dass die Universität einen weniger „engen“ sozialen Rahmen darstellt als die Schule. Die Formulierung, dass an der Universität „alles vertreten“ sei, kann sich einerseits auf die subjektiv als heterogener wahrgenommene Zusammensetzung der Studierenden im Vergleich zur Schule beziehen. Andererseits kann auch gemeint sein, dass die Universität als ein weniger normierender Kontext wahrgenommen wird, der mehr individuelle Unterschiede toleriert. Anna Schuster erlebt an der Universität eine stärkere Normalität von Heterogenität als dies in schulischen Kontexten der Fall war; Abweichungen von der Norm sind hier weniger auffällig, weil soziale Normen an sich weniger eng definiert sind als im Kontext der Schule und innerhalb des PeerKontexts der Schulklasse. Zusammenfassend lässt sich somit festhalten, dass die Universität Anna Schuster als ein Raum entgegentritt, der sich durch das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit und die Abwesenheit von Abwertung und Diskriminierung auszeichnet, und der darüber hinaus Freiräume für kreative Lernprozesse bietet. Dies verweist auf die Unterschiede zwischen den Institutionen Schule und Hochschule, auf die noch nicht modularisierte Studienstruktur sowie die spezifischen lokalen Rahmenbedingungen des Studienfachs Textilgestaltung und und des damit verbundenen Bildungsmilieus. Das Zusammenspiel dieser Bedingungen ermöglicht es Anna Schuster, an biographische Ressourcen und Handlungsmuster anzuknüpfen und dadurch ein positives Zugehörigkeitsverhältnis zur Universität zu etablieren. Dabei lässt sich die Beschreibung der Universität als ‚offenem Raum‘ nicht als eine Widerspiegelung ‚objektiver‘ Bedingungen des Feldes verstehen, sondern eben
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als eine biographische Konstruktionsleistung, die sich nur vor dem Hintergrund der spezifischen Erfahrungsgeschichte der Biographin verstehen lässt. Anna Schuster bearbeitet ihre Bildungs- und Aufstiegsgeschichte, indem sie die Universität als eine positive ‚Gegenwelt‘ zur negativ besetzten Schule konstruiert und das Studium als befreiende und ermächtigende Gegenerfahrung zur heteronom bestimmten Schulzeit entwirft. Diese positive Bilanzierung ihres Zugehörigkeitsverhältnisses zur Universität in der biographischen Erzählung ermöglicht eine Selbstvergewisserung, von der anzunehmen ist, dass sie eine wichtige Ressource für die Bewältigung des zum Interviewzeitpunkt unmittelbar bevorstehenden Übergangs ins Referendariat darstellt. Die Kontrastierung von Schule und Universität setzt sich auch im weiteren Verlauf der Erzählung fort, nachdem Anna Schuster von ihrer Erkrankung berichtet, die sie zu zweimaligen, längeren Unterbrechungen ihres Studiums zwingt. Die Erkrankung stellt dabei eine harte Zäsur dar, die nicht nur in die Zeitpläne der Biographin für die Beendigung ihres Studiums und den Berufseinstieg interveniert, sondern sie auch längerfristig zu einer veränderten, umsichtigen Haltung gegenüber ihrem Körper zwingt. Die Folgen der Erkrankung werden von Anna Schuster als eine Form der erzwungenen Verlangsamung beschrieben. A: ich mu-muss halt - ja - gucken wie ich mein Leben gestalte also es geht nicht Stress=Stress=Stress ich muss das verteilen, ich muss es einteilen, ich muss meinem Körper Zeit lassen, für Pausen ähm - ich hab immer gedacht ich hab einen starken Körper, kann alles schleppen kann alles arbeiten, es geht halt nicht alles ähm aber dafür merkt man ähm man kommt auch langsam ans Ziel (lacht kurz) aber - es ist halt auch okay. (8/10-15)
Die Erkrankung führt der Biographin die Grenzen ihrer Belastbarkeit vor Augen. Trotz der besonderen Anstrengungen aufgrund der wiederholten Unterbrechung des Studiums kurz vor dem Studienende und der zweimaligen Rückkehr an die Universität, die in der Erzählung erkennbar werden, hält Anna Schuster an ihrem Studium fest. Dafür ist einerseits die berufliche Zukunftsperspektive entscheidend, auf die die Biographin hinarbeitet und mit der sie ihrem Studium Sinn und Bedeutung verleiht. Andererseits hebt Anna Schuster die Bedeutung der Unterstützung hervor, die sie in dieser Zeit erfährt. Neben der psychischen Unterstützung durch ihre Mutter hebt sie hervor, dass die Zeit ihrer Erkrankung auch institutionell akzeptiert wird und die Abweichung vom studienbiographischen Normalverlauf nicht etwa zu einem Ausschluss führt. A: ich wurde beurlaubt, ich bin nicht einfach rausgeschmissen worden so dass diese - so das was man investiert hat was man an Leistung gebracht hat dass das nicht einfach ähm äh - jetzt verpufft oder für umsonst war, sondern dass jemand das gewertet hat und gesagt hat okay wir geben dir ne Chance werd erstmal gesund und dann kannst du weitermachen (7/24-27)
Auch diese Deutung entspricht der Konstruktion der Universität als ‚gerechte‘ Institution, die die Leistungen ihrer Mitglieder anerkennt, auf deren Lebenssituation und Bedürfnislagen eingeht und ihnen eine zweite „Chance“ einräumt. Dass dies nicht als Selbstverständlichkeit wahrgenommen wird, verweist auf die davon abweichenden Erfahrungen der Biographin im deutschen Schulsystem.
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9.3.4 Fazit: Das pädagogische Studium als Ermächtigungserfahrung und ‚selektives Bildungsmoratorium‘ Während Anna Schuster in ihrer Erzählung über die Schulzeit vorwiegend als Objekt bildungsinstitutioneller Logiken und der Wünsche und Entscheidungen anderer in Erscheinung tritt, ist mit der Entscheidung für den Lehrer*innenberuf die Entwicklung eines (beruflichen) Handlungsentwurfs verbunden, den die Biographin sich selbst zuschreibt. Das Studium bedeutet im Kontext ihrer Bildungsbiographie eine deutliche Zäsur, insofern als damit eine Kette von Negativerlebnissen durchbrochen wird. Anna Schuster deutet das Studium als eine „neue Welt“, in der ihre Fähigkeiten und Orientierungen Anerkennung finden und sie sich selbst als handlungsmächtig erlebt. Dass dies möglich wird, lässt sich u.a. darauf zurückführen, dass sie im Studium nicht nur eine Anerkennung ihrer Arbeitsleistungen, sondern indirekt auch eine Bestätigung ihres zentralen (bildungsbezogenen) Handlungsmusters erfährt: dem Erbringen eigenständiger Leistungen. Nachdem sich dieses Muster in der Schule wiederholt als unwirksam erwiesen hat, findet es im Kontext des Studiums positive Resonanz. Das Erbringen von Leistungen bleibt zwar auch im Studium eine aufwändige Aufgabe, die „Mühe“ (10/26) erforderlich macht. Im Unterschied zur Schulzeit erfährt Anna Schuster ihre Anstrengungen jedoch nicht als wirkungslos, sondern als eine Investition, die sich „lohnt“ (vgl. 10/24). Zugehörigkeitserfahrungen werden auch dadurch möglich, dass Anna Schuster im Gegensatz zur Schule keine Stigmatisierungserfahrungen oder Angriffe auf ihre Person erlebt (vgl. dazu das folgende Kapitel). Darüber hinaus eröffnet das Studium Anschlussmöglichkeiten auf fachlicher Ebene. Insbesondere das Fach Textilgestaltung bietet kreative Gestaltungsspielräume, die Anna Schuster mit eigenen Ideen handelnd auszufüllen vermag. Damit knüpft sie an bereits in der Schulzeit bestehende Interessen und Stärken an – neben dem Lesen beschreibt sie Kunst als das einzige Schulfach, in dem sie Erfolge erzielen konnte. Kreativ-schöpferische Arbeit ist gerade in ihrem Fach Textilgestaltung besonders gefragt, wo es nicht darum geht, Erwartungen an ein bestimmtes Produkt zu entsprechen, sondern darum, etwas Individuelles zu schaffen. Während der Studienbeginn somit einerseits einen deutlichen (Auf-)Bruch in Anna Schusters Bildungsgeschichte markiert, zeichnen sich im Hinblick auf die Art und Weise, wie der Übergang in diese ‚neue Welt‘ bewältigt wird, deutliche Kontinuitäten ab: Das Studium ist nicht mit dem Verlassen der vertrauten Welt verbunden, sondern diese bleibt nach wie vor ein zentraler Bezugspunkt. Während des gesamten Studiums hält die Biographin ihre Bindungen zur Familie, zu Freunden und zur Gemeinde aktiv aufrecht. Im Anschluss an eine Studie von Arne Schäfer (2010) über das Aufwachsen von Jugendlichen in evangelikalen Aussiedlergemeinden lässt sich die Gestalt von Anna Schusters Studienzeit auch als ein „selektives Bildungsmoratorium“ charakterisieren. Der Begriff, den Schäfer in Anlehnung an ein Konzept von Jürgen Zinnecker ver37 Mit dieser fachlichen Orientierung wird zugleich auch eine Familientradition fortgeschrieben: Bereits der Vater hat als gelernter Schneider einen Beruf gewählt, in dem es um die kreativ-gestalterische Arbeit mit Textilien geht.
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wendet, bezeichnet eine partielle und widersprüchliche Modernisierung von Jugend. Schäfer (2010) wendet sich damit gegen das in den bislang vorliegenden Studien zu Jugendlichen in evangelikalen Aussiedlergemeinden38 vorherrschende Erklärungsmuster einer Modernitäts-Traditionalitäts-Differenz: „Es drängt sich bei der Durchsicht der einschlägigen Forschungsarbeiten der Eindruck auf, dass die mennonitischen und baptistischen Gemeinden traditionelle Enklaven innerhalb moderner und hochindividualisierter Gesellschaften bilden.“ (ebd.: 57f.). Die Studien thematisieren, so Schäfer, vor allem den „tiefen Zwiespalt“ (Schäfer 2010: 58), in dem sich die Jugendlichen der vorherrschenden Auffassung nach dadurch befinden, dass sie sich zwischen gegensätzlichen Werte- und Normsystemen bewegen, die durch die ‚traditionelle Gemeinde‘ und die ‚moderne westliche Welt‘ repräsentiert werden. Deutlich seltener werden dagegen die subjektive Bedeutung, die diese unterschiedlichen Lebenswelten für die Jugendlichen haben, und die Formen der handelnden Auseinandersetzung damit thematisiert (vgl. ebd.). Schäfer selbst kommt in seiner Studie zu differenzierteren Schlüssen. So thematisiert er Veränderungen, die dadurch ausgelöst werden, dass erhöhte Bildungsanforderungen auch in den evangelikalen Gemeinden zu einer Verlängerung der Bildungsphase geführt haben. Da höhere Bildung der nachwachsenden Generation und ihre Integration der in den Arbeitsmarkt für den Fortbestand der freikirchlichen Gemeinden aus ökonomischen Gründen unverzichtbar ist, wird sie gefördert, auch wenn damit das Risiko einhergeht, dass die jungen Gemeindemitglieder mit alternativen Weltdeutungen konfrontiert werden (vgl. ebd.: 223). Zwar seien für Jugendliche in evangelikalen Aussiedlergemeinden dennoch bislang vielfach nur begrenzte Möglichkeitsräume dafür verfügbar, biographische Entwürfe jenseits der Gemeindeeinbindung zu entwickeln. Allerdings zeichne sich auch hier die Tendenz einer Vervielfältigung und Dynamisierung von Lebensentwürfen ab. Die Verlängerung der Bildungsphase und die gestiegenen Mobilitätsanforderungen der Arbeitswelt eröffnen den jungen Gemeindemitgliedern, so Schäfer, erweiterte Individualisierungsspielräume und alternative Gemeinschaftsangebote, die langfristig betrachtet eine Erosion der „christlichen ‚Normalbiographie‘“ (ebd.: 248) begünstigen. Auch Anna Schusters biographische Konstruktion weist widersprüchliche Orientierungen auf. Zwar finden sich auch in ihrer Erzählung immer wieder Momente der Differenz(ierung) zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘ bzw. ‚Eigenem‘ (Gemeinde, Familie) und ‚Fremdem‘ (soziale Außenwelt, Institutionen der Mehrheitsgesellschaft), die in der Literatur als charakteristisch für das Aufwachsen im Kontext freikirchlicher Gemeinden beschrieben werden. Aber Anna Schusters Beispiel zeigt auch sehr anschaulich, dass die in der Literatur vorzufindende Gegenüberstellung einer ‚traditionellen‘, modernitätsfeindlichen (Innen-)Welt der Gemeinde und einer ‚modernen‘, individualitätsbetonten westlichen (Außen-)Welt und der Annahme daraus resultierender Identitätskonflikte in mehrfacher Hinsicht zu kurz greift. Zunächst ist festzustellen, dass sich das Milieu, in dem Anna Schuster aufwächst, nicht per se als traditionell bezeichnen lässt. Zwar bedeutet die Einbindung in die freikirchliche Gemeinde eine Unterwerfung unter die Regeln der Gemeinschaft, die 38 Verschiedene Einzelstudien haben sich mit der Sozialisation von ausgesiedelten Jugendlichen befasst, die in evangelikale Gemeinden eingebunden sind (vgl. Müller 1992; Boll 1993; Vogelsang 2006; Schäfer 2010).
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die Handlungsspielräume der Mitglieder (beispielsweise über die Kleiderordnung) regulieren und limitieren. Aber Anna Schusters Eltern teilen weder die allgemeine Skepsis gegenüber höherer Bildung, noch ist erkennbar, dass sie traditionellen Geschlechterrollenvorstellungen folgen, die in der Literatur über freikirchliche Gemeinden von Aussiedler*innen als typisch für diese Generation beschrieben wird (vgl. Schäfer 2010: 242). Vielmehr ermöglichen die Eltern den Kindern geschlechterunabhängig Bildungswege, die auf das Erreichen höherer Bildungsabschlüsse ausgerichtet sind. Dadurch versuchen sie Bildungsaspirationen zu realisieren, die sie selbst nicht verwirklichen konnten und nehmen dafür – im Falle von Anna Schusters Mutter – selbst Nachteile am Arbeitsmarkt in Kauf, die durch die Entwertung von Bildungsabschlüssen im Zuge der Migration zustande kommen. Die Hoffnungen, die die Eltern in den Bildungsweg der Biographin setzen und die Unterstützung, die sie ihr gewähren, weisen somit große Ähnlichkeiten mit den bildungsfreundlichen Haltungen auf, die in anderen Interviews meines Samples ebenso wie in bereits vorliegenden Studien als typisch für die Biographien von Bildungsaufsteiger*innen mit Migrationsgeschichte herausgearbeitet worden sind, die nicht in vergleichbare Gemeindestrukturen eingebunden sind (vgl. z.B. Tepecik 2010). Der zweite ‚Kurzschluss‘ der Modernitätsdifferenz-These betrifft die Unterstellung einer als ‚modern‘ und individualitätsfreundlich gedachten Außenwelt: Das ‚Außen‘ repräsentiert in Anna Schusters Biographie – bis zum Beginn des Studiums – gerade keine Welt, die sie in ihrer Individualität fördern würde, sondern tritt ihr als eine Welt gegenüber, in der sie in typisierende und bewertende Raster eingeordnet wird – sei es als Aussiedlerschülerin oder als leistungsschwache Hauptschülerin. Anna Schuster macht in der Schule Erfahrungen mit negativen Typisierungen aufgrund askriptiver Merkmale, die gerade im Widerspruch zu ‚modernen‘ Prinzipien wie Individualität und Leistungsgerechtigkeit stehen. Auch die mangelnde Anerkennung von Leistungsbereitschaft und der institutionell behinderte Zugang zu höherwertigen Bildungsgängen stehen in Kontrast zum Selbstverständnis eines ‚modernen‘ Bildungswesens und dem Postulat der Chancengleichheit. Eine dritte Diskrepanz zu den dominanten Beschreibungen in vorliegenden Forschungsarbeiten bezieht sich auf die unterschätzte Kreativität der handelnden Subjekte im Hinblick auf die Verknüpfung der unterschiedlichen Lebenswelten. Dies wird in Anna Schusters Biographie beim Übergang ins Studium erkennbar. Mit dem Nebeneinander von Studium/Hochschule und Familie/Gemeinde und mit ihrem Entwurf des ‚Pendelns zwischen den Welten‘ reproduziert sie zwar ein in der mennonitischen Gemeinschaft tradiertes Muster der Trennung zwischen ‚Innen‘ und ‚Außen‘. Jedoch bedeuten die Verbundenheit mit der Gemeinde und der ‚geschützte‘ Studienbeginn zu zweit gerade keine Hindernisse in ihrem Bildungsprozess. Vielmehr wird die Sicherheit, die durch das ‚Vertraute‘ hergestellt wird, als eine Rahmenbedingung konstruiert, die das Erschließen und Sich-Einlassen auf die Welt der Universität und des Studiums zuallererst ermöglicht. Dadurch kann Anna Schuster nach und nach Individualisierungs- und Autonomiespielräume erschließen, die das Studium eröffnet. Ihr ‚Brückenschlag‘ zwischen Gemeindeeinbindung und Studium lässt sich somit als eine Strategie verstehen, in der tradierte Handlungs- und Deutungsmuster für eine individuelle Modernisierung genutzt werden. Dies macht deutlich, dass die Subjekte nicht passiv im „tiefen Zwiespalt“ (Schäfer 2010: 58) zwischen den unterschiedli-
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chen Lebenswelten verharren, sondern es gelingen kann, diese biographisch miteinander zu verbinden. Anna Schuster positioniert sich im Interview als aktives Gemeindemitglied und hier sozial zugehörig; eine Distanzierung deutet sich allenfalls in einer Passage an, in der sie die Bedeutung der Gemeinde in der Vergangenheitsform beschreibt (vgl. Kap. 9.3.2). Allerdings erfordert der bevorstehende Beginn des Referendariats einen Wohnortwechsel, der den Auszug aus dem Elternhaus notwendig macht. Dies könnte veränderte soziale Einbindungen notwendig und möglich machen, die zu einer Erweiterung des Handlungs- und Erfahrungsspektrums der Biographin beitragen könnten.39 Ob Anna Schuster die größere geographische Distanz zur Gemeinde allerdings als biographischen Gestaltungsspielraum oder in erster Linie als Risiko bzw. Verlust von Sicherheiten erlebt, hängt allerdings auch von den je konkreten Rahmenbedingungen ihres Referendariats ab. Hier wird sich auch erweisen müssen, inwiefern sich die Strategie der Verbindung zwischen den verschiedenen Lebenswelten fortsetzen lässt.
9.4 D IFFERENZKONSTRUKTIONEN UND (S ELBST -) P OSITIONIERUNGEN IM K ONTEXT DES L EHRAMTSSTUDIUMS Im ersten Teil der Falldarstellung wurde herausgearbeitet, dass Differenzerfahrungen konstitutiv für Anna Schusters Biographie sind. Die Erfahrung einer kategorialen Differenz beginnt – bedingt durch den natio-kulturellen Minderheitenstatus – bereits im Herkunftskontext und setzt sich nach der Aussiedlung in gesteigertem Maße fort. Während die Aussiedlung von der Elterngeneration als Möglichkeit einer Beheimatung antizipiert wird – eine Hoffnung, die nicht zuletzt durch die deutsche Einwanderungspolitik befördert wurde – ist der Kontext ‚Deutschland‘ für Anna Schuster in erster Linie mit Differenz- und Ausgrenzungserfahrungen verknüpft. Diese werden vor allem im schulischen Kontext wirksam – in Form institutioneller Diskriminierung ebenso wie in Form von Abwertung und Ausgrenzung aufgrund ihrer Familiensprache und der nach außen sichtbaren Zeichen ihrer religiösen Zugehörigkeit. Es sind diese Erfahrungen, die es für Anna Schuster nahezu unmöglich machen, sich anders denn als ‚Andere‘ zu erfahren. Wie in Kapitel 9.3.3 gezeigt wurde, konstruiert sie Biographin die Hochschule im Gegensatz dazu als einen Raum, in dem kategoriale Zuschreibungen eine untergeordnete Rolle spielen und Abwertungen aufgrund ethno-religiöser Zugehörigkeiten unterbleiben. Inwiefern Differenzierungspraktiken und Differenzkonstruktionen in Anna Schusters Studienerfahrungen zum Ausdruck kommen und wie sie angeeignet werden, soll im Folgenden näher betrachtet werden. Ebenso wird der Frage nachgegangen, inwiefern das Lehramtstudium für Anna Schuster in biographischer Perspek-
39 Die Biographin selbst bedauert insbesondere die mit dem Umzug verbundene Distanz zum Institut für Textilwissenschaft in A-Stadt, dem bevorstehenden Auszug blickt sie hingegen gelassen entgegen. Dagegen deutet sie an, dass ihre Mutter den Auszug als belastend erlebt.
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tive auch Spielräume für veränderte Selbstpositionierungen und (natio-ethnokulturelle) Zugehörigkeitskonstruktionen eröffnet. 9.4.1 „Du bist unser Sprachrohr“ – Affirmation von Differenz Bereits in der Haupterzählung beschreibt Anna Schuster die Hochschule als einen Raum, der dadurch positive Zugehörigkeitserfahrungen ermöglicht, dass Ausgrenzungen aufgrund von Sprache, Herkunft oder ‚Aussehen‘ unterbleiben. Im weiteren Verlauf des Interviews zeigt sich jedoch, dass dies nicht bedeutet, dass Differenzierungen im Hinblick auf natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeiten im Hochschulkontext keine Bedeutung haben. Dies zeigt sich in der folgenden Sequenz, in der Anna Schuster ihre Zugehörigkeitserfahrungen im Kontext der Universität thematisiert. Die Sequenz steht im Kontext einer Passage, in der sie auf die Bitte um die Erzählung einer Situation eingeht, die für sie mit Erfahrungen von ‚Andersheit‘ im Kontext der Migration verknüpft ist: A: ähm da wars auch eben gerade in der Schule so, nicht, dass man wirklich auch als Russin abgestempelt wurde. So dies Gefühl in Russland warst du Deutsche in Deutschland bist du Russe - also man ist halt irgendwie nirgendwo - zugehörig, zuhause. Es ist halt so. Ne, ich meine ganz oft. Es=es bleibt auch jetzt so wenn - ganz viele Leute sagen halt einfach ja Aussiedler Russe, es ist halt einfach - ihr seid halt Russen fertig aus, nicht, so (atmet tief ein und wieder aus) das ist halt so. Und das=das war halt dieses Gefühl hatte ich eben an der Uni nicht. I: mhm A: also das ist eben im Ort, in der Schule eben doch ganz anders wie an der Uni. Das war eben das was eben auch positiv eben war, nicht, dieses Gefühl dass man endlich angenommen wurde, nicht?, so dass man - diese Andersartigkeit eben okay war. I: mhm A: und ähm - auch gefördert wurde ja, dass=dass=dass äh Erlebnisse, Erfahrungen dass Dozentinnen danach gefragt haben ne, also wie war das bei euch I: mhm A: ähm wie war an in der Schule was habt ihr da gemacht oder so. (28/12-30)
Die Universität wird hier in einer argumentativen Form von der Schule und dem Wohnort abgegrenzt und als qualitativ anderer Zugehörigkeitskontext entworfen. Hat Anna Schuster in der Schule die Erfahrung gemacht, „sofort als Russin abgestempelt“ zu werden, erlebt sie im Studium, dass „diese Andersartigkeit“ akzeptiert und sogar „gefördert“ wird. Dies belegt sie mit dem Verweis darauf, dass Studierende von Lehrenden dazu aufgefordert wurden, etwas über ihre (Schul-)Erfahrungen zu berichten. Die verallgemeinernde Formulierung „Dozentinnen [haben] danach gefragt“ lässt darauf schließen, dass es sich hier nicht um ein einmaliges Erlebnis handelt, sondern um eine wiederholte Erfahrung in der Lehrenden-StudierendenInteraktion. Da Anna Schuster weder etwas über den Kontext berichtet, in dem die Frage formuliert wird, noch über die Adressat*innen, sind hier unterschiedliche Lesarten möglich. Die Frage richtet sich an ein Kollektiv („wie war das bei euch“), was vermuten lässt, dass es sich nicht um eine persönliche Ansprache in einem Sprechstundensetting handelt. Anna Schusters Darstellung könnte sich auf eine Situation in ei-
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nem Seminarkontext beziehen, in dem es um die Reflexion eigener Schulerfahrungen geht. Die Lehrenden gehen davon aus, dass die Studierenden heterogene („andersartig[e]“) Schulerfahrungen mitbringen und fordern sie dazu auf, darüber zu berichten. Die Adressat*innen der Frage könnten folglich alle Seminarteilnehmer*innen sein. Der argumentative Kontext von Anna Schusters Ausführungen – die Frage nach Differenzerfahrungen – sowie der Ausdruck „Andersartigkeit“ könnten allerdings auch darauf hinweisen, dass die Ansprache sich nur an bestimmte Studierende richtet, nämlich jene, die als abweichend („andersartig“) wahrgenommen werden und von denen die Lehrenden annehmen, dass sie über differente Schulerfahrungen verfügen. Unabhängig von der Frage nach dem genauen Kontext und der Adressat*innengruppe wird hier eine Praxis beschrieben, in der heterogene schulische Erfahrungshintergründe von Studierenden von Lehrenden ins Zentrum gerückt werden; eine Praxis, die Anna Schuster als Ausdruck einer anerkennenden wertschätzenden Haltung gegenüber ‚Andersheit‘ bewertet. Dies wird vor dem Hintergrund von Anna Schusters Schulerfahrungen nachvollziehbar. Die beschriebene Praxis markiert nämlich einen Kontrast zu ihren Erfahrungen im deutschen Schulsystem: Diese zeichneten sich durch einen „differenzunempfindlichen“ (Plößer/Mecheril 2009: 196) Zugang aus; d.h. dadurch, dass differente Sozialisations- und Bildungserfahrungen gerade wenig Beachtung fanden, sondern – soweit sich dies aus Anna Schusters Erzählung rekonstruieren lässt – institutionell weitgehend ignoriert wurden. Charakteristisch für den Umgang der Schule mit den Bildungsbiographien russlanddeutscher Seiteneinsteiger*innen ist eine Blindheit gegenüber der Unterschiedlichkeit schulischer Vorerfahrungen. Die Norm, an der die Schule sich orientiert, ist die schulische ‚Normalbiographie‘ eines einsprachigen, in Deutschland sozialisierten Kindes. Dies hat für Schüler*innen, die von dieser Norm abweichen, schlechtere Bildungschancen zur Folge und bedeutet zudem eine Entwertung ihrer sprachlichen Ressourcen und schulkulturellen Vorerfahrungen. Im Unterschied dazu wird die Existenz unterschiedlicher biographischer Vorerfahrungen im Kontext des Lehramtstudiums wahrgenommen und zu einem Gegenstand der Reflexion gemacht. Zudem wird differenten schulischen Vorerfahrungen im Kontext des Lehramtstudiums offenbar ein wohlwollendes Interesse entgegen gebracht. Die skizzierte Umgangsweise mit Heterogenität könnte man als eine affirmative Praxis der Sichtbarmachung und Anerkennung differenter Vorerfahrungen bezeichnen (vgl. Plößer/Mecheril 2009). Im Studium erlebt Anna Schuster also einen anderen Umgang mit Differenz, der für sie in der Erfahrung mündet, dass „Andersartigkeit“ in der Universität keinen Nachteil bedeutet und nicht mit Stigmatisierungen verbunden ist, sondern legitim („okay“) ist. Auffällig ist, dass Anna Schuster an keiner Stelle von Verschiedenheit oder Heterogenität spricht, sondern (wiederholt) den Begriff „Andersartigkeit“ verwendet. In dem Ausdruck deutet sich eine naturalistische Konstruktion von Differenz an: diese wird nicht als eine relationale Kategorie, sondern als ein essentielles Merkmal konstruiert. Der Begriff impliziert die Vorstellung einer fundamentalen und statischen Form von Verschiedenheit und ein essentialistisches Verständnis von sozialen Zugehörigkeiten. Differenz scheint von Anna Schuster als etwas Substanzielles gedeutet zu werden, das nicht situations- oder kontextabhängig ist. Die Verwendung dieses Begriffs deutet auf einen spezifischen Deutungsrahmen hin, in dem Anna Schuster Erfahrungen mit Differenz und Zugehörigkeit ordnet.
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Denkbar ist, dass dabei kollektive Erfahrungs- und Deutungsressourcen zum Tragen kommen, die aus der Geschichte der russlanddeutschen Mennonit*innen als ethnisch und religiös ‚Andere‘ resultieren. Die in mehreren Generationen wiederkehrende Erfahrung, als kategorial ‚Andere‘ gesehen und diskriminiert zu werden und die Kultivierung der ethnisch-religiösen ‚Andersheit‘ legen ein solches Ordnungsmuster vermutlich nahe. Die Tatsache, dass Anna Schuster diesen Begriff noch in der Interviewsituation verwendet, weist darauf hin, dass die Vorstellung einer substanziellen „Andersartigkeit“ auch im Rahmen der Studienzeit als Muster der Erfahrungsordnung wirksam geblieben und nicht prinzipiell irritiert oder durchbrochen worden ist. Auch im Kontext erster Erfahrungen in ihrem künftigem Berufsfeld werden migrationsbezogene ‚Differenzen‘ relevant gemacht. Anna Schuster berichtet von folgenden Erfahrungen, die sie während eines Praktikums in einer Grundschule gemacht hat: A: Ich weiß zum Beispiel im Praktikum so, da hatte die ähm - Rektorin, mich aufgenommen da sagte sie: Sie sind unser Sprachrohr durch Sie können wir mit den Eltern sprechen. Und ich so hä, was ist das denn hier? WOW! Also dass=dass diese Andersartigkeit eben - wieder an der Schule, aber diesmal auf der anderen Seite, nicht, also nicht als Schüler I: mhm A: Auch im Kollegium, dass die gesagt haben erklär mir das doch bitte, nicht, also ich hab die und die Eltern, nicht, wieso ist das so und das war gut, nicht, das=das war gefragt und jemand wollte Bescheid wissen und=und man konnte jemandem helfen dadurch dass du anders bist. I: mhm (1) A: und das - war aber alles eben /(lachend) im Studium/ I: ja, ja A: also wirklich - diese Erfahrung zu machen dass jemand auch zum Beispiel bei Schülern die - wenig Deutsch verstehen also dass man also auch mit dem Wenigen an Russisch weiterkam, nicht so I: mhm A: also so für richtige Gespräche an der Schule reicht es bei mir auch aber äh - ich praktizier es einfach nicht, das ist so also. (28/30-29/14)
Die Erzählerin liefert hier verschiedene weitere Belege, die die positive Bilanzierung ihrer Studienerfahrungen sowie ihr biographisches Deutungsschema der Kontrastierung von Schul- und Studienerfahrungen plausibilisieren. Sie folgt dabei einer argumentativen Struktur, in der verschiedene Erlebnisse kurz angerissen, aber nicht narrativ ausgestaltet werden. Gegenstand ihrer Darstellung sind Erfahrungen, die sie im Rahmen des Praktikums in Interaktionen mit Kolleg*innen und Vorgesetzten macht. Den Erfahrungen ist gemeinsam, dass Anna Schuster von anderen als Person adressiert wird, die über ein Vermögen und ein Erfahrungswissen verfügt, das sie von anderen unterscheidet, und das im jeweiligen Handlungskontext als wertvoll oder hilfreich angesehen wird. Ihr werden von der Rektorin gleich beim Empfang bestimmte Zuschreibungen und Erwartungen entgegengebracht. Diese basieren auf der Annahme, dass Anna Schuster aufgrund muttersprachlicher Kenntnisse (der russischen Sprache) in besonderer Weise dazu befähigt sei, die Kommunikation zwischen Schule und Eltern zu er-
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leichtern.40 Es spiegeln sich hier somit Erwartungen wider, die als typisch für den Diskurs um Lehrkräfte mit Migrationshintergrund gesehen werden können (vgl. Kapitel 4.1). Die Bezeichnung „Sprachrohr“ erscheint dabei zumindest unglücklich gewählt, denn sie gesteht Anna Schuster keine eigenständige Sprecherinnenposition zu, sondern weist ihr die Rolle eines ‚Kommunikationsmediums‘ zu. Dies lässt sich auch als eine Funktionalisierung von Anna Schusters Mehrsprachigkeit interpretieren. Zudem wird ihre Rolle auf die der Mittlerin zwischen Schule und Eltern von Schüler*innen mit Migrationshintergrund reduziert. Im Zentrum stehen nicht ihre fachlichen Qualifikationen und Stärken, sondern ihre (vermuteten) muttersprachlichen Kompetenzen. Dennoch wird diese ‚Anrufung‘ von Anna Schuster nicht als Zumutung bewertet und auch retrospektiv nicht kritisiert. Sie bringt lediglich ihre damalige Verblüffung über die unerwartete Adressierung zum Ausdruck. Die Episode wird vielmehr als Beispiel für ihre positiven Erfahrungen im Hinblick auf den anerkennenden Umgang mit „Andersartigkeit“ im Studium präsentiert. Auch an dieser Stelle werden biographische Verknüpfungen mit den eigenen Schulerfahrungen erkennbar, auf die sie an dieser Stelle kurz referiert („wieder an der Schule, aber diesmal auf der anderen Seite“). Die (Fremd-)Positionierung als sprachliche und kulturelle Mittlerin im Rahmen des Schulpraktikums steht nämlich in deutlichem Gegensatz zu ihrer Erfahrung als Schülerin, die sich ja gerade durch die Erfahrung der Entwertung ihrer Sprachen und des Verlusts wirksamer Artikulationsmöglichkeiten auszeichnet. Als Lehramtsstudentin wird Anna Schuster eine sprachliche Kompetenz attestiert, über die die Schule ohne sie offenbar sonst nicht verfügen würde. Anna Schusters linguale Disponiertheit erfährt somit eine Anerkennung und Aufwertung; sie wird zu einer Ressource – und das im gleichen Handlungskontext, in dem ihre sprachliche Disponiertheit zu Anna Schusters Schulzeit einen Anlass für Abwertung und Ausgrenzung darstellten. Die Adressierung als „Sprachrohr“ wird vor diesem Hintergrund nicht als etikettierende Zuschreibung, sondern als eine ermächtigende Erfahrung und Anerkennung der eigenen (Mehr-) Sprachigkeit angeeignet.41 Einer ähnlichen Logik folgt auch die anschließend erwähnte Erfahrung: Anna Schuster wird von Kolleg*innen als Expertin angesprochen, die über ein bestimmtes
40 Gemeint sind dabei vermutlich spezifische Eltern, mit denen die Kommunikation bislang als problematisch wahrgenommen wird. Die Bezeichnung „Sprachrohr“ legt nahe, dass es sich um Eltern handelt, die über ähnliche linguale Voraussetzungen verfügen wie Anna Schuster. Dabei ist zu vermuten, dass die Rektorin nicht Anna Schusters Familiensprache ‚Plautdietsch‘, sondern ihre (vermuteten) Sprachkompetenzen im Russischen im Blick hat. Darauf deutet auch die Tatsache hin, dass sie selbst ihre Russischkenntnisse thematisiert, die sie in der Kommunikation mit Schüler*innen nutzen kann. 41 Wie weit diese Handlungsmacht jedoch tatsächlich reicht, ist ungewiss. Es stellt sich z.B. die Frage, was passiert, wenn Anna Schuster die Übersetzungsarbeit nicht den Erwartungen der Schule entsprechend erfüllt, sondern womöglich andere Botschaften vermittelt als die institutionell vorgesehenen. Auch bleibt ungewiss, welche Handlungsspielräume und Positionszuweisungen denkbar sind, wenn Anna Schuster aus dem Status der Praktikantin heraustritt und eine statusgleiche Position im Kollegium.
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Wissen verfügt, das eine Erklärung für Probleme zur Verfügung stellen kann, die die Lehrer*innen im Umgang mit (bestimmten) Eltern erleben. Auf welche Eltern sich diese Erwartung genau bezieht, wird zwar nicht explizit gesagt. Zu vermuten ist jedoch, dass es sich dabei um ‚migrantische Eltern‘ handelt, möglicherweise aus dem russischsprachigen Kontext. Es wird erwartet, dass Anna Schuster zu bestimmten Fragen Auskunft geben kann und Phänomene in der Kommunikation, die ihren Kolleg*innen nicht verständlich sind, aufklären kann. Wieder zeichnet sich ab, dass die Biographin als ‚Übersetzerin‘ zwischen Schule und ‚Migranteneltern‘ angesprochen wird; in diesem Fall geht es dabei nicht um Sprachkenntnisse, sondern um ein unterstelltes (möglicherweise ‚kulturspezifisches‘) Wissen, das sie dafür qualifiziert, den Kolleg*innen an der Schule in ihrer Verständigung mit Eltern zu „helfen“. Anna Schuster wird damit ein privilegiertes Wissen zugeschrieben, das die Kolleg*innen nicht haben, auf das sie aber angewiesen sind. Zugleich wird sie dadurch als ‚Andere‘ etikettiert und bestätigt. Die Biographin selbst deutet auch dieses Erlebnis allerdings als eine positive Erfahrung des Gebraucht-Werdens und der Anerkennung ihres Wissens als ‚Andere‘. In ihrer Bilanzierung „du kannst jemandem helfen dadurch dass du anders bist“ erscheint das ‚Anderssein‘ dabei erneut wie eine unabänderliche Eigenschaft ihrer Person. Festzuhalten bleibt somit, dass die Konstruktion von Differenz auch im Kontext des Studiums nicht etwa außer Kraft gesetzt ist. Anna Schuster macht lediglich Erfahrungen mit einem anderen Modus der Differenzierung. Sowohl im Studium als auch im künftigen beruflichen Praxiskontext erlebt sie einen affirmativen Umgang mit Verschiedenheit. Die Anrufungen, die sie im Praktikum erlebt, können als differenzbetonend gedeutet werden: Anna Schusters Mehrsprachigkeit und ihr (migrationsbezogenes) Erfahrungswissen werden zur Ressource im Umgang mit der heterogenen Elternschaft gemacht. Zugleich wird damit aber die binäre Differenzordnung zwischen ‚uns‘ und ‚Anderen‘ reproduziert. Die Biographin wird als fraglos ‚Andere‘ adressiert – und sie entspricht dieser Erwartung. Im Gegensatz zu Nuray Coskun, die die Ansprache als ‚Migrationsandere‘ (auch) als Zumutung erlebt, erzeugt diese bei Anna Schuster andere Resonanzen. Gerade vor dem Hintergrund ihrer Schulerfahrungen bedeutet die Aufmerksamkeit für und die Aufwertung von ‚differenten‘ Erfahrungs- und Handlungsressourcen eine Quelle der Anerkennung. Die Ansprache als ‚Andere‘ wird daher affirmativ angeeignet. Die Identifikation als ‚Andere‘ bedeutet im Handlungsfeld der Schule zudem ein symbolisches Kapital, durch das Anna Schuster sich als wirksam erfährt. Dass damit auch eine Fixierung auf diese Position und eine Reduzierung auf (unterstellte) biographisch erworbene Kompetenzen anstatt fachlicher Qualifikationen verbunden ist, spielt dabei keine Rolle. Die Anrufung als ‚Andere‘ wird vermutlich auch deshalb affirmativ angeeignet, weil sie an ein Deutungsmuster von kategorialer Differenz anschließt, mit dem Anna Schuster biographisch vertraut ist. Dieses Differenzverständnis und die essentialistische Selbstbeschreibung der Biographin als ‚Andere‘ werden durch die Ansprachen bestätigt und zementiert. Die Anerkennungserfahrungen im Kontext des Studiums ermöglichen Anna Schuster somit zwar die Erfahrung einer veränderten Bewertung von ‚Andersheit‘, aber sie bestätigen zugleich das eigene (kategoriale) ‚Anderssein‘ und das binäre Differenzierungsschema zwischen ‚uns‘ und ‚anderen‘.
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9.4.2 Studentische Diversität als Ressource für Empowerment? In der Analyse von Anna Schusters biographischer Haupterzählung wurde bereits aufgezeigt, dass die Erzählerin die Universität als einen Raum konstruiert, der sich nicht nur durch einen affirmativen Umgang mit Heterogenität, sondern auch durch eine größere Vielfalt herkunftsbezogener Hintergründe und Lebensformen der Lernenden im Vergleich zur Schulklasse auszeichnet („es war alles vertreten“). Diese Rahmenbedingung trägt wesentlich dazu bei, dass Anna Schuster ihre Studienzeit so positiv bilanzieren kann. Die (wahrgenommene) größere Heterogenität an der Universität impliziert theoretisch betrachtet das Potenzial, zu einer Normalisierung und Entdramatisierung von Differenz beizutragen und die scheinbar so eindeutigen Grenzziehungen zwischen ‚Normalität‘ und ‚Andersheit‘ zu destabilisieren. In einem Bildungskontext, in dem die Heterogenität der Studierenden zur Normalität wird, könnten sich auch Spielräume für veränderte (Selbst-)Positionierungen ergeben. Allerdings deuten Anna Schusters Äußerungen im Interview, wie im vorigen Kapitel bereits gezeigt wurde, eher darauf hin, dass ihre (Selbst-)Positionierung als (kategorial) ‚Andere‘ auch im Kontext des Studiums nicht grundlegend irritiert wird. Dies bestätigt sich auch in der folgenden Aussage über die Implikationen der größeren ‚Vielfalt‘ an der Universität: A: ich glaube das Umfeld, dadurch dass es ganz viele verschiedene Leute gab, nicht?, so dadurch war es einfach nicht mehr so schlimm. Dass man anders war. (29/25-27)
Die größere Heterogenität der Mitstudierenden bedeutet für Anna Schuster nicht, dass die Unterscheidung zwischen ‚Norm‘ und ‚Andersheit‘ ihre Relevanz verliert, sondern sie impliziert lediglich die Ablösung des Andersseins von seiner negativen Bedeutung. Die Biographin erfährt sich auch im Studium weiterhin als ‚Andere‘, nur ist dies „einfach nicht mehr so schlimm“. Allerdings eröffnet die größere Vielfalt der Studierenden an der Universität einen Spielraum für die Etablierung neuer Gemeinschaften und das Experimentieren mit natio-ethno-kulturellen Zugehörigkeiten und Positionierungen: A: Ähm - mit Kommilitonen - weiß ich nicht also ich hab auch - was natürlich auch wieder ist, man hat auch einfacher Freundschaften auch mit, weißt du mit Türkinnen mit Polinnen ganz schnell - in Textil gabs halt viele I: ja A: Mädels die halt auch nicht deutsch waren I: mhm A: ähm auch dazu standen, halt auch gesagt haben ich bin Türkin und ich bin ähm Polin ich steh dazu, ich geh zurück oder irgendwie, es war schon - man ist da ganz bewusst irgendwie man hat einen Standpunkt festgemacht, wo ich vorher, neineinein ich bin nicht Russin oder so, nicht, und dann die gesagt haben ich bin so und ich steh dazu und - und ja, das hat mich fasziniert und ähm - da hab ich natürlich auch Freunde gehabt die=die irgendwie hat man dann so weiß ich nicht das Gefühl, die ist auch irgendwie anders, nicht?, weil das ist - man hat dann schneller Kontakt mit ihnen bekommen. (1) Das heißt also ich hab auch einheimische Freunde so ist es nicht, aber irgendwie merkt man, hat man eine Sensibilität für andere dann auch entwickelt. (29/29-30/7)
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Anna Schuster nimmt die natio-ethno-kulturelle Heterogenität ihrer Kommiliton*innen insbesondere im Fach Textilgestaltung als besonders ausgeprägt wahr. Sie ordnet die Studierenden unterschiedlichen Nationalitäten zu, ihre Gemeinsamkeit liegt für sie jedoch darin, dass sie sie als „halt auch nicht deutsch“ bzw. „auch irgendwie anders“ wahrnimmt. Dies führt dazu, dass es leichter ist, mit diesen Kommiliton*innen in „Kontakt“ zu treten und Freundschaften zu schließen. Die größere natio-ethno-kulturelle Heterogenität schafft also Gelegenheiten, Kontakte zu Mitstudierenden zu knüpfen, die ebenfalls als „anders“ angesehen werden. Dies wird von Anna Schuster dabei nicht als defensive Rückzugsstrategie präsentiert, sondern als ein Möglichkeitsraum, in dem sie andere Formen der Selbstpositionierung kennen lernt: Die Studentinnen, mit denen sie sich anfreundet, beziehen einen „Standpunkt“. Sie positionieren sich „ganz bewusst“ als (national) ‚Andere‘ und „stehe[n] dazu“. Diese Form der Selbstethnisierung erscheint zunächst einmal nationale Grenzziehungen sowie einheitliche Gruppenidentitäten zu reproduzieren und die Subjekte auf eindeutige Positionen festzulegen. Dennoch zeigt sich Anna Schuster von dem „Standpunkt“ ihrer Kommiliton*innen „fasziniert“. Diese Faszination kann vielleicht so gedeutet werden, dass die Positionierung als ‚Andere‘ hier durch die Subjekte selbst erfolgt und mit Selbstbewusstsein vertreten wird. Anders als in Anna Schusters Erfahrung, „als Russin abgestempelt“ und stigmatisiert zu werden, positionieren die Studentinnen sich hier selbst und werden nicht durch heteronome Etikettierungen zu ‚Anderen‘ gemacht. Zwar werden ethnisierende Zuschreibungen an sich von den Studentinnen nicht hinterfragt, aber sie bestimmen selbst, was es bedeutet, „Polin“ oder „Türkin“ zu ‚sein‘. Dies kann auch als eine Form des ‚Empowerment‘ interpretiert werden, die den Akteurinnen eine – wenn auch begrenzte – Selbstbestimmungs- und Handlungsmacht verleiht. Diese findet ihren Ausdruck beispielsweise in der antizipierten Option einer ‚Rückkehr‘ in das Herkunftsland der Eltern oder Großeltern („ich geh zurück“) – eine Möglichkeit, von der eine zunehmende Zahl von Akademiker*innen mit familialer Migrationsgeschichte seit einigen Jahren nachweislich Gebrauch macht. Für Anna Schuster selbst dürfte es allerdings denkbar schwer sein, sich in so eindeutiger Weise entlang nationaler Zugehörigkeitskategorien zu positionieren oder gar Perspektiven für eine mögliche ‚Rückkehr‘ zu entwerfen. Ihre Biographie zeichnet sich ja gerade durch die Erfahrung der Unmöglichkeit einer eindeutigen Verortung in einem nationalen Kontext aus. Gleichwohl wird durch die Gemeinschaft mit Studentinnen, die sich selbst als ‚Andere‘ definieren, offenbar ein Raum etabliert, in dem eine neue Form der Auseinandersetzung mit natio-ethno-kulturellen Identitäten und eine selbstbewusste Positionierung in der migrationsgesellschaftlichen Ordnung möglich wird. Anna Schuster kann sich die Positionierung als ‚Andere‘ dadurch in einer veränderter Weise zu eigen machen.
42 Dieses Phänomen ist in verschiedenen Studien insbesondere für die ‚Re-Migration‘ akademisch ausgebildeter junger Erwachsener in die Türkei untersucht und belegt worden (vgl. Sezer/Da÷lar 2009; Sievers/Giese/Schulte 2010).
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9.4.3 Fazit: Affirmation von ‚Differenz‘ als Ermächtigungserfahrung Die Studienerfahrungen sind für Anna Schuster mit der subjektiven Erfahrung einer ‚Ermächtigung‘ verbunden und bilden dadurch einen Kontrast zu ihren in der Schulzeit dominanten Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausschluss. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung, die sowohl die persönliche Erfahrungsgeschichte der Biographin kennzeichnen als auch die kollektive Erfahrungsgeschichte der Familie, schreiben sich im Studium nicht fort. ‚Andersheit‘ erlangt vielmehr die Bedeutung einer biographischen Ressource, die es Anna Schuster ermöglicht, sich als handlungsmächtiges Subjekt zu konstruieren. ‚Andersheit‘ als Kategorie der Selbstbeschreibung bleibt in Anna Schusters Biographie zwar auch im Studium relevant, sie verändert aber ihre subjektive Bedeutung. Differenzierungspraktiken und Zuschreibungen sind auch im Kontext der Hochschule nicht außer Kraft gesetzt. Allerdings tragen die größere Pluralität der Studierenden und die Erfahrungen mit einem heterogenitätsfreundlichen Umgang auf Seiten der Lehrenden dazu bei, dass Anna Schuster im Lehramtsstudium eine veränderte Bewertung von ‚Andersheit‘ kennenlernt. Differente Erfahrungshintergründe werden im Lehramtsstudium nicht abgewertet, sondern erfahren eher eine positive Aufmerksamkeit. Auch im Kontext ihres Praktikums erlebt Anna Schuster einen differenzbetonenden und -bestätigenden Umgang mit sprachlicher und kultureller Heterogenität und fühlt sich mit ihren sprachlichen Kompetenzen und ihrem Erfahrungswissen wahrgenommen und anerkannt. Die Festschreibungen auf die Position der ‚Anderen‘ und die Ausschließungen, die mit den beschriebenen Praxen ebenfalls verbunden sind, werden von Anna Schuster dagegen nicht zum Thema gemacht. Die Biographin eignet sich die ‚positiven‘ Differenzzuschreibungen, denen sie im Studium begegnet, affirmativ an und identifiziert sich scheinbar ungebrochen mit der Position als ‚Andere‘. Dies steht vermutlich auch damit in Zusammenhang, dass die Abgrenzung zwischen Gruppen und die essentialistische Konstruktion von Differenz ein Ordnungsmuster darstellt, das ihr biographisch vertraut ist. Die Praxis eines wertschätzenden Umgangs mit Differenz, die Anna Schuster als kennzeichnend für ihr Studium beschreibt, lässt sich auch als Erfahrung mit einer Praxis des anerkennenden Umgangs mit Differenz interpretieren. Diese steht im Gegensatz zu dem „differenzunempfindlichen Egalitarismus“ (Mecheril 2005: 325), der charakteristisch für ihre Schulerfahrungen ist. Während dieser Ansatz für die Praxis einer Gleichbehandlung von ‚Ungleichen‘ steht und dadurch eine Assimilation der Individuen an die gesetzte ‚Norm‘ erzwingt, zielen pädagogische Anerkennungsansätze darauf ab, Möglichkeiten zu schaffen, „in denen Einzelne ihren basalen Handlungsdispositionen […] entsprechende Bedingungen der Möglichkeit zum Handeln vorfinden“ (ebd.: 321). Sie sollen als handlungsfähige Subjekte anerkannt werden und „sich selbst als Subjekte identifizieren und achten“ können (ebd.: 322). Diese Ansätze sind allerdings insofern als ambivalent einzuschätzen, als sie faktisch oftmals in einer „Anerkennung gegebener Differenzen und Identitäten“ münden (ebd.: 324, Hervorh. i. Orig.). In einem migrationsgesellschaftlichen Kontext, der durch Machtverhältnisse geprägt ist, impliziert die Anerkennung der ‚Anderen‘ dadurch zugleich auch die Gefahr einer Festschreibung auf die Position als ‚Andere‘. Die Anerkennung, die Anna Schuster im Kontext des Studiums entgegengebracht wird, ermöglicht ihr zwar die Erfahrung als handlungsfähiges Subjekt, aber sie legt sie zu-
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gleich auch in ihrem ‚So-Sein‘ als ‚Andere‘ fest und sorgt dafür, dass sie sich wiederum „als Andere und nur als Andere zur Geltung“ bringen“ kann (ebd.: 325). Eine grundlegende Infragestellung des binären Differenzierungsschemas, das ‚Andere‘ erst als ‚Andere‘ hervorbringt, wird indes nicht möglich. Zwischenüberlegung Anna Schusters Geschichte repräsentiert einen bildungsbiographischen Prozessverlauf, der sich in mehreren Hinsichten von den vorangegangenen Beispielen unterscheidet. Anders als in den Erzählungen von Nuray Coúkun und Dilan Karatay ist die Lebensgeschichte der Biographin zunächst in hohem Maße durch Bedingungskonstellationen und äußere Ereignisse bestimmt, auf die sie sich selbst nur wenig Einfluss zuspricht. Dies steht in Zusammenhang mit den Erfahrungen der Migration und den damit verbundenen Hürden, die Anna Schuster, anders als Nuray Coúkun und Dilan Karatay, selbst als Kind erlebt. Die Erfahrung eingeschränkter Handlungsmöglichkeiten resultiert sowohl aus den institutionellen Strukturen und Mechanismen, die Anna Schusters Schullaufbahn maßgeblich regulieren, als auch aus der Erfahrung intersubjektiver Missachtung und Ausgrenzung im schulischen Kontext. Ein Gegengewicht bildet demgegenüber die soziale Welt der Familie und der freikrichlichen Gemeinde, die als Räume konstruiert werden, die Wirksamkeits- und Anerkennungserfahrungen ermöglichen. Daneben stellt die schulische Leistungsorientierung der Biographin, die auch den Wertvorstellungen des streng protestantischen Milieus entspricht, eine – wenn auch nicht durchgehend wirksame – Ressource in ihrer Bildungsgeschichte dar. Anders als in Nuray Coúkuns Geschichte steht das pädagogische Studium in Anna Schusters Biographie nicht für eine mühelose biographische Fortsetzung, sondern markiert einen Übergang in ein unbekanntes Feld, der die Überbrückung einer soziokulturellen Distanz zwischen Universität und dem Herkunftsmilieu notwendig macht und zeitweise erhebliche Anstrengungen erfordert. Im Unterschied zu Dilan Karatay wird das Studium jedoch für Anna Schuster dennoch nicht zu einer Irritationserfahrung, sondern steht vielmehr für einen Wendepunkt, der – durch Anerkennungs- und Wirksamkeitserfahrungen – eine Veränderung in der biographischen Prozessstruktur herbeiführt, infolge derer die Biographin ein gesteigertes Vertrauen in die eigenen Handlungs- und Gestaltungsmöglichkeiten erlangt. Die zwischenzeitliche Krise aufgrund gesundheitlicher Einschränkungen markiert zwar eine erneute Zäsur in der Bildungsbiographie und weitere Leiderfahrungen. Durch die klare Orientierung an ihrem Bildungs- und Berufsziel gelingt es der Biographin aber, sich zu den daraus resultierenden Schwierigkeiten so ins Verhältnis zu setzen, dass das Verlaufskurvenpotenzial, das in dieser Konstellation angelegt ist, nicht übermächtig werden kann. Anders als in den beiden vorangegangen Analysen stellen Differenzerfahrungen und die Positionierung als ‚Andere‘ in Anna Schusters Geschichte ein von Beginn an dominantes Thema dar, was nicht zuletzt aus der generationenübergreifenden Erfahrung der Fremdheit und der Unterdrückung als Angehörige einer sprachlichreligiösen Minderheit resultiert, die – wenn auch in veränderter Form – auch nach der Aussiedlung der Familie virulent bleiben. Durch das Studium wird das Zugehörigkeitsverständnis der Biographin als kategorial ‚Andere‘ nicht prinzipiell infrage gestellt, aber es findet eine Verschiebung im Sinne einer Aufwertung des ‚Andersseins‘ statt. Dies wird einerseits durch Erfahrun-
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gen einer differenz-affirmierenden Ansprache möglich, die Anna Schuster im Kontext der Lehramtsausbildung erfährt, andererseits durch die Gemeinschaft mit anderen Studierenden, die sich selbstbewusst als natio-kulturell ‚Andere‘ positionieren.
10. Das pädagogische Studium als schicksalhafte Fügung – Fallrekonstruktion ,Alicja Pajak‘
Die Erzählung von Alicja Pajak wurde als vierter Fall für eine umfassende Analyse ausgewählt, weil er hinsichtlich des bildungsbiographischen Prozesses und der Verknüpfung von Studium und Biographie maximale Unterschiede zu den bisher vorgestellten Fällen aufweist. Die Biographin ist zum Zeitpunkt des Interviews in eine Verlaufskurvendynamik (vgl. Schütze 1983 b; 1999) verstrickt, die ihre (studien-) biographische Rekapitulation dominiert. Ein weiterer Kontrast bezieht sich auf die subjektive Relevanz von ‚Migration‘ als Kategorie für die biographische Selbstkonstruktion: Zwar hat die Migrationsgeschichte der Familie als Hintergrundstruktur eine Relevanz für den biographischen Prozessverlauf, aber ‚Migration‘ als Dimension für Zugehörigkeits- und Differenzerfahrungen hat in den Relevanzsetzungen der Erzählerin (zumal in der Studienerzählung) eine untergeordnete Bedeutung. Die Falldarstellung beginnt mit einer biographischen Kurzbeschreibung und einer Skizze des Interviewverlaufs, in die bereits Ergebnisse der Analyse einfließen (Kap. 10.1). Anschließend steht Alicja Pajaks Bildungsbiographie bis zum Studium im Zentrum, die in erster Linie auf Basis der sequenziellen Analyse der Haupterzählung präsentiert wird (Kap. 10.2). Im letzten Teilkapitel wird aufgezeigt, wie das Studium in die lebensgeschichtliche Konstruktion eingebettet ist und wie die Biographin sich in der Universität als sozialem und wissenschaftlichem Kontext positioniert.1
10.1 R AHMUNGEN
UND
VERLAUF
DES INTERVIEWS
10.1.1 Biographische Kurzbeschreibung Alicja Pajak wird 1985 in einer Großstadt in Polen geboren und verbringt hier ihre ersten vier Lebensjahre. Ihre Mutter ist in einem Vorort der Stadt aufgewachsen, ihr Vater kommt aus einem Dorf und ist ausgebildeter Landwirt, arbeitet jedoch als Lieferant in der Großstadt. Alicja Pajaks Mutter verfügt über eine Ausbildung als Kondi1
Anders als in den vorangegangen Falldarstellungen erlangt ‚Migration‘ als Dimension der Studienerfahrung in Alicja Pajaks studienbiographischer Konstruktion keine Bedeutung, so dass dieser Aspekt in dieser Falldarstellung als eigenständiger Gliederungspunkt wegfällt. Er wird aber im Fazit (Kap. 10.4) reflektiert.
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torin, arbeitet aber zumindest nicht durchgängig in ihrem erlernten Beruf, sondern lernt ihren Mann über ihre Arbeit in einem Tabakgeschäft kennen. Nach Alicja Pajaks Geburt werden im Abstand von zwei bzw. drei Jahren noch zwei weitere Mädchen geboren. Die wirtschaftliche Lage der Familie ist prekär und die Wohnverhältnisse beengt. Im Jahr 1989, nach der Geburt der dritten Tochter, migriert die Familie nach Deutschland2 und lässt sich in P-Stadt, einer Kleinstadt in Westdeutschland nieder, wo bereits eine Freundin der Mutter lebt. Alicja Pajaks Vater arbeitet als LKWFahrer für wechselnde Arbeitgeber, Phasen der Beschäftigung wechseln sich mit Phasen der Arbeitslosigkeit ab. Die Mutter der Biographin arbeitet zunächst als Reinigungskraft, nachdem ihr Berufsabschluss als Konditorin in Deutschland nicht anerkannt wird. Später ist sie viele Jahre lang als Taxifahrerin tätig. Mithilfe einer vom Arbeitsamt finanzierten Umschulungsmaßnahme kann sie eine Ausbildung zur Kosmetikerin machen. Zum Interviewzeitpunkt ist sie als Aushilfe in der Kosmetikbranche beschäftigt. Alicja Pajak besucht in P-Stadt zunächst den Kindergarten und wird mit sechs Jahren in der Grundschule im Ort eingeschult. Nachdem sie die zweite Grundschulklasse abgeschlossen hat, zieht die Familie in einen Nachbarort (M-Stadt) um, was mit einem Schulwechsel einhergeht. Nach Ende der vierten Klasse besucht Alicja Pajak die Realschule, die sie mit der zehnten Klasse abschließt. Anschließend wechselt sie in die elfte Klasse des Gymnasiums. Sie bricht die Schule jedoch ab und beginnt eine Dolmetscherausbildung an einem privaten Institut im nahe gelegenen A-Stadt, die sie nach wenigen Monaten aber wieder aufgibt. Neben einer Tätigkeit im Schichtdienst bewirbt sie sich in verschiedenen Ausbildungsberufen um Lehrstellen. Schließlich folgt sie dem Drängen ihrer Mutter, den Besuch der gymnasialen Oberstufe fortzusetzen, und bekommt einen Platz an einem anderen Gymnasium im Nachbarort. Während dieser Zeit zieht Alicja Pajak aus ihrem Elternhaus aus und gründet zusammen mit zwei Freundinnen aus der Realschulzeit eine Wohngemeinschaft. Nach dem Abitur plant die Biographin zunächst, ein Lehramtsstudium für Philosophie und Englisch aufzunehmen, was ihr Abiturdurchschnitt allerdings nicht zulässt. Sie bewirbt sich in A-Stadt für alternative Fächerkombinationen und erhält schließlich einen Studienplatz für Philosophie und Pädagogik. Zu Semesterbeginn zieht sie zusammen mit einer Schulfreundin nach A-Stadt. Neben dem Studium arbeitet sie als Putzkraft und in der Gastronomie. 2
Die genauen rechtlichen Rahmenbedingungen der Migration nach Deutschland lassen sich aus dem Interview zwar nicht rekonstruieren, aber verschiedene Hinweise deuten darauf hin, dass Alicja Pajak und ihre Familie nach Deutschland ausgesiedelt bzw. als Aussiedler*innen anerkannt worden sind. Dafür spricht u.a. die Möglichkeit zur Teilnahme an Deutschkursen. Es ist unwahrscheinlich, dass die Eltern als politisch Verfolgte einen Asylantrag gestellt haben, denn wäre das der Fall, so wäre zu erwarten, dass es im Interview weitere Hinweise auf politische Aktivitäten (etwa in der SolidarnoĞü) geben müsste. Dies ist nicht der Fall. Es ist auch nicht wahrscheinlich, dass die Familie zunächst eine Duldung erhalten hat, denn Alicja Pajak berichtet von regelmäßigen Reisen nach Polen in der Anfangszeit, die ohne gültigen Aufenthaltsstatus in Deutschland nicht möglich gewesen wären (vgl. Pallaske 2002: 75).
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Nach zwei Semestern entscheidet Alicja Pajak sich für einen Studiengangwechsel zum BA Erziehungswissenschaft mit der Studienrichtung Erwachsenenbildung. Zum Zeitpunkt des Interviews hat sie ihr fünftes Studiensemester absolviert, aber erst drei Veranstaltungen erfolgreich absolviert. Sie gerät zunehmend unter Druck, Studienleistungen vorweisen zu müssen, die eine Voraussetzung für den Erhalt von Studienunterstützung (BAföG) sind. Ob sie die notwendigen Voraussetzungen für den weiteren Verlauf des Studiums erfüllen kann, war zum Interviewzeitpunkt unsicher. 10.1.2 Kontaktaufnahme und Aushandlung des Interviewrahmens Der Kontakt zu Alicja Pajak kam über eine andere Interviewpartnerin zustande, die ihr von meinem Projekt erzählt hatte. Sie nahm zunächst per E-Mail Kontakt zu mir auf, dann telefonierten wir miteinander. Ich beschrieb ihr mein Forschungsinteresse und wir sprachen über ihre mögliche Mitwirkung in Form eines Interviews. Es kam zu keinem persönlichen Vorgespräch, da Alicja Pajak signalisierte, dass ihre Zeit aufgrund ihrer Arbeitszeiten eng begrenzt sei. In den Semesterferien sei sie zudem mit einer Fortbildung zur Medientrainerin beschäftigt. Sie willigte dennoch ein, sich für ein Interview mit mir zu treffen und gab mir verschiedene mögliche Termine zur Auswahl. Das Interview fand auf Wunsch meiner Interviewpartnerin in einer Wohnung in A-Stadt statt, die mir für Interviews zur Verfügung stand. Alicja Pajak erschien zum verabredeten Zeitpunkt. Wir führten zunächst ein wenig Small Talk und besprachen die formalen Dinge (Einverständniserklärung zum Interview). Nach etwa einer halben Stunde leitete ich zum Interview über. Der Aushandlungsprozess zwischen Forscherin und Interviewpartnerin zu Beginn des Interviews gestaltete sich zunächst als ein relativ zäher Prozess der Klärung wechselseitiger Erwartungen und des Ringens um die Gestaltung des Interviews. Auslöser dafür waren Zweifel auf meiner Seite, dass Alicja Pajak sich über die an sie gerichtete Erwartung einer eigenständigen Lebenserzählung hinreichend im Klaren war. Diese Zweifel kamen auf, nachdem sie die Erwartung geäußert hatte, dass sie mir meine Fragen beantworten werde. Ich betonte deshalb noch einmal meine Erwartung an die autonome Erzählung der Lebensgeschichte und wies darauf hin, dass der Verlauf des Interviews sich ganz an den Relevanzen meiner Interviewpartnerin orientieren solle. Alicja Pajak beharrte daraufhin jedoch darauf, eine klarere Vorgabe zu bekommen: A: du solltest mir wirklich Rand_äh=Rand_äh=son=son Rahmen geben (lacht) weil sonst können wir noch in zwei Wochen hier sitzen! Nee mal ganz ehrlich also wo soll ich anfangen, auf was soll ich eingehen so solche Sachen solltest du mir schon vielleicht son bisschen - (1/18-21)
Mit diesem Einwand wird einerseits indiziert, dass es viel zu erzählen gibt, andererseits wird die Erwartung an eine Lebensgeschichte, die einfach erzählt werden kann, problematisiert. Daraufhin kommt es zu folgendem Dialog: I: ähm, also die Idee dieser Methode ist ähm dass quasi diese=dieser Rahmen nicht gesetzt wird sondern
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A: ja damit wir selber entscheiden was wichtig ist ja, ja. Biographieforschung halt. (lacht) I: genau (lacht) A: Selber ne Ausarbeitung dies Semester da drüber I: ja? Ach ja ehrlich ja? A: (seufzt) ah ja ich hab noch nicht - mal n bisschen angefangen, ich komm halt einfach zu nichts ne. Ja, hm.
Ich weise die Forderung nach einem „Rahmen“ hier zunächst zurück, indem ich mich auf die Position der Expertin zurückziehe und thematische Offenheit als Prinzip der Methode des biographischen Interviews ausweise: Die Ablehnung weiterer Vorgaben wird damit auf einer methodologischen Ebene begründet, die – so die Erwartung – von meiner Interviewpartnerin akzeptiert werden müsste, da dies in den Wissensbereich und die Verantwortung der Forscherin fällt. Die Diskussion über konkretere Erzählvorgaben soll auf diese Weise schnell beendet werden. An dieser Stelle erfolgt jedoch eine zweite unerwartete Intervention der Interviewten, die sich als Expertin zu erkennen gibt, die sich im Rahmen ihres Studiums mit Biographieforschung beschäftigt hat („selber ne Ausarbeitung dies Semester da drüber“). Die hegemoniale Positionierung der Forscherin als (einzige) Expertin für biographische Interviews steht damit plötzlich infrage, zugleich steht damit auch die Unangreifbarkeit des methodischen Arguments auf dem Spiel. Allerdings wird die Expertise der Interviewten mit Biographieforschung gleich darauf wieder relativiert – Alicja Pajak fügt hinzu, mit der erwähnten Ausarbeitung über Biographieforschung „noch nicht - mal n bisschen angefangen“ zu haben. Mit der Erklärung, „zu nichts“ zu kommen, wird die noch nicht begonnene Hausarbeit in einen breiteren Zusammenhang gestellt. Dies kann einerseits als situationsbezogene Aussage über einen akuten Zeitmangel gelesen werden: Es gibt möglicherweise andere Aufgaben, die mit der Hausarbeit konkurrieren und aktuell einen zeitlichen Engpass erzeugen. Zugleich kann die Aussage auch als Hinweis auf ein allgemeineres Dilemma gelesen werden, nämlich die Erfahrung einer (nicht näher bestimmten) Diskrepanz zwischen wahrgenommenen Anforderungen von außen und den eigenen Möglichkeiten, diesen Anforderungen gerecht zu werden. Vor dem Hintergrund der Gesamtinterpretation des Interviews lässt sich die Äußerung als ein erster Hinweis auf die zum Interviewzeitpunkt dominanten Erfahrungen der studienbezogenen Überforderungen und die angespannte zeitliche Situation lesen, der die Biographin sich ausgesetzt sieht. Dies wird etwas später noch deutlicher: Alicja Pajak unterbricht im weiteren Verlauf meine Erläuterungen zum Ablauf des Interviews unvermittelt mit einem Hinweis auf den Zustand ihrer Haut; diese bilde sich stressbedingt „halt nicht neu wies so sein sollte“ (2/34). Vor einiger Zeit sei das ganze Gesicht davon betroffen gewesen, so dass sie sich beim Blick in den Spiegel selbst nicht erkannt habe. In dieser spontanen, körperbezogenen Aussage spiegelt sich einerseits Ungeduld über die als ausschweifend wahrgenommenen Erläuterungen der Forscherin wider. Im Gesamtzusammenhang des Interviews kann diese Äußerung jedoch auch Ankündigung eines ernsthaft beunruhigenden Gesamtzustandes gelesen werden, die über eine stressbedingte Hauterkrankung hinaus auch das Sinnbild des Sich-Fremdwerdens beinhaltet. Auch wenn diese Erfahrung von der Interviewten in die jüngere Vergangenheit verwiesen wird, so deutet sich an, dass sie damit noch nicht gänzlich abgeschlossen hat. Vielmehr
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scheint sich dieser beunruhigende Zustand bisweilen unerwartet in den Vordergrund zu drängen. Der Aushandlungsprozess zwischen Interviewerin und Interviewter setzt sich dahingehend fort, dass Alicja Pajak ihren Wunsch nach einem „Rahmen“, konkretisiert: A: ja okay aber jetzt zum Beispiel ähm - ähm - ich also - für mich - ich könnte dir zum Beispiel ganz allgemein erzählen so meinen meinen Lebenslauf quasi, aber ich könnte genauso gut halt auf ähm - ja so Sachen - ja wie=wie=we=wie persönliche Entwicklungen in Bezug auf Freunde und Beziehungen und sowas eingehen so, weißte, das ist für mich jetzt vielleicht jetzt wahrscheinlich eher die Frage. So - welche Richtung soll ich denn ansteuern, so nach dem Motto ne? Oder I: mhm - mhm - mhm - ja okay, also ich meine, was du weißt ist dass ich dich jetzt ja quasi angesprochen habe in deiner Rolle als Studentin - quasi (…) es geht mir auch um Erfahrungen an der Uni, aber - ich will die halt - also ich glaube eben es macht keinen Sinn jetzt Leute quasi nur nach ihren Erfahrungen an der Uni zu fragen weil mir dann sozusagen - das Große fehlt in das das eingeordnet ist A: ja ja der Rahmen warum es so ist ne? Warum die Erfahrung so ist, ja ja I: Genau. Genau. (1/32-2/7)
Alicja Pajak präsentiert sie sich hier als kompetentes biographisches Subjekt, das in der Lage ist, die eigene Lebensgeschichte in unterschiedlichen Darstellungsformaten zu präsentieren. Aus ihrer Sicht gibt es verschiedene Varianten einer Lebensgeschichte – die Darstellung des „Lebenslauf[s]“ einerseits und die Schilderung „persönliche[r] Entwicklungen in Bezug auf Freunde und Beziehungen und sowas“ andererseits. Ich versuche im Folgenden, Alicja Pajaks Wunsch nach Konkretisierung entgegenzukommen, ohne mit meiner Antwort zu starke Vorgaben zu verbinden. Ich erinnere daran, was ihr bereits aus dem telefonischen Vorgespräch bekannt ist: Sie wurde in ihrer „Rolle als Studentin“ angesprochen, Studienerfahrungen seien jedoch nur aus der jeweiligen Erfahrungsgeschichte heraus zu verstehen. Mit meiner Äußerung werden so am Ende doch noch einige Markierungen gesetzt: Die Erzählerin wird in der Interviewsituation als Studentin adressiert, womit der Fokus implizit auf die Studienerfahrungen gerichtet wird. Dagegen wird offen gelassen, auf welche Studierenden sich mein Forschungsinteresse konkreter richtet, die mögliche Bedeutung des Themas ‚Migration‘ wird an dieser Stelle nicht eigens erwähnt. Meine Erklärung für die Bitte um die offene Erzählung der gesamten Lebensgeschichte (anstelle gezielter Fragen nach der Studienzeit) wird von der Interviewten daraufhin nachvollzogen („ja ja der Rahmen warum es so ist ne? Warum die Erfahrung so ist, ja ja“), was als Hinweis auf eine Einwilligung in das Prinzip der offenen Interviewführung interpretiert werden kann. Die nachfolgenden Regieanweisungen (meine Zurückhaltung als Zuhörerin, später Gelegenheit für Nachfragen) werden von Alicja Pajak ebenfalls nachvollzogen und ratifiziert.
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10.1.3 Interviewverlauf und Struktur der biographischen Haupterzählung Das Interview verlief ohne Unterbrechungen und erstreckte sich über eine Dauer von zweieinhalb Stunden, von denen die Haupterzählung etwa 40 Minuten ausmachte. Alicja Pajak beginnt die Haupterzählung mit einer skeptischen Bilanzierung der Migrationsgeschichte der Familie und einer Darstellung der Lebensumstände nach der Migration. Anschließend orientiert sie ihre Geschichte chronologisch an den Stationen ihrer institutionellen Bildungslaufbahn vom Kindergarten bis zu ihrer gegenwärtigen Studiensituation. Sie präsentiert ihre Biographie in einem Wechsel zwischen verschiedenen Darstellungsmodi: Die dominanten Formen der Sachverhaltsdarstellung in der Haupterzählung sind zusammenfassende Beschreibungen eigener Handlungsmuster und Erfahrungshaltungen sowie argumentative Passagen in Form von Reflexionen, Evaluationen und Bilanzierungen. Die Selbstpräsentation ist mit eingeflochtenen Kommentierungen und Bewertungen des eigenen Handelns aus der Gegenwartsperspektive sowie Selbsttheoretisierungen gespickt. Sie entspricht somit einer stark gegenwartsbezogenen Selbstthematisierung, die sich durch hohe selbstreflexive Anteile auszeichnet. Auffällig ist dabei die distanzierte und bisweilen selbstironische Haltung der Biographin im Hinblick auf ihr erzähltes Ich und dessen Handlungen. Der insgesamt betrachtet eher geringe Narrativitätsgrad lässt sich möglicherweise auch auf die für die Erzählerin nicht gänzlich geklärte Frage zurückführen, ob hier eine Beschreibung des „Lebenslaufs“ oder eine Darstellung der eigenen „Entwicklung“ verlangt sei. Allerdings gibt es auch immer wieder narrativ ausgestaltete Erzählpassagen, die von dem dominanten beschreibenden Stil abweichen. Dem vorherrschenden, beschreibenden Präsentationsstil entspricht die deutliche Tendenz der Erzählerin, eine Außenperspektive auf eigene Handlungen einzunehmen. Die eigenen Handlungen und Empfindungen des erzählten Ich werden der Zuhörerin demgegenüber kaum plausibilisiert oder nahe gebracht. Vielmehr erzeugt Alicja Pajaks Darstellung den Eindruck einer Befremdung der Erzählerin von den Handlungen des erzählten Ich. Die Biographin bezieht sich in ihrem Sprechen nicht in erster Linie auf sich selbst, sondern stellt immer wieder Verbindungen zu ihrer Zuhörerin her, deren Aufmerksamkeit sie sich versichert und der gegenüber sie sich als gute Unterhalterin präsentiert. Zu den Strategien, durch die Alicja Pajak die Aufmerksamkeit ihres Gegenübers zu fesseln vermag, zählt das Präsentieren von Episoden, die ‚Verirrungen‘ und Fehleinschätzungen des erzählten Ich zum Gegenstand haben. Die Erzählerin inszeniert ihre Biographie so als eine tragikomische Geschichte. Damit korrespondiert auch ihr häufiges lautes Lachen, das sich kaum als befreiter Ausdruck einer Erleichterung über den ‚guten Ausgang‘ der Geschichte deuten lässt. Vielmehr liefern die Zwischenbilanzierungen der Biographin Hinweise darauf, dass die strukturellen Komplikationen, in die das erzählte Ich verstrickt ist, auch in der Gegenwart des Erzählens noch bedeutsam sind. Das Lachen ist daher möglicherweise eher als eine Form des ‚Galgenhumors‘ zu deuten, mit dem Alicja Pajak sich ironisch, teils sarkastisch zu den Ereignissen ins Verhältnis setzt. Die Studienzeit nimmt einen vergleichsweise großen Raum in der Erzählung ein. Dies dürfte zum einen der Rahmung durch die Interviewerin geschuldet sein, die den
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Schwerpunkt implizit auf die Studienbiographie legt. Zum anderen spiegeln sich darin aber auch die aktuellen Relevanzen der Biographin wider: Alicja Pajak befindet sich zum Zeitpunkt des Interviews in einer prekären Studiensituation, und die Gestaltung ihrer biographischen Selbstpräsentation lässt sich als Ausdruck einer Suche nach Erklärungen für diese Situation interpretieren. Sie nutzt das Interview vor diesem Hintergrund als eine Möglichkeit für Selbstbetrachtungen, Selbstbefragungen und die Entwicklung von Selbsttheorien. Die Haupterzählung endet mit einer expliziten Koda („das wars so grob umschrieben“ (13/11)). Die Relativierung, die in dieser Formulierung zum Ausdruck kommt, wird von Alicja Pajak mit dem Hinweis darauf verbunden, auf bestimmte Themen („Familie und so“ (13/12)) nicht eingegangen zu sein, die jedoch als Felder für mögliche Nachfragen markiert werden („da kannste ja vielleicht nachhaken“ (ebd.)). Im Nachfrageteil folge ich den Relevanzsetzungen der Interviewten und vertiefe vor allem Themen ihres Bildungsweges (Stationen und Übergänge im Schulverlauf, Erfahrungen im Studium). Genauer nachgefragt wird zudem zur Familien- und Migrationsgeschichte, die in Alicja Pajaks Erzählung lediglich kurz angerissen wurde. Am Ende des Interviews zieht Alicja Pajak ein Fazit ihrer Geschichte, indem sie sich explizit auf das anfangs von mir markierte Forschungsinteresse (bzw. ihre Deutung dieses Interesses) bezieht. Dabei wird deutlich, wie sie selbst ihre Position in dem von mir untersuchten Feld einschätzt: A: Aber so jetzt auf deine Fragestellung halt ne, so - das was das Studium wie man das so empfindet ähm - das ist echt typbedingt. Also ich glaube ich bin da einfach son Stresstyp. Weißte der halt überall und nirgends gleichzeitig auf allen Hochzeiten tanzen will, dann total ins Schleudern kommt total verrückt wird, sich unter Druck setzt ohne Ende noch zusätzlich, sich sowieso übernimmt, dementsprechend - ist es klar dass mein Studium nicht so - abläuft. Und sich vorher am besten auch gar nicht informiert, ne? Wie=wie jetzt sag ich mal bei nem Musterstudenten ne. Aber dann haste wenigstens einen Ausreißer drin. (Lacht) /(lachend) Ne?/ (lacht) (45/23-30).
Alicja Pajak konstruiert sich als „Ausreißer[in]“, als Abweichung von der (vermeintlichen) Regel und verortet sich selbst in einer Randposition im studentischen Feld. Die Kontrastfolie stellt dabei der Idealtypus des „Musterstudenten“ dar, der sein Studium unter Kontrolle hat. Dabei wird die eigene Studienproblematik mit persönlichkeitsbezogenen Deutungen erklärt („typbedingt“, „Stresstyp“), womit ihre Ursachen im eigenen ‚Inneren‘ verortet werden.
10.2 ZWISCHEN HETERONOMIE UND REBELLION – ALICJA PAJAKS BIOGRAPHIE BIS ZUM STUDIUM Die nachfolgende Darstellung folgt der Chronologie der erzählten Ereignisse und orientiert sich an der Haupterzählung der Biographin. Die strukturelle Beschreibung der Haupterzählung wird dabei nicht vollständig präsentiert, sondern der Fokus liegt insbesondere auf den narrativen bzw. berichtenden Passagen. Den Kommentierungen
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und Reflexionen der Biographin, die ebenfalls Teil der Haupterzählung sind, wird an dieser Stelle aus darstellungsökonomischen Gründen weniger Raum gegeben. Zur Vertiefung von Themen, die im Hinblick auf das hier verfolgte Forschungsinteresse besonders relevant sind, werden Passagen aus dem Nachfrageteil einbezogen. 10.2.1 „Mehr Glück als Verstand“ – die Migrationsgeschichte der Familie Ihre biographische Erzählung beginnt Alicja Pajak mit einer geographischen Verortung: A: (räuspert sich) ja, wo fang ich an? Am besten in Deutschland, ne? (lacht) Ja. Vorher weiß ich auch nicht viel. Ja, also 13. Oktober 89 sind wir hier rüber gekommen, aus Polen, da war ich vier I: mhm A: Dann war ich ähm - ja, ich hab zwei jüngere Schwestern, die eine war zwei, die andere neun Monate, (3/35-40)
Die Erzählerin lässt ihre Lebensgeschichte „in Deutschland“ beginnen. Die Formulierung „am besten in Deutschland“ macht dabei klar, dass es sich dabei um eine erste Entscheidung handelt; es hätte auch eine Alternative zu diesem Beginn gegeben. Der Verzicht auf Ausführungen zu dem „Vorher“ wird mit dem Hinweis auf das geringe eigene Wissen darüber erklärt. Der Beginn von Alicja Pajaks Lebenserzählung wird nicht durch die eigene Geburt markiert, sondern durch die Migration der Familie aus Polen, die unter Angabe eines genauen Datums und mit dem Hinweis auf das eigene Lebensalter zu diesem Zeitpunkt präsentiert wird. Die Formulierung „hier rüber“ in Kombination mit dem Zeitpunkt der Migration ruft dabei Assoziationen mit den politischen Ereignissen im Herbst 1989 und dem Ende der Ost-WestKonfrontation auf, ohne dass dieser zeithistorische Kontext von der Erzählerin explizit benannt wird. Die Selbsteinführung der Biographin enthält zudem eine Positionierung in der Geschwisterreihenfolge, die sich auf den Zeitpunkt der Migration bezieht: Alicja Pajak positioniert sich als älteste von drei Töchtern, die zum Zeitpunkt der Migration noch sehr jung sind. Dies kann als impliziter Hinweis darauf gelesen werden, dass der Biographin zum Zeitpunkt der Migration die Rolle der größeren Schwester zukommt, von der Selbstständigkeit und möglicherweise auch die Übernahme von Verantwortung für die jüngeren Geschwister erwartet wird. Die möglichen Sinngehalte, die die Positionierung als Älteste enthält, werden an dieser Stelle von der Biographin aber noch nicht weiter entfaltet. In der nachfolgend verdichtet präsentierten Geschichte wird die Migration als spontane Aktion dargestellt, die ohne genaue Planung oder Vorbereitung (‚Hals über Kopf‘) erfolgte. A: Meine Eltern, das also sind so Anekdoten ne, die werd ich echt nie vergessen weil ich als kleines Kind schon so gedacht hab so boah wie konntet ihr euch das wagen, ne? So die haben immer so gesagt so ja, wir haben ei=einfach alles verkauft in Polen und - konnten Bitte und Danke und wir fahren ins Reich, hat man damals wirklich noch so gesagt, I: mhm (3/42-4/3)
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Die Rahmung der Migrationsgeschichte als „Anekdoten“ verweist darauf, dass hier eine Geschichte erzählt wird, die innerhalb der Familie tradiert wird und bereits öfter erzählt worden ist (vgl. Alheit 1989). Es wird damit der Eindruck erzeugt, dass die Migration der Familie nicht einer längerfristigen Planung und der rationalen Abwägung von Vor- und Nachteilen, sondern eher einem spontanen, risikobereiten Handeln folgte. Es gibt keine Erläuterungen zu damit verbundenen Erwartungen und Befürchtungen, über Planungen oder familiale Aushandlungsprozesse. Es wird auch nicht von bürokratischen Abläufen oder Hürden der Aus- und Einreise berichtet. Aufgrund des Zeitpunkts der Migration ist es möglich, dass die Eltern aus einer ‚Torschlusspanik‘ heraus tatsächlich sehr schnell entschieden und handelten.3 Die Aussage „einfach alles verkauft“ deutet zunächst auf Besitzverhältnisse hin, die bei der Migration aufgegeben werden. Angesichts der etwas später skizzierten desolaten ökonomischen Verhältnisse der Familie bleibt allerdings etwas ungewiss, was die Aussage, die Eltern hätten „alles verkauft“ konkret impliziert. Die Migrationsentscheidung wird damit in jedem Fall als radikaler, unumkehrbarer Entschluss konstruiert, mit dem die Eltern mit ihrem Leben in Polen abgeschlossen und alles hinter sich gelassen haben.4 In einem Spannungsverhältnis dazu stehen die als gering markierten Deutschkenntnisse der Eltern: „Bitte“ und „Danke“ stehen sinnbildlich für die geringe Vertrautheit mit der Amts- und Verkehrssprache am künftigen Lebensmittelpunkt. Das sprachliche ‚Startkapital‘ der Eltern für das Migrationsprojekt wird von der Erzählerin dadurch als rudimentär beschrieben; die Ausreise nach Deutschland als abenteuerliches Unternehmen, mit dem viele Unwägbarkeiten verbunden sind. In diesem Zusammenhang lässt sich auch der irritierende Ausspruch „(wir fahren ins) Reich“, interpretieren, den Alicja Pajak als einen der wenigen Sätze ausweist, den die Eltern zum Zeitpunkt ihrer Migration auf Deutsch beherrschten. Die Formulierung wirkt irritirend, wird mit dem Ausdruck „Reich“ doch scheinbar bruchlos eine Bezeichnung aus Zeiten der NS-Diktatur übernommen. Der Zusatz „hat man damals wirklich noch so gesagt“ zeigt, dass die Erzählerin sich der Wirkung bewusst ist, die der Satz bei ihrem Gegenüber auslösen wird, und sie sich davon distanziert bzw. sich als Chronistin positioniert. Der zitierte Ausspruch könnte zunächst als Hinweis auf die ethnisch-kulturelle Zugehörigkeit der Familie zur deutschen Minderheit in Polen und eine nationale Identifizierung mit dem (großdeutschen) ‚Reich‘ interpretiert werden. Allerdings gibt es im Interview sonst keinerlei Hinweise auf eine nationale Gesinnung der Eltern oder darauf, dass eine kulturelle Verbundenheit mit ‚Deutschland‘ in der Familie überhaupt eine Rolle gespielt hat. Diese Lesart relativiert sich auch durch die Verallgemeinerung („hat man damals wirklich noch so gesagt“) was eher darauf hindeutet, dass die Eltern nicht die einzigen waren, die diesen Ausdruck verwendeten, sondern es sich um einen breiteren Diskurs gehandelt haben könnte. Dieser muss dabei nicht 3
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Zu dieser Zeit war bereits öffentlich bekannt, dass die BRD ihre Einreisepolitik aufgrund der gestiegenden Zahl von Aussiedler*innen aus Polen bald verändern und die Einreisebedingungen verschärfen würde (vgl. Pallaske 2002: 68). Die hastige Migrationsentscheidung der Familie ist vermutlich in diesem Kontext zu interpretieren. Die Entscheidung für eine Migration aus Polen nach Deutschland war in den 1980er Jahren für die meisten Personen mit der Perspektive einer endgültigen Entscheidung verbunden.
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automatisch auf die politische Gesinnung der Sprecher*innen verweisen, sondern kann vor dem Hintergrund der zeithistorischen Bedingungen der Migration aus Polen in die BRD Ende der 1980er Jahre interpretiert werden: Um als Aussiedler*innen anerkannt zu werden, sind genealogische Nachweise erforderlich, die die natiokulturelle ‚Abstammungsgeschichte‘ der betreffenden Personen als ‚Deutsche‘ plausibel machen. Zur Regulierung der Aussiedlung aus Polen kamen auf der bundesrepublikanischen Seite in dieser Zeit verstärkt Nachweisverfahren zum Einsatz, die auf rassifizierende Unterscheidungsinstrumente aus der NS-Zeit (die sogenannte „deutsche Volksliste“) zurückgehen (vgl. Pallaske 2002). Nicht zuletzt durch dieses Verfahren lag für die Ausreisewilligen der Eindruck nahe, dass die Gesellschaft, zumindest aber das Rechtswesen der BRD, in einer direkten Tradition bzw. Nachfolge des ‚dritten Reichs‘ stehe.5 Der von den Eltern der Erzählerin verwendete Ausdruck „Reich“ lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Ausdruck einer kollektiven Erfahrung im Prozess der Aussiedlung aus Polen interpretieren – und zwar unabhängig von der konkreten natio-ethno-kulturellen (Selbst-)Verortung der Familie. Er kann als Hinweis auf die Widersprüchlichkeit zwischen der offiziellen Distanzierung der BRD vom NS-Staat einerseits und den faktischen Kontinuitäten in der Regulierung der Einwanderung von Aussiedler*innen aus den ehemaligen ‚Ostgebieten‘ andererseits gelesen werden. Diese historisch-politische Bedeutungsdimension ist der Erzählerin selbst allerdings vermutlich nicht bewusst. In den Erzählungen ihrer Eltern hat sich der Ausspruch möglicherweise gänzlich von diesem Zusammenhang abgelöst und fungiert nur noch als rhetorisches Stilmittel, als dramatischer Indikator für die Inkompatibilität zwischen den eigenen Voraussetzungen und Erwartungen bei der Aussiedlung und den Bedingungen und Erfordernissen am Zielpunkt der Migration. Die Neuankömmlinge erscheinen dadurch als ‚Ahnungslose‘, die weder sprachlich für die Migration gewappnet, noch mit den politisch-gesellschaftlichen Gegebenheiten und Diskursen im Ankunftskontext hinreichend vertraut sind.
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Als Grundlage für den Nachweis einer „deutschen Volkszugehörigkeit“, die Voraussetzung für die Gewährung des Aussiedler*innenstatus ist, gewann in den 1980er Jahren ein sehr umstrittenes Instrument zunehmend an Bedeutung: der Nachweis über den Eintrag in die sogenannte deutsche Volksliste. Dabei handelt es sich um ein Instrument der deutschen Arisierungspolitik, das während der NS-Zeit in den annektierten Gebieten in Polen als Basis für die Verleihung der deutschen Staatsbürgerschaft an bestimmte Teile der Bevölkerung zum Einsatz kam. Auf Grundlage der Volksliste wurden Personen, die bestimmten Kriterien der NS-Rassenpolitik entsprachen, als „eindeutschungsfähige Polen“ (Pallaske 2002: 62) kategorisiert. Nach 1945 wurden diese Personen durch sogenannte Verifizierungsverfahren (verbundenen mit einer Loyalitätsbekundung zum polnischen Staat) zu polnischen Staatsbürger*innen gemacht und als „Autochthone“ bezeichnet (vgl. Pallaske 2002: 62f). Die ehemaligen Volkslistenangehörigen besaßen jedoch (von der BRD aus gesehen) weiterhin das Recht, als Aussiedler*innen in die BRD einzureisen. Der Nachweis über die ethnisch „deutschen“ „Wurzeln“ der Familie, der auf den Instrumenten der NSRassenpolitik basierte, ermöglichte vielen Familien die Einreise in die BRD. Gegen Ende der 1980er Jahre wurden mehr als die Hälfte aller Aussiedler*innen auf Grundlage dieser umstrittenen NS-Dokumente anerkannt (ebd.: 62).
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Das angedeutete Spannungsverhältnis zwischen den Ressourcen und Erwartungshaltungen der Protagonist*innen des Migrationsprojekts einerseits und den tatsächlichen Erfahrungen der Migration andererseits wird in der folgenden kritischskeptischen Bilanzierung unterstrichen: 6 A: ja und dann sind ne, ham se mit drei Kindern sich in n Zug gesetzt so, ja alles klar, hat geklappt (lacht) mehr Glück als Verstand, hat mein Vater mir letztens noch gesagt, von wegen so nä heute würd ich das nich mehr machen (4/4-6)
Alicja Pajak beschreibt die Ausreise aus einer Beobachter*innenposition, nicht aus der Perspektive des Kindes, das an den Ereignissen beteiligt war und diese erlebt hat. Zu vermuten ist, dass sie hier die Perspektive ihres Vaters übernimmt, der die Migration der Familie aus der Gegenwartsperspektive kritisch bilanziert. Dass sie sich auf ein kürzlich stattgefundenes Gespräch mit ihm bezieht, macht deutlich, dass die damalige Entscheidung für die Migration auch heute noch Gegenstand der Kommunikation innerhalb der Familie ist. Ihr Vater setzt sich durch den Ausdruck „mehr Glück als Verstand“ retrospektiv in ein kritisch-distanziertes Verhältnis zu seinem damaligen Handeln, das als wenig durchdacht ausgewiesen wird. Zugleich scheint mit der Formulierung „Glück“ angedeutet zu werden, dass die Folgen für die beteiligten Akteur*innen schlimmer hätten sein können und das Projekt vergleichsweise ‚glimpflich‘ verlaufen ist. Dabei steht das Deutungsmuster „Glück“ für etwas Zufälliges, was außerhalb der Kontrolle der Akteur*innen selbst liegt. Alicja Pajak übernimmt diese Deutung. Das elterliche Projekt wird als riskantes Wagnis bilanziert, zu dem sie sich reflexiv-ironisch ins Verhältnis setzt („ja alles klar“). Allerdings bleibt in der Schwebe, ob sie das Handeln ihrer Eltern als leichtsinnig oder verantwortungslos bewertet, oder ob in ihrer Haltung auch Bewunderung für den Mut zu diesem Schritt mitschwingt. Diese Ambivalenz zeigt sich auch noch in einer anderen Passage: A: Überleg mal mit drei Kindern – vor allem wie alt waren die denn da? (1) Mama war 25. Boah. Nee. Aber wie Papa ja gesagt hat, das war - heute würden sies nicht mehr machen. I: mhm A: Das war einfach wirklich mehr Glück als Verstand so ex, wir machens jetzt. Aber vielleicht muss mans so machen weißte? Wenn das dann - (lacht) wirklich son Gedanken /(lachend, schnell) also egal wir verkaufen jetzt alles und dann ist alles verkauft und wir fahren einfach (lacht) Ne? Vielleicht klappts dann erst richtig so/ - ja aber heute wahrscheinlich auch nicht mehr damals ging das vielleicht noch. (16/33-40)
Es wird hier auch die Formulierung „mehr Glück als Verstand“ aufgegriffen, was darauf hinweist, dass es sich dabei wahrscheinlich um eine feststehende Deutung des
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Die Kluft zwischen den Erwartungen und den nach der Migration vorgefundenen Bedingungen dürfte dabei keineswegs ungewöhnlich gewesen sein. Die Vorstellungen und Erwartungen von Einwander*innen aus Polen hinsichtlich des Lebens in der BRD basierten in dieser Zeit oft auf wenig verlässlichen Berichten von Verwandten oder Bekannten (vgl. Pallaske 2002: 102).
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Geschehens in der Familie handelt. Die Migrationsentscheidung der Eltern erscheint darin nicht als von langer Hand geplantes Projekt, sondern als ein ‚Handeln auf gut Glück‘. Dabei wird die skeptische Position des Vaters zu der damaligen Entscheidung noch deutlicher als in der Haupterzählung: Er würde es heute „nicht mehr machen“. Für Alicja Pajak scheint der damalige Schritt ihrer Eltern einerseits kaum nachvollziehbar, andererseits schwingt eine Faszination und Bewunderung mit, wenn sie erwägt, dass man es „vielleicht […] so machen [muss]“, damit es „dann erst richtig [klappt]“. Sie setzt sich also in ambivalenter Weise zu der Handlungsstrategie der Eltern ins Verhältnis. Während Alicja Pajak in der Haupterzählung auf eine Erläuterung der Gründe für die Migration verzichtet, skizziert sie später auf Nachfrage die Lebensbedingungen der Eltern vor der Migration, die als Hintergrund für ihre damalige Entscheidung gesehen werden können: A: Meine Mama ist aufgewachsen in einem - in einer Dreizimmerwohnung mit sechs Kindern, meine Oma hat dann irgendwann einen Liebhaber noch mit reingeholt in diese Dreizimmerwohnung, mein Opa war auch da, hat vier Jobs gehabt damals, und dann - ja als Mama äh - Papa kennen gelernt hat ist Papa dann noch dazu gekommen. (1) Ja. Und ich irgendwann war ich unterwegs. Und - ich war dann auch noch, als ich geboren wurde waren die dann - waren wir immer noch in dieser Wohnung, in dieser Dreizimmerwohnung wo mein Onkel immer noch wohnt, ähm - und als Anita aufm Weg war ham sich=hat=ham sich meine Eltern dann halt äh entschlossen ins Hotel zu ziehen, das heißt sie haben die ganze Zeit im Hotel gewohnt. Und als Magdalena dann aufm Weg war, kams wahrscheinlich irgendwie schon so - dass die ersten Gedanken diesbezüglich - aufgekommen sind so wahrscheinlich für Mama und Papa weil - also in erster Linie gings darum dass sie uns äh - ne vor_äh=ja n besseres Leben Lebensstandard äh ermöglichen wollten und auch eine bessere Bildung. (16/8-29)
Obgleich Alicja Pajak eine nüchtern-faktenorientierte Beschreibung der Umstände vornimmt und sich jeglicher expliziter Bewertungen enthält, lassen sich drastische ökonomische Einschränkungen und Belastungen erahnen, denen die Lebensgestaltung der Eltern vor der Migration unterliegt. Die Lebensverhältnisse sind durch Armut und räumliche Enge gekennzeichnet. Die angedeuteten Beziehungsverhältnisse (Einzug des „Liebhabers“ der Großmutter) erscheinen – zumal angesichts der räumlichen Enge – zumindest als nicht unkompliziert. Das beschriebene generationenübergreifende Wohnarrangement ist hingegen zu dieser Zeit nicht ungewöhnlich. Vielmehr verweist dies auf die damalige wirtschaftlich schlechte Situation des Landes, die vielen Menschen keine Alternative zum Zusammenleben mehrerer Generationen auf beengtem Raum ließen.7 Nach der Geburt des zweiten Kindes lässt sich die Wohnsituation für Alicja Pajaks Eltern offenbar nicht mehr aufrechterhalten und die Familie zieht um – allerdings nicht in eine eigene 7
So war einer Studie zufolge zum damaligen Zeitpunkt „[d]as erwünschte oder unerwünschte Zusammenleben mehrerer Haushalte […] eine verbreitete Charakteristik des polnischen Wohnungsbestandes. Drei-Generationen-Haushalte sind nicht nur in ländlichen Gebieten üblich [...], sondern auch in städtischen Gebieten, wo Wohnungen mit einer Durchschnittsgröße von 50m2 ein stressfreies Zusammenleben von Kernfamilien mit weiteren Personen nur schwer zulassen“ (Donner 2006: 193)
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Wohnung, sondern in ein Hotel. Eine mögliche Erklärung für dieses provisorisch anmutende Arrangement kann in der anhaltend katastrophalen Lage am Wohnungsmarkt gesehen werden, die sich in den 1980er Jahren infolge der Wirtschaftskrise noch verschärfte (vgl. Pallaske 2002: 97). 8 Die skizzierten Lebensumstände bilden den Hintergrund für die Suche nach Alternativen, die sich in der Zeit der dritten Schwangerschaft von Alicja Pajaks Mutter in Form der Migrationsentscheidung konkretisieren. Die Eltern wollen den Kindern durch die Migration „n besseres Leben Lebensstandard äh ermöglichen […] und auch eine bessere Bildung“. Damit wird die Migrationsentscheidung in direkten Zusammenhang mit der Ermöglichung von Lebens- und Bildungschancen für die nachfolgende Generation gestellt, die den Eltern selbst nicht offenstanden. An dieser Stelle deutet sich an, dass Alicja Pajaks Geschichte (auch) im Zusammenhang eines sozialen Aufstiegsimperativs zu verstehen ist. Dabei spielt Bildung eine Schlüsselrolle. Dies wurde unter anderem in einem Gespräch nach Ausschalten des Aufnahmegeräts deutlich: Nachdem das Interview beendet war, erwähnt Alicja Pajak, dass ihre Mutter selbst ein starkes Bildungsinteresse hatte, das ihr allerdings durch ökonomische Einschränkungen verwehrt blieb. Den zeitweiligen Plan, in ein Kloster zu gehen, um ihrem Bildungswunsch nachgehen zu können, verwarf sie letztlich zugunsten der ökonomischen Unterstützung ihrer Herkunftsfamilie. Auch im Interview selbst beschreibt Alicja Pajak ihre Mutter als bildungsambitionierte Person, die nach der Migration nach Deutschland Sprachkurse absolviert und sich trotz vieler Hürden aktiv darum bemüht, beruflich Fuß zu fassen. Ihre Haltung wird dabei von der des Vaters abgegrenzt, der zwar das institutionelle Angebot eines Sprachkurses wahrnimmt, aber von Alicja Pajak ansonsten als weniger eigeninitiativ beschrieben wird. Dabei deutet sich an, dass hier traumatische Erfahrungen im Zuge der Migration eine Bedeutung haben könnten. A: Papa hatte auf jeden Fall n Sprachkurs, aber ähm - Mama halt nicht, und Mama konnte viel viel schneller und viel besser /(lachend) Deutsch als Papa/ - ja weil Mama wollte es und Papa nicht. So, ne, ich weiß nicht aber ich glaube - also Mama meinte immer dass Papa in Polen n ganz anderer Mensch war. Also dass Deutschland ihn vielleicht so extrem en=erschreckt hat, aber davon sagt er ja nie was, dass äh - ja vor allem wahrscheinlich - ja dass die Angst dann so überwog dass er irgendwie, ne son kleines Trauma vielleicht mitgenommen hat oder so dadurch. (17/19-25)
Das unterschiedliche Engagement der Eltern beim Erlernen der deutschen Sprache wird von der Biographin auf ihre jeweilige Motivation zurückgeführt. Zugleich werden sich dabei unterschiedliche Haltungen der Eltern zum Projekt der Migration erkennbar. Es gibt Gründe, die den Vater daran hindern, sich mit der gleichen Zielstrebigkeit wie Alicja Pajaks Mutter dem Erlernen der deutschen Sprache zu widmen. Mit der Aussage, dass „Deutschland ihn vielleicht so extrem erschreckt hat“, werden Erlebnisse angedeutet, die die Migration für den Vater zu einer verstörenden Erfahrung machen, die Alicja Pajaks Mutter für grundlegende Veränderungen seiner Per8
Die Nachfrage überstieg das Angebot bei Weitem, was für Privatpersonen zu mehrjährigen Wartezeiten führen konnte. Von dem Wohnungsmangel waren besonders junge Paare betroffen (vgl. ebd.).
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sönlichkeit verantwortlich macht. Er bewältigt die Härten der Migration offenbar psychisch weniger gut als die Mutter der Biographin. Zugleich wird an anderer Stelle klar, dass das Leiden des Vaters aus den Gesprächen zwischen Vater und Tochter ausgeklammert wird und sich die genauen Zusammenhänge dem Wissen der Biographin entziehen, obwohl sie versucht, den Vater ‚aus der Reserve zu locken‘. Eine mögliche Erklärung für das Leiden des Vaters lässt sich darin sehen, dass die Migration für Alicja Pajaks Eltern kaum eine Verringerung der prekären Existenzbedingungen bedeutet, sondern in erster Linie mit neuen Belastungen und grundlegenden Unsicherheiten verbunden ist. Die berufliche Situation beider Eltern ist prekär und belastend; der Vater arbeitet als LKW-Fahrer in wechselnden Anstellungsverhältnissen und ist immer wieder Phasen der Arbeitslosigkeit ausgesetzt. Dies impliziert neben unsicheren Einkommensverhältnissen, die psychisch belastend sein können, möglicherweise auch wenig stabile Sozialbeziehungen jenseits der Familie. Alicja Pajaks Mutter, deren Konditor*innen-Ausbildung in Deutschland nicht anerkannt wird,9 macht ebenfalls entmutigende Erfahrungen auf dem Arbeitsmarkt, geht jedoch einen langen, mühevollen Weg zur Verbesserung ihrer beruflichen Möglichkeiten: 10 A: klar am Anfang Putzstellen dann als sie die Sprache immer besser konnte - Taxi, erst tagsüber bis sies nicht mehr ertragen konnte die ganzen alten Menschen so - die Leiden halt so mitzukriegen, vielleicht das Empathische von mir=äh von ihr, meinerseits, äh dann sehr lange nachts sieben Jahre nachts ist sie gefahren, dann hat sie endlich nach zwanzig Jahren Kämpfen äh=äh beim Arbeitsamt es durchbekommen da eine Weiterbildung bezahlt zu bekommen, hat jetzt in einem Jahr - als Jahrgangsbeste hier in A-Stadt beim HWK als Kosmetikerin die Ausbildung gemacht, arbeitet jetzt in C-Dorf als Aushilfe, ja und bewirbt sich. I: mhm A: Ne sie muss halt ne Festanstellung kriegen für ein Jahr bis sie Fachkosmetikerin machen kann. Ja und da kämpfen wir jetzt (lacht laut) (21/26-37)
9
Pallaske (2002) weist darauf hin, dass Personen, die als Aussiedler*innen anerkannt wurden, zwar formal die Anerkennung ihrer Berufsabschlüsse offen stand, diese Praxis jedoch seit Beginn der 1990er Jahre von der deutschen Wirtschaft zunehmend misstrauisch betrachtet wurde und die Abschlüsse als nicht gleichwertig angesehen wurden, weil die mitgebrachten formalen Qualifikationen den realen Anforderungen am Arbeitsplatz (auch aufgrund der ungleichen technischen Entwicklung in Ost und West) oftmals nicht entsprachen (vgl. Pallaske 2002: 145). Dies bedeutete, dass viele Aussiedler*innen trotz der formalen Möglichkeit der Anerkennung im Zuge ihrer Migration eine Dequalifizierung erlebten (vgl. ebd.). 10 Dies ist ein Phänomen, das in der Migrationssoziologie als durchaus häufig beschrieben wird. Männer haben oftmals in der Migration in stärkerem Maße mit sozialen Deklassierungserfahrungen zu kämpfen als Frauen, da damit auch soziale Positionsverschiebungen innerhalb der Familie verbunden sind, die für die Männer oft einen Machtverlust bedeuten (vgl. Apitzsch 2009: 88ff). Für Frauen verbinden sich mit der Migration dagegen oft Chancen zur Verbesserung ihrer beruflichen Position. Dies könnte eine Erklärung für die unterschiedlichen Umgangsweisen der Eltern mit der prekären Erwerbssituation nach der Migration sein, von der beide Elternteile betroffen sind.
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Die Migration der Familie liegt zum Interviewzeitpunkt zwanzig Jahre zurück. Alicja Pajaks Eltern können auch zu diesem Zeitpunkt, nach vielen Jahren körperlich und psychisch belastender Beschäftigung, noch keine nachhaltige Verbesserung bzw. Festigung ihrer beruflichen und ökonomischen Situation verzeichnen. Vielmehr müssen beide weiterhin um eine existenzsichernde Beschäftigung „kämpfen“. Die beruflichen Anstrengungen der Mutter werden von den Familienmitgliedern solidarisch begleitet („wir [kämpfen]“); auch in der Qualifizierung der Mutter als „Jahrgangsbeste“ scheint eine starke Identifikation der Erzählerin mit den Leistungen ihrer Mutter auf. Diese Solidarisierung der Familienmitglieder kann auch als Folge der Migration verstanden werden, die als gemeinschaftlich zu bewältigende Herausforderung verstanden wird. Auch die Wohnsituation der Familie nach der Migration bedeutet zunächst keine nachhaltige Verbesserung gegenüber der Situation in Polen: Die fünfköpfige Familie wird zunächst in einer Sozialwohnung untergebracht, später (der genaue Zeitpunkt ist unklar) in einem Haus, in dem sie über zwei Zimmer verfügt und sich mit sieben anderen Parteien ein Bad teilen muss.11 A: na ja auf jeden Fall waren wir dann hier, natürlich erst in so ner Sozialwohnung, dann waren wir in einem Haus, da waren glaub ich boah lass mich lügen - acht Familien, wir hatten zwei Zimmer, ein_acht Familien, ein Bad, ganz unten, ja waren echt Umstände, joa. O ich fands nich schlimm ne? Also ich bin halt so dann groß geworden von daher wars mir jetzt - ich hab diesen Luxus in dem Sinne wie man ihn heute kennt (räuspert sich) ja viel viel später erst kennen gelernt ne. So in der Pubertät erst eigentlich. (4/6-11)
Von einem weiteren Umzug berichtet Alicja Pajak erst als sie über ihre Grundschulzeit spricht, d.h., die Familie hat mindestens vier Jahre lang in beengten und provisorischen Wohnverhältnissen gelebt. Die Erfahrung des Wohnens auf engem Raum und (gemessen am westdeutschen Maßstab) weit unter dem Durchschnittsniveau setzt sich also auch nach der Migration fort. Alicja Pajak geht zwar rückblickend in Distanz zu den bescheidenen Wohnbedingungen („ja waren echt Umstände“), zugleich präsentiert sie diese aber nicht als Anlass für Leiderfahrungen, sondern macht deutlich, dass sie die Bedingungen fraglos als Teil ihrer kindlichen Normalität akzeptiert hat. Erst zu einem sehr viel späteren Zeitpunkt lernt sie „diesen Luxus“ kennen, der in westlichen Gesellschaften als Norm empfunden wird. Damit weist die Biographin ihrer Familie eine Position im sozialen Raum zu, die sie als marginalisiert bzw. sozio-ökonomisch deprivilegiert markiert. 11 Diese Art der Unterbringung kann damit zusammenhängen, dass in der Zeit besonders viele Familien nach Deutschland aussiedelten und großzügigerer Wohnraum daher nicht in ausreichendem Maße vorhanden war. Viele Familien aus Polen wurden zunächst provisorisch in Übergangswohnheimen untergebracht (vgl. Pallaske 2002: 115). Es kam Ende der 1980er Jahre durch die sprunghaft ansteigende Einwanderung aus Polen zu „chaotischen Zuständen“ (ebd.: 114), die eine Bereitstellung zusätzlicher provisorischer Unterbringungsmöglichkeiten notwendig machten, z.B. die Aufstellung von Wohncontainern und das Umfunktionieren von Schulen, Turnhallen und Bürogebäuden zu „Massenquartieren“ (ebd.: 115) ohne ausreichende sanitäre Ausstattung, in denen die Lebensbedingungen „katastrophal“ (ebd.) waren.
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Die Migration nach Deutschland bedeutet keine grundlegende Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage der Familie, jedenfalls nicht in dem Umfang, dass dadurch die Teilhabe am westlichen, kapitalistischen Wohlstandsmodell ermöglicht würde. Zugleich wird in der Passage eine Veränderung angekündigt, die zeitlich mit einer ‚Entwicklungsphase‘ des erzählten Ich koinzidiert, die ebenfalls Veränderungen mit sich bringt: Mit der „Pubertät“ ist das Kennenlernen anderer sozialer Welten verbunden, der eine veränderte Perspektive auf das dahin Selbstverständliche impliziert und eine veränderte Verhältnissetzung zur vertrauten sozialen Welt ermöglicht. Obwohl die Migrationsgeschichte der Familie, die den Auftakt von Alicja Pajaks biographischer Erzählung bildet, nicht als Leidensgeschichte präsentiert wird, sondern eher als verwegene ‚Abenteuergeschichte‘, wird deutlich, dass es sich um keine ‚Erfolgsgeschichte‘ handelt. In der skizzierten familialen Ausgangssituation – der prekären sozio-ökonomischen Lage, die sich auch nach der Migration nicht grundlegend verbessert, den Schwierigkeiten der Eltern, am deutschen Arbeitsmarkt Fuß zu fassen, und den damit verbundenen psychischen Belastungen, die nur teilweise ausgesprochen werden können – deutet sich vielmehr eine mehrfach belastende Bedingungskonstellation an. 10.2.2 Vermächtnisse der Migration Alicja Pajaks Eltern sind die einzigen Mitglieder der Familie, die nach Deutschland migriert sind. Als diejenigen, die die Chance ergriffen haben, in den Westen zu gehen, sehen sie sich in einer moralischen Verpflichtung, die zurückgebliebenen Familienmitglieder (ökonomisch) zu unterstützen, wenngleich ihre eigene Lebenssituation in Deutschland ebenfalls eher prekär ist. So berichtet Alicja Pajak von „Carepaketen“ mit Lebensmitteln, die ihre Mutter monatlich an die Familie schickte: A: Und ja - ähm, was ich sonst noch weiß in der Anfangszeit war auf jeden Fall äh - klar also, so aus_alles Geld was reinkam war halt äh meistens so Carepakete nach Polen ne, wie gesagt Mama hat sechs Ge_äh fünf Geschwister, und ihre ältere Schwester hat selber sechs Kinder und da wars sehr sehr schlimm was die Lebensverhältnisse anging (17/28-31)
Die beschriebene Praxis macht deutlich, dass die Mutter sich ihrer Familie gegenüber verantwortlich und verpflichtet fühlt. Die regelmäßigen Pakete dienen der Verbesserung der Lebenssituation der zurückgebliebenen Eltern, Geschwister und deren Familien und können zudem als symbolischer Ausdruck der Solidarität und Verbundenheit interpretiert werden. Neben diesen materiellen Zuwendungen werden die Familienbeziehungen nach Polen insbesondere in den ersten Jahren nach der Migration auch durch regelmäßige Besuche aufrechterhalten.12 In diesem Zusammenhang steht ein Ereignis, das in Alicja Pajaks Selbstpräsentation eine besondere Relevanz erlangt. A: ach so was ich=was am Anfang vielleicht auch noch so ne Geschichte was meine Biographie angeht ist - äh - da waren wir aber noch nicht lange hier. Es war - das erste Jahr, waren wir 12 Die Biographin weist dabei darauf hin, dass die Frequenz der Besuche dort mit der Zeit geringer geworden sei und sie das letzte Mal als Jugendliche mit etwa 16 Jahren gemeinsam mit ihrer Familie dort gewesen sei.
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halt, sind wir halt irgendwann wieder rübergefahren, zur Oma und so, und dann hat Mama gesagt gabs ne Situation, dass meine Oma unbedingt wollte dass ich da bleibe. Also da war ich irgendwie - weiß nicht fünf oder so. Und ich wollte aber partout nicht dableiben. Ich hätte ja da bleiben können. Und ich hab wohl total angefangen zu schreien und zu hysterisieren, dass ich mit Mama mit will, und mein Patenonkel hat gesagt ach komm, die beruhigt sich doch das weißte doch selber, jetzt lass se doch hier wenn Mama das so gerne will, und Mama konnte es aber nicht weil ich halt so extrem hysterisiert hab. Und meine Oma war todtraurig. (3) Und äh ich weiß gar nicht - also Mama hat immer gesagt so halt die wollte halt so dass ich da bleibe, ne? In diesem Moment, und Mama hat halt die Entscheidung getroffen dass ich nicht da bleibe. (17/40-18/8)
Die beschriebene Situation wird als biographisch bedeutsam ausgewiesen und als eine Erinnerung aus zweiter Hand markiert, die Alicja Pajak von ihrer Mutter erzählt wurde. Bei einem Besuch bei der Großmutter kommt es zu einem Konflikt, nachdem diese den „unbedingt[en]“ Wunsch äußert, ihre fünfjährige Enkelin möge bei ihr in Polen bleiben. Diesem Wunsch kommt angesichts der Migrationskonstellation eine besondere Bedeutung zu. Das Zurückbleiben der Enkelin bei der Großmutter kann in dieser Situation als eine Form der Aufrechterhaltung einer transnationalen Familienverbindung interpretiert werden. Wechselseitige Kooperationsformen und Unterstützungsleistungen bei der Betreuung von Kindern und gealterten Familienangehörigen stellen wesentliche Elemente der Gestaltung transnationaler Familienarrangements dar (vgl. Soom Ammann/van Holten/Baghdadi 2013: 279f.). Aus der Kinderperspektive der Erzählerin stellt sich die Situation als bedrohlich dar; sie erfährt sie als ein drohendes Zurückgelassen-Werden gegen ihren Willen und will sich dem Wunsch ihrer Großmutter nicht fügen, sondern bei ihrer Mutter bleiben. Die beschriebene Szene mutet dramatisch an: Alicja Pajak setzt sich mit allen ihr als Fünfjähriger zur Verfügung stehenden Mitteln des Protests dagegen zur Wehr, bei ihrer Großmutter bleiben zu müssen.13 Sie ist somit einerseits Objekt der Verhandlungen der Erwachsenen über ihren Verbleib, konstruiert sich aber auch als starke Akteurin mit einem klaren Willen, die sich schließlich gegenüber den Erwachsenen durchsetzt. Ihr Patenonkel agiert nicht als ihr Fürsprecher, sondern als der ihrer Großmutter. Die Position der Mutter in dieser Situation wird zwar nicht explizit gemacht, die Darstellung lässt jedoch darauf schließen, dass sie das Zurücklassen ihrer Tochter zunächst in Erwägung zieht und sich erst auf den Protest ihrer Tochter hin dagegen entscheidet.14 Die Großmutter ist daraufhin „todtraurig“. Mit der letztendlichen Entscheidung, die Tochter mit zurück nach Deutschland zu nehmen, muss Alicja Pajaks Mutter die Erwartung der Großmutter also enttäuschen. Etwa vier Jahre später erlangt das erzählte Ereignis für die Biographin durch eine zufällige Begebenheit erneut eine Relevanz: A: Und äh irgendwann als ich neun war hab ich äh, als meine Tante zu Besuch war, nicht schlafen können und irgendwie mitbekommen dass meine Mama und meine Tante sich äh in 13 Dies erscheint angesichts der zeitlichen Abstände, in denen Alicja Pajak ihre Großmutter sieht, nicht weiter verwunderlich. 14 Zwar wird die Mutter als Entscheidungsträgerin ausgewiesen, aber letztlich ist es der Protest der Tochter, der eine andere Entscheidung denkbar schwierig macht.
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der Küche unterhalten haben und dann irgendwie son Satz von Mama zu Tante fiel, äh - ja, wenn ich sie dagelassen hätte. I: mh A: Weil - Oma ist kurze Zeit danach gestorben. (6) I: Wie war das da für dich - also das zu hören? A: Ph, siehste ja (lacht)/ (weint, sucht nach Taschentüchern) ah warte, ich muss mal - - - ja ist immer wieder Dasselbe (weint, lacht, schneuzt sich) Genau so wie jetzt. (lacht, schneuzt sich) (5) Ja. War halt komisch ne? Ist bis heute noch komisch. /(gebrochene Stimme) weil es so ne ungeklärte Frage ist ne? (2) Schicksal./ Joa (schnalzt) – (18/8-19)
Erzählt wird hier, wie Alicja Pajak als Neunjährige zufällig ein Gespräch zwischen ihrer Mutter und ihrer Tante aufschnappt, das abends in der Küche geführt wird. Das erzählte Ich ist in der geschilderten Situation nicht in die Interaktion einbezogen, sondern ‚belauscht‘ das Gespräch. Alicja Pajak hört einen Satz ihrer Mutter und deutet diesen im Lichte des damaligen Konflikts: „Wenn ich sie da gelassen hätte“. Dieser Satz kann als Ausdruck des Bereuens bzw. als Selbstvorwurf der Mutter hinsichtlich ihrer damaligen Entscheidung gedeutet werden. Diese Entscheidung erlangt rückblickend eine besondere Brisanz dadurch, dass die Großmutter „kurze Zeit danach“ (gemeint ist hier vermutlich kurz nach dem Besuch von Tochter und Enkelin in Polen) verstorben ist. Der Tod der Großmutter lässt das Geschehen in neuem Licht erscheinen: Er verleiht ihrem Wunsch, die Enkelin möge bei ihr bleiben, nachträglich den Charakter eines ‚letzten‘ Wunsches, der ihr nicht erfüllt wurde. Ihr Tod macht die Entscheidung zudem irreversibel. Der Umstand, dass die Episode offensichtlich Jahre später im Gespräch zwischen Alicja Pajaks Mutter und der Tante erneut thematisiert wird, lässt darauf schließen, dass sie die Mutter zu diesem Zeitpunkt noch immer beschäftigt und belastet. Auch für die Erzählerin haben die Ereignisse eine bis heute andauernde Bedeutung, ohne dass diese genauer bestimmt werden kann; es verbindet sich damit eine „ungeklärte Frage“. Dass die Biographin bei ihrer Erzählung in der Gegenwartszeit von Emotionen überwältigt wird, spricht ebenfalls dafür, dass die Bearbeitung dieser Ereignisse nicht abgeschlossen ist. Eine mögliche Erklärung für die andauernde biographische Relevanz des Ereignisses kann darin liegen, dass Alicja Pajak aufgrund des mitgehörten Gesprächs die Selbstvorwürfe ihrer Mutter wahrnimmt und dadurch indirekt mit den Implikationen konfrontiert wird, die mit ihrem kindlichen Protest für ihre Mutter verbunden sind. Denkbar ist, dass sie selbst nicht nur mit dem latenten Vorwurf der Enttäuschung des letzten Wunsches ihrer Großmutter konfrontiert ist, sondern auch mit den Schuldgefühlen ihrer Mutter. Ob sie mit ihrer Mutter später über deren Äußerung sprechen konnte, ist nicht sicher, da sie damit eingestehen müsste, etwas gehört zu haben, das nicht für ihre Ohren bestimmt war. Ein weiterer Hinweis darauf, dass Gefühle von Schuld und Verpflichtung zwischen den Generationen in der Familie bedeutsam sind, findet sich etwas später in einer Passage, die so interpretiert werden kann, dass in der Familie ein Narrativ tradiert wird, das sich um die Opferbereitschaft der Großeltern rankt. Demnach haben beide Großmütter, trotz der schlechten eigenen Lebensverhältnisse, ihr Wohl immer wieder hinter das ihrer Enkelin zurückstellt und waren zu existenziellen Opfern bereit:
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A: als ich geboren wurde, so - also ich meine gut, die Verhältnisse in Polen sind sowieso - sehr schlecht und - waren damals noch schlechter und - werden jetzt aber wieder schlechter und so, und ähm - (schnalzt) äh Mama hat immer gesagt so ja wenn ich ja da war, durfte ich=dürfte ich durch n Laden gehen so und selbst wenn Oma danach n Monat nur trocken Brot essen müsste so, ich könnte alles mitnehmen was ich wollte. (18/22-27)
Die Geschichten über die Opferbereitschaft der Großmutter werden von Alicja Pajak, ebenso wie die Erzählung über den Besuch in Polen, nicht als eigene Erinnerungen ausgewiesen, sondern als Geschichten aus zweiter Hand, die in der Familie weitergegeben werden: A: Und ähm - ja also so - phh - wie ich=wie ich es halt von - ich erinner mich nicht wirklich halt in äh an meine Oma jetzt direkt, aber - so wie ichs halt äh ge=gehört hab und auch ja immer erzählt bekomme - ja. (18/40-42)
Für sie könnte dieses tradierte Narrativ gleichbedeutend sein mit einer ständigen Erinnerung daran, durch ihre damalige Verweigerungshaltung den Ausgleich für die Opferbereitschaft der Großelterngeneration verhindert zu haben. Ausgehend davon lässt sich die These aufstellen, dass die (halboffene, halbtabuisierte) Art und Weise der kommunikativen und psychischen Verarbeitung der Migrationserfahrungen in der (Mehrgenerationen-)Familie ein Vermächtnis bildet, das für Alicja Pajak mit Belastungen verbunden ist. Sie muss sich sowohl mit den Folgen ihres kindlichen Widerstandes gegenüber ihrer Großmutter auseinandersetzen als auch mit dem Eindruck, durch ihr damaliges Handeln eine Mitverantwortung für die Selbstvorwürfe ihrer Mutter zu tragen. Die Positionierung der Biographin im intergenerationalen Verhältnis, insbesondere im Hinblick auf ihre Mutter, bildet auch in vielen weiteren Erzählpassagen einen zentralen Referenzpunkt. Dies zeigt sich auch in der nachfolgenden Passage, in der Alicja Pajak von ihrem Kindergartenbesuch am Wohnort der Familie berichtet, der zeitlich unmittelbar an die Migration anschließt. A: Und ähm - ja, dann war ich erst in som - gemischten Kindergarten, so wo - polnische Kinder waren, ich weiß jetzt nicht ob überwiegend nur polnische und deutsche aber auf jeden Fall viele polnische und die Kindergärtnerin konnte glaub ich auch n bisschen Polnisch und da hab ich halt, ich glaub da war ich n Jahr und dann war ich auf nem normalen Kin_ in nem normalen Kindergarten, ja als Kind kannste eine Sprache direkt ne, meine Mama hat immer gesagt, ihr kamt /(lachend) eines Tages nach Hause und auf einmal habt ihr mich auf Deutsch zugequatscht und ich hab nichts verstanden, ne?/ (4/13-19)
Mit dem Übergang in den Kindergarten verbindet sich für Alicja Pajak das beiläufige Erlernen der deutschen Sprache.15 Dies wird von der Biographin im Hinblick auf die 15 Ihren vorschulischen Bildungsweg konstruiert Alicja Pajak als eine Bewegung von einem „gemischten Kindergarten“, der von vielen „polnischen“ Kindern besucht wurde, in einen „normalen Kindergarten“ und übernimmt damit hegemoniale Deutungsschemata. So scheint es nicht näher erläuterungsbedürftig zu sein, was mit einem „normalen Kindergarten“ gemeint ist. Die migrationsgesellschaftliche Normalität einer natio-kulturell und
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Bedeutung thematisiert, die dies für das Verhältnis zu ihrer Mutter hatte. Der Kindergartenbesuch bedeutet für die Kinder den Eintritt in einen sprachlichen Raum, der von den Eltern nicht geteilt wird, bzw. zu dem diese sich den Zugang erst sehr viel mühevoller erarbeiten müssen. Die Töchter verwenden die neue Sprache dagegen selbstverständlich und sprechen sie auch zuhause. Mit dem Eintritt ins deutsche Erziehungs- und Bildungssystem wird so eine Entfernung der Töchter von den bisher selbstverständlich geteilten lebensweltlichen Umgangsformen angedeutet; sie wachsen gewissermaßen sprunghaft über den (sprachlichen) Horizont der Eltern hinaus. Obwohl Alicja Pajak die Episode anekdotenhaft erzählt, schwingt darin auch etwas Beklemmendes mit – die Töchter demonstrieren der Mutter gegenüber ihre Kompetenz in der fremden Sprache, während sie ihnen (sprachlich) nicht mehr folgen kann. Alicja Pajak wirft anschließend ein, dass sie selbst – anders als die jüngeren Schwestern, die auch zuhause vorwiegend auf Deutsch miteinander kommunizieren – bis heute bemüht ist, ihre Sprachkompetenz im Polnischen zu erhalten. Mit ihrem Auszug aus der elterlichen Wohnung während der Oberstufenzeit wird die Verwendung der polnischen Sprache im Alltag für sie zwar weniger selbstverständlich („es wird echt immer weniger ne? Und wenn ich dann halt mal Polnisch sprechen - möchte, dann fehlen mir immer mehr die Worte, ne?“). Sie berichtet jedoch von autodidaktischen Anstrengungen (Lesen polnischsprachiger Bücher), die sie unternimmt, um ihre Polnischkenntnisse „aufzufrischen oder so, mein Gewissen /(lachend) bisschen zu beruhigen“. Es geht somit offenbar nicht in erster Linie um die Vermeidung des Verlusts der eigenen sprachlichen Kompetenz, sondern auch darum, die gemeinsame Sprache zu bewahren, die geteilte Kommunikationsbasis mit ihren Eltern zu erhalten und dadurch die Entfernung von ihrer sozio-kulturellen Welt zu verringern. Dabei wird die besondere Position der Erzählerin als älteste Tochter erkennbar, die hier eine Mittlerinnenposition zwischen der (sprachlichen) Welt ihrer Eltern und der Sprache ihrer Umgebung bezieht. 10.2.3 „Ich war schon immer ein sehr starkes Kind“ – Flucht vor Diskriminierung als biographische Zäsur Die Fortsetzung ihrer Bildungslaufbahn nach dem Kindergarten wird von Alicja Pajak als „eigentlich ganz normaler Werdegang“ angekündigt. Darin wird eine Orientierung an Normvorgaben erkennbar, mit denen die Erzählerin ihre Geschichte zwar in Einklang sieht, die jedoch nicht ungebrochen beansprucht werden können („eigentlich“). Eine Abweichung vom schulischen ‚Normalverlauf‘ stellt zunächst der Wechsel der Grundschule nach der zweiten Klasse dar, der durch den Umzug der Familie von P-Stadt in den Nachbarort M-Stadt notwendig wird. Eine Zäsur anderer Art wird durch die folgende Erzählung repräsentiert:
sprachlich heterogen zusammengesetzten Kindergruppe mit mehrsprachigen Erzieherinnen erscheint dagegen als Abweichung von der Norm. Die eigene Zugehörigkeit wird damit implizit als eine Bewegung von der ‚Abweichung‘ auf die Seite der Norm konstruiert; durch den Wechsel vom „gemischten“ in den „normalen“ Kindergarten wird somit ein Prozess der Anpassung an die monokulturelle und sprachliche Norm angedeutet.
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A: Ja in der Grundschule ist dann zum_ sowas vorgefallen, da äh - also i=in dieser zweiten Grundschule vierte Klasse war das glaub ich oder=oder dritte, äh - dass es eine Situation gab ähm - wo ich - ich war schon immer ein sehr starkes Kind hat mein_ ich hatte=ich hab mich immer alleine durchgesetzt und also es ist einfach nur so ne - äh - wahrscheinlich im Gedächtnis geblieben weil meine Mama halt so geschockt war von dieser Situation weil sie mich selber n=nie so erlebt hat, ähm - ja da gabs halt irgendwie - ich weiß nicht warum es war daran erinner ich mich nicht mehr, irgendwas ist halt in der Klasse wahrscheinlich vorgefallen ich weiß nicht obs notenbedingt war oder ob wir Diktat wiedergekriegt oder wie auch immer, ähm - dass - ja die - meine Klassenkameraden damals irgendwann halt anfingen äh zu sagen vor mir ach ja, geh doch zurück wo du herkommst und so, und dann ist es auch so eskaliert dass danach in der Pause wohl auf dem Schulhof auch äh so Sticheleien kamen und ich dann wohl damals äh so hilflos war dass ich nach Hause gelaufen bin. Ne und - ja. So. Da bin ich eigentlich überhaupt nicht der Typ für. Auch bis heute nicht, ne, also selbst wenn ich innerlich eigentlich - total das Wrack bin so äh, ne, in einer Situation weil mich irgendwas mitnimmt so dann - ja wobei je älter ich werde umso - umso - schwieriger fällt es mir das zu kontrollieren muss ich zugeben, aber früher - ne, Fels, ne, nach außen hin n Fels, aber - ne, deswegen vielleicht so ne Schocksituation auch für meine Mutter ihr Kind so zu erleben, ne? (lacht) (4/40-5/14)
Alicja Pajak erzählt hier, dem klassischen Erzählschema folgend, von einem Vorfall, den sie zeitlich in der dritten oder vierten Klasse, also nach dem Wechsel der Grundschule, einordnet. Mit der Formulierung „vorgefallen“ wird bereits angedeutet, dass es sich um ein unerwartetes Ereignis ‚außer der Reihe‘ handelt, das von der Biographin nicht kontrolliert wird. Sie thematisiert eine Erfahrung mit alltagsrassistischer Diskriminierung im Peer-Kontext, die ihr besonders nachhaltig im Gedächtnis geblieben ist: Ihre Klassenkameraden stellen gemeinsam – und offenbar ungehindert – durch rassistische Sprüche, die auch als Praxen der „Verweisung“ (Terkessidis 2004: 180) bezeichnet werden können, die Legitimität von Alicja Pajaks Anwesenheit infrage. Die Angriffe der Klassenkamerad*innen, die von Alicja Pajak als „Sticheleien“ bezeichnet und damit in ihrer Bedeutung relativiert werden, setzen sich auch jenseits des Klassenzimmers auf dem Schulhof fort und „eskalier[en]“, wobei nicht konkretisiert wird, was dies bedeutet. Infolge dieser bedrohlichen Situation verlässt Alicja Pajak, die sich „hilflos“ fühlt, den Schauplatz und läuft „nach Hause“. Der beschriebene ‚Vorfall‘ wird von der Erzählerin als einzelne Situation präsentiert, ohne dass sie die Vorgeschichte und die Umstände, die dazu führten, konkreter benennen kann. Dies könnte darauf hindeuten, dass es sich nicht um ein einmaliges Ereignis handelt, sondern hier möglicherweise auf Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen referiert wird, die sich über einen längeren Zeitraum erstrecken und sich schließlich zuspitzen, die hier retrospektiv zu einem einzelnen ‚Vorfall‘ verdichtet werden. Die Fluchtreaktion des erzählten Ich verweist auf die Dramatik einer Situation, in der Alicja Pajak den Anfeindungen ihrer Mitschüler*innen wehrlos ausgesetzt ist. Von Lehrpersonen oder anderen Schüler*innen, die in das Geschehen eingreifen und es beenden würden, wird nicht berichtet. Dieses Ereignis steht für eine Ausgrenzungserfahrung, die deutlich macht, dass die zuvor beschriebene sprachliche Assimilation der Biographin sie nicht davor schützt, von ihren Schulkamerad*innen als Migrationsandere diskriminiert zu werden. Diese Differenzzuschreibung ist zwar keineswegs ständig präsent, Alicja Pajak macht hier aber die Erfahrung, dass sie in
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bestimmten Situationen unerwartet aktualisiert werden kann. Damit enthält die Erzählung implizit eine weitere Dimension, in der die Geschichte der Biographin nicht dem angekündigten „normalen Werdegang“ entspricht: Ihr Anspruch auf eine selbstverständliche soziale und kulturelle Zugehörigkeit in der Klasse wird hier von ihren Peers mit dem Verweis auf ihre ‚Herkunft‘ zurückgewiesen. Anders als vielleicht zu erwarten wäre, wird die erzählte Situation von Alicja Pajak selbst allerdings nicht in erster Linie als eine Erzählung über eine rassistische Diskriminierungserfahrung präsentiert. Sie scheint den rassistischen Gehalt des Erlebnisses sogar eher zu relativieren als zu skandalisieren. Nichts desto trotz dürfte das Erlebnis einschneidend gewesen sein, ist damit doch die bedrohliche Erfahrung verbunden, dass das peerkulturelle Umfeld keinen Raum bietet, in dem sich die Biographin sicher fühlen kann. In der Deutung der Erzählerin wird die Geschichte jedoch in einen anderen Relevanzzusammenhang gestellt: Zentral ist für sie die Reaktion, die das Handeln des erzählten Ich bei einer signifikanten Anderen auslöst: Die Mutter der Biographin reagiert „geschockt“, als diese unerwartet von der Schule nach Hause kommt, wobei Alicja Pajak dieses Entsetzen nicht als Empörung über den rassistischen Vorfall selbst interpretiert, sondern als Reaktion auf das Erleben ihres hilflosen Kindes („ihr Kind so zu erleben“). Mit ihrer Flucht vor ihren Angreifern ist – so die Deutung der Erzählerin – eine Erschütterung der mütterlichen Erwartung an ihr „starkes Kind“ verbunden. Hilflosigkeit zu zeigen und Schutz zu suchen entspricht möglicherweise nicht der Normalitätserwartung, die Alicja Pajak von ihrer Mutter an sich gerichtet sieht. Diese wahrgenommene Erwartung scheint vielmehr den Anspruch zu beinhalten, sich nicht als verletzlich, sondern als stark zu zeigen („nach außen [wie ein] Fels“). Indem sie wegläuft und sich damit defensiv verhält, irritiert sie das bisherige (Selbst- und Fremd-)Bild des Kindes, das es gewohnt ist, sich „immer alleine durch[zu]setz[en]“. Indem sie ihre damalige Fluchtreaktion als herausgehobenes Ereignis, als eine Art ‚Ausnahmesituation‘ präsentiert, konstruiert sich Alicja Pajak implizit als starke Akteurin, die Verletzungen durch andere – bis auf wenige Ausnahmen – zu trotzen gelernt hat. Die Haltung der Biographin gegenüber der Welt, die mit der Figur des starken Kindes und dem Bild eines „Fels“ beansprucht wird, vermittelt Unerschütterlichkeit. Auffällig ist, dass sie mit dieser Darstellung die wahrgenommene Sichtweise ihrer Mutter ungebrochen fortführt: Indem Alicja Pajak sich von ihrem damaligen Verhalten distanziert („bin ich eigentlich überhaupt nicht der Typ für“), wird das Zeigen von Hilflosigkeit nach wie vor als Abweichung von dem Ideal eines „stark[en]“ Selbst konstruiert und delegitimiert. Damit übernimmt sie implizit die wahrgenommene Norm des „stark[en] Kind[es]“. Nicht der vordergründige Skandal, nämlich das Handeln der Mitschüler*innen und das Nicht-Eingreifen der Lehrer*innen in dieser Situation bildet den Fokus der Erzählung, sondern das eigene Scheitern an der (vermuteten) mütterlichen Erwartung, auch in einer solchen Situation „stark“ zu sein und sich die Verletzung nicht anmerken zu lassen. Zwar nimmt Alicja Pajak wahr, dass es ihr mit zunehmendem Alter schwerer fällt, diesem Anspruch zu genügen. Der Umstand, dass das ‚Scheitern‘ daran nahezu entschuldigt
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werden muss („muss ich zugeben“) zeigt jedoch auf, dass es sich um eine für die Biographin bis heute wichtige Handlungsmaxime zu handeln scheint.16 Aus einer Außenperspektive betrachtet lässt sich vermuten, dass die Orientierung an der Norm des scheinbar unverletzlichen „starke[n] Kind[es]“, die Alicja Pajak für sich in Anspruch nimmt, nicht nur Handlungssouveränität ermöglicht, sondern auch ein nicht unbeträchtliches biographisches Risikopotenzial für das Verhältnis zu sich selbst und die Gestaltung von sozialen Beziehungen impliziert. 10.2.4 Die widerständige Erfüllung eines Bildungsprogramms – Alicja Pajaks Schulbiographie Alicja Pajak setzt ihre Erzählung gemäß der Orientierung am bildungsinstitutionellen ‚Normalverlauf‘ fort. Auf die Grundschule folgt der Übergang in eine weiterführende Schule nach der vierten Klasse. Übergang zur Realschule A: Und ähm - ja, dann war natürlich die Frage irgendwann Realschule oder Gymnasium, Empfehlung war für Gymnasium, aber, ich wollte unbedingt auf die Realschule weil genau diese Freunde (markiert Anführungszeichen in der Luft) auch auf diese Schule gegangen sind. (5/16-18)
Die Frage nach dem Übergang in die weiterführende Schule wird zu einem institutionell vorgegebenen Zeitpunkt unweigerlich virulent. Dabei stehen zwei Alternativen im Raum: Realschule oder Gymnasium. Während die Grundschullehrerin den Besuch des Gymnasiums empfiehlt, favorisiert die Erzählerin die Realschule. Den Hintergrund dafür bildet die Orientierung an ihren Peers, die auf die Realschule wechseln. Bei diesen Freunden handelt es sich bemerkenswerterweise um „genau diese“, die Alicja Pajak in der dritten Klasse diskriminiert und ausgegrenzt haben. Dieser Umstand wird hervorgehoben, aber nicht weiter erläutert. Die Freundschaft mit den vormaligen Angreifer*innen kann dabei einerseits als Strategie interpretiert werden, die eine biographische Transformation der Ausgrenzungserfahrungen ermöglichte. Andererseits wird die Basis der eigenen Schulwahlentscheidung durch diesen Hinweis auch retrospektiv infrage gestellt. Von außen betrachtet impliziert die Wahl der Realschule die Entscheidung für eine statusniedrige Schulform trotz der Gymnasialempfehlung und bedeutet den Verzicht auf die Möglichkeit eines direkten Wegs zum Abitur. Das Handeln der Biographin orientiert sich somit nicht an langfristigen Bildungszielen. Die Orientierung an den Peers scheint für Alicja Pajak wichtiger zu sein. Die Entscheidung für die Realschule statt für das Gymnasium kann dabei im Zusammenhang mit der fehlenden Erfahrung und der Unvertrautheit mit weiterführenden Bildungswegen in der Familie gelesen werden: Zwar gibt es auf Seiten von Alicja Pajaks Mutter deutliche Bil16 Dies zeigt sich auch an einer zweiten Interviewpassage, in der ich Alicja Pajak erneut auf die erzählte Episode anspreche. Auch hier legt sie den normativen Maßstab des starken Kindes zugrunde, indem sie ihre damalige Fluchtreaktion als Ausdruck eines „schwache[n] Moment[s]“ deutet.
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dungsaspirationen, diese finden aber keine Entsprechung in eigenen Erfahrungen mit höherer Formalbildung, und es gibt auch keine Hinweise auf andere Personen im sozialen Umfeld der Familie, die als Ratgeber*innen hätten fungieren können. Die Entscheidung für die Realschule entspricht also möglicherweise neben den von der Erzählerin angeführten Gründen auch einem ‚intuitiven‘ Festhalten an einem Bildungsweg, der in der Traditionslinie des sozial Vertrauten steht (wobei auch mit dem Abschluss der Realschule der formale Bildungsstatus der Eltern bereits überschritten würde). Einer zweiten Lesart zufolge kann die Entscheidung aber auch als Hinweis darauf gedeutet werden, dass Alicja Pajak sich dem Aufstiegsimperativ, der mit der Migrationsgeschichte der Eltern verbunden ist, an dieser Stelle erstmalig widersetzt. Dies wird möglich durch die Orientierung an Freund*innen, deren Verhältnis zur Biographin allerdings zumindest nicht fraglos geklärt ist. Auf spätere Nachfrage nach der Position der Eltern der damaligen Übergangsentscheidung wird deutlich, dass Alicja Pajaks Mutter die Gymnasialempfehlung gerne umgesetzt hätte: A: ja meine Mama, meine Mama wollte natürlich dass ich aufs Gymnasium gehe aber - ähm ich weiß nicht warum also ich glaub - ich hab mich dann im Prinzip halt deshalb durchgesetzt weil ich - ja (lacht) ja rumgeschrien und rumgeheult hab ne? könnt ich mir vorstellen. So ganz genau erinner ich mich jetzt nicht daran wie es zu dieser Entscheidung dann kam dass ich mich durchgesetzt hab aber - nehm ich mal an ne, dass ich dann halt gesagt hab ne, is nich, fertig. Mama dann halt irgendwie nachgegeben hat oder so. Ja und vor allem weil die Option ja dann wahrscheinlich für sie dann na ja okay dann geht sie halt nach der Zehn aufs Gym ne? Weil für mich war dass ich Gymnasium mache vorprogrammiert von vorne rein. (26/1-8)
Der Entscheidung für die Realschule geht ein Konflikt zwischen Mutter und Tochter voraus, in dem Alicja Pajak sich gegen die Mutter „durchgesetzt“ hat. Der Vater spielt in der Darstellung dagegen keine Rolle. Die beschriebene Szene und die Selbstdarstellung der Biographin erinnern dabei an die bereits geschilderte Situation bei dem Besuch der Großmutter in Polen: Alicja Pajak inszeniert sich als durchsetzungsfähiges Kind mit einem starken Willen, das gegen den Wunsch der Mutter handelt, die schließlich „nachgeben“ muss. Dabei markiert sie, dass das Nachgeben der Mutter nicht bedeutet, dass diese ihre Bildungsambitionen für ihre Tochter aufgegeben hätte. Die Biographin deutet das Unterliegen ihrer Mutter in dem beschriebenen Machtkampf rückblickend eher als eine temporäre Zurücknahme der eigenen Wünsche an die Bildungslaufbahn der Tochter. Diese werden lediglich aus der Berechnung heraus zurückgestellt, dass der Wechsel ins Gymnasium auch noch zu einem späteren Zeitpunkt („nach der Zehn“) möglich ist. Auffällig an Alicja Pajaks Darstellung ist insbesondere die Aussage „für mich war dass ich Gymnasium mache vorprogrammiert von vorne rein“. Diese Formulierung könnte als Ausdruck einer souveränen Selbstpositionierung der Erzählerin gelesen werden, die ihre gymnasiale Eignung nicht anzweifelt. Im Gesamtzusammenhang der Erzählung lässt sich jedoch eine andere Lesart plausibilisieren. Die Frage nach der Schulwahl und der weiteren Schullaufbahn wird abgelöst vom eigenen Wollen und Handeln; sie scheint vielmehr einer außengesteuerten Logik unterworfen zu sein. Alicja Pajak selbst spricht sich mit dieser Deutung keine Handlungsfähigkeit zu, sondern konstruiert sich als Objekt eines durch ihre Mutter vorgegebenen Pro-
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gramms, das vorsieht, dass sie das Abitur erlangt. Zu diesem vorgezeichneten Weg gibt es letztlich keine Alternative, das Durchlaufen des Programms kann durch den eigenen Widerstand lediglich aufgeschoben bzw. verzögert werden. Die ‚Durchsetzung‘ der Entscheidung für die Realschule erscheint vor diesem Hintergrund lediglich als eine vordergründige Illusion von erkämpfter Freiheit und Selbstbestimmung, die aber nichts Grundsätzliches an der Heteronomie des ‚vorgeschriebenen‘ Weges ändert. Mit Blick auf die weitere Erzählung muss dies als eine Erfahrungshaltung gedeutet werden, die sich für die biographische Konstruktion der Erzählerin insgesamt als zentral erweist. Boykott des Matheunterrichts Der Besuch der Realschule wird zunächst als routinemäßiges Durchlaufen des institutionellen Bildungsprogramms konstruiert, dessen Anforderungen Alicja Pajak ohne Anstrengungen bewältigt („die [Realschule, D.S.] hab ich dann - ja locker halt durchgemacht“). Allerdings wird dann ein Ereignis angekündigt, das den ‚Normalverlauf‘ erneut relativiert A: dann musst ich aber in der zehnten Klasse weil ich (lacht) das ist auch echt krass also da wunder ich mich wirklich über mich und ich - e=e=ich wunder mich und ich verfluche mich heute /(lachend) dafür dass ich das/ wirklich so gemacht hab weil - ganz normal ne, von der achten aufe neunte - Lehrerwechsel. I: mhm A: So. /(lachend) Ich hatte aber in der achten und siebten halt/ ph na ich hab - Frau Mika hieß sie, ich hab sie geliebt die Frau, das war für mich eine Göttin, und neunte Klasse kam dann Frau Birkemeyer, in Mathe. /(lachend) Und als ich gehört hab ich hab Frau Birkemeyer in Mathe hab ich mich so dahingesetzt, Dorothee, mit fünfzehn, ne?/ Nä. Ich mach bei Ihnen kein Mathe. Naja, werden wir noch sehen, ne, Lehrer halt, ich hab zwei Jahre die Frau - ich hab das versteh ich heute erst, ne, ich hab sie auch nachher wieder getroffen, ähm - die kam wirklich sogar in den Klausuren zu mir, Alicja versuch doch - ne, in den Stunde hab ich Fotos gemacht, irgendwelche Leute mit Sachen beworfen Briefchen geschrieben den Unterricht gestört a=zwei Jahre hab ich das durchgezogen musst dir mal reinziehen ey. Ja klar fehlen mir diese zwei Jahre deswegen musst ich in der zehnten dann ne Nachprüfung machen, ich hab halt ihr gesagt so ja nee, ich mach bei Ihnen kein Matheunterricht, Sie haben mir meine Lehrerin weggenommen. Dabei konnte die Frau ja nichts dafür. (5/22-39)
Der Auslöser für eine Entwicklung, die als Abweichung vom ‚normgerechten‘ Durchlaufen der Schullaufbahn dargestellt wird, ist ein „Lehrerwechsel“ nach der siebten Klasse. Dies bedeutet insofern einen Bruch, als Alicja Pajak dadurch ihre Lieblingslehrerin verliert, der sie sich affektiv verbunden fühlt („ich habe sie geliebt“, „Göttin“). Mit diesen Formulierungen distanziert sich die Biographin dabei dabei von ihrer damaligen Verehrung der Lehrerin. Alicja Pajak schildert, wie sie der Ohnmacht, die mit dem Verlust der Lieblingslehrerin verbunden ist, mit einer Blockadehaltung begegnet: Sie verweigert der neuen Lehrerin ihre Gefolgschaft und weist deren Versuche zurück, sie doch noch für die Mitarbeit zu gewinnen. Zudem unterläuft sie die Erwartungen an ein diszipliniertes Verhalten im Unterricht, indem sie ihre Energie darin investiert, andere abzulenken und systematisch zu stören. Alicja Pajak reagiert damit auf einen institutionellen
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Routinevorgang (ein Lehrer*innenwechsel ist „ganz normal“) mit persönlicher Wut und Verletzung. Ihre Blockadehaltung und -praxis scheint auf eine emotionale ‚Bestrafung‘ der Pädagogin ausgerichtet zu sein. Der institutionelle Vorgang wird damit zu einer persönlichen Angelegenheit gemacht. Die Lehrerin wird nicht in ihrer Rolle als Professionelle wahrgenommen, die als Funktionsträgerin in einer Organisation agiert, sondern ihr wird die Schuld für den Verlust ihrer Vorgängerin persönlich angelastet („Sie haben mir meine Lehrerin weggenommen“). Der ‚Boykott‘ des Matheunterrichts wird von Alicja Pajak retrospektiv als eine Anekdote präsentiert, mit der sie sich wiederholt als willensstarkes Subjekt inszeniert: Sie konstruiert sich als trotzige Schülerin, die es vermag, zwei Jahre lang hartnäckig allen Versuchen zu widerstehen, sie zur Mitarbeit zu motivieren. Die Darstellung des eigenen widerständigen Handelns muss dabei als retrospektive Inszenierung betrachtet werden, denn es ist kaum denkbar, dass ein derartiger Boykott tatsächlich zwei Jahre lang von der Schule geduldet wird. Zugleich zeigt sich in der vorgezogenen Evaluation („ich wunder mich und ich verfluche mich heute dafür“), dass inzwischen ein Reflexions- und Distanzierungsprozess stattgefunden hat. Dieser ist vermutlich nicht zuletzt auf die langfristigen Konsequenzen ihres Handelns zurückzuführen: Alicja Pajak wird vor Augen geführt, dass die Folgen ihres ‚Boykotts‘ keineswegs auf die Lehrerin, sondern auf sie selbst zurückfallen. Sie erfüllt die Anforderungen in Mathematik nicht, die notwendig wären, um den Realschulabschluss zu erreichen. Diese längerfristigen Folgen des eigenen Handelns werden in der damaligen Situation aber nicht antizipiert. Sie können zudem durch eine Nachprüfung in Mathe kompensiert und geglättet werden und bleiben damit letztlich ohne formale Konsequenz für die Schullaufbahn der Biographin. Obgleich Alicja Pajak ihr eigenes Handeln im Nachhinein unverständlich erscheint führt diese Reflexion der negativen Folgen nicht zu einer durchgehenden Distanzierung davon; vielmehr ermöglicht es die anekdotenhafte Darstellung der Erzählerin, das ‚Bündnis‘ mit dem erzählten Ich aufrecht zu erhalten und die Selbstinszenierung als starkes Subjekt fortzuführen. Die reflexive Distanzierung bleibt damit brüchig. Übergang ins Gymnasium Die Hürde, die mit der Mathematiknachprüfung am Ende der zehnten Klasse verbunden ist, wird von Alicja Pajak erfolgreich bewältigt. Dass sie am Ende der zehnten Klasse auch die Qualifikation erlangt, die ihr den Weg für den Besuch des Gymnasiums ebnet, wird nicht thematisiert, geht jedoch aus dem weiteren Verlauf des schulischen Bildungsweges hervor. Sie thematisiert den Übergang folgendermaßen: A: ja ich hab diese Nachprüfung /(lachend) wirklich geschafft ich hab keine Ahnung wie/ und kann_ ja wie, ja klar ich wollte aufs Gymnasium deswegen hab ichs dann geschafft, ist ja klar /(lachend) wenn man was will dann schafft man das auch/ - ähm - ja und dann bin ich aufs Gymnasium gegangen (schnalzt) (6/24-27)
Alicja Pajak erklärt nicht, wie es dazu kam, dass sie ihre immensen Lücken im Fach Mathematik bis zu der Nachprüfung so weit kompensieren konnte, dass sie diese erfolgreich bewältigen konnte. Sie hat im Nachhinein „keine Ahnung, wie“ sie die Nachprüfung bewältigt hat. Damit erscheint das Bestehen der Prüfung als ein Ge-
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schehen ohne Akteur*innen. Ob Alicja Pajak in der Vorbereitung auf Unterstützung zurückgreifen konnte, bleibt offen. Sie führt es auch nicht auf eigene Anstrengungen, Lernstrategien und Leistungen zurück und rechnet es sich damit nicht selbst zu. Es wird allerdings ein Erklärungsversuch nachgeschoben: „ja klar ich wollte aufs Gymnasium deswegen hab ichs dann auch geschafft“. Mit der generalisierenden Aussage „wenn man was will dann schafft man das auch“ wird die Macht des eigenen Wollens unterstrichen. Damit schreibt sich die Biographin nun unerwartet ein Bildungsstreben zu, das in dem Wunsch zum Ausdruck kommt, nun doch das Gymnasium besuchen zu wollen. Der Hintergrund dieser Ambitionen bleibt allerdings undeutlich; die Aussage wirkt – auch durch die gewählte sprachliche Form einer allgemeinen ‚Alltagsweisheit‘ – eher wie eine Floskel, die der Erklärung der bestandenden Nachprüfung dient. Auch im Nachfrageteil kann der handlungsschematische Anspruch der Orientierung an weiterführender Bildung nicht plausibilisiert werden. Auf die Frage, wie es dazu kam, dass sie nach der zehnten Klasse ihren Bildungsweg auf dem Gymnasium fortsetzte, antwortet Alicja Pajak: A: äh (3) ja also ich glaube wos dann halt wirklich schon Abschlussklasse war - wars einfach äh - ich hab mich halt nirgendswo beworben und ich hatte nur die Option aufs Gym zu gehen, wollte - is klar irgendwo wollt ichs schon. Ähm - ja irgendwann wars so sch_weil=so es war auf jeden Fall äh klar dass ich ne weiterführende Schule besuchen werde. Für mich auch so. (26/21-24)
Der Übergang in die gymnasiale Oberstufe wird hier nicht als Ergebnis eines eigenen Handlungsentwurfs, sondern als logische Konsequenz nicht wahrgenommener Alternativen (Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz) dargestellt. Dabei nimmt Alicja Pajak eine Beobachterinnenperspektive auf die Geschehnisse ein und plausibilisiert ihre Beweggründe nicht näher. Sie nimmt zwar retrospektiv in Anspruch, den Besuch des Gymnasiums angestrebt zu haben, die Formulierung „irgendwo wollte ichs schon“ bleibt dabei jedoch sehr vage und wird nicht inhaltlich gefüllt. In dieser Konstruktion zeigt sich eine Struktur, die sich als charakteristisch für den Fall erweist: Die Biographin schreibt sich keine Kontrolle und Verantwortung über ihre Handlungen zu, sondern betrachtet das eigene (Nicht-)Handeln und dessen Konsequenzen gewissermaßen von außen. Alicja Pajak sieht sich nicht als Akteurin ihres Bildungsweges, sondern vielmehr als Ausführerin eines bereits feststehenden ‚Programms‘, das den Besuch des Gymnasiums nun einmal vorsieht („es war auf jeden Fall klar dass ich ne weiterführende Schule besuchen werde“). Der Oberstufenbesuch stellt sich somit als Konsequenz der Orientierung an einem vorgegebenen Weg dar, dem die Biographin sich auf Dauer nicht verweigern oder entziehen kann. Im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte stellt der Übergang ins Gymnasium also eine Art ‚Rückkehr‘ auf diesen vorgegebenen Weg dar, den Alicja Pajak dem Bildungsstreben ihrer Mutter zuschreibt und den sie gewissermaßen stellvertretend für diese beschreitet.
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Dolmetscherinnen-Ausbildung – „schneller sein wollen als die anderen“ Die Biographin folgt diesem ‚Bildungsprogramm‘ aber auch weiterhin nur widerstrebend. So bricht sie die gymnasiale Oberstufe noch in der elften Klasse wieder ab und schert damit erneut aus dem „vorprogrammiert[en]“ Weg aus. A: hab dann aber leider, ich Trottel, zwei Monate bevor ich die Elf zuende absolviert hätte, abgebrochen, weil ich äh - herausgefunden hab ich weiß nicht so mittlerweile muss ich sagen so f=schon damals so dieses - schneller sein wollen als andere irgendwie. Ich hab halt herausgefunden dass es in A-Stadt halt ein Dolmetscher_, damals wollt ich Dolmetscherin werden, Dolmetscherinstitut gibt wo du mit Realschulabschluss hindarfst. (6/29-33)
Der Schulabbruch und der Beginn einer Dolmetscherinnenausbildung an einem privaten Institut folgen einem impulsiven Entschluss, mit dem Alicja Pajak versucht, schnell zu einem berufsqualifizierenden Abschluss zu kommen. Was sie mit dieser Tätigkeit inhaltlich verband und welche Perspektiven daran geknüpft waren, bleibt hingegen unbestimmt.17 Denkbar ist, dass die eigene Zweisprachigkeit einen Ausgangspunkt für diesen berufsbiographischen Entwurf bildet; dies wird von der Erzählerin aber nicht thematisiert. Auch die Wahl eines privaten Dolmetschinstituts wird lediglich mit einem formalen Argument begründet: Die Ausbildung ist für Personen mit Realschulabschluss möglich. Angesichts der prekären ökonomischen Lage von Alicja Pajaks Eltern erscheint diese Wahl zumindest überraschend und wirft die Frage nach der finanzielle Grundlage für die Ausbildung auf. Die Biographin präsentiert sich hier zwar als Akteurin, unternimmt aber keinen Versuch, die Hintergründe ihre Entscheidungen auszuführen, so dass sie für Außenstehende nachvollziehbar werden könnten. Vielmehr distanziert sie sich unmittelbar von ihrer Entscheidung. In einer VorabEvaluation wird der Abbruch der elften Klasse als Fehler bilanziert („ich Trottel“, „leider“). Alicja Pajak deutet ihre damalige Entscheidung nachträglich als Ausdruck eines allgemeinen Handlungsmusters: des Bestrebens, „schneller sein wollen als andere“ und auf ‚Abkürzungen‘ zu einem anerkannten Berufsabschluss zu gelangen. Mit dieser Erklärung positioniert sie sich in einem Wettbewerbsverhältnis zu ihren Klassenkamerad*innen, die sie in einer Art ‚Hase-und-Igel‘-Spiel auszutricksen sucht. 17 Dies gestaltet sich auch im Nachfrageteil ähnlich, als Alicja Pajak erneut auf die Hintergründe der damaligen Entscheidung angesprochen wird: A: Ja das war auf jeden Fall nach dem Halbjahreszeugnis - m - ich weiß gar nicht warum ich auf die - warum ich das wollte. (2) mh. Ich glaube einfach wirklich aus dem Grund weil mir das alles irgendwie - so zu langsam ging und mich gelangweilt hat. Jetzt nochmal drei Jahre Schule und dann nochmal was und dann nochmal was - ja und irgendwie muss ich halt auf dies Dolmetscherding oder vielleicht hab ich mich auch selber informiert weil ich weiß dass ich damals auf jeden Fall halt so in diese Richtung gehen wollte - ja und irgendwie muss ich das dann halt rausgefunden haben dass es diese Möglichkeit gibt. Und hab mir halt den Plan im Kopf den unbedachten und undurchdachten Plan im Kopf zurechtgelegt von äh von wegen - ja alles klar geh ich dahin zieh nach A-Stadt, ne - und - bin dann in drei Jahren fertig. Quasi. (1) (26/3-11)
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Der vorzeitige Abbruch der Oberstufe zugunsten einer ‚schnellen‘ Ausbildung verweist erneut auf eine Distanz der Biographin gegenüber höherer formaler Bildung, die an dieser Stelle die Oberhand gegenüber der Erfüllung des mütterlichen ‚Bildungsprogramms‘ gewinnt. Der Abbruch erfolgt vermutlich nicht zufällig am Beginn der gymnasialen Oberstufe, d.h. an einem Punkt der schulischen Laufbahn, an dem die Anforderungen zunehmend wissenschaftsorientiert werden. In dem Bestreben den Bildungsweg an dieser Stelle abzukürzen, kommt aber auch eine Logik zum Ausdruck, die auf die Position der Familie im sozialen Raum verweisen: Die Orientierung an einer überschaubaren Ausbildungszeit, einem schnellen Einstieg ins Berufsleben und der finanziellen Entlastung der Eltern sowie das eher instrumentelle Verständnis von Bildung als Medium des sozialen Aufstiegs reflektieren eine eher zweckorientierte Bildungshaltung, die sich gewissermaßen ‚hinter dem Rücken‘ der Biographin reproduziert. Höhere Formalbildung hat in der Familie keine Tradition und es gibt keine Erfahrungen mit den damit verbundenen langen Bildungszeiten.18 Bildung wird in erster Linie als Mittel sozialen um Aufstieg verstanden. So dokumentiert sich in der Haltung der Mutter, die im Verlauf des Interviews immer wieder thematisiert wird, durchaus ein deutliches Bildungsbewusstsein, das sich darin zeigt, wie hartnäckig sie das Ziel verfolgt, ihre Tochter zum Besuch des Gymnasiums zu bewegen. Auch die Migrationsentscheidung der Eltern ist unter anderem mit dem Wunsch nach einer verbesserten Zukunft für die Kinder durch Bildung begründet worden. Dabei hat Bildung jedoch in erster Linie die Bedeutung von Qualifikation, sie wird als Mittel zur Verbesserung der Lebenschancen betrachtet. So lässt es sich erklären, dass Alicja Pajak nicht von Widerständen ihrer Mutter gegen die Entscheidung für den Schulabbruch und die Dolmetscherinnenausbildung berichtet. Die Eltern unterstützen das Vorhaben sogar ökonomisch – trotz ihrer prekären finanziellen Lage. A: Weil - ähm - meine Eltern mussten das ja - also meine Eltern sind ja bis heute sehr - arm eigentlich. Und eh meine Mama hat immer gesagt so lange ihr euch bilden wollt werde ich alles tun damit wir euch das ermöglichen können. Und äh - das war damals - also das Ticket f_f_war irgendwie so um die hundert Euro - und zwei Sprachen waren irgendwie glaub ich - weiß nicht, - so irgendwie kamen wir auf knapp über f_über fünfhundert Euro rum im Monat für die Schule ne - mit dem Ticket (27/20-25)
In dieser Haltung kommt einerseits ein hohes Bewusstsein für die Bedeutung von Bildung zum Ausdruck – die Mutter ist zu hohen Opfern bereit, um ihren Kindern Bildung zu ermöglichen. Andererseits bleibt das Verständnis von Bildung eher instrumentell auf den Aspekt der Qualifikation begrenzt. Bildung erscheint als ein kostbares Gut, das soziale Mobilität ermöglicht und durch ökonomische Investitionen erworben werden kann. Es ist deshalb denkbar, dass Alicja Pajaks Ziel, schnell einen
18 Die Unvertrautheit mit langen Bildungszeiten zeigt sich auch an anderer Stelle: Alicja Pajak berichtet, von ihrem Vater nach ihrem ersten Studienjahr danach gefragt worden zu sein, wann sie mit dem Studium fertig sei. Dies wird von Alicja Pajak zwar als scherzhafte Bemerkung gedeutet, dennoch verweist sie darauf, dass lange Bildungszeiten in der Familie keine Selbstverständlichkeit darstellen.
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anerkannten beruflichen Abschluss zu erlangen, als eine Art Kompromiss von der Mutter akzeptiert und mitgetragen wird. Die Handlungsmaxime, möglichst zeitsparend zu einem berufsqualifizierenden Abschluss zu gelangen, geht jedoch nicht auf. Die begonnene Ausbildung scheitert nach kurzer Zeit – erwartbar – u.a. an fehlenden ökonomischen Ressourcen. Die praktizierte Abkürzungsstrategie erweist sich damit nicht nur als unwirksam, sondern ist letztlich sogar kontraproduktiv, insofern als sie Biographin in ihrem Bildungsweg zurückwirft und den Erwerb einer anerkannten Qualifikation hinauszögert. Alicja Pajak legitimiert ihren Abbruch der Ausbildung – der einer erneuten Normverletzung gleichkommt – retrospektiv mit dem Verweis auf das schlechte „Preis-Leistungs-Verhältnis“ und die fragliche Qualifizierung der Dozent*innen an dem Institut. Damit führt sie marktwirtschaftliche Argumente ins Feld, die einerseits den Status des Instituts als Privatunternehmen reflektieren, andererseits aber auch als erneuter Ausdruck eines instrumentellen Verständnisses von Bildung interpretieren lassen: Das Institut erscheint als Dienstleistungsunternehmen, das ein Produkt verkauft und einen nicht angemessenen Preis dafür verlangt. Die eigene Rolle wird dabei auf die einer Kundin reduziert, die mit dem gekauften Produkt nicht zufrieden ist. Die begonnene Ausbildung erscheint als eine Art ‚Fehlkauf‘, der einen Rücktritt von der Kaufentscheidung legitimiert. Zugleich wird die Verantwortung für das Scheitern der Abkürzungsstrategie damit relativiert bzw. teilweise an externe Handlungsträger (den ‚Bildungsanbieter‘) delegiert. Zweiter Anlauf zum Abitur Auf den gescheiterten Versuch der Dolmetscherinnenausbildung folgt keine Orientierungsphase, sondern die entstandene biographische Leerstelle wird von der Biographin sofort durch neue Aktivitäten gefüllt: Alicja Pajak nimmt über ein Zeitunternehmen eine Beschäftigung in Schichtarbeit bei einer Kosmetikfirma auf. Es dokumentiert sich darin einerseits ihre Fähigkeit, trotz ‚Fehlschlägen‘ Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und sich ‚nicht unterkriegen‘ zu lassen. Die Involvierung in Schichtarbeit lässt jedoch eine Reflexion eigener Wünsche, eine Revision der Gründe und Umstände für das Scheitern der Handlungsstrategie und die vorausschauende Entwicklung einer längerfristigen (Planungs-)Perspektive kaum zu. Der Mangel an längerfristigen Perspektiven zeigt sich u.a. darin, dass Alicja Pajak sich scheinbar wahllos um Ausbildungsplätze bewirbt, ohne dass sie ihre Bewerbungsstrategie begründen oder im Nachhinein plausibilisieren bzw. sinnhaft aneignen kann. A: ich hab mich nebenher natürlich beworben für Ausbildungen aber so ganz stumpf ne also so ganz Standard, Kauffrau äh - Bürokauffrau ich wusste gar nicht was das fürn Beruf ist, Hauptsache irgendwat, ne? (lacht) So, wirklich, und das wär auch /(lachend) sowas von gar nichts für mich gewesen, ich bin halt voll nicht/ der Typ dafür so Kauffrau - Mathe, hallo? (lacht) Aber egal da=damals gings halt /(lachend) nur um n Ausbildungsplatz, ne? (7/4-9)
An dieser Stelle tritt Alicja Pajaks Mutter jedoch erneut als Handlungsträgerin auf, die in den Bildungsweg der Tochter eingreift, indem sie diese davon zu überzeugen versucht, doch noch ihr Abitur zu machen.
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A: ja und zu der Zeit hab ich jeden Tag von meiner Mutter fünf Stunden zu hören bekommen, Kind du musst dein Abitur machen, Kind du musst dein Abitur machen, /(lachend) bis ich irgendwann so die Schnauze voll hatte/ (…) Ja, und dann hab ich mich zum Glück von meiner Mama breitschlagen lassen, (7/2-11)
Die Appelle ihrer Mutter werden in Alicja Pajaks Darstellung in erster Linie als ein hartnäckiges Drängen beschrieben, mit dem die Mutter ihr ‚in den Ohren liegt‘. Die Perspektiven, die mit dem formalen Qualifikationsziel – dem Erreichen des Abiturs – verbunden sein könnten, bleiben dagegen unbestimmt. Die Biographin reagiert schließlich auf das Drängen ihrer Mutter, weil sie „die Schnauze voll“ hat. Das Abitur nachzumachen wird damit wiederum nicht auf eigene Beweggründe zurückgeführt, sondern als Resultat eines passiven ‚Sich-Breitschlagen-Lassens‘ durch die Mutter konstruiert. Diese Haltung präformiert auch den weiteren Verlauf von Alicja Pajaks Schullaufbahn. „Ich hab da halt von vornerein nicht reingepasst“ – Inszenierung sozialer Fremdheit in der Oberstufe Alicja Pajaks Rückkehr ans Gymnasium ist von Schwierigkeiten auf verschiedenen Ebenen begleitet: Die Rückkehr in die alte Schule an ihrem Wohnort ist faktisch unmöglich, da die Biographin ihren Mitschüler*innen gegenüber das Scheitern ihres versuchten ‚Überholmanövers‘ eingestehen müsste. Die Brüche im Lebenslauf, die durch den Schul- und Ausbildungsabbruch entstanden sind, erzeugen zudem Legitimations- bzw. Erklärungsbedarf bei der Bewerbung um einen Platz an einer anderen Schule. Im Aufnahmegespräch mit dem Rektor des Gymnasiums in P-Stadt, an dem sich Alicja Pajak schließlich bewirbt, kann sie ihre Entscheidung nicht zu ihrer eigenen machen, sondern schreibt ihre Rückkehr ans Gymnasium ihrer Mutter zu, die sie zum Besuch der Oberstufe „gezwungen“ habe. An dieser heteronomen Struktur ändert sich auch während der Oberstufenzeit wenig. Alicja Pajak konstruiert die Oberstufenzeit als eine im Wesentlichen fremdbestimmte Bildungszeit, die sie bis zum Ende durchläuft, ohne sich aber damit zu identifizieren. Sie kultiviert eine Oppositionshaltung gegenüber der Schule, die sie mit ihrer damaligen Haltung gegenüber dem Besuch der Oberstufe erklärt. A: ähm - äh da weiter gemacht, allerdings mit der Einstellung und - ja dassss- war glaub ich das hat einiges vorprogrammiert diese Einstellung, ich hab mir - also ich war da halt so gepolt, ich hab meine ganzen Bekannten, ich hab meine Freunde, ich will niemanden anderen kennen lernen, ich mach das hier nur für meine Mutter, und wenn mich jemand was weiß ich solche=wirklich solche Gedanken ne, so, wenn ich rauche und mich dann jemand nach Feuer fragt dann tu ich so als wär ich TAUBSTUMM (lacht), keine Ahnung, wirklich so schon - vorgepolt und eingestellt ne, so=so im Kopf schon vorbereitet falls es so kommt, so reagierst du dann. Na ja also - auf jeden Fall - kam ich dann auch dementsprechend rüber für die Leute ne, die kannten mich halt nicht und ich war auch damals äh - damals hab ich schon nicht zuhause gewohnt, so da bin ich kurze Zeit vorher irgendwie ausgezogen glaub ich, irgendwie so müsste es gewesen sein, auf jeden Fall ähm – (schnalzt) ja, äh, das war halt so ne=so ne Stufe muss ich sagen, (schnalzt) ja aus meiner Perspektive von - verwöhnten Bonzenkindern. (7/29-40)
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Alicja Pajak beschreibt ihre soziale Situation in ihrer Jahrgangsstufe als problematisch, was sie mit der empfundenen Fremdbestimmtheit des Schulbesuchs erklärt, die eine andere Form des Verhältnisses verhindere. Die Formulierungen „vorprogrammiert“ und „vorgepolt und eingestellt“, legen dabei die Vorstellung eines mechanischen Vorgangs nahe, auf den sie sich selbst kaum Einfluss- und Handlungsmöglichkeiten zuschreibt. Der Widerstand gegenüber dem Schulbesuch dokumentiert sich insbesondere in gezielten Abgrenzungsstrategien zu ihren Mitschüler*innen, die u.a. darin zum Ausdruck kommen, dass Alicja Pajak bereits im Vorfeld plant, wie der Kontakt zu ihnen möglichst vermieden werden kann. Auch gibt sie sich als unnahbar und lässt die anderen bewusst im Ungewissen über ihre Person. A: Und keiner wusste was mit mir anzufangen und wo mich reinstecken weil ich ja so ne komische_ mich so komisch gegeben hab. Ne, war ja vollkommene Absicht. (lacht) Ja. Ich brauch euch nicht, was wollt ihr denn? Ne? (28/7-9)
Alicja Pajaks Selbstabschottung verhindert das ‚Erkennen‘ durch andere und erschwert damit den Aufbau sozialer Beziehungen. Das einzige Wissen, das ihre Mitschüler*innen über sie haben, bezieht sich auf ihre Wohnsituation, die offenbar aus dem Normalitätskonzept herausfällt: Alicja Pajak wohnt nicht mehr bei ihren Eltern. Die räumliche Unabhängigkeit von den Eltern stellt in der Oberstufe des P-Städter Gymnasiums offenbar nicht die Regel dar, sondern eine Ausnahme, die Spekulationen und Phantasien der anderen Schüler*innen anheizt. Die neue Mitschülerin wird für die anderen aufgrund ihres fremden Lebensstils zur Repräsentantin einer anziehenden und zugleich etwas beängstigenden sozialen Welt. Alicja Pajak füllt auf diese Weise eine Randposition in der Jahrgangsstufe aus, die jedoch nicht als Opferposition beschrieben wird, sondern von der Biographin selbst ausgebaut und inszeniert wird. Die Erzählerin selbst deutet ihre Distanz gegenüber den anderen als Ausdruck einer absichtsvollen Strategie, mit der sie ihre Unabhängigkeit dokumentiert: A: ich=ich wollte niemanden - niemandem sympathisch sein, deswegen is es mir dann vielleicht irgendwie leicht gefallen mich dann halt so anders zu geben oder - halt nicht um - die Gunst meines gegens=meines=meiner Gegenüber zu kämpfen ne. (8/9-11)
Der Verzicht auf den Kontakt und die Interaktion mit anderen wird (auch noch in der Gegenwartsperspektive) als Ausdruck der eigenen Unabhängigkeit und Stärke gedeutet; ein auf Interaktion und Kontakt ausgerichtetes Verhalten wird mit dem Angewiesensein auf die Zuneigung anderer gleichgesetzt, was als Schwäche erscheint. Damit inszeniert Alicja Pajak sich retrospektiv erneut als ein von anderen unabhängiges, unnahbares Subjekt. Aus einer Außensicht kann die beschriebene Strategie allerdings auch als Ausdruck einer Haltung gelesen werden, die Alicja Pajak davor schützt, für andere ‚erkennbar‘ zu werden und sich gegenüber ihren Mitschüler*innen verletzlich zu machen. Einen Hintergrund dafür kann in den angedeuteten Milieudifferenzen gesehen werden. Ihre Beschreibung deutet darauf hin, dass die Erzählerin deutliche soziokulturelle Differenzen zu ihren Mitschüler*innen wahrnimmt und sie sich in der Jahrgangsstufe als sozial fremd erlebt. Die soziale Zusammensetzung der Schü-
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ler*innen in der Klasse bzw. Jahrgangsstufe unterscheidet sich offenbar dahingehend von der in ihrer alten Schule, dass sie primär von Schüler*innen aus vergleichsweise wohlhabenden Mittelschichtsfamilien besucht wird. An anderer Stelle konkretisiert Alicja Pajak diese Wahrnehmung durch den Hinweis, dass ihre Mitschüler*innen selbstverständlich Geld von ihren Eltern bekommen. Alicja Pajak ist dagegen prekäre finanzielle Verhältnisse gewohnt und kommt selbst für einen Teil ihres Lebensunterhalts auf. Diese soziale Fremdheit im neuen schulischen Milieu wird durch Selbstabschottung und das trotzige Einnehmen einer ‚Underdog‘-Position bearbeitet. Mit dem Ausdruck „verwöhnte Bonzenkinder“ wird die soziale Abgrenzung von den Mitschüler*innen auch noch in der Gegenwartsperspektive aufrechterhalten.19 Die Klassenkamerad*innen werden dabei als homogene, ökonomisch und soziokulturell privilegierte Gruppe konstruiert und die wahrgenommene Mentalitätsdifferenz wird als starre, kaum überwindbare Kluft gedeutet.20 Die Vermeidung von Kontakt und Austausch lässt sich zwar im zeitlichen Verlauf der Oberstufe nicht ungebrochen durchhalten, da ihre Mitschüler*innen beginnen, den Kontakt zu suchen. So ergeben sich im Laufe der Oberstufenzeit durchaus einige Kontakte und auch Freundschaften mit Einzelnen, die auch über die Schulzeit hinaus reichen. Das Verhältnis zu den Mitschüler*innen insgesamt bleibt in Alicja Pajaks biographischer Konstruktion aber widersprüchlich bzw. mehrdeutig. Dies zeigt sich in der Bilanzierung der Biographin: „aber - ja, ich hab da halt - von vornerein nicht reingepasst“. Trotz partieller Annäherungen und Freundschaften positioniert sie sich somit rückblickend als ‚Outcast‘, die der Jahrgangsstufe nicht sozial zugehörig ist. In der Schule macht sie die Erfahrung, dass ihre Leistungen in Englisch (ihrem Leistungsfach) in der Oberstufe deutlich schlechter bewertet werden als zuvor. Die Gründe für diese schlechtere Bewertung erschließen sich Alicja Pajak – auch retrospektiv – nicht. Nach den ersten enttäuschenden Ergebnissen unternimmt sie verschiedene Anstrengungen, um ihre Leistungen zu verbessern, wobei diese Versuche keiner gezielten Strategie, sondern eher dem Muster von Versuch und Irrtum entsprechen. Die Biogaphin gelangt in ihrem Leistungsfach nicht über mit ‚befriedigend‘ bewertete Leistungen hinaus. Allerdings führt diese Erfahrung in der damaligen Situation nicht dazu, dass sie ihr eigenes Vertrauen in ihre Leistungsfähigkeit in Englisch verliert oder ihre Selbsteinschätzung infrage stellt. Sie deutet den Leistungsabfall vielmehr als Ausdruck einer ungerechten Behandlung durch den Lehrer. Zugleich beschreibt Alicja Pajak ihr Engagement für die Schule als gering; ihre Priorität liegt auf der Arbeit neben der Schule, mit der sie sich ihren Lebensunterhalt sichert, sowie auf der gemeinsamen Freizeitgestaltung mit Freundinnen aus der Realschule. Ihr Abitur besteht sie dennoch, wenngleich ihr dies retrospektiv als „halbes Wunder“ (10/39) erscheint. Auch hier zeigt sich wieder die Fremdheit der Biographin gegenüber ihren eigenen Handlungen, die einer handlungsschematischen Hal-
19 Es findet sich kein Hinweis auf eine Unterscheidung zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsperspektive, die sprachlich markiert würde. 20 Die Beschreibung der Klassenkamerad*innen steht in einem Spannungsverhältnis zu einer späteren Passage, in der beiläufig erwähnt wird, dass es mehrere Mitschüler*innen gab, die aufgrund familialer Probleme in betreuten Wohnverhältnissen wohnten.
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tung zur eigenen Biographie und einem Gefühl der „Selbstwirksamkeit“ (Bandura 2003) entgegensteht.21 10.2.5 Zwischenfazit: Bildungsaufstieg als biographisches Vermächtnis Alicja Pajaks biographische Konstruktion bis zum Studium ist durch das Motiv der widersprüchlichen und widerstrebenden Erfüllung des Bildungsauftrags ihrer Mutter bestimmt. Dieser Bildungsauftrag verweist auf die nicht realisierten eigenen Bildungswünsche der Mutter, die an die Tochter weiter gegeben werden und auf die kollektiven Erfahrungen existenzieller Armut in der Eltern- und Großelterngenration der Biographin, die durch die Migration überwunden werden sollen. Die Tatsache, dass das Migrationsprojekt den Eltern enorme Anstrengungen und Belastungen abgefordert hat und sie die Migration dennoch nicht positiv bilanzieren können, verleiht der Erfüllung der mütterlichen Bildungs- und Aufstiegswünsche eine besondere Dringlichkeit. Die Migrationsgeschichte der Familie und ihre negative Bilanzierung durch die Eltern bilden eine entscheidende Hintergrundstruktur für ihre Bildungsbiographie und können auch als ein biographisches Vermächtnis gedeutet werden. Alicja Pajak sieht sich den Bildungs- und Aufstiegserwartungen der Eltern (insbesondere der Mutter) verpflichtet. Die Position als älteste Tochter bildet zugleich die Basis für eine weitere Loyalitätsverpflichtung der Biographin, die sich als diejenige der Schwestern versteht, die – vermittelt über die gemeinsame Sprache – die Brücke zur soziokulturellen Welt ihrer Eltern aufrecht erhält. Diese (doppelte) Loyalität hat Konsequenzen für ihre weitere Bildungsgeschichte. Zugleich zeigen sich immer wieder Autonomisierungsbestrebungen der Biographin, die sich in verschiedenen Situationen gegen die Erwartungen auflehnt. Nachdem Alicja Pajak sich dem durch die Mutter transportierten Aufstiegsimperativ zunächst entzieht, indem sie nach der Grundschule trotz Gymnasialempfehlung entgegen dem Wunsch ihrer Mutter auf die Realschule übertritt, bleibt dieser im Hintergrund nach wie vor bestimmend. Dies zeigt sich nach der zehnten Klasse, als Alicja Pajak in die gymnasiale Oberstufe einmündet, ohne dies zu ihrer eigenen Entscheidung machen zu können. Sie fügt sich an dieser Stelle den Erwartungen ihrer Mutter, kann sich die damit verknüpften Wünsche nach höherer Bildung aber nicht sinnhaft aneignen und mit eigenen Perspektiven füllen. Die geringe Verfügung über kulturelles und soziales Kapital wird in Verbindung mit den hohen Bildungsambitionen der Mutter so zu einem Belastungspotenzial. Dass die Biographin dem mütterlichen ‚Bildungsprogramm‘ nach wie vor nur widerstrebend folgt, zeigt sich in der Entscheidung, die gymnasiale Oberstufe noch in der elften Klasse wieder abzubrechen, um durch eine Dolmetschausbildung „schneller als alle anderen“ zu einem anerkannten beruflichen Abschluss zu gelangen. Die21 Unter Selbstwirksamkeit versteht Bandura (1994) den Glauben an die eigene Fähigkeit, durch Handlungen Einfluss auf das eigene Leben nehmen zu können. Um ein Gefühl der Selbstwirksamkeit entwickeln zu können, sind Bandura zufolge vor allem Erfolgserfahrungen („mastery experiences“ (ebd.: 72)), aber auch soziale Modelle sowie das Vertrauen Dritter in die eigenen Möglichkeiten entscheidend.
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se Entscheidung lässt sich einerseits als ein Versuch lesen, durch einen berufsbiographischen (Gegen-)Entwurf aus dem vorgegebenen ‚Bildungsprogramm‘ auszubrechen. Dabei lassen sich in der Entscheidung gewisse Parallelen zu der Handlungsstruktur erkennen, die in der Erzählung über die Migrationsentscheidung der Eltern zum Ausdruck kam: Dem risikobereiten Handeln ‚auf gut Glück‘ wird Vorrang gegenüber langfristigen Planungen und Abwägungen gegeben. Andererseits verweist die Entscheidung auch auf das Wirksamwerden sozialer Grenzen: Die Aussicht, in absehbarer Zeit mit einem mittleren Schulabschluss zu einem Berufsabschluss zu gelangen, steht den familial verfügbaren Bildungserfahrungen näher als eine verlängerte Bildungszeit bis zum Abitur und scheint dennoch die Erfüllung der familialen Aufstiegserwartungen zu ermöglichen. An dieser Stelle fällt auf, dass es keine Hinweise auf Personen im näheren Umfeld der Biographin gibt, die eine Rolle als Vorbilder oder Mentor*innen einnehmen, mit denen sie sich beraten und alternative Überlegungen zu einer kostenpflichtigen Ausbildung an einem privaten Institut entwickeln könnte. Der ‚schnelle‘ Weg zum Berufsabschluss scheint von allen Beteiligten als legitime Alternative zum Abitur akzeptiert und mitgetragen zu werden, obwohl sein Scheitern absehbar ist. Das Scheitern des bildungsbiographischen ‚Überholmanövers‘ führt Alicja Pajak zwar in eine Orientierungskrise, zieht aber keinen Reflexionsprozess nach sich, der eine veränderte Haltung der Biographin zu sich selbst ermöglichen würde. Zwar dokumentiert der in dieser Zeit erfolgende Auszug aus ihrem Elternhaus ein Streben nach Unabhängigkeit, jedoch kann die Biographin dieses Autonomiestreben nicht auf ihren Bildungsweg übertragen. Alicja Pajak bleibt vielmehr einer Erfahrungs- und Erwartungshaltung verhaftet, die es ihr verunmöglicht, sich als Akteurin ihrer Bildungsbiographie zu konstruieren. Den zweiten Anlauf zum Abitur verbindet sie erneut nicht mit einer eigenen Perspektive, sondern erfährt ihn als Ausdruck der Unterwerfung unter die Wünsche ihrer Mutter. An dieser Erfahrungshaltung ändert sich auch während der Oberstufenzeit wenig. Durch den Rückzug auf die Position der unnahbaren Fremden und die Abgrenzung, die Alicja Pajak gegenüber ihren Mitschüler*innen in der neuen Schule praktiziert, werden soziale Lernerfahrungen durch die Interaktion mit anderen von vorne herein abgewehrt. Die Positionierung der Biographin in der Oberstufe lässt sich dabei einerseits als eine Reaktion auf die verunsichernde Konfrontation mit den differenten sozialen und lebensweltlichen Hintergründen ihrer Mitschüler*innen deuten, die die Herstellung sozialer Zugehörigkeit in diesem schulkulturellen Umfeld erschweren. Andererseits lässt sie sich auch als Ausdruck des impliziten Protests gegen die wahrgenommene Fremdbestimmung ihres Bildungsweges lesen. Der Widerstand wird dabei (erneut) auf eine Weise ausgetragen, die einer Selbstmarginalisierung gleichkommt – die Beschränkung auf die Position der ‚Outsiderin‘. Der soziale Rückzug und die Inszenierung als unnahbare Fremde lassen sich dabei als Strategien deuten, die Schutz vor Entblößung bieten und die eigene Verunsicherung verdecken. Zugleich nimmt sich die Biographin durch ihren sozialen Rückzug aber auch die Möglichkeit, durch die Interaktion mit anderen ihr Verhältnis zu sich selbst zu bearbeiten und zu verändern. Die Selbstpräsentation der Erzählerin oszilliert zwischen der Inszenierung als eigensinniges Subjekt und dem heteronomen Befolgen eines vorgegebenen Weges. Sie präsentiert sich einerseits als eigensinnige Akteurin mit einem starken Willen, den sie bereits als Kind in Konfliktsituationen gegenüber Erwachsenen und Gleichaltrigen
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einsetzen kann. Dieser Selbstkonstruktion als starker Akteurin entsprechen allerdings keine längerfristigen Pläne, Ziele und Perspektiven des erzählten Ich. Die Widerständigkeit des erzählten Ich bleibt vielmehr auf ein situationsbezogenes ‚Gegenhandeln‘ begrenzt, das Konsequenzen nach sich zieht, die negativ auf die Biographin selbst zurückwirken und ihre Handlungsmöglichkeiten nicht erweitern, sondern beschränken. Im Gegensatz zu der vordergründigen Selbstpräsentation als starke Akteurin steht darüber hinaus die Tendenz der Biographin, sich selbst nicht als Subjekt ihrer Biographie, sondern als Ausführende eines schicksalhaften Plans zu präsentieren. Sie nimmt immer wieder eine distanzierte Außenperspektive auf ihr eigenes Tun ein, auf das sie sich selbst wenig Einfluss zuschreibt. Die Selbstdeutung als ‚starke‘, eigensinnige Akteurin korrespondiert also nicht mit Erfahrungen selbstwirksamen Handelns, sondern beide treten auseinander. Die eigenen biographischen Erfahrungen werden der Erzählerin fremd. Man könnte hier in den Worten von Gerhard Riemann (1987) vom „Fremdwerden der eigenen Biographie“ sprechen.22 Damit verfestigt sich das bereits aufgebaute Verlaufskurvenpotenzial.
10.3 „D ASS MIR WIRKLICH N WEG STUDIUM ALS SCHICKSAL
VORGESCHRIEBEN IST “
–
Zum Zeitpunkt des Interviews befindet sich Alicja Pajak am Ende des fünften Studiensemester des Bachelor-Studiengangs Erziehungswissenschaft. Obwohl sie damit objektiv betrachtet nicht mehr am Anfang ihres Studiums steht, zeichnet sich ihr Verhältnis zur Universität durch eine große Distanz aus. Sie hat bislang im Studium nicht Fuß gefasst. Im Folgenden wird näher betrachtet, wie das Studium in die lebensgeschichtliche Konstruktion eingebettet ist und welche biographischen Prozesse und Erfahrungen für Alicja Pajak mit dem pädagogischen Studium verbunden sind. 10.3.1 Studium als ‚Wahl des Schicksals‘ In der Haupterzählung wird das Studium von Alicja Pajak als nächste ‚Station‘ in der Chronologie ihres Bildungsweges angeführt, ohne dass dabei erläutert wird, wie es
22 Riemann hat dieses Phänomen in einer empirischen Untersuchung der Lebensgeschichten von Menschen mit Psychiatrieerfahrungen rekonstruiert. In den Erzählungen rekonstruiert er u.a. die Tendenz des „Sich-retrospektiv-fremd-Machen[s]“ (o.S.). Dies kommt etwa darin zum Ausdruck, dass die Erzählenden ihr Handeln aus ihrer Gegenwartsperspektive als erschreckend oder ihnen selbst unverständlich beschreiben. Auch die Tendenz einer selbstabwertenden (Selbst-)Typisierung, wie sie in der Erzählung von Alicja Pajak immer wieder auffällt, kann als Ausdruck einer solchen Fremdheit sich selbst gegenüber verstanden werden. In Riemanns Untersuchung wird das „Sich-selbst-gegenüber fremd-Werden“ (o.S.) als ein Phänomen beschrieben, das u.a. in Zusammenhang mit Erfahrungen des Leidens unter dem eigenen (wahrgenommenen) Anderssein sowie damit verknüpften Schwierigkeiten in Interaktionsbeziehungen steht.
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zu der Studienentscheidung kam. Im Nachfrageteil bitte ich sie darum, genauer darüber zu erzählen. I: Und ähm kannst du dann nochmal genauer erzählen wies=wies dann weiter gegangen ist, also dieser ähm - ja die Überlegung dann vielleicht ähm - zu studieren. Also dass es überhaupt also ich meine dass es überhaupt dazu gekommen ist dass dus dir überlegt hast zu studieren und dann auch die Sachen ähm also was du dann jetzt machst oder so ähm - ja - kannst du darüber einfach nochmal n bisschen - mehr erzählen? A: Ja - also wie gesagt ich wollte auf jeden Fall Englisch und Philosophielehrerin werden I: mhm A: uuund - ja Englisch war dann ja /(schmunzelnd) gar keine Frage/ ja also dass ich mich fürs=fürs=fürs Studium entschieden hab wann ist das denn gekommen? (2) Ich weiß es gar nicht. Äh ja (2) Ph (3) Ja ich glaub einfach äh - ja so zwölfte rum glaub ich für=wenn=wenn man=wenn man sich dann halt eigentlich bewerben müsste dass für mich dann wahrscheinlich implizit ohne dass ich so darüber nachgedacht hab eigentlich auch, ähm - klar war dass ich studieren gehe ne? Weil Abitur. Abitur, also Studium. (lacht) (28/14-27)
Meine Frage zielt sowohl darauf ab, etwas über die Beweggründe für die Studienentscheidung als solche zu erfahren („dass es überhaupt dazu gekommen ist“) als auch über die Hintergründe der konkreten Studienfachwahl („was du machst“). Die Frage impliziert damit untergründig den Versuch, die Biographin zur Herstellung einer kohärenten Erzählung über ihre Studienentscheidung anzuregen. Alicja Pajak bezieht sich mit ihrer Antwort auf beide Ebenen der Frage, ohne die Erwartung an eine kohärente Erzählung zu erfüllen. Sie begründet zunächst die Studienfachwahl mit dem Hinweis auf ihren damaligen Wunsch, Lehrerin für Englisch und Philosophie zu werden. Damit präsentiert sie einen neuen berufsbiographischen Entwurf, dessen Hintergründe jedoch wiederum nicht erläutert werden. Die angestrebte Studienfachwahl Anglistik und Philosophie entspricht einer Fortsetzung ihrer Leistungskursfächer. Dies ist einerseits als eine übliche Strategie der Studienfachwahl anzusehen (vgl. Multrums/Ramm/Bargel 2011: 2), auf der anderen Seite ist die Wahl insofern überraschend als Alicja Pajak damit ihre lediglich mäßigen Bewertungen im Leistungskurs Englisch ignoriert und gegen den expliziten Rat ihres Englischlehrers handelt, der ihr vom Anglistikstudium abrät. Etwas später zeigt sich, dass sich der Plan nicht umsetzen lässt, sondern an institutionellen Hürden scheitert: In einem Gespräch bei der Studienberatung wird klar, dass Alicja Pajaks Abiturnotendurchschnitt für die Zulassung zum Anglistikstudium nicht ausreichen wird. Im zweiten Teil der Antwort verstärkt sich der Eindruck, dass die Biographin Schwierigkeiten damit hat, ihren Weg ins Studium retrospektiv in einen Sinnzusammenhang einzubetten: Das Studium wird als eine scheinbar unausweichliche Folge des Abiturs konstruiert („Abitur - also Studium“). Die Frage, ob die Eintrittskarte in die Hochschule eingelöst werden sollte, scheint sich damit gar nicht zu stellen, es finden keine Abwägungsprozesse zwischen verschiedenen Alternativen statt, sondern es „[war] klar“, dass Alicja Pajak studieren geht. Die Studienentscheidung ‚geschieht‘ auf diese Weise gewissermaßen ohne eigenes Zutun. Die Biographin konstruiert sich auch hier retrospektiv nicht als Akteurin ihrer Biographie, sondern eher als jemand, die eine Rolle in einer Aufführung übernimmt, auf deren Ablauf sie
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selbst wenig Einfluss hat. Eine Formulierung Pierre Bourdieus (2001: 31) aufgreifend könnte man hier von einer Studienentscheidung als „Wahl des Schicksals“ sprechen. Damit ist allerdings, anders als bei Bourdieu, nicht die Tendenz der sozialen Akteure gemeint, sich für die ihnen habituell nahe liegenden Bildungsoptionen zu entscheiden. Mit der Entscheidung für ein Studium tritt Alicja Pajak ja gerade einen weiteren Schritt aus ihrem Herkunftsmilieus heraus und überschreitet den Horizont der familial verfügbaren Bildungserfahrungen. Hier geht es eher um die nachträgliche Konstruktion einer ‚Schicksalswahl‘, bei der sich Alicja Pajak als Objekt eines heteronom gesteuerten ‚Bildungsprogramms‘ entwirft, das sie ihrer Mutter zuschreibt. Die Studienfachwahl ist – als Folge der mäßigen Abitur-Abschlussnote – deutlichen Beschränkungen unterworfen. Nachdem die Bewerbung für Anglistik am Abiturnotendurchschnitt scheitert, bewirbt sich Alicja Pajak für unterschiedliche Fächer in Kombination mit Philosophie. Die Entscheidung für das Fach Erziehungswissenschaft erfolgt dabei eher zufällig: A: Angenommen wurd ich dann für - Philo Pädagogik, Philo Musik und Philo Sport, aber da bei Musik hab ich den Einstellungstest eh - sowieso ver=verplant gehabt da hätt ich noch vor der Bewerbung hingemusst, eigentlich - wusst ich nich. Also weil irgend_ ich hab mich halt am Anfang überhaupt nicht informiert. Ich hab gedacht - ja passt schon. (…) Und äh - (schnalzt) ja dann - was - dann hatt ich halt die Entscheidung zwischen Philo und Päda und Philo und Sport. Und dann äh - hab ich mich halt, warum auch immer - für Pädagogik entschieden. (29/15-23)
Alicja Pajak hat am Ende die Möglichkeit, zwischen drei Optionen zu wählen. Die Kombination von Philosophie und Musik scheitert jedoch an einer verpassten Aufnahmeprüfung. Dies lässt sich als verpasste Chance interpretieren, insbesondere deshalb, weil an anderer Stelle im Interview erkennbar wird, dass Alicja Pajak ein musikalisches Talent hat und gemeinsam mit ihren Freundinnen aus der Realschule musikalische Aktivitäten entwickelt: A: In der evangelischen Jugend haben Yvonne und ich und die anderen Mädels halt auch nachher wurden wir n bisschen mehr so cliquenmäßig durch die Realschule, äh -Tanzworkshops fi=fings an, und dann haben wir halt eigene Musicals geschrieben und gemacht aufgeführt Preise gewonnen an Wettbewerben teilgenommen Jugendarbeit geleistet Jugendausbildung ebend äh - Arbeiter=Mitar_äh - Mitarbeiter also Ausbildung auch gemeinsam gemacht, also - schon auch viel äh gemeinsam auf die Beine gestellt und das ne? (25/4-9)
Obwohl die musikalischen Aktivitäten hier eher beiläufig eingeführt werden, stechen in dieser Passage die handlungsbezogenen Formulierungen hervor, die sich von der dominanten Darstellungsweise in anderen Passagen des Interviews unterscheiden. Anders als in schulischen Zusammenhängen kann Alicja Pajak sich hier als handlungswirksames Subjekt präsentieren, die ihre Potenziale in den beschriebenen Aktivitäten einbringen kann. Hinweise auf musikalische Fähigkeiten zeigen sich auch in einer weiteren Passage, in der sie über den Abiturball berichtet, bei dem sie ihre Lehrer*innen und Mitschüler*innen durch einen gesanglichen Auftritt beeindruckt. Die Möglichkeit, diese musikalischen Fähigkeiten und Interessen auszubauen und dieses Potenzial für den Studien- und Berufsentwurf systematisch zu entwickeln, wird je-
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doch durch das Verpassen der vorgegebenen Fristen vergeben. Es zeigt sich an dieser Stelle, dass das universitäre Studium von den Subjekten von Beginn an verlangt, sich eigenständig zu organisieren, sich Informationen selbst zu beschaffen und sich in die institutionelle Zeitlogik einzufügen. In der Erklärung, sich nicht informiert zu haben, kommt zum Ausdruck, dass Alicja Pajak die Anforderung, Informationen selbstständig einzuholen, zwar erkennt, aber erst zu spät durchschaut hat. Dies kann auch damit erklärt werden, dass sich ihre Erfahrungs- und Erwartungshaltung im Hinblick auf Bildungsinstitutionen eher durch ein reaktives Muster auszeichnet. Das späte Erkennen der gestiegenen Erwartungen an Selbstverantwortung beim Übergang ins Studium verhindert somit die Option, ihrer musikalischen Neigung zu folgen. Sie selbst interpretiert dies jedoch nicht als verpasste Chance, sondern deutet die durch Gelegenheitsstrukturen bestimmte Studienfachwahl Pädagogik im Nachhinein als glückliche bzw. schicksalhafte Fügung: A: Und dann hab ich sogar gemerkt dass Pädagogik eigentlich das ist was ich machen sollte. Und dann hab ich sogar entdeckt dass es so eine Richtung wie die Erwachsenenbildung gibt. Und dann war ich wieder vollkommen in ner anderen Welt so /(jubelnd) hu-hu/ (lacht) nee weißte also einfach um mal zu veranschaulichen dass ich wirklich - ich weiß nicht ähm - ja mehr Glück als Verstand ist irgendwie - ich weiß nicht so, man kanns entweder so ausdrücken oder halt einfach so dass ich - ja dass mir wirklich n Weg vorgeschrieben ist. (29/22-28)
Mit der Formulierung „mehr Glück als Verstand“ wählt sie interessanterweise den gleichen Ausdruck wie in der Erzählung der Migrationsgeschichte der Eltern. Dies kann als Zufall oder Ausdruck einer Präferenz für eine bestimmte Formulierung interpretiert werden. Möglicherweise liegt in dieser Parallele jedoch auch mehr Sinn verborgen als der Erzählerin selbst bewusst ist. Alicja Pajaks Studien(wahl)entscheidung ist, vergleichbar mit der Migrationsentscheidung der Eltern, in hohem Maße eine Entscheidung ‚auf gut Glück‘. Sie erfolgt, ebenfalls vergleichbar mit der elterlichen Migration, mit wenig Wissen über die Möglichkeiten und Anforderungen, die der eingeschlagene Weg mit sich bringt. Darin liegt ein erhebliches Risikopotenzial, zu dem sich die Biographin hier einerseits selbstironisch ins Verhältnis setzt und das sie andererseits umdeutet, indem sie ihren Weg ins Pädagogikstudium rückblickend als schicksalhafte Fügung interpretiert. Worauf diese optimistische Bilanzierung der Studienwahl jedoch basiert, bleibt offen und erschließt sich auch im weiteren Verlauf des Interviews nicht. 10.3.2 „Im vierten Semester fing ich an so richtig“ – der Studienbeginn als unvollendeter Prozess Zwischen A-Stadt und P-Stadt, zwischen Studium, „Party“ und „Maloche“ Alicja Pajak beabsichtigt zunächst, ihren Wohnsitz in P-Stadt zu behalten und in ihren Studienort A-Stadt zu pendeln. Der Idee eines Freundes folgend gründet sie dann jedoch mit einer gemeinsamen Klassenkameradin in A-Stadt eine Wohngemeinschaft. Alicja Pajaks Schilderung der Anfangszeit in A-Stadt vermittelt dabei nicht nicht den Eindruck, dass mit dem Umzug auch tatsächlich ein räumliches Ankommen verbunden ist. Es dominiert vielmehr ein Zustand von Ruhelosigkeit; weder die
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gemeinsame Wohnung, noch das Zusammenwohnen mit der Freundin ist von Dauer. Nach Beschwerden über Partylärm wird die gemeinsame Wohnung vom Vermieter nach kurzer Zeit fristlos gekündigt. Wenige Monate nach dem Umzug in eine neue Wohnung erfolgt ein weiterer Bruch, als Alicja Pajaks Mitbewohnerin ihr Studium abbricht und auszieht. Der Studienabbruch der Mitbewohnerin zieht dabei nicht nur organisatorische Konsequenzen nach sich (Suche nach einer neuen Mitbewohnerin), sondern bedeutet auch eine Verunsicherung der Erzählerin im Hinblick auf das eigene Studium (vgl. 9/5-13; 28/31-35). Neben den diskontinuierlichen Wohnverhältnissen gestaltet sich das ‚Ankommen‘ in A-Stadt aber auch aus anderen Gründen kompliziert: A: Ja ich muss dazu sagen ich war halt echt noch nicht hier. Ich war noch nicht hier, ich hab meinen Job auch dies - erste Jahr noch komplett in S. anner Raststätte gehabt, Autobahnraststätte, jedes Wochenende, I: mhm A: und äh - ja bis ich dann hier den Job gekriegt hab ne? äh - ja dementsprechend also - ich bin auch bis heute halt am Wochenende immer in P-Stadt und nicht hier. Ich wollte am Anfang, ich weiß ja ganz am Anfang wollt ich - ich wollt so schnell wie möglich alles hier nach A-Stadt verlagern, Ärzte, alles. I: mhm A: Ja und irgendwie - ich weiß nicht - ist das teilweise zwar auch geschehen aber (1) hm. - Irgendwie doch nicht so - bis zum Ende umsetzbar gewesen, trotz des äh Aushilfsjobs dann schon hier, ne? Dann wars eher so dass ich halt - so das Gefühl hatte ja ich hab noch nicht mal Zeit irgendwie, äh - nach P-Stadt zu fahren und was weiß ich - irgendwen zu sehen, ne? Keine Ahnung. Jo. (1) Vielleicht dann - vielleicht auch deshalb die Putzstelle einfach zwischen AStadt und P-Stadt. (lacht) (30/23-37)
Alicja Pajaks Darstellung vermittelt den Eindruck einer Rastlosigkeit, die durch die simultane Verortung in verschiedenen Kontexten entsteht. Sie pendelt zwischen ihrem Studienort, ihrem bisherigen Wohnort und verschiedenen Standorten, an denen sie arbeitet. Es ist somit schon allein aus organisatorischen Gründen nicht verwunderlich, dass die Biographin ihr ursprüngliches Vorhaben, ihren Lebensmittelpunkt nach A-Stadt zu verlagern lediglich halbherzig („nicht so bis zum Ende“) umsetzen kann. Der Plan scheitert dabei nicht allein an diesen äußeren Bedingungen, sondern auch daran, dass die Aufrechterhaltung der sozialen Bindungen in P-Stadt, wo ihre Freunde aus der Schulzeit leben, für Alicja Pajak Priorität gegenüber dem Studium in A-Stadt hat. In dem Verweis auf die Putzstelle zwischen A-Stadt und P-Stadt deutet sich der ‚Spagat‘ an, den die Biographin vollziehen muss. Dieser bezieht sich nicht nur auf die Überbrückung der geographischen Distanz zwischen zwei Orten, sondern auch auf die Notwendigkeit, gegensätzliche Tätigkeiten, Entwürfe und Lebensweltbezüge miteinander in Einklang zu bringen, die an diese Orte geknüpft sind. Die eigene Verortung zwischen diesen ‚Welten‘ bleibt dabei unentschieden, in der Schwebe. Dass Alicja Pajak den Wechsel nach A-Stadt entgegen ihrer Intention nur halbherzig vollzieht, lässt sich auch auf Ambivalenzen zurückführen, die sich für sie mit dem Beginn des Studiums im Hinblick auf das Verhältnis zu ihren Eltern verbinden. Die Biographin vollzieht mit dem Studienbeginn eine (weitere) Distanzierung von
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der Familie, die sowohl mit einem größeren geographischen Abstand verknüpft ist als auch eine weitere Entfernung von den lebensweltlichen Bezügen der Eltern bedeutet. Das Studium geht zwar einerseits konform mit den Bildungsambitionen der Mutter, andererseits deutet sich aber an, dass diese das Studium ihrer Tochter zumindest phasenweise auch als Bedrohung von Zusammengehörigkeit und Verbundenheit wahrnimmt. A: Wobei - sie meinte auch irgendwann mal wos ganz ganz schlimm war - das muss auf jeden Fall das Sommersemester gewesen sein denk ich - letztes Jahr ja - da hab ich halt die ganze Zeit irgendwie halt von der Uni erzählt und natürlich dann auch diese Fachtermini und so benutzt und dann meinte sie irgendwann mal so von wegen, ja teilweise hab ich aber Angst dass ich dich irgendwann gar nicht mehr verstehen kann. Ne, weil - das jetzt schon irgendwie so ist, so. (41/19-23)
In Alicja Pajaks Darstellung wiederholt sich hier eine Figur, die bereits in der Erzählung über den Kindergartenbesuch erkennbar wurde: Die Mutter äußert ihre Sorge, ihre Tochter eines Tages nicht mehr verstehen zu können, weil sie eine andere Sprache spricht. Ging es in der ersten Sequenz dabei um die deutsche Sprache, so ist es hier die spezielle Sprache der Wissenschaft, die sich Alicja Pajak im Rahmen ihres Studiums aneignet, die der Mutter fremd und unzugänglich ist. Auch wenn die Erzählerin selbst die Gefahr der mangelnden Verständigung nicht als real ansieht, weil sie sich abspricht, die Wissenschaftssprache tatsächlich korrekt zu beherrschen, so weiß sie doch um die Angst ihrer Mutter. Für sie ergibt sich daraus die widersprüchliche Anforderung, den Schritt ins Studium zu vollziehen, ohne die Angst vor dem Verlust der Verbundenheit zu ihrer Mutter zu schüren. Diese komplexe Anforderung trägt vermutlich dazu bei, das Alicja Pajak ihre Distanz zur wissenschaftlichen Welt aufrechterhält. Die Strategie des Pendelns zwischen dem Studium und universitätsfernen Arbeits- und Freizeitwelten kann als Versuch verstanden werden, mit der Ambivalenz, die aus der Entfernung von ihren Herkunftsbezügen resultiert, umzugehen und diese zu bearbeiten. Dabei ergeben sich allerdings Schwierigkeiten: A: Ja, also ich mein ich war am Wochenende war ich ja grundsätzlich Samstag Sonntag musst ich ja malochen. Entweder Früh- oder Spätschicht. So. Da ich aber die Woche hier war - also quasi hab ich - in der Woche hier mit den Leuten Party gemacht, am Wochenende musst ich aber arbeiten und wollte ja auch mit den Leuten aus P-Stadt Party machen. Das hat ne Zeitlang für mich wirklich bedeutet, oh scheiße halb fünf scheiße schnell von H-Stadt Taxi nach=zur Autobahn, SCHNELLER ich verlier meinen Job! Total besoffen, fünf Uhr Raststätte aufschließen alles vorbereiten weiter arbeiten. I: mhm A: Ganz ehrlich, dass ich noch lebe ist echt n halbes Wunder glaub ich manchmal. Boah ehrlich. Na ja, auf jeden Fall ähm - war ich dann auch dementsprechend fertig nachm Wochenende, und je nachdem wieviel Party wir dann halt unter der Woche auch gemacht haben, je nach ähm - - ja bin ich dann auch überhaupt zu den Veranstaltungen hingegangen (31/43-32/11)
Alicja Pajak pendelt zwischen verschiedenen Jobs in der Gastronomie und als Putzkraft in Privathaushalten, Parties und – gelegentlich – der Universität. Die Gegen-
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sätzlichkeit dieser Kontexte kann als sinnbildlich für die konträren sozialen Welten betrachtet werden, in denen sich die Biographin verortet. Das Studium spielt in Alicja Pajaks ersten Studiensemestern eine erkennbar untergeordnete Rolle. Im Zentrum stehen exzessives Feiern und andererseits die physisch anstrengende Arbeit an verschiedenen Orten. Die hohe Bedeutung der Erwerbsarbeit kann dabei auf konkrete ökonomische Notwendigkeiten und die Bedeutung der finanziellen Autonomie zurückgeführt werden – sie ermöglicht es der Biographin, ihre Wohnsituation unabhängig von ihren Eltern zu gestalten. Darüber hinaus kommen darin auch ‚normalbiographische‘ Vorstellungen von Erwerbstätigkeit zum Tragen, die einer bestimmten Position im sozialen Raum entsprechen. Arbeit – auch körperlich fordernde Arbeit – erscheint als selbstverständlicher Bestandteil des Lebens. Das Wahrnehmen von zwei parallelen Jobs an verschiedenen Orten führt zu Beginn des Studiums allerdings zu strukturellen Überforderungen. Dies zeigt sich auch in der Erzählweise, in der eine atemlose Geschwindigkeit zum Ausdruck kommt. Das Leben scheint sich in einem Hochgeschwindigkeitsmodus zu vollziehen, der als lebensbedrohlich bewertet wird („halbes Wunder dass ich noch lebe“). Diese Wertung ist sicher auch Teil der erzählerischen Dramaturgie, verweist aber dennoch auf eine ernstzunehmende Belastung. Die Bewegung zwischen verschiedenen Orten und lebensweltlich relevanten Kontexten kann dabei auch als eine Form des Zelebrierens ausgedehnter Bewegungsspielräume gelesen werden, die in Kontrast zu der Beschreibung der engen räumlichen Begrenzungen stehen, die Alicja Pajaks Kindheitserzählungen rahmen. Die Ruhelosigkeit, die mit dieser Mehrfachverortung einhergeht, macht allerdings zwischenzeitliche Auszeiten erforderlich, die mit den universitären Zeitstrukturen kollidieren. A: Na ja auf jeden Fall äh - ja und ähm - also je nachdem wie=wie fertig ich dann war, klar, äh - bin ich dann halt auch zu den Veranstaltungen hingegangen. Und - dementsprechend bin ich aus vielen dann auch nach ner Zeit rausgeflogen, ne, ich habs am Anfang, ich erinner mich dass ich - ich mein s ist auch bis heute noch so aber äh - äh - definitiv dass ich mich dann egal wie fertig ich war noch irgendwie so hingequält hab wenn ich schon zweimal gefehlt hab oder so aber irgendwann gings dann halt auch nicht mehr. I: mhm A: Dann ist hat wieder irgendwas dazuge_äh dazwischengekommen und äh - ja dann biste halt das dritte Mal nicht da und automatisch raus und bla und bla und - ne? (32/22-30)
In Alicja Pajaks Darstellung deutet sich ein studienbiographisches Verlaufskurvenpotenzial an, das sich durch den unregelmäßigen Besuch der Lehrveranstaltungen aufbaut. Das Studium sieht verpflichtende Anwesenheit in den Veranstaltungen vor, die kontrolliert wird. Bei dreimaligen Fehlen kann die Veranstaltung nicht mehr mit positivem Ergebnis abgeschlossen werden. Dies wird Alicja Pajak zum Verhängnis, da sich die Erwartung einer regelmäßigen Teilnahme kaum mit ihren Arbeitszeiten und dem prioritären Interesse an einer ausgedehnten Feierabendgestaltung verbinden lässt. Die Kombination von Studium und Erwerbsarbeit gerät damit schnell an ihre Grenzen. Die reformierten Strukturen des modularisierten Studiums, die sich durch eine starke Kontrollkomponente auszeichnen, tragen in Alicja Pajaks Fall somit nicht zu einer Strukturierung und Stabilisierung bei, vielmehr verschärfen sie die Rei-
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bungspunkte zwischen Studium und außeruniversitärem Leben und verstärken die Erosion ihres ohnehin brüchigen Verhältnisses zum Studium. Riskante Studienstrategien Alicja Pajak nimmt an der Einführungswoche für Erstsemesterstudierende nicht teil, weil sich ihr der Sinn und die Bedeutung dieses Angebots nicht erschließen. Sie betritt die Universität zum ersten Mal als ihre Veranstaltungen beginnen. Dadurch fehlen ihr grundlegende Informationen zum Aufbau und Ablauf des Studiums.23 A: Ähm - ja, so - ansonsten kann ich wirklich sagen - ganz am Anfang vielleicht Studium (schnalzt) (1) äh erstmal - ich hab gar nicht nach der Studienordnung studiert, das war ja, das war noch ganz große Klasse von mir, ich hab mir=ich hab mir halt gedacht /(schmunzelnd) okay ich ku_ich kuck jetzt mal ins Vorlesungsverzeichnis ne, im Internet und dann such ich mir mal raus was mir so=was mich so anspricht. I: mhm A: hab ich dann gemacht, ne, war jede Veranstaltung aus nem anderen Modul/ (lacht) quasi, ne, wirklich so, überhaupt nicht aufbauend wie es da jetzt so ist, ja dementsprechend war das - definitiv mein erster ganz großer Fehler. Ganz großer Fehler was das Studium angeht deswegen bin ich - ja deswegen bin ich hundertprozentig auch nicht mal annähernd so weit wie ich eigentlich sein müsste - auch - weil dieser äh - ja mir ist quasi - vorletztes Semester erst klargeworden wie ich eigentlich hätte studieren sollen. (11/34-12/2)
Alicja Pajak schildert ihre Studienstrategie als eigensinnig bzw. ‚anarchisch‘ – sie wählt sich ihre Veranstaltungen danach aus, ob sie sich von ihnen ‚angesprochen‘ fühlt, ohne zu beachten, dass es eine Studienordnung gibt. Damit folgt sie eher dem ‚Lustprinzip‘ als einer Orientierung an institutionellen Vorgaben. Der Umstand, dass sie – zum Teil auch unerwartet – immer wieder auf Lehrveranstaltungen stößt, die ihr gefallen, deutet sie dabei als eine Art ‚Vorsehung‘, durch die sie sich in ihrer Studienwahl und Studienstrategie bestätigt sieht. Ein übergeordneter Rahmen für das Studium fehlt dagegen. Pflichtveranstaltungen, die ihr als wenig attraktiv erscheinen, werden infolge dessen von der Biographin zunächst ‚übersehen‘ bzw. ignoriert. Alicja Pajak beginnt ihr Studium damit auf eine Art und Weise, die in einem grundlegenden Widerspruch zu dem festgelegten Ablauf des modularisierten Studiums steht. Dass sie diese Strategie mehrere Semester lang praktizieren kann, ohne an institutionelle Grenzen zu stoßen, ist angesichts des engmaschigen Netzes curricularer Vorgaben und Kontrollen im Rahmen der reformierten Studienstrukturen zumindest überraschend. Möglich ist, dass es gerade in der Zeit der Umstellung auf die neuen Studiengänge durch die Parallelität verschiedener Studienordnungen zu solchen Spielräumen gekommen ist. Während Alicja Pajaks Studienverhalten zunächst als eine Form ‚eigensinnigen‘ Studierens innerhalb des modularisierten Studiums erscheint, so zeigt sich im weiteren Verlauf der Zeit, dass es nur kurzfristige Freiheiten ermöglicht und langfristig enorme Nachteile produziert, da die institutionelle Logik die Biographin nach einiger 23 Dass sie diese Informationen auch nicht auf alternativen Wegen über Mitstudierende erhält, verweist dabei bereits auf die prekäre soziale Position der Biographin im studentischen Feld. Auf diesen Aspekt wird vertiefend im nachfolgenden Abschnitt eingegangen.
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Zeit wieder einholt und zu überwältigen droht. Die Freiheit der ersten Studiensemester erfordert im weiteren Studienverlauf einen hohen Preis. Im Nachhinein setzt sich Alicja Pajak daher kritisch-ironisch zu ihrem Studienverhalten ins Verhältnis und bewertet es als „ersten großen Fehler“, was bereits markiert, dass weitere folgen werden. Die Erzählerin führt ihre Studienstrategie vor allem auf Unwissenheit zurück. A: wenn ich - nehm ich mal an ne, wenn ich gewusst hätte dass ähm - es so krass organisatorisch selbstverantwortlich ist sowas, ne? was den Ablauf jetzt angeht, dann hätt ich mir ja wenigstens die Studienordnung besorgt. So. Ich habs mir einf=deswegen ganz anders vorgestellt so nach dem Motto läuft schon, ne? So, hm. (31/18-23)
Interessant ist, dass die Biographin ihre eigene Studienpraxis retrospektiv auch selbst nicht etwa als Ausdruck einer autonomen Studiengestaltung interpretiert, sondern sie eher im Widerspruch zum Prinzip der organisatorischen Selbstverantwortung sieht. Ihr Studienverhalten bewegt sich nicht im Rahmen der Anforderungen an die selbstverantwortliche Gestaltung des Studiums, die von Studierenden in geistes- und sozialwissenschaftlichen Studiengängem (auch noch nach den Studienreformen) erwartet wird. Auch die Maxime, Lehrangebote ausschließlich interessenorientiert zu wählen, lässt sich nicht per se als Ausdruck eines souveränen Studierverhaltens lesen, denn das Erfüllen der Studienanforderungen wird damit allein vom Zufall des institutionellen Angebots im jeweiligen Semester abhängig gemacht und entzieht sich damit der Planbarkeit durch die Biographin. Wie lange die beschriebenen riskanten Studienstrategien Alicja Pajaks Handeln bestimmen, bleibt in der Schwebe. Die Erzählerin markiert zwar an verschiedenen Stellen eine Zäsur in ihrer Studienbiographie, indem sie etwa darauf hinweist, dass ihr „vorletztes Semester klar geworden“ sei, was von ihr erwartet wird, oder dass sie „ungefähr vor einem Jahr realisiert“ habe, dass sie für das Studium Zeit und Energie investieren müsse. Obwohl sie somit ihre Studienstrategie im Nachhinein kritisch reflektiert, bleibt die Distanzierung davon jedoch wiederum brüchig. Dies zeigt sich u.a. darin, dass Alicja Pajak Belegerzählungen über ihr Studienverhalten zwar in der Vergangenheitsform und mit Anekdotencharakter präsentiert, die Deutung dieser Handlungen und Ereignisse aber im Präsens vornimmt und ihre Gültigkeit damit bis in die Gegenwart hinein verlängert. Gegenwartsperspektive und Vergangenheitsperspektive bleiben eng miteinander verschränkt. Der Übergang ins Studium gestaltet sich in Alicja Pajaks Erzählung somit nicht als Statuspassage, sondern als ein bis in die Gegenwart der Interviewsituation andauernder Prozess, dessen Ende nicht abzusehen ist. Studiengangwechsel Dem sich abzeichnenden Verlaufskurvenpotenzial begegnet Alicja Pajak zunächst, indem sie am Ende des dritten Studiensemesters vom Zwei-Fach-BachelorStudiengang Philosophie und Erziehungswissenschaft zum Ein-Fach-Bachelor Erziehungswissenschaft wechselt. Dies kann als eine Strategie der Reduktion gedeutet werden, mit der sie auf die wahrgenommene Überforderung durch das Studium reagiert und Handlungsfähigkeit zurückzugewinnen versucht. Sie begründet den Wechsel in der Haupterzählung damit, dass ihr das Studium zweier Fächer „zu viel war“,
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zieht aber auch in Betracht, dass sie in Philosophie „die falschen Veranstaltungen“ besucht und sich dadurch habe „abschrecken“ lassen. Auf Nachfrage geht sie später genauer auf diesen Aspekt ein: A: Und das war äh - halt deshalb weil - also das erste Semester kannste halt so sehen - ich weiß gar nicht wann ich diese Philosophieklausur geschrieben hab - ob das im ersten oder im zweiten war. Auf jeden Fall im ersten oder im zweiten hab ich äh - ne Relativismusphilosophieklausur geschrieben, äh, dazu muss ich sagen die Philoveranstaltungen hab ich halt dadurch dass Nicola das ja auch studiert hat - eher meine an ihre angepasst. I: mhm mhm A: Weil ich halt mit ihr zusammen da hin wollte. I: ja A: Und dementsprechend waren das voll nicht meine Themen. Also hätt ich=hätt ich mich selber gekümmert könnte=wür_könnt ich vorstellen dass ich immer noch Philo und Pädagogik studieren - würde so - ich mein Relativismus, a - mein ist zwar ganz interessant so für Hobbyphilosophen aber jetzt so richtig - Relativismus als Veranstaltung würd ich zum Beispiel persönlich nie nehmen. (38/30-42)
Alicja Pajak orientiert sich im Philosophiestudium an der Veranstaltungswahl ihrer Freundin und Mitbewohnerin, die zeitgleich mit ihr das Studium aufgenommen (und später abgebrochen) hat. Die Strategie des gemeinsamen Studierens kann dabei als Ausdruck einer Suche nach Sicherheit und Vertrautheit im Unvertrauten gedeutet werden (vgl. Kap. 9.3.2). Hier erscheint sie jedoch weniger als gemeinsames Handeln denn als einseitige „Anpassung“ an bzw. Unterordnung unter die Wahl der Freundin. Damit ist das Risiko verbunden, dass Alicja Pajak Veranstaltungen besucht, mit denen sie sich nicht identifizieren kann. Diese Hintergrundkonstruktion bildet den Rahmen für die nachfolgende Erzählung über das Nichtbestehen der genannten Klausur, die als ein Anlass für das Aufgeben des Studienfachs Philosophie ausgewiesen wird. Alicja Pajak deutet den Verlauf der Ereignisse einerseits als ein Ergebnis der mangelnden Übernahme von Selbstverantwortung („hätt ich mich selber gekümmert“), andererseits delegiert sie die Verantwortung für den Studiengangwechsel teilweise an die Freundin, die als erste „die falschen Veranstaltungen“ belegt hat. Während Alicja Pajak die Aufgabe des Philosophiestudiums damit in erster Linie auf die Unterordnung ihrer eigenen Interessen unter die abweichenden Präferenzen ihrer Freundin zurückführt, deutet sich in ihrer Argumentation auch eine Abwehr der unvertrauten Inhalte des Fachs an: Die Veranstaltungswahl der Freundin wird abgewertet, indem Relativismusphilosophie als eine Beschäftigung für „Hobbyphilosophen“ konstruiert wird. In dieser Abwehr zeigt sich zugleich, dass Alicja Pajak über kein Raster verfügt, in das sie die Studieninhalte angemessen einordnen kann. Darüber hinaus verkennt sie die Spielregeln des Studiums, insofern als sie nicht in Betracht zieht, dass die erfolgreiche Teilnahme am ‚Spiel‘ (nicht nur im Fach Philosophie) u.U. auch das Absolvieren von Veranstaltungen notwendig macht, die nicht von vorn herein dem eigenen Interesse und Horizont entsprechen. Neben den bereits angeführten Deutungen lässt sich der Abbruch des Philosophiestudiums auch als Dokumentation eines Selbstausschlusses (vgl. Bourdieu/ Passeron 2007: 40) lesen.
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A: ja, ich glaub so ne Schlüsselsituation dass ich äh mit Philo aufhören wollte war auf jeden Fall - äh die dass ich - ja englische Texte philosophisch, ich hatte Philosophie Leistungskurs und Englisch Leistungskurs. Also in beidem eigentlich, ganz gut. Aber in dem Kontext und dann wie das dann geschrieben ist, und du liest das und zehn Seiten später und fünf Stunden später weißt du IMMER noch nichts. Und solche=solche Momente ne, da - einfach - diese Motivation werd ich nicht aufrechterhalten können, Punkt. Na ja und dann - hab ich halt gewechselt. (39/15-21)
Mit dem Studienfachwechsel zieht die Biographin auch eine Konsequenz aus der Wahrnehmung, dass die faclichen und fachsprachlichen Kenntnisse und Kompetenzen, die sie aus der Schule mitbringt, für die Bewältigung der komplexen Anforderungen des Studiums nicht ausreichen.24 Obwohl Englisch und Philosophie Alicja Pajaks Leistungsfächer waren, schildert sie, dass sie bei der Anforderung, philosophische Texte auf Englisch zu lesen, an ihre Grenzen gerät und sich die Inhalte selbst bei unverhältnismäßig hohem Zeitaufwand kaum erschließen kann. Diese Schilderung legitimiert den Studienfachwechsel, der auf diese Weise als rationale Entscheidung präsentiert werden kann. Diese fußt auf der Einschätzung, die für eine erfolgreiche Bewältigung der Anforderungen notwendige Motivation nicht langfristig aufbringen zu können. In Anlehnung an die Argumentation von Bourdieu/Passeron (2007: 18) könnte die geschilderte Entwicklung allerdings auch als das Wirksamwerden von institutionellen Mechanismen der „Abdrängung“ interpretiert werden, die nicht als solche durchschaut werden und schließlich zu einem Selbstausschluss Alicja Pajaks führen.25 Die Anforderung, in den Anfangssemestern fachsprachliche Texte in englischer Sprache zu lesen, lässt sich als ein institutionalisierter Selektionsmechanismus im Studium deuten, von dem Alicja Pajak sich stark beeindrucken und abschrecken lässt. Sie nimmt die Studienanforderungen an dieser Stelle sehr ernst. Dies führt dazu, dass sie sich selbst als unfähig wahrnimmt, die Anforderungen des Philosophiestudiums insgesamt zu erfüllen. Mit dem Studienfachwechsel verbindet sich in Alicja Pajaks Erzählung auch im Folgenden kein Wendepunkt in der Studienbiographie. Die Beschränkung auf das 24 Dabei deutet sich in der Schilderung auch an, dass die Misserfolgserlebnisse in Philosophie zu einer nachträglichen Verunsicherung der Biographin hinsichtlich der Einschätzung ihrer Fähigkeiten im Englischen beigetragen haben. Dies zeigt sich u.a. in der Relativierung ihrer Englischkompetenzen, die, im Gegensatz zur Darstellung in der Haupterzählung, vor dem Hintergrund des Scheiterns am Verstehen der philosophischen Texte im Studium nur noch als „ganz gut“ bezeichnet werden. 25 Bourdieu und Passeron bezeichnen mit dem Begriff der Abdrängung die Mechanismen, die zu ungleichen Zugangschancen für Studierende unterschiedlicher sozialer Herkunft und Geschlechterzugehörigkeiten zu den prestigeträchtigeren Wissenschaftsbereichen und Studienfächern führen. Sie entstehen nicht durch formal verschlossene Zugänge, werden aber dennoch als Ergebnis einer „erzwungene[n] Wahl“ (ebd.) interpretiert, durch die die etablierten Hierarchien zwischen den Disziplinen bestätigt werden. Solche Abdrängungsphänomene werden aber nicht nur beim Hochschulzugang wirksam, sondern setzen sich, wie sich an mehreren der hier untersuchten Beispielen zeigt, auch im Verlauf des Studiums fort.
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Studium der Erziehungswissenschaft und die fachliche Fokussierung bedeuten keine grundlegende Veränderung hinsichtlich der sozialen Fremdheit der Biographin gegenüber der Studienpraxis und der Universität. Ihre Darstellung vermittelt vielmehr den Eindruck des Studiums als einer bis in die Gegenwartssituation der Erzählung hineinreichender Orientierungsphase, in der die Erzählerin nach dem Prinzip von Versuch und Irrtum agiert. A: Also - ich hab schon drei Se=drei Semester im vierten Semester fing äh fing ich an so richtig. Im dritten Semester hab ich glaub ich - versucht son - bisschen - also so richtig zu studieren wo=bin dann aber wieder in meine alten Gewohnheiten - abgerutscht - und im vierten fings dann so richtig an. I: mhm A: Aber da hab ich auch gewechselt. Jetzt weiß ich gar nicht wie=wie der Wechsel war, ich glaub im dritten hab ich gewechselt und dann war ich quasi viertes Hochschul- aber erstes I: mhm A: erstes Fachsemester irgendwie so. I: mhm A: ja genau. Und da wollt ich, ne? durch den Wechsel dann halt okay jetzt richtig, /(seufzend) ja/ - ich - bin je_ich komm jetzt ins - vierte Fachsemester und habe - ohne jetzt das - dritte Fachsemester dazu zu rechnen - satte drei Veranstaltungen bestanden. Immer noch. Also so ganz äh - geht das noch nicht auf. (11/14-28)
Alicja Pajak präsentiert hier eine geraffte Darstellung ihrer bisherigen Studienbiographie, aus der sie eine skeptische Bilanz zieht. In ihrer Darstellung zeichnet sich dabei eine Wiederholungsstruktur ab: Sie unternimmt zu unterschiedlichen Zeitpunkten Anläufe „zu studieren“. Was dies aus Sicht der Biographien konkret bedeutet, bleibt dabei in der Schwebe. Das Studium erscheint so wie eine Art ‚Hülle‘, die inhaltlich nicht gefüllt werden kann. Dies kann auch als Ausdruck einer Unklarheit der Biographin darüber gedeutet werden, was Studieren eigentlich bedeutet. Obwohl Alicja Pajak immer wieder neue Anläufe unternimmt, wird deutlich, dass sie noch keine wirksame Strategie gefunden hat, die Anforderungen des Studiums zu bewältigen. Die unternommenen Anläufe scheinen ins Leere zu laufen, die Biographin betont die Kluft zwischen ihren bisher erzielten Studienleistungen und der Dauer ihrer Studienzeit. Alicja Pajak zieht vor diesem Hintergrund eine ernüchterte Bilanz ihrer bisherigen Studienbiographie: „[S]o ganz geht das noch nicht auf“. 10.3.3 „Weil ich einfach nich verstehe was die von mir wollen“ – die Universität als fremder Raum In den vorangegangenen Analysen deutete sich bereits an, dass auch der Wechsel in den erziehungswissenschaftlichen Bachelor-Studiengang zu keiner grundlegenden Veränderung in Alicja Pajaks brüchigem Verhältnis zur Universität führt. Vielmehr setzt sich das prekäre Zugehörigkeitsverhältnis der Biographin zum Kontext ‚Universität‘ im weiteren Verlauf der Erzählung fort. Im Folgenden werden einige Aspekte, die dieses Verhältnis ausmachen, genauer beleuchtet.
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Fehlende Wirksamkeitserfahrungen als studienbiographisches Verlaufskurvenpotenzial Alicja Pajak konstruiert ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Welt als grundlegend fragil und unsicher, sie kann sich selbst als nicht legitime Mitspielerin konstruieren. So berichtet sie, ähnlich wie dies bereits im Hinblick auf den Englischunterricht in der Oberstufe beschrieben wurde, Zeit in das Studium zu investieren, ohne dass diese Anstrengungen erwartbare Erfolge zeitigen. A: Und die Klausuren anner Uni da muss ich ganz ehrlich sagen - das schnall ich nich. Da bin ich jedes Mal enttäuscht. Jedes Mal egal wie viel ich gelernt hab - ich bin jedes Mal über die Note enttäuscht. Weil ich einfach nich verstehe was die von mir wollen. Und ich hab genau das was abgefragt wird gelernt und hab trotzdem ne drei sieben? Hä? Warum? Ne? So nach_ ich verstehs_ also da muss ich wirklich sagen - ich weiß nicht was=was=wie man - wie man lernen muss um die - so ne Klausur die halb offene Fragen hat und halb multiple choice wo mehrere Möglichkeiten immer möglich sein könnten, find ich auch - total fürn Arsch, wenn die sich vor allem mit einem Wort unterscheiden nur - ähm wie=wie=wie ich lernen muss damit ich da ne eins zwei wenigstens oder eins drei schaffe. Das weiß ich einfach nicht. Ich hab Entwicklung und Sozialisation Ergebnis vier null, ich war geschockt. Ich hab erstmal direkt geheult. (lacht auf) - Das war meine gute Klausur eigentlich dies Semester. Zumindest gedacht. Also - phh und das ist der Themenbereich womit ich mich beschäftige. Das ist der einzige Themenbereich mit - wo ich - ja und Erwachsenenbildung wo ich jetzt wirklich auch äh - Interesse dran hab und äh mich auch wirklich damit auseinander setze. Und da auch wirklich gelernt hab und mich im Endeffekt mit nichts anderem befasse, und dann ne vier null? Das geht doch nicht! Also für mich geht das nicht. Aber es ist so. (42/40-43/12)
Alicja Pajak verfügt auch nach vier Semestern nicht über passende Strategien, die es ihr ermöglichen würden, die formalen Anforderungen des Studiums in ihrem Fach zu bewältigen. Die Prüfungsmodalitäten in den reformierten Studiengängen erfordern und ‚belohnen‘ vor allem effektive Techniken des ‚Lernens‘ und Reproduzierens von Wissensbeständen, die sich in Multiple-Choice-Tests abprüfen lassen. Alicja Pajaks Vorbereitungsstrategien erweisen sich dabei als wenig erfolgreich. Um eine Prüfung diesen Typs zu bestehen, ist das Interesse am Thema, das die Biographin für sich in Anspruch nimmt, nachrangig; der Erfolg hängt nicht zuletzt vom genauen Lesen und dem Registrieren feiner Unterschiede zwischen verschiedenen Antwortmöglichkeiten ab. Die wiederholte Frustrationserfahrung, trotz Motivation und gezielter Vorbereitung nicht zum Erfolg zu kommen, lässt sich auch als Erfahrung fehlender Wirksamkeit beschreiben: Alicja Pajak erhält keine Resonanz, die ihr die Wirksamkeit ihres Handelns bestätigen würde, ihre Anstrengungen scheinen ohne (positive) Konsequenzen zu bleiben. Die Biographin selbst kann sich nicht erklären, wie es zu den Misserfolgen kommt und kann deshalb auch keine alternative Handlungsstrategien zur Bearbeitung der Studienanforderungen entwickeln. Die prekäre Positionierung der Biographin im akademischen Feld wird auch in der nachfolgenden Passage deutlich, in der Alicja Pajak auf Nachfrage eine Begegnung mit einem Dozenten schildert:
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I: Und ähm - gibt es, gibt es ähm - also was die Dozenten jetzt angeht, also wir haben jetzt n bisschen über Ko=Kommilitonen gesprochen irgendwie und, kannst du darüber was sagen was da so deine Eindrücke sind oder was dein Verhältnis ist oder obs da Situationen gibt, Geschichten an die du dich - jetzt erinnerst A: ja auch Sommersemester letztes Jahr. I: mhm A: Äh - ja da hatt ich ja halt dieses - diese Veranstaltung um acht, ne? mit dieser moralischen Kindes=Kinder=Kindesentwicklung, und gleichzeitig hatt ich auch um acht an einem Dienstag wissenschaftliche Arbeitstechniken. So und die waren beide relativ jung und beide auch noch in einem Büro. I: mhm A: Beides mal Referat mit Ausarbeitung in meinem Fall, ja was willste auch anderes machen wenn du jedes Mal fünf Punkte verdammt noch mal erreichen musst (lacht) - entschuldige, mal so zwischendurch gesagt I: mhm A: ähm, und das - Problem war, das waren meine ersten - wissenschaftlichen Ausarbeitungen. Und äh - ich war mir nicht bewusst darüber dass ich Plagiate abgegeben hab. Im Prinzip. In beiden Fällen. (36/10-27)
Meine Frage enthält unterschiedliche ‚Angebote‘ hinsichtlich der Ebenen, auf denen Alicja Pajak zu ihren Erfahrungen mit Lehrenden Auskunft geben kann. Während die Frage nach dem Verhältnis eine abstrakte Reflexion nahe legt, zielt die Frage nach Situationen oder Geschichten eher auf eine Narration ab. Alicja Pajak geht auf die Bitte ein, indem sie eine Erzählung mit hohem Detaillierungsgrad präsentiert, die sich auf ein Ereignis bezieht, das Anlass zu einer intensiven Begegnung mit einem Dozenten gab. Es ist die Erzählung eines wissenschaftlichen ‚Vergehens‘, deren Protagonistin die Biographin selbst ist und das ohne Umschweife benannt wird: Alicja Pajak reicht in beiden Veranstaltungen26 Arbeiten ein, die gegen eine Grundregel wissenschaftlichen Schreibens verstoßen. Der Umstand, dass es sich bei der einen Veranstaltung um eine Einführung in die Grundtechniken des wissenschaftlichen Arbeitens handelt, verleiht der Erzählung dabei eine besondere Brisanz, verweist er doch darauf, dass Alicja Pajak nach Absolvieren des Seminars nicht über die Techniken verfügt, die Gegenstand der Vermittlung waren. Ein weiteres Detail, das die geschilderte Situation verschärft, besteht darin, dass die beiden Lehrenden, deren Veranstaltungen betroffen sind, sich ein Büro teilen und sich – so die implizite Annahme – über die Studierenden und ihre Arbeiten austauschen. Der Hinweis auf die Notwendigkeit, in jeder Lehrveranstaltung nachweisbare Leistungen („Punkte“) erbringen zu müssen, fungiert als eine Hintergrundkonstruktion, die als ein Versuch der Selbstentlastung der Erzählerin interpretiert werden kann. Die stetige Anforderung an die Erbringung von Leistungsnachweisen wird als eine von außen auferlegte Pflicht gedeutet, von der sich die Biographin stark unter 26 Der Hinweis darauf, dass die Veranstaltungen „gleichzeitig“ besucht wurden, wirft Fragen auf. Er kann bedeuten, dass die Seminare im zweiwöchentlichen Rhythmus stattfanden, oder dass sie sich tatsächlich zeitlich überschnitten, was allerdings offen lässt, wie der parallele Besuch zweier Veranstaltungen von der Erzählerin bewerkstelligt werden konnte, ohne gegen die Anwesenheitspflicht zu verstoßen.
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Druck gesetzt fühlt. Allerdings scheint dies auch aus ihrer eigenen Sicht kein hinreichendes Argument zu sein, um den eigenen ‚Fehltritt‘ zu legitimieren. Auch der Hinweis darauf, dass dies ihre ersten beiden wissenschaftlichen Arbeiten gewesen seien, dient der eigenen Entlastung vom Vorwurf des Plagiarismus. Alicja Pajak konstruiert sich damit als Novizin, wobei sie sich zu diesem Zeitpunkt bereits im vierten Studiensemester befindet. An der Darstellungsweise in dieser Passage fällt auf, dass das Ereignis als eine Art ‚Vorkommnis‘ geschildert wird, an dem die Biographin selbst beteiligt ist, ohne sich aber eine Akteurinnenrolle zuzuschreiben und damit die Verantwortung zu übernehmen. Mit der Formulierung „ich war mir nicht bewusst dass ich Plagiate abgegeben habe“ wird das eigene Handeln von einer Absicht abgelöst, womit der Vorwurf einer vorsätzlichen Täuschung zurückgewiesen wird. Darüber hinaus hat die genannte Formulierung jedoch noch eine andere Implikation: Alicja Pajak hat etwas eingereicht, dessen sie sich „nicht bewusst“ ist. Die Verbindung zwischen dem eigenen Handeln und den Resultaten bzw. dem ‚Produkt‘ dieses Handelns wird damit abgeschwächt. Die Klassifizierung der Arbeiten als „Plagiate“ stellt die Außenperspektive der Dozent*innen dar, die diese Praxis als illegitim bewerten. Diese Einschätzung wird zwar formal übernommen, der Nachsatz „im Prinzip“ relativiert diese Deutung aber wieder. Alicja Pajak berichtet nachfolgend, dass sie in beiden Fällen noch eine „Chance“ von ihren Dozent*innen bekam, ihren Fehler zu korrigieren und eine zweite Fassung der Arbeiten zu erstellen. Insbesondere gegenüber dem Dozenten in der Veranstaltung zu wissenschaftlichen Arbeitstechniken ist ihr das Ereignis unangenehm, weil dieser sie bereits beim Verfassen eines Essays langmütig beraten hat. A: echt es war mir so peinlich auch weißte, ich wollte ihn ja auch nicht - äh so - dann halt aufn Schlips treten oder so verarschen oder dass er sich so fühlt ne, weil - er hat sich echt angestrengt, schon beim Essay weißte, am Anfang so, weil ich hab - ich habs halt echt nicht geschnallt wie das so gehn soll, wissenschaftlich schreiben, ich habs nicht geschnallt. Und - weiß nicht fünfmal wegen einem Essay schon mit ihm getroffen, und er wirklich ja, dann versuchen Sie doch so und - am Anfang, am Anfang. (36/33-38)
Auffällig an Alicja Pajaks Darstellungsweise in der hier präsentierten Hintergrundkonstruktion ist die Konzeption des Verhältnisses zwischen ihr als Studentin und dem Dozenten, das sich durch eine eigenwillige Deutung der Rollen auszeichnet: Zum einen wird der mutmaßliche Plagiatsfall durch die Betonung, den Dozenten nicht „aufn Schlips treten“ zu wollen, zu einer Angelegenheit, in der es um die persönliche Verletzbarkeit des Dozenten zu gehen scheint – und nicht etwa um die Rettung der eigenen ‚Ehre‘. Zum anderen fällt auf, dass Alicja Pajak nicht ihre eigenen Bemühungen beim Verfassen des Essays hervorhebt, sondern vielmehr die Leistungen und Anstrengungen des Dozenten bei der Begleitung des Schreibprozesses bewertet („er hat sich echt angestrengt“). Sich selbst positioniert sie dadurch nicht als Subjekt, sondern nimmt eine distanzierte Außenperspektive ein, indem sie sich (indirekt) als schwierigen, beratungsintensiven ‚Fall‘ beschreibt, nicht aber als Subjekt eines Lernprozesses. Die Pointe der Erzählung liegt nun darin, dass Alicja Pajak ausgerechnet bei jenem Dozenten zum zweiten Mal des Plagiats überführt wird:
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A: Und dann - hab ich ihm halt die zweite überarbeitete Ausarbeitung abgegeben und es war im Endeffekt das ganze Buch - wiederholt. Nichts anderes. Im Prinzip wenn dus so willst. (36/3940)
Mit der Formulierung „es war im Endeffekt das ganze Buch - wiederholt“ wird erneut die Benennung des Handlungssubjekts umgangen, so dass das ‚Produkt‘ dem erzählten Ich der Biographin nicht explizit zugerechnet wird. In der erzählten Episode reproduziert sich damit ein Phänomen, das bereits in anderen Passagen der biographischen Selbstpräsentation rekonstruiert wurde: die Distanz bzw. Fremdheit der Erzählerin gegenüber den eigenen Handlungen und ihren Resultaten. In Zusammenhang mit einem Plagiatsvorwurf wirkt dies fast wie eine Provokation. Das geschilderte Rückmeldegespräch kommt einer machtvollen ‚Vorführung‘ durch den Dozenten gleich. Die Situation erfährt zunächst eine weitere dramatische Zuspitzung dadurch, dass der Dozent eine offizielle ‚Meldung‘ des wiederholten Plagiatsfalls in Erwägung zieht. Alicja Pajak würde damit für die Konsequenzen eines Handelns zur Verantwortung gezogen, das sie sich selbst nicht zurechnet. Dadurch, dass der Dozent am Ende auf eine solche Sanktion verzichtet, ist der Ausgang der Geschichte zwar rein formal betrachtet vergleichsweise glimpflich. Nichtsdestotrotz kommt das Erlebnis einer Form der Disqualifizierung der Biographin als Studentin gleich. Dies wird durch die Bitte des Dozenten, Alicja Pajak möge keine Veranstaltungen mehr bei ihm besuchen, unmissverständlich deutlich. In einer anderen Passage wird erkennbar, dass wiederholte fehlende Wirksamkeitserfahrungen und die daraus resultierende geringe Selbstwirksamkeitsüberzeugung nicht nur die Deutung vergangener Erlebnisse strukturieren, sondern sie auch die Erwartungshaltung der Biographin an den künftigen Verlauf ihres Studiums präformieren: A: Es - also mir fällt schon auf dass ich mich - anders ausdrücke, teilweise - aber das sind dann halt so Momente die=die ich gut finde. Wenn mir sowas auffällt dass ich mich anders ausdrücke. Einerseits. Äh - weil andererseits - ah weiß ich nich, nervt es mich halt schon wieder so weil ich - im Prinzip ja weiß - dass die andern nur glauben - dass ich soviel Neues dazu gelernt habe. Und im also es ist ja - es ist ja jetzt kein - richtig verankertes Wissen. Auch wenn ich jetzt andere - Vokabeln irgendwie teilweise benutze oder mich anders ausdrücke und vielleicht auch das äh - ein oder andere - Geschehen irgendwie - auch richtig erklären kann und so. Aber - ich weiß halt einfach dass es nicht annähernd so ist wie es sein sollte und deswegen glaub ich nicht dass das passieren wird. Oder zumindest - jetzt noch nicht. Vielleicht. Also bisher ist es - auf jeden Fall nicht passiert. Ja. (lacht) (41/38-39/4)
In einer selbstreflexiven Betrachtung führt Alicja Pajak aus, dass sie sich der wissenschaftlichen Fachsprache zwar bediene, diese aber letztlich nicht beherrsche. Sie positioniert sich in dieser Passage erneut als Beobachterin ihrer selbst. Zwar beobachtet sie einen veränderten Sprachgebrauch an sich selbst, aber sie bezweifelt, dass der Wahl anderer „Vokabeln“ auch ein fundiertes Wissen entspricht. Der Zugewinn an Wissen wird damit als marginal eingestuft; der veränderte Sprachgebrauch wird in seiner Bedeutung relativiert und erscheint als nicht mehr als eine Täuschung, eine Illusion, auf die andere ‚hereinfallen‘. Alicja Pajaks Reflexion über ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Sprache weist dabei über eine Aussage zu Sprache weit hinaus;
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sie versinnbildlicht die Distanz der Biographin gegenüber der wissenschaftlichen Welt als solcher. Zugleich zeigt sich in ihrer Erwartungshaltung deutlich, dass die Biographin sich selbst nicht als Akteurin ihres Lernprozesses begreift und sich kaum Potenziale zur Veränderung ihrer Studienbiographie zuschreibt. So scheint sich die Frage, ob es möglich sein wird, ein fundiertes Fachwissen zu erwerben, das den Gebrauch eines wissenschaftlich-fachlichen Vokabulars rechtfertigen würde, unabhängig von ihrem eigenen Handeln zu entscheiden. Dies wird durch die Passivkonstruktion deutlich, mit der Lernprozesse beschrieben werden: Es ist „noch nicht passiert“, und ob es künftig „passieren wird“ oder nicht, ist etwas, auf das Alicja Pajak sich selbst keinen Einfluss zuspricht. Die fehlenden Wirksamkeitserfahrungen im Studium und die entsprechend geringe Selbstwirksamkeitserwartung der Biographin erweisen sich als studienbiographisches Verlaufskurvenpotenzial, denn sie haben zur Konsequenz, dass Alicja Pajak sich im Kontext des Studiums nicht als lern- und handlungsfähiges Subjekt entwerfen kann. Die Grundlage dafür, dennoch am Studium festzuhalten, Frustrationserfahrungen zu ertragen und jedes Semester aufs Neue Motivation aufzubringen, bietet allein die Deutung des eigenen Wegs als Schicksal: A: aber komischerweise zum Semesteranfang - also ich verlier die Hoffnung irgendwie nicht. Und immer wieder automatisch, nicht dass ich mich irgendwie drauf einstellen muss, ne, dann dann wieder runterzukommen und so, jetzt gehts nochmal neu - es passiert automatisch, und dadurch dass=also das hält mich vielleicht auch son bisschen bei der Stange dass ich äh -- es das dann vielleicht für mich so erkläre dass das vielleicht deshalb automatisch kommt weil äh ja, das mein Weg ist den ich gehen soll ne? Auch, egal wie anstrengend der ist (lacht), so. (40/23-28)
Die Deutung des Studiums als Schicksal ermöglicht es der Biographin, trotz wiederholter Erfahrungen des Scheiterns am Studium festzuhalten. Sie ermöglicht eine Delegation der eigenen Verantwortung an ein unbestimmtes Außen und damit auch eine Entlastung von der Anforderung einer grundlegenden Reflexion der komplexen Hintergründe der Misserfolgserfahrungen. Beziehungen zu Mitstudierenden als soziale Herausforderung Das prekäre Verhältnis der Erzählerin zum universitären Studium, das sich in der Erzählung abzeichnet, steht auch damit in Zusammenhang, dass es Alicja Pajak über mehrere Semester nicht möglich wird, Beziehungen zu Kommiliton*innen aufzubauen. Die Etablierung sozialer Beziehungen zu Mitstudierenden, die ein Vertrautwerden mit den Anforderungen und Erwartungen im Studium erleichtern könnten, erweist sich als grundlegend problematisch. Alicja Pajak bemängelt die Anonymität im Studium und bedauert die geringe Kontinuität der Lerngruppen, die sich – anders als in der Schule – jedes Semester wieder neu zusammensetzen. A: ich finds halt schade - äh - wenn - dass jeder ne andere - also - es gibt keine al_ keine Klassen. Oder Kurse wenigstens. Klar Kurse ja, aber nur für das halbe Jahr. Und äh selbst dann sieht man sich irgendwie nicht wirklich regelmäßig oder zumindest nicht in meinem Fall weil ich ja /(lachend) nicht regelmäßig hingehe/ - oder bisher nicht, oder je nach Veranstaltung aber
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- ähm - einfach - m - ja es gibt halt äh Momente wo ich dieses vollkommene Inkognito. Weißte? Das=das lässt mich dann vielleicht so - angenervt sein. (34/28-34)
Die Biographin erfährt die Universität als anonymen Raum, der keine langfristigen sozialen Beziehungen ermöglicht. Die Begegnungen mit Kommiliton*innen erscheinen ihr flüchtig und unpersönlich, die Studierenden bleiben einander fremd. Die Erfahrung der fehlenden sozialen Einbindung verstärkt die Anspannung der Biographin im Hinblick auf die Kommunikation mit ihren Kommiliton*innen („angenervt sein“), die sie selbst als ein Ausdruck einer Verunsicherung deutet: „Ne könnte ja echt sein dass es daran liegt dass ich dann deshalb genervt bin - weil ich einfach unsicher bin. Wie sich jetzt zu den anderen - verhalten“. Diese Verunsicherung in der sozialen Interaktion mit anderen verweist auch darauf, dass Alicja Pajak ihre eigene Position in der Gruppe der Studierenden noch nicht gefunden hat. Dabei reflektiert sie, dass sie selbst durchaus einen Anteil an dieser Erfahrung hat: Die lediglich sporadische eigene Teilnahme an Lehrveranstaltungen führt dazu, dass sie jedes Semester aufs Neue mit der Anforderung konfrontiert ist, mit unbekannten Kommiliton*innen in Kontakt zu treten.27 Die unregelmäßige Teilnahme verhindert so systematisch den Aufbau stabiler sozialer Beziehungen und trägt zur Labilität des Zugehörigkeitsverhältnisses der Biographin zur Universität bei. Obwohl Alicja Pajak diesen Eigenanteil an der Dynamik erkennt, gelingt es ihr nicht, daraus ‚auszusteigen‘. Die geschilderte Positionierung der Biographin im studentischen Feld weist einerseits Parallelen zu ihrer Positionierung in der Oberstufe des Gymnasiums auf (vgl. Kap. 10.2.4): In beiden Kontexten nimmt sie eine Randposition ein. Anders als in der geschilderten Konstellation im Gymnasium bleibt diese Positionierung in der Universität jedoch ohne Resonanz. Während die Rolle der unnahbaren Fremden in der Schule das Interesse bzw. die Neugier der anderen provoziert, bleibt Alicja Pajak an der Universität unbemerkt. In der Kursgemeinschaft des Gymnasiums wird sie von ihren Mitschüler*innen schließlich ‚aus der Reserve gelockt‘, womit ihre Strategie der Selbstabschottung zumindest herausgefordert wird. Dagegen trifft sie in der Universität auf niemanden, der ihr helfen würde, diese Schwelle zu überwinden. Von Studierenden wird erwartet, dass sie selbst eine soziale Zugehörigkeitsarbeit leisten und Kontakte aufbauen. Mit dem Wechsel in die Rolle der Studentin ist die Anforderung verbunden, selbst die Verantwortung für die den Aufbau sozialer Beziehungen zu übernehmen. Alicja Pajak erlebt dies als Herausforderung, an der sie bereits mehrfach gescheitert ist. Sie macht die Erfahrung, dass die anderen immer schon in Gruppen organisiert sind, zu denen sie keinen Zugang findet bzw. vom denen sie ausgeschlossen wird. Dies zeigt sich in der folgenden Geschichte, in der es um eine Negativerfahrung in einer Referatsgruppe geht:
27 Die Zirkularität des Geschehens kommt auch in der folgenden Passage zum Ausdruck: I: mhm. Und gi_ gibts denn so ähm - also irgendwie Beziehungen zu Leuten wo du sagen würdest die ähm - also mit denen du mehr zu tun hast jetzt an der Uni oder A: mhm. (2) (schnalzt) Jedes Semester. (schnalzt) Aber - dann verläuft sich das halt wieder ne.
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A: wir haben halt dann so ne Gruppe im Studi VZ oder er [der Kommilitone, D.S.] hat das dann aufgemacht und dann gings halt um Bücher, ich hab auch schon zu der Veranstaltung dann fünf Bücher gelesen gehabt und so, und er hat halt ein Buch gebraucht was ich hatte, und dann meinte ich so, ja ist kein Ding können wir uns ja treffen und ich geb dir das dann und so weiter äh - als ich dann aber ne Frage hatte, hat mir keiner von denen ne Woche geantwortet. Und das Problem war die kannten sich unternander. Das heißt die haben, die haben schon besprochen wann wir wer was wo macht und ich wusste von nichts. Und das war - dann hab ich mir gedacht ja alles klar. Dann - mach ich jetzt erstmal nichts und kurz vorher sag ich ja (schnalzt) tschuldigung ich - es wird mir zuviel ich kann nicht mitmachen, seht zu. (35/21-35)
Während Alicja Pajak sich als engagiert und hilfsbereit beschreibt, wird sie von den anderen aus der Kommunikation ausgegrenzt, was sie darauf zurückführt, dass die anderen „sich unternander [kannten]“. Da die anderen sich bereits vertraut sind und in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen, gelingt es ihr nicht, Zugang zu der Gruppe zu finden. Sie bearbeitet diese sozialen Desintegrationserfahrungen durch reaktive Strategien des Rückzugs und der subtilen ‚Rache‘: Sie torpediert das Referat, in dem sie die anderen erst kurzfristig darüber informiert, dass sie ihren Part nicht übernehmen kann. In dieser Handlungsstrategie zeigt sich ein Muster im Umgang mit Frustrationserlebnissen, das sich bereits zu einem früheren Zeitpunkt in Alicja Pajaks Bildungsbiographie – dem ‚Boykott‘ des Matheunterrichts in der achten Klasse – als eine Art ‚Bumerang‘ herausgestellt hat. Die Strategie der ‚Rache‘ an den Personen, die als Ursache für das eigene Leid identifiziert werden, mag eine kurzfristige Genugtuung ermöglichen. Langfristig beschädigt sie jedoch in erster Linie die Handlungsmöglichkeiten der Biographin selbst: Der Ausstieg aus der Referatsgruppe und das Verprellen der Mitreferent*innen bedeutet eine (weitere) vergebene Möglichkeit, Beziehungen zu Mitstudierenden zu knüpfen und sich aus der sozialen Isolation heraus zu bewegen. Kontrollversuche Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, wie sich das biographische Risikopotenzial, das bereits in der Erzählung über die Zeit vor dem Studium erkennbar wurde, im Verlauf des Studiums zuspitzt. Die fortschreitende Zeit wird für Alicja Pajaks Studienbiographie zudem ihrerseits zu einem Belastungsfaktor, denn mit fortschreitender Semesterzahl gerät die Biographin zunehmend unter Druck, Veranstaltungen erfolgreich abschließen zu müssen: A: Joa, ansonsten - ja motivier ich mich jedes=jedes Mal wieder aus Neue, weil ich muss ja dran bleiben, ich muss definitiv dranbleiben weil ne, wie gesagt, (lacht) Oberstufe abgebrochen, dann doch zuende gemacht, zwischendurch, ne, Dolmetscherinstitut abgebrochen also phh - das muss ich jetzt durchziehen! (lacht) Ja. (1) (schnalzt) Aber - ich denke das - wird schon. Wenn ich das Bafög-Amt irgendwie austricksen kann (lacht) dann wird das auf jeden Fall. (12/28-33)
Es lässt sich hier erkennen, dass sich die prekäre Studiensituation der Biographin mit zunehmender Verweildauer an der Universität verschärft. Alicja Pajaks Äußerungen machen dabei deutlich, dass sie selbst sich der Brisanz ihrer Lage sehr bewusst ist. Sie bilanziert hier aus einer normativen Außenperspektive ihren bisherigen Bil-
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dungsweg, der sich durch mehrere Abbrüche bzw. erklärungsbedürftige Unterbrechungen auszeichnet. Diese Abweichungen von der Norm eines ‚glatten‘ Bildungsweges erhöhen die subjektive Notwendigkeit, die gegenwärtige Etappe des Bildungswegs, das Studium, „durch[zu]ziehen“. Die Bedrohlichkeit ihrer Lage zeigt sich aber nicht allein auf einer allgemeinen normativen Ebene, sondern sie wird ihr auch in einer sehr konkreten Form vor Augen geführt: Ihr BAföG-Anspruch, der für Alicja Pajak einen Teil ihrer Existenzsicherung ausmacht, ist durch die magere Studienbilanz akut gefährdet. Sie unterschreitet mit ihren bisherigen Studienleistungen die Grenzen dessen, was in der Studienförderung als akzeptabel gilt. Die institutionelle Bürokratie in Gestalt des BAföG-Amts tritt damit als eine Instanz ins Spiel, die Alicja Pajaks Studienweg heteronomen Bewertungskriterien unterwirft, denen dieser nicht genügt. Damit erscheint die Zukunft ihres Studiums unmittelbar gefährdet. Hier lässt sich nun eine dramatische Zuspitzung des verlaufskurvenförmigen Prozesses erkennen: Während Alicja Pajak ihre Studienstrategie bislang noch aufrechterhalten konnte, entzieht sich ihr nun zunehmend offensichtlich die Kontrolle über das Geschehen. Ihr Studium wird zum Gegenstand einer externen ‚Evaluation‘, deren Maßstäben die Ergebnisse nicht genügen. Fortan richten sich ihre Überlegungen und Aktivitäten darauf, die Instanzen und Symptome zu bekämpfen, die als ursächlich für die Misere identifiziert werden. Wie für Verlaufskurvenprozesse kennzeichnend (vgl. Schütze 1999), werden dabei kaum Ansätze für Handlungsstrategien erkennbar, die tatsächlich einen Ausweg aus diesen Dilemmata ermöglichen würden. Vielmehr erscheint die Biographin „durch als übermächtig erlebte Ereignisse und deren Rahmenbedingungen getrieben und zu rein reaktiven Verhaltensweisen gezwungen“ (ebd.: 199). Die Idee, die Bürokratie des BAföG-Amts durch Tricks zu unterlaufen, macht die Hilflosigkeit der Biographin deutlich. Sie lässt sich als eine Form des Kontrollversuchs deuten, der das Problem auf eine vordergründige Ebene verschiebt: Die Bewältigung der Anforderungen des Studiums treten hinter eine Symptombekämpfung zurück, mit der Alicja Pajak einen zeitlichen Spielraum zu gewinnen versucht: A: wenn ich das Bafög Amt irgendwie bescheißen kann dann kann ichs vielleicht - ich brauch halt son Wisch vom Arzt weißte dass ich das äh in der Zeit äh nicht schaffe damit ich weiter=damit ich die Leistungsnachweise nicht äh zeigen muss weil dann - krieg ich kein Bafög mehr und ähm - ich glaube wenn ich den hab dann kann ichs echt gechillter angehen wieder. I: mhm A: Dann kann ich quasi nochmal neu st_oder weißte nochmal neu - äh starten und es dann vielleicht wirklich - nicht äh übertrieben nachholmäßig zuende bringen (40/11-17)
Durch eine Krankschreibung erhofft sich die Biographin eine zeitliche Entlastung zu verschaffen und sich dadurch dem entstehenden Sog der Verlaufskurvendynamik zu entziehen zu können. Die Perspektive eines Neubeginns, die sie zum Interviewzeitpunkt mit solch einem Moratorium verbindet, bleibt allerdings eine leere Hülle, die nicht inhaltlich gefüllt werden kann: Zeitliche Entlastung allein vermag noch keine Antwort darauf zu geben, wie die grundlegenden Probleme im Verhältnis zur Wissenschaft, zum studentischen Feld und die Vereinbarkeit zwischen Erwerbsarbeit und Studium konkret bearbeitet werden könnten. Der Neubeginn würde auch veränderte
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Handlungsstrategien und Ressourcen voraussetzen, auf die sich in der Erzählung aber kaum Hinweise finden. Auffällig ist, dass Alicja Pajak trotz dieser ungelösten Widersprüche und dem Mangel an wirksamen Handlungsstrategien eine Alternative zum Studium nicht in Erwägung zieht, sondern daran festhält. Was der Verlust der Unterstützung und ein Studienabbruch tatsächlich bedeuten würden, wird gar nicht zum Gegenstand einer ernsthaften Analyse. Vielmehr erscheint diese Vorstellung als eine Art Damoklesschwert, das über ihr schwebt; eine bedrohliche Gefahr am Horizont, der sie um jeden Preis zu entgehen versucht. Allerdings deuten sich in der zögerlichen Formulierung „vielleicht wirklich [...] zu Ende bringen“ durchaus Zweifel an der Machbarkeit des Projekts an. Auch an anderen Stellen zeigt sich, dass Alicja Pajaks Einschätzung ihres Studiums und ihrer Chancen keineswegs einheitlich ist, sondern zwischen Zweifeln und plötzlicher Hoffnung und Zuversicht changiert, wobei es dafür wenig konkrete Ansatzpunkte gibt. A: Aber ich äh - bin schon ziemlich zuversichtlich was mein - irgendwann Erreichungsziel angeht. Wenn - /(lachend) wenn denn alles vorher irgendwie aufe Reihe krieg/ nee also - ne ich glaub es liegt da halt auch echt daran dass ich halt so erzogen bin an mich selbst zu glauben ne. (45/7-10)
Das Festhalten am Studium lässt sich damit erklären, dass es nicht nur ein Eingeständnis des persönlichen Scheiterns wäre und eine weitere Verunsicherung und Verzögerung auf dem Weg zu einer beruflichen Qualifikation bedeuten würde, sondern auch im familialen Kontext eine Zäsur markieren würde. Familienbiographisch betrachtet wäre ein Scheitern des Studiums insofern fatal, als damit die Hoffnung auf eine Neubewertung des Migrationsprojekts, die durch den erhofften Bildungsaufstieg der Kinder möglich würde, ein weiteres Mal enttäuscht würde. Alicja Pajak würde weder den Aufstiegshoffnungen der Eltern gerecht, die sich auf die Bildungswege der Kinder richten, noch den Erwartung an ihre Rolle als älteste Tochter, die den jüngeren Geschwistern Orientierung vermitteln sollte.28 Hinzu kommt der Mangel an tragfähigen alternativen Entwürfen. Der Versuch eines Gegenentwurfs zum Studium ist durch die abgebrochene Ausbildung bereits einmal gescheitert. Es wird allerdings an einer Stelle angedeutet, dass das mögliche Scheitern des Studiums von Alicja Pajaks Vater zumindest gedankenexperimentell antizipiert wird. Dabei entsteht der Eindruck, dass er dieser möglichen Entwicklung Tochter eher gelassen entgegen sieht: A: Und mittlerweile kommt da diesbezüglich gar nichts, ne, eher so äh mein Gott ja wenn nicht dann kommste halt wieder. (41/28-29)
Diese Haltung könnte für die Biographin zwar einerseits eine Entlastung bedeuten, deutet sie doch an, dass sie sich des Rückhalts ihrer Eltern in jedem Fall sicher sein 28 Alicja Pajaks jüngere Schwester hat nach dem Realschulabschluss eine Ausbildung im medizinischen Bereich begonnen. Die jüngste der drei Schwestern wird als „Problemfall“ beschrieben (22/27). Sie besucht die Oberstufe, hat die elfte Klasse wiederholt und es scheint unsicher, ob sie die zwölfte Klasse erfolgreich beenden kann.
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kann. Andererseits erhöht möglicherweise gerade diese Versicherung der intergenerationalen Loyalität den Druck auf die Biographin, die Hoffnungen der Eltern nicht zu enttäuschen. Zudem bleibt die Frage offen, was eine Rückkehr („kommste halt wieder“) jenseits der symbolischen Bekräftigung der innerfamilialen Bindung konkret beinhalten könnte bzw. wie diese überhaupt möglich sein sollte. Alicja Pajak hat sich mit ihrem Bildungsweg bereits deutlich von der ‚Welt‘ ihrer Eltern entfernt, die Lebensentwürfe, Bildungs- und Berufsbiographien der Eltern bieten für sie kaum eine Orientierung. Die ‚Rückkehr‘ ins vertraute Milieu markiert insofern eher eine Illusion von Sicherheit als dass sie eine tatsächliche biographische Option darstellen könnte. 10.3.4 Fazit: Das Studium als bildungsbiographische Verlaufskurve Das Studium stellt bei Alicja Pajak die Fortsetzung einer letztlich als fremdbestimmt erlebten Bildungsbiographie dar, die im Studium eine zunehmend bedrohliche Entwicklung nimmt. Der Beginn des Studiums steht einerseits unter den Vorzeichen der Fortführung bisheriger Routinen und Handlungsmaximen, andererseits bedeutet er eine Zäsur, da die Biographin mit ihrem bisherigen Handlungsrepertoire an den organisatorischen Hürden, impliziten Erwartungen und akademischen Ansprüchen des Studiums scheitert. Eine „Selbstinitiation“ (Friebertshäuser 1992: 62) ins Studium gelingt auch nach mehreren Semestern nicht. Die Studienprobleme werden von der Biographin als belastend empfunden, sind sie für sie aber kaum in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Sie deutet ihre Misserfolge im Studium u.a. als Folge des Unterschätzens der Anforderungen (der Erfahrung, dass ihr plötzlich nicht mehr alles „zufällt“). Diese Deutung lässt sich als Hinweis darauf deuten, dass die bisherige Strategie des eher passiven Durchlaufens eines institutionellen Curriculums, wie es in der Schulzeit möglich war, in der Universität an Grenzen stößt. In der Schule gelingt es Alicja Pajak noch ohne größere Anstrengungen die Anforderungen knapp zu erfüllen. Im Unterschied zur Schule setzt das erziehungswissenschaftliche Studium – trotz der stärkeren Strukturierung durch die Studienreformen – eine stärkere Eigeninitiative der Subjekte voraus (vgl. von Felden 2010: 232ff.). Von Studierenden wird verlangt, dass sie ihre Studienbiographie eigenständig gestalten und verantworten. Diese institutionelle Erwartung steht in einem Spannungsverhältnis zu Alicja Pajaks biographischer Erfahrungs- und Erwartungshaltung: Sie versteht sich nicht als verantwortliche Akteurin ihrer Bildungsbiographie, sondern fügt sich vielmehr einem als „vorprogrammiert“ wahrgenommenen Ablaufmuster. Dass diese Haltung auch nach Ende der Schulzeit dominant bleibt, zeigt sich u.a. in der Konstruktion der Studienentscheidung, die sich weniger an eigenen Entwürfen als an der Erfüllung einer Normalitätserwartung orientiert („Abitur, also Studium“) und auch retrospektiv nicht inhaltlich gefüllt wird. Diese Erfahrungshaltung, die sich, wie gezeigt wurde, aus einer ambivalenten Bindung der Biographin an den familialen Aufstiegsimperativ speist, entfaltet im Studium ihr Verlaufskurvenpotenzial. Es sind unter anderem die Anforderungen an eine eigenverantwortliche Studienplanung und -organisation, die damit in Konflikt geraten. So begegnet Alicja Pajak der eigenen Unvertrautheit mit den Regeln eines Hochschulstudiums nicht etwa durch das Einholen von Informationen, sondern durch die Orientierung an den
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Studienplänen ihrer Mitbewohnerin. Diese Strategie, die als Ausdruck der Unsicherheit gedeutet werden kann, mit der sich Alicja Pajak im akademischen Feld bewegt, erweist sich in ihrer Erzählung insofern als riskant, als sie ihr keinen eigenen Zugang zum Studium ermöglicht, sondern sie die Erfahrung der Fremdbestimmtheit der eigenen Studienbiographie eher verschärft. Der Studienabbruch der Mitbewohnerin nach einem Semester dürfte, auch wenn dies nicht ausführlich thematisiert wird, zu einer weiteren Verunsicherung beigetragen haben. Das Studium bildet zudem lediglich einen Lebensbereich unter anderen, der (zumindest in den Anfangssemestern) von nachrangiger Bedeutung ist. Die Erwerbsarbeit ist dabei sowohl Ausdruck einer ökonomischen Notwendigkeit – die Biographin ist darauf angewiesen, neben dem Studium zu arbeiten – als auch milieutypischer Normalitätserwartungen, die kaum infrage gestellt werden. Die Vereinbarkeit von existenzsichernder Erwerbsarbeit und einem Studium mit starren Anwesenheitsverpflichtungen wird zu einer schwer zu bewältigenden Herausforderung. Neben der Erwerbsarbeit spielen auch Autonomiebestrebungen eine zentrale Rolle, die im ‚Feiern‘ erweiterter Freiheitsräume sowohl in A-Stadt als auch im Herkunftsort der Biographin ausgekostet werden. Diese Konstellation geht damit einher, dass Alicja Pajak die im Studium an sie gestellten Anforderungen unterschätzt und die vermeintlichen ‚Freiheiten‘ überschätzt. Die nebenuniversitären Aktivitäten nehmen erhebliche zeitliche Kapazitäten und Ressourcen in Anspruch, die an anderer Stelle fehlen. Alicja Pajaks sporadische Anwesenheit in Lehrveranstaltungen kollidiert aber nicht nur formal mit der Anwesenheitspflicht, sondern erschwert auch das soziale Vertrautwerden mit der Praxis des Studiums und dem Aufbau sozialer Beziehungen zu Kommiliton*innen, durch die sich die Biographin vielleicht eine ‚Brücke‘ in die wissenschaftliche ‚Welt‘ bahnen könnte. Das Zurückstellen des Studiums hinter andere Lebensbereiche lässt sich dabei einerseits als ein weiterer Versuch des Ausbrechens aus dem wahrgenommenen ‚Bildungsprogramm‘ interpretieren. Es steht im Kontext des Prozesses der Distanzierung und Autonomiegewinnung. Andererseits spiegelt sich darin auch eine große Unsicherheit der Biographin gegenüber den Anforderungen eines wissenschaftlichen Studiums wider, die nicht zuletzt auf die fehlende soziale Vertrautheit mit dem wissenschaftlichen Feld verweist. In Alicja Pajaks Familie gibt es keine Erfahrungen mit universitärer Bildung und es werden auch keine Personen im sozialen Nahraum erwähnt, die als Ansprechpartner*innen oder Mentor*innen fungieren würden. Ein weiteres, latentes Hindernis, das die Etablierung eines stabilen Zugehörigkeitsverhältnisses zum Studium erschwert, kann in den immanenten Widersprüchen des Bildungsaufstiegsprozesses selbst gesehen werden: Mit ihrem Studium verwirklicht Alicja Pajak zwar die Bildungswünsche ihrer Mutter, zugleich nimmt sie aber wahr, dass die zunehmende Entfernung von der Lebenswelt ihrer Eltern, die das Studium mit sich bringt, von ihrer Mutter zwischenzeitlich als latente Bedrohung der gemeinsamen Verständigungsbasis und damit der geteilten ‚Welt‘ wahrgenommen wird. Die ambivalente Bindung an ihre Mutter, die vermutlich auch aus der Verstrickung in intergenerationale Dynamiken von Verpflichtungs- und Schuldgefühlen in Zusammenhang mit der Migration resultiert, führt dazu, dass das Individuationspotenzial, das mit dem Studium verbunden sein könnte, in Alicja Pajaks Bildungsgeschichte nicht zur Entfaltung kommt. Die latente Angst davor, die Bindung an die
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Herkunftsfamilie durch Studienerfolge zu gefährden, trägt so ihrerseits dazu bei, dass sich die Biographin in ihren Studienversuchen immer wieder selbst ‚ausbremst‘. Die Erfahrungshaltung der Biographin geht mit einer geringen Selbstwirksamkeitserwartung einher, die die Aneignung von Lerngelegenheiten und die Antizipation künftiger Studienerfahrungen strukturiert. Sie trägt dazu bei, dass aus den Misserfolgserlebnissen im Studium keine Lernerfahrungen werden können, die eine Revision der eigenen Studienstrategien ermöglichen würden. Sie schreibt sich selbst wenig Einfluss auf den weiteren Verlauf ihrer Studienbiographie zu. Da Alicja Pajak sich nicht als handlungswirksam erfährt, kann sie sich auch nicht als Subjekt von Lernprozessen begreifen. Biographische Lernprozesse wären jedoch eine Voraussetzung dafür, sich aus der Verlaufskurvendynamik ‚herausarbeiten‘ zu können. Stattdessen verstrickt sich die Biographin in Wiederholungsstrukturen. Mit fortschreitender Dauer des Studiums, bei gleichzeitig wenigen erbrachten bzw. anerkannten Studienleistungen verstärken äußere Bedingungen den Druck und führen zu einer weiteren Kumulation des studienbiographischen Verlaufskurvenpotenzials. Die zeitlichen Zugzwänge verschärfen den Kreislauf aus Bedrohungsgefühlen, Stress und Versagen bei wiederholten (allerdings erfolglosen) Versuchen der Biographin, den fortschreitenden Prozess des Verlusts von Handlungsfähigkeit abzubremsen bzw. die Kontrolle wiederzugewinnen. In Alicja Pajaks Ausführungen zeigt sich, dass sie die Verlaufskurvendynamik – neben den erwähnten ‚Tricks‘ – durch Strategien zu kontrollieren versucht, die sich primär auf sich selbst und die eigene Psyche beziehen. Dazu gehören Techniken der Selbstmotivation („dran bleiben“) sowie der Versuch, mit Hilfe von Selbstbeobachtungen und Selbstreflexion den wahrgenommenen Schwierigkeiten auf den Grund zu gehen. Dafür wird auch das Interview genutzt. Es stellt aber lediglich eine von mehreren Gelegenheiten dar, die die Biographin dafür nutzt, sich in einem ‚wissenschaftlichen‘ Zusammenhang mit sich selbst und den Hintergründen ihrer Erfahrungen des Scheiterns zu befassen. Von einem anderen Zugang berichtet Alicja Pajak nach dem Interview, als sie davon erzählt, dass sie sich als Versuchsperson an einem psychologischen Test zur Verfügung gestellt habe, um etwas über mögliche Unregelmäßigkeiten in ihrem Gehirn zu erfahren, die auf ein „vergrößertes Empathiezentrum“ hindeuten könnten. Die Ursachen für das eigene Leiden werden damit vor allem im Inneren der eigenen Person – auf innerpsychischer und körperlicher Ebene – lokalisiert oder ganz jenseits der eigenen Handlungsmöglichkeiten verortet („Schicksal“). Diese Deutungen bieten damit kaum Ansätze für eigene Handlungsmöglichkeiten, sondern verstärken die Erfahrung, einem übermächtigen Schicksal ausgeliefert zu sein. Unreflektiert bleiben dagegen die eigene Entfernung von der sozialräumlichen Ausgangsposition und die mit dem sozialen Aufstieg verbundenen Fremdheitserfahrungen. Auch die familiengeschichtlichen Vermächtnisse und die eigene Verwicklung in intergenerationale Dynamiken von Schuld, Verantwortung und Verpflichtung, entziehen sich der Reflexion der Erzählerin noch weitgehend. ‚Migration‘ als irrelevante Kategorie für Zugehörigkeits- und Differenzerfahrungen im Studium Anders als in den bereits vorgestellten Fallbeispielen hat die Differenzlinie ‚Migration‘ in Alicja Pajaks studienbiographischer Konstruktion keine Bedeutung für die ei-
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gene Verortung – weder als Anlass für Ausgrenzungs- oder Besonderungserfahrungen, noch als Ressource für die Herstellung von Verbindungen zu Fachinhalten oder beruflichen Positionen. In Alicja Pajaks Erzählung über ihr Studium lassen sich keine Hinweise auf Praktiken oder Adressierungen finden, in denen die Migrationsgeschichte der Biographin bedeutsam gemacht würde. Dezidierte Rassismuserfahrungen werden nicht thematisiert. Dennoch wird deutlich, dass sich die soziale Zugehörigkeit der Biographin im studentischen Feld problematisch gestaltet. Dies wird von der Biographin selbst als Ausdruck der unterschiedlichen Grade der Vernetzung der Studierenden untereinander gedeutet. Es werden hier Grenzziehungen im studentischen Feld virulent, die mit Elias/Scotson (1993) als Ausdruck der Beziehung zwischen „Etablierte[n] und Außenseiter[n]“ gedeutet werden können. Sie lassen sich mit der unterschiedlich intensiven und regelmäßigen Anwesenheit der Studierenden erklären, möglicherweise verweisen sie aber auch darauf, dass Biographin von den Mitstudierenden als sozial ‚fremd‘ wahrgenommen wird. Alicja Pajaks Umgangsweise mit diesen Grenzziehungen führt dabei zu einer Form des Selbstausschlusses. Auch im Hinblick auf die geschilderten Interaktionen mit Lehrenden gibt es keine Anhaltspunkte dafür, dass Alicja Pajak als Studentin ‚mit Migrationshintergrund‘ eine direkte Diskriminierung erfahren würde. In dem erzählten Beispiel wird vielmehr ein zeitintensives, individuelles Eingehen des Dozenten auf die Schwierigkeiten der Studentin mit dem wissenschaftlichen Arbeiten geschildert, das über dem üblichen Maß an Unterstützung liegt, das Studierende an der Universität hierbei in der Regel erfahren. Allerdings kommen in der geschilderten Szene des Plagiarismus-Vorwurfs bestimmte Formen der Degradierung zum Tragen, die die ohnehin bereits tiefgehende Verunsicherung der Biographin vermutlich weiter verschärft haben die Schwelle, künftig in Kontakt mit Lehrenden zu treten, weiter erhöhen. Zu einem Hindernis werden zudem die geringen Selbstwirksamkeitserwartungen der Biographin und die implizite Zurückweisung der Verantwortung für die Resultate des eigenen Handelns, die einem Lernprozess im Weg stehen und schließlich zu einer Diskreditierung führen. So wenig die Positionierung als ‚Migrationsandere‘ in Alicja Pajaks Studienerzählung als Dimension für Ausgrenzungserfahrungen auf der Interaktionsebene relevant wird, so wenig Relevanz hat ‚Migration‘ auch als Dimension für die Etablierung eines Zugehörigkeitsverhältnisses zum pädagogischen Studium. Weder wird die eigene Migrationsgeschichte zu einer Ressource zur Herstellung neuer sozialer Beziehungen (wie im Fall Anna Schuster) oder für den eigenen Berufsentwurf (wie im Fall Nuray Coúkun), noch werden migrationsrelevante Themen zu einem ‚Anker‘ für die Identifikation mit Studieninhalten (wie im Fall Dilan Karatay). Die vordergründige Irrelevanz von ‚Migration‘ in der Studienbiographie der Erzählerin lässt sich einerseits so deuten, dass Differenzzuschreibungen im pädagogischen Studium nicht per se zu einer bedeutsamen Erfahrungskategorie werden müssen und die Positionierung als Migrationsandere keine notwendige Referenzkategorie für die eigene Verortung im sozialen Kontext der Universität darstellt. Alicja Pajak kann ihre Studienbiographie präsentieren, ohne sich dabei als ‚Migrationsandere‘ positionieren zu müssen. ‚Migration‘ stellt für sie keine relevante Kategorie ihres Selbstverhältnisses als Studentin dar. Andererseits ist das pädagogische Studium für sie aber auch kein Raum, der ihr eine reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Erfahrungsgeschichte, eigenen sozialen Zugehörigkeiten und der Bedeutung der fa-
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milialen Migration als biographische Ressource für ihren Bildungsweg und für mögliche berufsbiographische Entwürfe und Perspektiven eröffnen würde. Die Fallrekonstruktion macht deutlich, dass die Aspekte, die zu der prekären Zugehörigkeit der Biographin im universitären Kontext führen, sich mit kategorialen Begriffen (wie etwa „sozio-ökonomischer Hintergrund“ oder „Migrationshintergrund“) kaum angemessen beschreiben lassen. Die Fallkonstellation verweist vielmehr auf eine komplexe Konfiguration und Verflechtung institutioneller Voraussetzungen, biographischer Ereignisse und Dynamiken. Alicja Pajaks Studienerfahrungen sind dabei nicht als losgelöst von der Positionierung der Biographin im sozialen Raum zu sehen, sondern verweisen immer wieder auf diese. So müssen etwa ihre ‚Fehleinschätzung‘ der Studienanforderungen, die Unsicherheit über die akademische (Fach-)Sprache auch vor dem Hintergrund nicht verfügbarer Vorbilder, Ressourcen und Lerngelegenheiten in der Familie und der näheren sozialen Umgebung verstanden werden. Sie lassen sich aber weder kausal daraus ableiten noch darauf reduzieren. Vielmehr sind sie auch in Zusammenhang mit der individuellen biographischen Prozesslogik zu sehen, die bestimmte Dynamiken begünstigt und u.U. entscheidend dafür ist, dass z.B. Prioritäten zu bestimmten Zeitpunkten so und nicht anders gesetzt werden, was wiederum bestimmte Konsequenzen nach sich zieht. So steht in Alicja Pajaks Geschichte etwa das Ausnutzen der (vermeintlichen) Freiheiten des Studiums und das Ignorieren institutioneller ‚Fahrpläne‘ nicht nur in Zusammenhang mit ‚Unwissenheit‘, sondern auch in Zusammenhang mit dem Wunsch nach der Verwirklichung von Autonomieansprüchen. Die institutionellen Rahmenbedingungen, die sich rekonstruieren lassen, bilden einen weiteren Kontext für das (zumindest partielle) Scheitern der Biographin an der Universität. So wird in Alicja Pajaks Geschichte (ähnlich wie im Fall Dilan Karatay) deutlich, dass die Universität (nach den Studienreformen) die Lernenden in einer mehrdeutigen Art und Weise adressiert: Einerseits besteht eine hohe Erwartung an die Selbstorganisation der Studierenden – dies betrifft das Beschaffen von Informationen und die Studienorganisation selbst – andererseits wird durch Anwesenheitsverpflichtungen, ein weitgehend festgelegtes Curriculum und standardisierte Prüfungsformen suggeriert, dass es sich um ein schulähnliches Setting handelt, in dem in erster Linie ein ‚schulischer‘ (Lern-)Habitus gefragt sei. Diese Mehrdeutigkeit erzeugt Irritationen und legt – gerade für Studierende, die nicht auf familiale Erfahrungen mit universitärer Bildung zurückgreifen können – Fehleinschätzungen nahe. In welcher Weise diese Ambivalenzen der Studienstruktur in der Studienbiographie allerdings bewältigt und bearbeitet werden, steht wiederum im Zusammenhang mit je konkreten biographischen Prozessdynamiken, in die sie ‚eingebaut‘ werden. Alicja Pajaks Studienbiographie macht somit erkennbar, dass prekäre Studienverläufe und Zugehörigkeitserfahrungen im Kontext Universität auf der Einzelfallebene kaum hinreichend verstanden werden können, wenn sie vereinfachend als ‚Auswirkungen‘ von kategorial gedachten ‚Differenzdimensionen‘ oder ‚-merkmalen‘ betrachtet werden. Um Ausgrenzungsprozesse und Erfahrungen prekärer Zugehörigkeit in ihrer Komplexität differenzierter analysieren zu können, ist stattdessen die Rekonstruktion individuell-biographischer Prozessdynamiken in ihrem Zusammenspiel mit den Bedingungen des jeweiligen sozialen Feldes notwendig. Dies zeigt der Fall Alicja Pajak in besonders deutlicher Weise.
Teil IV: Kontrastierung und theoretische Reflexion
11.
Bildungsbiographische Verläufe und Prozesse in vergleichender und fallübergreifender Sicht
Im vorangegangenen Teil der Arbeit wurden vier Fallrekonstruktionen präsentiert, die exemplarische Varianten bildungsbiographischer Prozessverläufe repräsentieren. Die vier Fälle wurden ausgewählt, weil sie hinsichtlich des Verhältnisses von Biographie und Studium sowie der Bedeutung der Kategorie ‚Migration‘ in der (studien-)biographischen Konstruktion miteinander kontrastieren. Standen bisher noch die Lebensgeschichten in ihrer „biographischen Gesamtformung“ (Schütze 1983a: 286) im Zentrum, wird im Folgenden eine Bewegung von der einzelfallbezogenen zu einer fallübergreifenden Betrachtung vollzogen. Um in qualitativen Studien zu Verallgemeinerungen zu gelangen, sind unterschiedliche methodologische Wege und Vorgehensweisen möglich. Ein häufig gewähltes Verfahren der Generalisierung stellt die Abstraktion und Generalisierung mittels Typenbildung dar (vgl. Przyborski/Wohlrab-Sahr 2008; Ecarius/Schäffer (Hg.) 2010). Unabhängig von der jeweils konkreten methodischen Vorgehensweise besteht das grundlegende Prinzip darin, die Einzelfälle in ihrer Komplexität auf wenige abstrakte Strukturmerkmale zu verdichten und zuzuspitzen, um Gemeinsamkeiten und Differenzen im Vergleich zu anderen Fällen herausarbeiten und auf diese Weise idealtypische Muster voneinander unterscheiden zu können. So wäre es etwa denkbar, auf Basis der kontrastierenden Einzelfallanalysen eine Typologie bildungsbiographischer Prozessverläufe zu entwickeln, die sich auf Pädagogik- und Lehramtsstudierende mit Migrationsgeschichte beziehen. Theodor Schulze (1997) hat diese Form der Verallgemeinerung in der Biographieforschung als ein Vorgehen beschrieben, das auf die Konstruktion einer „Gruppenbiographie“ (ebd.: 176) ausgelegt ist. Ziel ist es, ausgehend von der Analyse von Lebensgeschichten zu einer „typisierenden Charakteristik einer Gruppe – ihrer Bewegung im sozialen Raum, ihrer Erfahrungen, Einstellungen und Erwartungen“ (ebd.) zu gelangen. Die Gemeinsamkeit der einbezogenen Fälle, die die Legitimationsbasis dafür bildet, überhaupt von einer ‚Gruppe‘ sprechen zu können, ergibt sich dabei aus der „vergleichbare[n] Lagerung der Lebensläufe im sozialen und historischen Raum, in Gesellschaft und Geschichte“ (ebd.: 177). Diese geteilten Bedingungen formen einen übergreifenden Rahmen, in dem sich gemeinsame „Erfahrungskomplexe“ (ebd.) und ähnliche Deutungsweisen konstituieren können. Schulze weist
412
| TEIL IV: KONTRASTIERUNG UND THEORETISCHE REFLEXION
darauf hin, dass dabei jedoch immer ein Spannungsfeld zwischen kollektiven und individuellen, allgemeinen und besonderen Erfahrungen bestehen bleibt: „Die Gemeinsamkeit zeigt sich nur in der Distanz und im ungefähren Hinsehen. Sobald man näher herantritt und die einzelnen Belege genauer betrachtet, werden Unterschiede erkennbar, und je mehr man den Unterschieden nachgeht, desto mehr löst sich der gemeinsame Erfahrungskomplex auf in eine Vielzahl unterschiedlicher Erfahrungen, die unter Umständen in einem scharfen Gegensatz zueinander stehen“ (ebd.: 178).
Bei der Typenbildung wird dieses Spannungsverhältnis tendenziell zugunsten einer vereinheitlichenden Betrachtungsweise aufgelöst, indem die untersuchten Einzelfälle bestimmten Strukturmustern zugeordnet werden, die von der Besonderheit des Individuellen abstrahieren. Dabei bergen manche Varianten der Typenbildung die Gefahr, zu einer Stereotypisierung von Personengruppen beizutragen. Dies gilt insbesondere dann, wenn Einzelfälle zu Repräsentanten eines Typus gemacht werden und personalisierende Typenbezeichnungen gewählt werden.1 Hier kann leicht aus dem Blick geraten, dass Typologien wissenschaftliche Konstruktionen sind, die idealtypische Ausprägungen eines Phänomens abbilden sollen – und nicht etwa in der sozialen Wirklichkeit anzutreffende Personengruppen. Betrachtet man die im ersten Teil dieser Arbeit beschriebenen Tendenzen der Problematisierung der Studienverläufe von ‚Studierenden mit Migrationshintergrund‘ einerseits und der Idealisierung ‚bildungserfolgreicher Migrant*innen‘ und (angehender) ‚Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte‘ als Repräsentant*innen ‚gelungener‘ Bildungskarrieren andererseits, so scheint eine typisierende Betrachtungsweise in dem hier untersuchten Feld weit verbreitet zu sein. In der vorliegenden Studie wurde deshalb auf die Entwicklung einer Typologie verzichtet und eine andere Form der Verallgemeinerung gewählt. Denn in den untersuchten Lebensgeschichten lassen sich zwar bestimmte gemeinsame „Erfahrungskomplexe“ erkennen, aber mindestens ebenso bedeutsam erscheinen die Unterschiede zwischen den verschiedenen Erfahrungsgeschichten. Zudem hat die Analyse der individuellen Lebensgeschichten gezeigt, dass sich bildungsbiographische Prozesse auch innerhalb des jeweiligen Einzelfalls mehrdeutig und differenziert gestalten und sich einer Festschreibung auf ein einzelnes ‚Muster‘ vielfach entziehen. So ließen sich in den vier Einzelfallrekonstruktionen zwar fallspezifische Varianten (bildungs-)biographischer Verläufe und Prozesse sowie kontrastierende Bedeutungen des pädagogischen Studiums in der Lebensgeschichte herausarbeiten. Es wurde aber auch sichtbar, dass die Einzelfälle keine einheitlichen biographischen Prozessmuster repräsentieren. „[K]eine Biographie geht in einem Falltypus gänzlich auf. Sie ist ein Fall für sich“ (Schulze 2009: 32). Durch eine Typisierung der Einzelfälle würde eine Kohärenz der jeweiligen Biographie suggeriert, die etwa fließende Übergänge zwischen verschiedenen Prozessstrukturen oder die zeitgleiche Bedeutung widersprüchlicher biographischer Prozesse überdeckt. Differenzen zwischen Fällen, die verschiedenen Typen zugeordnet werden, müssten tendenziell überbetont, während Differenzen zwischen Fällen eines Typus tendenziell nivelliert werden müssten.
1
Beispiele dafür finden sich in einigen der in Kapitel 2.1 angeführten Arbeiten.
11. BILDUNGSBIOGRAPHISCHE VERLÄUFE UND PROZESSE IN VERGLEICHENDER SICHT | 413
Typenbildende Verfahren in Studien, die sich mit Bildungsverläufen und -prozessen befassen, erscheinen auch deshalb zumindest nicht ganz unproblematisch, weil sie unweigerlich Festschreibungen produzieren: „Typenbildung [trägt] dazu bei, ‚flüssige‘ soziale Tatbestände in ‚feste‘ zu überführen“ (Schulze 2009: 39). Dies macht eine ‚Ausklammerung‘ der Prozesshaftigkeit und Kontingenz biographischer Prozesse erforderlich. Diese Dimension hat sich in der Analyse der Einzelfälle aber gerade als durchaus bedeutsam für das Verständnis der Bildungsgeschichten herausgestellt. In den Lebensgeschichten kommt es immer wieder auch zu unerwarteten Wendungen und Entwicklungen, die eine Revision bisheriger Erfahrungshaltungen ermöglichen. Dies ist aus biographietheoretischer Sicht nicht überraschend, sondern untermauert vielmehr das Theorem der „Biographizität“ (vgl. Alheit 1993; s.a. Kap. 5.1.2). Wird dies ausgeblendet, kann leicht der Eindruck einer Zwangsläufigkeit eines einmal eingeschlagenen Wegs entstehen, dessen Verlauf u.U. bereits in den Ausgangsbedingungen der jeweiligen Biographie angelegt zu sein scheint. Der Eindruck einer sozialer Determiniertheit von Lebens- und Bildungsgeschichten wird jedoch den „Sinnüberschüssen“ (vgl. Alheit 1993: 401) und der damit verknüpften Mehrdeutigkeit und ‚Fluidität‘ von Lebenskonstruktionen nicht gerecht. Biographien sind nicht statisch, sondern prozesshaft und bleiben dadurch prinzipiell für Revisionen offen. Die methodologische Herausforderung biographieanalytischer Studien besteht deshalb aus meiner Sicht darin, Gemeinsamkeiten und fallübergreifende Strukturen der untersuchten Bildungsgeschichten aufzuzeigen und zugleich die individuelle Prozesshaftigkeit bildungsbiographischer Verläufe, die in den Einzelfallanalysen herausgearbeitet wurde, sichtbar zu halten. Für das eigene Forschungsvorhaben erschien es deswegen wichtig, eine Form der Verallgemeinerung zu wählen, die geeignet ist, die Komplexität des Gegenstandes nicht zu reduzieren, sondern sie zu explizieren. Die nachfolgende Form der Generalisierung orientiert sich an der Methodologie der Grounded Theory, insoweit als fallübergreifende ‚Kategorien‘ ausgearbeitet und in eine Ordnung gebracht werden.2 Das Ziel dieses Schritts besteht darin, übergreifende Aspekte der biographischen Verläufe und Prozesse sichtbar zu machen, die sich im Fallvergleich als relevant für die Gestaltung der untersuchten Biographiekonstruktionen erwiesen haben. Insbesondere werden jene Bedingungskonstellationen und Prozesse ausgearbeitet, die sich als bedeutsam für Fragen der Teilhabe der Subjekte am Bildungssystem herausgestellt haben. Damit in Verbindung stehen die biographischen Erfahrungen und Konstruktionsprozesse von Zugehörigkeit, die sich für die Subjekte mit dem Durchqueren von und dem Aufenthalt in den jeweiligen bildungsrelevanten Kontexten verbinden und die auf ihre sozialen, institutionellen und biographischen Bedingungs- und Möglich2
Kodes und Kategorien stellen in der Sprache der Grounded Theory abstraktere Begriffe für Phänomene dar, die im Datenmaterial aufgefunden werden. Kategorien werden in einem Prozess der Auswahl, Zusammenfassung und Sortierung von Kodes gewonnen (vgl. Breuer 2010: 74) und sind damit Ergebnis eines späteren Schritts im Prozess der Datenauswertung. Beim Vorgehen bei der vorliegenden Auswertung wurden – ausgehend von den sequenziellen Analysen der Einzelfälle – Aspekte, die sich als entscheidend für den bildungsbiographischen Prozessverlauf erwiesen haben, zu fallübergreifenden Prozessdimensionen zusammengefasst.
414
| TEIL IV: KONTRASTIERUNG UND THEORETISCHE REFLEXION
keitsräume hin reflektiert werden.3 Dabei werden sowohl Gemeinsamkeiten als auch kontrastierende Muster und Varianten aufgezeigt. Die Kategorien werden dabei – gemäß des Prinzips der datenbasierten Theoretisierung – immer wieder an das Material zurückgebunden. Viele der ausgearbeiteten bildungsbiographischen Prozessdimensionen4 sind dabei nicht spezifisch für die Biographien von Studierenden mit Migrationsgeschichte, sondern verweisen auf Zusammenhänge, die sich auch in anderen Bildungsbiographien finden lassen. Gerade vor dem Hintergrund der Tendenz einer Exotisierung von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus migrierten Familien erscheint es mir wichtig, das „Allgemeine im Besonderen“ (Schulze 1997) aufzuzeigen. In einigen Dimensionen spiegeln sich gleichwohl auch Bedingungs- und Erfahrungskonstellationen wider, in denen der Migrationsgeschichte oder der Positionierung der Subjekte als Migrationsandere eine Bedeutung zukommt. Bei der Ausarbeitung der Prozessdimensionen beziehe ich mich insbesondere auf den Vergleich der vier ausgearbeiteten Einzelfallrekonstruktionen, die jedoch gezielt um Beispiele aus weiteren Fallanalysen aus dem Gesamtsample ergänzt werden. Letztere werden dabei nicht in ihrer biographischen Gesamtformung dargestellt, sondern dienen lediglich der selektiven Kontrastierung im Hinblick auf den jeweiligen thematischen Aspekt. Durch die Einbeziehung weiterer Fälle wird das Variationsspektrum innerhalb des Gesamtsamples transparent gemacht, und die Ergebnisse der Einzelfallanalysen erfahren eine weitere empirische Fundierung und Differenzierung. Die Ordnung der Dimensionen erfolgt im Rahmen einer zeitlich organisierten Gliederungsstruktur, die sich an der sequenziellen Abfolge bildungsbiographisch relevanter Kontexte und ‚Abschnitte‘ orientiert. Durch diese zeitliche Ordnung soll eine additive Ergebnisdarstellung vermieden und stattdessen die sequenzielle Logik bildungsbiographischer Prozessverläufe auch in der fallvergleichenden Perspektive sichtbar gemacht werden. Das Kapitel gliedert sich in fünf Teile. Im ersten Teil werden bildungsbiographisch relevante Dimensionen familiengeschichtlicher Tradierungsprozesse fokussiert (Kap. 11.1). Anschließend werden Dimensionen schulbiographischer Prozesse und Zugehörigkeitserfahrungen im schulischen Kontext ausgearbeitet (Kap. 11.2). Nachfolgend steht die Studienphase im Zentrum, der vor dem Hintergrund der Fragestellung – ähnlich wie bereits in den Einzelfalldarstellungen – besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird. So stehen zunächst die Wege ins pädagogische Studium im Zentrum (Kap. 11.3). Danach werden Dimensionen des Studienbeginns beleuchtet, 3
4
In der nachfolgenden Darstellung bleiben beide Ebenen der Analyse eng miteinander verschränkt, da die biographietheoretische Perspektive eine Trennung in ‚Innen-‘ und ‚Außenaspekt‘ gerade überwinden will (vgl. Kap. 5.1.2). Der Ausdruck „Dimensionen“ wird dabei nicht gemäß des Begriffsverständnisses der Grounded Theory verwendet, in der darunter die Ausprägungen der Eigenschaften von Kategorien verstanden werden (vgl. Breuer 2010: 74). Der Begriff „Dimensionen“ soll vielmehr verdeutlichen, dass es sich um Aspekte bildungsbiographischer Prozessverläufe handelt, die vor dem Hintergrund bestimmter theoretischer Aufmerksamkeitsrichtungen herausgearbeitet wurden und sich damit nicht der Anspruch der Entwicklung eines allumfassenden Modells bildungsbiographischer Prozesse verbindet.
11. BILDUNGSBIOGRAPHISCHE VERLÄUFE UND PROZESSE IN VERGLEICHENDER SICHT | 415
der als biographischer und institutioneller Übergangsprozess beschrieben wird (Kap. 11.4). Im letzten Schritt werden schließlich zugehörigkeitsrelevante Prozesse und Erfahrungen im Verlauf des pädagogischen Studiums thematisiert (Kap. 11.5). Den Rahmen für die theoretische Reflexion und Kontextualisierung der Ergebnisse der fallvergleichenden Analyse bilden die zuvor skizzierten biographie- und zugehörigkeitstheoretischen Konzepte (vgl. Kap. 5).
11.1 Z WISCHEN T RADIERUNG UND T RANSFORMATION – FAMILIALE E RFAHRUNGSPOTENZIALE ALS BIOGRAPHISCHE R ESSOURCEN In der fallübergreifenden Betrachtung der Biographien bis zum Studium lassen sich vielfältige institutionelle und lebensweltliche Kontexte identifizieren, die für die Bildungsgeschichten und die Formation und Wandlung von Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen relevant sind. Diese Kontexte repräsentieren Erfahrungsräume, in denen sich die Individuen in je spezifischer Weise zur ‚Welt‘ ins Verhältnis setzen und dazu ins Verhältnis gesetzt werden. Sie entwickeln einen Sinn für die ihnen offen stehenden (Handlungs-)Möglichkeiten und bilden Erfahrungshaltungen, Selbstund Zugehörigkeitsverständnisse aus, die ihrerseits eine Grundlage für die Aneignung neuer Erfahrungen und Selbstverortungen in anderen sozialen Kontexten darstellen. Ein Kontext, der sich in allen Lebensgeschichten als bedeutsam für die Bildungszugänge und -erfahrungen der Biograph*innen erweist, ist die jeweilige Herkunftsfamilie. Dies ist an sich freilich kein spezifisches ‚Merkmal‘ der Biographien von Individuen ‚mit Migrationsgeschichte‘, sondern ließe sich an jeder beliebigen Biographie rekonstruieren. Die Bedeutung der Familie für die Bildungslaufbahnen der nachwachsenden Generation ist in der Bildungsforschung unumstritten. Auch viele der vorliegenden Arbeiten zu ‚Bildungserfolgen‘ und Bildungsaufstiegen im Kontext von Migration haben aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven die Relevanz familialer Bildungsressourcen und elterlicher Bildungshaltungen für die Gestaltung von Bildungswegen (vgl. Raiser 2007; Tepecik 2010) und Individuationsprozessen (vgl. Hummrich 2009; King 2006) der nachfolgenden Generation hervorgehoben. Während in der quantitativ-empirischen Bildungsforschung wiederholt auf Zusammenhänge zwischen den in der Familie vorhandenen kulturellen Ressourcen5 und den Bildungserfolgen der Kinder hingewiesen wird (vgl. Baumert/Stanat/Watermann 5
Diese werden dabei unterschiedlich operationalisiert. Neben den von den Eltern formal erreichten Bildungsabschlüssen wird in Studien, die auf den PISA-Daten basieren, auch auf das Konzept des kulturellen Kapitals nach Bourdieus rekurriert, indem etwa der Umfang der in der Familie vorhandenen kulturellen Güter (Bücher, Musik usw.) zum Indikator gemacht wird. Dieser Ansatz ist jedoch u.a. deshalb als verkürzt kritisiert worden, da auf diese Weise allein die Quantität vorhandener ‚Bildungsgüter‘ erfasst wird, nicht aber die Art und Weise, wie sie durch die sozialen Akteur*innen genutzt und angeeignet werden. Im Anschluss an Bourdieu ist jedoch gerade die Praxis des Umgangs mit kulturellen Gütern als entscheidend anzusehen (vgl. Kramer 2011: 125ff.).
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2006), kann mit qualitativen Forschungszugängen und insbesondere mit biographischen Ansätzen differenzierter rekonstruiert werden, welche Ressourcen in welcher Art und Weise im lebensgeschichtlichen Zusammenhang eine „Bildungsbedeutsamkeit“ (Büchner 2006: 29) entfalten. Ausgehend von der vorliegenden Studie lassen sich verschiedene Ebenen unterscheiden, auf denen sich die Bildungsrelevanz von ‚Familie‘ rekonstruieren und beschreiben lässt: Die Interviewten beziehen sich in ihren Erzählungen zum einen auf Aspekte ihres expliziten Wissens, sie referieren z.B. auf Familienmitglieder, denen sie eine Bedeutung als signifikante Andere für die eigene Bildungsbiographie zuweisen (vgl. Kap. 11.2.3). Zum anderen verweisen die Erzählungen auf Prozesse der intergenerationalen Transmission von Wissen und Erfahrung. Mit dem Begriff der Transmission beschreiben Daniel Berteaux und Isabelle Berteaux-Wiame (1991: 14) Prozesse der Weitergabe, Übertragung und Überlieferung von kulturellen Ressourcen, Wertvorstellungen und Orientierungen innerhalb von Familien. Diese vollziehen sich, so die Autor*innen, „mehr oder weniger bewußt, mehr oder weniger gewollt; einige können vollkommen unbeabsichtigt sein, ja sogar den bewußt angestrebten Zielen zuwiderlaufen“ (ebd.: 14f.). Verweise auf solche familialen Transmissionsprozesse sind den untersuchten Erzählungen eher implizit – die Erzählungen enthalten mehr Sinn und Bedeutung als sich in den Eigendeutungen der Interviewten widerspiegelt. In den vier ausführlichen Fallrekonstruktionen ließen sich verschiedene Dimensionen bildungsbiographisch relevanter (Erfahrungs-)Ressourcen rekonstruieren, die auch in anderen Fällen erkennbar werden.6 Dabei werden sowohl Prozesse sichtbar, die als allgemein bedeutsam für Bildungsbiographien gelten können, als auch solche, in denen die Relevanz der familialen Migrationserfahrungen für die Biographien der nachfolgenden Generation zum Ausdruck kommt. 11.1.1 Kulturelle Ressourcen In den untersuchten Erzählungen finden sich Hinweise auf die Transmission kultureller Ressourcen, die eine unmittelbare Bedeutung für die Bildungswege der Individuen haben. Im Anschluss an Pierre Bourdieu (1997) können diese Prozesse als Formen der Weitergabe kulturellen Kapitals verstanden werden. Sozio-kulturelle Ressourcen werden dabei nicht nur intentional weitergegeben, sondern sind vielfach in familiale alltagskulturelle Praxen eingewoben (vgl. Brake 2006; Gohlke/Büchner 2006). Hinsichtlich der Erscheinungsformen, der Zusammensetzung und des Umfangs des kulturellen Kapitals gibt es bedeutende Unterschiede innerhalb des Samples, was auf die verschiedenen sozialräumlichen Positionierungen der Familien meiner Interviewpartner*innen verweist. So werden in Nuray Coúkuns Erzählung beiläufige Bildungsprozesse thematisiert, die durch die Einbindung der Biographin in eine Familienumgebung möglich werden, in der Praktiken des Wissenserwerbs und der Auseinandersetzung mit fachlichen Fragen in den familialen Alltag integriert sind.
6
Transmissionsprozesse können kaum direkt beobachtet, sondern nur rekonstruktiv erschlossen werden (vgl. Brake/Büchner 2003: 625). Aufgrund des gewählten Untersuchungszugangs werden sie zudem nur aus Sicht der Interviewten, d.h. von der ‚Aneignungsseite‘ her zugänglich.
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N: mein Stiefvater, der hat - der hat sehr viel - ähm - auch - Zeit mit mir verbracht, also der hat - wir haben - ständig Texte zusammen gelesen und darüber diskutiert (Nuray Coúkun 55/3-5) N: Und stän_also diese ständigen Diskussionen der hat auch n Freund, sein bester Freund Matthias, und der ist - Rentner und der is n totaler Crack, der hat irgendwie - ähm sich auf die Systemtheorie spezialisiert von Luhmann und - dann saßen wir haben hier echt stundenlange Diskussionen geführt über ähm - diese Systemtheorie (Nuray Coúkun 55/37-56/2)
Nuray Coúkun bewegt sich in einer Umgebung, in der eine Beschäftigung mit wissenschaftlichen Theorien zum Alltag gehört. Sie wird in diese Praxis selbstverständlich einbezogen und lässt sich (zu diesem Zeitpunkt ihrer Bildungsgeschichte) darauf ein. Auf diese Weise erwirbt sie nicht nur ein Wissen über sozialwissenschaftliche Theorien, sondern übt sich auch beiläufig in eine akademische Reflexions- und Diskussionskultur ein, die im Rahmen des Gesamtschulbesuchs und später im Studium eine entscheidende Ressource darstellt. An diesem Beispiel zeigt sich einerseits, wie kulturelle Privilegien sozial vererbt und beiläufig angeeignet werden. Transmissionsprozesse wie diese, in denen Kompetenzen erworben werden können, die in einer großen Nähe zu den in höheren Bildungsgängen geforderten kulturellen Praxen stehen, lassen sich schwerlich in Familien finden, in denen niemand mit einer derartigen akademischen Kultur vertraut ist. Zugleich zeigt sich, dass solche Prozesse auf Voraussetzungen angewiesen sind, die erst dazu führen, dass familial verfügbares kulturelles Kapital tatsächlich als Ressource für die Bildungsbiographie erschlossen werden kann. Dazu gehören unter anderem gemeinsam miteinander verbrachte Zeit und die Bereitschaft der Subjekte, sich das kulturelle Erbe anzueignen und zu erschließen. Beides ist in Nuray Coúkuns Fall nicht von Anfang an gegeben, sondern die Bedingungen für einen ‚gelingenden‘ Transmissionsprozess der vorhandenen kulturellen Ressourcen stellen sich erst zu einem späten biographischen Zeitpunkt her. Aus Nuray Coúkuns Erzählungen über ihre Zeit als Teenagerin in der Wohngemeinschaft (vgl. Kap. 7.2.1) lässt sich schließen, dass es hier gerade keinen geeigneten Rahmen für gemeinsam verbrachte Zeit und die Etablierung einer Gesprächskultur gab bzw. ein solcher Raum von den Beteiligten nicht hergestellt wurde. In der späteren Wohnkonstellation treffen die Familienmitglieder hingegen unter neuen Rahmenbedingungen zusammen und setzen sich in veränderter Weise zueinander ins Verhältnis. Nach dem zwischenzeitlichen Bruch der Biographin mit sämtlichen Familienangehörigen findet eine Transformation der Beziehungsmuster zwischen den Beteiligten statt. Kennzeichnend sind wechselseitiges Vertrauen, Anerkennung und Verantwortungsübernahme, was sich sowohl im Verhältnis der Biographin zu ihrem Stiefvater als auch zu ihrer jüngeren Schwester zeigt. Erst unter diesen Bedingungen werden kulturelle Transmissionsprozesse rekonstruierbar, die vorher in dieser Form zumindest in der Erzählung nicht erkennbar waren. Es zeigt sich somit, dass das Vorhandensein kultureller Ressourcen in der Familie allein noch nicht garantiert, dass diese in jedem Fall weitergegeben und angeeignet werden. Der Erwerb kulturellen Kapitals ist aus lebensgeschichtlicher Sicht nicht nur vom Vorhandensein entsprechender Ressourcen in der familialen Umgebung abhängig, sondern auch von konkreten biographischen Entwicklungen und äußeren Rah-
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| TEIL IV: KONTRASTIERUNG UND THEORETISCHE REFLEXION
menbedingungen, die Einfluss darauf haben, inwiefern dieses Kapital tradiert und angeeignet wird. Auch in Familien, in denen die Eltern lediglich über eine geringe oder marginale Formalbildung verfügen, werden kulturelle Haltungen und Praxen tradiert, die eine Ressource für die formalen Bildungswege der Kinder darstellen. In verschiedenen Studien über Bildungswege ‚türkischer‘ Bildungsaufsteiger*innen ist bereits aufgezeigt worden, dass Eltern trotz geringer eigener Formalbildung oft eine bildungsfreundliche Haltung einnehmen, den Kindern eine hohe Wertschätzung von Bildung vermitteln und sie dazu ermutigen, höhere Bildungswege einzuschlagen (vgl. u.a. Hummrich 2009; Raiser 2007; Tepecik 2010). Auf eine solche bildungsaffine Haltung der Eltern lassen auch viele meiner Interviews schließen. Diese kann als überaus bildungsbedeutsam eingeschätzt werden, insofern sie einen Raum für die Entwicklung von Bildungsaspirationen und Bildungsentwürfen auf Seiten der Kinder entstehen lässt. Allerdings lässt sich einwenden, dass damit noch kein Zugang zu Ressourcen und keine Vertrautheit mit jenen ganz konkreten kulturellen Alltagspraxen und techniken gegeben ist, die für die Verwirklichung einer formal ‚erfolgreichen Bildungskarriere‘ unmittelbar relevant sind. In einigen meiner Interviews zeigt sich jedoch, dass auch in Familien, die über wenig (legitimes) kulturelles Kapital verfügen, nicht nur abstrakte Bildungsaspirationen weitergegeben werden, sondern auch konkrete kulturelle Praxen vermittelt und eingeübt werden, von denen vermutet werden kann, dass sie eine unmittelbare Relevanz für formale Bildungsprozesse haben. Dies lässt sich besonders gut am Beispiel Meral Yilmaz aufzeigen, das hier kurz vorgestellt werden soll. Meral Yilmaz ist in einer Kleinstadt in Deutschland geboren und aufgewachsen. Ihre Eltern kamen aus einer ländlichen Region der Türkei in den späten 1960er Jahren nach Deutschland, wo ihr Vater bis zu seiner Pensionierung als Arbeiter in einer Metallfabrik tätig war. Meral Yilmaz ist die siebte von elf Geschwistern. Ihre Mutter trägt die Hauptverantwortung für die Kinder, den Haushalt und den Garten. Beide Eltern verfügen über eine niedrige Formalbildung, die Mutter ist nicht alphabetisiert. Die Eltern legen in der Erziehung ihrer Kinder jedoch einen hohen Wert auf Bildung: M: beide=beide also sowohl meine Mutter als auch mein Vater legen sehr sehr viel Wert auf Bildung und von daher ist es immer so gewesen dass sie gesagt haben, wir möchten nicht dass ihr arbeitet, dass ihr Geld ins_ in die Wohnung bringt, wir möchten dass ihr äh, studiert, dass ihr irgend ne Bildung habt, dass ihr einen Abschluss habt, ein Diplom habt, damit wir später halt äh - es gut haben in unserem Leben. Weil äh alle beide hatten nicht die Möglichkeit irgendwie was zu machen (Meral Yilmaz 4/18-23)
Ähnlich wie in anderen Fällen wird auch hier zunächst erkennbar, dass das „ungelebte Leben“ (Alheit 1993: 399) der Eltern, die Bildungsmöglichkeiten, die sie selbst nicht hatten, als Argument dafür angeführt wird, dass die Kinder die ihnen zugänglichen Bildungsmöglichkeiten für sich nutzen sollen. Die Kinder werden also dazu ermutigt, einen Weg zu beschreiten, der den Eltern versperrt war und dadurch ihre Chancen auf ein ‚gutes Leben‘ zu verbessern. Dies lässt sich als Konstruktion einer familialen Bildungsstrategie deuten. Die hohen elterlichen Bildungsaspirationen bleiben dabei aber nicht als abstrakte Erwartung an die Kinder im Raum stehen, sondern sie werden auch durch die gelebte
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kulturelle Alltagspraxis in der Familie gefördert. Meral Yilmaz’ Eltern entwickeln in der Migration ein Bewusstsein für die Bedeutung religiöser Erziehung. Die Kinder werden in eine kulturelle Alltagspraxis eingeführt, zu der u.a. die Auseinandersetzung mit religiösen Schriften gehört. M: Und wir hatten das Glück dass unsere Eltern halt durch diese - äh - religiöse Bildung das haben wir auch zu äh zu türkischen Büchern ganz viel Kontakt bekommen - und äh wir=wir haben auch zu Hause abends in der Familie ähm Stunden so Familiensitzungen gehabt, wo die ganzen Kinder und äh Erwachsenen zusammen gesessen haben und äh wir haben erst einmal Gebet unser Abendgebet zusammen verrichtet und im Anschluss äh durften wir zum Beispiel Gesänge singen - mh - dann hat mein Bruder so was aus nem Buch gelesen, aus so ner Koraninterpretation also das sind diese Bücher (zeigt auf einige Buchbände im Regal) (Meral Yilmaz 4/43-5/7)
Durch die religiöse Erziehung und Bildung werden nicht nur Glaubensinhalte vermittelt, sondern es findet auch eine Lesesozialisation statt, die den Kindern eine kulturelle Vertrautheit im Umgang mit Texten und Praxen der Textauslegung ermöglicht. Damit verbindet sich das Wissen darum, dass ein Text aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden kann und unterschiedliche Positionen dazu eingenommen werden können. Es kann also vermutet werden, dass hier auf alltagskulturelle Bildungsprozesse und den Erwerb von Kompetenzen referiert wird, die auch für die Teilhabe an institutionalisierter Bildung relevant sind. Die religiöse Erziehung und Bildung der Kinder erfolgt dabei nicht nur ‚strategisch‘ im technischen Sinne, auch wenn die Biographin selbst die alltagskulturelle Praxis der Familie rückblickend teilweise durchaus als strategisch deutet. Vielmehr werden hier beiläufig Kulturtechniken eingeübt, von denen die Familienmitglieder auch in bildungsinstitutionellen Kontexten profitieren können. Die alltagskulturelle Praxis trägt somit zu einer Fundierung der intentionalen Bildungsstrategie bei. Es zeigt sich hier sehr deutlich, dass die Weitergabe kultureller Ressourcen sich in je konkreten „kulturellen Mikroklimata“ (Berteaux/Berteaux-Wiame 1991: 14) vollzieht, deren ‚Beschaffenheit‘ sich nicht aus dem formalen Bildungsniveau der Eltern ablesen lässt, sondern fallbezogen rekonstruiert werden muss. Meral Yilmaz’ biographische Konstruktion verweist auch darauf, dass die Kultivierung religiöser Alltagspraxen sich nicht als Manifestation eines starren Traditionssystems verstehen lässt, das die Eltern übernommen haben und an ihre Kinder weitergeben. Die Religion bekommt nach Meral Yilmaz‘ Aussage nämlich erst nach der Migration eine Bedeutung für die Eltern. M: Meine Eltern haben auch sehr viel Wert auf die religiöse Erziehung gelegt, das hat aber auch äh - das war nicht seit meiner Geburt, das hat äh - irgendwann als ich in der Grundschule war hat das angefangen, wo äh - äh - meine Eltern das Bewusstsein entwickelt haben dass Religion wichtig ist (Meral Yilmaz 4/9-12).
Die beschriebenen Prozesse der familialen Transmission von Religiosität vollziehen sich also als Prozesse der „Traditionsbildung“ (Inowlocki 1997; Apitzsch 1999) in der Migration. Mit dem Begriff der Traditionsbildung werden Prozesse der Aneignung und Umarbeitung von Traditionen beschrieben (vgl. Inowlocki 1997: 245):
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„Traditionelle Lebensformen werden nicht einfach entweder unveränderlich praktiziert oder aber aufgegeben, sondern in Entsprechung zum jeweiligen gesellschaftlichen Kontext verändert, transformiert oder auch neu geschaffen“ (ebd.: 246). In dem beschriebenen Beispiel ist Religiosität bereits in der Elterngeneration zum Gegenstand einer reflexiven Aneignung geworden. Diese reflexive Bezugnahme auf Traditionen vor dem Hintergrund einer veränderten Lebenssituation ist dabei keine zufällige Ausnahmeerscheinung. Sie kann vielmehr als Ausdruck eines Potenzials von Migrationsprojekten im Allgemeinen betrachtet werden, insofern als gesellschaftliche Kontextwechsel oft mit veränderten sozialen Positionierungen einhergehen und zu reflexiven Bezugnahmen auf bisherige Orientierungen und Routinen herausfordern. 11.1.2 Biographische Orientierungen und Handlungsmaximen Die Übertragung familialer Ressourcen kommt in den Erzählungen meiner Interviewpartner*innen nicht nur in Form der Transmission von kulturellem Kapital im engeren Sinn zum Tragen. Es werden auch Erfahrungs- und Wissensbestände tradiert, die als Handlungs- und Sinnressourcen für die Lebensentwürfe und die Selbstkonstruktion der Subjekte fungieren und so ebenfalls bildungsrelevant sind. Familial tradierte Erfahrungs- und Wissensbestände sowie Handlungsmaximen, die immer auch auf kollektive soziale Zugehörigkeiten und milieuspezifisches Wissen verweisen, werden von den Subjekten vielfach als Ressourcen für eigenes Handeln und als Orientierung für eigene biographische Entwürfe angeeignet und genutzt. Dabei bildet sich im Sample ein breites Spektrum bildungsrelevanter Wissensbestände und Handlungsmaximen ab, welche auch die Unterschiedlichkeit der im Sample repräsentierten sozialräumlichen Positionen und Familiengeschichten reflektiert. An den Erzählungen von Nuray Coúkun und Dilan Karatay wurde aufgezeigt, wie die Einbindung der Eltern in soziale und politische Bewegungen und die dort kultivierten Wissens- und Praxisformen in den Biographien der Subjekte Bedeutung erlangen. Kennzeichnend ist für beide Fälle das Engagement der Eltern in gesellschaftlichen Bewegungen und politischen Zusammenhängen, die sich für die Rechte kulturell und politisch minorisierten Gruppen einsetzen. In den Biographien der Töchter findet zunächst eine temporäre Distanzierung von den elterlichen Lebensentwürfen und Handlungsmaximen statt. Während es in Nuray Coúkuns Erzählung dabei in der Adoleszenz zu einer starken intergenerationalen Abgrenzungsdynamik kommt, die eine radikale und umfassende Abkehr der Biographin von jeglichen durch die Mutter repräsentierten Handlungsmaximen in allen Lebensbereichen impliziert, ließ sich im Beispiel Dilan Karatay eher ein schrittweiser Prozess der Autonomisierung rekonstruieren. In beiden Fällen kommt es jedoch zu einem späteren Zeitpunkt zu einer Wiederannäherung an die familial tradierten Orientierungen. Beide Biograph*innen knüpfen an die Lebensentwürfe und Handlungsmaximen der Eltern an und transformieren diese für ihren jeweiligen biographischen Entwurf. Nuray Coúkun eignet sich die ‚Familientradition‘ des politischen Denkens und Handelns als Sinnressource für ihren berufsbiographischen Entwurf an. Wie ihre Mutter verknüpft auch sie das Politische mit dem Beruflichen, indem sie ihr Lehramtstudium als Teil eines sozialen Kampfes um gesellschaftliche Teilhabe deutet und sich in den Diskurs um Migration und Bildung ‚einmischt‘. Anders als ihre Mutter trägt die Biographin
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den politischen ‚Kampf‘ um Gleichberechtigung und Anerkennung aber nicht primär auf der Straße, sondern vielmehr innerhalb der Bildungsinstitutionen selbst aus. Damit sucht sie ihre berufliche Aufgabe in der ‚Arena‘, in der Bildungs- und Partizipationschancen (ungleich) verteilt werden. Eine zentrale Möglichkeitsbedingung dafür, dass das familiale Erbe des ‚Politischen‘ zu diesem Zeitpunkt in Nuray Coúkuns Biographie relevant wird, bilden die gesellschaftlichen Diskurse um Migration und Bildungserfolg und die Adressierungen als Vorbild und Role Model, die sie sowohl in lebensweltlichen Kontexten als auch im Studium erfährt. Auch Dilan Karatay knüpft nicht von Beginn an das politische familiale ‚Erbe‘ an. In ihrer Erzählung wird dies erst über eine Form der ‚Initiation‘ durch Dritte möglich, die ihrer eigenen Generation angehören. Die durch etwa gleichaltrige Mittlerinnen initiierte eigene Politisierung steht zudem in Verbindung mit einem Prozess der bewussten Wahrnehmung rassistischer Handlungsformen und Erfahrungen diskursiver Ausschließungen durch ihre Peers. Diese spezifische Konstellation bildet den Hintergrund dafür, dass die Biographin das familiale Erbe des Politischen als Sinnressource für den eigenen biographischen Entwurf ‚entdeckt‘ und es als Orientierung für das eigene Handeln aneignet. Dies zeigt sich sowohl in ihrem politischen Engagement als auch in einem wachsenden Bewusstsein für Alltagsrassismus. Damit wird das familiale Erbe gleichzeitig insofern transformiert, als sich das politische Engagement auf die gesellschaftlichen Bedingungen bezieht, die die Biographin selbst unmittelbar betreffen (einschränkende schulische und hochschulische Bildungsbedingungen, Rassismus). Ähnlich wie im Fall Nuray Coúkun werden familial vermittelte Formen des Engagements damit umgearbeitet und in den eigenen biographischen Entwurf integriert. Die politischen Handlungsorientierungen sind in beiden Fällen insofern bildungsbedeutsam, als sie eine Relevanz für die Formation des Selbstverständnisses der Biographinnen gewinnen: Zentral für die biographischen Entwürfe beider Biographinnen sind das (Selbst-)Verständnis als politisches Subjekt und der Glaube an die Möglichkeit sowie der Anspruch auf die (Mit-)Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse. Mit diesem Anspruch machen beide Akteurinnen in ihrer aktuellen Situation allerdings eher gemischte Erfahrungen. So finden Nuray Coúkun und Dilan Karatay im Studium beide wenig Mitstreiter*innen für ihre (bildungs-)politischen Veränderungsbestrebungen. Zudem bleibt fraglich, inwieweit im schulischen Kontext tatsächlich die Möglichkeit besteht, Reformvorschläge einzubringen, die grundlegende Strukturen des Bildungssystems infrage stellen, und darauf auch eine positive Resonanz zu erhalten. Wie und wo es den Biographinnen gelingen wird, ihren Willen zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzubringen, inwieweit das familiale Erbe des ‚Politischen‘ also auch zu einer wirksamen Ressource für die Berufsbiographie werden kann, ist damit in beiden Fällen noch offen. Dies ist nicht zuletzt von den gesellschaftlichen, sozialen und institutionellen Bedingungen abhängig, unter denen es aktualisiert wird. Die bildungsbiographische Bedeutsamkeit von intergenerational tradiertem Wissen zeigte sich in einer ganz anderen Variante auch in der Fallrekonstruktion Anna Schuster. In ihrer Erzählung werden sozio-kulturelle Orientierungen und Handlungsmaximen bildungsbiographisch bedeutsam, die auf die Geschichte der Familie als kulturelle und religiöse Minderheit in der Sowjetunion verweisen. Dazu zählt die Handlungsmaxime der Trennung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ sowie das Pendeln zwi-
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schen Familie und Gemeinde auf der einen, und formalen Bildungsräumen auf der anderen Seite. Dies wurde als Ausdruck eines tradierten Orientierungsmusters interpretiert, das aus dem Erfahrungswissen einer über Generationen sprachlich und kulturell marginalisierten Minderheit resultiert. Die Trennung von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ stellt in diesem Zusammenhang eine Strategie dar, um die sprachliche und religiöse Lebensweise und Identität zu pflegen und die Gemeinschaft vor Angriffen zu schützen. In Anna Schusters Bildungsgeschichte zeigt sich, dass dieses Orientierungsmuster, das vor der Migration von Bedeutung war, auch danach für die Gestaltung und Deutung des Bildungswegs der Biographin funktional bleibt: Das Aufrechterhalten der engen Verbundenheit zum vertrauten ‚Innen‘ ermöglicht es Anna Schuster, trotz der Verletzungen und Missachtungserfahrungen, denen sie in der Schule ausgesetzt ist, ihren Bildungsweg im ‚Außen‘ zu verfolgen und daran festzuhalten. Durch das Pendeln zwischen Familie und Gemeinde einerseits und der schulischen und später der universitären ‚Welt‘ andererseits gelingt es ihr, ihr Bildungsprojekt zu realisieren, ohne ihre soziale Einbindung in die Halt gewährende Gemeinschaft zu gefährden. Dennoch reproduziert Anna Schuster damit nicht nur ein kulturell tradiertes Handlungsmuster, sondern die Aktualisierung dieses Handlungsmusters enthält auch ein Moment der Transformation: Es wird der Biographin dadurch möglich, die engen Grenzen von Familie und Gemeinde zu transzendieren und durch das Studium neue Bildungsräume jenseits des sozial Vertrauten zu erschließen. Die bislang genannten Beispiele verdeutlichen, dass familial tradierte Orientierungen und Handlungsmaximen von den Subjekten unter bestimmten Bedingungen zu Ressourcen für die Bildungsbiographie transformiert werden können. Bildungsbiographisch bedeutsam können solche Erfahrungsressourcen allerdings auch dann werden, wenn Orientierungen und Handlungsmuster weitergegeben werden, die für die handelnden Individuen langfristig problematische Konsequenzen haben. In diesen Fällen stellen sie keine Ressource, sondern eher ein Vermächtnis mit einem erheblichen Verlaufskurvenpotenzial für die Individuen dar. Dies wurde im Fall Alicja Pajak aufgezeigt. In ihrer Bildungsgeschichte reproduziert sie das Muster eines risikobereiten, gelegenheitsorientierten Handelns, während längerfristige Perspektiven und Planungen eine untergeordnete Rolle spielen und Handlungsergebnisse nur eingeschränkt reflektiert werden. Hier wurden Parallelen zu der Spontaneität und Risikobereitschaft erkennbar, die auch in der Erzählung über die (Migrations-)Geschichte der Eltern erkennbar werden. Im Unterschied zu den anderen drei Fällen strukturieren diese Handlungsorientierungen Alicja Pajaks Biographie, ohne von der Biographin grundlegend reflektiert und bearbeitet zu werden. Es ist dabei zu bedenken, dass die Maxime des kurzfristigen Handelns ‚auf gut Glück‘ in der Elterngeneration unter historisch-gesellschaftlichen Bedingungen kultiviert wurde, in denen die biographischen Gestaltungsmöglichkeiten der Akteur*innen durch die ökonomischen Verhältnisse stark beschnitten waren und sie dementsprechend wenig zu verlieren hatten. Das Handeln ‚auf gut Glück‘ stellte in dieser Situation möglicherweise eine funktionale Strategie zur Erweiterung der biographischen Optionen dar. Nach der Migration bewegen sich die Akteur*innen dagegen in einem gesellschaftlichen Raum, in dem an die Selbstverantwortung der Individuen appelliert wird, ihre Lebenswege vorausschauend zu planen. Die Aktualisierung des überlieferten Handlungsmusters ermöglicht in diesem Kontext langfristig betrachtet keine Erweiterung individuellen Entscheidungs- und Handlungsspielräume, sondern schränkt diese im Gegenteil ein. Die
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Reproduktion des tradierten Handlungsmusters entwickelt sich so zu einem biographischen Risikopotenzial, das auch Konsequenzen für den Bildungsweg der Biographin hat. 11.1.3 Bildungs- und Migrationsgeschichten der Eltern Familiengeschichtliche Ressourcen kommen in den untersuchten Biographien auch vermittelt durch die Migrations- und Bildungsgeschichten der Elterngeneration zum Tragen, die eine Bedeutung in den Lebenswegen und -konstruktionen der nachfolgenden Generation entfalten. Mit den Migrationsprojekten der Eltern verbinden sich in allen Fällen Versuche, die eigenen Lebensbedingungen oder die der Kinder zu verbessern und Handlungsspielräume auszudehnen. Die Migration markiert nicht nur das Übertreten geographischer Grenzen, sondern bedeutet immer auch ein Heraustreten aus vertrauten sozialen Räumen und Bindungen. In den untersuchten Fällen ist sie zudem oft mit dem Versuch des Überschreitens begrenzender ökonomischer Verhältnisse und geschlechterbezogener Einschränkungen verbunden. Vielfach lassen sich diese Wünsche jedoch mit der Migration nicht vollständig realisieren, sondern werden in unterschiedlicher Weise behindert und abgebremst: Mitgebrachte Qualifikationen der Eltern werden oftmals nicht anerkannt und erfahren eine Entwertung; gewünschte Umschulungen lassen sich nicht oder erst sehr spät realisieren, oder die in Deutschland erworbenen Qualifikationen können nicht in entsprechende Berufspositionen übersetzt werden. All diese oft ambivalenten Erfahrungen werden in den Familien tradiert; dabei konstituieren sich verschiedene Narrative, die für die Individuen je spezifische Möglichkeiten enthalten, sich zu den familialen Erfahrungen der Migration ins Verhältnis zu setzen. In den vier Fallanalysen wurden unterschiedliche Formen der biographischen Verarbeitung der Erfahrungspotenziale sichtbar, die den Biographien der Eltern inhärent sind. In den Beispielen Nuray Coúkun und Dilan Karatay sind die Lebensund Migrationsgeschichten der Eltern eng mit Emanzipationsprozessen verbunden: Nuray Coúkuns Mutter ebenso wie Dilan Karatays Vater werden als junge Erwachsene beschrieben, die aus eigenem Entschluss und gegen den Wunsch der Eltern ihre Familie und ihr Herkunftsland verlassen, um in Deutschland Bildungs- und Berufsperspektiven zu verwirklichen, die im Herkunftskontext aufgrund ökonomischer, sozio-kultureller oder politischer Limitierungen nicht realisiert werden können. In beiden Lebensgeschichten repräsentieren die Mütter handlungsmächtige Akteurinnen, die ökonomisch selbstständig und beruflich erfolgreich sind und innerhalb der Familie die zentrale Verantwortung tragen – in Nuray Coúkuns Geschichte durch die alleinige Verantwortung für die Tochter, in Dilan Karatays Beispiel als erfolgreiche Geschäftsfrau, die auch in der Familie ‚das Sagen‘ hat. Im Interview mit Nuray Coúkun gibt es darüber hinaus Verweise auf eine Reihe weiterer Frauen in der Familie, die mit ihren Lebensentwürfen in der Migration ebenfalls generations- und geschlechterbezogene Vorgaben und Konventionen durchbrochen haben. Die Emanzipationsgeschichten der Eltern stellen in beiden Fällen relevante Bezugspunkte für die eigenen Lebenskonstruktionen der Biographinnen dar, von denen sie sich einerseits abgrenzen, die sie aber andererseits auch fortschreiben. Nuray Coúkuns adoleszente Abgrenzung von ihrer Mutter erfolgt zunächst als radikale Distanzierung von deren liberal-emanzipatorischem Lebensmodell. Erst nachdem sie
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sich selbst mit den Lebensbedingungen konfrontiert, von denen sich die Mutter befreit hat, kann sie sich in veränderter Form zu ihrer Mutter und deren Geschichte ins Verhältnis setzen. Zugleich reproduziert sie gerade in der Radikalität der Distanzierung die Struktur der Emanzipationsgeschichte ihrer Mutter, die diese in einer ähnlich radikalen Form vollzogen hat. Auch Dilan Karatays Geschichte lässt sich als Fortführung der Emanzipationsgeschichten der Eltern lesen, die sich in ihrem kontinuierlichen Streben nach Autonomie und Selbstbestimmtheit zeigt.7 Dies zeigt sich sowohl im Verhältnis zu ihren Eltern als auch in ihrer Haltung gegenüber ihren Peers und der Behauptung eigenständiger Überzeugungen statt der Unterwerfung unter jugendkulturelle Normen. In beiden Fällen bleibt die emanzipatorischen Orientierungen der Töchter zudem nicht auf das Private beschränkt, sondern entfalten auch eine Wirkung nach außen: In ihrem konkreten Engagement für gleichberechtigte Teilhabe und den Abbau von Ungleichheiten, das auch einen Hintergrund für ihre beruflichen Horizonte bildet, zeigt sich das Potenzial dieser emanzipatorischen Orientierung für kulturelle und gesellschaftliche Veränderungsprozesse. In anderen Erzählungen sind andere Aspekte der elterlichen Bildungs- und Migrationsgeschichten bedeutsam für die bildungsbiographischen Konstruktionen der Interviewten. So wird in Anna Schusters Lebensgeschichte ein Erfahrungswissen relevant, das mit dem ethnisch-religiösen Minderheitenstatus in Zusammenhang steht, den diese bereits vor der Migration innehatten. Diese soziale Position geht einher mit generationenübergreifenden Erfahrungen der kulturellen Unterdrückung und Diskriminierung, die sich beispielsweise in der Beschränkung der Zugangsmöglichkeiten zu beruflichen Positionen und Restriktionen beim Erwerb von Bildungstiteln zeigen. Dabei lassen sich in Anna Schusters Beispiel wiederum Ambitionen der Eltern erkennen, die ihnen offen stehenden Handlungsspielräume zu nutzen und auszuweiten: Beide Eltern überschreiten mit ihren Berufen das übliche berufliche Qualifikationsniveau landwirtschaftlicher Berufe (etwa als Melkerin oder Traktorist). Anna Schusters Mutter hat darüber hinaus den Wunsch, Lehrerin zu werden, den sie jedoch aufgrund rechtlicher Bedingungen nicht verwirklichen kann. Durch die Migration erfüllen sich die Hoffnungen auf eine kulturelle Heimat, das Aufwachsen der Kinder ohne Diskriminierung und die Verbesserung der Lebensbedingungen nur teilweise. Die Bemühungen um verbesserte Lebensbedingungen richten sich deshalb verstärkt auf die Kinder, die in ihren Bildungswegen vor allem durch emotionalen Rückhalt unterstützt werden. Das ungelebte Leben der Eltern in Gestalt der elterlichen Bildungs- und Aufstiegsaspirationen wird für Anna Schuster dabei zu einem Motor für ihren eigenen Mobilitätsprozess. Die Identifikation mit den elterlichen Wünschen und Hoffnungen ermöglicht es ihr, einen Aufstiegswillen zu mobilisieren und Widerstandspotenziale zu entwickeln, die sich in einem mühsamen, „stillen Kampf“ gegen die ihr institutionell nahe gelegte Hauptschullaufbahn artikulieren. Eine andere Form der biographischen Verarbeitung der elterlichen Bildungs- und Migrationsgeschichten zeigt sich in Alicja Pajaks Erzählung. Ihre Ausgangslange 7
Der Wunsch nach Autonomie an sich kann freilich als ein allgemein adoleszenztypisches Phänomen angesehen werden. Allerdings sind Autonomiebestrebungen in den untersuchten Fällen sehr verschieden stark ausgeprägt und unterschiedlich bedeutsam für die Gestaltung des innerfamilialen Generationenverhältnisses in der Adoleszenz.
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weist dabei einige Gemeinsamkeiten mit Anna Schuster auf – auch in ihrer Geschichte finden sich Hinweise auf verwehrte Bildungswünsche ihrer Mutter, die aufgrund ökonomischer Grenzen im Herkunftsland nicht umgesetzt werden können, in beiden Fällen kann die Migration von den Eltern nur eingeschränkt positiv bilanziert werden und es verbinden sich damit für mindestens ein Elternteil Erfahrungen beruflicher Dequalifizierung und prekärer Beschäftigung. Sowohl im Fall Anna Schuster als auch in der Geschichte von Alicja Pajak werden die Bildungshoffnungen der Eltern, insbesondere der Mütter, auf die nachfolgende Generation übertragen; zugleich gibt es in beiden Familien wenig Ressourcen, um die Töchter in ihren Bildungswegen ganz konkret zu unterstützen. Anders als Anna Schuster gelingt es Alicja Pajak jedoch nicht, sich die elterlichen Bildungs- und Aufstiegsaspirationen reflexiv anzueignen und in ein eigenes Handlungsschema zu transformieren. Vielmehr wird der ‚Auftrag‘ zum sozialen Aufstieg durch höhere Bildung zu einer Bürde, von der Alicja Pajak sich heteronom bestimmt sieht und gegen die sie immer wieder aufbegehrt, ohne sich aber ganz davon distanzieren zu können. Ein Hintergrund für die unterschiedlichen biographischen Verarbeitungsformen könnte in den verschiedenen Graden der sozialen und kulturellen Teilhabe- und Zugehörigkeitserfahrungen der Familien liegen: Für Anna Schuster und ihre Familie sind mit der Migration nicht nur Diskontinuitäts- und Verlusterfahrungen verbunden, sondern die Migration ermöglicht auch die Aufrechterhaltung sozialer und kultureller Bindungen. Durch die Zugehörigkeit zur religiösen Gemeinde wird in der Migration das Anknüpfen an bestehende Orientierungen und die Stabilisierung kultureller Zugehörigkeitserfahrungen möglich. Der Zusammenhalt innerhalb der Community bietet einen wichtigen Rückhalt für alle Familienmitglieder, der Enttäuschungen und Verletzungen auf anderen Ebenen kompensiert. Dagegen gibt es in Alicja Pajaks Erzählung keine Hinweise auf derartige stabilisierende soziale Netzwerke und Ressourcen. Die Migrationsgeschichten der Eltern sind primär vom Verlust sozialer Bindungen und von individuellen ökonomischen Kämpfen bestimmt. Dies erschwert eine Distanzierung der Biographin von den Leiderfahrungen der Eltern. Auch ließen sich Hinweise darauf finden, dass in Alicja Pajaks Familie Geschichten der Opferbereitschaft und Erfahrungen von Schuld und Verpflichtung tradiert werden, die mit dem Zurücklassen der Großelterngeneration und weiterer Familienmitglieder in Polen verknüpft sind. Diese bilden ein biographisches Vermächtnis, das zu einer ambivalenten Bindung der Biographin an das ‚Bildungsprogramm‘ ihrer Mutter führt. Fallübergreifend gilt, dass die Lebensgeschichten der Eltern – ihre Emanzipationsprozesse, ihre (nicht) realisierten Bildungs- und Aufstiegswünsche und Erfahrungen des Scheiterns im Kontext der Migration – nicht ohne Folgen für die nächste Generation bleiben. Sie stellen vielmehr ein Potenzial für das biographische Handeln und die Lebenskonstruktionen der nachfolgenden Generation dar. Während die Kinder die (Migrations-)Geschichten der Eltern in einigen Fällen reflexiv als biographische Sinnressourcen aneignen, stellen diese in anderen Fällen ein ‚Reservoir‘ für das biographische Handeln der Subjekte dar, ohne dass dies von ihnen selbst reflektiert wird. „In den Gestaltungen der familialen Beziehungen, Kommunikations- und Interaktionsformen kann sich beispielsweise […] zeigen, welche Bedeutungen die Beteiligten der Migration und ihrer aktuellen Lebenssituation jeweils zumessen. Wie und mit welchen Motiven die Migration
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gestaltet werden konnte, wie die Erfahrungen in der Ankunftsgesellschaft, das Verhältnis der Erfahrungen von Anerkennung oder von Missachtung und Diskriminierung erlebt wurden, welche Erwartungen an die folgende Generation gerichtet werden, stellen implizite und explizite Themen in Migrantenfamilien dar. Diese wirken sich auf sie Beziehungen und auf die Familiendynamiken aus“ (King/Koller 2006: 12).
Die Bedeutung der Migrationsgeschichten der Eltern und die mehr oder weniger bewusste Auseinandersetzung mit den damit verbundenen Wünschen, Erfahrungen und Erwartungen kann somit als ein ‚migrationsspezifischer‘ Aspekt der untersuchten Bildungsgeschichten verstanden werden, die alle Fälle miteinander verbindet. Dabei sind mit der Migration in der Elterngeneration allerdings sehr unterschiedliche Erfahrungen und Bilanzierungen verbunden, die in den Familien auf verschiedene Art und Weise tradiert werden. Beides hat Einfluss darauf, wie sich die Subjekte zu den Migrationsgeschichten ihrer Eltern in Bezug setzen können, und ob diese eher eine Ressource oder ein Vermächtnis für die Bildungsgeschichten der Subjekte darstellen. 11.1.4 Zusammenfassende Reflexion In den Familien der Studierenden ließen sich Prozesse intergenerationaler Transmission von Ressourcen rekonstruieren, die sich als bedeutsam für die Bildungswege und die biographischen Entwürfe der Subjekte erweisen. Neben der Tradierung kultureller Ressourcen, die für die Gestaltung des Bildungswegs von unmittelbarer Relevanz sind, wurden in der biographischen Rekonstruktion weitere Dimensionen des familialen ‚Erbes‘ sichtbar, die eine Relevanz für die Bildungsgeschichten haben. Dazu zählen biographisches Orientierungs- und Handlungswissen sowie die elterlichen Bildungs- und Migrationsgeschichten. Diese familialen Erfahrungs- und Wissensbestände können auch als „biographische Ressourcen“ (Hoerning 1989) verstanden werden, auf die die Subjekte in ihren Lebenskonstruktionen zurückgreifen. Sie haben immer auch eine gesellschaftliche Dimension, insofern als sie auf soziale und kulturelle Einbindungen der Familien und kollektive Erfahrungen in bestimmten historischen und sozio-kulturellen Milieus verweisen. Die Erzählungen verweisen dabei auf eine große Heterogenität und innere Differenziertheit der familialen Bildungsmilieus, in denen je spezifische Erfahrungs- und Bildungsressourcen tradiert werden, mit denen sich unterschiedliche Ausgangsbedingungen für die Bildungsbiographien der Subjekte verbinden. Die „[D]ie Familie [bietet] – ressourcenabhängig – einen jeweils unterschiedlichen sozialen Möglichkeitsraum“ (Büchner/Brake 2006: 264f.) für Bildungsprozesse. Familiale Bildungsmilieus sind dabei nicht als starre Gebilde zu sehen, sondern unterliegen ihrerseits Wandlungen im zeitlichen Verlauf. Dies gilt unter Bedingungen von Migration in besonderer Weise: Die mit Migrationsprojekten verbundenen Umbrüche eröffnen einerseits Räume für eine reflexive Aneignung und Umarbeitung ‚mitgebrachter‘ kultureller Ressourcen und biographischen Orientierungswissens. Andererseits kann mit der Migration auch eine Entwertung ‚mitgebrachter‘ kultureller Ressourcen und Wissensbestände einhergehen. Beide Prozesse haben zur Folge, dass familiale Bildungskontexte als dynamische Kontexte betrachtet werden müssen,
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die gerade unter Bedingungen von Migration beschleunigten sozio-kulturellen Wandlungen und Modernisierungsprozessen unterliegen. Die Abstriche und Verluste, die in solchen individuellen Modernisierungsprozessen in der Elterngeneration dabei vielfach zum Tragen kommen, werden in den Familien unterschiedlich verarbeitet. Die elterlichen Bilanzierungen der Migration bilden einen zentralen Hintergrund für die Lebensentwürfe und Orientierungen der nachfolgenden Generation. Die rekonstruierte Vielfältigkeit und Dynamik der familialen Herkunftsmilieus der Studierenden steht in deutlichem Kontrast zu der verbreiteten These, dass sich Bildungsgeschichten von Studierenden mit Migrationsgeschichte als „Balanceakt zwischen ihrem oft traditionell geprägten Herkunftsmilieu und den Anforderungen und Wertvorstellungen westlicher Gesellschaften“ (Niehaus 2008: 139) gestalten.8 Die tradierten kulturellen Ressourcen und das biographische Orientierungswissen unterscheiden sich nicht nur milieu- und familienspezifisch, sondern sie werden in der nachfolgenden Generation auch unter veränderten Bedingungen und in zum Teil eigenwilliger Art und Weise angeeignet und transformiert. Die Ergebnisse der Fallanalysen zeigen, wie komplex, dynamisch und zuweilen widersprüchlich sich diese familialen Transmissions- und Aneignungsprozesse gestalten. Welche Bedeutung familial und sozio-kulturell tradierte Ressourcen und Wissensbestände zu verschiedenen Zeitpunkten und in unterschiedlichen Kontexten in den Biographien der Subjekte entfalten, lässt sich nur rekonstruktiv erschließen, denn der Zusammenhang zwischen den familial verfügbaren bildungsrelevanten Ressourcen und der Aneignung durch die Subjekte gestaltet sich nicht linear, sondern unterliegt vielfältigen Wandlungen im lebensgeschichtlichen Verlauf. Die Art und Weise, wie die Biographinnen sich in ihrem Handeln und ihren Reflexionen zu den familial tradierten Ressourcen und Vermächtnissen ins Verhältnis setzen, unterliegt einem zeitlichen Wandel, der u.a. mit den jeweiligen Familienkonstellationen und Generationendynamiken in Zusammenhang steht. Das familiale ‚Erbe‘ wird zu verschiedenen lebensgeschichtlichen Zeitpunkten angeeignet und transformiert oder auch zurückgewiesen. Die biographische Verarbeitung des familialen ‚Erbes‘ in den Biographien der nachfolgenden Generation gestaltet sich deswegen keineswegs vorhersehbar, sondern bleibt in vielen Hinsichten kontingent.
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Zu weiteren Beispielen vgl. Kap. 2.1.
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11.2 Z WISCHEN T EILHABE UND A USGRENZUNG – SCHULISCHE B ILDUNGSPROZESSE UND Z UGEHÖRIGKEITSERFAHRUNGEN Im Folgenden wird der Fokus auf die schulischen Bildungswege und schulbiographischen Erfahrungen gerichtet. Vor dem Hintergrund des verfolgten Forschungsinteresses sind die Schulbiographien in doppelter Hinsicht bedeutsam: Die Erzählungen der Studierenden verweisen auf schulische Verlaufsmuster, auf soziale und institutionelle Bedingungskonstellationen, in denen Teilhabe an Schulbildung und formale Bildungserfolge möglich werden, ebenso wie auf Konstellationen, die dies erschweren. Auf diese Art und Weise werden Inklusions- und Exklusionsprozesse im Bildungssystem auf der Mikroebene individueller Biographien beschreibbar. Die Erzählungen geben zudem Aufschluss über die (Zugehörigkeits-) Erfahrungen, die für die Einzelnen mit dem Durchlaufen des Systems schulischer Bildung verbunden sind, und deren biographische Verarbeitung. In den vier Falldarstellungen wurden exemplarische Varianten schulischer Verläufe und Erfahrungsgeschichten rekonstruiert, die in ihrer Unterschiedlichkeit auch die Vielfalt der im Gesamtsample vertretenen Schulbiographien widerspiegeln. Das hier repräsentierte Spektrum von Schulverläufen erstreckt sich von linearen Schullaufbahnen bis hin zu höchst „verschlungenen Bildungspfade[n]“ (Schulze/Soja 2003), bei denen die Interviewten erst auf ‚Umwegen‘ zur Hochschulreife gelangt sind, und in denen das Abitur oft nicht das von Beginn an antizipierte Ziel der Schullaufbahn darstellt. In den schulbiographischen Konstruktionen zeigte sich einerseits eine Fallspezifik, insofern als im jeweiligen Einzelfall meist bestimmte Erfahrungshaltungen dominant sind. Andererseits wurden aber auch fallimmanente Wandlungen und Brüche in den schulbiographischen Konstruktionen sichtbar, die mit veränderten Kontextbedingungen (z.B. nach einem Schulwechsel) oder mit Ereignissen und Dynamiken außerhalb der Schule in Zusammenhang stehen. Eine Festschreibung der Einzelfälle auf bestimmte Prozesstypen oder schulbiographische Verlaufsmuster würde darum zu kurz greifen. Mit den nachfolgenden Ausführungen wird daher keine Typisierung der Einzelfälle angestrebt, sondern eine analytische Darstellung kontrastierender Bedingungskonstellationen, Verlaufsmuster und Prozesse, die sich in den untersuchten Lebensgeschichten als schulbiographisch relevant erwiesen haben. 11.2.1 Institutionelle Bedingungen und Gatekeeping-Prozesse In einigen Fällen werden die Schulbiographien maßgeblich durch institutionelle Bedingungen strukturiert, denen die die Subjekte unterworfen sind bzw. auf die sie sich kaum Einfluss zuschreiben. Institutionelle Vorgaben, Zuweisungspraktiken und Gatekeeping-Mechanismen (Behrens/Rabe-Kleberg 1992)9 dominieren das subjektive Erleben und die Konstruktion der Schulbiographie.
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Das Konzept des Gatekeeping ist insbesondere in der Lebenslaufforschung gängig, wird aber auch in der subjektorientierten Übergangsforschung verwendet. „[Gatekeeper] treffen […] Zugangsentscheidungen und regeln damit Statuspassagen und ihre Verkettung im Le-
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Dies wurde im Fall Anna Schuster gut erkennbar. Hintergrund ihrer schulbiographischen Konstruktion sind Bedingungskonstellationen, die Anna Schuster als ‚Quereinsteigerin‘ ins deutsche Schulsystem erlebt. Ihre Geschichte zeigt sehr deutlich, dass die institutionellen Voraussetzungen der Schullandschaft so gestaltet sind, dass Schüler*innen, deren schulische Vorerfahrungen nicht dem Ideal der einsprachigen, im deutschen Schulsystem und in der standarddeutschen Sprache sozialisierten Schülerin entsprechen, unabhängig von ihren bisherigen schulischen Leistungen in scheinbar alternativlose Hauptschulkarrieren einmünden. Die Hauptschule ist in den untersuchten Fällen gerade in ländlichen Regionen oftmals die einzige Schule in der näheren Umgebung, die über eine Form der Deutschförderung verfügt, so dass andere weiterführende Schulformen gar nicht erst als mögliche Alternative in den Blick der beteiligten Akteur*innen geraten. Die Schüler*innen werden mithin in eine schulische Bahn gelenkt, die nicht auf höhere schulische Bildung ausgelegt ist, obwohl es – wie in Anna Schusters Beispiel – familiale und eigene höhere Bildungsbestrebungen gibt. Dieses schulische Verlaufsmuster verweist auf eine Form indirekter institutioneller Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009: 48ff.), von der Schüler*innen, die einen Förderbedarf in der anerkannten Form des Standarddeutsch haben oder denen ein solcher zugeschrieben wird, systematisch betroffen sind.10 Im Fall Anna Schuster koinzidiert die defizitäre schulische Infrastruktur, die zum Übertritt in die Hauptschule führt, mit dem elterlichen Bildungsstreben, das in dem Wunsch nach einer schnellen ‚Normalisierung‘ der Schulkarriere ihrer Tochter seinen Ausdruck findet, die keine Zeit durch ein Wiederholungsjahr in der Grundschule verlieren soll. Dies führt dazu, dass Anna Schuster einen schrittweisen Aufstieg in statushöhere Schulformen vollzieht. Diese schulische Aufwärtsqualifizierung geht nicht nur mit Zeitverlusten, sondern auch mit Misserfolgs- und Missachtungserfahrungen einher, die dazu führen, dass Anna Schusters Schulbiographie maßgeblich durch Leiderfahrungen bestimmt ist. bensverlauf“ (Behrens/Rabe-Kleberg 2000: 109). Zugleich bestimmen sie durch ihre Entscheidung über die Zusammensetzung von Kollektiven (vgl. ebd). Behrens und RabeKleberg (2000) differenzieren vier unterschiedliche Typen von Gatekeeper*innen, die sich nach ihrem „Formalisierungsgrad“ und der „Dichte der Interaktion“ (ebd.: 110) mit den Statuspassierenden unterscheiden. Demnach können Gatekeeper*innen z.B. Familienangehörige und Peers sein, aber auch offiziell legitimierte Professionelle, die einer Organisation angehören. Professionellen im Bildungswesen kommt das Mandat zu, auf Basis diagnostischer Verfahren über die ‚Eignung‘ der Individuen für bestimmte Bildungsgänge zu urteilen (vgl. Walther/Stauber 2007: 23). 10 Mechtild Gomolla und Frank-Olaf Radtke unterscheiden in ihrer Studie über institutionelle Diskriminierung von Kindern mit Migrationshintergrund in der Schule Formen direkter und indirekter institutioneller Diskriminierung. Erstere bezeichnet demnach „Handlungen, die im organisatorischen oder lokalen Handlungskontext möglich oder vorgeschrieben sind und negative Wirkung für Mitglieder bestimmter Gruppen haben sollen“ (Gomolla/Radtke 2009: 49). Unter indirekter institutioneller Diskriminierung verstehen die Autor*innen dagegen „Praktiken, die negative und differenzierende Wirkungen für ethnische Minderheiten […] haben, obwohl die organisatorisch vorgeschriebenen Normen oder Verfahren ohne unmittelbare Vorurteile oder Schadensabsichten eingerichtet und ausgeführt wurden“ (ebd.: 50).
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Auch in anderen Erzählungen werden die Folgen eines Schulsystems sichtbar, das nicht auf sprachliche und sozio-kulturelle Heterogenität eingestellt ist, für die Schulbiographien der Subjekte. Dies zeigt sich in meinem Sample insbesondere in den Fällen, in denen die Interviewten ihre Schullaufbahn in anderen nationalen Schulsystemen begonnen haben und als Quereinsteiger*innen ins deutsche Schulsystem einmünden. So zeigt sich ein ähnlicher Schulverlauf auch in einem Interview mit einer weiteren Studentin, deren Eltern aus dem damaligen Jugoslawien nach Deutschland migriert sind. Nachdem Adrijana Coric als Kind zunächst einige Jahre in Deutschland gelebt hat, zieht sie zusammen mit ihren Geschwistern zu Verwandten im damaligen Jugoslawien, wo sie sechs Jahre die Schule besucht. Als die aufenthaltsrechtliche Situation der Familie sich klärt, kehren die Kinder nach Deutschland zurück. Adrijana Corics Eltern haben sich inzwischen in der Gastronomie selbstständig gemacht und ihr Leben ist im Wesentlichen dadurch bestimmt, den Lebensunterhalt der Familie zu sichern. Obwohl Adrijana Coric die Schule in Jugoslawien erfolgreich durchlaufen hat, über gute Noten verfügt und sie sich zuschreibt, bereits als Kind höhere Bildungsaspirationen entwickelt zu haben, tritt auch sie nach der Rückkehr nach Deutschland in die siebte Klasse der Hauptschule über. A: schon als Kind war klar dass ich studieren würd ich hab mir das schon immer gewünscht, also ich komm schon aus ner wirklich bildungsfernen Schicht so wie man sich das echt vorstellt wenn man sich - bildungsferne Schichten vorstellt in ganz ganz extrem (lacht) Weil meine Eltern sind beide aus Dörfern gekommen, waren die Ältesten, hatten halt den Auftrag irgendwie - also schnell auch die Familienmitglieder mit zu versorgen. Und ähm - ich glaub es gab ganz wenige in unserer großen riesigen Verwandtschaft die irgendwie n bisschen mehr - als das nötige an Schulbildung gemacht hatten. (1) Ja und - das wollt ich definitiv immer und ich hatte immer diese_ als ich in Deutschland dann war, das war dann immer so mit Zweifel behaftet, so ne. Also erstmal gings direkt auf die Hauptschule, also egal was für Noten das wurd irgendwie gar nicht - anerkannt so dass man da jahrelang Einsen und Zweien hatte das war irgendwie - ja war ja n Ostblockland so nach dem Motto, aus Amerika wär das wahrscheinlich viel cooler geklungen so. Und meine Eltern waren jetzt auch nicht die Ambitioniertesten, also es war der einfachste Weg. Und ja - ich - mir wurde halt auch immer die Methoden also der Weg aufgezeigt dass man da doch zum Gymnasium wechseln kann später und dass es doch_ dass man da besser aufgehoben ist wegen Deutsch und blä und - keine Ahnung. (Adrijana Coric 3/5-21)
Obwohl Adrijana Coric für sich in Anspruch nimmt „schon als Kind“ eigene Bildungswünsche gehegt zu haben, erscheint der Übertritt in die Hauptschule auch in ihrer Geschichte als fraglos. Sie selbst führt dies retrospektiv vor allem auf die fehlende Bildungstradition in der Familie zurück („bildungsferne Schicht“), aus der heraus die Eltern keine hohen Bildungsambitionen hegen und sich hinsichtlich der Schullaufbahn ihrer Tochter für den „einfachsten Weg“ entscheiden. Aber auch hier spielt das Argument der Deutschfördermöglichkeiten eine Rolle, das die Hauptschule aus Sicht der Eltern im Vergleich zu anderen Schulformen als geeigneter erscheinen lässt. Die institutionellen Bedingungen und der „soziale Sinn“ (Bourdieu 1987a) der Eltern spielen also auch in diesem Fall zusammen. Es zeigt sich allerdings auch, dass die Bildungsvorstellungen der Eltern sich nicht prinzipiell auf eine Hauptschulkarriere begrenzen, sondern sie die Möglichkeit eines späteren Wechsels ihrer Tochter auf eine statushöhere Schulform durchaus in Betracht ziehen. Die Eltern verlassen sich
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bei Ihrer Entscheidung auf das Versprechen der Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems, die einen späteren Wechsel auf eine statushöhere Schulform prinzipiell ermöglicht. Ein solcher Wechsel in eine statushöhere Bildungslaufbahn setzt jedoch zunächst ein Vertrauen der Lernenden in die eigenen Fähigkeiten voraus. Dieses ist, gerade in Fällen, in denen es keine akademische Bildungstradition in der Familie gibt, auf vorausgehende positive Schulerfahrungen angewiesen, die aber – wie im Beispiel Anna Schuster – nicht immer gegeben sind. Zudem ist die zu überwindende Kluft zwischen den schulischen Anforderungen von Hauptschule und Gymnasium erheblich und erfordert außerordentliche autodidaktische Anstrengungen. Auch kann der Übertritt in die Oberstufe für Hauptschüler*innen durch weitere Stigmatisierungserfahrungen und machtvollen Negativprognosen aufgrund der schulischen Aufstiegsgeschichte belastet sein (vgl. Kap. 9.2.7). Die alternativlose Überführung der sogenannten Quereinsteiger*innen in die Hauptschule ist auch deswegen eine höchst fragwürdige Praxis, weil sich die Hauptschule in ihrem Umgang mit Schüler*innen aus anderen schulkulturellen Kontexten und mit anderen sprachlichen und schriftsprachlichen Vorerfahrungen in den untersuchten Beispielen kaum von anderen Schulformen unterscheidet. Weder in Anna Schusters noch in Adrijana Corics Erzählung gibt es Hinweise auf einen professionellen schulorganisatorischen und pädagogischen Umgang mit Schüler*innen aus anderen Schulsystemen. Die Erzählungen lassen vielmehr darauf schließen, dass der Heterogenität schulischer Vorerfahrungen und sprachlicher Voraussetzungen durch eine Praxis der Ignoranz und der Assimilation begegnet wird (vgl. Wenning 2007: 27). Außer einer segregierenden Deutschförderklasse gibt es keinerlei institutionalisierte ‚Antworten‘ auf die Anwesenheit von sogenannten Seiteneinsteiger*innen. Auch deutet Anna Schusters Erzählung darauf hin, dass in der von ihr besuchten Schule keine Reflexionskultur besteht, sondern wahrgenommene Probleme bearbeitet werden, indem sie den Schüler*innen selbst zugeschrieben werden, die als eine homogene Problemgruppe („Aussiedler“) konstruiert werden. Adrijana Coric berichtet von sehr ähnlichen Schwierigkeiten wie Anna Schuster, die sich nach dem Wechsel ins deutsche Schulsystem aus dem alternativlosen Erlernen von Englisch als obligatorischer erster Fremdsprache ergeben. Die Russischkenntnisse, die Adrijana Coric aus dem jugoslawischen Schulsystem mitbringt, werden dagegen entwertet und lassen sich nicht weiterführen. In der zitierten Interviewpassage und auch in anderen Passagen wird erkennbar, dass die Erzählerin die erfahrene Entwertung als Ausdruck einer westlich-kapitalistisch geprägten „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 1995) deutet, die Schulleistungen, die in den Schulsystemen sozialistischer Staaten erbracht wurden, nicht als gleichwertig anerkennt. Mit dem Wechsel ins deutsche Schulsystem sind deshalb neben sprachlichen und leistungsbezogenen auch kulturelle Entwertungsprozesse verbunden, die sich in den Erfahrungen der Subjekte niederschlagen. Darüber hinaus machen die Erzählungen deutlich, dass der Besuch der Hauptschule den weiteren Verlauf der Schulbiographie machtvoll präformiert. Die Biograph*innen müssen das ohnehin voraussetzungsvolle schulische Aufstiegsprojekt im Widerstand gegen das prädeterminierende Hauptschullaufbahnmuster erkämpfen. So lässt sich etwa Anna Schusters (familial unterstützte) Strategie, sich den schulischen Aufstieg durch das Erbringen guter Leistungen zu erarbeiten, als ein Versuch deuten, sich dem ‚Sog‘ eines institutionell nahegelegten Schulverlaufsmusters zu entziehen bzw. sich ihm entgegen zu stemmen. Diese Strategie kollidiert aber damit, dass die
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Lehrer*innen (sowohl in der Hauptschule als auch am Gymnasium) gerade nicht als Vertreter*innen eines meritokratischen Systems, sondern als Gatekeeper*innen auftreten, die den Zugang zu prestigeträchtigen Bildungsgängen regulieren und durch für die Biographin nicht nachvollziehbare Leistungsbeurteilungen erschweren. Hier zeigt sich deutlich, dass das gegliederte Schulsystem zwar formal durchlässig ist, die verschiedenen schulkulturellen Milieus und die starren Bildungslaufbahnstrukturen, die durch institutionelle Regelungen geschützt werden, es aber in vielen Fällen schwer machen, einmal begonnene Bildungslaufbahnen wieder zu verlassen. Der Versuch, die formale Aufstiegsoption auch tatsächlich zu nutzen, bringt deshalb erhebliche Anforderungen und Belastungen für die Individuen mit sich. Obwohl es den hier Interviewten gelungen ist, trotz dieser Hürden an der Schule zu verbleiben und ihr Abitur zu erlangen, hinterlassen diese Belastungen Spuren in der bildungsbiographischen Konstruktion: Schulische Bildungswege werden, wie in Anna Schusters Beispiel, nicht als Prozess einer erfolgreichen Bewältigung institutioneller Hürden präsentiert, sondern als mühevoller Kraftakt, der neben den formalen Erfolgen mit erheblichen Verletzungen und Leidensprozessen verbunden ist. Das Erreichen des Abiturs allein ist keine Garantie für eine Schulerfolgsgeschichte. Der ‚objektive‘ Schulerfolg kann in der bildungsbiographischen Konstruktion durch Erfahrungen der Abhängigkeit von einer defizitären institutionellen Infrastruktur, des Unterworfenseins unter willkürliche Leistungsbewertungen, durch Misserfolgserlebnisse sowie Missachtungserfahrungen überlagert sein, die eine Selbstkonstruktion als Akteurin der eigenen Schulgeschichte erschweren. Institutionelle Strukturen interagieren aber immer auch vor dem Hintergrund spezifischer familialer Konstellationen und formen so besondere Bedingungsgefüge für die Bildungsbiographien der Subjekte. Das Zusammenspiel zwischen institutionellen Gatekeeping-Prozessen und familialer Situation lässt sich besonders gut in der Schulerzählung von Darja Pohl aufzeigen. Die Biographin ist in einem Ort im ländlichen Kasachstan geboren, wo sie eineinhalb Jahre die Grundschule besucht. Sie beschreibt sich selbst als gute Schülerin, die für ihre Leistungen sogar eine Auszeichnung erhält. Nach der Aussiedlung nach Deutschland wird sie zunächst ein halbes Jahr lang in einer Deutsch-Förderklasse beschult, in der sich ausschließlich Kinder aus migrierten Familien befinden, anschließend wird sie in eine Regelklasse (Klasse Zwei) versetzt. Sie beschreibt sich als lernbegeisterte und wissbegierige Schülerin, der die Schule Spaß macht, und die schnelle Fortschritte im Erlernen der deutschen Sprache macht. Obwohl ihre Noten in den Hauptfächern gut sind, erhält sie in der vierten Klasse eine Realschulempfehlung, die mit einer Drei in Sachkunde begründet wird. D: Und dann ähm - in - zu dem Zeitpunkt als ähm (1) als dann ähm die - Versetzung - sozusagen vor der Tür stand da ähm - also da nach der dritten Klasse oder im letzten zweiten Halbjahr, hat die Lehrerin dann halt entschlossen dass ich auf die Realschule gehen sollte, I: mhm D: Ähm wegen - dem Sachunterricht, weil ich irgendwie ne Drei hatte und sie [die Lehrerin, D.S.] hatte gedacht dass ich das - nicht schaffen würde und eigentlich die anderen Leistungen alle - gut waren und äh - dann im_als das vierte Schuljahr dann zu Ende war - nee das waren ja nicht dreieinhalb vier, in der vierten Klasse im zweiten Halbjahr als das Vierte_ als die vierte Klasse dann zu Ende war, da hatte ich auch meine Zwei im Sachunterricht, und äh - naja aber
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dann war ich auf der Realschule (…) Ähm - ja und (1) ja und dann hatte ich_also es=es stand immer so zwi=zwi_ im ähm im=im Raum dass ich halt aufs Gymnasium_ also ich hätte schon irgendwie ab der sechsten auch wechseln können, habs aber irgendwie nie gemacht, weil ja komm_ ich - ich hatte so_ meine Eltern also ähm - dadurch da_ ich war immer sehr selbstständig. I: mhm D: Also ich hätte=ich hätte ich hätte auch nie Unterstützung von meinen Eltern kriegen können. (Darja Pohl 5/40-6/23)
Darja Pohl gelingt es zwar, ihre Sachkundenote bis zum Ende der vierten Klasse auf „gut“ zu verbessern, dennoch wechselt sie, der Empfehlung der Grundschullehrerin folgend, auf die Realschule. Dieser Schulübertritt wird als ‚Fakt‘ präsentiert, der ohne Zutun des erzählten Ich zustande kommt. Ein Wechsel aufs Gymnasium scheint zwar immer wieder erwogen zu werden, wird aber mit dem Argument verworfen, dass der Wechsel ans Gymnasium riskant sein könnte, da die Eltern Darja Pohl im Zweifelsfall nicht angemessen unterstützen können. Betrachtet man die weitere Schullaufbahn der Erzählerin – Darja Pohl zählt fortan zu den leistungsstärksten Schüler*innen ihrer Klasse – so lässt sich vermuten, dass sie von ihren Leistungen her betrachtet durchaus direkt in eine gymnasiale Laufbahn hätte einmünden können. Dadurch hätten Schwierigkeiten, die sich im weiteren Aufstiegsprozess ergeben, möglicherweise vermieden werden können. Dies hätte aber zum damaligen Zeitpunkt eine Intervention der Eltern gegen die Empfehlung der Grundschule erforderlich gemacht. Dass diese nicht erfolgt, lässt sich nicht nur als Ergebnis einer rationalen Abwägung der Risiken eines solchen Schritts oder den begrenzten sozialen Möglichkeitssinn der Eltern zurückführen. Vielmehr muss hier auch die besondere familiale Konstellation berücksichtigt werden, die ein spezifisches Bedingungsgefüge für bildungsbezogenes Handeln und Entscheiden erzeugt: Bereits ganz zu Beginn von Darja Pohls Erzählung wird deutlich, dass das Zusammenleben mit dem schwer behinderten Sohn/Bruder das Leben und den Alltag aller Familienmitglieder in Darja Pohls Schulzeit11 in hohem Maße strukturiert. Die Mutter hat seit der Erkrankung des Bruders ihren Beruf aufgegeben, um sich gänzlich der Betreuung des Sohnes widmen zu können. Unter den Familienmitgliedern besteht einerseits ein hoher Grad wechselseitiger Verbindlichkeit und geteilter Verantwortungsübernahme für den Bruder, andererseits sind die gesunden Kinder darauf angewiesen, sich weitgehend selbstständig zu organisieren. Die Hilfsbedürftigkeit des Sohnes auf der einen Seite und das reibungslose ‚Funktionieren‘ der jüngsten Tochter anderseits stellen den Kontext dafür dar, dass Darja Pohls Eltern ihre Aufmerksamkeit nicht auf deren Bildungsweg richten, sondern sich auf die Unterstützung des existenziell hilfebedürftigen Sohnes konzentrieren. Dies führt dazu, dass sie in fraglichen Situationen nicht einschreiten und keine Funktion als ‚Bildungsanwält*innen‘ für ihre Töchter übernehmen. In der Schulbio-
11 Später wird der Bruder im Rahmen eine Werkstatt institutionell betreut und somit nicht mehr ausschließlich auf die Familie angewiesen.
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graphie der Tochter können auf diese Weise schulische Gatekeeping-Prozesse machtvoll werden, die Darja Pohls Bildungsorientierung ausbremsen.12 Für die Biographin bedeutet die familiale Konstellation, dass sie von Beginn an darauf angewiesen ist, selbstständig zurechtzukommen. Sie lernt, sich im familialen System zu integrieren und den Eltern nicht zur Last zu fallen. Sie lernt, ihr eigenes Leben möglichst so zu leben, dass keine zusätzlichen Reibungsflächen und Unterstützungsbedarfe entstehen, die das familiale System aus dem Gleichgewicht bringen könnten. Dies kommt prägnant in der bilanzierenden Formulierung zum Ausdruck „die [Eltern] haben nie irgendwie n Problem mit mir gehabt“ (6/39). In ihrer bildungsbiographischen Konstruktion reflektiert Darja Pohl zwar die Erfahrung eingeschränkter Unterstützung während der Schulzeit; sie stellt sie jedoch nicht in den Vordergrund. Vielmehr ist sie immer wieder bemüht, ihre Autonomie zu betonen. Die (notwendig) frühe Selbstständigkeit der Biographin stellt dabei ein hoch ambivalentes Potenzial für ihre Bildungsbiographie dar: Sie repräsentiert einerseits eine notwendige und wichtige Ressource, die es ihr ermöglicht, die schulischen Anforderungen zu bewältigen und ihre Schullaufbahn erfolgreich zu absolvieren. Zudem ermöglicht sie es Darja Pohl, sich nicht als Opfer der Verhältnisse zu konstruieren, sondern als Akteurin ihrer Bildungsbiographie. Andererseits ist sie ein Ausdruck davon, dass die Biographin eigene Unterstützungsbedarfe zurückstellen muss und den Eltern nicht zur Last fallen darf. Darja Pohls Biographie macht somit deutlich, dass sich Bildungswege immer auch vor dem Hintergrund je spezifischer familialer Konstellationen entfalten, deren Bedeutung für die Bildungsbiographien der Einzelnen nur mit rekonstruktiven Forschungszugängen zugänglich werden. Ähnlich wie bei Anna Schuster und Adrijana Coric zeigen sich auch bei Darja Pohls weiterer Bildungsbiographie die biographischen „Mühen des Aufstiegs“ (Silkenbeumer/Wernet 2012): Mit Abschluss der zehnten Klasse der Realschule erhält sie ihre Qualifikation und wechselt anschließend zum Gymnasium. Ihre Leistungskurse muss sie jedoch an einem anderen Gymnasium besuchen. Der Wechsel in die gymnasiale Oberstufe ist für sie mit einer biographischen Zäsur verbunden: Die Biographin und ihre Mitschüler*innen werden sozial ausgegrenzt und müssen zudem gegen die Ressentiments ihrer Leistungskurslehrerin ankämpfen, die sie nicht unterstützt, sondern sie entmutigt. So bekommt Darja Pohl von ihrer Lehrerin auf der Grundlage einer schlecht ausgefallenen Klausur den Rat, die Schule lieber zu verlassen und ans Berufskolleg zu wechseln. Es zeigt sich hier, wie auch noch in einem anderen Interview (vgl. Kap. 11.2.4), dass Schüler*innen, die eine Schule nicht regulär besuchen, sich oftmals an besonders harten Maßstäben messen lassen müssen, um den Ansprüchen der Lehrer*innen zu genügen. Darja Pohls Mitschüler*innen fallen den schulischen Selektionsmechanismen an dem zweiten Gymnasium schließlich zum Opfer. Sie selbst muss die zwölfte Klasse wiederholen. In der Erzählung lässt sich erahnen, dass die erzwungene Klassenwiederholung nicht nur Verzögerungen in der Schulbiographie zur Folge hat, sondern auch eine einschneidende (schul-)biographische Zäsur darstellt, die
12 Auch andere Personen neben den Eltern können diese Funktion übernehmen. So wird der Übergang in die Hauptschule bei Darja Pohls ältere Schwester zwar nicht durch die Intervention der Eltern, aber durch eine Bekannte der Familie gerade noch verhindert.
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Darja Pohls Selbstwahrnehmung als ehrgeizige und ‚erfolgreiche‘ Schülerin grundlegend erschüttert. D: Ja und dann kam ich halt in die an=äh_ für mich war das die - also der Punkt in meinem Leben war sehr schwer weil ich musste mir eingestehen dass ich - nicht die Leistung_ also dass ich äh - nicht weiterlaufen kann so wie bisher. Und - ich musste zu=ich musste halt zugeben, dass ich was wiederhol=äh dass ich das wiederholen möchte - oder muss oder möchte und dann - war das für mich also sehr_ diese_ weil ich immer die Gute war (Darja Pohl 23/9-14)
In der Sequenz kommt das Ringen der Erzählerin zum Ausdruck, die an diesem Punkt ihrer Schulbiographie einen weiteren Rückschlag hinnehmen muss, der ihre Bildungsambitionen schwächt und sie in ihrer Selbstkonstruktion als leistungsstarke Schülerin verunsichert. Dass es sich dabei um ein einschneidendes Erlebnis handelt, wird auch daran erkennbar, dass Darja Pohl die Klassenwiederholung in der Haupterzählung zunächst verschweigt und davon erst auf Nachfrage hin erzählt. Dies entspricht dem deutlichen Bemühen der Biographin, ihre Schulgeschichte als ‚unproblematisch‘ zu konstruieren, die eigenen ‚Integrationsleistungen‘ zu betonen und Behinderungen in ihrer Schullaufbahn zu relativieren. Zugleich wird die damalige Erfahrung des Ausgebremst-Werdens in ihrer Konstruktion ansatzweise transformiert: Darja Pohl versucht sich aus der Opferposition zu befreien, indem sie andeutet, dass die Klassenwiederholung (auch) ein Resultat einer eigenen Entscheidung gewesen sein könnte („dass ich das wiederholen möchte“). Die retrospektive, versuchsweise Konstruktion als Akteurin wird vermutlich deshalb möglich, weil es ihr gelingt, sich aus dieser Krise wieder ‚herauszuarbeiten‘ und ihr Handlungspotenzial zurückzugewinnen. Sie fühlt sich in der neuen Klassenkonstellation sehr wohl, erhält soziale Anerkennung von ihren Mitschüler*innen und wird sogar zur Kurssprecherin gewählt. Dies ändert jedoch nichts an der heteronomen Struktur, der ihr Aufstiegsprozess im Grundsatz unterworfen ist. Der Wandlungsprozess, der sich durch die positiven Erfahrungen in der Klassengemeinschaft ergibt, muss eher als Ausdruck eines glücklichen Zufalls betrachtet werden, bei dem die Umstände der Biographin in die Hände spielen. So lässt diese Geschichte neben den biographischen Bearbeitungsstrategien der Erzählerin auch die geringe Steuerbarkeit des schulischen Aufstiegsprozesses erkennbar werden. Zugleich zeigt sich, dass positive Erfahrungen, die sich durch bestimmte Konstellationen unerwartet ergeben können, dazu beitragen, dass schulische Leiderfahrungen in begrenztem Maße biographisch umgearbeitet und revidiert werden können. 11.2.2 Generationendynamiken und biographischer Eigensinn Bislang wurde beleuchtet, wie lebensweltliche und institutionelle Bedingungen, die weitgehend außerhalb der Einflusssphäre der betroffenen Subjekte liegen, die Schulverläufe und schulbiographischen Konstruktionen strukturieren. Daneben werden Schulbiographien aber auch maßgeblich durch biographische Eigenlogiken und eigensinniges Bildungshandeln der Subjekte geformt. Dies zeigte sich beispielsweise in der Rekonstruktion der Biographie von Nuray Coúkun. Ihre Schulbiographie wird im Wesentlichen durch das Handlungsschema des ‚Kampfs‘ gegen ihre Mutter strukturiert. Dieses bedingt einen graduellen schulischen Abstieg, der bis zu einem
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‚Herausfallen‘ der Biographin aus dem Regelschulsystem führt. Diese Dynamik kann auch durch das Entgegenkommen der Lehrer*innen nicht aufgehalten werden, obwohl diese die in ihrer Macht stehenden Mittel unbürokratisch nutzen, um den schulischen Abstiegsprozess zumindest ‚abzufedern‘. Gegenüber der biographischen Eigenlogik, die in engem Zusammenhang mit dem Prozess der adoleszenten Abgrenzung von der Mutter steht, bleiben sie machtlos.13 Die Bedeutung biographischen ‚Eigensinns‘ (vgl. Alheit/Dausien 1996), der in den untersuchten Lebensgeschichten in engem Zusammenhang mit intergenerationalen Abgrenzungsdynamiken steht, zeigt sich auch in anderen schulbiographischen Konstruktionen. Erkennbar wurde dies beispielsweise in Erzählungen zum Übergang in die weiterführende Schule, in denen viele der Interviewten oppositionelle Haltungen zu den Wünschen ihrer Eltern einnehmen und ihre Präferenzen schließlich gegen deren Willen durchsetzen. In solchen Erzählungen wird das Autonomiestreben der biographischen Subjekte erkennbar, die vielfach die Eigenverantwortung für ihre Bildungsgeschichten reklamieren. Dies bedeutet allerdings nicht in jedem Fall, dass sie das Geschehen auch in der erzählten Zeit tatsächlich kontrollieren und die langfristigen Folgen ihres ‚eigensinnigen‘ Bildungshandelns überschauen können. Dies konnte im Beispiel Alicja Pajak aufgezeigt werden, in dem der Versuch, durch eine berufliche Ausbildung in möglichst kurzer Zeit zu einem qualifizierten Abschluss zu gelangen, sich langfristig als kontraproduktiv erweist. Ebenso wie im Beispiel Nuray Coúkun steht das ‚eigensinnige‘ Handeln auch in Alicja Pajaks Bildungsgeschichte im Kontext einer intergenerationalen Abgrenzungsdynamik: Der Abbruch der Oberstufe zugunsten der zügigeren Ausbildung stellt auch einen (vergeblichen) Versuch des Ausbrechens aus dem heteronom bestimmten ‚Bildungsprogramm‘ ihrer Mutter dar, dem die Biographin sich unterworfen sieht. Das ‚eigensinnige‘ Bildungshandeln konstituiert sich in Abgrenzung gegenüber elterlichen Bildungswünschen und normativen Vorstellungen von ‚erfolgreichen Bildungskarrieren‘. Es folgt einer eigenen Logik, die gemessen an den Maßstäben der Bildungsinstitutionen als irrational erscheint. Für die Bildungs- und Emanzipationsprozesse der Subjekte stellt es eine durchaus ambivalente Ressource dar, insofern als darin einerseits ein emanzipatorisches Potenzial sichtbar wird, es aber andererseits in langfristiger Konsequenz auch zu einer Verengung der eigenen Handlungsmöglichkeiten und Bildungsoptionen führen kann, da das Bildungshandeln der Subjekte sich in einem institutionell kontrollierten Raum vollzieht. Dies lässt sich auch an der Geschichte von Bahar Merizadi aufzeigen. Die Biographin ist in einer Großstadt im Iran geboren und im Alter von einem Jahr mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester nach B-Stadt migriert. In ihrer Eingangserzählung und im gesamten Interview bildet die Orientierung an Selbstbestimmung und -verantwortung ein zentrales Prinzip, das auch als Motiv ihrer Eltern für die Migration aus dem Iran angeführt wird und leitend für die Erziehung der Töchter ist: Bahar Merizadis Eltern vermitteln den Töchtern die Haltung, ihr Leben selbstständig und selbstverantwortlich zu gestalten. Obwohl sie selbst über akademische Abschlüsse 13 Hier wird deutlich, dass familial verfügbare Bildungsressourcen und Unterstützung durch Lehrer*innen zwar ein wichtiges Kapital für ‚erfolgreiche‘ Schulkarrieren sind, sie aber von den Individuen auch genutzt werden müssen, um wirksam zu werden.
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verfügen und akademische Bildungswege auch im weiteren Familienkreis die Norm darstellen, tragen die Eltern keine konkreten Bildungserwartungen oder Leistungsanforderungen an die Töchter heran. Mit der Einschulung in eine integrierte Grund- und Gesamtschule wird der Bildungsweg der Biographin vielmehr offen gehalten. Bahar Merizadi mündet zunächst in eine ‚mittlere‘ Schullaufbahn ein, indem sie nach der vierten Klasse in den Realschulzweig der Gesamtschule übergeht. Die Erzählerin konstruiert sich selbst als Akteurin ihrer Schulbiographie, deren Verlauf sie selbst bis auf wenige Ausnahmen kontrolliert. Sie beschreibt sich als Schülerin, die den Lehrer*innen eine Kommunikation auf Augenhöhe einfordert und sich nicht scheut, Konflikte mit Lehrer*innen und Peers auszutragen, sofern sie das Gerechtigkeitsprinzip oder den respektvollen Umgang miteinander infrage gestellt sieht. Sie übernimmt auch schulöffentliche Funktionen als Klassen- und Schulsprecherin, für die sie nahezu prädestiniert zu sein scheint. Die Eltern unterstützen sie in ihren Entscheidungen und tolerieren auch eine zwischenzeitliche Distanzierung der Tochter von den Anforderungen des schulischen Lernens, die zu einer Klassenwiederholung führt. Nachdem Bahar Merizadi die zehnte Klasse mit Auszeichnung abschließt, verlässt sie die Schule mit dem Realschulabschluss und orientiert sich zunächst an der künstlerischen Laufbahn ihres Vaters, indem sie sich an einer künstlerischen Ausbildungseinrichtung anmeldet. An einer entscheidenden Stelle distanziert sie sich jedoch von ihm: Sie lehnt seine Unterstützung bei der Suche nach einer Praktikumsstelle im künstlerisch-gestalterischen Bereich ab, obwohl das Praktikum faktisch die Eintrittskarte zu der Ausbildungseinrichtung darstellt. Die Zurückweisung des sozialen Kapitals des Vaters lässt sich dabei als Ausdruck des Strebens nach Autonomie und Selbstverantwortung deuten. Allerdings gelingt es Bahar Merizadi nicht, selbst einen Praktikumsplatz zu finden, weshalb sie die Aufnahmevoraussetzungen nicht erfüllt. Es kommt daraufhin zu Konflikten mit der Mutter, die von ihrer Tochter eine eigenverantwortliche Entscheidung bezüglich ihres weiteren Bildungs- und Berufsweges einfordert: Sie soll entweder arbeiten oder ihr Abitur machen. An dieser Stelle entscheidet sich Bahar Merizadi für eine Fortsetzung ihrer schulischen Bildungslaufbahn und transformiert dabei die familiale Bildungstradition in ein eigenes Handlungsschema: Das Abitur und das antizipierte Studium werden als Voraussetzungen für eine selbstbestimmte Lebensführung und den Aufbau einer Existenz konstruiert, die den eigenen ökonomischen und kulturellen Exklusivitätsansprüchen genügen kann. B: Und - wenn du nur mit ner Ausbildung hier in B-Stadt - sein willst, du kannst auch n schönes Leben haben, ganz klar - aber nicht mit den - Anforderungen die ich zum Beispiel hab. Und dafür brauch ich halt einfach n besseren Status und - damit ich einfach mehr Geld verdien, so ist es ja letzten Endes. (Bahar Merizadi 41/29-32)
Es zeigt sich hier zunächst, ähnlich wie im Fall Nuray Coúkun, dass Autonomiebestrebungen mit einer bewussten Zurückweisung bildungsrelevanter familialer Ressourcen einhergehen können, bevor diese ggf. neu bewertet werden und als Orientierung und Sinnressource für den eigenen bildungsbiographischen Entwurf angeeignet werden. Diskontinuitäten in der Bildungsbiographie, die aus bildungsinstitutioneller Sicht als ‚Umwege‘ erscheinen, stellen sich aus biographischer Perspektive
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als Ausdruck intergenerationalen Abgrenzungsprozesse und Emanzipationsbestrebungen dar. In Bahar Merizadis weiterer Erzählung zeigt sich jedoch auch, dass die Folgen dieses ‚eigensinnige‘ Handeln zu einem späteren Zeitpunkt zu einem schulbiographischen Risikopotenzial werden. Die spätere Entscheidung für ein Nachholen des Abiturs am Aufbaugymnasium hat für die Biographin Erfahrungen mit Mechanismen institutioneller Fremdbestimmung zur Folge, die ihre Souveränität als Akteurin ihrer Schulbiographie untergraben. Zum einen greift eine Regelung, die die neu hinzukommenden Schüler*innen – offenbar unabhängig von ihren bisherigen Schulleistungen – zu einer Wiederholung der zehnten Klasse zwingt. Zudem gehen mit der Schulanmeldung eine institutionelle Diskriminierung einher: Bahar Merizadi wird einer Schule zugewiesen, die in einem sozial abgewerteten Stadtteil liegt: B: und das Lustige bei der Schule war, das ist ja halt in diesem sozialen Brennpunkt, I: mhm B: und wir haben uns_ in der Klasse ist dann halt irgendwie rausgekommen, weil mich jemand gefragt hat, hast du dich direkt hier beworben? Meint ich nein, ich hab mich in ner anderen Schule beworben, das - wär halt auch n guter Stadtteil gewesen, aber es hieß äh es ist zu voll und deswegen wurd ich hier rübergeschickt. Und dann musste dir vorstellen von 25 Schülern haben 20 Schüler genau dasselbe erzählt. Also_ und das waren alles Ausländer. Von Russen Polen Afghanen Iranern Türken - alle wurden sie hierher geschickt weil es hieß die hätten keinen Platz mehr. (Bahar Merizadi 6/31-39)
Es findet hier also eine Form der Zuweisungspraxis statt, durch die Schüler*innen – vermutlich aufgrund ihres Namens – nach ihren Herkunftshintergründen unterschieden und in Schulen mit unterschiedlichem Prestige kanalisiert werden, die sich hinsichtlich ihrer Ressourcenausstattung (Schüler*innenzahl, Lehrpersonal, Umfang des Wahlangebots) erheblich voneinander unterscheiden. Auch wenn die Biographin das Geschehen durch die Einleitung „und das Lustige bei der Schule war“ wie eine Anekdote präsentiert und dadurch entdramatisiert, deutet sie es auch selbst implizit als Ausdruck einer rassistischen Praxis.14 Im Verlauf der Erzählung wird deutlich, dass diese Schulzuweisung auch im weiteren Verlauf nachteilige Folgen für den Bildungsweg der Biographin nach sich zieht: B: Englisch mussten wir - auf eine andere Schule, B-Schule, gehen, weil wir bei uns - kam kein Leistungskurs zustande. - Weil die waren einfach alle - /(lachend) zu schlecht/ fürs Englisch und - wir mussten dann immer nach Stadtteil P. Stadtteil P ist auch so ne Gegend die ist echt ja, auch schon gut angesehen. Würd ich ungern wohnen weil es nicht so zentral ist für mich und ich auch die Gegend nicht so mag, aber - auch da sind schon die Wohnungen auch mit nicht ganz teuer aber schon auch - besser. Und da war die Schule, also da haben wir alle gemerkt, die sind to_ und da waren ja auch Ausländer - auf der B-Schule aber nicht so viele, vielleicht ne Handvoll - aber allein schon dass es hieß so okay, da kommen die Reuterplatz Leute - Leute - die jetzt hier in den LK kommen - und wir kamen da an, ph, haben uns gefreut
14 Rassistisch ist diese Praxis in doppelter Hinsicht: aufgrund der ethnisierenden Identifizierung der Schüler*innen als ‚Andere‘ und der daran gekoppelten Zuweisung minderwertiger schulischer Bildung.
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und dachten so, cool, hi, okay, ich bin die und die - die haben kein Wort mit mir geredet. (1) Mit uns allen nicht. (…) Und das haben wir schon sehr gemerkt, also dass die einfach uns sehr ausgegrenzt haben und wir haben - als Gruppe und letzten Endes waren wir von fünf Leuten, die den Leistungskurs Englisch gemacht haben, bin ich als Einzige da geblieben, weil die gesagt haben, ich kann das nicht - nervlich und - von den Leistungen die da erwartet werden ich war die Letzte die da geblieben ist, und ich hab=ich hab mit Fleiß und allem hab ich das da auch geschafft. Und da wars dann irgendwann so, da haben die Leute dann mit mir geredet und mich=mich mehr Sachen gefragt und sonst irgendwas und so aber - nicht so, dass ich sagen würde, die würden privat etwas mit mir unternehmen wollen. Egal ob ich nem guten Haus halt komm oder nicht einfach so dieses - ich kenn sie nicht - sie ist Ausländerin, sie - ja, sie kommt nun mal von nem sozialen Brennpunkt, geht da auf die Schule - wer weiß, vielleicht lebt sie auch so - und vielleicht ist auch total asozial und sonstwas und ich will einfach nicht. Und so waren die. Das hab ich da auch richtig gemerkt. Aber - für mich war es nie so, dass ich mich irgendwie davon hab - ähm so - demotivieren lassen. (Bahar Merizadi 40/15-40)
Die Schüler*innen müssen für den Englischleistungskurs an eine andere Schule wechseln, die in einem „gut angesehen[en] Stadtteil“ liegt. Dies ist nicht nur mit einem organisatorischen Mehraufwand verbunden, sondern es haftet den Schüler*innen als Personen das Stigma einer Schule im „sozialen Brennpunkt“ an. Sie werden mit dem schlechten Image der Schule identifiziert und müssen sowohl individuell als auch kollektiv gegen die damit verbundene Stigmatisierung ankämpfen. Sie müssen um die soziale Anerkennung durch Schüler*innen und Lehrer*innen der anderen Schule ringen. Zudem – dies wird an anderer Stelle deutlich – wird von ihnen gefordert, besonders hohe Leistungen zu erbringen, um das schlechte Image der Schule in der Öffentlichkeit zu korrigieren. Bahar Merizadis Darstellung zufolge führen die Belastungen, die mit dieser Stigmatisierung und den unterschiedlichen Leistungserwartungen an den zwei Schulen verbunden sind, letztlich dazu, dass die anderen Schüler*innen ihre Abiturambitionen aufgeben. Dies kann – mit Bourdieu/Passeron (2007: 18) – auch als Phänomen der Abdrängung gedeutet werden, die zu einem Selbstausschluss der Schüler*innen aus den sozial abgewerteten Stadtteilen – zugleich alles Schüler*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ – aus der gymnasialen Laufbahn führt.15 Trotz dieser Exklusionsmechanismen gelingt es Bahar Merizadi im Gegensatz zu ihren Mitschüler*innen, ihr bildungsbiographisches Handlungsschema aufrecht zu erhalten und sich an der B-Schule zu behaupten, wenngleich ihr die Akzeptanz und soziale Anerkennung ihrer Mitschüler*innen versagt bleiben. Zentrale Ressourcen dafür stellen dabei ihr Autonomiestreben und ihr Bewusstsein um die kulturellen Ressourcen ihrer Familie dar, die es ihr ermöglichen, trotz der erfahrenen Abwertungen an ihrer Selbstkonstruktion als handlungsfähiges Subjekt und Schülerin „aus gutem Haus“ festzuhalten. In der Gesamtschau zeigt sich, dass intergenerationale Emanzipations- und Wiederannäherungsprozesse und damit verknüpftes ‚eigensinniges‘ und bisweilen spontanes Handeln der Subjekte auf vielfältige Weise mit den Schulverläufen und den 15 Der Umstand, dass sich sehr ähnliche Mechanismen auch in einem weiteren Fall (‚Darja Pohl‘) rekonstruieren ließen, deuten darauf hin, dass es sich hierbei um keinen Einzelfall handelt.
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hier bestimmenden Logiken verflochten sind. Die Dynamiken des Ein- und Ausschlusses, die Eröffnung und Begrenzung von Teilhabemöglichkeiten und Zukunftsentwürfen, die sich langfristig mit eigensinnigen Bildungsentwürfen verknüpfen, sind für die Subjekte zum Zeitpunkt ihres Handelns dabei meist nicht zu überblicken, sondern werden erst im Nachhinein erkennbar. Bahar Merizadi wird in ihrem ‚eigensinnigen‘ Bildungsprozess mit Hindernissen konfrontiert, die ihr das Wiederanknüpfen an die familiale Bildungstradition zum späteren Zeitpunkt ihrer Bildungsbiographie erschweren. Die erfahrenen Hindernisse stehen in Zusammenhang mit rassistischen Unterscheidungspraxen im Schulsystem. Zugleich wird es der Biographin inzwischen möglich, an das familial vermittelte Autonomiestreben und Statusbewusstsein („aus gutem Haus“) anzuknüpfen. Diese werden in dieser Situation zu Ressourcen, die es Bahar Merizadi ermöglichen, trotz dieser Diskriminierungserfahrungen an ihren Bildungs- und Karrierezielen festzuhalten. 11.2.3 Signifikante Andere als Wegbereiter*innen Eine Dimension, die sich in anderen schulbiographischen Erzählungen noch deutlicher zeigt als in den vier ausführlich vorgestellten Falldarstellungen, betrifft die Bedeutung von signifikanten Anderen – oft sind dies die Mütter – die als ‚Wegbereiter*innen‘ für die Bildungswege ihrer Kinder agieren und für den Abbau von Hindernissen in der Schullaufbahn und die Ermöglichung ‚ungestörter‘ Schullaufbahnen sorgen. Dies zeigt sich besonders an schulischen Übergängen. Dabei fällt insbesondere auf, dass es in einigen Fällen nur deshalb nicht zu schulischen ‚Umwegen‘ gekommen ist, weil Eltern schulische Weichenstellungen, die sie als nachteilig für ihre Kinder antizipieren, durch eigene Interventionen abwenden konnten. Diese abgewendeten Behinderungen sind möglicherweise typisch für die Schulbiographien von Individuen, die hohe formale Qualifikationen erworben haben. Anders als Schleifen und Brüche durch Schulwiederholungen und Schulformwechsel werden solche ‚Irritationen‘ in der Schullaufbahn bei einer Außenbetrachtung des Schulverlaufs gar nicht sichtbar, sondern sie zeigen sich erst im narrativen Material. Ein Beispiel für eine solche abgewendete Behinderung findet sich in der Erzählung von Yanna Galanis. Die Biographin ist gemeinsam mit ihrem Zwillingsbruder in einer deutschen Großstadt aufgewachsen. Ihre Eltern sind aus Griechenland nach Deutschland migriert, wo sie Physik (Vater) und Germanistik (Mutter) studierten und sich niederließen. Beide legen großen Wert auf die zweisprachige Erziehung der Kinder, die neben der Grundschule den griechischen Nachmittagsunterricht besuchen (müssen). In der vierten Klasse der Grundschule erhält der Bruder der Biographin eine Gymnasialempfehlung, sie selbst bekommt dagegen eine Empfehlung für die Realschule, die mit der Mathematiknote begründet wird. Wie sich an anderer Stelle zeigt, scheint daneben mindestens noch ein weiterer Aspekt im Spiel gewesen zu sein, nämlich der ‚Entwicklungsstand‘ des Kindes. Für den Gymnasialbesuch wird offenbar seitens der Schüler*innen eine ‚ernsthafte‘, disziplinierte, an der Erfüllung schulischer Leistungsnormen orientierte Haltung vorausgesetzt, der die Haltung von Yanna Galanis nach Auffassung der Lehrerin nicht entspricht. Sie wird auch daher als nicht gymnasialfähig eingeschätzt. Die Reaktion ihrer Eltern auf diese Einschätzung schildert sie folgendermaßen:
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Y: Also meine Grundschullehrerin hatte damals gesagt, nee ich möchte die Yanna lieber auf Gy_auf die Realschule schicken (…). Und dann haben meine Eltern gesagt nein, wir möchten dass die Yanna aufs Gymnasium geht wir möchten dass ihr - Re_ schon mit m - schon zu Beginn ähm alle Türen offen stehen. Natürlich kann man noch mal nach der Realschule aufs Gymnasium und da Abitur machen, aber - trotzdem ist es nicht so einfach. (…) Und äh meine Eltern wollten dass ich von Anfang an ähm - dann aufs Gymnasium komme und die haben dann gesagt, wenn sies nicht schafft, dann geht sie runter. Aber - nicht andersrum. (Yanna Galanis 16/13-35)
Die Eltern intervenieren hier und wenden sich gegen die Realschulempfehlung der Lehrerin. Sie sind sich der Bedeutung der Übergangsentscheidung bewusst und antizipieren auch die Probleme, die mit einem späteren schulischen Aufstieg verbunden sind, weshalb dies lediglich als nachrangige Lösung in Betracht gezogen wird. Stattdessen wird die Bildungsstrategie verfolgt, die Kinder „von Anfang an aufs Gymnasium“ zu geben und ihnen dadurch die größtmöglichen Chancen zu eröffnen.16 Das Engagement von Yanna Galanis Eltern kann aus bildungssoziologischer Sicht als wenig überraschend gelten – beide Eltern haben ein Studium in Deutschland absolviert und sind mit den Regeln des Bildungssystems vertraut. Die Bedeutung dieses kulturellen Kapitals zeigt sich hier sowohl in einer weitsichtigen Einschätzung der Bedeutung der Übergangsentscheidung als auch in der Souveränität, mit der die Eltern der Empfehlung der Lehrerin begegnen können. Interventionen der Eltern in die Schullaufbahn der Kinder mit dem Ziel des Abwendens befürchteter schulischer ‚Trajekte‘ finden sich aber auch in Erzählungen von Studierenden, deren Eltern nur über eine geringe formale Bildung verfügen. Dies zeigt sich am Beispiel von Cem Keskin, dessen Eltern in den 1970er Jahren aus Südostanatolien über Istanbul nach Deutschland migriert sind. Cem Keskins Mutter, die im Interview immer wieder als treibende Kraft für den Bildungsweg der Kinder präsentiert wird, verfügt über keinerlei Schulbildung; auch der Vater verfügt lediglich über eine rudimentäre Schulbildung. Der Vater arbeitet in B-Stadt als Schreiner, die Mutter war als Näherin tätig. Cem Keskin ist der Jüngste von vier Geschwistern, die anderen sind deutlich älter als er. Alle sind in Deutschland geboren und haben das Schulsystem dort durchlaufen. Den Übergang in die weiterführende Schule schildert Cem Keskin folgendermaßen: C: Ja da hatte ich halt - äh meine Lehrerin hatte eine Empfehlung_ also wir hatten uns sowieso nicht so jetzt gut verstanden mit der Lehrerin, zum Beispiel, ähm weil ich_ ähm ich war damals schon_ also ich konnte vieles gut einschätzen und ich hab damals schon gemerkt dass sie äh (1) Sachen also w=wenn ich Sachen gesagt hab die eigentlich richtig waren - sie das irgendwie nicht äh - positiv aufgenommen hat also da habe ich das_ da war ich schon soweit eigentlich in
16 Eine Rolle spielt dabei auch – dies wird an anderer Stelle deutlich – die Handlungsmaxime der Eltern, die Verbindung der Zwillinge zueinander zu fördern, wozu auch gehört, dass sie dieselbe Schule besuchen sollen. Dafür nehmen die Eltern auch Schwierigkeiten in Kauf. Das Gymnasium, auf dem Yanna Galanis Bruder angemeldet werden soll, lehnt es nämlich aufgrund der Mathematiknote ab, dessen Schwester aufzunehmen. Daraufhin wird eine andere Schule gesucht, die schließlich beide Kinder aufnimmt.
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dem Alter schon dass ich das gut einschätzen konnte. Und mir war klar, dass ich dann äh eine=ne äh Realschul - Empfehlung bekomme, habe ich auch bekommen, und es war jetzt absolut nicht der Fall dass ich ähm irgendwie da ähm - mich angegriffen gefühlt habe oder nicht=nicht kritikfähig war oder sonst irgendwas aber ich konnte es einfach gut einschätzen in dem äh in der Situation. Wie ich_ das mag man jetzt kaum glauben in dem Alter aber ich=ich hatte also ich hatte diese Le_ mit der Lehrerin halt - ich wusste es einfach. I: mhm C: Und ähm meine Mutter kannte mich auch gut und sie=sie wusste ja was für Potenzial ich habe und ähm hat dann auch sofort gesagt, dass äh - we_ sie hat mir selber gesagt wenn du willst k=kannst du auf die Realschule gehen - aber - ich meinte dann ich würde gerne auf das Gymnasium gehen, was dann auch im Nachhinein was wir auch gemacht haben und das war überhaupt kein Problem also - da war - also /(leicht lachend) ich hatte sogar bessere Noten als auf der Grundschule sozusagen/ und bessere Bewertungen, und ähm - das hat dann - in einem Wisch alles funktioniert (Cem Keskin 10/13-36)
Die Realschulempfehlung, die Cem Keskin erhält, wird als Ergebnis eines problematischen Verhältnisses zwischen ihm und seiner Grundschullehrerin gedeutet. Der Vorgang erscheint fast wie eine self-fulfilling prophecy: der Erzähler schreibt sich zu, bereits als Zehnjähriger geahnt zu haben, dass er aufgrund der Ressentiments, die er bei der Lehrerin wahrnimmt, keine Gymnasialempfehlung erhalten wird – und dies bewahrheitet sich dann auch. Damit wird die Objektivität und Legitimität der Empfehlung infrage gestellt, die sich nicht mit Cem Keskins eigener Wahrnehmung seiner Leistungen deckt.17 Er zweifelt an dem Wert der Empfehlung und wird in diesem Zweifeln durch seine Mutter bestärkt, die ihn in seinen Zweifeln bestärkt, da sie um das „Potenzial“ ihres Sohnes weiß. In der Familie wird also auf eine Art ‚Gegenwissen‘ rekurriert, das dem professionellen Wissen der Lehrerin widerspricht. Dieses bildet die Basis für die von der Empfehlung der Lehrerin abweichende Schulwahlentscheidung, die zwischen Mutter und Sohn ausgehandelt wird.18 Dem Erzähler ist es dabei wichtig zu betonen, dass die Mutter ihm auch die Möglichkeit ließ, sich für die Realschule zu entscheiden. Dies zeigt sich auch an anderen Stellen im Interview: Die Mutter wird als jemand beschrieben, die seine Bildungsbestrebungen unterstützt, aber ihm dabei Spielraum für eigene Entscheidungen lässt. Dabei ist möglich, dass diese Freiräume ihm auch deshalb gewährt werden, weil die älteren Geschwister bereits höhere Bildungsabschlüsse erworben und somit die Bildungswünsche der Mutter verwirklicht haben. Cem Keskin weist seiner Mutter im Interview insgesamt eine herausgehobene Position für seinen Bildungsweg zu und hebt immer wieder die Anstrengungen hervor, die sie unternommen hat, um ihm und seinen Geschwistern erfolgreiche Bil-
17 Die legitimatorische Rahmung, die er dabei vornimmt (die Zurückweisung des möglichen Einwandes, sich ungerechtfertigterweise falsch behandelt gefühlt zu haben) könnte darauf verweisen, dass das Ereignis bereits in anderen Kontexten zum Gegenstand von Diskussionen geworden ist. 18 Ein weiterer Hintergrund, der hier allerdings nicht thematisiert wird, kann darin gesehen werden, dass Cem Keskins ältere Geschwister ebenfalls das Gymnasium besucht haben, so dass es in der Familie bereits Erfahrungen mit höheren Schullaufbahnen gibt.
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dungswege zu ermöglichen.19 Dabei wird die Mutter als eine interessierte und weltoffene Person konstruiert, die sich trotz ihrer geringen Formalbildung beharrlich für die Bildungswege der Kinder eingesetzt hat. C: Meine Mutter ist ganz vom Typ her einfach ganz anders also die ist da - die geht da hin und fragt nach und fragt nochmal nach und auch wenn sie den nervt fragt sie nochmal nach. Jetzt zum Beispiel jetzt auf einem Elternabend, wenn sie irgendwas nicht verstanden hat fragt sie nochmal nach, das interessiert sie auch gar nicht ob der Direktor dann genervt von ihr ist sondern sie fragt nach, sie will das wissen und macht das dann auch was ja auch dann richtig ist. Wenn=wenn sich jemand dafür interessiert und das wissen will. So - so war das halt. (Cem Keskin 23/26-32)
Die Strategie, die in dem beschriebenen Handeln der Mutter erkennbar wird, ist die des Fragens und der Informationsbeschaffung. Dabei lässt sich die Mutter offenbar nicht durch die Barrieren abschrecken, die hier zwischen den Zeilen sichtbar werden. Der Elternabend wird einsprachig in der deutschen Sprache abgehalten, was für viele Eltern mit anderen sprachlichen Voraussetzungen eine nicht zu unterschätzende Hürde für die Teilnahme darstellt. Die Situation ist zudem durch ein deutliches Machtgefälle strukturiert – die Lehrer*innen und „der Direktor“ repräsentieren die legitimen Vertreter*innen der Schule, in deren Räumlichkeiten der Abend stattfindet, und sie verfügen sowohl über das relevante Wissen bzw. die Informationen, als auch über die sprachliche Macht – sie legen fest, was die legitime Sprache ist und beherrschen diese Sprache. Dagegen befindet sich Cem Keskins Mutter in einer untergeordneten und verletzbaren Position, insofern als sie selbst weder über eigene Erfahrungen mit der Institution Schule noch sicher über die hier vorausgesetzte (Bildungs-)Sprache verfügt. Sie befindet sich zudem in einer Abhängigkeitsposition, da sie auf die Informationen der Schulvertreter*innen angewiesen ist. Cem Keskins Darstellung zufolge versucht seine Mutter, die entstehenden Verständnisprobleme offensiv anzugehen, indem sie beharrlich (notfalls mehrfach) nachfragt und sich auch nicht durch ungeduldige Reaktionen davon abbringen lässt, die ihr wichtig erscheinenden Informationen zu erhalten und sie zu verstehen. Eltern, die sich auf diese Weise einbringen, riskieren also nicht nur, sich als nicht kompetente Sprecher*innen der legitimen Sprache zu exponieren, sondern sie müssen auch damit rechnen, als störend (‚nervig‘) wahrgenommen zu werden, weil sie den Ablauf irritieren und aufhalten. Dass Cem Keskins Mutter den Schulvertreter*innen auf diese Weise gegenübertritt, ist in dieser Situation und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Bildungsvoraussetzungen also sicher keineswegs selbstverständlich. Das hartnäckige Engagement der Mutter für die Bildungswege ihrer Kinder, das in dieser Sequenz beispielhaft erkennbar wird, lässt sich von außen betrachtet als eine erfolgreiche Bildungsstrategie deuten, durch die es allen Kindern der Familie möglich wird, ein Studium zu absolvieren. 19 Das Engagement von Cems Mutter ist dabei auch vor dem Hintergrund der eigenen Erfahrung der eigenen vorenthaltenen Bildungsmöglichkeiten zu verstehen. Ähnlich wie bereits im Fall Meral beschrieben, erweisen sich auch hier die eigenen Bildungswünsche der Mutter, die diese weder Herkunftsland noch in der Migration realisieren konnte, als ein ‚Motor‘ dafür, den Kindern die bestmögliche Bildung zu ermöglichen.
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Die Erzählung macht einerseits deutlich, dass auch Eltern, die selbst über keine (höhere) Formalbildung verfügen, sich über Schullaufbahnempfehlungen hinwegsetzen. Dies steht im Widerspruch zu der pauschalen These, dass Eltern ohne hohe Formalbildung nicht über den dafür notwendigen „selbstbewussten […] Habitus“ (Niehaus 2008: 124) verfügen, um mit der Schule in Konflikt zu treten. Es zeigt aber auch, wie mühsam und voraussetzungsvoll es für Eltern ohne eigene Erfahrungen mit dem deutschen Schulsystem und nicht-deutscher Herkunftssprache ist, sich für die Bildungswege ihrer Kinder zu engagieren und welche Hindernisse sie in der monolingual organisierten Institution Schule überwinden müssen, um sich in Settings wie diesen einzubringen zu können (vgl. Hawighorst 2009; Gomolla 2011). In einzelnen Fällen des Samples wird erkennbar, dass das Engagement der Eltern für die Schulkarrieren der Kinder ein eher ambivalentes Potenzial hat. So wurde am Beispiel Alicja Pajak aufgezeigt, dass die wahrgenommene Verpflichtung auf die Bildungsambitionen der Mutter dazu führen, dass sie sich selbst nicht als Akteurin ihrer Bildungsbiographie erfährt (vgl. Kapitel 10). Vielmehr wird die Mutter als Konstrukteurin eines Bildungsprogramms entworfen, an das sich die Tochter in ambivalenter Weise gebunden sieht, ohne es sich zu eigen machen zu können. Auch in Meral Yilmaz´ Schulbiographie spielt das Engagement der Eltern, hier des Vaters, eine zentrale Rolle. Obwohl der Vater selbst über eine geringe Schulbildung verfügt, übernimmt er eine advokatorische Funktion für die Bildungswege seiner Kinder. Dabei richtet sich sein Handeln weniger auf die Bedürfnisse der einzelnen, sondern auf das übergeordnete Ziel, seinen Kindern den Weg zum Abitur zu eröffnen: M: Also das war so, mein Vater der wusste v_ - damals wusste er noch nicht äh - dass es äh ab der Sek Eins, also nach der Grundschule, dass es vie_verschiedene Schulformen gibt und irgendwie hat er das äh - von einem Bekannten gehört dass man wenn man zum Gymnasium geht dass man dann später studieren kann, und dass das die beste Schule sei, und auf Grund dessen hat mein Vater ähm - mein_die Schwester vor mir? I: Ja M: - also unsere älteste Schwester, die dann zu der Zeit die vierte Klasse besucht hatte hat er dann sofort aufs Gymnasium weitergeleitet, er hat gesagt: Ich möchte dass mein Kind aufs Gymnasium geht, und basta so, I: mhm M: und obwohl die Lehrerin gesagt hatte sie schafft das nicht, aber das war ne, sie hat sogar Einsen geschrieben in der fünften Klasse auf dem Gymnasium und äh das hat eigentlich ganz gut geklappt - und äh und seitdem äh sind dann alle Kinder, die äh - in die Sek Zwei übergegangen sind, aufs Gymnasium gegangen. (Meral Yilmaz 3/17-33)
Ähnlich wie in den schon erwähnten Beispielen übernimmt der Vater hier eine Funktion als Anwalt für die älteste Tochter, indem er sie – entgegen der skeptischen Einschätzung der Grundschullehrerin – auf einem Gymnasium anmeldet. Dabei scheinen weniger die Wünsche der Tochter selbst von Belang zu sein; vielmehr ist der Vater der Akteur, der die Tochter „sofort aufs Gymnasium weiter[…]leitet“. Der väterliche Entschluss orientiert sich an der Information, „dass man wenn man zum Gymnasium geht dass man dann später studieren kann“. Aus dem erworbenen Wissen über die Bedeutung des Gymnasiums als direkter Zugangsweg zum Studium wird ein klarer
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Fahrplan abgeleitet, der nicht nur den Bildungsweg der ältesten Tochter präformiert, sondern anschließend eher schematisch auch auf alle weiteren Kinder übertragen wird. Der Schulübergang der ältesten Tochter stellt hier gewissermaßen einen Präzedenzfall dar, an dem eine Aufstiegsstrategie erprobt wird. Diese erweist sich als erfolgreich – die Schwester schreibt im Gymnasium „sogar Einsen“. Die älteste Tochter hat damit die Rolle einer Pionierin in der Familie. Sie beschreitet den vom Vater ‚freigeschlagenen‘ Bildungspfad, dem später auch alle anderen Kinder scheinbar automatisch folgen (müssen). Die Strategie des Vaters ist erfolgreich, insofern sie vielen Kindern tatsächlich ein akademisches Studium und einen sozialen Aufstieg ermöglicht. Sie setzt aber auch voraus, dass die Kinder mit diesem ‚Bildungsprogramm‘ konform gehen und ihm entsprechen können. Wenngleich der Vater in dieser Sequenz als machtvoller Akteur konstruiert wird, sieht sich die Biographin aber nicht einem heteronomen Bildungsprogramm unterworfen, sondern macht sich das familiale Aufstiegsprogramm zu eigen (vgl. Kap. 11.3.4). Ähnlich wie im Fall Cem Keskin wird auch in der Darstellungsweise von Meral Yilmaz´ Erzählung erkennbar, dass die Bildungsgeschichten der Subjekte in einem diskursiven Kontext erzählt werden, in dem Stereotype über ‚bildungsferne‘ Eltern mit Migrationshintergrund gegenwärtig sind. In ihren Erzählungen beziehen sich die Subjekte darauf, indem sie ihre Eltern von diesen Klischees implizit oder explizit distanzieren und das Bildungsinteresse ihrer Eltern hervorheben. Dabei besteht immer auch die Gefahr, in diesen Abgrenzungsversuchen selbst kulturalisierende Geschlechterstereotype zu reproduzieren – hier das Bild des mächtigen Vaters, in Cem Keskins Erzählung die Figur der unterdrückten türkischen Mutter, die als Kontrastbild zur eigenen Mutter entworfen wird. Diese Tendenz kann als Ausdruck einer Positionierung der Subjekte im Diskurs (vgl. Spies 2010) um Migration, Integration und Bildungserfolg verstanden werden, in dem Jugendlichen mit Migrationsgeschichte, die in akademische Bildungskarrieren einmünden, (und ihren Eltern) eine ‚besondere‘ Position zugeschrieben wird. In ihren biographischen Konstruktionen und in der Suche nach einer Selbstpositionierung beziehen sie sich implizit oder explizit auf diesen Diskurs. 11.2.4 Schulkulturelle ‚Passung‘ und biographischer Prozess Vergleicht man die Schulerzählungen der Biograph*innen aus zugehörigkeitstheoretischer Perspektive, so lässt sich zunächst feststellen, dass Zugehörigkeits- und Marginalisierungserfahrungen der Subjekte im schulischen Kontext zentral damit verbunden sind, wie diese sich mit ihren biographischen Dispositionen im jeweiligen schulkulturellen Milieu einbringen und sich als wirksam erfahren können. Dabei zeigen sich sowohl Variationen zwischen den verschiedenen Fällen deutliche als auch Wandlungen innerhalb derselben Schulbiographie. Solche fallimmanenten Dynamiken wurden in der Analyse der schulbiographischen Erzählung Nuray Coúkuns besonders deutlich. Ihre Schulbiographie ist durch den Wechsel zwischen verschiedenen schulischen Milieus bestimmt, zu denen sie sich ganz unterschiedlich ins Verhältnis setzt. Teilhabe- und Zugehörigkeitserfahrungen sind für sie mit solchen Schulen verknüpft, in denen sie Lernprozesse eigenständig und kreativ gestalten und sich auch außerhalb des Unterrichtsgeschehens aktiv in
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die Schule einbringen kann. So kann sie die Schule, an der sie ihren Hauptschulabschluss nachholt, ebenso wie die Gesamtschule, an der sie das Abitur erwirbt, als Räume konstruieren, die ihr Zugehörigkeitserfahrungen ermöglichen. Dagegen entwirft sie die zwischenzeitlich besuchte Handelsschule als ein Bildungsmilieu, von dem sie sich bewusst abgrenzt. Diese unterschiedlichen Zugehörigkeitserfahrungen lassen sich – in Anlehnung an die These der schulbiographischen Passung (vgl. Kramer 2002; Kramer/Helsper 2011, vgl. Kap. 5.2.4) – als Ausdruck unterschiedlicher Passungsverhältnisse zwischen biographischem Habitus und dem Bildungsmilieu der jeweiligen Schule verstehen. Schulische Ordnung und biographische Ordnung lassen sich demnach als eigenständige, sinnstrukturierte Formationen betrachten, die bei der Einmündung eines Schülers oder einer Schülerin in die jeweilige Schule in einen „wechselseitigen Abstimmungsprozess treten“ (Kramer 2008: 285). Durch das prozesshafte Zusammenspiel zwischen biographischem Habitus und Schulkultur ergeben sich zahlreiche Möglichkeiten schulbiographischer Passung, die auf einem Spektrum zwischen Antagonismus und Harmonie angesiedelt sind (vgl. ebd.). Die positiven Zugehörigkeitserfahrungen der Biographin in den beiden erstgenannten Schulen lassen sich u.a. darauf zurückführen, dass zwischen der Lehr-Lernkultur der Schulen und dem individuellen Habitus der Erzählerin eine Homologie besteht. Obwohl es sich um unterschiedliche Schulformen handelt, verbindet die beiden Schulen eine Schul- und Lernkultur, die Nuray Coúkuns Habitus entspricht: Gefragt ist in beiden Schulen der Habitus „eines kritischen, reflexiven, eigenständigen Schülers [sic!], der sich nicht scheut, das Entthematisierte und Tabuisierte mutig anzusprechen, der unbequem ist, sich nicht unterwerfen lässt“ (Kramer/Helsper 2011: 110). Genau diese Disposition gegenüber dem schulkulturellen Feld bringt die Biographin durch ihre Sozialisation in einem politisch und kulturell interessierten familialen Milieu mit. Dies ist vermutlich ein Hintergrund dafür, dass es nicht zu sozialen Anerkennungsproblematiken kommt, obwohl Nuray Coúkun eine brüchige Schulbiographie mitbringt, die von schulischen Normerwartungen abweicht. Zwar erfährt sie sich durch ihr Alter und ihre biographischen Vorerfahrungen als different gegenüber der Mehrheit ihrer ‚behüteten‘ Schulkamerad*innen in der Gesamtschule. Aber sie erfährt auch Unterstützung und Anerkennung, sowohl von ihren Lehrer*innen als auch von ihren Klassenkamerad*innen, die ihr mit Offenheit begegnen. Sie kann diesen Raum daraufhin für die Entfaltung von Aktivitäten nutzen, sowohl in Form schulischer Leistungen als auch durch die Mitgestaltung der Schulkultur, indem sie sich einmischt, kontroverse Fragen aufwirft und unbequeme Positionen bezieht. Sie bilanziert die Oberstufenzeit in der Gesamtschule als einen biographischen Lern- und Wandlungsprozess, der eine wichtige Basis für die Entwicklung weiterführender Bildungspläne bildet. Der Fall zeigt auch, dass Schüler*innen, die als Migrationsandere identifiziert werden, in statushöheren Bildungsgängen keineswegs in jedem Fall oder in allen Situationen Marginalisierungsprozesse und Ausgrenzungserfahrungen machen. In Nuray Coúkuns schulbiographischer Erzählung haben Erfahrungen mit Differenzzuschreibungen eine nebensächliche Bedeutung. Obwohl in einigen Passagen ihre Erzählung deutlich wird, dass sie Praktiken der institutionellen Diskriminierung von Schüler*innen mit Migrationsgeschichte beobachtet und erkennt, konstruiert sie sich selbst als jemand, die gewissermaßen durch das Netz solcher Selektionsmechanismen hindurch schlüpft. So fällt sie – im Gegensatz zu ihren Mitschüler*innen – der Selek-
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tionsschwelle im Übergang zur zwölften Klasse gerade nicht zum Opfer, sondern erfährt Entgegenkommen und Unterstützung durch ihre Lehrer*innen. Die sozialen Zugehörigkeitserfahrungen ermöglichen ihr sogar, die Oberstufenzeit als einen Prozess der ‚De-Ethnisierung‘ zu konstruieren, in dem sie die Unterwerfung unter ein kulturellen Stereotyp überwindet, auf das sie sich selbst festgelegt sah („weg mit dem Ghetto-Kram“). Dies lässt sich so deuten, dass Auswahlprozesse, die in Nuray Coúkuns Erzählung zu einer ‚Aussortierung‘ migrantischer Schüler*innen während der Oberstufe führen, nicht kategorial alle Schüler*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ treffen, sondern ihnen sehr viel subtilere Differenzierungen zugrunde liegen. Die Biographin erfüllt im Kontext der Gesamtschule offenkundig die Anforderungen, die erfüllt sein müssen, um dort als zugehörig anerkannt zu werden. Sie bringt eine sozio-kulturelle ‚Passförmigkeit‘ mit, die in diesen schulischen Settings entscheidender ist als andere Zugehörigkeitsdimensionen. Das Verhältnis zwischen schulischem Bildungsmilieu und dem Bildungshabitus der Subjekte ist jedoch nicht sozial determiniert, sondern enthält ein Potenzial für unterschiedliche Entwicklungen: So grenzt sich Nuray Coúkun im Gegensatz zu den genannten Schulen von der Handelsschule, die sich durch ein ‚schulfernes‘ Schüler*innenklientel auszeichnet, bewusst ab. Dies ist wiederum keineswegs selbstverständlich, denn die Erzählerin hat sich selbst zwischenzeitlich selbst in einem peerkulturellen Milieu verortet, das mit dem beschriebenen vergleichbar erscheint („Straßenkind“, „Ghetto-Kram“). Das peerkulturelle Milieu an der Handelsschule hätte also durchaus biographische Anschlussmöglichkeiten geboten, die Nuray Coúkuns Bildungsbiographie in der Folge vermutlich eine andere Richtung verliehen hätten. Dass sie hier nicht ‚andockt‘, sondern sich von der Schule distanziert und sich zum Verlassen des Feldes entscheidet, lässt sich somit nicht auf grundsätzlich fehlende Anschlussmöglichkeiten oder eine unüberwindbare Diskrepanz bzw. Inkompatibilität zwischen Bildungshabitus und schulischem Milieu zurückführen. Es muss vielmehr auch vor dem Hintergrund der individuellen biographischen Prozesslogik verstanden werden: Nuray Coúkun verfolgt zu diesem Zeitpunkt ein schulbiographisches Aufstiegsprojekt, das sie gewissermaßen intuitiv daran hindert, sich auf das als schuldistanziert beschriebene Peer-Milieu der Handelsschüler*innen einzulassen, das dieses Projekt vermutlich gefährden würde.20 Damit wird deutlich, dass das Verhältnis zwischen Bildungshabitus und schulischem Bildungskontext als ein dynamisches Wechselverhältnis verstanden werden muss: Der Habitus eines Individuums ist kein kohärentes und in sich geschlossenes System, sondern kann – durch die biographische Integration von Erfahrungen in disparaten sozio-kulturellen Milieus – in sich durchaus widersprüchlich strukturiert sein. Der individuelle Habitus eines Individuums, beinhaltet deshalb potenziell Möglichkeiten des Anschließens an verschiedene schulkulturelle Milieus, die ihrerseits ein Potenzial für habituelle Veränderungen und biographische Entwicklungen enthalten. Ob und in welcher Weise die ‚Anschlussstellen‘, die der jeweilige schulische Raum bietet, erschlossen werden oder auch
20 Einer ähnlichen intuitiven Logik folgt bereits die Distanzierung vom Wohnumfeld ihres Vaters, das der Biographin „zu gefährlich“ ist.
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nicht, steht in Zusammenhang mit dem biographischen Prozessverlauf, der zum gegebenen Zeitpunkt mehr oder weniger Offenheit dafür bietet.21 Die Bedeutung der individuellen biographischen Prozesslogik für schulbiographische Zugehörigkeitsverhältnisse wird auch am Beispiel Alicja Pajak deutlich, die für den Besuch der gymnasialen Oberstufe ebenfalls in eine neue Schule eintritt. Auch sie wird mit einer neuen sozialen Situation konfrontiert, in der sie sich als fremd erlebt. Ihre Geschichte kontrastiert mit der von Nuray Coúkun aber insofern als Alicja Pajak ihren Übergang in die Oberstufe als einen Prozess der Selbstmarginalisierung konstruiert. Dabei spielen soziale Differenzen zu den Mitschüler*innen eine zentrale Rolle. Anders als Nuray Coúkun konstruiert Alicja Pajak diesen Übergang nicht als Prozess einer Neupositionierung und habituellen Transformation. Stattdessen bleibt ihr der neue schulische Kontext fremd und die Distanz gegenüber den als „Bonzenkinder“ titulierten Klassenkamerad*innen bleibt weitgehend unverändert. Die Unterschiedlichkeit der bildungsbiographischen Prozesse in den beiden Fällen lässt sich einerseits mit unterschiedlich starken Divergenzen zwischen den individuellen Habitus‘ der Biograph*innen und dem jeweiligen schulkulturellen Milieu erklären, die für sie unterschiedlich große Akkulturationsanstrengungen nötig machen: Während sich für Nuray Coúkun im schulkulturellen Milieu und der Lernkultur der Gesamtschule vielfältige Anknüpfungspunkte für die Herstellung von Zugehörigkeit finden, erfährt Alicja Pajak die Distanz zum bürgerlich orientierten schulkulturellen Milieu des kleinstädtischen Gymnasiums als letztlich unüberwindbar. Mindestens ebenso bedeutsam für diesen Fortgang der Ereignisse scheint jedoch auch hier die spezifische bildungsbiographische Prozesslogik, in der dieser Schulbesuch in Alicja Pajaks Beispiel steht: Der Oberstufenbesuch ist in die Erfahrungsgeschichte eines heteronomen ‚Bildungsprogramms‘ eingebettet, dem die Biographin widerstrebend folgt, ohne es in ein eigenes Handlungsschema transformieren zu können. Auch dies verhindert eine Annäherung der Biographin an ihr neues schulisches Umfeld. Diese Ergebnisse unterstreichen, dass Zugehörigkeitsverhältnisse in schulischen Räumen – wie in anderen Bildungskontexten – auch im Zusammenhang individuellbiographischer Prozesslogiken zu sehen sind, die ein Anschließen an die Möglichkeiten des jeweiligen Raums zu bestimmten Zeitpunkten der jeweiligen Bildungsbiographie ermöglichen und erleichtern, aber auch erschweren oder gar blockieren können. 11.2.5 Rassismus- und Ausgrenzungserfahrungen und ihre biographische Bearbeitung Für die Zugehörigkeits- und Marginalisierungserfahrungen, die die Erzähler*innen in schulischen Kontexten machen, sind auch Erfahrungen mit Diskriminierung und Ausgrenzung relevant, welche die Biograph*innen auf die Position der ‚Migrationsanderen‘ verweisen.
21 Das Modell der schulbiographischen Passung setzt die Unabgeschlossenheit und Uneinheitlichkeit individueller Habitus zwar einerseits voraus, andererseits legen Begriffe wie „Abstoßungsverhältnis“ oder „Verhältnis der Homologie“ (Kramer/Helsper 2011: 110), mit denen das Verhältnis zwischen Schulkulturen und Habitus beschrieben wird, doch wieder ein eher statistisches und einheitliches Verständnis beider Größen nahe.
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In Anna Schusters Schulerzählung sind schulkulturelle Marginalisierungsprozesse und -erfahrungen in der gesamten Schulbiographie dominant. Diese können zunächst mit Divergenzen zwischen schulkulturellem Kontext und den bisherigen schulkulturellen Erfahrungen der Biographin erklärt werden: Die Hauptschule, in die sie nach der Migration nach Deutschland übertritt, stellt für Anna Schuster (bis auf die Erfolgserlebnisse im Bereich des Lesens) keinen Raum dar, in dem sie sich mit ihren schulischen Vorerfahrungen und Strategien einbringen und als wirksam erfahren kann. Voraussetzung für die Herstellung einer Zugehörigkeit zu diesem schulkulturellen Raum ist u.a. die Fähigkeit, sich durch unübersichtliche Situationen im Unterricht nicht irritieren zu lassen und sich die eigene Beteiligung am Unterricht notfalls lautstark zu erkämpfen. Diese Voraussetzungen sind nicht Teil von Anna Schusters schulischem Handlungsrepertoire – sie verfügt über andere Strategien des ‚doing student‘ (Faulstich-Wieland/Weber/Willems 2004), die in einem Schulsystem kultiviert wurden, in dem – der Darstellung der Biographin zufolge – vor allem Disziplin und Konformität gefordert waren, um schulischen Erfolg haben zu können. Diese Strategien finden im Bildungsmilieu der von ihr besuchten Hauptschule keine Resonanz. Auch das Leistungsstreben der Biographin trifft in diesem schulkulturellen Milieu nicht auf Anerkennung. Insoweit lässt sich hier von einem negativen Wirksamkeitsverhältnis zwischen dem schulkulturell geforderten Schüler*innenhabitus und den schulbezogenen Bildungsstrategien und Beteiligungspraktiken der Biographin sprechen. Die prekären Zugehörigkeitserfahrungen der Biographin lassen sich aber nicht allein auf ein zufällig fehlendes Resonanzverhältnis zwischen dem biographischen Bildungshabitus und Schulkultur zurückführen. Sie sind auch ein Ergebnis diskriminierender Praktiken, von denen Anna Schuster als Migrantin betroffen ist. Anna Schuster verfügt beim Eintritt ins deutsche Schulsystem (noch) nicht über die (in der Schule einzig) legitime standarddeutsche Sprache. Ihre familiensprachlichen Kompetenzen und ihre mitgebrachte Schulsprache erfahren im schulischen Kontext keine Anerkennung, sondern sie werden abgewertet. In Anna Schusters Schulbiographie kommen damit Diskriminierungserfahrungen zum Ausdruck, die ein Ergebnis des systematischen Ignorierens heterogener Vorerfahrungen und Ressourcen von Schüler*innen verschiedener natio-ethno-kultureller Zugehörigkeiten (vgl. Wenning 2007) und der fehlenden Institutionalisierung von Strukturen und Kulturen der Anerkennung innerhalb der Institution Schule sind. Diese Erfahrungen sind für die Biographin nicht nur mit situativen Leidensprozessen verbunden, sondern haben nachhaltige Konsequenzen: Sie begünstigen die Ausformung eines Habitus der Selbstbeschränkung, der sich in einer anhaltenden Angst vor der Artikulation in unvertrauten sozialen Kontexten ausdrückt. Während in der Rekonstruktion von Anna Schusters Bildungsbiographie vor allem Diskriminierungserfahrungen infolge einer institutionellen Ignoranz der Schule und schulischer Akteur*innen gegenüber heterogenen sozio-kulturellen und sprachlichen Hintergründen der Lernenden sichtbar wurden, ließen sich in anderen Interviews Diskriminierungserfahrungen rekonstruieren, die aus ethnisierenden und rassistischen Unterscheidungspraktiken resultieren, welche die Schüler*innen in die Position der Migrationsanderen verweisen. Erfahrungen mit rassistischer Diskriminierung beziehen sich dabei sowohl auf Interaktionen mit Lehrkräften und Mitschüler*innen als auch auf als segregativ erlebte schulorganisatorische Maßnahmen (etwa
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die Beschulung in Auffang- oder Förderklassen für Schüler*innen mit nichtdeutscher Familiensprache).22 In einigen Erzählungen wird deutlich, dass die Kategorie ‚Migration‘ durch solche ethnisierenden Differenzierungspraktiken überhaupt erst zu einer bedeutsamen Dimension der biographischen Selbstbeschreibung wird. Am Beispiel Dilan Karatay wurde erkennbar, wie Erfahrungen mit Alltagsrassismus und Othering in der Schulgeschichte dazu beitragen, dass ‚Migration‘ überhaupt zu einer bedeutsamen Dimension der biographischen Selbstbeschreibung wird. Das Relevantwerden von Zugehörigkeitsfragen steht mit subtilen rassistischen Ausgrenzungen in Zusammenhang, die die Biographin im Kreise ihrer Peers erlebt (vgl. Kap. 8.2.4). Obwohl sie nicht direkt als Migrationsandere adressiert wird, hat diese Erfahrung in Dilan Karatays biographischer Konstruktion eine Veränderung in ihrer biographischen Zugehörigkeitskonstruktion zur Folge: Sie lernt, sich als „doch irgendwie die Ausländerin“ zu verstehen. Diese veränderte Selbstpositionierung wird auch durch einen anderen Prozess flankiert, der sich zeitgleich im lebensweltlichen Kontext vollzieht: Die Politisierung der Biographin, die sich als Resultat der Konfrontation mit alltagsrassistischen Äußerungen und zugleich als Hintergrund einer stärkeren Sensibilisierung für solche Äußerungen verstehen lässt. Die Politisierung kann als ein Moment der (Selbst-) Ermächtigung verstanden werden, das es der Biographin ermöglicht, sich als politisches Subjekt zu artikulieren. Dies stellt eine mögliche Variante des biographischen Umgangs mit Ethnisierungs- und Rassismuserfahrungen dar, die nicht zufällig ist, sondern spezifische Ressourcen und Gelegenheitsstrukturen voraussetzt. Dilan Karatay kann für den Umgang mit den erlebten Situationen auf Strategien, Netzwerke und Vorbilder aus ihrer Familie und ihrem sozialen Nahraum zurückgreifen, die sie sich erschließt und nutzt. In anderen Bedingungskonstellationen werden Ausschluss- und Marginalisierungserfahrungen infolge ethnisierender und rassistischer Unterscheidungen dagegen durch die Einbindung in andere soziale Räume bearbeitet, die Anerkennungs- und Teilhabeerfahrungen ermöglichen. Dies wurde bereits im Fall Anna Schuster erkennbar und zeigt sich am Beispiel Meral Yilmaz noch deutlicher. Obwohl die Biographin im Interview bemüht ist, ihre Schulerfahrungen ausgeglichen darzustellen und Diskriminierungserfahrungen zu relativieren beschreibt sie sich als der Schule nicht sozial zugehörig. M: zu Hause war ich noch lebhafter als ich in der Schule weil ich - halt (lacht) mich akzeptiert gefühlt hab, in der Schule war das ja nicht so, so stark dass ich äh gesagt hab ich bin jetzt hier total willkommen und - ich äh bin äh vollkommen integriert obwohl ich mich bemüht hab aber äh kams äh kamen schon Situationen wo ich gedacht hab wo ich das wirklich gespürt hab, ich bin anders und äh ich gehöre nicht dazu. (Meral Yilmaz 6/28-34)
Ihre marginalisierte Position führt sie zum einen auf optische Differenzmarkierungen zurück – neben ihren beiden Schwestern ist sie das einzige Mädchen an der Schule, die ein Kopftuch trägt, aufgrund dessen sie als ‚Andere‘ identifiziert wird. 22 Hier ist nicht der Ort, die Vielzahl diskriminierender Praktiken systematisch darzustellen. Vielmehr geht es um eine Darstellung der biographischen Ver- und Bearbeitungsweisen solcher schulischen Ethnisierungs- und Rassismuserfahrungen.
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Zudem deutet sie ihre Entscheidung, sich an den dominanten jugendkulturellen Praktiken nicht zu beteiligen (Parties) als Ursache dafür, dass sie in der Klasse eine soziale Randposition gerät. Andererseits wird Meral Yilmaz auch durch die Handlungen von Lehrpersonen wiederholt als ‚Andere‘ positioniert. So berichtet sie, dass sie als Schülerin im Unterricht von den Lehrer*innen als Expertin für Fragen adressiert wurde, die ‚den Islam‘ betreffen. M: ich hab ja gesagt dass die Lehrer sich nicht dafür interessiert haben was äh, was für ne Kultur wir haben - a=aber sie haben sich dafür interessiert sobald das Thema Islam in der Schule aufkam, wurde uns dann äh - wurden wir sozusagen als muslimische Schüler /(lachend) beauftragt/ was zu erzählen. Und als Kind ist man ja meistens nicht so gebildet, dass man irgendwie alles perfekt äh- darstellen kann äh, und wenn man sich dann irgendwie nicht ähm, wenn man was nicht richtig darstellen konnte wurde man dann manchmal von den Schülern irgendwie angegriffen oder auch niedergemacht so, was ist das denn voll unlogisch und solche Sachen, wobei es für uns selber eigentlich total schlüssig gewesen ist und man /(lachend) konnte es nur nicht rüber bringen/ weil man halt so klein war! (…) Das betrifft einen ja persönlich und äh - ich kann mich erinnern, sobald ein Thema über Islam dann äh - in der Klasse aufkam, wollte ich zwar etwas sagen, aber ich=ich hatte Bedenken, dass ich das nicht richtig erklären kann und aufgrund dessen /(lachend) raste mein Herz so stark/! So ja, äh da war ich eher so zurückhaltend /(lachend) und hab nichts gesagt/. In diesen_solchen Situationen, wo mich das persönlich betroffen hat. (…) Also es betrifft mich persönlich, es ist für mich sehr wichtig, aber äh ich weiß auch äh die=die Vorurteile der anderen, was die über äh - meine Religion vielleicht denken äh, und man hat Angst äh diese Vorurteile zu bekräftigen indem man vielleicht etwas Falsches sagt. Ne, und äh das war schon - an solchen Situationen fand ich das nicht so schön, also es war sehr bedrückend. (Meral Yilmaz 30/23-31/9)
In dieser Passage wird zum einen der Mechanismus des Othering deutlich, dem Meral Yilmaz und ihre Schwester als muslimische Schüler*innen ausgesetzt sind. Aufgrund ihrer religiösen Kleidung werden die Mädchen als Muslimas identifiziert und „beauftragt“, etwas zum „Thema Islam“ zu erzählen. Dabei geht es offenbar weniger darum, über ihre persönliche religiöse Auffassung und Praxis zu berichten, sondern sie sollen für den Islam im Allgemeinen sprechen. Die Mädchen werden dadurch als Repräsentant*innen ‚des‘ Islam adressiert und damit als Religionsandere be-fremdet. Diese Positionierung ist durchaus ambivalent – dies zeigt sich daran, dass Meral Yilmaz nicht nur aufgefordert wird, sich zu äußern, sondern sie auch etwas sagen „wollte“: Die Aufforderung beinhaltet einerseits die Zuweisung eines Expert*innenstatus, der eine Stellungnahme ermöglicht, andererseits betrifft das Thema, um das es geht, die Mädchen „persönlich“. Nimmt Meral Yilmaz die Aufforderung an, so trägt sie eine hohe Verantwortung dafür, komplexe religiöse Zusammenhänge auch ‚richtig‘ zu „erklären“. Gelingt ihr dies nicht, so riskiert sie womöglich, unwillentlich Vorurteile gegen ‚den‘ Islam zu bestätigen. Zudem wird sie selbst als (religiöse) Person diskreditierbar. Dies produziert Angst, sich missverständlich auszudrücken oder etwas „Falsches“ zu sagen und durch Mitschüler*innen für „unlogisch“ erscheinende Erklärungen ‚überführt‘ und bloßgestellt zu werden. Die Angst, selbst angreifbar zu werden und die Angst, durch eine nicht „perfekt[e]“ Erläuterung zur Bestätigung antimuslimischer Diskurse beizutragen, sind dabei eng miteinander
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verbunden. Dies wird zu einer Belastung, die Meral Yilmaz sogar körperlich empfindet. Darüber hinaus macht sie die Erfahrung eines unterrichtlichen Ausschlusses: M: und ja - w=w=was ich nie vergessen werde, ist dass ich in der Schule äh in der Oberstufe in der elften Klasse, ich hatte einen_ äh katholische Religion gewählt, und äh - der äh - im=im ersten Halbjahr durfte ich dran teilnehmen und im zweiten Halbjahr hat sich d=d_ kam ein anderer Lehrer, und dieser Lehrer hat mich in der ersten Stunde - vor den ganzen Schülern hat er mich rausgeholt - und mich draußen gebeten, dass ich äh mich, dass ich zum Sekretariat gehen solle und mich zum Philosophiekurs anmelden solle weil er nicht möchte dass ein muslimisches Kind in seinem Religionsunterricht teilnimmt. Das=das war so das Schlimmste was ich in meiner Schullaufbahn so erlebt hab so - als äh - Diskriminierung so zu sagen. Wo ich gedacht habe, was ist denn jetzt los. (Meral Yilmaz 6/36-7/6)
Meral Yilmaz’ Teilnahme am katholischen Religionsunterricht wird – nachdem sie ein Schulhalbjahr offenbar ohne Probleme daran teilnehmen konnte – nach einem Lehrer*innenwechsel plötzlich infrage gestellt.23 Die religiöse Zugehörigkeit der Schülerin ist offenbar eine hinreichende und nicht weiter legitimationsbedürftige Begründung für ihren Ausschluss aus dem Unterricht. Während ihre religiöse Zugehörigkeit für die Biographin selbst problemlos mit ihrer Teilnahme am katholischen Religionsunterricht vereinbar ist,24 scheint diese Kombination aus Sicht des Lehrers ausgeschlossen. Der Ausschluss der Schülerin vom Religionsunterricht wird auch symbolisch in Szene gesetzt, indem der Lehrer sie „vor den ganzen Schülern“ zum Verlassen der Klasse auffordert. Die geschilderte Szene kann als Beispiel für ein „negatives religiöses Othering“ (Mecheril/Olalde 2011: 55) mit der Folge eines sozialen Ausschlusses verstanden werden. Meral Yilmaz irritiert durch ihre Teilnahme am katholischen Religionsunterricht die Grenzen der dominanten natio-ethnokulturellen Zugehörigkeitsordnung. Durch den Akt des öffentlichen Ausschließens der muslimischen Schülerin vom katholischen Religionsunterricht werden diese Grenzen durch den Lehrer symbolisch wieder hergestellt. Diese Grenzziehung hat eine produktive, differenzstiftende Wirkung, insofern die Schüler*innen dadurch als Mitglieder oder Nichtmitglieder identifiziert und bestätigt werden (vgl. ebd.). In Meral Yilmaz’ Geschichte werden die Erfahrungen des Ausschlusses und der prekären Zugehörigkeit zum schulkulturellen Kontext in Form einer Zweiteilung ihrer Lebenswelt verarbeitet: Auf der einen Seite steht die Schule, die sie zwar formal erfolgreich durchläuft, aber zu der sie sich nicht als zugehörig präsentieren kann. Auf der anderen Seite werden die Familie sowie das muslimische Jugendzentrum verortet, die als Gegenwelten zur Schule erscheinen. Im Jugendzentrum werden Zugehörigkeitserfahrungen möglich Meral Yilmaz konstruiert sich selbst durch die Teilnah-
23 Dies verweist darauf, dass die Lehrkräfte in dieser Frage einen bestimmten Entscheidungsspielraum haben, den sie unterschiedlich nutzen. 24 Es scheint keine Möglichkeit des überkonfessionellen Religionsunterrichts zu geben, weshalb die einzige Alternative zum katholischen Religionsunterricht der Philosophie unterricht ist. Meral also gut@ ich wurde sehr herzlich empfangen - in diesem Land oder in diesem - System oder - also ich hatte auch nie (2) nie Probleme eigentlich damit
Die Aussage, in der Schule „eigentlich nie Probleme“ aufgrund ihrer „Herkunft“ gehabt zu haben, steht in einem deutlichen Spannungsverhältnis zu der Erwähnung von diskriminierenden Situationen und Praktiken. Zwar fällt auf, dass Darja Pohl in ihren Bilanzierungen nicht ganz ohne Relativierungen auskommt – darauf deutet u.a. die wiederholte Formulierung „eigentlich“ hin –, jedoch überwiegt die Tendenz, Diskriminierungs- und Ausgrenzungserfahrungen im Nachhinein zu entdramatisieren. Damit geht eine Betonung der eigenen ‚Integrationsleistungen‘ einher, die auch durch die Abgrenzung von anderen Jugendlichen hergestellt wird, die als „nicht integriert“ beschrieben werden. D: ich hatte halt sowohl Freunde sowohl als - also sowohl (1) Freunde mit Migrationshintergrund als auch deutsche Freunde oder russische Freunde oder - also es war alles so_ aber wir waren alle - wir waren alle schon integ_ also dieses integriert, das war für mich irgendwie wichtig weil - ich wusste also es gab auch die Jugendlichen die irgendwie - nicht integriert waren und mit denen kam ich also nicht zurecht. Weil - da gabs zum Beispiel eine Situation da waren wir irgendwie auch feiern und dann - also da gabs - es gab immer diese Grüppchen die halt wirklich - die sowohl von der Sprache also ähm (1) also die waren halt nicht=also die waren wirklich noch äh - die haben sehr viel_ also jetzt mit Russisch zum Beispiel I: Ja D: die haben sehr viel Russisch gesprochen, das waren die Russen und - als so und dann äh kannte ich da irgendwie einen vom Sehen und dann hat er mich angesprochen und dann meinte er_ habe ich irgendwie zu ihm was gesagt, und dann meinte er zu mir, ob ich mich nicht schämen würde weil ich halt jetzt kein Russisch sprechen würde - also diese Schiene also ich
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war eigentlich - er hat mich in seine Rolle wo ich mir eigentlich gedacht habe okay ich würde mich für dich schämen weil du irgendwie - durch dich_ durch Leute wie dich werde ich sozusagen - also dann - ja wo kommste her, aus Kasachstan, ach ja und so die - die Leute sind das, die die so viel trinken, die viel prügeln oder keine Ahnung was so was. Oder die Mädels die so und so sind - und durch ihn eigentlich (Darja Pohl 7/1-21)
Darja Pohl differenziert verschiedene Gruppen jugendlicher Aussiedler*innen, die sie als unterschiedlich „integriert“ beschreibt. Der Grad der Integration wird dabei unter anderem an der Sprachverwendung gemessen. Der Argumentation liegt ein normatives Fortschrittsmodell zugrunde, in dem die Verwendung von Deutsch als Alltagssprache den normativen Maßstab für Integration darstellt. Die Verwendung der russischen Sprache wird dagegen als Zeichen einer (noch) nicht erfolgten Integration oder drohenden Desintegration gewertet. Darja Pohl kommuniziert mit ihren Freund*innen auf Deutsch und erfüllt damit den Anspruch an eine ‚gelungene Integration‘. In der geschilderten Interaktionssituation mit dem Bekannten wird Darja Pohl ihre Assimilationsstrategie jedoch zum Vorwurf gemacht. Sie wird als illoyale Überläuferin stigmatisiert, die ihre Herkunft verleugnet. Die Biographin geht damit um, indem sie diesen Vorwurf zurückweist und die Richtung der Argumentation umkehrt: Sie schreibt ihrem Gegenüber die Verantwortung für Stereotypisierungen und kollektiven Stigmatisierungen zu, die Spätaussiedler*innen aus Kasachstan und die nachfolgende Generation in Deutschland erfahren. Mit dieser Deutung führt Darja Pohl ihre eigenen Ausgrenzungserfahrungen, die sie trotz ihrer Assimilationsstrategie macht, nicht primär auf Diskriminierung zurück, sondern auf die fehlende ‚Integrationsbereitschaft‘ unter jugendlichen Aussiedler*innen, die durch ihr Verhalten gesellschaftliche Vorurteile bestätigen. In der Person ihres Gesprächspartners nimmt diese Gruppe eine konkrete Gestalt an, gegen die Darja Pohl sich wenden kann. Auf diese Weise wird ein konkreter Sündenbock identifiziert, der für das eigene Leiden an den erfahrenen Diskriminierungen verantwortlich gemacht wird, während die Institutionen und Akteur*innen, von denen diese Stigmatisierungen ausgehen, entlastet werden. Diese Deutung ermöglicht es der Biographin, die eigene Strategie der ‚Integration‘ zu verteidigen und daran festzuhalten.26
26 Im Gesamtzusammenhang der Lebensgeschichte wird deutlich, dass sich diese Handlungsund Deutungsstrategie nicht nur als Hinweis auf die Inkorporierung des hegemonialen Integrationsdiskurses lesen lässt, wenngleich dieser darin zweifellos reproduziert wird. Darüber hinaus kann die Strategie auch als Ausdruck eines biographischen Handlungsprinzips verstanden werden, das auf Darja Pohls individuelle Erfahrungsgeschichte verweist: Ihre Strategie der ‚Integration‘ steht im Kontext einer Lebensgeschichte, in der die reibungslose „Integration“ in soziale Systeme eine notwendige Bedingung für die Aufrechterhaltung von Stabilität darstellt. Die familiale Konstellation macht die Selbstorganisation und ein reibungsloses ‚Funktionieren‘ der gesunden Familienmitglieder in allen Lebensbereichen erforderlich (vgl. Kap. 11.2.1). Den Eltern keine „Probleme“ zu machen, ist in dieser Konstellation zentral. Darja Pohl bewältigt diese Anforderung durch Leistungs- und Assimilationsanstrengungen, die ein problemloses Durchlaufen der Schule gewährleisten sollen. Reibungen und Spannungen im Verhältnis zur Schule, die aufgrund von Diskriminierungserfahrungen dennoch entstehen, stellen eine Gefahr dar, da sie die Wirksamkeit dieser er-
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Insgesamt zeigt sich, dass die Biograph*innen zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer Schulbiographie Erfahrungen mit Diskriminierung machen, die mittels verschiedener Handlungs- und Deutungsstrategien verarbeitet werden. Die hier rekonstruierten Verarbeitungsformen stellen exemplarische Varianten einer solchen lebensgeschichtlichen Verarbeitung von Ethnisierungs-, Rassismus- und Marginalisierungserfahrungen dar, mit denen die Subjekte als Jugendliche im schulischen Kontext konfrontiert sind. In biographischer Perspektive wird dabei deutlich, dass diese Strategien nicht beliebig sind, sondern vor dem Hintergrund der jeweils verfügbaren sozialen Netzwerke, biographischen Ressourcen und Wissensbestände interpretiert werden müssen, die den Subjekten zur Verfügung stehen und ihnen unterschiedliche Handlungs- und Deutungsweisen ermöglichen. 11.2.6 Zusammenfassende Reflexion Obwohl die Interviewten das deutsche Schulsystem alle formal ‚erfolgreich‘ durchlaufen haben – alle haben die Schule mit dem Abitur abgeschlossen – verweisen ihre Erzählungen auf sehr unterschiedliche familiale und institutionelle Rahmenbedingungen und biographische Prozessverläufe, die mit diesem Weg verbunden sind. Nicht für alle verbindet sich mit den formalen Schulerfolgen auch die Konstruktion einer subjektiven ‚Erfolgsgeschichte‘. Die Schullaufbahn ist für einige mit erheblichen Hürden, Rückschlägen und Leidensprozessen verbunden. Die Erzählungen verweisen auf beträchtliche strukturelle Hindernisse und Erschwernisse, die u.a. aus den begrenzenden institutionellen Voraussetzungen der lokalen Bildungslandschaft, diskriminierenden Zuweisungspraktiken bei Schulübergängen und dem „monolingualen Habitus“ (Gogolin 2008) des Bildungssystems resultieren. Dies wurde besonders in den Erzählungen über ‚Quereinstiege‘ ins deutsche Schulsystem und über schulische Aufwärtsqualifizierungen erkennbar.27 Schüler*innen mit anderen familiensprachlichen Voraussetzungen und mit Vorerfahrungen in anderen Schulsystemen werden dadurch systematisch benachteiligt. Die Nachteile, die sich beim Übertritt in die weiterführende Schule ergeben, kumulieren im weiteren Verlauf der Schullaufbahn und machen schulische Aufstiegsprozesse zu einem ‚Hindernislauf‘. Dies hat nicht nur eine Bedeutung für den formalen Prozess des Qualifikationserwerbs, der sich durch Klassenwiederholungen und Schulwechsel verzögert und verkompliziert, sondern auch für die Erfahrungsprozesse der biographischen Subjekte. So wirken etwa die fehlende institutionelle Anerkennung von Aufstiegsorientierungen sowie Abwertungs- und Stigmatisierungserfahrungen, die Schüler*innen im Verlauf schulischer Aufstiegsprozesse machen, auf die Subjekte und ihre Erwartungshaltungen zurück. Auch wird in den Schulgeschichten die Bedeutung der jeweiligen familialen Ausgangssituationen erkennbar, die dazu führen, dass die Subjekte auf ihrem Weg bis zum Abitur unterschiedliche Ressourcen und Unterstützungspotenziale mobilisieren können. Dabei zeigen sich einerseits Unterschiede in den ökonomischen, sozialen lernten Strategie infrage stellen. Sie werden deshalb retrospektiv entdramatisiert, anstatt sie zu skandalisieren. 27 Zum Umgang mit sogenannten Seiteneinsteiger*innen im Schulsystem siehe auch Diehm/ Radtke 1999: 115ff sowie die jüngst erschienene Fallstudie von Anton Große (2015).
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und kulturellen ‚Ressourcenausstattungen‘ der Familien, die aus deren Positionierung im sozialen Raum resultieren. Andererseits wird deutlich, dass dies die Schulgeschichten der Individuen nicht determiniert – so zeigte sich, dass familial verfügbare kulturelle und soziale Ressourcen und Privilegien von den Heranwachsenden vor dem Hintergrund adoleszenter Abgrenzungsdynamiken nicht als Ressourcen für die eigene Bildungslaufbahn genutzt, sondern auch zurückgewiesen werden können. Die Erzählungen der Bildungsaufsteiger*innen zeigen umgekehrt, dass elterliche Bildungsstrategien auch in Familien mit wenig anerkanntem kulturellem Kapital den Kindern den Weg in statushöhere Bildungsgänge ebnen und dadurch die Voraussetzungen für die Verwirklichung sozial erwartungswidriger Schulverläufe schaffen. Ähnlich wie bereits andere Studien gezeigt haben (vgl. u.a. Hummrich 2009; Tepecik 2010), weisen auch viele der im Rahmen der vorliegenden Untersuchung analysierten Erzählungen auf eine starke Bildungs- und Aufstiegsorientierung in den Familien hin, die an die Kinder weitergegeben wird.28 Dabei zeigen sich Unterschiede in der Art und Weise, wie die Subjekte sich dazu ins Verhältnis setzen. So gibt es sowohl Beispiele dafür, dass es den Subjekten gelingt, das familiale Aufstiegsprojekt in ein eigenes bildungsbezogenes Handlungsschema zu transformieren, als auch Konstellationen, in denen die Subjekte den schulischen Aufstieg als ein heteronom bestimmtes ‚Programm‘ erleben, das sie mit Widerständen durchlaufen. In dieser zweiten Variante können familiengeschichtliche Vermächtnisse, die für die Biograph*innen mit Gefühlen von Schuld und Verantwortung verknüpft sind, eine entscheidende Rolle für die Bindung an das ‚auferlegte‘ Bildungsprojekt spielen. Der formale Bildungserfolg wird dann um den Preis des Verhaftet-Bleibens in diesen Verstrickungen realisiert (vgl. dazu auch King 2006). Dieses Phänomen ist nicht als spezifisch für die Bildungswege von jungen Erwachsenen mit Migrationsgeschichte anzusehen. Allerdings können Bedingungen, die den Eltern eine positive Bilanzierung der Migration verunmöglichen, zu einer solchen Konstellation beitragen. Die formale Teilhabe an höherer Schulbildung allein sagt noch wenig über die sozialen Zugehörigkeitserfahrungen aus, die für die Subjekte innerhalb des jeweiligen Schulkontextes möglich werden. Für Zugehörigkeitserfahrungen erweist sich das Zusammenspiel der jeweiligen Schulkultur mit der biographischen Prozessstruktur als bedeutsam. Schulische Milieus sind in unterschiedlichem Maße anschlussfähig an die biographisch erworbenen Bildungshaltungen, -praxen und -erwartungen der Schüler*innen. Aus der Perspektive individueller Bildungsbiographien lassen sich Zugehörigkeitserfahrungen im Schulsystem dabei nicht entlang der Positionierung der Subjekte im sozialen Raum prognostizieren. Sie lassen sich nur durch die Untersuchung des Wechselverhältnisses zwischen individuellen bildungsbiographischen Dispositionen und dem jeweiligen schulischen Bildungsmilieu rekonstruieren (vgl. Kramer 2002; Helsper et al. 2009). Verschiedene schulische Milieus repräsentieren unterschiedliche Resonanzräume für die Bildungshaltungen und -strategien der Subjekte. Die Frage nach der Anschlussfähigkeit individueller Bildungsdispositionen in diesen Schulmilieus verweist dabei auch auf die sozialräumlich bedingt unterschied28 Nicht in allen Biographien lassen sich allerdings familiale Bildungs- und Aufstiegsmotive als ‚Motor‘ für den Übergang in weiterführende Bildungswege rekonstruieren. In einigen biographischen Konstruktionen bilden primär eigene Bildungsbestrebungen den ‚Antrieb‘, etwa in den Fallbeispielen Darja Pohl oder Marlena Janowski.
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liche Nähe der Bildungshaltungen der Einzelnen zu den jeweiligen schulischen Kontexten geforderten Dispositionen. Die Mehrdimensionalität und Dynamik des individuellen biographischen Habitus impliziert aber grundsätzlich ein Potenzial für das Anschließen an unterschiedliche schulkulturelle Milieus. Um zu verstehen, wie sich das Verhältnis zwischen den Bildungshaltungen der Subjekte und den Anforderungsstrukturen des schulischen Kontextes im konkreten Fall gestaltet, ist es deshalb entscheidend, die jeweilige biographische Prozessstruktur mit in den Blick zu nehmen. Diese erzeugt einen individuellen Resonanzraum für die schulische Angebotsstruktur, der zu verschiedenen biographischen Zeitpunkten unterschiedlich ‚offen‘ für Impulse ist, die der schulische Erfahrungsraum bietet. Diese (Eigen-)Dynamik bildungsbiographischer Prozesse trägt dazu bei, dass zu verschiedenen Zeitpunkten der Bildungsbiographie unterschiedliche schulbiographische ‚Passungen‘ möglich werden. Die Art und Weise, wie die Impulse des schulischen Erfahrungsraums nach dem Eintritt in diesen Raum individuell verarbeitet werden, hat wiederum Konsequenzen für den weiteren bildungsbiographischen Prozess. Die Analyse der Biographien hat auch gezeigt, dass sich schulische Zugehörigkeitserfahrungen im Kontext migrationsgesellschaftlicher Differenzverhältnisse nicht nur als Ausdruck des Verhältnisses zwischen individuell-biographischem Habitus und Schulkultur verstehen lassen, sondern auch vor dem Hintergrund von Rassismus und Ausgrenzungsstrukturen analysiert werden müssen. In vielen Erzählungen wird deutlich, dass Schüler*innen mit Alltagsrassismen, Ethnisierung und Ausgrenzungen konfrontiert werden, die ihnen ein Selbstverständnis als legitim Zugehörige erschweren. Dazu tragen sowohl Ausschlüsse bei, die aus institutionell verankerten Unterscheidungspraktiken und Normalitätserwartungen resultieren, als auch Erfahrungen der Abwertung, Stigmatisierung und des Othering in der Interaktion mit konkreten Anderen – Lehrkräften und Mitschüler*innen –, womit gesellschaftliche Differenzund Dominanzverhältnisse aktualisiert werden. Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen sind nicht jederzeit relevant und nicht in allen untersuchten Schulbiographien gleichermaßen bedeutsam. Gleichwohl stellen sie ein strukturelles Verletzungspotenzial in den Biographien von Schüler*innen dar, die als ‚Migrationsandere‘ identifiziert werden.
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11.3 Z WISCHEN T RADITIONSBILDUNG UND K ONTINGENZ – W EGE INS ( PÄDAGOGISCHE ) S TUDIUM Bislang wurden Analyseergebnisse präsentiert, die sich auf die Bildungsgeschichten der Interviewten bis zum Ende der Schulzeit bezogen. Im Folgenden wird der Blick darauf gerichtet, wie die Interviewten ihren Weg in das pädagogische Studium biographisch konstruieren und deuten.29 Ausgehend von den vier ausführlichen Fallrekonstruktionen werden einige Dimensionen vorgestellt, die sich in fallvergleichender Perspektive als bedeutsam für die Einmündung in ein (pädagogisch ausgerichtetes) Studium erwiesen haben. Die Rekonstruktion dieser Einmündungsprozesse ermöglicht einerseits neue Einsichten in Hintergründe und Möglichkeitsbedingungen der Beteiligung von Studierenden ‚mit Migrationsgeschichte‘ an universitärer Bildung und speziell an erziehungswissenschaftlichen und Lehramtsstudiengängen. Andererseits ermöglicht eine biographieanalytische Perspektive auf diese Prozesse auch einen Erkenntnisgewinn im Hinblick auf Studien(wahl)prozesse im Allgemeinen. Die Erzählungen der Interviewten sind dabei nicht als Abbilder, sondern als retrospektive biographische Konstruktionen dieser Prozesse zu verstehen. Da die ‚Entscheidung‘ für ein (pädagogisches) Studium zum Interviewzeitpunkt bereits in der Vergangenheit lag, verweisen die Erzählungen zwar auf die damaligen Prozesse und Geschehnisse, diese werden aber aus der Gegenwartsperspektive auch reflektiert, umgedeutet und erklärt. 11.3.1 Studiengangspezifische Besonderheiten Hinsichtlich der Studienwahlkonstruktionen zeigen sich zunächst – wenig überraschend – Unterschiede zwischen den Lehramtsstudierenden und denjenigen, die ein erziehungswissenschaftliches Hauptfachstudium aufgenommen haben. Bei den Hauptfachstudierenden im Sample ist die Studienwahl noch nicht mit konkreten Berufsvorstellungen verknüpft. Die Entscheidung für ein erziehungswissenschaftliches Hauptfachstudium erfolgt aus verschiedenen Situationen heraus, vielfach aber als ‚zweite Wahl‘, nachdem der Numerus Clausus den Zugang zum Psychologiestudium limitiert. Erziehungswissenschaft stellt in diesen Fällen die leichter zugängliche Alternative zum Psychologiestudium dar. Die Lehramtsstudierenden antizipieren mit der Wahl ihres Studiums dagegen meist bereits eine spätere berufliche Tätigkeit als Lehrer*in. Insofern spiegeln sich in den subjektiven Konstruktionen und Erwartungshaltungen der Studierenden die unterschiedlichen Ausrichtungen der Studiengänge wider: Während das Lehramtstudium traditionell auf ein bestimmtes Berufsfeld vorbereiten soll, sind die beruflichen Möglichkeiten, die mit einem erziehungswissenschaftlichen Studium verbunden sind, weit offener.
29 Eine etwas veränderte Version dieses Kapitels, die sich mit diesem Aspekt beschäftigt, ist bereits in einem Sammelband zum Thema „Bildungsentscheidungen im Lebenslauf“ erschienen (vgl. Schwendowius 2014).
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Nicht in allen Fällen wird die Wahl des Lehramtsstudiums allerdings aus Ausdruck einer leidenschaftlichen pädagogischen Motivation konstruiert. So deutet Cem Keskin die Entscheidung für das Lehramtsstudium beispielsweise in erster Linie als eine pragmatische Entscheidung für einen sicheren Beruf, der die solidere Alternative zu seinem eigentlichen Berufswunsch darstellt, Journalist zu werden. Dieses Streben nach Sicherheit lässt sich dabei auch als Ausdruck des „soziale[n] Sinn[s]“ (Bourdieu 1987a) interpretieren, der verhindert, sich auf möglicherweise allzu riskante Optionen einzulassen. Auch Darja Pohl und Marlena Janowski deuten ihre Entscheidung für den Lehrberuf u.a. als Ausdruck der Wahl eines sicheren und soliden Berufs, wobei sie auch das Argument der Vereinbarkeit von Familie und Beruf ins Feld führen, die sie im Lehrberuf im Gegensatz zu anderen Berufsfeldern eher gegeben sehen. Interessant ist zudem, dass einige Lehramtsstudierende (selbst noch in fortgeschrittenen Phasen des Studiums) ihre Berufsentscheidung durchaus als vorläufig und reversibel betrachten und sich mit der Entscheidung für ein Lehramtstudium noch nicht endgültig auf den Lehrberuf festgelegt sehen wollen. Sie halten sich den beruflichen Horizont vielmehr durchaus offen. Dies geschieht zum Teil in Verbindung mit dem Streben nach einem verbesserten Status und nach beruflichen Positionen mit höherem Prestige, die beispielsweise durch eine akademische Weiterqualifikation erreicht werden sollen. Dies verweist auf ein allgemeines Problem des Lehramtsstudiums: Das geringe gesellschaftliche Prestige und die gesellschaftliche Abwertung der Lehrberufe wird von den Studierenden zum Teil sehr deutlich wahrgenommen und als abschreckend gewertet. Nur selten werden pädagogische Berufe wie im Fallbeispiel Nuray Coúkun im sozialen Nahraum der Subjekte als gesellschaftliche Schlüsselpositionen wahrgenommen und dadurch aufgewertet. Insbesondere in den Interviews mit den männlichen Interviewpartnern wird klar, dass die Subjekte das ‚Ankämpfen-Müssen‘ gegen das Negativimage von Lehrer*innen zum Teil als Belastung erleben. Die in manchen Fällen erkennbare Offenheit des Berufsentwurfs steht auch mit der Hoffnung auf Gelegenheitsstrukturen in Zusammenhang, die vielleicht doch noch den Wechsel in den eigentlich präferierten Berufsweg oder in alternative Berufskarrieren und Lebenswege ermöglichen. Diese sind für einige mit einem Streben nach Anerkennung und der Verbesserung des sozialen Status verbunden. So entwerfen Bahar Merizadi und Kerim Özer beispielsweise die Perspektive eines Wegs in die Wissenschaft, was in beiden Fällen mit dem Wunsch nach Statusverbesserung verknüpft ist. In anderen Fällen spielt eher die Suche nach Wegen eine Rolle, mit denen sich Vorstellungen einer weniger regulierten Lebensgestaltung verbinden: Yanna Galanis hält sich die Option offen, sich als Blumenhändlerin selbstständig zu machen und Cem Keskin formuliert die Hoffnung, eventuell später doch noch ins Berufsfeld Journalismus wechseln zu können. 11.3.2 Eigene Schulerfahrungen als biographischer Hintergrund Bei aller Unterschiedlichkeit der untersuchten biographischen Konstruktionen verweisen diese fallübergreifend auf die Bedeutung eigener Schulerfahrungen als Handlungs- und Deutungsressourcen für die Studienwahl. In den Fallrekonstruktionen wurde erkennbar, dass eigene Schulerfahrungen einen bedeutsamen biographischen
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„Hintergrund“ (Dausien 2011a) für die Wahl eines pädagogischen Studiums darstellen. Die eigene Schulzeit wird in den Erzählungen der Interviewten sowohl als Abgrenzungs- als auch als Orientierungsfolie relevant (gemacht). Positive Erfahrungen mit der Schule wie mit einzelnen Lehrer*innen bilden in einigen Erzählungen den Hintergrund für ein positives Bild von pädagogischen Berufen und tragen insofern dazu bei, dass sich die Interviewten in diese berufliche Richtung orientieren. Im Fall Nuray Coúkun wurde in diesem Zusammenhang die Bedeutung von Lehrkräften als berufliche Vorbilder aufgezeigt: Die Biographin deutet ihre Studien- und Berufswahl u.a. als Nachfolge des Berufswegs ihres Spanisch- und Geschichtelehrers. Ähnliche Konstellationen zeigen sich auch in anderen Interviews. So konstruiert auch Bahar Merizadi ihre Entscheidung für den Lehrberuf im Wesentlichen als Ergebnis positiver Erfahrungen mit ihrem Klassenlehrer in der Oberstufe, der für sie zu einer beruflichen Orientierungsfigur wird. Dabei werden von den Biographinnen unterschiedliche Aspekte relevant gemacht, die gerade diese Lehrkräfte für sie zu Vorbildern machen; in beiden Fällen deutet sich jedoch an, dass die Lehrer bestimmte Haltungen verkörpern, die mit den Überzeugungen und Handlungsmaximen der Biographinnen korrespondieren und sie deshalb attraktiv für sie macht.30 An Anna Schusters Geschichte wurde hingegen erkennbar, dass auch negative Schulerfahrungen ein Erfahrungswissen bilden, das zu einer Grundlage für die Orientierung an pädagogischen Berufen werden kann. Die Entscheidung für einen pädagogischen Beruf wird von ihr – neben positiven Erfahrungen im russischen Schulsystem – auch mit dem eigenen Leiden unter der Schule in Deutschland in Zusammenhang gebracht. In diesem Fall bilden die eigenen Schulerfahrungen eine Negativfolie, von der der eigene Berufsentwurf explizit abgegrenzt wird. Mit dem Ansteuern eines pädagogischen Berufs verbindet sich nicht nur der Wunsch, pädagogisch wirken zu wollen, sondern auch die Hoffnung, den eigenen negativen Schulerfahrungen auf diese Art und Weise nachträglich einen Sinn zu verleihen.31 Dies kann auch als eine Form der biographischen Transformation negativer Schulerfahrungen gedeutet werden, insofern diese zu einem Handlungsimpuls für die Gestaltung der eigenen Berufsbiographie umgedeutet werden. Das Verantwortungs- und Gestaltungspotenzial pädagogischer Berufe wird in den Erzählungen mit sehr unterschiedlichen beruflichen Selbstentwürfen und Zielen verknüpft, etwa mit eher individualisierenden Anspruch, Lernprozesse individuell zu fördern oder dem Wunsch, anderen zu „helfen“, aber auch mit gerechtigkeitsbezogenen Begründungen, wie dem Wunsch, zu mehr Chancengleichheit im Bildungssystem beitragen oder Schule demokratischer gestalten zu wollen. Vor dem Hintergrund der Erwartungen, die in der bildungspolitischen Debatte an Lehrkräfte ‚mit Migrationsgeschichte‘ gestellt werden, ist interessant, dass keine/r der interviewten Studierenden von sich aus die mögliche Bedeutung der eigenen Migrationsgeschichte oder ‚migrationsspezifischer‘ Kompetenzen (etwa lebenswelt30 Im Fall von Nuray Coúkun ist dies die politische Orientierung ihres Lehrers, bei Bahar Merizadi korrespondiert das Handeln ihres Lehrers mit ihrer Auffassung von Gerechtigkeit. 31 Die Orientierung an positiven Schulerfahrungen und professionellen Vorbildern und der Entwurf, es selbst ‚besser‘ zu machen als die eigenen Lehrer*innen, müssen sich dabei nicht wechselseitig ausschließen, sondern es können durchaus beide Dimensionen gleichzeitig relevant sein.
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licher Mehrsprachigkeit) für die eigene Studien- und Berufswahl thematisiert. Dies deutet darauf hin, dass die Studierenden – sofern überhaupt – erst während des Studiums mit Erwartungen, Erfahrungen und Zuschreibungen spezifischer Kompetenzen für die pädagogische Arbeit aufgrund ihrer Migrationsgeschichte in Berührung kommen. In der eigenen biographischen Konstruktion der Studienwahl wird diese Verbindung hingegen nicht hergestellt.32 Allein in der Erzählung von Nuray Coskun scheint diese Dimension bereits in der Studienempfehlung ihrer Lehrer*innen auf. 11.3.3 Familiale Vorbilder, Berufs- und Fachtraditionen Vorbilder für ein Studium zu haben, ist in vielen Erzählungen ebenfalls ein relevantes Moment in der Studiengeschichte. Das orientierende Potenzial familialer Vorbilder zeigt sich sowohl im Hinblick auf die Entscheidung für die Aufnahme eines Studiums im Allgemeinen als auch in Bezug auf die Wahl des konkreten Studiengangs und der Fächer. Dies zeigt sich in verschiedenen Erzählungen. So verweist Nuray Coúkuns Erzählung auf die Bedeutung ihrer Tante, der sie eine wichtige Vorbildfunktion für die Entwicklung ihrer eigenen Bildungsperspektive zuschreibt, die sie als Zehnjährige entwirft. Yanna Galanis beginnt ihre biographische Erzählung mit einem Bericht über die Studienbiographien ihrer Eltern, die beide in Deutschland studiert haben und deren Erzählungen über die Studienzeit zum familialen Geschichtenrepertoire gehören. Insbesondere wenn es keine akademische Tradition in der Familie gibt, können studierende ältere Geschwister eine entscheidende Bedeutung für das Verfolgen einer Studienperspektive einnehmen, denn sie vermitteln den jüngeren Geschwistern einen Sinn für die Wege, die ihnen prinzipiell offen stehen. Dies zeigt sich in der folgenden Passage aus dem Nachfrageteil des Interviews mit Meral Yilmaz: I: Ähm - kannst du nochmal erzählen also wies - also zum Ende der Schulzeit du überhaupt jetzt auf die Idee gekommen bist ähm, mit dem Studium? M: Also ähm Studium war für uns schon klar, weil ähm - mh - meine Schwester hat schon_meine Schwester hat studiert, und äh, mein Vater sagte auch ähm, also äh ihr braucht keine Ausbildung machen oder so ähm, wenn ihr schon Abitur habt, dann äh könnt ihr auch studieren. Und das wollten wir natürlich auch. Wir wollten das Höchste erreichen was man äh in der Schulbildung erreichen kann, ja und äh - da war mir schon also in dem Moment wo meine Schwester mit dem Studium angefangen hatte war mir schon_ also - soweit=in dem Moment wo meine Schwester mit dem Studium angefangen ha=äh hatte war mir schon klar. Also sie war sozu_ wie so ein Vorbild für uns. Da war mir schon klar, dass ich auch studieren werde. (Meral Yilmaz 33/12-21)
Auf die Frage nach der Entwicklung der Studienperspektive antwortet Meral Yilmaz, indem sie als erstes auf den Bildungsweg ihrer älteren Schwester Bezug nimmt. Die ältere Schwester nimmt hier – wie bereits beim Übergang ins Gymnasium – die Rolle einer Pionierin ein, die role model für die jüngeren Geschwister den Weg ins Studi32 Dies ist möglicherweise auch mit dem Erhebungszeitraum zu erklären, in dem der bildungspolitische Diskurs zu diesem Thema noch nicht so stark in der Öffentlichkeit ‚angekommen‘ war.
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um ebnet. Durch ihre Bildungskarriere ist die Möglichkeit eines akademischen Bildungsweges in der Familie präsent. Die Schwester verkörpert gewissermaßen leibhaftig die Möglichkeit, den Bildungsaufstieg nach dem Abitur auf einer noch höheren Stufe fortzusetzen. Sie hat damit einen Weg beschritten, auf dem ihr die jüngeren Geschwister nachfolgen können. In den Erzählungen von Nuray Coúkun und Dilan Karatay ließ sich auch die Bedeutung fachlicher Traditionen rekonstruieren. Pädagogische Berufe und Tätigkeiten sind in den Familien der Biograph*innen bereits durch mehrere Personen repräsentiert und sie selbst sind mit ihrer Entscheidung für ein pädagogisches Studium insofern an der Etablierung und Fortschreibung einer beruflichen Tradition beteiligt.33 Eine solche beginnende fachliche ‚Traditionsbildung‘ in der Familie wird auch im Fall Meral Yilmaz erkennbar. Hier sind es nicht die Eltern, die pädagogische Berufe ausüben, aber Meral Yilmaz verknüpft in ihrer bildungsbiographischen Konstruktion das eigene erziehungswissenschaftliche Studium aufs Engste mit dem ihrer Schwester und weist darauf hin, dass sie in einer Traditionslinie von „vielen Pädagoginnen in unserer Familie“ (19/41) steht. Auch in fachlicher Hinsicht zeigen sich Kontinuitäten: Meral Yilmaz ‚übersetzt‘ mit der Fächerkombination aus Erziehungswissenschaft, Soziologie und Islamwissenschaft die Familientradition der Verknüpfung von Religiosität und Bildung auf die Ebene des universitären Studiums.Das Anknüpfen an Fachtraditionen in der Familie ließ sich auch bei Anna Schuster erkennen, die mit der Wahl des Fachs Textilgestaltung an eine fachliche Richtung anknüpft, die bereits in der Familie repräsentiert ist – durch ihren Vater, der gelernter Schneider ist und später als Textilprüfer arbeitet. Familiale Fach- und Berufstraditionen fungieren in einigen Fällen als explizite Sinn- und Deutungsressource in der bildungsbiographischen Konstruktion. Oft bleiben sie aber auch implizit und werden von den Erzähler*innen selbst nicht relevant gemacht. 11.3.4 Familiale Aufstiegsambitionen Insbesondere in den Biographien, in denen es keine akademische Familientradition gibt, ist die ‚Entscheidung‘ für ein Studium oftmals eingebettet in eine familiale Gesamtkonstellation, in der die Beteiligten ihren Beitrag für die Realisierung eines kollektiven sozialen Aufstiegs leisten. Am Beispiel Alicja Pajak wurde herausgearbeitet, dass das Studium die ambivalente Erfüllung eines Bildungsauftrags darstellt, der in erster Linie als heteronome Anforderung erlebt wird. Dass dies nicht die einzige Variante ist, das Studium als Teil eines Familienprojekts zu konstruieren, zeigt die in 11.3.3 bereits eingeführte Studienerzählung von Meral Yilmaz. In der an sie gerichteten Frage nach dem Ausgangspunkt für ihr Studium wird sie als Akteurin ihrer Studienentscheidung adressiert. Es wird in der Frageformulierung bereits implizit vorausgesetzt, dass sie selbst und nur sie es war, die „auf die Idee […] mit dem Studium“ kam. Sie selbst konstruiert ihren Weg ins Studium aber weniger als einen 33 Die Fortschreibung beruflicher oder fachlicher Traditionen wird dabei in der Familie nicht immer unterstützt, sondern geschieht zum Teil auch gegen Widerstände der Personen, die diese Tradition repräsentieren – sowohl Dilan Karatay als auch Yanna Galanis wird vom Vater bzw. der Mutter aus verschiedenen Gründen eher von einem Pädagogik- bzw. Lehramtsstudium abgeraten.
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individuellen und autonom verantworteten Prozess, sondern als Teil eines familialen Bildungsprojekts. Dies zeigt sich sowohl in der Aussage „Studium war für uns schon klar“34, als auch an der Formulierung „Wir wollten das Höchste erreichen was man äh in der Schulbildung erreichen kann“. Durch die Kollektivform wird die Studienentscheidung als ein gemeinschaftliches Projekt ausgewiesen, welches das Ziel eines kollektiven sozialen Aufstiegs beinhaltet. Auch sagt Meral Yilmaz nicht, dass sie nach dem Vorbild ihrer Schwester studieren wollte, sondern ihr ist zu dem Zeitpunkt, als die Schwester ihr Studium beginnt „schon klar, dass ich studieren werde“. Damit wird das Studium nicht als eine eigene Zielperspektive entworfen, sondern vielmehr in die Logik der Nachfolge des schwesterlichen Bildungswegs gestellt. Meral Yilmaz konstruiert ihren Weg ins Studium somit nicht als individuelles Projekt, sondern eher als eine notwendige Folge des Bildungsweges ihrer Schwester. Das Studium ist somit in die Dynamik eines familialen Aufstiegsprojekts eingebettet, in dem akademische Bildung den Gipfel darstellt, der erklommen werden soll. Dieses gemeinsame Ziel wird zunächst unabhängig von möglichen individuellen Präferenzen der beteiligten Personen angestrebt. Der Vater und die ältere Schwester in ihrer Vorbildfunktion eröffnen einen Rahmen, durch den das Studium auch für die jüngeren Kinder der Familie zu einer erwünschten und realistischen Bildungsoption wird.35 Das Studium wird vom Vater als höherwertige Alternative zu einer beruflichen Ausbildung eingeführt – die Kinder/Töchter36 „können“ studieren, sie „müssen“ keine Ausbildung machen. Die Studienperspektive wird somit als ein Privileg entworfen, das durch das Erreichen des Abiturs zu einem erreichbaren Ziel wird. Das Abitur stellt die Eintrittskarte für das Studium dar. Ob das Einlösen dieser Eintrittskarte den Töchtern dabei nur nahe gelegt wird, oder ob es letztendlich die einzig akzeptable Entscheidung darstellt, bleibt dabei etwas in der Schwebe („wenn ihr schon das Abitur habt, dann könnt ihr auch studieren“). Möglich ist, dass durch die Einbindung der Bildungswege der Kinder in das familiale Bildungs- und Aufstiegsprojekt ein Zugzwang wirksam wird, der dazu führt, dass andere Optionen jenseits des Studiums auch von Meral Yilmaz selbst gar nicht näher in Betracht gezogen werden. Die Studienperspektive wird jedenfalls nicht als eine heteronome Vorgabe beschrieben, der die Biographin gegen ihren Willen folgen würde. Meral Yilmaz stellt sich nicht als Objekt der Entscheidungen anderer dar. Etwaige eigene Wünsche, die dem familialen Aufstiegsprojekt zuwiderlaufen, werden zumindest an keiner Stelle expliziert. Es wird hier stattdessen ein Prozess konstruiert, in dem sich das eigene Handeln harmonisch in ein gemeinsames Projekt des Bildungsaufstiegs einfügt. Mit dieser Konstruktion wird der Weg ins Studium als ein Geschehen jenseits des Dualismus von Heteronomie und Autonomie entworfen. Auch die Fächerwahl wird weder als autonomer Entschluss, noch als Ergebnis heteronomer Vorgaben konstruiert. Sie wird vielmehr als eine konsensuelle Entscheidung in der Familie dargestellt, bei der ein (religiös und akademisch gebildeter) Freund der Familie Pate gestanden hat. Meral Yilmaz‘ Konstruktion entspricht damit nicht der normativen Erwartung an einen 34 Das kollektive ‚Wir‘ kann sich dabei entweder auf Meral Yilmaz und ihre Schwester beziehen, oder auf alle Geschwister. 35 In der Passage ins Studium wiederholt sich die Dynamik, die bereits in der Erzählung zum Übergang ins Gymnasium sichtbar geworden ist (vgl. Kapitel 11.2.3). 36 Dabei bleibt offen, ob sich dies auf alle Kinder, oder nur auf die Töchter bezieht.
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autonomen Entwurf der Studienperspektive, sie konstruiert sich aber auch nicht als Objekt eines familialen „Lebenslaufprogramms“ (vgl. Raiser 2007; s.a. Kap. 2.1). Das Studium wird als ein familial getragenes und verantwortetes Bildungsprojekt konstruiert, bei dem die beteiligten Personen die ihnen zugedachten Positionen ausfüllen. Die Kinder scheinen dies dabei nicht als eine Einschränkung ihrer Entscheidungsmöglichkeiten zu erfahren, sondern das Bildungsprojekt wird vielmehr in den eigenen Lebensentwurf integriert. Meral Yilmaz’ Geschichte zeigt daher, dass der Weg ins Studium, auch wenn er nicht als allein verantwortetes Projekt konstruiert wird, nicht zwangsläufig mit dem Erleben von Fremdbestimmung einhergehen muss. Die biographische Konstruktion des Studiums als Teil des familialen Aufstiegsprojekts findet sich in mehreren Erzählungen. Für die ersten Kinder in der Familie, die – wie Meral Yilmaz´ ältere Schwester – als ‚Pionier*innen‘ den Weg zu akademischer Bildung beschreiten und für die jüngeren Geschwister ebnen sollen, kann die mit dem Studium übertragene Verantwortung zeitweise allerdings auch belastend sein. Dies wird im Fall Kerim Özer gut erkennbar. K: Wie gesagt ich bin der Erste jetzt in der Familie jetzt der auf die Universität geht, das heißt ich hab diesen Druck immer noch dass ich wirklich die Uni beenden muss. Ähm weil einfach – die Hoffnung_ ich bin der Vorreiter für die Kinder auch, ich bin das Vorbild (Kerim Özer 25/9-11) K: Auch mein Onkel jetzt später als ich angefangen habe zu studieren so äh, hat er mir immer gesagt äh hör mal das steht gar nicht zur Debatte dass du – das nicht schaffst. Guck mal wie viele Kinder nach dir kommen die nehmen dich alle als Vorbild also – die haben mir nie gesagt so ähm wenn du es nicht schaffst verstoßen wir dich, sowas hab ich nicht gehört aber ähm – man merkt schon dass die Hoffnungen da sind also für die – die können sich das nicht vorstellen dass ich das nicht schaffen würde. (Kerim Özer 30/7-12)
Anders als Nuray Coúkun und Meral Yilmaz verfügt Kerim Özer nicht über Vorbilder, an denen er sich im Studium orientieren kann. In der Familie gibt es keine Erfahrungen mit höherer Bildung. Kerims Vater verfügt über einen Hauptschulabschluss, seine Mutter hat die Schule aufgrund mehrfacher Schulwechsel zwischen dem türkischen und dem deutschen Schulsystem nicht abgeschlossen. Als ältestes Kind und Erster in der gesamten Familie, der einen höheren Bildungsweg beschreitet, hat Kerim Özer zudem eine besondere Verantwortung zu tragen: Die Familie ‚setzt‘ auf ihn und schreibt ihn auf seine Vorbildfunktion für die jüngeren Kinder fest, die Kerim sich auch aneignet. Die herausgehobene Position als erster Student in der Familie verleiht ihm einerseits insofern Macht und Anerkennung in der Familie, als er beispielsweise für die Familienangehörigen zum Ansprechpartner für alle Schulangelegenheiten wird. Andererseits bedeutet diese Position auch, einem erheblichen „Druck“ ausgesetzt zu sein. Ein Scheitern am Studium verbietet sich für Kerim Özer geradezu; es „steht nicht zur Debatte“. Die Möglichkeit, dass er das Studium „nicht schaffen“ könnte – ein Szenario, das der Biograph hier zumindest theoretisch in Betracht zieht – wird in der Ansprache des Onkels von vorne herein kategorisch ausgeschlossen bzw. tabuisiert. Kerim Özer versucht die Konsequenzen eines möglichen Scheiterns zwar abzuwiegeln, das bedrohliche Potenzial dieses Szenarios liegt nichtsdestotrotz aber auf der Hand. Die Bedrohung liegt für ihn weniger darin, dass
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er im Falle eines Scheiterns befürchten müsste, von der Familie „verstoßen“ zu werden – dass dies allerdings eigens betont werden muss, macht die Bedeutsamkeit seines Studiums für das familiale Aufstiegsprojekt klar – sondern, so lässt sich vermuten, in der ‚Signalwirkung‘, die von seinem Beispiel für die anderen Kinder der Familie ausgehen würde. 11.3.5 Biographische Prozessdynamiken Obwohl sich akademische Vorerfahrungen und Vorbilder in der Familie ebenso wie familiale Aufstiegsambitionen als bedeutsame Ressourcen für die ‚Studienentscheidungen‘ der Subjekte erweisen, zeigen die untersuchten Biographien auch, dass diese Bedingungen die jeweilige Bildungsbiographie keineswegs determinieren. Vielmehr ist der Weg in ein Studium in eine je spezifische biographische Prozessstruktur eingebunden. So werden Studienabsichten – wie im Beispiel Nuray Coúkun – nicht linear verfolgt, sondern zum Teil erst nach Umwegen, Grenzgängen am Rande des Bildungssystems oder temporären Ausstiegen wieder aufgenommen: N: ähm - also ich sag mal so in dem Sinne Abitur war sowieso seit dieser Entscheidung ich will aufs Gymnasium ähm so mein Ziel, als Kind schon, ich=ich will so - ne halt ich will wie meine Tante werden, ich will mein Abi machen, ich will studieren. So das war für mich - immer schon das Ziel, klar, und dann kamen halt diese ganzen - Probleme und diese ganzen Sachen und da bin ich von diesem Weg - lange Zeit abgekommen und ähm als ich dann wieder zurück zur Familie gefunden hab in dem Sinne jetzt mit meinem Stiefvater und meiner Schwester, da wars mir persönlich auch ganz wichtig ähm für sie diese Vorbildrolle auch einzunehmen, also ähm nicht nur für mich, weil ich für mich wars klar so ähm - ich will - mehr schaffen - als - das was ich jetzt hab. I: mhm N: So ich war halt am Anfang, hab gerade meinen Real gemacht gehabt und war so okay ich war total motiviert und hab gemerkt ey du hast deinen Haupt gemacht du hast deinen Real gemacht und du kannst jetzt irgendwie ich war total motiviert und=und=und ich zieh das jetzt durch war so dieser Gedanke einfach , ich mach das jetzt zu Ende. So das Ziel was ich mir in der fünften in der vierten Klasse gesetzt hab das bring ich jetzt auch - zum=zum Ende so. Und das wurde halt extrem nochmal durch meine Schwester verstärkt. Weil ich gesehen hab okay ähm ich hatte meine Vorbilder mit meinen Tanten früher, die waren ja auch alle ganz jung, aber für Emine - bin ich so das Vorbild. Und ähm ich wollte halt auch dass sie ne Schwester hat die das Abi gemacht hat und=und=und ähm auch weitermacht so. (Nuray Coúkun 44/29-45/9)
Nuray Coúkun schreibt sich zwar zu, bereits im Alter von zehn Jahren eine Bildungskarriere mit Abitur und Studium angestrebt zu haben – insoweit reproduziert sie die familiale Bildungstradition – jedoch geht diese Perspektive zwischenzeitlich verloren, weil intergenerationale Dynamiken die Biographin von dem verfolgten Ziel ablenken und Abitur und Studium (sowohl subjektiv als auch objektiv betrachtet) in weite Ferne rücken lassen. Erst nach einem temporären Bruch mit der Familie knüpft sie erneut an ihren ursprünglichen bildungsbiographischen Entwurf (Abitur und Studium) an. Neben der sich verändernden Generationendynamik, die diesen Wiederannäherungsprozess ermöglicht, spielt dabei eine bildungsbiographische Wirksamkeitserfahrung eine Rolle, nämlich die Erfahrung, dass es ihr (nunmehr) möglich
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ist, Bildungsprozesse und -abschlüsse aus eigener Kraft erfolgreich nachzuholen. Nuray Coúkun macht die Erfahrung, sich aus einer (nicht nur) in schulischer Hinsicht zwischenzeitlich durchaus verlaufskurvenartigen Dynamik herausarbeiten zu können und gewinnt dadurch neues Vertrauen in ihre Handlungsmöglichkeiten. Das Studium rückt erst dadurch (wieder) in den Bereich des objektiv Möglichen und auch in den subjektiven biographischen Horizont. Eine zweite relevante Rahmenbedingung für das erneute Aufgreifen der Studienperspektive bildet das veränderte Verhältnis der Biographin zu ihrer jüngeren Schwester, für die Nuray Coúkun Verantwortung zu übernehmen beginnt, während sie die Abendrealschule besucht. Die Schwester wird für sie zu einem ‚Motor‘ dafür, das begonnene Bildungsprojekt „jetzt auch zum Ende“ zu bringen. Auch in Yanna Galanis´ Biographie zeigt sich die Bedeutung der individuellen biographischen Prozesslogik von Studienwahlentscheidungen. In ihrer Erzählung schließt sich an die Schulzeit zunächst eine längere Orientierungsphase an, die von den Eltern mitgetragen wird, und in der sie verschiedene Studien- und Berufswünsche verfolgt und wieder verwirft. Ausgelöst durch den Impuls ihrer ehemaligen Lehrerin entscheidet sich Yanna Galanis schließlich zu einem Lehramtstudium: Y: wir hatten mal - im Griechischkurs, wir waren nur sechs Leute, dann haben wir mal son bisschen rumgealbert und wir haben unsere Lehrerin gefragt, ja was glaubt sie denn was wir noch alle werden könnten. Und ich weiß nicht was sie zu den anderen gesagt hatte, aber zu mir hatte sie halt gesagt sie könnte sich vorstellen dass ich Lehrerin werde. Und meine andere griechische Freundin, die hat dann halt direkt nach dem Abi Lehramt angefangen, für Grundschule. Und dann hat sie uns beim Abiball tre_ kennen _ äh getroffen, wir heißen zufällig heißen wir gleich mit meiner Freundin. Und dann meinte sie na, wie läufts mit dem Lehramtsstudium und dann hab ich gesagt nee nee das bin ich nicht, das ist hier die andere, und dann meinte ähm - wieso denn? Das würde doch gut passen, ich weiß nicht wie sies=wie sies genau gesagt hat, auf jeden Fall hat sies so gesagt dass es bei mir irgendwann klick gemacht hat, dass es irgendwie dann, dass ich gesagt hab Mensch meine Güte wieso bewirbst du dich nicht für Lehramt. Wie sies gesagt hat weiß ich nicht, irgendwie - ich dachte du studierst schon Lehramt oder - wir hatten doch gesagt dass du ne gute Lehrerin werden könntest dass das genau was für dich ist, irgendwie so, in dieser Richtung hat sie das gesagt, dass ich dann - direkt glaub ich n paar Tage später - mich dafür informiert habe und dass es halt über ZVS läuft und wann Bewerbungsschluss ist und so. Ja. (3) Also quasi hat irgendwie nur eine kleine Diskussion von zwei Minuten gereicht dass ich mich dafür bewerbe. Ohne viel irgendwie ins Detail zu gehen oder so. (1) (Yanna Galanis 24/20-37)
Interessant an diesem Beispiel ist insbesondere das Zusammenspiel von Kontingenz und (latenten) biographischen Möglichkeitsstrukturen. Die Einschätzung der Lehrerin, die sie noch während der Schulzeit der Biographin äußert, dass für Yanna Galanis der Lehrberuf infrage kommen könnte, wird von dieser zunächst nicht verfolgt. Erst nachdem ihre Lehrerin sie etwa ein Jahr nach Ende ihrer Schulzeit aufgrund einer kuriosen Verwechslung mit einer namensgleichen Freundin auf ihr Lehramtstudium anspricht, wird diese Option für sie plötzlich greifbar. Yanna Galanis schildert dieses Erlebnis als eine Art ‚Initialzündung‘. Die Schnelligkeit und Unbekümmertheit, die sich in der Darstellung ihrer anschließenden Studienwahl und in den konkreten Umsetzungsschritten zeigt, steht dabei in auffälligem Kontrast zu der vorange-
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gangenen längeren Suche der Biographin nach einem geeigneten Studium. Diese Beschleunigung verweist allerdings auch darauf, dass die ‚Projektion‘ der Lehrerin nicht auf eine leere Fläche trifft, sondern eher etwas auf den Punkt bringt, das sich bereits als latente Möglichkeit in Yanna Galanis‘ Horizont befindet. Sie ist mit dem Berufsbild der (Grundschul-)Lehrerin vertraut, ihre Mutter unterrichtet Deutsch an einer griechischen Grundschule. Die Befürchtung ihrer Mutter, dass der deutsche Lehramtsabschluss mit einem transnationalen Lebensentwurf kollidieren könnte, führt jedoch dazu, dass dieser Berufsentwurf zwischenzeitlich aus dem Horizont der Biographin rückt. Dieses Beispiel zeigt, dass Annahmen über die nationale Begrenztheit des Lehramtsabschlusses dazu führen können, dass diese Studienoption aus dem Blick rückt, obwohl sie familiengeschichtlich bereits präsent ist. Für Individuen, die einen transnationalen biographischen Entwurf verfolgen, ist ein Studienabschluss, von dem befürchtet werden muss, dass er nicht international anerkannt ist, wenig attraktiv (vgl. Karakaúo÷lu 2011: 123). Die Verwechslung und Zuschreibung der Lehrerin wird in der beschriebenen Situation jedoch zum Auslöser dafür, dass Yanna Galanis sich bei verschiedenen Personen über die Möglichkeiten der Vereinbarkeit des Lehrberufs mit einer transnationalen Lebensperspektive erkundigt und zu einer veränderten Einschätzung gelangt. Dass Yanna Galanis sich am Ende (jedenfalls vorläufig) für den gleichen Beruf wie ihre Mutter entscheidet, spielt in ihrer biographischen Konstruktion der Studienwahl interessanterweise keine Rolle, sie misst dieser Kontinuität keinerlei Bedeutung bei. Ihre Konstruktion der Studienwahlentscheidung könnte mit Bourdieu (1990) als Ausdruck einer „biographische[n] Illusion“ interpretiert werden, insofern die Entscheidung für das Lehramtsstudium auf diese Weise primär als Ausdruck einer ‚Initialzündung‘ erscheint und die dahinter liegenden Mechanismen der sozialen Reproduktion von der Biographin selbst unerkannt bleiben. Mindestens ebenso relevant scheint es an dieser Stelle jedoch zu sein, die Bedeutung der Eigenlogik biographischer Prozesse und deren eigener Zeitlichkeit bei der Studienwahl ernst zu nehmen, die beinhaltet, dass die Entscheidung ohne diese ‚Initialzündung‘ auch anders hätte ausgehen können. 11.3.6 Ratgeber*innen Die vorangegangenen Ausführungen haben bereits gezeigt, dass der Weg ins Studium vielfach nicht auf einer ‚einsamen Entscheidung‘ beruht. Oftmals sind signifikante Andere mittelbar oder unmittelbar in diesen Prozess eingebunden. Elternteile und ältere Geschwister ebenso wie Lehrer*innen, Freund*innen und Personen aus dem Bekanntenkreis fungieren als Ratgeber*innen, die Studienwahlmöglichkeiten erst in den Horizont der Subjekte rücken oder auch von Studienwünschen abraten. Im Fall Nuray Coúkun wurde aufgezeigt, dass die Entscheidung für ein Lehramtstudium in hohem Maße durch ihre Lehrer*innnen initiiert und flankiert wird, die der Biographin u.a. aufgrund ihrer vielfältigen Schulerfahrungen eine besondere Eignung für den Lehrberuf attestieren und sie mehr oder weniger gezielt darauf hinlenken. In Meral Yilmaz´ Bildungsbiographie wird ein religiöser Lehrer, der ein Bekannter der Familie ist, in den Entscheidungsprozess einbezogen. Sein Rat ist ausschlaggebend dafür, dass zunächst die ältere Schwester ein pädagogisches Studium aufnimmt und
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Meral Yilmaz ihr später auf diesem Weg folgt. Damit kommt signifikanten Anderen eine wichtige Rolle als Gatekeeper*innen für die Studienwege zu. Mit der Entscheidung für oder gegen ein Studium sowie der konkreten Fach- und Studiengangwahl sind nicht nur Konsequenzen für individuelle Bildungswege verbunden, sondern immer auch Ansprüche auf künftige berufliche und soziale Positionen. Durch die Studienwahl werden somit immer auch soziale Machtverhältnisse reproduziert oder auch durchbrochen. In den Interviews zeigt sich dies z.B. bei der Wahl zwischen verschiedenen Lehramtsstudiengängen. In mehreren Interviews wird deutlich, dass die Studierenden die Hierarchien zwischen den Studiengängen bzw. den beruflichen Positionen, auf die sie hinführen, intuitiv antizipieren. Dabei zeichnet sich in einigen Interviews mit jungen Frauen die Tendenz ab, sich auf Lehramtsstudiengänge zu beschränken, die in statusniedrigere Berufsfelder führen. Yanna Galanis antwortet z.B. auf die Frage, ob ihre Entscheidung für das Lehramt Primarstufe von Beginn an feststand: Y: für mich wars schon klar also ähm -- für mich kam irgendwie noch nie - irgendwie was anderes infrage. Mittlerweile würd ich denken ich könnte - könnte mir gut vorstellen mit Oberstufenschülern gut arbeiten zu können, aber so dazwischen - da braucht man echt äh - viel °wie heißt das?° Das muss man echt drauf haben glaub ich. Ich weiß es nicht, vielleicht hab ichs auch drauf aber - erstmal geh ich davon aus dass ich ähm - mit kleinen Kindern arbeiten möchte. (Yanna Galanis 25/1-6)
Yanna Galanis begründet ihre „klar(e)“ Entscheidung für die Option des Arbeitens mit „kleinen Kindern“ damit, dass sie sich zum Zeitpunkt ihrer Entscheidung nicht sicher ist, ob sie es „drauf“ hat, mit Oberstufenschüler*innen zu arbeiten. Die Entscheidung für das Lehramt für die Primarstufe wird damit zugleich als die vermeintlich weniger anspruchsvolle Wahl ausgewiesen, was der allgemeinen gesellschaftlichen Geringschätzung des Grundschullehramts entspricht. Yanna Galanis steht zwar noch zu ihrer damaligen Entscheidung, jedoch scheint sie diese aus ihrer Gegenwartssicht auch als eine Form der Selbstbeschränkung zu deuten. Signifikante Andere können in solchen Situationen dazu beitragen, die Perspektiven der jungen Frauen zu erweitern. Nuray Coúkun berichtet, dass sie ihre ursprüngliche Absicht, sich für das Lehramt Primarstufe einzuschreiben, nach einer Intervention ihrer Klassenlehrerin revidiert. Ihr Rat ist entscheidend dafür, dass sie sich letztlich für ein Sekundarstufe II-Studium entscheidet: „Ich wollte ja eigentlich in die Grundschule, und da hat dann meine - Klassenlehrerin hat dann gesagt Nuray, ein Löwe legt sich nicht mit Mäusen an. Du musst in die Oberstufe“ (31/3-5). In beiden Fällen zeigt sich die Hierarchisierung der Studiengänge für die jeweilige Entscheidung, die von den Beteiligten antizipiert wird. Mit ihren Einschätzungen und Ratschlägen tragen signifikante Andere dazu bei, die Subjekte in ihrem Handeln und Entscheiden darin zu ermutigen und zu bestätigen, sich eher in sozial vertrauten Möglichkeitsräumen zu bewegen oder diese zu überschreiten. Ansprüche und Erwartungen hinsichtlich unterschiedlicher Macht- und Statuspositionen werden dabei immer implizit mitverhandelt. Den Interventionen anderer kann in diesem Zusammenhang eine entscheidende Bedeutung für eine ‚Kurskorrektur‘ zukommen, wenn sie die Individuen dazu ermutigen, sich nicht für die ihnen vermeintlich nächstliegende Option zu entscheiden.
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11.3.7 Gelegenheitsstrukturen und Zufälle Dass Studienwahlprozesse nicht immer auf rationalen Kalkulationen und Abwägungsprozessen beruhen, sondern auch Gelegenheitsstrukturen und Zufälle bei der Studienwahl eine mehr oder weniger große Rolle spielen können, wurde bereits am Beispiel Yanna Galanis erkennbar (vgl. Kap. 11.3.5). In einigen Fällen wird dieses Element aber noch sehr viel deutlicher. Die Erzählung von Ilena Lang verdeutlicht, dass Studierende nicht immer aufgrund detaillierter Informationen und Vorüberlegungen, sondern auch ziemlich zufällig in ein pädagogisches Studium ‚hineinschlittern‘ können: I: also als ich hier angefangen hab zu studieren ich hatte eigentlich überhaupt keine Idee, ich wusste nur, mein Onkel hat hier studiert, also nicht mein leibl=also familiärer Onkel sondern ich sag einfach Onkel zu ihm und der hat hier ähm - Mathe studiert und hatte halt gesagt, dass A-Stadt ganz, ganz toll ist. Und dann bin ich mit meiner Tante - hierhin /[gedehnt] und/ ähm hab mir das dann angeschaut die Uni und fand es total super, und, joa hab mich dann eingeschrieben. Und im Prinzip hab ich mich nur für Spanisch eingetragen weil ich nicht wusste dass man das nicht so studieren kann und irgend n - äh netter - äh Mann hat mir dann einfach EW dazu geteilt also ich hab mich überhaupt nicht dafür beworben sondern er hat es mir einfach dazu gelegt. Und im Prinzip ist es das Fach was mich am meisten interessiert von allen weil also ich hatte einfach keine Id=also keine Ahnung davon, ich wusste jetzt nicht was macht Erziehungswissenschaften aus und - das war also super äh tolles Glück (lacht) (Ilena Lang 2/14-26)
Ilena Lang ist als Vierjährige mit ihrer Familie aus Rumänien nach Deutschland migriert. Nach der Trennung ihrer Eltern (die Biographin ist zu diesem Zeitpunkt vierzehn Jahre alt) wächst sie bei ihrem Vater auf und lebt zeitweise auch bei Nachbarn, die für sie als soziale Eltern („Onkel“ und „Tante“) fungieren. Bei der Wahl des Studienorts hält die Biographin sich an das durch den „Onkel“ Vertraute. Andere, strategischere Überlegungen, etwa zum Ruf der Universität A-Stadt im Hinblick auf das anvisierte Studienfach Spanisch, spielen dagegen keine Rolle. Obwohl Ilena Lang im Prozess des Übergangs durch signifikante Andere begleitet wird und der Onkel selbst studiert hat, ist ihr Weg ins erziehungswissenschaftliche Studium in hohem Maße durch Zufälle bestimmt. Erst bei der Einschreibung für das Fach Spanisch erfährt sie, dass sie für ein Spanischstudium ein Latinum vorweisen muss und sie zudem in jedem Fall ein weiteres Fach belegen muss. Sie verfügt in dieser Situation kaum über die Möglichkeit, eine ‚durchdachte‘ Entscheidung zu treffen und fügt sich einer Zuweisung des Fachs Erziehungswissenschaft. Diese wird von einem „netten Mann“ vorgenommen, der vermutlich kein Studienberater, sondern ein Mitarbeiter der Administration ist. Woran der Mitarbeiter seine Entscheidung orientiert und welcher Logik die Fachzuteilung möglicherweise folgt, bleibt ungewiss. Obwohl Ilena Lang zu diesem Zeitpunkt über keinerlei Vorstellung über die Inhalte des Fachs verfügt, lässt sie sich darauf ein und folgt damit einer Gelegenheitsstruktur. Aus der Retrospektive bilanziert sie dieses Ereignis zwar als „supertolles Glück“ – sie beginnt, sich für das Fach Erziehungswissenschaft zu interessieren und überlegt zum Zeitpunkt des Interviews, ein erziehungswissenschaftliches Masterstudium zu beginnen – jedoch wird darin auch die Kontingenz des
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Geschehens deutlich, das nicht durch die Biographin selbst, sondern durch andere Akteure bestimmt wird. Dabei spielt der Grad der Informiertheit über das Studium eine entscheidende Rolle; Ilena Langs Erzählung verweist darauf, dass die Schule grundlegende Informationen zur Aufnahme des Studiums nicht vermittelt. Werden diese nicht eigenständig eingeholt, kann die Studienwahl zu einem weitgehend von Zufällen abhängigen Ereignis werden. 11.3.8 Zusammenfassende Reflexion Die Ergebnisse der Analyse zeigen, dass vielfältige Bedingungen in die Studien(wahl-)entscheidung der Interviewten hineinspielen. Aus biographieanalytischer Perspektive lassen sich ‚Studienentscheidungen‘ als zeitlich ausgedehnte Prozesse verstehen, die in die jeweilige biographische Prozessstruktur eingebettet sind und dadurch einer Eigenlogik folgen. Die Studienperspektive ist nicht für alle Interviewten von Beginn an selbstverständlich verfügbar. In einigen Fällen werden Studienperspektiven erst dann entworfen, nachdem die Subjekte das Abitur als erreichbares Ziel konkret vor Augen haben. In anderen Fällen schreiben sich die Interviewten zwar zu, bereits zu einem frühen Zeitpunkt Studienabsichten bzw. -wünsche gehabt zu haben, nicht immer korrespondieren diese aber auch von vorne herein mit den Bildungsmöglichkeiten, die ihnen durch ihre Schullaufbahnen tatsächlich offen stehen. Studienabsichten werden deshalb in einigen Fällen erst nach Umwegen konkretisiert oder nach temporären ‚Ausstiegen‘ oder ‚Grenzgängen‘ am Rande des Bildungssystems entwickelt. Damit wird auch deutlich, dass allgemeine Phasenmodelle zu Studienentscheidungen, in denen eine idealtypische Abfolge von Stadien des Studienwahlprozesses entworfen wird, deutlich zu kurz greifen. Beispielhaft dafür sei hier ein Modell genannt, das in einer Studie des Centrums für Hochschulentwicklung präsentiert wird (vgl. Hachmeister/Harde/Langer 2007). Es unterscheidet vier Phasen der Studienwahl: „An eine Phase der Prozessanregung, in der es um die generelle Entscheidung für ein Studium geht, schließt eine Such- und Vorauswahlphase an. In dieser Phase werden verschiedene Studienorte und -fächer zunächst wahrgenommen. In der folgenden Bewertungsphase werden die verschiedenen Alternativen gegeneinander abgewogen. Die Festlegung von Studienort und fach findet dann in der Entscheidungsphase statt. Der Studienbeginn fällt in die letzte Phase, die Bestätigungsphase: In dieser Phase werden die zuvor getroffenen Entscheidungen überprüft.“ (Hachmeister/Harde/Langer 2007: 17).
Mit solchen Modellen wird zum einen suggeriert, dass es eine definierbare, sequenzielle Abfolge von Phasen gebe, die alle Individuen in Entscheidungsprozessen linear durchlaufen würden. Zum anderen steht dahinter die Annahme rational entscheidender Akteur*innen, die sich frei auf dem ‚Markt der Möglichkeiten‘ bewegen und die Vor- und Nachteile verschiedener Optionen kalkulieren, bewerten und dann eine begründete Wahl treffen.37 37 Diese Annahme basiert auf entscheidungstheoretischen Ansätzen im Anschluss an Raymond Boudon (1974).
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Die biographischen Rekonstruktionen zeigen, dass eine solche Betrachtung der Studien(wahl)entscheidung der komplexen individuellen Prozesslogik von Studienwahlprozessen kaum gerecht wird. Auch werden die familienbiographischen Konstellationen, in die Studienentscheidungen und Studienwahlen eingebunden sind, in solchen Modellen nicht reflektiert. In den Fallrekonstruktionen zeigte sich, dass diese – gerade in Konstellationen, in denen das Studium in eine familiale Aufstiegsgeschichte eingebunden ist – eine hohe Relevanz haben. Aber auch eine reproduktionstheoretische Perspektive, die Studienwahlprozesse als „Wahl des Schicksals“ (Bourdieu 2001: 31) begreift, als ein Geschehen also, in dem die Subjekte primär einer vorgezeichneten, unsichtbaren Laufbahn im sozialen Raum (vgl. Bourdieu 1990) folgen, erweist sich aus biographietheoretischer Perspektive als verkürzt. In den Erzählungen zeigt sich zwar durchaus die Bedeutung familialer Bildungs- und Berufstraditionen für die Präferenz bestimmter Studienfächer. Auch lassen sich die Präferenz sicherer gegenüber riskanteren Berufsoptionen sowie der Verzicht auf die Wahl von statushöheren Lehramtsstudiengängen im Sinne Pierre Bourdieus (1987a) als Ausdruck einer Selbstbeschränkung interpretieren, die dem „sozialen Sinn“ der Akteur*innen folgt. Studienentscheidung und -verzicht sowie die Fächerwahl müssen somit immer auch vor dem Hintergrund geschlechter- und milieuspezifischer Machtverhältnisse und Ungleichheiten verstanden werden, die sich in den Entscheidungen der Akteur*innen reproduzieren. Jedoch spielen weitere Elemente in die Studienwahlentscheidung hinein. So kann die Einflussnahme signifikanter Anderer – im positiven Fall – dazu beitragen, intuitive Selbstbeschränkungen zu hinterfragen. Sind die Subjekte weitgehend auf sich selbst gestellt, können auch institutionelle Gelegenheitsstrukturen und Zufälle mitentscheidend sein. Diese werden insbesondere in solchen Konstellationen bedeutsam, in denen die Subjekte mit den Möglichkeiten und Bedingungen der Studienwahl nicht vertraut sind, oder in denen sie an formale Grenzen (z.B. Zulassungsbegrenzungen) stoßen und ihre ursprünglichen Wünsche revidieren müssen.38 Zudem wird sichtbar, dass die Subjekte mit ihren Studienwahlentscheidungen familiale Berufstraditionen nicht nur reproduzieren, sondern diese auch transformieren oder an der Etablierung neuer Traditionen beteiligt sind. Indem die Interviewten sich in ihren Erzählungen reflexiv zu ihren Entscheidungen ins Verhältnis setzen und ihren beruflichen Entwurf als reversibel betrachten, halten sie sich den Horizont überdies offen für Alternativen. Auch wenn die Studienwahlentscheidung eine vorläufige Festlegung bedeutet, sind ihre Laufbahnen dadurch langfristig noch nicht vorgezeichnet.
38 Mit dem Handeln in Gelegenheitsstrukturen muss nicht zwangsläufig eine dauerhafte Abgabe von Selbstverantwortung für das Studium verbunden sein; es können dadurch potenziell auch neue Möglichkeitsräume erschlossen werden, die von den Subjekten zuvor nicht antizipiert wurden. Dies setzt jedoch voraus, dass es ihnen gelingt, sich reflexiv zu ihrem Studium ins Verhältnis zu setzen und sich die Verantwortung für ihre Studienbiographie im weiteren Verlauf des Studiums (wieder) anzueignen.
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11.4 D ER S TUDIENBEGINN ALS Ü BERGANGSPROZESS
BIOGRAPHISCHER
Die Studierenden, die im Rahmen der vorliegenden Studie interviewt wurden, befanden sich in unterschiedlichen Phasen bzw. Abschnitten ihres Studiums, weshalb sich ihre Perspektiven darauf und auf die damit verbundenen Erfahrungen unterschieden. Der Studienbeginn stellt jedoch eine von allen geteilte Erfahrung dar, wenngleich sie für die Einzelnen unterschiedlich weit zurück liegt. Die Fallanalysen haben gezeigt, dass der Studienbeginn von den Subjekten nicht schematisch durchlaufen wird, sondern als ein biographischer Übergangsprozess39 verstanden werden muss, bei dem sich die Subjekte mit ihren lebensgeschichtlich erworbenen Wissensstrukturen, Erfahrungs- und Erwartungshaltungen zur Universität bzw. ihrem konkreten Studienkontext ins Verhältnis setzen und sich in diesem Raum sowie auch in bisher lebensweltlich relevanten Bezugskontexten (neu) positionieren. In Anlehnung an einen Systematisierungsversuch von Barbara Friebertshäuser (1992) lässt sich der Studienbeginn als ein Übergang verstehen, mit dem besondere Anforderungen verbunden sind, die daraus resultieren, dass dabei verschiedene Übergänge simultan vollzogen werden. Die Studienanfänger*innen treten erstens in eine neue biographische Phase ein, die als „Postadoleszenz“ (ebd.: 57) charakterisiert werden kann, insofern das Studium eine „Zwischenphase zwischen der Jugend und dem Eintritt in die Pflichten des Erwachsenenalters“ (ebd.) darstellt. Zweitens beziehen die Subjekte eine veränderte Position im sozialen Raum, indem sie aus dem Status der Schülerin bzw. des Schülers oder aus der Berufstätigkeit in den Studierendenstatus wechseln (vgl. ebd.). Drittens bedeutet der Übertritt in die Hochschule einen „räumlich-institutionellen Wechsel“ (ebd.), da die Individuen aus anderen institutionellen Settings (Schule, Wehrdienst, soziales Jahr u.ä.) oder auch nicht institutionell gerahmten Lebenssituationen in den Bildungskontext Universität eintreten. Mit dieser mehrfachen Statuspassage sind zum einen Anforderungen und Chancen einer veränderten Gestaltung von Beziehungen zu lebensweltlich vertrauten Räumen verbunden, zum anderen stehen die Studierenden vor der Aufgabe, sich die Universität als institutionellen und sozialen Kontext zu erschließen (vgl. ebd.: 68). In den Fallrekonstruktionen zeigte sich, dass der Übergang ins Studium mit Verunsicherung, aber auch mit Möglichkeiten für Autonomisierungsprozesse und Neupositionierungen verbunden ist. Im Folgenden wird zunächst die Bedeutung des Studienbeginns für die Gestaltung familialer Generationenbeziehungen in vergleichender Perspektive betrachtet. Anschließend wird aufgezeigt, wie die Universität
39 Der Begriff des (biographischen) Übergangs hat in der sozialwissenschaftlichen Forschung seit den 1990er Jahren an Bedeutung gewonnen und dabei das Konzept der Statuspassage zunehmend abgelöst. Der Hintergrund dafür ist die Tendenz der Entstandardisierung von Lebensläufen, wodurch die Komplexität und Dauer biographischer Übergänge zugenommen hat (vgl. Stauber/Pohl/Walther 2007: 7). Während das Konzept der Statuspassage von einer festen Abfolge verschiedener Phasen beim Wechsel zwischen verschiedenen (oft institutionell gerahmten) Lebensphasen ausgeht (vgl. Glaser/Strauss 1971), scheint das offenere Übergangskonzept der zeitlichen Entgrenzung und Diffusität biographischer Übergänge in modernen Gegenwartsgesellschaften besser gerecht zu werden.
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als Institution den Studierenden entgegentritt und wie diese sich zu ihr ins Verhältnis setzen. Während im ersten Teil unterschiedliche (Prozess-)Varianten des Übergangs im Hinblick auf das Generationenverhältnis beschrieben werden, liegt der Fokus im zweiten Teil stärker auf der Systematisierung der strukturellen Herausforderungen des institutionellen Übergangs und den damit verbundenen Ein- und Ausgrenzungsprozessen. 11.4.1 Studienbeginn als Übergang in den familialen Generationenbeziehungen Wie in den Fallanalysen gezeigt wurde, ist der biographische Übergang ins Studium in verschiedener Weise mit der (veränderten) Gestaltung des Verhältnisses der Studierenden zu ihren Herkunftsfamilien verschränkt. Am Beispiel der vier ausführlich präsentierten Fallanalysen ließen sich kontrastierende Varianten der Bedeutung des Studienbeginns für die Gestaltung des familialen Generationenverhältnisses rekonstruieren. Im Beispiel Dilan Karatay ist der Studienbeginn in einen biographischen Übergangsprozess eingebunden, der auch Veränderungen im Verhältnis zum familialen Herkunftskontext und eine Neuverortung im Geflecht sozialer Beziehungen umfasst. Der Studienbeginn wird hier als Gelegenheit genutzt, sich räumlich, emotional und zum Teil auch ökonomisch aus familialen Bindungen zu lösen und dadurch die Beziehung zur Familie unabhängiger zu gestalten. Mit dem Umzug in den Studienort sind Autonomiegewinne und eine zunehmend eigenverantwortliche Lebensführung verbunden, die sie auch gegen den Wunsch ihrer Mutter durchsetzt. Zugleich bleibt Dilan Karatay die emotionale Beziehung zur Familie wichtig und sie bleibt in die familiale Solidaritäts- und Verantwortungsgemeinschaft eingebunden, was sich u.a. in der selbstverständlichen Beteiligung an der vorübergehenden Pflege ihres erkrankten Großvaters zeigt. Der Studienbeginn ist für Dilan Karatay auch mit einer Veränderung ihrer bisherigen peerkulturellen Einbindungen verbunden; mit der Entscheidung für den Ortswechsel geht eine Distanzierung von bisherigen GleichaltrigenKontexten und sozialen Beziehungen einher, die mit den Veränderungen im Leben der Biographin nicht Schritt halten können. Auch das Ende ihrer Beziehung fällt in die Phase des Studienbeginns. Diese Erosion der bisherigen sozialen Bindungen wird von der Biographin zunächst als Krise erlebt, etwas später kann sie sich jedoch in veränderter Weise dazu ins Verhältnis setzen und die entstandenen Freiräume für eine Erweiterung ihrer Handlungsmöglichkeiten, den Aufbau neuer Beziehungen und die Entfaltung selbstbestimmter Aktivitäten nutzen. Dilan Karatays Geschichte lässt sich damit als ein Beispiel lesen, in dem der Studienbeginn für einen Prozess der fortgesetzten Autonomisierung steht. Längst nicht in allen Fällen markiert der Übergang ins Studium jedoch eine Zäsur, mit der tiefgreifende Transformationen der familialen Generationenbeziehungen und der Bindungen an lebensweltlich vertraute Kontexte verbunden sind. So geht die Aufnahme des Studiums im Fall Nuray Coúkun nicht mit einer Neustrukturierung der Beziehung zu ihrer Familie einher, sondern es findet eine Konsolidierung eines transformierten familialen Beziehungsarrangements statt. Der Studienbeginn markiert eine Fortsetzung des Prozesses der Wiederannäherung an die Familie nach einer Phase der radikalen Abkehr. Eine grundlegende Transformation der Beziehungen zu
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den Familienmitgliedern findet bereits vor Beginn des Studiums statt. So transformiert die Biographin während ihrer Zeit in der Oberstufe ihr Handlungsschema ‚Kampf gegen die Mutter‘ in ein bildungsbezogenes Handlungsschema und konstruiert damit einen symbolischen Übergang in den Erwachsenenstatus, der sich auch in der Übernahme von Verantwortung für ihre jüngere Schwester ausdrückt (vgl. Kap. 7.2.4). Die Verantwortung für die Schwester ist für Nuray Coúkun auch der entscheidende Grund, auch über die Schulzeit hinaus an der Wohnkonstellation mit der jüngeren Schwester und ihrem Stiefvater festzuhalten. Die Fortsetzung des Wohnens im Familienkontext lässt sich deswegen weder als Ausdruck einer ungebrochenen ‚Familienorientierung‘, noch als Ergebnis einer ‚Re-Traditionalisierung‘ lesen. Es steht vielmehr für ein modernes Wahlfamilien-Arrangement, für das sich die beteiligten Erwachsenen bewusst entschieden haben. Mit dem Studienbeginn findet also eine Konsolidierung des neu geschaffenen familialen Beziehungsgeflechts statt, wobei Nuray Coúkun darin die Position einer Erwachsenen zukommt, die für sich und andere Verantwortung übernimmt. Der Fall Anna Schuster repräsentiert dagegen eine Variante, in der die engen Bindungen an die Familie – und zugleich die Einbindung in die religiöse Gemeinde – während des Studiums aufrecht erhalten werden, ohne dass zwischenzeitlich eine Distanzierung stattgefunden hat. Das Aufrechterhalten dieser Bindung wird in Anna Schusters Erzählung sowohl durch das fortgesetzte Wohnen bei den Eltern und das tägliche Pendeln zwischen Wohnort und Studienort symbolisiert, als auch durch ihre aktive Rolle im Gemeindeleben. Die Biographin selbst bewertet die Situation als ambivalent. Sie deutet das Wohnen bei den Eltern und Geschwistern einerseits als Privileg – sie wird von Hausarbeiten und bezahlten Nebentätigkeiten entlastet und kann sich auf ihr Studium konzentrieren; sie kann sich bei Arbeiten am Computer auf die technische Unterstützung durch ihre Brüder verlassen und erhält während der belastenden Phasen ihrer Erkrankung emotionalen Halt durch ihre Eltern, insbesondere durch ihre Mutter. Auf der anderen Seite problematisiert sie das Verharren in der Position des Kindes und den verzögerten Übergang in ein selbstverantwortetes Erwachsenenleben. An Anna Schusters Beispiel zeigt sich damit die Ungleichzeitigkeit des biographischen Übergangs ins Erwachsenenleben (vgl. Walther/Stauber 2007: 31ff.). Während sie ihr Studium fast abgeschlossen hat, steht ihr die Neugestaltung ihres Verhältnisses zu den Eltern mit dem Beginn des Referendariats noch immer bevor. Die enge Bindung an Familie und Gemeinde zögert einerseits die Möglichkeiten für die Biographin heraus, sich zu den Lebensentwürfen und Erwartungen ihrer Eltern und der Gemeinde reflexiv ins Verhältnis zu setzen und sich gegebenenfalls davon zu distanzieren. Zugleich stellt die Aufrechterhaltung der Bindung an diese vertrauten sozialen Bezüge in Anna Schusters biographischer Konstruktion eine wichtige Rahmenbedingung dafür dar, die Grenzen des sozialen Herkunftsmilieus überhaupt transzendieren zu können. Das Pendeln zwischen den sozialen Welten, das im Fall Anna Schuster rekonstruiert wurde, lässt sich insofern als eine funktionale Strategie verstehen, die in bestimmten Konstellationen das Überschreiten herkunftsund milieubezogener Grenzen erst ermöglicht. Das Studieren in Nähe des Wohnorts und das Wohnen bei den Eltern erweist sich nicht nur als ökonomisch notwendiges Arrangement, sondern auch als Sicherheit gewährende Strategie, die den Übergang ins universitäre Bildungsmilieu erleichtert.
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Dass Autonomisierung und Bindung an die familialen Herkunftsbezüge sich nicht ausschließen müssen, ließ sich auch in der Geschichte von Meral Yilmaz rekonstruieren. Am Beispiel ihrer Erzählung zeigt sich, dass der Studienbeginn auch als eine eigenständige Fortsetzung familial vermittelter Lebenskonzepte konstruiert werden kann. Für Meral Yilmaz ist mit dem Studienbeginn zwar der Auszug aus dem Elternhaus verbunden. Der gewonnene Autonomiespielraum wird aber nicht für Experimente oder die Entwicklung eines von den Wunschvorstellungen der Eltern abweichenden Lebensentwurfs genutzt, sondern für die Fortführung des im Elternhaus vermittelten Lebenskonzepts der Verbindung von Religiosität und Bildung (vgl. Kap. 11.1.1). M: ja und äh für mich, ich äh - so nach meiner Jugendzeit wo ich erwachsen wurde habe ich mir gedacht ich=ich möchte meine eigene äh Kultur nicht äh abgeben, auch meine Religion nicht ähm irgendwie ähm vernachlässigen, aber gleichzeitig möchte ich auch meine=eine gute Schu_ gute Bildung haben. Ne und das wurde auch von meinen Eltern unterstützt, wo sie gesagt haben egal, ähm das war damals äh war das nicht normal dass muslimische Mädchen, also die auch religiös leben, einfach alleine wo_ in eine andere Stadt ziehen und zum Studium und dann irgendwie wo alleine wohnen. Das war nicht möglich damals, ne? Aber meine Eltern waren da so dass sie gesagt haben, die Bildung ist sehr wichtig, die vert_wir vertrauen euch. (Meral Yilmaz 5/22-32)
Der Übergang ins Studium wird von der Erzählerin in der Haupterzählung als erstes unter dem Aspekt der sich verändernden Wohnsituation und damit verbundener Autonomiespielräume thematisiert. Die einleitenden Worte („nach meiner Jugendzeit wo ich erwachsen wurde“) markieren den Übergang in ein ‚erwachsenes‘, selbst verantwortetes Leben. Das Studium wird hier als ein Ausdruck des familial tradierten, aber nun eigenen Wunsches konstruiert, Religion und Bildung zu verbinden. Während die Autonomie, die mit einem Studienleben fernab familialer Solidarität und Kontrolle verbunden ist, von anderen Eltern als potenzielle Bedrohung für den religiösen Lebensstil empfunden wird, weist Meral Yilmaz die Haltung ihrer eigenen Eltern zu dieser Frage als fortschrittlich aus. Da die Eltern der Bildung ihrer Kinder einen hohen Stellenwert beimessen, werden diese auch über die Schule hinaus in ihren Bildungsentwürfen bestärkt. Mit ihrer Zustimmung zu Bildung und Autonomie bringen die Eltern ihren Töchtern einen Vertrauensvorschuss entgegen; sie legen die Verantwortung für eine den religiösen Regeln angemessene Lebensführung in die Hand der Töchter. Dass Meral Yilmaz fern der Familie ein Studium aufnimmt und von zuhause auszieht, bedeutet also keinen Bruch mit den Wünschen der Eltern und keine Distanzierung von ihren religiösen Überzeugungen. Vielmehr wird das vermeintliche Spannungsverhältnis zwischen religiöser Lebensführung und Autonomie in Bildung und Wohnen durch einen Entwurf aufgehoben, der beides miteinander verbindet (vgl. dazu auch Gültekin 2003). Meral Yilmaz zieht in eine Wohngemeinschaft, in der auch ihre Schwester sowie eine weitere Freundin leben, die beide ebenfalls einen religiösen Lebensstil praktizierten. Dem Vertrauensvorschuss der Eltern wird damit entsprochen. M: also äh auch die Wohnung mit de_ äh also die Freundin mit denen ich die Wohnung geteilt habe mit_ äh, wir haben auch ne sehr schöne Zeit miteinander gehabt. Wir haben zusammen
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auch äh uns in äh religiösen Dingen versucht weiter zu entwickeln, dass wir zu Hause gemeinsam Koran gelesen haben oder auch ähm - phh - religiöse Bücher auch=auch wieder von dieser Interpretation - und, das war wirklich eine Zeit wo ich gesagt hab - toll. Also ich denke immer äh wenn ich daran zurück denke sage ich es war ne schöne Zeit und äh ich bereue nichts! (lacht). (Meral Yilmaz 8/36-9/3)
Der Studienbeginn markiert somit einerseits einen Schritt in die Unabhängigkeit, andererseits werden familial tradierte Prinzipien der Lebensführung in den eigenen Lebensentwurf übernommen. Mit dem Umzug in eine religiöse Wohngemeinschaft bewegt sich Meral Yilmaz innerhalb eines in der Familie normativ abgesicherten Rahmens. Sie nutzt die ihr zugestandene Bildungsoption und geht dabei zugleich die Verpflichtung ein, das Vertrauen, das die Eltern in sie setzen, nicht zu enttäuschen. Es wird ihr auf diese Weise möglich, die vorhandenen Autonomiespielräume zu nutzen und ein Studium in einer anderen Stadt zu realisieren, ohne dass es zu Konflikten mit den elterlichen Vorstellungen über eine religiöse Lebensführung kommt. In Alicja Pajaks Geschichte ist der Studienbeginn zwar mit fortgesetzten Autonomieansprüchen verknüpft, diese stehen allerdings im Widerspruch zu ihrer ambivalenten Bindung an die soziale Welt ihrer Eltern. Das Autonomiestreben der Biographin und der Wunsch nach Distanzierung von den Eltern dokumentieren sich in verschiedenen Passagen ihrer Biographie, u.a. in ihrem frühen Auszug aus dem Elternhaus, den sie als ihre bislang einzig ‚erfolgreiche‘ biographische Leistung bilanziert (8/18-21). Auch distanziert sie sich explizit von ihrem Vater, dem sie jegliche Ambitionen zu einem beruflichen Aufstieg abspricht. Mit dem Umzug in den Studienort ist ein weiterer Schritt der räumlichen Entfernung von der Welt der Eltern verbunden, der als ein Zugewinn an Freiheit zelebriert wird. Eine Autonomisierung im Sinne einer Übernahme von Verantwortung für die Gestaltung des Bildungswegs erfolgt damit jedoch nicht, und Alicja Pajak bleibt der wissenschaftlichen Welt gegenüber distanziert. Mit der (sporadischen) Teilnahme am Studium gehen zwar auch Veränderungserfahrungen einher, etwa die Erweiterung des eigenen Wortschatzes um Fachvokabular. Diese werden von der Biographin aber als ‚unauthentisch‘ wahrgenommen und abgewertet. Die Entfremdungstendenzen im Verhältnis zu ihrer Mutter, die sich in dem befürchteten Verlust einer gemeinsamen Sprache artikulieren, werden (sowohl durch die relativierende Deutung dieser Veränderungen als auch faktisch durch Alicja Pajaks Studienpraxis) abgewendet, bevor sie zu einer konkreten Herausforderung werden können. Die Ambivalenz der eigenen sozialen Verortung kommt auch in der Selbstverortung der Biographin zwischen Wohn- und Studienort und Herkunftsort sowie zwischen der Universität und (wissenschaftsferner) Erwerbsarbeit zum Ausdruck, die als miteinander unverbundene Welten erfahren werden (vgl. Kap. 10.3.2). Die Ambivalenzen und Verunsicherungen, die darin zum Ausdruck kommen, verweisen einerseits auf die Notwendigkeit der Bearbeitung widersprüchlicher Anforderungen (der Distanzierung vom Herkunftskontext, ohne die Bindung daran zu verlieren), die in Konstellationen sozialer Aufstiegsbiographien potenziell angelegt sind (vgl. King 2006; 2008; Alheit/Schömer 2009: 424). Einen weiteren Hintergrund für diesen unvollendeten Autonomisierungsprozess und die ambivalente Bindung an die Welt der Eltern bilden deren negative Bilanzierung der Migration sowie unaufgeklärte innerfamiliale Schuld- und Verantwortungszuweisungen (vgl. Kap. 11.1.3).
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Die ambivalente Bindung an die Welt der Eltern bei gleichzeitigem Autonomiestreben markiert eine Bedingungskonstellation, die, so zeigt der Fall, eine verlaufskurvenförmige Entwicklung der Studienbiographie begünstigen kann. Die Beispiele zeigen, dass der Studienbeginn in verschiedener Weise mit der Gestaltung der familialen Generationenbeziehungen vermittelt ist. Er wird ausgehend von sehr verschiedenen sozio-kulturellen Bedingungs- und familialen Beziehungskonstellationen vollzogen und gewinnt vor dem Hintergrund unterschiedlicher intergenerationaler Dynamiken eine je spezifische Bedeutung in den Biographien der Subjekte. Dies verweist einerseits auf die Differenzierung der Jugendphase, andererseits auf die Heterogenität der familialen Herkunftsmilieus der Studierenden, der gelebten Familienformen und der Generationenbeziehungen. Diese erzeugen je unterschiedliche Voraussetzungen und Herausforderungen für die Gestaltung des Studienbeginns. Umgekehrt hat der Studienbeginn verschiedene Konsequenzen für die Gestaltung der familialen Generationenbeziehungen und Autonomisierungsbestrebungen der Subjekte und wird unterschiedlich ‚genutzt‘. Dabei zeigt sich auch, dass der Studienbeginn nicht mehr selbstverständlich mit einer Zäsur in den Generationenbeziehungen einhergeht, auch wenn damit ein räumlicher Übergang verbunden ist. Umgekehrt muss das Wohnen im Familienzusammenhang Autonomisierungsprozesse nicht per se behindern, sondern kann sie auch erst ermöglichen (Anna Schuster) oder kann ihnen zeitlich ‚nachgelagert‘ sein (Nuray Coúkun). Die rekonstruierten Prozessvarianten stellen einen Ausdruck der gelebten Pluralität studentischer Lebensformen dar. Die familialen Migrationsgeschichten spielen dabei insofern eine Rolle, als die (Bilanzierung der) Migration für die Lebensgestaltung der Familien und die Beziehungen der Generationen zueinander bedeutsam ist. Sie bilden damit eine biographische Bedingungskonstellation neben anderen für die Autonomisierungsprozesse der jungen Erwachsenen. 11.4.2 Studienbeginn als institutioneller Übergang Während der Studienbeginn in unterschiedlicher Weise in die jeweilige biographische Prozessstruktur und das familiale Generationenverhältnis eingelagert ist, betreffen die strukturellen Herausforderungen des institutionellen Übergangs in die Universität alle Studierenden. Der Übergang ins Studium beginnt in den Erzählungen nicht erst mit der Einschreibung oder dem ersten Tag an der Universität, sondern wird oftmals mit Schilderungen zum Hochschulzugang verknüpft. Viele sind bei der Bewerbung im einen Studienplatz zum ersten Mal in ihrem Leben mit bürokratischen Anforderungen konfrontiert, die sie allein bewältigen müssen. Der Hochschulzugang wird in einigen Interviews als ein Akt konstruiert, der bürokratisches Geschick und ‚starke Nerven‘ erfordert. Es müssen Bewerbungen an die Hochschulen verschickt werden, es folgen Wochen des Wartens und schließlich wird der Zulassungsbescheid zugestellt, mit dem sich entscheidet, ob das Studium am gewünschten Studienort und mit der bevorzugten Fächerkombination auch tatsächlich begonnen werden kann. Neben der begrenzten Zahl von Studienplätzen limitiert ein Numerus Clausus in einigen Fächern und Studiengängen den Zugang. Dies führt dazu, dass ein Teil der Studierenden zeitlich bereits deutlich vor dem offiziellen Beginn des Studiums mit der Anforderung konfrontiert sind, sich im ‚Dschungel der Bürokratie‘ zurechtzufinden und entweder flexibel auf Alternativen umzusteigen oder nach Wegen zu suchen,
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um ihre Studienwünsche doch noch umsetzen zu können. Die Aufnahme des Studiums ist durch institutionelle Zugangsbeschränkungen und Zeitstrukturen (Fristen) mit bestimmt, die zu einer Hürde werden können. So zeigte sich im Beispiel Alicja Pajak, wie die Unkenntnis bzw. das Übersehen institutioneller Fristen den Zugang zu bestimmten Studiengängen versperren kann (vgl. Kap. 10.3.1). Bereits der Studienzugang macht somit einen Überblick und erhebliche organisatorische Leistungen der Individuen notwendig, die die Subjekte unterschiedlich souverän erbringen. Nicht allen gelingt es, sich als Virtuose bzw. Virtuosin der Bewältigung bürokratischer Hürden zu präsentieren, wie dies im Beispiel Nuray Coúkun gezeigt wurde, die ihre vielfältigen Erfahrungen mit Institutionen als Ressource nutzen kann (vgl. Kap. 7.3.2). Deutlich mehr Komplikationen wurden im Fall Kerim Özer sichtbar, in dessen Erzählung der Studienbeginn sich durch besondere Herausforderungen auszeichnet. Kerim Özer fühlt sich seiner Herkunftsstadt B-Stadt verbunden, deshalb ist es für ihn fraglos, dass er auch sein Studium dort absolvieren möchte. Er erhält jedoch zunächst keinen Studienplatz. Nach einer Information durch studierende Freunde beschreitet Kerim Özer vorsorglich der Weg der juristischen Klage, um sich einen Studienplatz in B-Stadt zu sichern. Zugleich beginnt er sein Studium zunächst in einer anderen Stadt. Nachdem er den Zulassungsbescheid von seiner Heimatuniversität bekommt, wechselt er noch im laufenden Semester zurück nach B-Stadt. Seine Erfahrungen dort schildert er folgendermaßen: K: (Auflachen) also da wurde ich halt eben äh (1) in B-Stadt angenommen und – sofort zurück aus F-Stadt, äh – am Anfang meiner Studienzeit also, die ersten Tage, man hat mich angemeldet, dann bin ich aus dem Studienbüro raus, hab gesagt ja was denn jetzt? Wo muss ich eigentlich hin? Und ich hab – davor nur Freunde gehabt die BWL oder Jura studiert haben, aber keinen der Lehramt studiert hat, ich wusste nicht was ich machen soll und – ich bin der erste Bachelorjahrgang, also ne komplett neue Umstellung. Ich hab die ganze Orientierungseinheit hier – verplant ich wusste nicht was ich machen sollte. In F-Stadt wars noch auf Staatsexamen da wars echt einfach das System zu verstehen. Man hat zu mir gesagt, geh in deinen – Fachbereich, äh in deine Fakultät und – informiere dich da. Halt raus dem Gebäude, und die Uni BStadt ist sehr groß, die Gebäude liegen sehr weit auseinander. Hab ich erstmal gefragt ey, /(lachend) was ist denn eigentlich mein Fachbereich?/ Also ich hatte keine Ahnung. Äh ich hab ungefähr – also ich bin ein=ich hab einen Monat später angefangen, zu studieren, und hab dann – noch zusätzlich ungefähr drei Wochen gebraucht /(lachend) bis ich meinen Stundenplan fertig hatte/. /(gedehnt) Und/ – beim Bachelor ist es so dass man nur zweimal fehlen darf, in einem Seminar, in den Vorlesungen nimmt mans nicht so ernst aber in den Seminaren darf man nur zweimal fehlen. Also ich musste sehr viele Professoren davon überzeugen erstmal, dass sie mich in die Seminare – aufnehmen. (Kerim Özer 12/9-31)
Kerim Özers Erzählung verweist einerseits auf die besonderen Umstände, die seinen Studienbeginn auszeichnen: Er muss den institutionellen Übergang und die damit verbundenen Orientierungsleistungen zweimal hintereinander bewältigen. Dabei ist er in B-Stadt nicht nur mit einem anderen Typus von Universität konfrontiert, sondern auch mit einer neuen Form der Studienorganisation – in B-Stadt findet das Studium bereits in den gestuften und modularisierten Studienstrukturen statt, während es in Kerim Özers ursprünglichen Studienort noch gemäß der traditionellen Studien-
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strukturen organisiert war. Der verspätete Studieneinstieg in B-Stadt gestaltet sich dadurch in zweifacher Hinsicht mühsam. Eine weitere Hürde ergibt sich infolge des späten Studienbeginns dadurch, dass Anwesenheitspflicht in Lehrveranstaltungen besteht, Kerim Özer durch den späteren Einstieg aber keinen garantierten Platz in Lehrveranstaltungen hat, sondern seine Teilnahme an Lehrveranstaltungen erst noch in persönlichen Gesprächen mit Lehrenden erbitten muss. Andererseits verweist Kerim Özers Erzählung auch auf typische Erfahrungen des Studienanfangs. Dazu zählen die Bemühungen, sich in der Universität ein- und zurechtzufinden. Dies bezieht sich zunächst auf die räumliche Dimension – die Studierenden sind mit neuen Gebäuden, räumlichen Aufteilungen und Raumordnungen konfrontiert, in denen sie sich orientieren und ihren Platz finden müssen. Je nachdem, ob es sich bei der Hochschule (wie in B-Stadt) um eine Campusuniversität handelt, oder sich die Universitätsgebäude sich (wie in A-Stadt) dezentral in der Stadt verteilen, sind damit verschiedene Orientierungs- und Mobilitätsanforderungen verbunden. Die Größe und Unübersichtlichkeit von Universitätsgebäuden und die Suche nach Orientierung wird in vielen Interviews als verunsichernd thematisiert. Auch den Studierenden, die eine Universität an ihrem Wohnort besuchen, ist dieser Raum nicht vertraut. Im Beispiel Kerim Özer spielt neben der räumlichen Orientierung auch die Anforderung eine Rolle, sich in der Universität als Organisation zurechtzufinden. In der zitierten Passage wird erkennbar, dass ihm die universitären Organisationsstrukturen – die Unterteilung in Fakultäten und Institute – noch gänzlich unvertraut sind und er daher beispielsweise mit der Aufforderung, sich in seinem Fachbereich zu informieren, nicht viel anfangen kann. Diese Unvertrautheit mit den Strukturen der Organisation ist eine geteilte Erfahrung aller Studienanfänger*innen. Sie kommt aber in verschärfter Form zum Tragen, wenn Studierende auf sich allein gestellt sind. Kerim Özer kann nur begrenzt auf informelle Netzwerke zurückgreifen – in seiner Familie gibt es keinerlei Erfahrungen mit dem Wissenschaftsbetrieb und auch in seinem Freundeskreis hat niemand den gleichen Studiengang belegt. Zudem hat keiner seiner studierenden Freunde Erfahrungen mit den neuen Studienstrukturen, da Kerim Özer zur ersten Kohorte der Bachelor-Studierenden gehört. Die Orientierungswoche für Erstsemester hat bereits ohne ihn stattgefunden. Von seinen eigenen Erfahrungen an der Universität F-Stadt durch die veränderten Studienstrukturen in B-Stadt kann er kaum profitieren. Das Durchschauen der Studienanforderungen und die Gestaltung des Studienplans gestalten sich daher besonders mühsam. An diesem Beispiel wird sichtbar, wie formale Zugangshürden und schwerfällige bürokratischen Verfahrensweisen koinzidieren und den Hochschulzugang und den Studienbeginn gerade für Individuen, die über wenig Erfahrungswissen und eine geringe soziale Vertrautheit mit dem System Hochschule verfügen, erschweren können. Ähnliche Beispiele finden sich auch in anderen Interviews. Besonders herausfordernd gestaltet sich der Studienbeginn auch für diejenigen, die ihr Studium in der Umstellungsphase auf die gestuften Studiengänge aufgenommen haben. Diese Studierenden sind in der Situation von Pionier*innen, die auf wenig überliefertes Wissen zur Bewältigung des Studiums zurückgreifen können. Selbst wenn Eltern, Geschwister oder Personen in der näheren sozialen Umgebung Erfahrungen mit dem Universitätsbetrieb haben, so haben deren Erfahrungen nur noch einen sehr eingeschränkten Orientierungswert, da die Subjekte mit veränderten
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institutionellen Bedingungen und Anforderungen konfrontiert werden und sich darin zurechtfinden müssen. Die Informationen über die veränderten Studienstrukturen im Vorfeld des Studiums sind oftmals nicht ausreichend, was dazu führt, dass die Subjekte ihr Studium mit falschen Erwartungen aufnehmen. Dies wird in der Geschichte von Ilena Lang deutlich: I: kennst du diese grünen Studienbücher, diese etwas dickeren? Wo dann alles drinsteht, welchen Beruf und welches Studium und so weiter? Da steht zum Beispiel drin dass Bachelor das Äquivalent zum Diplom ist und der Master das Äquivalent zum Magister. Und dann kommst du an die Uni und denkst dir, ja toll, und es ist ja nicht so. Es ist ja Bachelor und Master sind ja zusammen, sollen ja das Diplom ersetzen. Ja und das steht in diesem Buch und das ist ja n offizielles Buch ne, das ist ja vom - Staat quasi also das kann einfach nicht sein. (Ilena Lang 6/37-7/5)
Die Studierenden berichten zudem über intransparente Rahmenbedingungen der Studienorganisation und ständige Veränderungen der Studienanforderungen. Dies führt dazu, dass die Einzelnen erhebliche Orientierungsarbeit leisten müssen, die sich nicht mehr auf den Studienbeginn begrenzt, sondern nahezu zu einer Daueraufgabe wird. Das Studium erscheint in einigen Erzählungen als ein organisatorischer Hindernislauf, in dem es vor allem um die Frage nach Strategien zur Bewältigung der wechselnden organisatorischen Anforderungen geht. Dabei sind die Subjekte weitgehend auf sich gestellt und erleben das Studium als unvorhersehbar und ungewiss. Die vorhandenen institutionellen Beratungs- und Unterstützungsangebote werden als nicht verlässlich und wenig Orientierung gebend beschrieben: I: die Studienberatung erzählt dir am Tag A die und die Sache und an Tag B ist die gleiche Sache - nicht mehr relevant also das find ich kann auch nicht sein, das hat mich am Anfang so irritiert - ähm als ich hier an der Uni ankam und erstmal n bisschen ne Orientierung brauchte dass ich wirklich dann drei Meinungen bekommen habe und das ist ja ne Studienberatung, die sagen dir ja quasi, was muss ich machen. Und wenn das nicht stimmt, ne, dann machst du ja Sachen falsch oder äh doppelt oder wie auch immer, also ich hab auch n Semester dadurch verloren dass mir die Tussi aus der, ähm, aus diesem Servicebüro im EW-Gebäude gesagt hat, ja für die Allgemeinen Studien kannst du noch n erziehungswissenschaftlichen Kurs machen, ansonsten ist es irgendwie egal was du studierst, und dann wollte ich den machen, und dann sagte mir die Frau äh in der vierten Vorlesung nee, das geht nicht ich hab so was ähnliches schon mal gemacht und ich könnte es quasi jetzt einfach sein lassen weil die Klausur würd mir eh nicht angerechnet werden. Und so was erfährt man dann durch Zufall auch meistens, ne ja. Und ich hab halt nichts in der Hand ne, ich kann dann ja nicht zu der Tussi im Servicebüro sagen, ja ich brauch das noch mal schriftlich was Sie mir da und da gesagt haben damit ich das irgendwie meinem Amt mal vorlegen kann. Das find ich total schwierig. Und da ärgert man sich auch so dermaßen drüber weil man ist ja auch auf solche Informationen angewiesen dadurch dass du ähm in der Studienordnung meistens nicht genauere Anmerkungen hast zu dem wie du was studieren musst, also gerad auch im Bachelor ich find das so schwammig, ähm was da so drinsteht, und - wenn du dann das dann nicht im Endeffekt vorweisen kannst, haste auch Pech gehabt. (Ilena Lang 6/11-32)
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An Ilena Langs Geschichte wird zudem deutlich, dass die Bedingungen den Subjekten sowohl ein hohes Maß an Frustrationstoleranz abfordern als auch die Souveränität, sich durch intransparente und widersprüchliche Informationen nicht grundlegend abschrecken und verunsichern zu lassen. Wenngleich sich das Bemühen der Erzählerin, die Kontrolle über ihr Studium zu behalten bzw. wieder zu erlangen deutlich erkennen lässt, überwiegt die Erfahrung, einer institutionellen Bürokratie ausgeliefert zu sein. Die Universität richtet auch Anforderungen und Erwartungen an die Studierenden, die nicht als konkrete Leistungsanforderungen in den Studienplänen festgelegt sind, sondern eher allgemeine Kompetenzen betreffen, die eine Grundlage für die Bewältigung des Studiums darstellen. Eine wesentliche Anforderung, die von vielen Interviewpartner*innen thematisiert wird, ist der an der Universität geforderte hohe Grad der Selbstorganisation. Während im Beispiel Dilan Karatay der Studienbeginn u.a. dadurch erschwert wird, dass die verschulte Studienrealität von ihren Erwartungen an ein ‚freies‘ Studium unterscheidet, resultieren in anderen Fällen aus einer Unvertrautheit mit den Anforderungen eines wissenschaftlichen Studiums und den hohen Erwartungen an die Selbstorganisation Krisen. Dies wurde besonders am Beispiel Alicja Pajak erkennbar. Ein zentraler Aspekt ihrer Studienproblematik ist die Fehleinschätzung der an sie im Studium gerichteten Erwartungen. Die implizite Erwartung, dass die studierenden Subjekte sich selbst als verantwortliche Akteur*innen ihres Bildungsprozesses begreifen und ihre Studienbiographie dementsprechend selbstverantwortlich organisieren, wird von Alicja Pajak nicht erfüllt. Dies steht in Zusammenhang mit einer Erfahrungs- und Erwartungshaltung der Biographin, die das Studium als ein in hohem Maße heteronom gesteuertes ‚Ablaufprogramm‘ antizipiert, zugleich aber die Autonomiespielräume des Studiums deutlich überschätzt. Die Anforderung, ihr Studium weitgehend eigenständig zu planen und zu organisieren, stellt für viele Studierende eine Herausforderung dar, mit der sie erst umgehen lernen müssen. Damit verbinden sich in einigen Fällen auch Misserfolgs- und Frustrationserlebnisse. In einigen Interviews berichten die Interviewten, den Arbeitsaufwand unterschätzt und sich im ersten Semester zu viel vorgenommen zu haben. D: Also das erste Semester wenn ich nach Hause kam, ich war wirklich - fertig und ich hab auch geweint weil das für mich einfach nur - Stress war irgendwie (Darja Pohl 25/21-23)
Ob es ihnen längerfristig betrachtet gelingt, die Anforderungen an ein selbstorganisiertes Studium zu durchschauen und ihnen zu entsprechen, steht unter anderem in Zusammenhang mit der reflexiven Verarbeitung von Frustrations- und Misserfolgserfahrungen und der Vernetzung mit anderen. Gelingt dies, so kann die an der Hochschule geforderte Selbstorganisation auch als ein Zugewinn an Freiheit erlebt werden – jedenfalls dann, wenn damit auch inhaltliche Wahl- und Gestaltungsmöglichkeiten verbunden sind (Beispiel Anna Schuster). In den modularisierten Studiengängen steht die Erwartung an Selbstorganisation jedoch in einem Spannungsverhältnis zu der starken Vorstrukturierung und den engen Vorgaben des Studienablaufs, was die Anforderungen des Studiums für die Studierenden schwer durchschaubar macht. Im Fall Dilan Karatay wurde zudem deutlich, dass die verschulten Studienstrukturen die Erwartungen einiger Studierender an ein wissenschaftliches Studium irritieren und
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abschrecken können. Thematisiert werden zudem überfrachtete Studienpläne, die für die Studierenden, gerade in den ersten Semestern, sehr belastend und kaum zu bewältigen sind. Dies führt dazu, dass das Studium in den Erzählungen – anders als etwa bei Anna Schuster – nicht als Lernzeit, sondern in erster Linie als „Paukstudium“ (Köhler/Bülow-Schramm 2008 [o.S.]) erscheint, das keinen Raum für persönliche Entwicklung und das Entdecken neuer Interessen lässt. I: Also du wirst da wirklich /(schnell) wie son=wie son kleiner Hamster auf diese Punkte getrimmt dass du da immer hinterher rennst und deine Punkte schön machst und alles andere ist im Prinzip egal/. Jedes Interesse ist egal, was du hast, ich hab das jetzt ganz oft gehabt dass Kommilitonen, ähm, also sich auch speziell in Kunstgeschichte für n - weiteren Kurs - interessiert haben, aber dadurch dass die schon in einem Kurs fest waren durften die den noch nicht mal angucken. Also die durften sich nicht reinsetzen und sich das einfach nur anhören. (1) Und da frage ich mich, was ist Studium noch? (Ilena Lang 9/17-24)
Diese Kritik wird auch von Studierenden geäußert, die als erste in der Familie ein Studium aufnehmen. Die im Anschluss an Bourdieu formulierte These, dass Studierende aus Elternhäusern ohne akademische Vorerfahrungen von einer stärker verschulten Lernkultur profitieren können, weil sie „nur durch ein ‚schulmäßiges‘, ‚pedantisches‘ Lernen ihre herkunftsbedingten habituellen Nachteile kompensieren können“ (ebd.: 317) erscheint im Lichte der hier analysierten Studienanfangsgeschichten zumindest fraglich. Die Ergebnisse der Analysen deuten eher darauf hin, dass sich die Herausforderungen des Studienbeginns unter Bedingungen von „Modularisierung und Kreditierung“ (Baumgart 2006: 309) für alle Studierenden verschärft haben. Die überfrachteten Studienpläne machen straffe Zeitpläne nötig, die den Studierenden wenig individuelle Spielräume lassen, was etwa dazu führen kann, dass sie keine Möglichkeit sehen, ein Auslandssemester in ihr Studium zu integrieren, wenngleich dieses gerade bei (fremd-)sprachlichen Studienfächern als besonders wichtig gilt. Auch die Kombination von Studium und Erwerbsarbeit wird durch geringe zeitliche Flexibilität, die in einigen Fällen noch durch Anwesenheitsverpflichtungen in Lehrveranstaltungen verschärft wird, von vielen Studierenden als problematisch beschrieben. Die finanzielle Belastung durch das Studium verstärkt sich in manchen Fällen noch durch anfallende Studiengebühren, die zum Teil zu Beginn des Studiums noch nicht einkalkuliert waren, und für die die Studierenden vielfach durch eigene Erwerbsarbeit aufkommen müssen. Im Interviewmaterial zeigte sich auch, dass der Übergang in die Universität die Gewöhnung an (jedenfalls teilweise) anonymere Lehr-Lernsettings und Interaktionsstrukturen erfordert. Die befragten Studierenden haben ihr Studium mehrheitlich unmittelbar nach dem Ende der Schulzeit aufgenommen; der Vergleichshorizont ist damit für die meisten die Schule. Die Universität zeichnet sich im Vergleich zur Schule durch weniger persönliche und langfristige Interaktionsverhältnisse aus. Die Akteur*innen (Lehrende, Studierende, Verwaltungspersonal) begegnen sich sehr viel anonymer und die Interaktionsbeziehungen zwischen Studierenden und Lehrenden gestalten sich in der Regel partikularer, sind weniger verbindlich und zeitlich begrenzter. So sind Studierende etwa anders als in der Schule nicht in feste Gruppen eingeteilt, sondern nehmen in wechselnder Zusammensetzung an Lehrveranstaltun-
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gen teil, die in der Regel auf ein Semester begrenzt sind. Diese bestehen gerade in den Anfangssemestern häufig aus großen Einführungsvorlesungen. Am Fall Dilan Karatay wurde deutlich, dass die bürokratische Massenverwaltung und -abfertigung, der Studierende gerade in einem Fach wie Erziehungswissenschaft begegnen, als ungewohnt und von manchen Studierenden als eine EntIndividualisierung, eine Reduzierung der eigenen Person auf eine ‚Nummer‘ erlebt wird. Das Gefühl, in der anonymen Masse unterzugehen, kann für Studierende eine Belastung darstellen, insbesondere wenn es nicht gleich gelingt, Beziehungen zu anderen Studierenden aufzubauen. Die höhere Anonymität bietet jedoch auch Schutz, insofern als die Einzelnen – anders als in einem Klassenverband – weniger exponiert und dadurch auch weniger angreifbar sind. Anhand der Erzählungen von Anna Schuster und Meral Yilmaz wurde rekonstruiert, dass dies gerade für Individuen, die in der Schule Erfahrungen mit Ausgrenzung und typisierenden Festschreibungen gemacht haben, als erhebliche Entlastung erlebt werden kann. Der Übertritt in die Universität wird von einigen Studierenden, vermutlich nicht zuletzt durch die Auflösung fester Gruppenstrukturen, als ein Ort erlebt, an dem im Vergleich zur Schule vielfältigere Lebensstile einen Raum haben. Während manche Studierenden die Universität A-Stadt als einen Ort beschreiben, der sich im Vergleich zur Schule durch eine sichtbar größere Vielfalt der Lernenden auszeichnet, thematisieren andere die wahrgenommene geringe Repräsentanz von Kommiliton*innen mit Migrationsgeschichte. So beschreibt Yanna Galanis ihre Irritation über die homogene Zusammensetzung der Studierenden: Y: Und ähm - dass ich hier nach A-Stadt gekommen bin und auf einmal nur - in der Vorlesung dunkelblonde Köpfe gesehen habe, und davor hatt ich immer so - schwarze Haare, einen etwas brauneren Jungen also von der Hautfarbe her, dann ähm mit viel Akzent, mit Aussprache, und auf einmal gar nicht, und dann dacht ich mir - huh ich bin aber hier eine der Wenigen. (Yanna Galanis 18/26-30)
Die Repräsentation natio-kultureller Hintergründe der Studierenden an der Universität wird nicht in allen Interviews thematisiert. Die unterschiedliche Relevanz dieses Themas verweist nicht nur auf die ‚objektiv‘ unterschiedlich gegebene Homogenität oder Heterogenität der Studierenden je nach Studienort und -fach, sondern auch auf die jeweilige Bedeutung der Migrationsgeschichte für das Selbst- und Zugehörigkeitsverständnis und die Verortung der Subjekte im universitären Raum. Die Verunsicherung durch die (vermeintliche) Homogenität der Studierenden steht im Beispiel von Yanna Galanis im Kontext einer Biographie, in der die Verbundenheit mit mehreren nationalen Zugehörigkeitskontexten eine hohe Bedeutung für das Selbstverständnis der Biographin hat. Dies steht unter anderem damit in Zusammenhang, dass die Auseinandersetzung mit kulturellen Zugehörigkeiten in den biographisch relevanten lebensweltlichen und schulischen Bezugskontexten der Biographin bewusst gefördert wird. So legen die Eltern Wert auf die Vermittlung der griechischen Sprache und fördern dies gezielt durch Aufenthalte der Kinder bei den Großeltern und die Verpflichtung zum Besuch des griechischen Nachmittagsunterrichts. Zudem macht Yanna Galanis in der Schule im Rahmen einer Modellklasse über längere Zeit Erfahrungen mit einer interkulturellen Pädagogik, in der kulturelle Unterschiede affirmiert werden.
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Mit dem Übertritt in die Universität wird die Normalitätserwartung der Biographin an eine sprachlich und kulturell heterogen zusammengesetzte Studierendenschaft gebrochen bzw. irritiert. Sie erfährt sich als „eine der Wenigen“. Dabei greift sie in ihrer Darstellung auf Unterscheidungen zurück, die sich am äußeren Erscheinungsbild und den sprachlichen Voraussetzungen der Studierenden orientieren. Anders als im Beispiel Nuray Coúkun, in dem das Bedauern der geringen Repräsentanz Studierender ‚mit Migrationsgeschichte‘ eher in Form einer politischen Kritik an ungleichen Repräsentationsverhältnissen erfolgt (vgl. Kap. 7.4.2), thematisiert Yanna Galanis die subjektive Erfahrung einer ‚Vereinzelung‘. Sie bearbeitet die entstehende Verunsicherung unter anderem, indem sie sich bewusst für Vielfalt und Internationalität einsetzt – sie schließt sich einem Verein ‚griechischer‘ Studierender an und engagiert sich bei der Beratung internationaler Studierender. Die Analyseergebnisse machen deutlich, dass der Studienbeginn als institutioneller Übergang komplexe Anforderungen an die Subjekte stellt, mit denen zunächst einmal alle Studienanfänger*innen konfrontiert sind. Die Subjekte bringen jedoch aufgrund ihrer Vorerfahrungen unterschiedliche Voraussetzungen mit, um diese Anforderungen zu durchschauen und zu bewältigen. Sie kommen aus Familien mit sehr verschiedenen Bildungstraditionen und können im Studium in unterschiedlichem Maße auf Wissensbestände zurückgreifen, die ihnen das Zurechtfinden im Universitätsbetrieb und den Übergang in die Studienpraxis erleichtern können. Nicht alle verfügen über soziale Netzwerke, die als Ressourcen für die Orientierung im Studium fungieren können. Sie bringen zudem Erfahrungen mit verschiedenen schulischen Bildungskulturen und -milieus mit, die eine unterschiedliche Nähe bzw. Ferne zu den im wissenschaftlichen Feld geforderten Kompetenzen der Selbstorganisation und des wissenschaftlichen Arbeitens aufweisen. Auch zeigt sich, dass Erfahrungen im Umgang mit Institutionen und ihren Funktionsweisen eine entscheidende Bedeutung dafür haben können, wie der Studienbeginn erlebt wird. Dadurch ergeben sich unterschiedliche Ausgangspositionen zu Beginn des Studiums: Während einige Studierende besondere Mühe aufbringen müssen, um sich im Wissenschaftsbetrieb zurechtzufinden, können sich andere zum Teil sehr schnell und souverän im wissenschaftlichen Feld positionieren. Sie profitieren von schulisch erworbenem oder lebensweltlich angeeignetem Erfahrungswissen, das ihnen die Bewältigung der organisatorischen Herausforderungen des Studienbeginns und den Einstieg in die Praxis des Studierens erleichtert. Barbara Friebertshäuser hat in ihrer empirischen Studie zum Übergang ins erziehungswissenschaftliche Studium Anfang der 1990er Jahre die Anforderung an die „Selbstinitiation“ der Studierenden als zentrales Merkmal der ‚modernen‘ Form der Statuspassage Studienbeginn beschrieben (vgl. Friebertshäuser 1992: 62). Im Vergleich zur stark institutionell regulierten und ritualisierten Studieneingangsphase früherer Jahrzehnte zeichnet sich die ‚moderne‘ Form der Gestaltung der Studieneingangsphase der Autorin zufolge durch eine stärkere Individualisierung und Differenzierung aus. Die Statuspassage ins Studium wird in den verschiedenen Fächern unterschiedlich gestaltet und ist weniger ausschließlich durch institutionell verantwortete Übergangsrituale dominiert. Diese Entwicklungen haben zur Folge, dass die Studierenden in höherem Maße gefordert sind, „die Initiation ins Studium weitgehend selbst zu vollziehen“ (ebd.). Diese Tendenz gehe, so Friebertshäuser, mit erheblichen Anforderungen an die Individuen einher. Der Studienbeginn werde als individuell zu
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meisternde Anforderung erlebt, deren Gelingen oder Scheitern die Subjekte in erster Linie selbst verantworten müssen (vgl. ebd: 70). Diese Tendenz spiegelt sich auch in den hier analysierten Erzählungen wider. Neben der Individualisierung des Studienbeginns und den gestiegenen Anforderungen an die Selbstorganisation der Einzelnen wird in den Erzählungen derjenigen im Sample, die ihr Studium in den reformierten Studiengängen aufgenommen haben, allerdings auch die gegensätzliche Tendenz einer Verregelung und Standardisierung des Studiums erkennbar. Dies zeigt sich beispielsweise in der relativ starren Studienorganisation und den Prüfungsformen. Die Gleichzeitigkeit dieser gegenläufigen Entwicklungen und Anforderungen erzeugt ein Spannungsfeld. Vielen Studienanfänger*innen erscheinen die Erwartungen, denen sie im Studium gerecht werden müssen, als paradox oder bleiben für sich nicht vollständig durchschaubar – sie sollen sich einerseits in ein durchreguliertes System einfügen und gleichzeitig als selbstverantwortliche Akteur*innen ihrer Studienbiographien handeln. Diese widersprüchliche Anforderungsstruktur birgt für einige ein erhebliches Irritationspotenzial, mit dem die Einzelnen unterschiedlich souverän umgehen lernen.
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11.5 Z UGEHÖRIGKEITSARBEIT UND Z UGEHÖRIGKEITSERFAHRUNGEN
IM
S TUDIUM
Im Rahmen der Einzelfallrekonstruktionen wurden die Studienerzählungen schwerpunktmäßig im Hinblick darauf untersucht, wie das Studium und die damit verbundenen Erfahrungen und Positionierungen der Studierenden in die jeweilige biographische Prozessstruktur eingebettet sind. Dabei wurden vier kontrastierende Prozessvarianten herausgearbeitet. Im Folgenden liegt der Schwerpunkt dagegen auf der Ausarbeitung von Dimensionen, die sich im Gesamtsample als relevant für die Gestaltung des Zugehörigkeitsverhältnisses der Studierenden zum universitären Kontext erwiesen haben. Fragen danach, wie sich Studierende zur Hochschule ins Verhältnis setzen, wie sie Zugang zur wissenschaftlichen Welt finden und sich in unterschiedlichen fachkulturellen Feldern positionieren können, sind seit den 1970er Jahren im Kontext der Hochschulsozialisationsforschung und später auch in biographieorientierten (z.B. Kokemohr/Marotzki (Hg.) 1989; Marotzki/Kokemohr (Hg.) 1990; Schweppe 2006) und milieutheoretischen Studien (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2006) untersucht worden.40 Ausgehend davon lässt sich festhalten, dass die soziale und kulturelle Teilhabe am Studium als eine höchst voraussetzungsvolle Angelegenheit verstanden werden muss. Sie wird keineswegs allein durch die formale „Mitgliedschaft“ (Mecheril 2003) der Studierenden gewährleistet, sondern setzt auch die Teilnahme an der sozialen Praxis des Studiums und die Etablierung sozialer und kultureller Verbindungen zum jeweiligen Studienkontext voraus. Dies umfasst den Aufbau sozialer Beziehungen, das Vertrautwerden mit der Praxis des Studierens und die Aneignung von Konventionen der jeweiligen Fachkultur (vgl. Liebau/Huber 1985). Paul Mecheril und Birte Klingler (2010: 99) argumentieren deshalb, dass „der Einbezug [der Einzelnen. D.S.] in die Universität [...] nicht schlicht auf die Frage formeller Studienberechtigung und Immatrikulation zu reduzieren“ sei. Studierende stehen vielmehr vor der Aufgabe, eine soziale Zugehörigkeit zur Universität herzustellen und aufrecht zu erhalten, so Mecheril und Klinger. Einige Herausforderungen, die sich in diesem Zusammenhang stellen, sind bereits im vorangegangenen Kapitel beleuchtet worden. Dabei richtete sich der Fokus auf den Übergang ins Studium. Nachfolgend steht dagegen die Studienzeit insgesamt im Zentrum, die im Hinblick auf die Bedingungen für die Zugehörigkeitserfahrungen und die Zugehörigkeitsarbeit der Studierenden betrachtet wird. In den Fallrekonstruktionen wurden verschiedene Bedingungskonstellationen, Ressourcen, Handlungs- und Deutungsweisen aufgezeigt, die es den Subjekten ermöglichen, eine soziale und kulturelle Zugehörigkeit zu ihrem jeweiligen Studienkontext zu etablieren und aufrecht zu erhalten. Es wurden aber auch Konstellationen sichtbar, die es den Subjekten erschweren, sich als zugehörig zu entwerfen. Einige Dimensionen, die sich als relevant für die Gestaltung des Zugehörigkeitsverhältnisses der Subjekte zur Universität erwiesen haben, werden im Folgenden ausgearbeitet.
40 Auf die Forschungslage kann hier nicht genauer eingegangen werden. Für einen Überblick über das Forschungsfeld der Studierendenbiographieforschung vgl. Friebertshäuser 2006b sowie Friebertshäuser/Kraul 2002.
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11.5.1 Etablierung von Zugehörigkeit: Biographische Mittler*innen und Wegbegleiter*innen Für die Herstellung und Aufrechterhaltung von Zugehörigkeit zum Studienkontext erweisen sich in einigen Erzählungen Personen als relevant, die als biographische Mittler*innen und Wegbegleiter*innen agieren und damit den Zugang zur Universität erleichtern. Am Fall Anna Schuster wurde herausgearbeitet, dass soziale Vertraute, die aus dem gleichen sozio-kulturellen Milieu kommen wie die Subjekte selbst, als eine Art ‚Brücke‘ in die unvertraute Welt der Universität fungieren können (vgl. Kap. 9.3.2). Das gemeinsame Studieren mit Weggefährt*innen muss dabei nicht notwendigerweise eine Begrenzung auf das ohnehin Vertraute bedeuten. Im Fall Anna Schuster wird es vielmehr als Voraussetzung für die Überwindung der (erfahrungsbedingten) Angst der Biographin vor unvertrauten sozialen Kontexten konstruiert. Der gemeinsame Studienbeginn trägt dazu bei, dass Anna Schuster sich im Laufe ihres Studiums auch allein im Studium bewegen lernt und soziale Beziehungen zu anderen Kommiliton*innen aufbauen kann. Das gemeinsame Studieren mit anderen stellt auch in Darja Pohls Studienbiographie ein zentrales Element dar: D: dann im ersten Semester hab ich dann auch schon meine ersten Lernpartner sozusagen getroffen. Das ist ja auch wichtig fürs Studium, mit der einen mit der ich Reli sozusagen studiere mit der mache ich immer noch alles, also mit Rebekka (...). Und dann hab ich halt Sofia hab ich äh - mit der ich halt immer alles Mathe_ also für Mathe alles lerne oder generell wir laufen eigentlich viel auch - oder wir gehen öfters das Studium durch und - bei uns also bei Sofia und mir ist es halt son_ also es äh - ich kann_ ich lern - also ich möchte sehr viel von ihr lernen weil sie für mich wie so eine Fee ist (lacht) I: (lacht) D: /(lachend) die ist total süß also die ist/ _ und sie ähm - und=und von mir_ also ich führe sie auch ein bisschen durch das Studium was Organisatorisches anliegt, weil ich immer sehr viel alles plane, du musst da hin du musst das, du musst da dich bewerben und so ungefähr - das ist halt so=das ist halt so und - eine Symbiose so. (Darja Pohl 26/7-23)
In Darja Pohls studienbiographischer Konstruktion treten die Wegbegleiter*innen erst im Studium auf und die Beziehungen zu ihnen werden flexibel gestaltet. Sie konstruiert sich selbst als Akteurin, die andere als Lernpartner*innen auswählt, Beziehungen zu ihnen aufbaut und diese im Zweifelsfall auch wieder aufgibt, wenn sich die Lernpartnerschaft aus ihrer Sicht als unausgewogen herausstellt. Diese Beschreibung legt – ebenso wie der verwendete Begriff der „Lernpartnerschaft“ – zunächst die Assoziation von eher strategischen Beziehungen nahe, die in erster Linie dazu dienen, das Studium effizienter zu gestalten. In ihren Ausführungen über ihre Lernpartnerin Sofia zeigt sich jedoch, dass Darja Pohl damit mehr als eine instrumentelle Zweckgemeinschaft verbindet. Sie verleiht der Lernpartnerschaft nicht nur eine funktionale Bedeutung, etwa für die gemeinsame Vorbereitung auf Prüfungen oder das Austauschen von Mitschriften, sondern schreibt ihrer Lernpartnerin auch eine Orientierungsfunktion zu. Darja Pohl bewundert Sofia unter anderem dafür, dass sie ihre
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Kinder konsequent mehrsprachig erzieht.41 Umgekehrt kann diese von Darja Pohls organisatorischen Kompetenzen profitieren. Die Lernpartnerschaft wird so als ein Raum für Lernprozesse konstruiert, dessen Bedeutung sich nicht auf die Bewältigung konkreter Studienanforderungen beschränkt, sondern auch eine lebensweltliche Relevanz hat. Die Bedeutung von Vertrauten und Mittler*innen zeigt sich im Sample insbesondere in den Biographien von Studierenden, die sich zunächst unsicher im universitären Kontext fühlen. Diese Unsicherheit resultiert in manchen Fällen aus einer sozialen Unvertrautheit mit den Studienanforderungen. So beginnt Darja Pohl ihr Studium, ohne über eine Vorstellung davon zu verfügen, was Studieren eigentlich bedeutet: D: ab der sechsten siebten achten Klasse wusste ich eigentlich schon dass ich studieren möchte. Obwohl ich nie wusste was es heißt_ was heißt studieren ne? Also was=was heißt studieren? Aber ich hab dann gesagt nee ich möchte das. (Darja Pohl 24/39-40)
Obwohl Darja Pohl deutliche Bildungsaspirationen artikuliert und sich rückblickend zuschreibt, bereits während der Realschulzeit Studienwünsche entwickelt zu haben, kann sie diesen Entwurf lange Zeit nicht mit einem Wissen darüber verbinden, was es konkret bedeutet, zu studieren. In ihrer unmittelbaren sozialen Umgebung gibt es kein Erfahrungswissen, das sie für die Entwicklung ihrer Studienperspektive nutzen kann. Eine konkretere Vorstellung vom Studium erlangt Darja Pohl deshalb erst, nachdem sie es aufgenommen hat. Auch in Meral Yilmaz’ Erzählung wird die Bedeutung von Personen erkennbar, die im Studium als Wegbegleiter*innen fungieren. In ihrer Geschichte ist es die ältere Schwester, die sie ins Studium einführt: M: Ich hab jetzt nicht äh - ich hab am Anfang nicht an den ähm - Informationsveranstaltungen teilgenommen weil ich das irgendwie nicht gecheckt hab, was man da alles machen muss, aber zum Glück hatte ich meine Schwester, die hat mir alles gezeigt, und äh wir haben ge_die Institute besucht, soziologisches Institut dann äh, islamwissenschaftliches Institut und äh die Erziehungswissenschaft, haben wir äh, habe ich alles kennengelernt, ich hab den Weg kennengelernt, wie man dahin fährt, also meine Schwester hat mir so in den Anfangsphasen son bisschen unter die Arme gegriffen, und ich selber hab natürlich ähm - hab jeden angesprochen den ich da gesehen hab so, wenn ich mal nicht wusste wohin ich muss, wo der Raum ist, dann hab ich sofort den ersten den ich am ähm im Flur gesehen habe, hab ich dann gefragt - ja, und dann hab ich /(lachend) meinen Weg gefunden irgendwie/ (lachend) wer fraget der findet/! (Meral Yilmaz 34/1-13)
Die verpasste Orientierungswoche und der daraus resultierende Mangel an relevanten Informationen kann in Meral Yilmaz’ Beispiel dadurch aufgefangen werden, dass ihre ältere Schwester am gleichen Studienort denselben Studiengang belegt hat und die Biographin somit mit den relevanten Einrichtungen vertraut machen und sie in ihrer Semesterplanung unterstützen kann. Die anfängliche Fremdheit kann auf diese 41 Die beiden jungen Frauen verbindet eine Migrationsgeschichte aus ehemaligen Staaten der Sowjetunion. Sofia ist einige Jahre älter und hat bereits eine eigene Familie.
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Weise überwunden werden und das Vertrautwerden trägt dazu bei, dass Meral Yilmaz keine Scheu hat, sich auch alleine ‚durchzufragen‘. Die Bedeutung von sozial Vertrauten, die als Mittler*innen in die soziale Welt der Universität fungieren, zeigt sich aber nicht nur in den Erzählungen von Studierenden, die aus Familien ohne eine akademische Tradition kommen. So wird beispielsweise auch im Interview mit Bahar Merizadi das gemeinschaftliche Studieren mit einem Kommilitonen thematisiert. B: Cem kenn ich seit dem ersten Semester und wir sind unzertrennlich also wir machen - jeden Tag was zusammen - ähm - und lernen zusammen und - erleben so das ganze Studium zusammen. Und - mit Höhen und Tiefen und sind aber echt - richtig dicke Freunde, auch dadurch weil - eh zu der Einführungswoche ist mein - Schatz mit mir gekommen, weil ich ja niemanden kannte und ich hatte n bisschen Angst, I: ja. B: Und dann haben wir Cem gesehen, und ähm - Cems Bruder kennt meinen Schatz. Dadurch kannten sie sich und dadurch haben sie uns vorgestellt und seitdem sind wir unzertrennlich. (19/10-19)
Die Beziehung zu ihrem Studienpartner wird auch hier als ein Verhältnis konstruiert, das sich durch eine lebensweltliche Vertrautheit auszeichnet. Obwohl Bahar Merizadi selbst Cem Keskin erst im Studium kennenlernt, steht das Verhältnis zu ihm im Kontrast zu der anonymen Gruppe von Mitstudierenden, der die Biographin sich in der Einführungswoche gegenüber sieht. Es ist die Bekanntschaft ihres Freundes mit dessen Bruder, die Cem Keskin als besonders vertrauenswürdige Person qualifiziert und ihm einen Status verleiht, der ihn von den anderen, unbekannten Kommiliton*innen unterscheidet. Der situative Kontext der ersten Begegnung ist die Einführungswoche ins Studium, die für Bahar Merizadi mit Verunsicherung („ein bisschen Angst“) verbunden ist. Dies zeigt sich unter anderem daran, dass sie sich von ihrem Freund zur Universität begleiten lässt. Im Gesamtzusammenhang der biographischen Erzählung ist dies zunächst überraschend, da die Biographin im Interview eine starke Akteur*innenrolle für sich reklamiert und sich als jemand konstruiert, die den unterschiedliche Anforderungen des Lebens meist souverän entgegentritt. Die Verunsicherung wird jedoch verständlich, wenn man die Bildungsgeschichte betrachtet, in die das Studium eingebettet ist: Wie gezeigt wurde, gibt es in Bahar Merizadis Familie zwar eine akademische Bildungstradition, diese wird von der Biographin jedoch nur schrittweise in ihren eigenen Lebensentwurf integriert (vgl. Kapitel 11.2.2). Sie gestaltet ihren Bildungsweg vielmehr nach ihren eigenen Vorstellungen. Nach dem Abitur schlägt sie nicht direkt den Weg ins Studium ein, sondern beginnt dieses erst nach einem Jahr einer Vollzeiterwerbstätigkeit als Verkäuferin in einer Modeboutique. Sie präsentiert sich als erfolgreiche Modeverkäuferin, der durchaus Karrierechancen im kaufmännischen Bereich offen gestanden hätten. Die ihr angebotene Position als Filialleiterin weist sie jedoch zugunsten des bereits geplanten Lehramtsstudiums ab. Der Studienbeginn schließt sich damit zeitlich nah an die mögliche Alternativkarriere in der Modebranche an und Bahar Merizadi räumt dieser Möglichkeit in ihren Zukunftsentwürfen weiterhin einen gewissen Raum ein. Vor dem Hintergrund ihrer beruflichen Expertise in einem wissenschaftsfernen Gebiet ist der Studienbeginn für Bahar Merizadi mit einigen Verunsicherungen und Erfahrungen
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kultureller Fremdheit verbunden. Die Freundschaft mit Cem Keskin wird in diesem Zusammenhang zu einer Möglichkeit, sich ‚in Begleitung‘ in das unvertraute Feld zu begeben. Die Bedeutung von Weggefährt*innen im Kontext von Bildungsaufstiegen in der Migration ist in allgemeiner Form auch in anderen Studien aufgezeigt worden (vgl. Juhasz/Mey 2003: 316f.). In den hier untersuchten Lebensgeschichten zeigt sich ihre Bedeutung im Hinblick auf das Studium. Soziale Vertraute können, gerade für Studierende, die aus unterschiedlichen Gründen zunächst eine Distanz zum wissenschaftlichen Feld überwinden müssen, eine wichtige Ressource für die soziale Annäherung an dieses Feld darstellen. Freundschaftsbeziehungen zu Mitstudierenden aus lebensweltlich vertrauten Zusammenhängen bzw. mit ähnlichen Erfahrungen ermöglichen eine Verknüpfung zwischen fremden und lebensweltlich vertrauten Zugehörigkeitskontexten. Zugleich bieten sie einen Ausgangspunkt für das Überschreiten des Vertrauten, die Etablierung neuer sozialer Netzwerke an der Universität und für biographische Lernprozesse. Die Bindung an sozial Vertraute kann allerdings dann riskant werden, wenn damit die Tendenz einer Entlastung von Eigenverantwortung für das Studium einhergeht. Dies wurde in Alicja Pajaks Geschichte erkennbar: Die Biographin delegiert die Verantwortung für Fehlentscheidungen in ihrer Studienbiographie an ihre Studienpartnerin aus Schulzeiten. Dies ermöglicht zwar eine Form der Selbstentlastung, verstärkt aber zugleich die Heteronomieerfahrung der Biographin hinsichtlich ihres Studiums. Der spätere Studienabbruch der Freundin trägt zudem zu einer Verschärfung des Verlaufskurvenpotenzials in der eigenen Studienbiographie bei. 11.5.2 Aufrechterhaltung von Zugehörigkeit: Familiale Netzwerke als soziale Ressource Zugehörigkeit zur Universität ist nicht als ein statisches Verhältnis oder ein verlässlicher ‚Status‘ zu betrachten, dessen sich die Subjekte sicher sein können, sofern er einmal hergestellt ist. In der biographischen Prozessperspektive wird deutlich, dass Zugehörigkeit auch im weiteren Verlauf des Studiums brüchig werden oder infrage stehen kann und es erneuter Anstrengungen und Unterstützungen bedarf, sie zu erhalten und auch ggf. auch neu zu etablieren. Letzteres kann beispielsweise im Fall von Studienfach- oder -ortswechseln oder Studienunterbrechungen notwendig werden. In mehreren Fallbeispielen zeigt sich in solchen Situationen die hohe Bedeutung familialer Netzwerke für die Aufrechterhaltung des Zugehörigkeitsverhältnisses zum Kontext Universität. Ein Beispiel, an dem sowohl feldspezifische Ausschlussmechanismen sichtbar werden als auch die Bedeutung familialer Unterstützung findet sich im Interview mit Yanna Galanis. Nachdem die Biographin ihr Studium (Lehramt für Grund,- Hauptund Realschulen) aufgenommen hat, muss sie im Fach Englisch einen Eingangstest absolvieren, der darüber entscheidet, ob sie direkt ins Anglistikstudium einsteigen kann oder noch ein Propädeutikum absolvieren muss. Trotz eines einjährigen Schulaufenthalts in den USA erreicht Yanna Galanis in dem Test nicht die nötige Punktzahl. Sie wird daraufhin von einer Dozentin angesprochen, die ihr nahelegt, ihre Studienwahl grundlegend zu überdenken:
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Y: Ja und ich hab diese Punkte nicht erreicht, obwohl ich ein Jahr in Amerika war hab ich sie nicht erreicht, /[gedehnt] und/ dann hat mir die Frau die diese - die gerade Aufsicht hatte, ich weiß nicht wer sie gedacht hat wer sie ist, hat mir sa_gesagt dass ich mir doch ganz genau überlegen soll ob ich - Grundschullehrerin werden möchte und das Englisch dass ich auch Englisch unterrichten möchte, weil mit so einem - mit so einer Punktzahl wie ich da erreicht habe fragt sie sich wirklich ob meine Mu_Sprachenkenntnisse so gut sind dass ich die - ähm wie eine Muttersprache darin sprechen kann, oder - ob ich diese Fähigkeit besitze, und äh weil kleine Kinder, denen kann man ja auch nichts falsches beibringen, ähm - die lernen ja nämlich genau das was sie als erstes lernen und das bleibt dann in ihren Köpfen, und dann würd ich=dann sollt ich mir doch mal genaue=sten - noch mal genau überlegen ob das das Richtige für mich ist. Und ob ich da nicht gerade ne falsche Entscheidung treffe. (Yanna Galanis 30/23-33)
Der Test erweist sich hier nicht nur als ein Instrument, um Studierende entsprechend ihrer Vorkenntnisse zu ‚sortieren‘, sondern wird vielmehr zu einem Anlass für eine improvisierte ‚Studienberatung‘. Das Argument, mit dem Yanna Galanis aufgefordert wird, ihre Studienentscheidung zu überdenken, bezieht sich dabei nicht nur auf die im Test erreichte Punktzahl. Es fußt auch auf der nicht weiter erläuterten Erwartung, dass die Studentin die englische Sprache (bei Studienbeginn) auf muttersprachlichem Niveau beherrschen müsse. Die Tatsache, dass auch der einjährige USAAufenthalt offenbar nicht ausreicht, um den hohen Anforderungen des Anglistikstudiums zu entsprechen, bleibt erklärungsbedürftig und dürfte für die Biographin besonders entmutigend gewesen sein. Im Nachhinein deutet Yanna Galanis das Erlebnis als Ausdruck der Machtstrukturen des Feldes – der Hierarchien zwischen Hauptfach- und Lehramtsstudierenden und der Selektionsmechanismen im ersten Semester, denen sie als Primarstufenstudentin im Fach Anglistik in besonderer Weise ausgesetzt ist. Y: ähm - ich hab in Englisch äh - sehr viel - kämpfen müssen mit mir oder mit Selbstzweifeln, weil in Englisch reinzukommen ist nicht sehr einfach, also es ist einfach - generell habe ich von Anfang an mitbekommen dass die uns Primarstufenleute dort gar nicht haben wollen, weil Englisch in der Grundschule ja erst seit Kurzem angeboten wird, und es eben erst seit kurzem auch im Englischen Seminar - äh Primarstufenstudenten eben gibt, innerhalb - im selben Seminar wo die ganzen Magisterleute und was auch immer, Lehramtsleute für Sek Zwei und so drin sitzen, waren auf einmal auch die Primimäuse. Aber ich bin ja kein Primimäuschen, ich bin ja GHR - mit Schwerpunkt G. Grund Haupt Realschule. (1) Primimäuschen war vor meiner Zeit. Trotzdem wurden wir so quasi - die Grundschulstudierenden haben hier quasi nicht viel zu suchen. Also das wurde mir im ersten Tag - gesagt. (Yanna Galanis 30/10-19)
Bereits in der Bezeichnung „Primimäuschen“, von der Yanna Galanis sich hier nachdrücklich distanziert, schwingt die Verachtung der – mehrheitlich weiblichen – Primarstufen-Studierenden mit. Als eine der ersten Student*innen, die das Unterrichtsfach Englisch für die Grundschule überhaupt studieren, wird die Biographin im Fach Anglistik von dieser Abwertung besonders hart getroffen. Sie kann die Mechanismen, die der Bewertung und der Selektionspraxis zugrunde liegen, aus ihrer Gegenwartsperspektive plausibel analysieren und einordnen. In der damaligen Situation ist sie der unerbetenen Gesprächssituation mit der Dozentin allerdings ausgesetzt und
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wird mit dem Ratschlag, ihre Studienwahl zu überdenken, sich selbst überlassen. Zwar hält Yanna Galanis am Studium fest, in ihrer Darstellung wird jedoch deutlich, dass dieses Erlebnis ein nicht unerhebliches Verunsicherungs- und Krisenpotenzial in sich barg. Y: Ja dann bin ich heulend raus - hab heulend ähm - mich ins Auto gesetzt, meine Eltern angerufen, habe gesagt - das wars für mich - ich studier nicht mehr - die haben gesagt ich bin ne Niete ich habs nicht drauf - /[gedehnt] und/ dann haben die mich erstmal beruhigt, dann haben die gesagt ähm - erstmal ich soll nicht auf das hören was fremde Leute von mir über mich sagen die mich gar nicht kennen, die nur eine Punktzahl sehen von einem Test, ähm - und ich soll doch mal weiter kucken. Und so wars dann auch. (Yanna Galanis 30/33-34/1)
Yanna Galanis’ spontane Reaktion auf das frustrierende Erlebnis besteht darin, ihre Studieneignung und ihre Leistungsfähigkeit generell infrage zu stellen. Sie bleibt damit aber nicht allein, sondern kann sich an ihre Eltern wenden, von denen sie emotionale Unterstützung erhält. Die Eltern der Biographin haben beide selbst ein Studium an einer deutschen Universität absolviert und verfügen somit über Erfahrungen mit der Institution. Sie reagieren besonnen, indem sie die Bedeutung des Tests ebenso wie die Einschätzungsfähigkeit der Dozentin relativieren und ihre Tochter in ihrer Studienentscheidung bestärken. Yanna Galanis´ Geschichte zeigt, dass soziale Unterstützung, wie sie die Biographin hier durch ihre Eltern erhält, im Studium eine erhebliche Bedeutung für die Bewältigung von Frustrationserlebnissen haben kann. Sie macht auch deutlich, dass den Studierenden insbesondere in den ersten Studiensemestern u.U. eine erhebliche Frustrationstoleranz im Umgang mit Misserfolgserlebnissen abverlangt wird, die zu Zweifeln am Studium führen können. Dabei können, wie sich hier zeigt, institutionell verankerte Auswahlmechanismen so zur Anwendung kommen, dass sie Teilnehmende von Studiengängen, die im wissenschaftlichen Feld abgewertet werden, benachteiligen. In diesem Beispiel werden mit den Hierarchien zwischen den Studiengängen zugleich Geschlechterhierarchien reproduziert. Die Bedeutung familialer Unterstützung als sozialer Ressource wird auch in der Studienbiographie von Meral Yilmaz erkennbar. Dabei zeigt sich in ihrer Geschichte, wie sich durch Veränderungen in der Familiensituation und institutionelle Hürden Erschwernisse im Studium potenzieren können, deren Bewältigung besondere Ressourcen erforderlich macht. Meral Yilmaz unterbricht ihr Studium nach einigen Semestern aufgrund der Geburt ihres ersten Kindes für eine Dauer von etwa zwei Jahren. Ihr Ehemann muss in dieser Zeit um die Anerkennung seines in der Türkei erworbenen Bildungsabschlusses kämpfen und beginnt anschließend ebenfalls ein Studium. Die Familie verfügt daher über kein gesichertes Einkommen und die prekäre ökonomische Situation macht einen Umzug in Räumlichkeiten im Haus von Meral Yilmaz Eltern notwendig. Der Umzug zieht für die Biographin zugleich einen Studienortwechsel nach sich. M: aber äh - weil ich ja nicht immer dahin fahren konnte, weil es so weit weg ist, habe ich mir gedacht, dass ich in äh - A-Stadt mein äh Studium fortsetze. Und äh, ich bin hingegangen, hab mit den ganzen äh - Fächern, mit den Professoren gesprochen und äh geguckt ob da alles anerkannt wird was ich äh gemacht hab als Scheine und äh - die wurden anerkannt, und äh nach den Informationen die ich damals erhalten hatte, sah es so aus, dass ich direkt meine Arbeit schrei-
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ben und meine Prüfung ah_ leisten kann, aber das=das war nicht so. (Lacht kurz) Ich hab die Ummeldung gemacht, hab mich exmatrikulieren lassen, habe mich hier angemeldet - und äh ja und als mich angemeldet hatte, in Pädagogik war alles okay in Soziologie war alles okay aber in Islamwissenschaft habe ich falsche Informationen bekommen, und als ich dann mit dem Prof gesprochen hatte, hat er gesagt nee Frau Yilmaz, so geht das nicht. Sie müssen noch Arabisch lernen und äh Sie müssen noch die und die und die Kurse belegen (lacht), weil ich äh - in G-Stadt äh war das nicht Pflicht. Dass man Arabisch als Fremdsprache nimmt, da konnte man auch Türkisch nehmen. Und das habe ich auch gemacht, hab auch die Scheine alle, aber die wurden hier gar nicht angerechnet. I: ja M: Und äh man hatte mir gesagt, dass alles okay gewesen ist, aber das war nicht dieser Professor, das war jemand anderes, ich glaube das war die studentische Hilfskraft - das kann sein. Auf jeden Fall ähm - musste ich dann - noch ein paar Scheine machen, in Islamwiss_ und das waren auch viele Scheine. Ich hab dann_ und äh die Arabischkurse, die haben - drei Semester musste ich Arabisch studieren und dann noch n paar äh Scheine in äh Propädeutika und andere Sachen machen. (Meral Yilmaz 15/32-16/13)
An der Universität A-Stadt, an der Meral Yilmaz sich nachfolgend einschreibt, ergibt sich das Problem, dass sie in ihrem Nebenfach Islamwissenschaft – entgegnen der zuvor erhaltenen Informationen – Arabischkenntnisse nachweisen muss. Dies bedeutet, dass sie zusätzliche Studienleistungen erbringen muss. Während die Biographin zunächst von „ein paar Scheine[n]“ spricht, wird nachfolgend klar, dass es sich dabei um umfangreiche Zusatzleistungen handelt („viele Scheine“), deren Erbringung einen erheblichen Zeitaufwand (drei Semester) in Anspruch nimmt. In dieser Zeit wird Meral Yilmaz zum zweiten Mal schwanger. Die Situation nach der Geburt des zweiten Kindes wird von der Biographin selbst als relativ belastend beschrieben. Nachdem ihr Mann eine Vollzeitstelle in einem Nachhilfeinstitut gefunden hat, obliegt ihr nun die alleinige Verantwortung für Haushalt und Kinder. Daneben geht sie sozialen Verpflichtungen in der türkischsprachigen Community nach, wobei sie ihr Engagement hier auf ein Minimum reduziert. Dass es Meral Yilmaz trotz dieser erschwerten Bedingungen gelingt, ihr Studium fortzusetzen und schließlich auch erfolgreich zum Abschluss zu bringen, wird dadurch möglich, dass ihr Bildungsprojekt durchgehend von ihrer Familie mitgetragen und unterstützt wird. M: Also ich hätte normalerweise nicht angefangen, aber weil ich meine Mutter hab und äh in C-Stadt wohnt noch mein anderer Bruder mit seiner Frau, meine Schwägerin und meine andere Schwägerin und - weil ich meine Familie hatte, habe ich wieder angefangen und äh wenn ich zur Uni gefahren bin hat mein Mann_ äh hat meine Mutter auf meinen Sohn aufgepasst (Meral Yilmaz 16/20-23) M: manchmal - die Kinder und Haushalt und so und andere, auch andere Verpflichtungen, äh das war manchmal zu viel und da - hatte ich auch manchmal gedacht ach lass es einfach, lass dich exmatrikulieren, dann hast du deine Ruhe, aber - äh - in den Situationen hat mein Mann immer gesagt du hast so viel gemacht und äh das bisschen das schaffst du auch noch. Und, ja und das hat mich motiviert (Meral Yilmaz 16/35-39)
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Dass Meral Yilmaz den Gedanken an einen Studienabbruch verwirft, schreibt sie hier in hohem Maße den unterstützenden Familienbeziehungen zu.42 Sie erhält praktische Unterstützung von ihrer Mutter in Form von Kinderbetreuung, und sie wird in Krisenzeiten, in denen sie selbst an ihrem Projekt zweifelt, durch ihren Ehemann zum Abschluss ihres Studiums ermutigt. An ihrer Erzählung wird deutlich, dass ein stabiles familiales Netzwerk gerade in biographischen Konstellationen, die durch Mehrfachbelastungen gekennzeichnet sind, zu einer entscheidenden Ressource für das Verfolgen des bildungsbiographischen Entwurfs werden kann. 11.5.3 Prekarisierte Zugehörigkeit: Erfahrungen mit Marginalisierung und Othering Die Fallrekonstruktion Alicja Pajak hat verdeutlicht, dass und Erfahrungen prekärer Zugehörigkeit im Kontext der Universität nicht immer mit Diskriminierungserfahrungen in Verbindung stehen. Dennoch zeigt sich im Gesamtsample, dass Erfahrungen prekärer Zugehörigkeit im Studium auch auf Marginalisierungen und Vereinnahmungen als ‚Migrationsandere‘ verweisen, die es den Studierenden erschweren, sich als zugehörig zu konstruieren. Diese können sich in Situationen herstellen, in denen offensichtliche symbolische Ausschließungen wirksam werden – etwa durch die Adressierung als ausländische Studierende bei Verwaltungsvorgängen (Ilena Lang) oder durch das Fehlen einer räumlichen Infrastruktur für praktizierende muslimische Studierende (Meral Yilmaz). Marginalisierungen werden aber auch in Lehrveranstaltungen durch die Orientierung an dominanten Normalitätsvorstellungen und die fehlende Berücksichtigung der gegebenen Perspektivenvielfalt (re-)produziert. So werden Erfahrungen und Sichtweisen von Studierenden, die in Zusammenhang mit Mehrfachzugehörigkeiten stehen – dies konnte ansatzweise im Fall Nuray Coúkun gezeigt werden – oftmals nicht wahrgenommen, sondern übergangen oder ‚übersehen‘. Andererseits wurde gezeigt, dass auch positive Differenzzuschreibungen, mit denen gerade im Rahmen pädagogischer Studiengänge zu rechnen ist, eine Quelle für Erfahrungen prekärer oder zumindest ambivalenter Zugehörigkeit darstellen können. Als angehende Lehrkraft mit Migrationshintergrund adressiert zu werden, beinhaltet einerseits eine Wertschätzung migrationsgeschichtlicher Erfahrungen und Kompetenzen, was für manche Studie-
42 An anderer Stelle wird erkennbar, dass ein Studienabbruch offenbar auch von Meral Yilmaz selbst letztlich nicht als akzeptable Option in Betracht gezogen wird: M: „ICH WEIß ZWAR DASS ICH NIE AUFGEHÖRT HÄTTE /(lachend) aber ich hatte den Wunsch/! Ich weiß dass ich nicht äh - den Schritt - gemacht hätte“. Dem spontanen „Wunsch“, sich angesichts der Mehrfachbelastung zu exmatrikulieren und damit das Studienprojekt aufzugeben, wird hier ein intuitives „Wissen“ um die Notwendigkeit der Vollendung dieses Bildungsprojekts gegenüber gestellt. Dieses Wissen kann als Ausdruck eines verinnerlichten Bildungsstrebens gedeutet werden, das in der Familie kultiviert und angeeignet wurde, und das Meral Yilmaz´ Lebensgeschichte von Beginn an wesentlich bestimmt. Dieses Wissen stellt neben der ideellen und praktischen sozialen Unterstützung, die sie erhält, eine wesentliche Ressource dafür dar, dass sie ihr Studium unter den erschwerten Bedingungen zu Ende führt.
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rende (wie im Beispiel Anna Schuster) mit Ermächtigungserfahrungen verbunden sein kann. Andererseits kann es auch bedeuten, als ‚Andere‘ vereinnahmt und auf diese Position festgelegt zu werden und sich mit Vorwürfen der illegitimen Privilegierung konfrontiert zu sehen (wie im Fall Nuray Coúkun). Auch zeigt sich die Komplexität von Differenzierungs- und Hierarchisierungsebenen und -praktiken, die ein Potenzial für mehrdeutige Ausgrenzungserfahrungen erzeugen. So lassen sich in Bahar Merizadis Erzählung Anerkennungsproblematiken im studentischen fachkulturellen Feld rekonstruieren, die sich auf verschiedene Dimensionen ihres Status und ihrer Positionierung beziehen. Die Biographin konstruiert sich im Interview als erfolgreiche Lehramtsstudentin, die sich in universitären LehrLernsituationen souverän einbringt. Auch in ihrem künftigen beruflichen Handlungsfeld fühlt Bahar Merizadi sich überwiegend wertgeschätzt und erhält für ihren Unterricht positive Rückmeldungen. Durch ihre Selbstinszenierung als modebewusste, toughe junge Frau kann sie schnell eine Verbindung zur Lebenswelt ihrer Schüler*innen herstellen und wird von den männlichen Schülern bewundert. Zugleich verbinden sich dem Philosophiestudium für Bahar Merizadi aber Ausgrenzungserfahrungen, die sie auf Vorurteile ihrer Mitstudierenden zurückführt. B: gerade in Philosophie waren - viele Leute die halt nicht Lehramtsstudenten warn aber viele Leute und das hab ich auch heute immer noch, die - einfach nicht mit mir reden wollen weil die denken, weil ich n bisschen auf mein Äußeres achte - das ist ne dumme Tusse die hat nichts in der Birne. Das hab ich halt immer gemerkt. Ich hatte auch einen Tutor in Ethik der hat - egal welchen Aufsatz ich geschrieben hab welchen Essay, äh, den ersten Essay den ich abgegeben hab hab ich ne Fünf bekommen - weil ich äh - nachher hab ich ihn gefragt wieso was ist denn los? Er meinte ja, wenn du jetzt so etwas schreibst wie - Aspekt. Was meinst du damit? Bitte? Das ist n ganz gängiger Begriff. Ja aber versuch mal, in nem ganz primitiven Deutsch zu schreiben. (1) Dann hab ich gesagt, und was stellste dir darunter vor? Ja ich weiß nicht, ich glaube vielleicht versuchst du mit Fachbegriffen äh umzugehen und kannst das aber nicht. Ich so, was? Äh ich glau_ ich glaub ich hör jetzt nicht richtig. (18/40-19/5)
Bahar Merizadi fühlt sich von ihren Mitstudierenden im Fach Philosophie als „dumme Tusse“ angesehen und abgewertet, was sie an dieser Stelle auf ihr Verhältnis zu ihrem „Äußere[n]“ zurückführt – sie pflegt einen modebewussten Kleidungsstil und verwendet Kosmetika. Die geschilderte Situation enthält Hinweise darauf, dass hier Distinktionsstrategien im studentischen Feld wirksam werden (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2006). Es geht um machtvolle Unterscheidungspraxen zwischen fraglos zugehörigen und nicht zugehörigen Mitgliedern des (studentischen) Feldes. Dabei wirken mehrere Ebenen der Differenzherstellung und Hierarchisierung zusammen. Eine Ebene bildet die Unterscheidung von Hauptfach- und Lehramtsstudierenden. Die Hauptfachstudierenden definieren sich als Repräsentant*innen der Fachkultur und grenzen sich den Lehramtsstudierenden gegenüber ab, deren Zugehörigkeit zur Fachkultur sie infrage stellen. Zugleich wird deutlich, dass nicht alle Lehramtsstudierenden gleichermaßen von diesen Distinktionsstrategien betroffen sind. Vielmehr zeigen sich deutliche Anzeichen für eine vergeschlechtlichte Unterscheidungspraxis – Bahar Merizadi wird von ihren Kommiliton*innen als Frau wahrgenommen und abgewertet. Ihr modebewusster Kleidungsstil, mit dem sie sich selbst als ‚weiblich‘ positio-
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niert, scheint sie dabei in den Augen ihrer Mitstudierenden automatisch als legitimes Mitglied des Fachs zu disqualifizieren. Feminine Kleidung und ein modebewusstes Äußeres scheinen mit dem intellektuellen Anspruch und dem ‚vergeistigten‘ Selbstverständnis des Fachs Philosophie aus Sicht der dominanten Studierendenfraktion nicht vereinbar zu sein. Die als Belegerzählung geschilderte Episode der Interaktion mit dem Tutor, der einerseits den Studierenden zugehörig ist, andererseits aber in der Rolle eines Lehrenden verortet ist, eröffnet zudem die Lesart, dass hier noch eine weitere Dimension im Spiel sein könnte: die Identifizierung Bahar Merizadis als Frau ‚mit Migrationshintergrund‘ bzw. Nicht-Deutsch-Muttersprachlerin. Indem der Tutor als Begründung einer schlechten Note ihre Fähigkeiten im Umgang mit Fachbegriffen infrage stellt, spricht er ihr einen kompetenten Umgang mit der Bildungssprache Deutsch und den darin enthaltenen Fremdwörtern ab. Dass diese Identifizierung als Migrationsandere auch bei den anderen Studierenden eine Rolle spielen könnte, wird von Bahar Merizadi selbst an anderer Stelle in Betracht gezogen: B: das auch nur in Philosophie - dieses okay_ weil Johanna ist zum Beispiel auch jemand, sie zieht gerne hohe Schuhe an, ich zieh auch gerne hohe Schuhe an, und ich zieh aber auch gerne mal ne zerrissene Jeans an und Turnschuhe - und ähm sie schminkt sich auch undundund. Ist aber halt blond, ne? Und ich bin halt - dunkelhaarig. Und bei mir war dann immer dieses Ding so - ach die is bestimmt einfach nur blöd in der Birne. Ob es jetzt mit dem Ausländersein einhergeht, das kann ich Dir nicht sagen aber - aufgrund dessen, dass bei Johanna nicht dieser Hype war - nur bei mir, denk ich mir immer okay - vielleicht denken die ich denk - Philosophie sei das leichteste Fach was man studieren kann und ich komm da einfach mal so durch ganz im Gegenteil - du=du musst da ja richtig viel Fleiß und Disziplin mit reinbringen
Bahar Merizadi leitet ihre (vorsichtige) These mit einem ‚empirischen‘ Anspruch her, indem sie ihre Erfahrungen in Philosophie mit denen einer Kommilitonin und Freundin vergleicht, die ebenfalls Wert auf ihr Äußeres legt, die aber offenbar nicht dieselben Erfahrungen macht. Zwar will sie sich nicht darauf festlegen, dass es sich um eine ethnisierende bzw. rassifizierende Unterscheidungspraxis handelt. Indem sie jedoch darauf verweist, dass die Freundin „blond“ ist, während sie selbst „dunkelhaarig“ ist, bezieht sie diese Möglichkeit in ihre Deutung ein. In der Kategorisierung als ‚migrationsandere Frau‘ wirken mehrere soziale Unterscheidungspraxen zusammen, die dazu führen, dass Bahar Merizadis Zugehörigkeit zum studentischen Feld infrage gestellt wird. Einen möglichen Kontext für die Interpretation des Geschehens liefert sie selbst mit ihrer Vermutung, die anderen könnten ihr unterstellen, sie halte Philosophie für „das leichteste Fach“. Dies verweist darauf, dass der Ruf des Fachs unter den Studierenden und/oder innerhalb der universitären Hierarchie nicht unangefochten ist. Eine mögliche These ist daher, dass sich in den Ausschließungspraxen, die Bahar Merizadi erfährt, der Versuch der dominanten Studierendenfraktion zeigt, die Stellung des Fachs Philosophie in der disziplinären Statushierarchie zu verteidigen bzw. aufzuwerten. Dies geschieht durch Machtkämpfe innerhalb des studentischen Feldes, in denen Studierende, von denen befürchtet wird, dass sie die Machtposition des Fachs (weiter) schwächen können, ausgegrenzt werden (vgl. dazu auch Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2006). Dabei erweisen sich sowohl sexistische als auch rassistische Diskriminierungspraxen offenbar als funktional und legitim.
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Die beschriebene Erfahrung führt im Fall Bahar Merizadi jedoch weder zu einem Fachwechsel, noch erscheint die Position der Biographin im Studium und zur Universität insgesamt als prekär. Es handelt sich hier eher um eine ‚lokale‘, auf das Fach Philosophie begrenzte Ausgrenzungserfahrung. Bahar Merizadi bearbeitet diese einerseits, indem sie enge Beziehungen zu einzelnen Kommiliton*innen knüpft, zu denen sie ein Vertrauensverhältnis aufbauen kann. Andererseits greift sie auf (bereits erprobte) Strategien sozialer Distinktion zurück, indem sie sich mit der Seite der Lehrenden identifiziert und durch Engagement und Leistungen deren Anerkennung sucht – und gewinnt. Zudem lassen sich auch Strategien einer nachträglichen biographischen Bearbeitung identifizieren: Bahar Merizadi zieht Parallelen ihrer Ausgrenzungserfahrungen mit ähnlichen Erfahrungen während der Oberstufenzeit und betont ihre Unabhängigkeit vom Urteil anderer. Diese Strategie der Selbstermächtigung verweist darauf, dass in ihrer biographischen Konstruktion die familial vermittelten Handlungsmaximen Selbstverantwortung und Unabhängigkeit eine große Rolle spielen (vgl. Kap. 11.2.2). Diese werden an dieser Stelle zur biographischen Ressource, mit der die Ausschlusserfahrung bewältigt wird. Es gelingt Bahar Merizadi also, durch spezifische Handlungs- und reflexive Bearbeitungsstrategien ihren Zugehörigkeitsstatus als Studentin zu stabilisieren. Dennoch bleibt ihre soziale Zugehörigkeit zum studentischen Feld im Fach Philosophie prekär. Subtile Marginalisierungserfahrungen werden auch in Cem Keskins Studienerzählung thematisiert. Der Biograph konstruiert sein Lehramtsstudium mit den Fächern Deutsch und Spanisch als Möglichkeit, die eigene Begeisterung für Sprachen und das Schreiben von Texten auch beruflich umsetzen zu können. Die hohe biographische Relevanz des Schreibens zeigt sich darin, dass Cem Keskin sein Lehramtsstudium lediglich als realistische und sichere Alternative zu seinem ‚eigentlichen‘ Berufswunsch präsentiert, als Journalist zu arbeiten. Cem Keskin konstruiert seine soziale Zugehörigkeit als Student somit in erster Linie über die Verbundenheit mit dem Fach Deutsch. Diese Selbstpositionierung wird zwar insofern anschlussfähig, als er in seinem zukünftigen Berufsfeld auf positive Resonanz stößt – er erlebt, dass gerade männliche Lehrer mit Migrationshintergrund an den Schulen ‚begehrt‘ sind und er von den Schüler*innen respektiert und geachtet wird. Bei seinen Kommiliton*innen stößt er jedoch wiederholt an Grenzen der Anerkennung. Cem Keskin bearbeitet diese Erfahrungen unter anderem, indem er sie aus einer reflexiven Distanz betrachtet und als eine interaktive Praxis der Differenzherstellung beschreibt: C: also was ich immer wieder bemerke, ich will dem auch nichts Negatives oder so zuschreiben, aber ich merke halt immer wieder so (1) der Türke der so gut Deutsch spricht, der Türke der so Deutsch spri_ äh - schreibt. Der Türke, also jetzt gerade an der Uni auch ähm, wenn man dann halt so gut Noten bekommt jetzt in Deutsch im Fach Deutsch dann=dann kommen halt so ne Sachen wie echt? Hast du=hast du die Note bekommen? So, wow. So dieses Überrasch_ dieser Überraschungsmoment. Ja, wo ich dann halt auch manchmal dann denke so - gut, du denkst du hast in deinem Kopf diese Stereotypen, du denkst dass das so sein muss denn aber slow down also komm mal wieder runter so wo ich mir das dann manchmal auch denke so, oder mir auch wünsche dass - das halt nicht mehr so dieser Überraschungseffekt ist. Das es halt auch ganz normal ist und äh - dieses – Wow! (lacht) Das ist so ähnlich wie diese Situation - Sie sprechen ja ohne Akzent oder so (Cem Keskin 12/25-35)
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Cem Keskins Studienerfolge im Fach Deutsch werden in der Universität zu einem Anlass für Kommentierung seitens seiner Studienkolleg*innen. Diese äußern sich überrascht über seine mühelose Beherrschung des Deutschen und seine Souveränität beim Verfassen von Texten in deutscher Sprache, die im Übrigen auch institutionell durch gute Noten bestätigt und dadurch ‚beglaubigt‘ wird. Das „Überraschungsmoment“, das Cem Keskin bei den Kommiliton*innen erlebt, steht mit seiner Identifizierung als Migrationsanderer in Verbindung („der Türke der so gut Deutsch spricht“ und „schreibt“). Diese Positionierung wird durch den Sprechakt zugleich aktualisiert und bestätigt. Es findet hier also eine Zuschreibung von kultureller Differenz statt, durch die Cem Keskin ausgegrenzt und seine Selbstpositionierung als angehender Deutschlehrer zurückgewiesen wird. Die beschriebene Situation lässt sich dabei als eine Variante des Othering im studentischen Feld verstehen, mit dem die Grenzen der Zugehörigkeit zu diesem Feld abgesteckt werden und gegenüber Ansprüchen auf Teilhabe von migrantischen Studierenden ‚verteidigt‘ werden. Wenngleich Cem Keskin im Interview bemüht ist, die Relevanz dieser fehlenden Anerkennungserfahrung zu relativieren, zeigt sich doch, dass sie ihm eine Konstruktion fragloser Zugehörigkeit zum studentischen Feld im Fach Deutsch erschwert. 11.5.4 Verknüpfung von Biographie und Studium Paul Mecheril und Birte Klingler (2010) argumentieren, dass eine Voraussetzung dafür, sich im universitären Kontext als zugehörig erfahren zu können, darin liegt, die Universität als einen Ort wahrnehmen zu können, der „sinnvolle Erfahrungen“ (ebd.: 100, Herv. i. Orig.) ermöglicht. Aus einer biographietheoretischen Perspektive zeigt sich, dass dies auch durch biographische Arbeit möglich wird. Darunter verstehe ich in diesem Zusammenhang die Prozesse, in denen die Subjekte die Anforderungen und Möglichkeiten des Studiums mit ihren Ressourcen, Erfahrungen und Zukunftsentwürfen verknüpfen und das Studium dadurch biographisch anschlussfähig machen. Ein wesentlicher Aspekt biographischer Arbeit bei der Bewältigung lebensgeschichtlicher und institutioneller Übergänge ist somit die Herstellung von Kontinuität. Als relevant erweist sich in den untersuchten Studienbiographien in diesem Zusammenhang u.a. die Möglichkeit, im Studium an eigene Wissensressourcen anknüpfen zu können. So spielt z.B. die Verknüpfung eigener Relevanzstrukturen mit Studieninhalten eine wichtige Rolle. Durch die Wahl von Seminaren und von Themen für wissenschaftliche Arbeiten und Prüfungen verknüpfen die Subjekte Studieninhalte mit ihren bisherigen Interessen und machen sie so für sich relevant. Dies zeigte sich etwa im Fall Nuray Coskun, die über ihr „Lieblingsthema“ eine Verknüpfung zwischen ihren in der Schule entwickelten Interessen und dem begonnenen Geschichtsstudium herstellt (vgl. Kap. 7.3.4). Am Beispiel Dilan Karatay wurde gezeigt, dass Studieninhalte auch dann biographische Verknüpfungen ermöglichen können, wenn sie für die Studierenden eine persönliche Relevanz haben (vgl. Kap. 8.4). Die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit Theorien und Forschungen zum Themenfeld Migration, Mehrsprachigkeit und Bildung ermöglicht für einen Teil der Studierenden eine Verknüpfung mit eigenen Erfahrungen und Relevanzen und ermöglicht so die Herstellung biographischer Anschlüsse. Allerdings müssen migrationswissenschaftliche Fragestellungen keineswegs notwendigerweise zu einem
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solchen biographischen Verknüpfungspunkt werden. Vielmehr scheint das Interesse an der Auseinandersetzung mit diesem Themenfeld damit in Zusammenhang zu stehen, inwieweit ‚Migration‘ für die Subjekte überhaupt eine relevante Kategorie der biographischen Selbstkonstruktion darstellt. Auch das Anknüpfen an lebensweltlich vertraute Wissens- und Erkenntniszugänge im Studium stellt einen Modus der Verbindung der eigenen Relevanzstrukturen mit dem Studium dar. Die Studierenden verfügen über sehr unterschiedliche ‚Werkzeuge‘ und Ressourcen, auf die sie in ihrer Studienpraxis zurückgreifen. Diese verweisen immer auch auf die Positionierung der Subjekte im sozialen Raum. Am Beispiel Nuray Coúkun wurde der unmittelbare Nutzen von beiläufig eingeübten wissenschaftlichen Praktiken (Diskutieren soziologischer Texte) im Studium erkennbar (vgl. Kap. 11.1.1). Anna Schuster kann in ihrem Studienfach Textilwissenschaft von (Wissens-)Ressourcen profitieren, die ihr durch die berufliche Tätigkeit ihres Vaters im Textilbereich zugänglich sind (vgl. Kap. 9.3.3). Auch in anderen Fällen wird deutlich, dass die Studierenden sich das Studium erschließen, indem sie an lebensweltliches Wissen und vertraute Formen der Wissenserschließung anknüpfen. Im Fall Meral Yilmaz deutet sich an, dass die Biographin die Praxis der Interpretation religiöser Texte, die ein Element der familialen Alltagskultur darstellt (vgl. Kap. 11.1.2), auch ins wissenschaftliche Studium einbringt. So berichtet sie von ihrem Interesse an verschiedenen „Auslegung[en]“ (37/34) wissenschaftlicher Texte, was die Assoziation mit der Praxis der Interpretation religiöser Texte nahe legt, mit der sie lebensweltlich vertraut ist. In den biographischen Erzählungen zeigt sich also, dass die Studierenden vielfach an lebensweltbezogene sozio-kulturelle Ressourcen und Wissenszugänge anschließen können, deren Relevanz für die Herstellung von Zugehörigkeit zum Studienkontext zum Teil erst bei genauerem Hinsehen erkennbar wird. Das Anknüpfen an lebensweltliche Wissensressourcen und -zugänge ermöglicht es den Studierenden, sich als kompetente Mitspieler*innen in ihrem jeweiligen Studiengebiet zu erfahren. Dies setzt allerdings voraus, dass diese Ressourcen im jeweiligen fachlichen Kontext auch als legitim anerkannt werden. Die Resonanz, die Studierende in ihrem jeweiligen Studienkontext auf ihre Zugänge zu Wissenschaft und ihre kulturellen Praxen der Wissensaneignung erhalten, hängt davon ab, inwiefern diese mit den aktuellen kulturellen Normen und Erwartungen des Studienkontexts korrespondieren. So ergeben sich je spezifische ‚Passungsverhältnisse‘ zwischen den Ressourcen und Aneignungsweisen der Studierenden und den Anforderungs- und Anerkennungsstrukturen des jeweiligen Studienkontexts. Dabei verweisen die Analyseergebnisse darauf, dass die kulturellen Praxen, die als legitim angesehen werden, sowohl fachspezifisch als auch mit den konkreten Bedingungen des lokalen Studienkontexts variieren können. Die institutionellen Kulturen der Anerkennung können dabei – gerade in ‚kleinen‘ Fächern – unter Umständen von einzelnen (Lehr-)Personen abhängig sein, die sich gegenüber den Wissenszugängen und Ressourcen der Subjekte aufgeschlossen zeigen können, oder diese abwerten. Dies bedeutet, dass die Erfahrungen, die Studierende mit der Bewertung ihrer soziokulturellen Ressourcen machen, sowohl von fachlichen Hierarchien im wissenschaftlichen Feld als auch von den Erwartungshaltungen konkreter Lehrender abhängig sind. Die Frage, inwiefern das lebensweltliche Wissen der Studierenden im jeweiligen Feld als legitim gilt oder abgewertet wird, ist deshalb kaum allgemein zu be-
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stimmen oder zu prognostizieren, sondern muss am konkreten Fall rekonstruiert werden. Auch die dominante studentische Fachkultur ist entscheidend dafür, inwiefern bildungsbiographische Dispositionen im Studium anschlussfähig und damit Zugehörigkeitserfahrungen möglich werden. Im Fall Dilan Karatay wurde rekonstruiert, dass Studierende mit ihren biographischen Relevanzen und Erwartungshaltungen in bestimmten Konstellationen nicht immer Anschluss an die lokale studentische Kultur des jeweiligen Fachs finden (vgl. Kap. 8.3.2). Im beschriebenen Fall wird die Erwartungshaltung der Biographin an ein wissenschaftliches Studium in mehrfacher Hinsicht enttäuscht. Dies trifft u.a. für die Erwartungen an ihre Mitstudierenden zu, die aus Dilan Karatays Sicht einen eher hedonistischen Stil pflegen, der mit ihrem Anspruch an ein ernsthaftes wissenschaftliches Studium sowie ihrer politisch engagierten Haltung in einem Spannungsverhältnis steht. Die Studierenden verfügen jedoch auch über Strategien, solche prekären Zugehörigkeitserfahrungen aktiv zu bearbeiten. Dilan Karatay gelingt dies u.a., indem sie fachliche Anknüpfungspunkte sucht, die ihr ein Anknüpfen an ihre Erwartungen und Interessen ermöglichen. Durch ihre Tätigkeit als Tutorin nimmt sie zudem eine veränderte Position im Feld ein und kann sich so in veränderter Form zu ihrem Studienkontext ins Verhältnis setzen.43 In anderen Fällen werden fachkulturelle Anschlussschwierigkeiten – wie im Fall Kerim Özer – dagegen durch einen Wechsel des Feldes ‚behoben‘. Kerim Özer stellt bald nach Studienbeginn fest, dass er sich mit der Fachkultur und dem dominanten (‚ökologisch orientierten‘) Lebensstil der Studierenden in seinem Studienfach Geographie nicht identifizieren kann. Er bearbeitet diese Dissonanzen, indem er sich für einen Studienfachwechsel zum Fach Türkisch (als Unterrichtsfach) entscheidet. Dies lässt sich einerseits als eine Form des Rückzugs in einen fachkulturellen Kontext interpretieren der vor allem Studierende mit familiensprachlichen Türkischkenntnissen anspricht.44 Es verweist möglicherweise auch auf Formen sozio-kultureller Marginalisierung im studentischen Feld des Fachs Geographie. Kerim Özer selbst konstruiert den Fachwechsel allerdings eher als eine Chance, an biographische Ressourcen anzuknüpfen, insofern er sein Interesse an Themen mit Türkeibezug im Studium vertiefen und seine Sprachkompetenzen im Türkischen systematisch ausbauen kann. Dadurch eröffnet der Studienfachwechsel nicht nur soziale Zugehörigkeitserfahrungen, sondern auch einen biographischen Möglichkeitsraum, um sprachliche Kompetenzen und lebensweltlich relevante Wissensbestände zu professionalisieren und diese beruflich anerkennungsfähig zu machen.
43 Das Einnehmen einer veränderten Position im Feld, wie es durch die Aufnahme einer Tutor*innentätigkeit geschieht, stellt auch in anderen Interviews eine Form der Bearbeitung prekärer Zugehörigkeitserfahrungen im studentischen Feld dar. So lässt sich z.B. starke Identifikation mit der Position der Lehrenden (die im Interview mit Bahar Merizadi erkennbar wurde) als eine weitere Variante dieser Strategie interpretieren. 44 Kerim Özer beschreibt den neuen Studienkontext als überschaubaren sozialen Zusammenhang, mit einer geringen Zahl von Studierenden, die meist über eigene oder familiale Bezüge zur Türkei verfügen, und in dem er sich „pudelwohl“ (43/14) fühlt.
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11.5.5 Verknüpfung von Biographie und Berufsentwurf Die biographische Integration des Studiums erfolgt aber auch prospektiv durch die sinnhafte Verknüpfung von Lebenskonstruktion und Berufsentwurf. So wurde am Fall Nuray Coúkun gezeigt, dass die Erzählerin ihrem Studium einen biographischen Sinn verleiht, indem sie das Studium als Möglichkeit deutet, in gesellschaftliche Bereiche und Schlüsselpositionen vorzudringen, die eine Mitgestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse ermöglichen (vgl. Kap. 7.3.3). Sich selbst positioniert sie dabei als ‚Kämpferin‘ und gesellschaftliche Veränderungsakteurin. Mit dieser Positionierung bezieht sich Nuray Coúkun auf Deutungsangebote im aktuellen Diskurs um ‚Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte‘, mit denen sie durch ihr Studium und durch Personen in ihrem lebensweltlichen Umfeld vertraut ist. Zugleich steht ihr berufsbiographischer Selbstentwurf aber in einem biographischen Sinnzusammenhang. Mit ihrer Deutung des Lehramtsstudiums als ‚politisches Projekt‘ knüpft Nuray Coúkun an biographische Ressourcen und Relevanzstrukturen an, die auf die familiale Tradition politischen Engagements verweisen. Die Verbindung von biographischem Orientierungswissen und pädagogischem Berufsentwurf kann dabei als eine Form biographischer Arbeit verstanden werden, die eine Integration des pädagogischen Studiums in die biographische Sinnstruktur ermöglicht. Auch in anderen Fällen ließen sich Varianten der Verknüpfung von biographischem Orientierungswissen und dem beruflichem Selbstentwurf als Pädagogin rekonstruieren. Im Fall Meral Yilmaz fungiert die familial tradierte ‚Doppelorientierung‘ an Religiosität und Bildung als Anschlussstelle für die Verknüpfung von Biographie, pädagogischem Studium und Berufsentwurf. Die Verbindung von Bildungsstreben und religiöser Lebensführung stellt ein zentrales biographisches Orientierungs- und Deutungsmuster in ihrer Lebenskonstruktion dar (vgl. Kap. 11.1.2). Es kennzeichnet auch ihre Studienbiographie. So konstruiert die Biographin ihre Studienzeit als eine Zeit der persönlichen Entwicklung, die ihr sowohl die Vertiefung religiöser Bildung als auch den Gewinn von wissenschaftlichen Erkenntnissen und berufsrelevanten Erfahrungen ermöglicht. Religiöse Bildung und das pädagogische Studium stehen in Meral Yilmaz’ Studienbiographie in einem positiven Wechselverhältnis. So kann sie beispielsweise im Studium von den Erfahrungen ihrer ehrenamtlichen Arbeit beim Bund muslimischer Pfadfinder*innen profitieren. Umgekehrt bringt sie Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie im Studium erwirbt, mit der eigenen religiösen Praxis in Verbindung – das Erlernen der arabischen Sprache (im Rahmen des islamwissenschaftlichen Studiums) wird etwa für das Lesen des Korans genutzt. Die Studienzeit wird von Meral Yilmaz somit als eine Möglichkeit der Verwirklichung ihres ‚hybriden‘ Lebensentwurfs konstruiert: die Vereinbarkeit von religiöser Lebensführung und höherer Bildung. Dies setzt sich auch in ihrem beruflichen Entwurf fort. Gegen Ende ihres Studiums, das sie mit der Familiengründung kombiniert, vollzieht Meral Yilmaz auch den Einstieg ins Berufsleben. Dabei wird ihr biographisches Orientierungsmuster in dieser Doppelorientierung erneut anschlussfähig. Für den beruflichen Einstieg werden ihre Sprachkenntnisse im Türkischen und die Vertrautheit mit der türkischsprachigen Community zu einer Ressource, die es ihr ermöglichen, mit einer Honorartätigkeit in einer Einrichtung der Familienberatung einzusteigen, in der auch ihr Mann tätig ist. Dort wird sie insbesondere in der Begleitung ‚türkischer‘ Familien einge-
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setzt. Sie konstruiert sich als Mittlerin zwischen ihren Klient*innen und öffentlichen Institutionen wie Behörden, Schulen und Ärzten. In dieser Position macht sie Anerkennungserfahrungen, die sie in ihrem biographischen Entwurf bestätigen. M: Das ist auch, also dass man dann auch als Pädagogin anerkannt wird das ist auch schon_ ist auch ein anderes Erlebnis, eine andere Erfahrung. Dass man seinen Abschluss gemacht hat und sobald man sagt ich /(lachend) bin Pädagogin, dann wird man ganz anders aufgenommen/ als äh - wenn man sagt ja ich bin Hausfrau. Ne? I: Mhm, mhm. Von=Von wem anders wahrgenommen? Von welchen M: Mh Einmal von den_ vom Bekanntenkreis, und äh auf der anderen Seite von äh - Behörden und verschiedenen Institutionen. Auch von Ärzten. (Meral Yilmaz 44/31-40)
Durch ihre berufliche Position als Honorarkraft in der Familienberatung erlebt Meral Yilmaz einen Statuswechsel. Der Status der Pädagogin ermöglicht ihr das Anschließen an ihr biographisches Orientierungsmuster und eröffnet einen Raum für eine selbstbewusste Positionierung. Sie kann sich als qualifizierte, ökonomisch unabhängige (muslimische) Frau entwerfen und sich damit von der (inferiorisierten) Position einer nicht erwerbstätigen „Hausfrau“ abgrenzen.45 Die Anerkennungserfahrungen, die Meral Yilmaz als muslimische pädagogisch qualifizierte Fachkraft zuteilwerden, ermöglichen ihr somit die Fortschreibung ihrer hybriden Lebenskonstruktion – auch über das Studium hinaus. Darüber hinaus deutet sie ihre Position als Pädagogin als Möglichkeit, ihren hybriden Lebensentwurf nach außen zu demonstrieren und damit eine gesellschaftliche Wirkung zu erzielen. Dies zeigt sich in der nachfolgend präsentierten Belegerzählung, in der Meral Yilmaz über eine Situation in ihrem beruflichen Alltag erzählt, in der sie gemeinsam mit ihrem Vorgesetzten eine (türkischsprachige) Mutter mit ihrem Kind zu einem Gespräch mit dem Rektor der Schule begleitet. M: einmal äh bin ich mit einem Kind und der Mutter bin ich zur Schule gegangen, und wir hatten ein Gespräch mit dem Direktor. Und der Direktor sagte, ach die Schwester ist auch mitgekommen, also er hat gar nicht gedacht, dass ich die - Betreuerin bin und hat sofort vermutet, dass ich zur Familie gehöre - mein Koordinator war auch dabei und der sagte, das ist nicht die Schwester, das ist unsere pädagogische /(lachend) FACHKRAFT/! Und ich so uups, (lacht) das war was Schönes (lacht) Also - nega_ äh, auf der einen Seite ähm - so wieder das klischeehafte - so, ah, eine Frau mit Kopftuch und so - ist ja klar - und äh - und dann äh sofort diese äh - Zuweisung äh dass man ne Fachkraft ist. Das ist schon mal was anderes. Also - das ist ein schönes Gefühl. Und auf der anderen Seite auch äh in de_dass man sieht, dass man zeigen kann äh - dass wir diesem Klischee nicht passen äh anpassen, dass=das=dass es nicht so ist. Dass das Kopftuch kein Hindernis ist oder so - Ja. (Meral Yilmaz 44/41-45/11)
45 Dass die Figur der „Hausfrau“ hier als Abgrenzungsfolie dient, lässt sich einerseits mit der Bedeutung dieser Konstruktion im (sozialpädagogischen) Diskurs über Migrantinnen erklären (vgl. dazu Huth-Hildebrandt 2001: 50) Andererseits hat sie für die Biographin auch eine persönliche Relevanz, insofern als sie nach der Geburt ihrer Kinder vorübergehend eigene Erfahrungen mit dieser Rolle gemacht hat.
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In der geschilderten Szene wird die stereotype Erwartung des Rektors irritiert, der sie für „die Schwester“ des begleiteten Kindes hält, die – möglicherweise als Dolmetscherin – Mutter und Kind in die Schule begleitet. Durch die Intervention ihres Vorgesetzten wird klargestellt, dass es sich bei Meral Yilmaz um „unsere pädagogische Fachkraft“ handelt. Damit wird sie nun – wenn auch in einem paternalistischen Duktus – als qualifizierte Professionelle positioniert. Die Mehrdeutigkeit dieser Episode wird von Meral Yilmaz selbst reflektiert: Dass die Intervention des Vorgesetzten überhaupt notwendig wird, macht einerseits die Alltagspräsenz unhinterfragter Stereotype über religiös gekleidete Frauen deutlich („so, ah, eine Frau mit Kopftuch und so - ist ja klar“). Eine religiös-muslimische Lebensführung, die durch die Kleidung nach außen erkennbar ist, und die Ausübung einer qualifizierten Erwerbstätigkeit werden im dominanten migrationsgesellschaftlichen Diskurs als Gegensätze konstruiert. Frauen, die sich als sichtbar religiös präsentieren, werden in die Sphäre des Privaten verwiesen. Diese Zuweisung wird auch in der geschilderten Gesprächssituation reproduziert. Auf der anderen Seite enthält Meral Yilmaz Positionierung als pädagogisch qualifizierte muslimische Fachkraft aber auch das Potenzial, diese gängigen Typisierungen zu irritieren. Sie kann dem Rektor – und damit indirekt auch der gesellschaftlichen Öffentlichkeit – demonstrieren, dass muslimische Religiosität und qualifizierte Erwerbstätigkeit sich keineswegs ausschließen. Durch ihre Deutung eignet sich die Biographin dieses ermächtigende Potenzial ihrer Position als pädagogische Professionelle mit Migrationshintergrund an und nutzt es für die öffentliche Demonstration von Handlungsspielräumen. Die beiden Fallbeispiele machen deutlich, dass es den Subjekten auf unterschiedliche Weise gelingt, biographische Verknüpfungen zwischen den eigenen Lebenskonstruktionen und der beruflichen Position als angehende Pädagog*innen herzustellen. Dabei spielen eigene und familial tradierte Orientierungen und Werthaltungen eine Rolle, die sie durch ihren beruflichen Entwurf weiterentwickeln. Auf diese Weise werden neue berufliche Selbstentwürfe kreiert. Die Erzählungen von Meral Yilmaz und Nuray Coúkun verbindet trotz der Unterschiedlichkeit der biographischen Entwürfe der Anspruch der Biograph*innen, in der Position als Pädagogin gesellschaftliche Verhältnisse in der Migrationsgesellschaft mit zu formen und zu gestalten. Im Beispiel Nuray Coúkun wird ein Anspruch auf Mitgestaltung auf Ebene der Bildungsinstitutionen formuliert; im Beispiel Meral Yilmaz wird eher die symbolische Wirkungskraft entdeckt, die mit der Positionierung als muslimische „pädagogische Fachkraft“ und der öffentlichen Repräsentation des eigenen Lebensentwurf verbunden ist. In den Erzählungen werden aber auch Grenzen solcher sozialen Gestaltungsansprüche deutlich. Zwar verbinden die Subjekte ihre ersten Erfahrungen im beruflichen Feld – oft im Rahmen von studienintegrierten Praktika – vielfach mit Aufwertungserfahrungen. Sie erleben, dass ihnen als Pädagogin/Pädagoge ‚mit Migrationsgeschichte‘ bestimmte Wissensressourcen und Handlungskompetenzen zugeschrieben werden, die im Feld ‚gefragt‘ sind (vgl. dazu die Fallrekonstruktion Anna Schuster). Abgesehen von der Problematik der damit einhergehenden Essentialisierungen wird in diesen Situationen aber auch erkennbar, dass nicht alle beruflichen Entwürfe und Selbstpositionierungen gleichermaßen anerkannt sind. Es scheinen lediglich bestimmte Aspekte der Rolle, die im Diskurs um Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ stark gemacht werden, anerkennungsfähig zu sein. Für den Kontext Schule
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deutet sich an, dass Lehrkräfte ‚mit Migrationsgeschichte‘ als Berater*innen und Vermittler*innen zwischen Schule und Elternhaus ‚gern gesehen‘ sind. Wenn sie jedoch – wie im Fall Nuray Coúkun – eine Position als change agents beanspruchen, indem sie grundlegende Organisationsprinzipien der Schule infrage stellen, stoßen sie in der beruflichen Praxis schnell an Grenzen. Sie sind mit ihren Veränderungsambitionen tendenziell allein gelassen, finden nicht immer Mitstreiter*innen und stoßen mit Fragen und Positionen, die eine Kritik an Organisationsstrukturen der Schule beinhalten, die eine gleichberechtigte Teilhabe aller Schüler*innen einschränken, auf Abwehr. Auch in Meral Yilmaz´ Geschichte zeigen sich Grenzen der Anerkennung ihrer beruflichen Selbstpositionierung, die nicht allein in den Strukturen des beruflichen Feldes virulent werden. Meral Yilmaz´ Selbstentwurf als pädagogisch qualifizierte muslimische Fachkraft stößt zwar im Feld der interkulturellen Familienhilfe, wo sie als Honorarkraft in einer Einrichtung arbeitet, auf positive Resonanz. Allerdings kann Meral Yilmaz nicht damit rechnen, dass ihr Anspruch der Verbindung von (sichtbarer) Religiosität und qualifizierter Erwerbsarbeit als Pädagogin auch in anderen beruflichen Feldern fraglos anerkannt wird. Dies wird in der folgenden Sequenz erkennbar, in der sie von einer städtischen Podiumsdiskussion zum Thema „Frauen mit Kopftuch im Berufsleben“ berichtet, an der sie als (ehrenamtliche) Mitarbeiterin des muslimischen Jugendzentrums beteiligt war. M: Und da hatten wir ein Gremium mit dem Bürgermeister aus C-Stadt und - äh ich habe das Jugendzentrum vertreten, dann haben - noch ein paar andere Damen mit Kopftuch die äh islamischen Institutionen vertreten und äh - da habe ich gesehen wie äh - problematisch es eigentlich für - Frauen mit Kopftuch äh immer noch ist, einen Beruf zu bekommen, allein schon in_ äh wenn der Bürgermeister da äh, seine Bedenken geäußert_also ich hab das_ das hat mich total schockiert als ich vom Bürgermeister so da diese Bedenken gehört hab wie, ja äh wie wollen Sie denn mit Kopftuch arbeiten? Und solche Sachen ne? (Meral Yilmaz 18/18-24)
Der Bürgermeister wird als Vertreter des dominanten Diskurses positioniert, dem eine besonders mächtige Sprecherposition im lokalpolitischen Kontext und politischer Einfluss zukommt. Dass ausgerechnet er „Bedenken“ gegenüber der Kombination aus Kopftuch und Beruf äußert, macht die ungleichen Machtverhältnisse deutlich. Meral Yilmaz und ihre Kolleginnen werden damit konfrontiert, dass Lokalpolitik wenig Interesse am Abbau von Diskriminierung und der Verbesserung der beruflichen Chancen von muslimischen Frauen hat, die ein Kopftuch tragen. Die Frauen sind in dieser Situation in der unterlegenen Position; sie verfügen über keine diskursmächtige Position und können nur begrenzt politischen Einfluss nehmen, um an der Chancenstruktur für Frauen mit Kopftuch im Beruf etwas zu verändern. Spätestens seit der Podiumsdiskussion antizipiert Meral Yilmaz damit die möglichen Probleme im beruflichen Feld und zieht daraus Konsequenzen für ihre Bewerbungsstrategie. Dies zeigt sich darin, dass sie bei ihrem ersten telefonischen Gespräch mit einem potenziellen Arbeitgeber direkt ankündigt, dass sie ein Kopftuch trägt: M: Und - ich hab aber auch am Telefon erwähnt dass ich eine Frau mit Kopftuch bin, weil äh das ist ja in der Regel auch manchmal problematisch wenn äh=wenn=sobald die Frau ein Kopftuch trägt, äh - ist sie meistens mit Ablehnung konfrontiert und äh, das habe ich auch
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gesagt, und äh mein Koordinator sagte mir am Telefon, ach Frau Yilmaz, /(lachend) solange Sie uns nicht zwingen das Kopftuch zu tragen, ist das überhaupt kein Problem!/ (...) und äh - ja und das war auch der Grund warum ich dann direkt gesagt habe, ich bin mit Kopftuch. Weil ich jetzt äh nicht mit Ablehnung konfrontiert_ wenn=wenn die das nicht möchten, dann sag ich das_ dann sollen die das gleich sagen, ne? (Meral Yilmaz 18/17-29)
Indem sie in Bewerbungen künftig „direkt“ sagt, dass sie ein Kopftuch trägt, wählt die Biographin eine Strategie der Prävention, um sich vor Enttäuschungen und Ablehnung potenzieller Arbeitgeber*innen zu schützen. Sie erspart sich auf diese Weise, bei der ersten persönlichen Begegnung mit möglicher Ablehnung umgehen zu müssen. Zugleich zeigt sich darin, dass Erfahrungen mit Grenzen der Anerkennung im beruflichen Feld nicht nur situativ bedeutsam für das Erleben von Handlungsmacht sind. Sie präformieren auch die Antizipation künftiger Situationen und nehmen Einfluss auf die Erwartungshaltungen, Handlungsstrategien und Selbstpositionierungen der Subjekte. Die Beispiele machen somit einerseits die Bedeutsamkeit biographischen Orientierungswissens für die berufsbiographische Konstruktion deutlich. Andererseits zeigen sie, dass die Wirksamkeit dieser berufsbiographischen Selbstentwürfe nicht selbstverständlich gegeben ist, sondern auf Anerkennungsstrukturen im jeweiligen Feld angewiesen ist und sich ihre Anschlussfähigkeit vor diesem Hintergrund immer wieder aufs Neue erweisen muss. Wenngleich sich die Relevanz biographischen Wissens für die berufsbiographischen Entwürfe der Subjekte zeigt, so geht mit der eigenen Erfahrungsgeschichte nicht ‚automatisch‘ auch eine Sensibilisierung für Diskriminierung und eine diskriminierungskritische Reflexion eigenen pädagogischen Handelns in Differenzverhältnissen einher. Vielmehr wird erkennbar, dass die Positionierung als gesellschaftliches Vorbild und Beispiel für ‚Bildungserfolg‘ und ‚gelungene Integration‘ die Gefahr mit sich bringt, individualisierenden Deutungen von ‚Bildungserfolg‘ und der Reproduktion von Defizitdiskursen über migrantische Schüler*innen und ihre Eltern Vorschub zu leisten. Beispielsweise beschreibt Cem Keskin, dass er sich während seines Schulpraktikums seiner besonderen Vorbildrolle als männliche Lehrkraft mit türkischem Migrationshintergrund bewusst wird. Dabei stellt er einerseits Gemeinsamkeiten zu seinen (männlichen, ‚türkischen‘) Schülern her und sieht sich potenziell auch in der Rolle als Mittler zwischen Schule und den Elternhäusern dieser Schüler.46 Gleichzeitig zeichnet er aber ein defizitorientiertes Bild ihrer Familien.
46 Hier zeigt sich die Relevanz geschlechterbezogener Differenzverhältnisse und -diskurse dafür, wie die Subjekte ihre Vorbildrolle ausfüllen und entwickeln. So hebt Cem vor allem hervor, dass es ihm gelingt, im Unterricht den Respekt männlicher türkischer Schüler zu gewinnen, die er als „Problemschüler“ (27/26) bezeichnet. Dagegen hebt Bahar hervor, dass sie aufgrund ihres Modebewusstseins insbesondere von Schüler*innen (‚mit‘ und ‚ohne‘ Migrationsgeschichte) als Identifikationsfigur wahrgenommen wird. Gemeinsam ist den Beispielen die Bedeutung der eigenen Bildungserfolge für die Selbst- und Fremdpositionierung als Vorbild.
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C: Also braucht man auch sich nicht wundern also - das ist auch bei vielen Leuten nicht so dass die sich nicht integrieren wollen, sondern dass einfach diese Basis gar nicht da ist. Natürlich gibt es auch viele die sich nicht integrieren wollen klar. Aber - es gibt auch viele die sich integrieren wollen aber das ist einfach nicht ähm - da ist keine Basis einfach. Die wissen gar nicht wie und wo und was und - das ist alles ein bisschen schwierig also das ist nicht so leicht. Das ist nicht so mit_ dass man sagen kann die wollen sich nicht integrieren und das klappt nicht sondern da sind viele Sachen viele Faktoren so. Ich weiß es ja auch und ich kenne ja auch die Tradition und alles und=und - das ist halt schwer. (Cem Keskin 28/13-21)
Cem Keskin grenzt sich hier von der Zuschreibung ab, dass schulische Probleme migrantischer Schüler*innen auf ihre mangelnde Integrationsbereitschaft zurückzuführen seien und sieht den Grund vielmehr in den fehlenden Ressourcen in den Familien. Die Bedeutung der Bildungsinstitutionen und des Handelns von Lehrkräften für die Verteilung von Bildungschancen bleiben hingegen unthematisiert. Eine Variation des gleichen Phänomens zeigt sich in der nachfolgenden Sequenz aus dem Interview mit Bahar Merizadi: B: Also ich glaub auch dass es ähm - auch Lehrer mit Migrationshintergrund - auch ne große Vorbildfunktion spielen. Weil - wenn wir jetzt das Thema Sarrazin - uns mal anschauen mit Integration - ich mein - ich bin nicht hinter dem was er sagt, ich steh da nicht hinter. Ähm - das ist für mich eigentlich keine wissenschaftliche Arbeit was er da abgeliefert hat und wie er das geäußert hat war sehr sehr rassistisch. I: Mhm. B: Letzten Endes hat er aber irgendwo recht - muss man ja sagen. Also es ist ja so dass viele viele Ausländer - sich nicht bilden - und viele viele zur Kriminalität halt - abschweifen sag ich mal. Liegt aber auch dadurch zusammen, dass Du zum Beispiel diese sozialen Brennpunkte hast, dass Du diese Stadtteilschulen hast und - und dass Du vielleicht den falschen Umgang hast und dass Deine Eltern halt nicht sich integrieren weil sie nicht die Sprache sprechen oder oder. Also so wie er das ausgedrückt hat, hat er echt Unrecht, aber wenn man so zwischen den Zeilen liest - es ist ja leider so. (Bahar Merizadi 61/18-33)
Die Äußerungen Thilo Sarrazins werden in dieser Argumentation zwar als unwissenschaftlich und rassistisch gewertet, gleichzeitig grenzt Bahar Merizadi sich mit ihrer eigenen Argumentation nicht klar dagegen ab, sondern reproduziert Elemente des Diskurses, indem sie die Verantwortung für nicht ‚gelungene Integration‘ an die Subjekte und ihre Eltern delegiert. Die Rolle der gesellschaftlichen Institutionen, insbesondere des Bildungssystems, für die ‚Integration‘ migrantischer Schüler*innen wird auch hier kaum reflektiert bzw. bleibt diffus. Die Beispiele zeigen, dass Phänomene ungleicher Bildungsbeteiligung und -erfolge in der Migrationsgesellschaft vor dem Hintergrund der eigenen Bildungsgeschichte und unter Bezugnahme auf den gesellschaftlich-politischen Integrationsdiskurs gedeutet werden. Während in einigen Interviews kritische Bezugnahmen auf diesen Diskurs erkennbar werden, so gestaltet sich die eigene Positionierung in anderen Interviews als Drahtseilakt zwischen der versuchten Abgrenzung und gleichzeitigen Affirmation hegemonialer integrationspolitischer Deutungsangebote, nach denen Erfolg und Scheitern im Bildungssystem in erster Linie eine Frage des Integrationswillens und/oder der elterlichen Ressourcen seien. Im Schulsystem marginalisierte
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Schüler*innen und ihre Herkunftsmilieus werden in diesen Argumentationen dabei tendenziell als ‚Andere‘ des eigenen ‚Bildungs- und Integrationserfolgs‘ gesehen. Die Beispiele zeigen, dass die Bezugnahme auf die diskursiv angebotene Position als Role Model aufgrund eigener oder familialer Migrationserfahrungen nicht per se mit einer diskriminierungskritischen professionellen Perspektive auf Fragen von Migration und Bildung korrespondiert. Für die Entwicklung ihrer berufsbiographischen Entwürfe und ihres Handlungs- und Deutungswissens als angehende Pädaog*innen sind die Subjekte vielmehr auf Reflexionsmöglichkeiten und die Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien angewiesen, die ihnen alternative Deutungen ihrer Erfahrungen jenseits des hegemonialen Integrationsdiskurses ermöglichen. Dies ist jedoch offensichtlich noch immer kein selbstverständlicher Bestandteil der pädagogischen Ausbildung. Dass die Reflexion eigenen Erfahrungswissens durchaus auch ein kritisches Potenzial haben kann, zeigt sich in Yanna Galanis´ Erzählung. Für sie wird ihre eigene Erfahrung als Schülerin, am Ende der vierten Klasse keine Gymnasialempfehlung erhalten zu haben, zum Anlass für eine antizipatorische Auseinandersetzung mit ihrer künftigen Rolle als Grundschullehrerin und ihrem professionellen Handeln an dieser Entscheidungsstelle: Y: Ähm - was die Lehrerin damals zu meinen Eltern gesagt hat, Yanna hat nach vier Jahren immer noch nicht kapiert dass sie in die Schule geht und nicht zum Kin=zum Kin=zum Spielen hierhin kommt. Ja, da war ich wohl n Spätzünder. Uund ähm - aber ich m_ mit zehn kann man nicht viel ma_ kann man nicht viele - oder große - Aussagen machen. Es - das ist das was ich halt auch so - schwer finde in dem Beruf in den ich dann auch einsteigen werde, mit zehn dann zu sagen - du du du - dahin, und du du du - dahin. Und das ist halt schon - ich finds zu früh, ich finde das System ja dann a=auch nicht gut. So wies gerade ist das dreigliedrige. Ja, das find ich natürlich sehr schade dass es hier in Deutschland so ist aber ähm - ich hoffe dass ich dann irgendwie trotzdem - das irgendwie gut - hinkriege. (3) Also mein Plan ist die meisten Kinder aufs Gymnasium zu schicken. Nur damit sie halt n Türchen offen haben. (Yanna Galanis 16/35-17/6)
Hier werden eigene Diskriminierungs- und Ungerechtigkeitserfahrungen in der Schule zu einem Bezugshorizont für den Entwurf alternativen Handlungsstrategien. Aus der Gegenwartsperspektive der Interviewten hat sich die der damaligen Übergangsempfehlung ihrer Grundschullehrerin als falsch erwiesen – die Vier in Mathematik hat nicht zu dauerhaften Schwierigkeiten in der Schullaufbahn geführt und die Biographin auch nicht daran gehindert, Mathematik im Rahmen des Lehramtsstudiums später erfolgreich zu studieren. Yanna Galanis nimmt eine alternative Deutung der Situation vor – kindliche Entwicklungsverläufe gestalten sich individuell verschieden und folgen einer eigenen zeitlichen Logik („Spätzünder“). Damit verbindet sich auch eine Kritik an Übergangsempfehlungen im Allgemeinen, die zu einem institutionell festgelegten Zeitpunkt getroffen werden muss. Die eigene Erfahrung wird zum Bezugspunkt für die Reflexion ihrer eigenen zukünftigen professionellen Rolle und deren Ausgestaltung: Sie plant, die Position als Gatekeeperin im Sinne größtmöglicher Chancen für alle Kinder zu nutzen. Dabei bleibt ihr Entwurf allerdings allein auf das Ausnutzen eigener Handlungsspielräume fokussiert und das eigene Handeln wird als unabhängig von institutionellen Zwängen und Vorgaben imaginiert.
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11.5.6 Zusammenfassende Reflexion Ein zentrales Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit richtete sich auf die Erfahrungen der Studierenden im Kontext Hochschule und deren biographische Verarbeitung. In den Fallrekonstruktionen wurde beleuchtet, wie die Subjekte das Studium mit ihren biographischen Ressourcen und ihren bisherigen Erfahrungsgeschichten verknüpfen und welche Zugehörigkeitserfahrungen sie im wissenschaftlichen Feld und in ihren jeweiligen Studienkontexten machen. Aus der Perspektive individueller Studienbiographien wird erkennbar, dass sich Zugehörigkeit und Marginalisierung im sequenziellen Zusammenspiel biographischer und institutioneller Bedingungskonstellationen konstituieren. Die Studierenden machen ihre Erfahrungen mit der Universität in je konkreten fachlichen und sozialen „Handlungsumwelten“ (Dausien 1996), die unterschiedlich offen und anschlussfähig für ihre biographischen Ressourcen und Erwartungshaltungen sind. Zugehörigkeitsverhältnisse formieren sich im Verhältnis der biographischen Dispositionen oder des biographischen Habitus der Individuen und ihrem jeweiligen Studienkontext. Dies macht es möglich, dass Subjekte, die nicht der Figur des „Normalstudenten“ aus bürgerlichem Elternhaus entsprechen und andere Erfahrungspotenziale mitbringen, in bestimmten Bereichen des Hochschulsystems durchaus erfolgreich partizipieren und sich als zugehörig erfahren können. Dagegen stellen sich in anderen Fällen Konstellationen her, die zur Marginalisierung und/oder ‚Selbstausgrenzung‘ bestimmter Gruppen von Studierenden führen. Auch Subjekte aus Familien mit akademischen Vorerfahrungen sind deshalb nicht davor gefeit, ihre Zugehörigkeit zu ihrem fachkulturellen Studienkontext als prekär zu erleben – sei es, wie im Beispiel Dilan Karatay, aufgrund der Diskrepanz zwischen den Erwartungen an ein universitäres Studium und der studentischen Fachkultur sowie den Bedingungen des modularisierten Studiums, oder aufgrund von Differenzierungspraktiken und Ausgrenzungsmechanismen im studentischen Feld, durch die Zugehörigkeitsansprüche mehr oder weniger subtil infrage gestellt werden, wie im Beispiel Bahar Merizadi gezeigt wurde.47 Erfahrungen sozialer Fremdheit im Studium sind – wie im Beispiel Alicja Pajak deutlich wurde – mit dem ‚sozialen Hintergrund‘ und der fehlenden Vertrautheit der Studierenden mit dem universitären System im Einzelfall kaum ausreichend erklärt. Vielmehr zeigt sich, dass für das Verstehen von Ein- und Ausschlussprozessen auch das Zusammenspiel von biographischen Dynamiken mit den jeweiligen institutionellen Logiken und Bedingungen betrachtet werden muss. Im Fall Alicja Pajak stehen diese biographischen Dynamiken in Zusammenhang mit einer Migrations- und Aufstiegsgeschichte, die spezifische Bedingungskonstellationen und Möglichkeitsräume für die Bildungsbiographie erzeugt. Dennoch ist die biographische Verlaufskurvendynamik in diesen Bedingungen nicht unvermeidlich angelegt, sondern ergibt sich erst durch die prozessuale Verkettung verschiedener Ereignisse und die Art und Weise, wie diese angeeignet und biographisch verarbeitet werden. Die Erzählungen machen somit sichtbar, dass Studienverläufe und -erfahrungen der Subjekte durch die
47 Der Frage, inwiefern systematische Unterschiede der Fachkulturen eine Rolle dafür spielen, wie inklusiv oder geschlossen diese sind, und welche Bedeutung lokale studentische Kulturen haben, wäre eine genauere Untersuchung wert.
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jeweilige bildungsbiographische Ausgangslage nicht determiniert sind, sondern sich prozesshaft und dynamisch gestalten. Dabei sind Wirksamkeits-, Anerkennungs- und Unterstützungserfahrungen, die die Studierenden während des Studiums machen, entscheidend. So wird in mehreren Erzählungen deutlich, dass Ermutigung und Anerkennung, die die Studierenden von einzelnen Lehrkräften und Professor*innen erhalten, zum Abbau von Unsicherheiten beitragen und Wirksamkeitserfahrungen ermöglichen können, die eine nachhaltige Bedeutung für die Studienbiographie und die Bindung an den Studienkontext haben können. Ähnliches gilt für Mitstudierende, die als biographische Mittler*innen den Zugang zum Universitätsbetrieb erleichtern und die Herstellung neuer sozialer Bindungen fördern können. Aber auch umgekehrt gilt, dass biographische Ereignisse – etwa die Geburt eines Kindes – oder unvorhergesehene Zäsuren (z.B. eine schwere Erkrankung) in die Studienbiographie intervenieren und zu Unterbrechungen führen können. Mit solchen Diskontinuitäten sind besondere Herausforderungen verbunden, und sie erfordern von den Individuen erhebliche psychische (und physische) Anstrengungen, um am Projekt Studium festzuhalten und es – möglicherweise unter langfristig erschwerten Bedingungen – fortzuführen. Auf diese Weise können sich die jeweiligen Bedingungskonstellationen für das Studium im Verlauf der Studienbiographie erheblich verändern. Um auch unter schwierigen Bedingungen am Studium festzuhalten, sind familiale Unterstützungsstrukturen, aber auch flexible institutionelle Regelungen, die den Wiedereinstieg erleichtern, entscheidende Ressourcen. Die Analyseergebnisse zeigen überdies, dass Zugehörigkeitserfahrungen und -verhältnisse in bildungsinstitutionellen und beruflichen Handlungsfeldern nicht als in sich konsistente und eindeutige „ja-nein-Phänomene“ (Mecheril 2003) konzipiert werden können, sondern eher als in sich uneinheitliche Relationierungen zwischen biographischen Subjekten und den je konkreten (fachlichen und sozialen) Studienkontexten. Diese bilden je spezifische Voraussetzungen bzw. je konkrete Möglichkeitsräume für die biographischen Ressourcen und aktuellen Dispositionen der Subjekte und ihre Zugehörigkeitsarbeit. So machen Studierende in unterschiedlichen fachkulturellen und sozialen Kontexten zeitlich simultan durchaus verschiedene Zugehörigkeitserfahrungen. Dies gilt für Lehramtsstudierende in besonderem Maße, insofern sie ihr Studium in verschiedenen Fachkontexten absolvieren. Erfahrungen prekärer Zugehörigkeit müssen nicht das Verhältnis der Subjekte zum universitären Kontext insgesamt bestimmen, sondern können partikular sein. Dies bedeutet, dass auch mit prekären Zugehörigkeitserfahrungen nicht automatisch verlaufskurvenförmige Prozesse in der Studienbiographie einhergehen müssen. Zugehörigkeitsverhältnisse zwischen Subjekten und bildungsinstitutionellen Kontexten sind zudem nicht als statische Gegebenheiten zu verstehen, sondern als wandelbare biographische Konstruktionen, als Produkte individueller Biographisierungsprozesse. Die Beispiele zeigen, dass das Studium in die biographische Sinnkonstruktion integriert wird, indem die Subjekte Angebots- und Anforderungsstrukturen des Studiums mit ihrem biographischen Orientierungswissen und ihren beruflichen Entwürfen verknüpfen. Zudem sind Erzählungen über Zugehörigkeitsverhältnisse selbst ein Medium der Herstellung von Zugehörigkeit. Im Sprechen über das Studium setzen sich die Subjekte in u.U. veränderter Form zum Kontext Universität ins Verhältnis. Zugehörigkeitsverhältnisse werden in den Erzählungen insofern nicht nur repräsentiert, sondern auch konstruiert.
12. Schlussbetrachtung
Den Ausgangspunkt für die vorliegende Studie bildeten die aktuellen Diskussionen über Bildungserfolge in der Migrationsgesellschaft (Kap. 2) sowie über Studierende und pädagogische Professionelle ‚mit Migrationsgeschichte‘ (Kap. 3 und 4). Vor diesem Hintergrund bezog sich diese Untersuchung auf biographische Konstruktionen von Pädagogik- und Lehramtsstudierenden im Kontext von Migrationsprozessen und gesellschaftlichen Differenzverhältnissen. Es wurden Bildungsverläufe und -prozesse sowie die Zugehörigkeitsverständnisse der Subjekte einzelfallbezogen und vergleichend rekonstruiert. Ein besonderes Augenmerk galt der Bedeutung des (pädagogischen) Studiums in den Bildungsgeschichten und für die biographischen Zugehörigkeitskonstruktionen der Studierenden. Dabei wurde ein Forschungszugang gewählt, der biographietheoretische Perspektiven auf Prozesse der Erfahrungsbildung und -transformation mit einer zugehörigkeitstheoretischen Sicht auf Subjekt-Kontext-Relationierungen verbindet (Kap. 5). Die Lebenserzählungen wurden damit als zeitlich geschichtete Verhältnis-Setzungen der Subjekte zu bildungsrelevanten Kontexten analysiert, die in der biographischen Konstruktion miteinander verknüpft werden. Dabei war die Annahme grundlegend, dass Bildungskontexte nicht unabhängig von gesellschaftlichen Machtverhältnissen zu denken sind und sie den Subjekten jeweils unterschiedliche Zugehörigkeitserfahrungen und Positionierungen ermöglichen. Viele Erkenntnisse, die sich im Zusammenspiel dieser theoretischen Perspektive mit dem empirischen Material ergaben, sind bereits in den Einzelfallrekonstruktionen sowie im vorangegangenen fallvergleichenden Teil der Arbeit formuliert worden. Abschließend sollen einige der übergreifenden Ergebnisse der Studie resümiert, zu den eingangs aufgeworfenen Fragen (Kap. 1 und Kap. 5.4) in Beziehung gesetzt und nach ihren Erträgen für den Stand der Diskussion befragt werden. Dabei werden auch neue, offene Fragen und Forschungsdesiderate markiert und mögliche praxisrelevante Konsequenzen diskutiert. Da sich das Erkenntnisinteresse der vorliegenden Studie auf mehreren Ebenen bewegt und die Thematik der Arbeit an verschiedene fachliche Diskussionsstränge anschließt (Teil I), erfolgt diese Reflexion in mehreren Schritten: Zunächst werden die Ergebnisse der Analyse unter dem Aspekt von Bildungsteilhabe im Kontext (migrations-)gesellschaftlicher Differenzverhältnisse zusammengefasst und reflektiert (Kap. 12.1). Im Anschluss daran werden noch einmal zentrale Aspekte der bildungsbiographischen Konstruktionen resümiert (Kap. 12.2).
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UND THEORETISCHE
R EFLEXION
Danach gehe ich auf die Bedeutung des Studiums in der biographischen Prozessstruktur ein (Kap. 12.3) und diskutiere anschließend mögliche Konsequenzen für den Umgang mit Diversität im Hochschulbereich (Kap. 12.4). Im nächsten Schritt werden die Ergebnisse im Hinblick auf die Frage nach den Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen (Pädagogik-)Studierender im migrationsgesellschaftlichen Kontext zusammengefasst (Kap. 12.5). Anschließend werden die Ergebnisse auf die Diskussion um Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ rückbezogen (Kap. 12.6). Zuletzt wird der theoretischmethodologische Zugang der Studie noch einmal reflektiert (Kap. 12.7).
12.1 Z UR D ISKUSSION UM B ILDUNGSTEILHABE IM K ONTEXT ( MIGRATIONS -) GESELLSCHAFTLICHER D IFFERENZVERHÄLTNISSE Eine allgemeine Aufmerksamkeitsrichtung der vorliegenden Arbeit richtete sich auf die Bildungswege und -erfahrungen von Studierenden vor dem Hintergrund (migrations-)gesellschaftlicher Differenz- und Ungleichheitsverhältnisse. Im Rahmen vergleichender large-scale-Analysen der quantitativ ausgerichteten Bildungs- und Ungleichheitsforschung werden seit einigen Jahren immer wieder neue Evidenzen der ungleichen Bildungsbeteiligung und -erfolge entlang sozialer, natio-ethno-kultureller und geschlechterbezogener Differenzlinien erbracht. Diese empirischen Analysen basieren in der Regel auf hoch aggregierten Daten über die sozialen ‚Herkunftsbedingungen‘ und die Bildungslaufbahnen der untersuchten sozialen Gruppen. Bildungsungleichheiten kommen hier meist in Gestalt von Korrelationen zwischen sozialen ‚Merkmalen‘ und ausgewählten Aspekten von Bildungslaufbahnen zum Ausdruck.1 Die konkreten Konstellationen und Prozesse, in denen sich Ein- und Ausschlüsse in Bildungsbiographien herstellen, und ihre Verknüpfung mit sozialen Differenz- und Ungleichheitsverhältnissen bleiben hingegen weitgehend unterbeleuchtet (vgl. Lange-Vester/Teiwes-Kügler 2006: 55; Büchner 2006: 37). Bisweilen ergibt sich deshalb der Eindruck, als bestehe ein kausaler Zusammenhang zwischen der sozialen Herkunft und dem ‚Migrationshintergrund‘ von Schüler*innen und Studierenden sowie deren Bildungs(miss)erfolgen. Die Bildungswege von Subjekten, die in standardisierten Untersuchungsdesigns entlang der ‚Merkmale‘ ‚Migrationshintergrund‘ und ‚niedriger sozio-ökonomischen Status‘ typisiert werden, scheinen durch diese sozialen Herkunftsbedingungen gewissermaßen schon schicksalhaft
1
Oftmals wird mit dem an Raymond Boudon (1974) anknüpfenden Konzept sekundärer „Herkunftseffekte“ argumentiert, demzufolge Bildungsentscheidungen, die im Verlauf der Schullaufbahn von Eltern (und Kindern) entlang rationaler Kosten-Nutzen-Abwägungen getroffen werden, und die je nach sozio-ökonomischem Status und/oder Bildungsstand der Eltern unterschiedlich ausfallen, maßgeblich für Bildungsungleichheiten verantwortlich seien. Auch zum Bourdieu’schen Konzept des kulturellen Kapitals werden Bezüge hergestellt. Kramer (2011) kritisiert dabei, dass die Operationalisierung des kulturellen Kapitals im Rahmen der PISA-Untersuchungen zu kurz greift, weil allein die Quantität der Bildungsgüter erfasst wird, nicht aber die kulturelle Alltagspraxis der Familien.
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vorgezeichnet, zumindest aber negativ vorbelastet zu sein.2 Indem ‚Migrationshintergrund‘ und ‚soziale Herkunft‘ als Variablen verhandelt werden, die potenzielle Risikofaktoren für eine erfolgreiche Bildungskarriere darstellen, ergibt sich zudem der Eindruck, dass die Institutionen des Bildungssystems der Verkettung zwischen der ‚Herkunft‘ und den Bildungslaufbahnen der Individuen letztlich nur wenig entgegensetzen können. Aus der mikroanalytischen Perspektive individueller Bildungsgeschichten, wie sie in der vorliegenden Studie eingenommen wurde, konnten hingegen die individuellen Verläufe und Dynamiken von Teilhabe- und Ausschlussprozessen rekonstruiert werden. Die Analyse ließ sich dabei nicht auf die Rekonstruktion der Studienwege begrenzen, sondern machte auch eine Einbeziehung der vorangehenden Bildungswege und -erfahrungen notwendig. Herausgearbeitet wurden soziale Bedingungen und Konstellationen, die Teilhabe an höherer Bildung ermöglichen und erschweren, sowie biographische Ressourcen und Verarbeitungsweisen der Subjekte. Es wurde gezeigt, welche biographischen und institutionellen Bedingungs- und Ereigniskonstellationen Bildungswege ganz konkret mühsam machen, wie Hindernisse im Verlauf des Bildungswegs kumulieren, aber auch, durch welche Ereigniskonstellationen und biographische Prozessdynamiken vermeintlich „erwartungswidrige“ (Hummrich 2009: 9) Bildungsaufstiege möglich werden. Dabei repräsentieren die hier interviewten Studierenden keine einheitliche ‚Gruppe‘. Sie unterscheiden sich nicht nur hinsichtlich ihrer Migrationsgeschichten und natio-kulturellen Zugehörigkeiten, sondern ihre Familien sind auch auf unterschiedlichen Positionen im sozialen Raum verortet. Sie sind deshalb nicht alle in der gleichen Weise von Ungleichheits- und Dominanzverhältnissen betroffen. In der Terminologie Pierre Bourdieus (1997) gesprochen verfügen sie aufgrund ihrer jeweiligen Position im sozialen Raum über unterschiedlich konfigurierte Kapitalressourcen. Sozialräumlich betrachtet wird in den Bildungsgeschichten sichtbar, dass die Studierenden auf dem Weg von ihren jeweiligen Positionen bis ins Studium unterschiedliche Distanzen zurückgelegt haben. Die gemeinsamen Gegenwartspositionen der Biograph*innen als Studierende und angehende Pädagog*innen markieren – so könnte im Anschluss an Alois Hahn formuliert werden – den „Endpunkt extrem verschiedener Vergangenheiten“ (Hahn 2000: 107). Die analytischen Rekonstruktionen haben dabei verdeutlicht, dass sich die soziokulturellen ‚Herkunftsmilieus‘ der Studierenden äußerst differenziert darstellen. Diese ganz konkreten „sozialen Welten“ (Schütze 1984) bieten jeweils verschiedene Ressourcen, Möglichkeitsräume und Grenzen für Bildungsorientierungen und das (Bildungs-)Handeln der Einzelnen. Kulturelles Kapital, Haltungen und Orientierungen, die in der Familie tradiert werden, stellen Potenziale dar, die zu Ressourcen oder auch Hypotheken für die Bildungswege und die biographischen Entwürfe der nach2
Für diese Lesart erweisen sich beide der in der vorangegangenen Fußnote genannten theoretischen Paradigmen als anfällig, wobei der Terminus „Herkunftseffekte“ zumindest im Alltagsverständnis eine solche Deutung besonders nahe legt. Der Hinweis auf das Alltagsverständnis erscheint mir hier wichtig, da der Diskurs der empirischen Bildungs- und Ungleichheitsforschung keineswegs auf die Diskussion unter wissenschaftlichen Expert*innen begrenzt bleibt, sondern eine enorme massenmediale Verbreitung findet und unter Professionellen in Bildungsinstitutionen und -politik ebenfalls rezipiert wird.
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folgenden Generation werden können. Welche Ressourcen und Wissensbestände aber in Familien tradiert werden, lässt sich nicht schlicht aus der ‚objektiven‘ Stellung der Familien im sozialen Raum ableiten, sondern nur rekonstruktiv erschließen. Das „familiale Bildungserbe“ (Gohlke/Büchner 2006) hat eine je spezifische Gestalt. Gerade im Kontext von Migrationsprozessen unterliegen kulturelle Ressourcen und bildungsrelevante Orientierungen vielfältigen Transformationsanforderungen, die Verwerfungen und kulturelle Neuschöpfungen hervorbringen können. Die Ergebnisse der Analyse zeigen zugleich, dass nicht nur das ‚objektiv‘ verfügbare Bildungskapital an sich entscheidend dafür ist, wie sich Bildungswege gestalten, sondern auch die jeweiligen, sich verändernden Familienkonstellationen und intergenerationalen Beziehungsdynamiken, die je spezifische Bedingungsgefüge für die Tradierung und Aneignung des „Bildungserbes“ bilden (vgl. dazu auch King 2006; 2008). Die Bedeutung der Familie als „Bildungsort“ (Büchner/Brake 2006) lässt sich deshalb in Form einer Beschreibung unterschiedlicher Kapitalkonfigurationen allein nicht darstellen. Das familiale Erbe wird von den Subjekten nicht schlicht übernommen, sondern in zum Teil eigensinniger Art und Weise angeeignet, transformiert oder auch zurückgewiesen. So werden ‚Bildungsprivilegien‘ nicht immer auch genutzt, sondern können auch in eigensinnigen Abgrenzungsprozessen zurückgewiesen werden. Im Anschluss an Koller und King (2006) kann die Jugendphase dabei als ein „Möglichkeitsraum“ verstanden werden, der besonders offen für solche Dynamiken und eigensinnigen Transformationsprozesse ist. Diese tragen dazu bei, dass immer wieder unerwartete Entwicklungen und Wendungen in Bildungswegen möglich werden. Das eigensinnige (Bildungs-)Handeln der biographischen Akteur*innen kann dabei sowohl Möglichkeitsräume eröffnen als auch unerwartete Barrieren erzeugen, die für die beteiligten Akteur*innen selbst oft gar nicht vorhersehbar waren. Diese bildungsbiographischen Prozessdynamiken und der biographische ‚Eigensinn‘ der Subjekte liegen gewissermaßen quer zu sozialen Differenzierungskategorien wie ‚soziale Herkunft‘ und ‚Migrationshintergrund‘ und geraten deshalb in Analysen von Teilhabe- und Ausgrenzungsdynamiken im Bildungssystem oft gar nicht in den Blick. In biographieanalytischer Perspektive wird das dynamische Zusammenspiel unterschiedlicher Bedingungs- und Ereigniskonstellationen und ‚eigensinnigem‘ Bildungshandeln der Subjekte deutlich, wie es in den Fallrekonstruktionen herausgearbeitet wurde. Es sperrt sich gegen mögliche Versuche, kausale Verknüpfungen zwischen sozialen ‚Herkunftsindikatoren‘ und dem Verlauf von Bildungswegen konkreter Individuen herzustellen. Welche Richtung Bildungswege zu einem gegebenen Zeitpunkt nehmen, ist keineswegs sozial determiniert, sondern von ineinander wirkenden sozialen Bedingungen und biographischen Prozessdynamiken abhängig. Aus biographieanalytischer Sicht wird damit einerseits die Kontingenz deutlich, die in den Bildungswegen angelegt ist. Dies bedeutet andererseits jedoch nicht, dass bildungsbiographische Prozessverläufe unabhängig von sozialen Macht- und Ungleichheitsverhältnissen oder allein von Zufällen oder den individuellen Möglichkeiten und Leistungen abhängig sind. Die Analyse hat vielmehr gezeigt, dass Teilhabechancen und Erfahrungen von Zugehörigkeit im Bildungssystem eng mit Wirksamkeits- und sozialen Anerkennungserfahrungen verbunden sind (vgl. Wiezorek/Grundmann 2013). Um sich als zugehörig erfahren zu können, müssen sich die Subjekte in den Institutionen des Bildungssystems mit ihren Fähigkeiten und Handlungsweisen als wirksam erfahren können. Dass
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dies keinesfalls immer der Fall ist, sondern diese Erfahrungen den Individuen zum Teil systematisch vorenthalten werden, wurde in dieser Untersuchung insbesondere in den Erzählungen über ‚Quereinstiege‘ ins deutsche Bildungssystem und schulische Aufwärtsqualifizierungen erkennbar. Dabei zeigt sich, dass auf der Ebene der Einzelschule das Ignorieren unterschiedlicher Voraussetzungen als auch differenzbetonende Praxen und Routinen solche Wirksamkeits- und Zugehörigkeitserfahrungen behindern. Neben diesen in der Organisationsstruktur der Schule verankerten Umgangsweisen mit Heterogenität tragen auch diskriminierende Handlungen einzelner Lehrkräfte und Mitschüler*innen zu Ausgrenzungserfahrungen bei, die eine nachhaltige Bedeutung für das Selbstverhältnis der Betroffenen haben können. Oft greifen in derselben Biographie unterschiedliche Ausgrenzungsmechanismen ineinander und kumulieren im Verlauf der Schullaufbahn. Als zentral erweist sich, wie pädagogische Professionelle die Bildungswege der Subjekte begleiten (vgl. dazu auch Hummrich 2009; Farrokhzad 2007). Lehrer*innen treten in den Erzählungen als Unterstützer*innen auf, die Bildungsambitionen der Schüler*innen fördern, Teilhabemöglichkeiten eröffnen und Ressourcen der Subjekte institutionell anschlussfähig machen, aber auch als Gatekeeper*innen, die Zugänge zu höheren Bildungsgängen blockieren, Bildungsambitionen abbremsen und Schüler*innen entmutigen. Sie tragen dadurch entscheidend dazu bei, wie sich Prozesse von Teilhabe und Ausschluss und Erfahrungen von Zugehörigkeit und Marginalisierung in einer Bildungsbiographie gestalten. In den Erzählungen über Statuspassagen im Bildungssystem ließen sich viele Hinweise darauf rekonstruieren, dass die soziale Herkunft und natio-ethno-kulturelle Zugehörigkeit der Schüler*innen zu ‚Diskriminierungsressourcen‘ an schulischen Übergängen werden können – bei Schullaufbahnempfehlungen, aber auch bei Zuweisungsprozessen in späteren Etappen der Schullaufbahn, etwa dem Übergang in die gymnasiale Oberstufe. Diese Hinweise korrespondieren mit der Theorie institutioneller Diskriminierung (vgl. Gomolla/Radtke 2009; Gomolla 2010).3 Der Widerspruch zwischen dem meritokratischen Versprechen des Schulsystems und konträren eigenen Erfahrungen muss dabei individuell bewältigt werden. Hinsichtlich der subjektiven Umgangs- und Verarbeitungsweisen der Subjekte und ihrer Familien mit solchen Zuweisungspraktiken zeigten sich in den hier untersuchten Erzählungen jedoch auch Handlungs- und Widerstandspotenziale der Beteiligten (Eltern und Schüler*innen), die eine ‚Kanalisierung‘ der Kinder in statusniedrige Bildungsgänge oft noch verhinderten. Diese wurden auch auf solchen Fällen sichtbar, in denen die Eltern über wenig legitimes kulturelles Kapital und keine eigenen Erfahrungen mit dem deutschen Bildungssystem verfügten. Gleichwohl ist die Positionierung der Familien im sozialen Raum bedeutsam dafür, wie viel Mühe und Hartnäckigkeit Eltern aufbringen müssen, um die Bildungswege der Kinder in dieser Weise begleiten und unterstützen zu können. In den Studienerzählungen ließen sich noch andere Dynamiken und Erfahrungen von Teilhabe und Marginalisierung rekonstruieren als in den Schulerzählungen. Diese Differenz stellt unter anderem eine Folge davon dar, dass die Lernenden in der Universität anders adressiert und positioniert werden als in der Schule, nämlich als 3
Allerdings lassen sich mit dem hier gewählten methodischen Zugang keine Aussagen über die institutionellen Rationalitäten machen, die hinter solchen Zuweisungspraktiken stehen.
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selbstverantwortliche Individuen. Ausgehend von den vorliegenden Analysen lässt sich die These aufstellen, dass sich Ausgrenzungsprozesse und -erfahrungen im universitären Kontext subtiler und ‚weicher‘ gestalten, sofern die formalen Zugangshürden zum Studium einmal überwunden sind. Anders als in den Schulverläufen spielen etwa ‚harte‘ institutionelle Zuweisungsmechanismen eine untergeordnete Rolle, auch die Abhängigkeit von der Willkür einzelner Lehrpersonen, ihren Entscheidungen und Bewertungsmaßstäben ist in der Universität weitaus geringer. Die Gestaltung und der ‚Erfolg‘ des Studiums liegen damit in sehr viel höherem Maß in den Händen der Individuen selbst, denen es gelingt, sich mit ihren Studienpraktiken und Aneignungsweisen zugehörig zu machen, oder die in der Gefahr stehen, marginalisiert zu werden oder sich selbst auszuschließen (vgl. Bourdieu/Passeron 1971; LangeVester/Teiwes-Kügler 2006). Als eine zentrale Voraussetzung für die Herstellung von Teilhabe und Zugehörigkeit im Studium erweist sich dabei, dass die Subjekte sich selbst als Akteur*innen und Konstrukteur*innen ihrer Bildungsbiographie verstehen müssen. Als überaus bedeutsam für die Zugehörigkeitserfahrungen der Studierenden erwiesen sich zudem die Bedingungen des jeweiligen Studienkontexts, die unterschiedliche Resonanzräume für die biographischen Dispositionen und Erwartungen der Subjekte darstellen. Studienkontexte unterscheiden sich dabei sowohl in fachkultureller Hinsicht (vgl. Liebau/Huber 1985) – dies zeigte sich besonders in den Erzählungen der Lehramtsstudierenden, die sich zwischen verschiedenen Fächern bewegen –, als auch lokal. Sie repräsentieren Studierendenmilieus und Studienkulturen, die für die lebensweltlichen Orientierungen und Bildungszugänge der Subjekte unterschiedlich offen sind (vgl. dazu auch Engler 1993). Es wurde auch erkennbar, wie verschiedene Differenzordnungen und Differenzierungspraktiken in den jeweiligen Studienkontexten ineinandergreifen und Zugehörigkeitserfahrungen ermöglichen oder zu Ausgrenzungsprozessen führen. Die gesellschaftlich verankerten Dominanzverhältnisse (in Hinblick auf Geschlechter-, Klassen und natio-kulturelle Zugehörigkeitsverhältnisse) spielen dabei mit spezifischen institutionellen Hierarchien und Unterscheidungspraktiken zusammen. Indem z.B. Lehramtsstudierenden eine inferiore Position gegenüber Hauptfachstudierenden und Primarstufenstudierenden ein geringerer Status als Sekundarstufenstudierenden zugewiesen wird, bestätigen und reproduzieren sich gleichzeitig soziale Hierarchisierungen (z.B. im Geschlechterverhältnis). Dies macht erneut deutlich, dass Ein- und Ausgrenzungsprozesse in Bildungskontexten nur unzureichend empirisch analysiert werden können, wenn von vorne herein allein eine Ebene sozialer Differenzordnungen fokussiert wird. Es gilt vielmehr, den Blick für das Zusammenwirken verschiedener Differenzierungs- und Hierarchisierungspraktiken offen zu halten. Ein Anschlusspunkt für weitere Analysen könnte darin bestehen, die konkreten Studienkontexte selbst empirisch in den Blick zu nehmen und daraufhin zu untersuchen, inwiefern und durch welche Differenzierungs- und Hierarchisierungspraktiken hier jeweils Ein- und Ausgrenzungen entstehen. Eine empirische Untersuchung der konkreten ‚Feldbedingungen‘ – der Interaktionsstrukturen und Anerkennungskulturen zwischen Lehrenden und Studierenden und der Studierenden untereinander, der Lehr-Lernkulturen sowie der formalen Anforderungs- und Prüfungsformen – würde dazu beitragen, mehr über die Bedingungen und Praktiken zu erfahren, die bestimmten Studierenden(gruppen) Teilhabe und Zugehörigkeitserfahrungen ermöglichen
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oder erschweren. Vor dem Hintergrund der hier vorliegenden Analyse erscheint dabei ein Zugang vielversprechend, der studienbiographische ‚Passungsverhältnisse‘ nicht vorschnell als Varianten milieuspezifischer Habitus-Kontext-Passungen typisiert, sondern sie rekonstruktiv als Relationierungen zwischen individuellbiographischen Habitus und lokalen fachkulturellen Studienkontexten untersucht.4
12.2 R EFLEXIONEN ZU DEN BILDUNGSBIOGRAPHISCHEN K ONSTRUKTIONEN DER S UBJEKTE Neben Einblicken in die Bildungswegkonstruktionen ermöglichte die hier gewählte biographieanalytische Zugangsweise auch Einblicke in die Konstruktionsweisen der Bildungsgeschichten. Obwohl die interviewten jungen Erwachsenen alle ein universitäres Studium absolvieren, haben die biographischen Rekonstruktionen gezeigt, dass sie ihre Bildungsgeschichten in sehr verschiedener Weise konstruieren. Dabei wurde deutlich, dass objektiv erreichte Bildungserfolge keineswegs immer als biographische ‚Erfolgsgeschichten‘ bilanziert werden. Die biographischen Rekonstruktionen zeigen, dass es sich bei formal ‚erfolgreichen‘ Bildungswegen oft nicht um lineare Bildungskarrieren handelt, sondern diese Bildungswege durch Brüche, Widersprüche und Ambivalenzen unterschiedlicher Art gekennzeichnet sind, die in den bildungsbiographischen Konstruktionen verarbeitet werden müssen. Sichtbar werden die Prozesshaftigkeit und damit auch die Schleifen, Wendungen, das Zurückgeworfenwerden, Leiderfahrungen, partielles Scheitern oder Nichtgelingen in Bildungswegen. Insbesondere in den Erzählungen über die Schulzeit zeigte sich, dass die Teilhabe an höherer Bildung oft um den Preis erheblicher Leiderfahrungen verwirklicht wird, die langfristige Spuren in den Biographien der Subjekte hinterlassen und eine biographische ‚Erfolgsbilanz‘ erschweren. Hier erweist sich die von Jochen Kade und Wolfgang Seitter (1996) vorgeschlagene Unterscheidung in Bildungskarrieren und Bildungsbiographien (vgl. Kap. 5.2.3) als sinnvoll, wonach sich die Entwicklungslogik von Bildungsbiographien (im Gegensatz zu Bildungskarrieren) nicht nach den nach institutioneller Maßgabe erreichten Leistungen richtet, sondern von den Konstruktionen und Deutungen der biographischen Subjekte. Die Analyse macht damit auch deutlich, dass sich typisierende Gegenüberstellungen von ‚erfolgreichen‘ und ‚gescheiterten‘ Bildungsbiographien (nicht nur) im Kontext von Migration als verkürzt erweisen. Die Analysen der hier untersuchten Biographien zeigen vielmehr, dass ‚Erfolg‘ und ‚Scheitern‘ in Bildungsbiographien oft nahe beieinander liegen. Die Gestalt der bildungsbiographischen Konstruktion und der formale Bildungsverlauf müssen nicht miteinander korrespondieren. Formale Bildungserfolge gehen nicht immer mit Autonomisierungsprozessen einher und werden deshalb nicht immer als handlungsschematische Biographiekonstruktionen präsentiert. Sie können unter
4
Beispiele für methodische Designs, die es ermöglichen, institutionelle Bildungsmilieus und individuelle Bildungsbiographien in ihrer wechselseitigen Bezogenheit zum Gegenstand machen, finden sich bislang insbesondere in der Schüler*innenbiographieforschung (Helsper/Kramer/Hummrich/Busse 2009; Kramer 2002).
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R EFLEXION
bestimmten Bedingungen auch als Geschichten des „Getriebenwerdens“ (Schütze 1983a: 288) erzählt werden. Dies wurde insbesondere in den Beispielen erkennbar, in denen die Subjekte Teilhabe an höherer Bildung in erster Linie als ein familiales Vermächtnis, die (widerstrebende) Umsetzung ‚ungelebter‘ Bildungswünsche und Emanzipationsbestrebungen der Eltern erfahren. Hier konvergiert höhere Bildung nicht mit Autonomisierungsansprüchen, sondern steht der Konstruktion und Verwirklichung eines eigenen biographischen Entwurfs und eigener Ziele eher entgegen. Dieser Befund schließt auch an die Ergebnisse anderer Studien zu Bildungsaufstiegen in der Migration an (vgl. Hummrich 2002; King 2006). Die Hintergründe eines solchen „Fremdwerdens“ (Riemann 1987) der eigenen, als heteronom wahrgenommenen Bildungsbiographie liege dabei nicht in Konflikten zwischen der Loyalität mit den Werten eines konservativ-traditionsorientierten Sozialisationsmilieus und den Anforderungsstrukturen ‚moderner‘ Einwanderungsgesellschaften. Vielmehr stellten sich familiengeschichtliche ‚Hypotheken‘, die mit der intergenerationalen Verarbeitung des Migrationsprozesses und dessen Konsequenzen in Verbindung stehen, als eine zentrale Bedingungskonstellation für diese Prozessstruktur heraus. Umgekehrt setzen handlungsschematische bildungsbiographische Konstruktionen nicht in jedem Fall formale Bildungserfolge voraus. Sie können auch Autonomisierungsprozesse reflektieren, die um den Preis von schulischen Misserfolgen realisiert werden.
12.3 R EFLEXION DER E RGEBNISSE IM H INBLICK S TUDIUM IN DER B ILDUNGSBIOGRAPHIE
AUF DAS
Die in der vorliegenden Studie eingenommene Untersuchungsperspektive zielte darauf ab, Bildungswege und -erfahrungen in ihrer jeweiligen Prozesshaftigkeit zu rekonstruieren. Ein besonderer Fokus der Analyse lag dabei auf der Rekonstruktion der Studienerfahrungen und der Bedeutung des Studiums in der Prozessstruktur der Lebensgeschichte. Die Erweiterung des Blicks auf hochschulische Bildungs- und Sozialisationsprozesse verdeutlicht, dass mit dem Übertritt in die Hochschule spezifische Anforderungs- und Chancenstrukturen einhergehen, die die Subjekte in ihren Bildungsgeschichten verarbeiten. Viele dieser Anforderungen und Verarbeitungsweisen sind dabei nicht spezifisch für die Studienbiographien von jungen Erwachsenen ‚mit Migrationsgeschichte‘. Die Ergebnisse der biographieanalytischen Untersuchung zeigen, dass die ‚Studienentscheidung‘ vielfach in eigenlogische biographische Prozessverläufe eingebunden ist, die sich weder in Modellen rationaler Wahl, noch reproduktionstheoretisch hinreichend abbilden lassen (vgl. dazu auch Dausien 2014). Auch wenn die Studierenden ihren Eltern oft keine zentrale Rolle für ihre jeweilige Fachwahl zuschreiben, ist der Prozess der Studienentscheidung und -fachwahl meist kein autonomer Prozess, sondern in familiale Dynamiken und Konstellationen eingebettet. So wurde die Bedeutung familialer ‚Aufstiegsprojekte‘ in der Migration erkennbar, in die die Subjekte ihr Studium eingebunden sehen und für die sie eine Mitverantwortung übernehmen. Damit in Zusammenhang steht auch die Übernahme einer Vorbildrolle für jüngere Geschwister. Diese Verantwortungsübernahme stellt
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für einige von ihnen einen entscheidenden Rahmen für ihre Studienbiographie dar. Gerade in Konstellationen, in denen der ‚Erfolg‘ des familialen Migrationsprojekts durch die Bildungserfolge der Kinder noch erstritten werden muss, sind oft hohe Erwartungen an die Studienbiographien gebunden, die ‚Erfolge‘ ebenso wie ein mögliches individuelles ‚Scheitern‘ zu etwas überindividuell Bedeutsamem machen. Dabei ließen sich in den hier untersuchten Fällen von ‚Bildungsaufstiegen‘ auch Konstruktionsweisen der Studien(wahl)entscheidung herausarbeiten, die sich nicht in binäre Kategorien von heteronom versus autonom bestimmten Entscheidungen einordnen lassen. Vielfach nehmen signifikante Andere außerhalb der Familie eine Rolle als Ratgeber*innen ein. Dazu zählen Personen aus dem Bekanntenkreis ebenso wie Lehrer*innen, die den Studienberechtigten bestimmte Wahlen nahe legen oder ihnen von anderen abraten. Dies wurde als eine Form des Gatekeeping (Behrens/Rabe Kleberg 1992) interpretiert. Die Analyse hat gezeigt, dass die Subjekte den Übergang ins Studium biographisch bearbeiten, indem sie ihr Studium auf vielfältige Weise mit ihrem lebensgeschichtlichen Erfahrungswissen und ihren biographischen Orientierungen verknüpfen und dadurch biographische Kontinuität herstellen. Dies zeigt sich etwa darin, dass sie Studieninhalte auswählen, die an eigene Interessen und Erfahrungen anschließen, diese mit lebensweltlichen Orientierungen und Wissenszugängen verbinden oder ihr Studium gemeinsamen mit sozial Vertrauten gestalten, die die Funktion von Mittler*innen oder Weggefährt*innen beim Übergang in die wissenschaftliche Welt einnehmen. Darüber hinaus verknüpfen sie das Studium mit lebensgeschichtlichen Sinnressourcen und Entwürfen und machen es dadurch biographisch anschlussfähig. Die Studierenden erbringen biographische Synthetisierungsleistungen, indem sie ihr Studium und ihren Berufsentwurf unter Rückgriff auf eigene und familial vermittelte Lebensentwürfe sinnhaft ‚füllen‘ und ausgestalten. Diese Verknüpfung biographischer Erfahrungs- und Wissensbestände mit der im Studium vorgefundenen Angebots- und Anforderungsstruktur kann in Anlehnung an Mecheril/Klingler (2010) als biographische Zugehörigkeitsarbeit beschrieben werden. Aus biographischer Perspektive zeigte sich ganz konkret, wie die Zugehörigkeitsarbeit der Subjekte im Hochschulkontext mit der individuellen Lebensgeschichte vermittelt ist. Sie ermöglicht es den Studierenden, das Studium mit ihrer biographischen Sinnstruktur zu verbinden und es dadurch zu einer subjektiv „sinnvollen Erfahrung“ (ebd.: 100) zu machen. Dies kann als ein entscheidender Aspekt für die weiterer Studienbiographie und die Entwicklung weiterführender Berufs- und Lebensperspektiven betrachtet werden (vgl. dazu auch Detka 2014). Das Studium ist in den untersuchten Erzählungen in unterschiedlicher Weise in den weiteren bildungsbiographischen Prozessverlauf (vgl. Schütze 1983b) eingebettet. Der Übertritt in ein neues soziales Feld kann zu einem Anlass für biographische Lernprozesse werden und zu veränderten Selbst- und Weltverhältnissen beitragen. Die Konfrontation mit den spezifischen Bedingungen und Anforderungsstrukturen des universitären Kontexts kann dabei sowohl mit Krisenerfahrungen einhergehen als auch biographische Ermächtigungs- und Autonomisierungsprozesse ermöglichen. Die bisherige bildungsbiographische Prozessstruktur kann mit dem Eintritt ins Studium aber auch stabilisiert und fortgeschrieben werden – sei es als Fortsetzung einer handlungsschematischen Erfahrungsstruktur oder als Verschärfung von biographischem Verlaufskurvenpotenzial, das sich unter veränderten (Feld-)Bedingungen
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UND THEORETISCHE
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zuspitzt. Die Teilnahme an universitärer Bildung beinhaltet somit ein Potenzial für sehr unterschiedliche bildungsbiographische Prozesse, die den Einzelnen verschiedene Bilanzierungen ihrer Bildungsgeschichten ermöglichen. Anhand der ausgewählten Fallanalysen wurden vier Varianten herausgearbeitet: Ͳ
Ͳ
Ͳ
Ͳ
So wird das Studium in einigen Beispielen primär als Fortsetzung eines bildungsbiographischen Handlungsschemas konstruiert. Eine Voraussetzung dafür ist, dass die Subjekte über Handlungsressourcen und -techniken verfügen, die ihnen die Bewältigung der studienorganisatorischen und fachspezifischen Anforderungen ermöglichen, und sie Wirksamkeitserfahrungen machen. Dies steht wiederum in Zusammenhang mit der Anerkennung ihrer kulturellen Ressourcen, mit schulischen Vorerfahrungen, mit familialer Unterstützung sowie mit biographischen Ressourcen und Selbstwirksamkeitsüberzeugungen, die sich aus der individuellen Erfahrungsgeschichte ergeben. Zudem müssen die bildungs- und berufsbiographischen (Selbst-)Entwürfe der Subjekte in ihrem jeweiligen Studienkontext anschlussfähig werden bzw. auf Resonanz stoßen. Das Studium kann auch zu einer bildungsbiographischen Irritation führen, wenn die Dispositionen der Subjekte nicht mit den Möglichkeitsstrukturen des jeweiligen Kontexts korrespondieren. Dies ist etwa dann der Fall, wenn die Subjekte mit bestimmten Erwartungshaltungen in das Studium eintreten und diese enttäuscht werden oder wenn sich biographische Orientierungen im studentischen oder fachkulturellen Kontext nicht als anschlussfähig erweisen. Ob es sich bei solchen Irritationen um grundlegende „Passungsprobleme“ (Alheit 2005) handelt, die einen Fachwechsel oder die Revision der Studienentscheidung notwendig machen, oder ob es den Subjekten doch noch gelingt, die Irritationen in anderer Weise zu bearbeiten, lässt sich dabei nur am Einzelfall rekonstruieren. In anderen Beispielen wird das Studium als (positiver) Wendepunkt bzw. Auslöser für einen Wandlungsprozess in der Bildungsbiographie konstruiert. Den Hintergrund dafür bildeten in den untersuchten Biographien Marginalisierungs- und Missachtungs- sowie fehlende Wirksamkeitserfahrungen, durch die die bisherige Bildungsbiographie gekennzeichnet war. Der universitäre Kontext kann im Unterschied dazu einen institutionellen und sozialen Raum darstellen, in dem Subjekte sich selbst als wirksam erfahren und der ihnen Anerkennungserfahrungen und biographische Lernprozesse ermöglicht. Die mit den Anforderungen einer eigenständigen Studiengestaltung verbundenen Freiheiten und Möglichkeiten können für die Ausgestaltung und Entwicklung eigener Interessen genutzt werden. Ob das Studium in dieser Form als Raum der ‚Selbstentfaltung‘ erlebt werden kann, hängt indes auch von den jeweiligen Studienbedingungen und -voraussetzungen ab. So schränken die starken Vorgaben in den BA-/MA-Studiengängen diese kreativen Freiräume tendenziell ein. Zugleich verlangen sie den Subjekten ein hohes Maß an Eigenverantwortung ab, wobei diese sich aber weniger auf die inhaltliche Gestaltung als auf die organisatorische Bewältigung des Studiums bezieht. Schließlich kann das Studium zu einem Auslöser für gravierende Verunsicherungen und die Erfahrung eingeschränkter Handlungsfähigkeit werden, wenn
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es den Subjekten längerfristig nicht gelingt, die Anforderungsstruktur des Studiums zu durchschauen und das Studium in den eigenen Lebensentwurf zu integrieren. Dies kann in Zusammenhang mit einer bildungsbiographischen Prozessstruktur stehen, die sich durch Erfahrungen der heteronomen Steuerung des eigenen Bildungswegs auszeichnet, während die Anforderungsstruktur in der Universität Subjekte voraussetzt, die ihr Studium selbstverantwortlich gestalten. Verwechseln die Subjekte diese Anforderung an Selbstverantwortung mit einer Gelegenheit, uneingelöste Autonomiewünsche zu verwirklichen, kann sich daraus – gerade unter den Rahmenbedingungen des durchregulierten Studienprogramms in den reformierten Studiengängen – ein studienbiographisches Verlaufskurvenpotenzial entwickeln. Konstellationen, in denen die Subjekte zudem mit widersprüchlichen familialen Erwartungen an die Beibehaltung von Nähe bei gleichzeitig notwendiger Distanzierung vom Herkunftsmilieu konfrontiert sind, können zu einer Potenzierung der an die Subjekte gestellten Anforderungen führen. Schließlich tragen geringe Selbstwirksamkeitserwartungen, die sich im Studium bestätigen, zu einer Verschärfung von Verlaufskurvendynamiken bei. Die rekonstruierten studienbiographischen Prozessvarianten lassen sich nicht als Ausdruck einer spezifischen ‚Migrationslagerung‘ der Biographien verstehen. Sie stellen vielmehr konkrete biographische Verarbeitungsweisen von Bedingungskonstellationen, Anforderungen und Dynamiken dar, die sich potenziell auch in anderen Studienbiographien finden. Gleichwohl stellen die familialen Migrationsgeschichten ebenso wie Stigmatisierungs- und Ausgrenzungserfahrungen als ‚Migrationsandere‘ biographische Hintergrundstrukturen dar, die – neben anderen – bedeutsam dafür sind, wie das Studium in die lebensgeschichtliche Prozessstruktur eingebunden ist und wie die Subjekte ihm Sinn verleihen. In der Auseinandersetzung mit dem Forschungsstand (Kap. 2) wurde aufgezeigt, dass sich die interkulturelle Bildungsforschung bislang wenig mit dem Bereich der tertiären Bildung sowie hochschulischen Bildungswegen in der Migrationsgesellschaft auseinandergesetzt hat.5 Die Rekonstruktion der Studienbiographien verdeutlicht, dass die bisherige Konzentration migrationswissenschaftlicher Untersuchungen auf schulische Bildung zu kurz greift. Das Studium lässt sich als ein biographischer Möglichkeitsraum für Bildungsprozesse beschreiben, der eigene Aufmerksamkeit verdient.
5
Dies ist neben der eingangs beschriebenen Problemorientierung interkultureller Bildungsund Sozialisationsforschung auch mit der historischen Bedeutung der Schule für das nationale Bildungswesen zu erklären: „Als einzige Pflicht-Bildungsinstitutionhat sie [die Schule, D.S.] stets im Mittelpunkt der Auseinandersetzung über den gesellschaftlich-politischen Umgang mit sprachlich-kultureller Homogenität oder Heterogenität gestanden“ (KrügerPotratz 2005: 23).
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UND THEORETISCHE
R EFLEXION
12.4 W EITERFÜHRENDE Ü BERLEGUNGEN ZUM U MGANG ‚D IVERSITÄT ‘ IN DER UNIVERSITÄREN P RAXIS
MIT
Wie in Kapitel 3 gezeigt wurde, werden Studierende mit eigener oder familialer Migrationsgeschichte in der Literatur als eine Gruppe beschrieben, die tendenziell in einem prekären Zugehörigkeitsverhältnis zur Universität steht. Studierenden aus Elternhäusern ohne akademische Tradition wird eine soziale und kulturelle Fremdheit im Verhältnis zur Universität zugeschrieben, aus der auf Orientierungsschwierigkeiten und Unsicherheiten im Hinblick auf die soziale Praxis des Studierens geschlossen wird. Die Ergebnisse der vorliegenden Studie machen deutlich, dass kategoriale Annahmen über die hochschulischen Bildungsgänge von ‚Studierenden mit Migrationshintergrund‘, ‚Bildungsinländer*innen‘ oder ‚Studierenden aus nicht akademischen Elternhäusern‘ den heterogenen Biographien und Studienerfahrungen der Einzelnen nicht gerecht werden. Die Kategorisierung von Studierenden ‚mit Migrationshintergrund‘ als benachteiligte ‚Problemgruppe‘ entspricht nicht den objektiven Studienerfolgen vieler Studierender und geht an ihren Erfahrungen und Selbstpositionierungen vorbei. Dies wirft auch Fragen nach der Angemessenheit von Unterstützungs- und Förderangeboten in der Hochschulpraxis auf, die sich an Studierende ‚mit Migrationshintergrund‘ richten, die im Zuge der Etablierung von Diversity-Policies an Universitäten zunehmend eingerichtet werden. Dazu zählen z.B. Mentoring- und Lots*innenProjekte ebenso wie Sprachförderangebote für migrationsbedingt mehrsprachige Studierende. Bei dieser Angebotsentwicklung wird davon ausgegangen, dass die Adressat*innen auf besondere Beratungs- und Begleitungsangebote angewiesen sind, um ihr Studium erfolgreich absolvieren zu können. Neueren Unterstützungsangeboten und Förderkonzepten, die sich am Diversity-Paradigma orientieren, liegt dabei oft der Anspruch zugrunde, die Mehrdimensionalität sozialer Differenzverhältnisse zu berücksichtigen, anstatt einzelne Differenzkategorien (z.B. die soziale Herkunft) zum Ausgangspunkt der Angebotsentwicklung zu machen (vgl. Heitzmann/Klein (Hg.) 2012a, b). Viele Diversity-Konzepte basieren allerdings auf einem essentialistischen und statischen Verständnis von Differenz (vgl. dazu auch Mecheril/Klingler 2010; Mecheril/Plößer 2011). Dies wird besonders deutlich, wenn Differenzkategorien als „Merkmale“ von Individuen oder Gruppen konzipiert werden (vgl. kritisch Heitzmann/Klein 2012c). Doch auch ein sozialkonstruktivistisches Verständnis von Differenz hat nicht automatisch Konsequenzen für die konkrete Konzeption und Umsetzung von Projekten. Das Dilemma zwischen dem Wissen um die potenziell festlegende und stigmatisierende Wirkung zielgruppenspezifischer Angebote einerseits sowie den wahrgenommenen Benachteiligungen und Bedarfen bestimmter Studierendengruppen andererseits wird zwar durchaus reflektiert. Nicht selten bleibt es aber bei einem rhetorischen Bekenntnis zum konstruktivistischen Verständnis von Differenz, während gleichzeitig an der Notwendigkeit zielgruppenspezifischer, kompensatorischer Angebote festgehalten wird. Die Angebote richten sich schließlich meist doch wieder an kategorialen Gruppenkonstruktionen aus, die lediglich etwas ‚feiner‘
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differenziert sind. Dies ändert jedoch nichts daran, dass die Studierenden entlang askriptiver Merkmale differenziert und adressiert werden.6 Ausgehend von den Ergebnissen der hier vorliegenden Analyse kann die Herausforderung hingegen darin gesehen werden, kompensatorische oder unterstützende Angebote für Studierende – etwa fachsprachliche Kurse, Schreibwerkstätten oder Mentor*innenprogramme – konsequent zu individualisieren. Zu reflektieren wäre, wie sich die Angebotsstrukturen, die Ansprache der Adressat*innen und die Teilnahmemöglichkeit an solchen Angeboten so gestalten lassen, dass sie sich nicht an kategorialen ‚Differenzmerkmalen‘ der Studierenden, sondern an ihren individuellen biographischen Ressourcen und aktuellen Unterstützungsbedarfen orientieren. Eine offene Frage bleibt, wie Studierende erreicht, angemessen begleitet und unterstützt werden können, deren Studienschwierigkeiten sich nicht auf die fehlende Vertrautheit im Umgang mit der Praxis des Studierens reduzieren, sondern in komplexere biographische Zusammenhänge eingebunden sind. Darüber hinaus sind die Grenzen einer solchen zielgruppenorientierten Herangehensweise grundsätzlich zu reflektieren. Zielgruppenbezogene Förderung macht Handlungsbedarfe an den Subjekten fest und versucht, diese für die institutionellen Anforderungen ‚fit‘ zu machen. Mögliche Veränderungsbedarfe innerhalb der Institution bleiben dagegen unberücksichtigt. Solange isolierte Förderangebote für spezielle Zielgruppen die primäre Antwort der Universitäten auf die zunehmende Heterogenität von Studierendenbiographien darstellen, bleiben institutionelle Routinen sowie Wissensbestände, Praktiken und kulturelle Normalitätserwartungen der Professionellen unangetastet. Der Versuch, auf die Heterogenität der bildungsbiographischen Hintergründe von Studierenden zu reagieren und Studierenden mit unterschiedlichen Herkunftsgeschichten und lebensweltlichen Bezügen die Teilhabe an universitärer Bildung zu ermöglichen, macht auch die Beschäftigung mit den potenziellen Barrieren und Ausschlüssen notwendig, die sich für Studierende durch solche institutionellen Normalitätskonstruktionen und -erwartungen ergeben können. Ansätze der Hochschulentwicklung, die auf der organisatorischen Ebene sowie der Personalentwicklung ansetzen, stehen aber noch weitgehend am Anfang und werden erst an wenigen Hochschulstandorten umgesetzt (vgl. Antidiskriminierungsstelle des Bundes 2013: 151ff.).
6
In mehreren Beiträgen, die auf Erfahrungen mit und Selbstevaluationen solcher zielgruppenspezifischen Förderangebote basieren, wird angemerkt, dass Studierende Interesse an der Teilnahme zeigten, die nicht zu der eigentlichen Zielgruppe des Projekts zählten (vgl. Ruokonen-Engler 2013; Satilmis et al. 2013), während letztere nicht immer auch erreicht wurde (vgl. Meinhardt/Klausing 2009). Aus dieser Erfahrung kann einerseits der Schluss gezogen werden, die Ansprache künftig passgenauer zu gestalten. Es könnte aber auch als empirischer Hinweis auf die Grenzen verstanden werden, auf die der Versuch trifft, Unterstützungsangebote entlang kategorialer ‚Differenzmerkmale‘ der Adressat*innen zu ermitteln.
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UND THEORETISCHE
R EFLEXION
12.5 R EFLEXION DER E RGEBNISSE IM H INBLICK AUF S ELBST - UND Z UGEHÖRIGKEITSKONSTRUKTIONEN K ONTEXT VON M IGRATION
IM
Mit dem Erkenntnisinteresse an den Bildungsbiographien junger Erwachsene ‚mit Migrationsgeschichte‘, die an universitärer Bildung teilnehmen, verknüpfte sich auch die Frage, wie sich die Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen der Subjekte gestalten. Der gemeinsame Bezugspunkt, der die Biographiekonstruktionen dieser ansonsten sehr uneinheitlichen ‚Gruppe‘ vergleichbar macht, besteht darin, dass jungen Erwachsenen aus migrierten Familien, die an universitärer Bildung teilnehmen, im öffentlichen Diskurs eine besondere Position zugewiesen wird und sie als Repräsentant*innen für ‚erwartungswidrige‘ Bildungswege adressiert werden (vgl. Kap. 1). Diese Besonderung wurde auch im Rahmen dieses Forschungsprojekts bei der Ansprache der Interviewpartner*innen wiederholt. Als angehende Pädagog*innen repräsentieren die Studierenden dabei zudem eine Gruppe, der im gegenwärtigen bildungspolitischen Diskurs eine besondere Rolle als ‚Integrationsvorbilder‘ und Beispiele gelungener Bildungskarrieren zugeschrieben wird (vgl. Kap. 4.1). Wenngleich in der Analyse deutlich wurde, dass sich die Bildungstraditionen in den Familien und die ‚objektiven‘ Bedingungen für die Teilhabe an höherer Bildung fallspezifisch stark unterscheiden, teilen die Studierenden die alltägliche Erfahrung, als Beispiele für außergewöhnliche Bildungskarrieren wahrgenommen zu werden. In den Erzählungen zeigte sich dabei immer wieder, dass sie sich dieser ‚besonderen‘ Position bewusst sind und sie diese in unterschiedlicher Weise biographisch bearbeiten. Diese Positionszuweisung erzeugt komplexe Anforderungen und Erwartungen sowie paradoxe Ein- und Ausgrenzungsmuster. So werden die Subjekte als ‚Andere‘ adressiert und vereinnahmt, während ihre Legitimation, in dieser Position zu sprechen, gleichzeitig infrage gestellt wird, weil ihre Biographien nicht den Erwartungen entsprechen, die sie erfüllen müssten, um als ‚prototypisch‘ zu gelten. Dies erzeugt spezifische Möglichkeitsbedingungen für ihre Selbstkonstruktionen und positionierungen. In den biographischen Konstruktionen der jungen Erwachsenen zeigte sich einerseits, dass diese sich vielfach hoch reflexiv und kritisch auf diese paradoxe Zumutung beziehen (vgl. ‚Nuray Coskun‘, Kap. 7.4.2; ‚Dilan Karatay‘, Kap. 8.2.4). Sie versuchen z.B., den damit verbundenen diskursiven Ausschließungen durch eine Flexibilisierung ihrer Selbstpositionierungen zu begegnen. In der Suche nach einer legitimen Selbstverortung werden hegemoniale Diskurse über Migration und Bildungs(miss)erfolg, Traditionalität und Modernität, Integration und Desintegration teilweise auch affirmiert und reproduziert. Die Subjekte identifizieren sich mit der angebotenen ‚besonderen‘ Position, indem sie sich von vermeintlich rückständigen und traditionellen migrantischen Milieus abgrenzen (vgl. Kap. 11.5.5), die eigenen Integrationsleistungen betonen und distinktive Haltungen gegenüber Peers einnehmen, die sich dem hegemonialen Assimilationsgebot nicht unterwerfen (vgl. Kap. 11.2.5). Migrationsgesellschaftliche Macht- und Differenzverhältnisse wirken auf diese Weise in die Selbstkonstruktionen und -positionierungen der Subjekte hinein.
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Zugleich gibt es aber auch immer wieder Ansätze dafür, dass die Subjekte mit ihren biographischen Deutungsweisen, Lebensentwürfen und Selbstpositionierungen diese hegemonialen Diskurse irritieren, oder durchkreuzen, etwa indem sie hegemoniale Deutungsmuster von Modernität und Traditionalität in ihrer biographischen Konstruktion unterlaufen (vgl. ‚Meral Yilmaz‘, Kap. 11.4.1; 11.5.5) und versuchen, ‚hybride‘ (vgl. Bhabha 1994) Positionen zu kreieren, die es ermöglichen, sich jenseits solcher Gegensatzkonstruktionen zu verorten. Dieses Ergebnis knüpft auch an Befunde anderer subjektorientierter Studien der Jugend- und Migrationsforschung an, die aufzeigen, dass Jugendliche und junge Erwachsene ‚mit Migrationsgeschichte‘ kreative Selbstentwürfe konstruieren und in ihren Handlungsformen unterschiedliche sozio-kulturelle Orientierungen miteinander verknüpfen (vgl. z.B. Otyakmaz 1995; Gültekin 2003; Riegel 2004). Mit diesen ‚mehrfachzugehörigen‘ Lebens- und Selbstentwürfen stoßen sie allerdings auch immer wieder an Grenzen der gesellschaftlichen Anerkennung. Mit dem Studium können für Studierende ‚mit Migrationsgeschichte‘ Veränderungen ihrer Selbst- und Zugehörigkeitsverständnisse einhergehen. Migration wird für einige junge Erwachsene in der Studienzeit als Kategorie für die eigene Selbstund Zugehörigkeitskonstruktion zunehmend relevant. Dazu tragen nicht zuletzt spezifische Bedingungen im Feld pädagogisch ausgerichteter Studiengänge bei, die hier vermittelt durch die biographischen Rekonstruktionen in den Blick gelangten. Durch die Adressierung als angehende Pädagog*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘, die Studierende in Lehrveranstaltungen oder in beruflichen Praxisfeldern erfahren, lernen sie, sich (in verstärktem Maße) als ‚Migrant‘ oder ‚Migrantin‘ zu ‚erkennen‘. Auch die Erfahrung, im universitären Raum einer Minderheit anzugehören, kann zum Anlass für eine verstärkte und bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Selbstverortung werden. Beide Erfahrungen implizieren einen Verlust der Selbstverständlichkeit bisheriger Zugehörigkeitsverständnisse und Selbstpositionierungen und u.U. ein verstärktes Differenzerleben, aber auch ein Potenzial für Empowerment. Veränderungen von Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen im Studium können sich jedoch auch als Prozesse einer Normalisierung von Differenz artikulieren. Die wurde besonders in den Fällen rekonstruiert, in denen dem Studium nachhaltige Erfahrungen von Stigmatisierung und Ausgrenzung in der Schulzeit vorausgehen. Eine solche ‚Normalisierung‘ wird möglicherweise besonders in Studienkontexten möglich, die sich durch eine Vielfalt der hier repräsentierten Lebensstile und Zugehörigkeitsverständnisse auszeichnen, die einer Veralltäglichung von Differenzerleben Vorschub leisten. Die Begegnung mit anderen Zugehörigkeitsverständnissen von Mitstudierenden kann auch eine Re-Positionierung durch die affirmative NeuBesetzung von natio-kulturellen Zugehörigkeitskategorien ermöglichen. Wenn Studierende über Erfahrungen der Stigmatisierung und Abwertung ihrer soziokulturellen Ressourcen verfügen, können Erfahrungen mit der Aufwertung und Anerkennung eben dieser Ressourcen (beispielsweise der Mehrsprachigkeit oder der Erfahrungen in verschiedenen natio-kulturellen Kontexten) auch zu einem biographischen Ermächtigungspotenzial werden. Eine solche Aufwertung ermöglicht zwar keine Infragestellung binärer Differenzverständnisse und -konstruktionen (vgl. Plößer/Mecheril 2009), aber eine subjektive Neubewertung und veränderte ‚Wendung‘ des erlernten Selbstverständnisses als ‚Andere‘.
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R EFLEXION
Die beschriebenen Varianten der Veränderungen von Zugehörigkeitsverständnissen lassen sich dabei nicht fallspezifisch typisieren, sondern können durchaus auch in der gleichen Studienbiographie virulent werden. Veränderungen von Zugehörigkeitsverständnissen im biographischen Prozess folgen somit nicht einer einheitlichen Logik, sondern können in sich widersprüchlich gestaltet sein.
12.6 R ÜCKBINDUNG DER E RGEBNISSE AN DIE D ISKUSSION UM P ROFESSIONELLE ‚ MIT M IGRATIONSGESCHICHTE ‘ IM B ILDUNGSSYSTEM Einen Hintergrund für die vorliegende Untersuchung bildete der bildungspolitische Diskurs um (angehende) Lehrkräfte ‚mit Migrationsgeschichte‘ (Kap. 4.1). Ausgehend davon lag ein Ziel der Analyse darin, die biographischen Hintergründe und Konstruktionen der Einmündung in ein pädagogisches Studium sowie die Positionierungen der angehenden Pädagog*innen in diesem Feld in der Phase der hochschulischen Ausbildung genauer zu untersuchen. Die Ergebnisse der biographieanalytischen Untersuchung zeigen, dass die Studierenden die Wahl eines Studiums, das auf eine Tätigkeit in pädagogischen Berufsfeldern hinführt und ihren beruflichen Entwurf als Pädagogin bzw. Pädagoge in unterschiedlicher Weise mit ihrer lebensgeschichtlichen Sinnkonstruktion verbinden. Dabei fungieren familiale Orientierungen, die in den eigenen Lebensentwurf integriert werden (etwa der Anspruch, gesellschaftlich-politische Veränderungen zu initiieren), sowie eigene (zum Teil leidvolle, aber auch ermächtigende) Schulerfahrungen als zentrale Sinnressourcen für den pädagogischen Berufsentwurf. Neben expliziten eigenen Wünschen, Vorstellungen und Hoffnungen, die mit der Wahl eines pädagogischen Studiums verbunden werden, ließen sich in den Erzählungen auch Hinweise auf weitere Bedingungen rekonstruieren, die im Prozess der Studienwahl relevant sind. So wurde die Bedeutung von fachlichen Vorbildern erkennbar: Mehrere Studierende im Sample folgen mit ihrem Weg in einen pädagogischen Beruf Familienangehörigen (Eltern, Geschwistern) nach, die bereits in pädagogischen Berufen tätig sind. Die Subjekte treten diese familiale Nachfolge dabei nicht immer auf direktem Weg an und deuten sie selbst auch nicht immer als solche. Auch wurde in vielen Beispielen die Bedeutung von Lehrer*innen erkennbar, die eine Rolle als Vorbilder für die Bildungs- und Berufsbiographien ihrer Schüler*innen einnehmen. Der Wunsch, als Pädagoge oder Pädagogin speziell zu einer Verbesserung der Chancen migrantischer Schüler*innen beizutragen oder als Vorbild für die ‚Community‘ zu fungieren, spielte in den Erzählungen über die Studienwahl der hier interviewten Studierenden dagegen insgesamt eine untergeordnete Rolle. Dies lässt sich auch so interpretieren, dass die Zuschreibung einer ‚besonderen‘ Rolle als Pädagogin ‚mit Migrationsgeschichte‘ nicht von vorne herein ein Teil des Selbstverständnisses der Biograph*innen ist, sondern (wenn überhaupt) meist erst während des Studiums oder in Praxiskontexten an sie herangetragen wird. Die bislang vorliegenden Studien über die Berufswege und -erfahrungen von Pädagog*innen mit Migrationsgeschichte zeigen, dass Pädagog*innen, die als
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Migrant*innen wahrgenommen werden, im beruflichen Alltag oft mit Praktiken der Besonderung konfrontiert sind (vgl. Georgi/Ackermann/Karakaú 2011; s.a. Kap. 4.2). In dieser Untersuchung wurde aufgezeigt, dass die Studierenden zum Teil bereits im Studium – im Rahmen von Lehrveranstaltungen, in Praktika und Hospitationen in ihren künftigen Berufsfeldern – eine besonder(nd)e Ansprache erleben. Sie erleben und bearbeiten die Adressierung als ‚(Lehramts-/Pädagogik-)Student(in) mit Migrationshintergrund‘ vor dem Hintergrund ihrer bisherigen Erfahrungsgeschichte und ihrer Selbstpositionierung unterschiedlich. Sie deuten diese Adressierung sowohl als Wertschätzung ihrer Erfahrungen und Kompetenzen als auch als eine machtvolle Form positiver Diskriminierung, Vereinnahmung und Festlegung auf die Position der ‚Anderen‘. Dies steht auch damit in Zusammenhang, dass die positive Bewertung der Differenz keine konstante Erfahrung darstellt, sondern es immer wieder Situationen gibt, in denen sich die Wertschätzung von Differenz plötzlich umkehren und die Markierung als ‚Migrationsandere‘ zu einem Stigma oder zum Anlass für den Vorwurf einer illegitimen Privilegierung werden kann. Aus biographieanalytischer Perspektive zeigt sich somit, dass die Biographien der Subjekte einen je spezifischen Resonanzraum dafür bilden, wie der Diskurs um Lehrende mit Migrationsgeschichte und die damit verbundenen Ansprachen und Erwartungen angeeignet werden. Die Studierenden greifen das diskursive ‚Angebot‘ der Position als Pädagogin mit Migrationsgeschichte nicht schematisch auf, sondern es trifft auf unterschiedliche biographische Vorerfahrungen und Selbstentwürfe. Die Adressierung wird daher unterschiedlich angeeignet und ausgefüllt, zurückgewiesen oder auch als nicht relevant für den eigenen Professionsentwurf erachtet. Wie die Subjekte sich dazu positionieren, steht in Zusammenhang mit eigenen Differenz- und Zugehörigkeitsverständnissen und erlernten Bewältigungsstrategien im Umgang mit Differenzzuschreibungen. So zeigt sich, dass die Position der ‚Pädagogikstudentin mit Migrationsgeschichte‘ so ausgefüllt werden kann, dass sie nahtlos an essentialistische Differenzkonstruktionen anschließt oder auf eine primär strategische Art und Weise angeeignet und genutzt werden kann. Kontrastiert man die im Diskurs präsenten Zuschreibungen an Professionelle ‚mit Migrationshintergrund‘ (vgl. Akbaba/Bräu/Zimmer 2013) mit den Selbstverständnissen und -entwürfen der Subjekte, so zeigt sich, dass nicht alle Dimensionen dieser Rolle in den (Selbst-) Positionierungen der Subjekte gleichermaßen zum Tragen kommen. Viele der Studierenden bringen eine spontane Affinität zu der Rolle als Integrationsvorbild und Mittler*in mit, die auch damit in Zusammenhang steht, dass viele bereits vor Beginn ihres Studiums in lebensweltlichen Kontexten eine Vorbildrolle (etwa für jüngere Geschwister oder Schüler*innen aus niedrigeren Schulstufen) eingenommen haben. Dies erleichtert das Anknüpfen an die angebotene Rolle. Das Aufgreifen der Rolle als change agents, als kritische Veränderungsakteur*innen im Prozess einer diskriminierungskritischen und differenzsensiblen Schulentwicklung, setzt hingegen ein kritisch-reflexives Bewusstsein voraus. Dieses ‚ergibt‘ sich nicht automatisch aus eigenen biographischen Erfahrungen. Die eigenen Erfahrungen im Bildungssystem stellen zwar durchaus ein Potenzial für ein solches kritisches Bewusstsein dar, wie sich in einzelnen Beispielen gezeigt hat. Sie müssten jedoch systematisch theoretisch reflektiert werden. Dabei müssten auch die Dilemmata und Grenzen thematisiert werden, die mit der Übernahme einer solchen Rolle verbunden sind: In den Fällen, in denen die Interviewten bereits im Studium eine Rolle als Kri-
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UND THEORETISCHE
R EFLEXION
tiker*in an schulischen Organisationsstrukturen für sich reklamieren, zeichnet sich ab, dass diese Positionierung im Feld der Schule selbst nicht unbedingt auf positive Resonanz stößt, sondern potenziell als Bedrohung empfunden wird. Auch im studentischen Feld führt die Forderung nach strukturellen Veränderungen im Bildungssystem kaum dazu, Mitstreiter*innen zu finden. Vielmehr machen die Studierenden die Erfahrung, sich als ‚Betroffene‘ besonders zu exponieren und dadurch diskreditierbar zu werden. Festzuhalten bleibt, dass eigene Diskriminierungserfahrungen im Bildungssystem nicht per se zu einer inklusionsorientierten, macht- und diskriminierungskritischen Haltung im Feld der Schule oder anderer Bildungseinrichtungen als zukünftigem Arbeitsfeld führen. Vielmehr kann die Erfahrung, Hürden in der Schullaufbahn aus eigenen Anstrengungen oder mit Hilfe der Eltern überwunden zu haben, auch verarbeitet werden, indem die eigenen Bildungserfolge und individuellen Bildungsanstrengungen als empirische Belege für die Gültigkeit des meritokratischen Prinzips gedeutet werden. Die Studierenden haben vielfach gelernt, dass sie selbst und ihre Familien dafür zuständig sind, sich die Teilhabe an höherer Bildung zu erkämpfen. Dies kann eine Individualisierung der Verantwortung für das ‚Gelingen‘ von Bildungswegen begünstigen, während die Institutionen des Bildungssystems von dieser Verantwortung entlastet werden. Auch die Identifizierung mit der angebotenen Rolle als ‚Integrationsvorbild‘ kann eine distinktive Haltung gegenüber migrantischen Schüler*innen und ihren Eltern begünstigen, die als ‚bildungsfern‘ oder ‚integrationsunwillig‘ wahrgenommen und abgewertet werden. Vor diesem Hintergrund erscheint die These eines ‚konjunktiven Erfahrungsraums‘, der das Verhältnis zwischen Lehrkräften und Schüler*innen ‚mit Migrationsgeschichte‘ sowie ihren Eltern kennzeichne (Georgi/Ackermann/Karakaú 2011: 268), als zu pauschal. Mit Blick auf die Professionalisierungsprozesse angehender Pädagog*innen zeigt sich an dieser Stelle die dringende Notwendigkeit, im pädagogischen Studium Möglichkeiten zur systematischen Auseinandersetzung mit wissenschaftlichen Theorien und Erklärungsansätzen zu eröffnen, die Alternativen zu den im öffentlichen Integrationsdiskurs vorherrschenden Deutungsangeboten darstellen, die ‚Bildungserfolge‘ in erster Linie der Leistungs- und Assimilationsbereitschaft der Schüler*innen und ihrer Familien zuschreiben. In Verbindung damit sollten für alle angehenden Pädagog*innen systematische Reflexionsmöglichkeiten für die Auseinandersetzung mit den eigenen Bildungsgeschichten geschaffen werden. 12.7 A BSCHLIESSENDE R EFLEXION DES THEORETISCH METHODOLOGISCHEN A NSATZES DER S TUDIE In der vorliegenden Arbeit wurde ein Zugang gewählt, der den theoretischmethodischen Ansatz der Biographieforschung mit zugehörigkeitstheoretischen Perspektiven verschränkt. Dieser Zugang zielte darauf ab, Bildungsgeschichten als Erzählungen über – und als Konstruktionen von – Subjekt-Kontext-Relationierungen im lebensgeschichtlichen Verlauf zu analysieren. Biographien sollten als gesellschaftlich kontextualisierte Konstruktionen betrachtet werden (vgl. Dausien 1996;
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2006), die in sozialräumliche und diskursive Differenz- und Machtverhältnisse eingebunden sind (Kap. 5.3). Der Ansatz, Prozesse lebensgeschichtlicher Erfahrungsbildung nicht nur als innersubjektive Phänomene zu betrachten, sondern immer in Relation zu den sozialen Kontexten zu analysieren, in denen sie sich vollziehen, ist dabei kein ungewöhnlicher Anspruch, sondern kann vielmehr als genuiner Bestandteil des zugrunde gelegten Biographieverständnisses (Kap. 5.1) begriffen werden. Das Heranziehen der zugehörigkeitstheoretischen Perspektive stand insoweit nicht für das Bemühen einer ‚zusätzlichen Theorie‘, sondern für die Akzentuierung des Aspekts der sozialen Kontextualität (Dausien 2011b: 31) von Bildungsgeschichten, der dem biographietheoretischen Zugang im Grundsatz bereits immanent ist. ‚Zugehörigkeit‘ diente als eine Heuristik, um diesen eher abstrakten biographietheoretischen Anspruch in der analytischen Auseinandersetzung mit dem Material zu konkretisieren. Das von Paul Mecheril (2003) formulierte Zugehörigkeitskonzept (Kap. 5.3.2) erwies sich insbesondere bei der Analyse der Relationierungen zu bildungsinstitutionellen Kontexten als differenziertes Instrumentarium, um die subjektiven Erfahrungen und Prozesse der Herstellung von Teilhabe und Ausgrenzung im Bildungssystem in ihrer jeweiligen Komplexität erschließen zu können. Für Analysen auf der Mikroebene war es besonders geeignet, weil es die relationale Perspektive, die auch in der Bourdieu’schen Habitus- und Feldtheorie angelegt ist, für die Analyse auf der Einzelfallebene fruchtbar macht. ‚Passungsverhältnisse‘ zwischen den biographischen Habitus der Subjekte und den Bildungskontexten werden auf diese Weise in ihrer jeweiligen Spezifik rekonstruierbar, anstatt sie lediglich als Varianten gruppenspezifischer (etwa milieuspezifischer) Habitus- und Feld-Relationen zu typisieren. Darüber hinaus ermöglichte die analytische Unterscheidung der verschiedenen Dimensionen von Zugehörigkeitsphänomenen (Mitgliedschaft, Wirksamkeit, Verbundenheit) in der empirischen Analyse differenzierte Einsichten in die Mehrdimensionalität von Zugehörigkeitserfahrungen und -konstruktionen. Die differenz- und zugehörigkeitstheoretischen Vorüberlegungen (Kap. 5.3.1) schärften auch den Blick dafür, gesellschaftliche Machtverhältnisse und damit verbundene Praktiken der Differenzierung, Hierarchisierung, der Normalisierung und des Othering zu rekonstruieren, die für die Zugehörigkeitserfahrungen und Selbstpositionierungen der Subjekte konstitutiv sind. Auf diese Weise konnte gezeigt werden, wie eng die Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen der Subjekte mit den Differenzzuschreibungen, Diskriminierungs- und Anerkennungserfahrungen im jeweiligen Kontext verwoben sind. Die zugehörigkeitstheoretische Analyse kann freilich eine empirische Analyse der ‚Feldbedingungen‘ in Bildungskontexten ebenso wenig ersetzen wie eine diskursanalytische Aufarbeitung der Möglichkeitsräume und -grenzen für Selbstpositionierungen und -entwürfe biographischer Akteur*innen (vgl. dazu Spies 2010). Sie stellt vielmehr einen Zugang dar, die (institutionellen und diskursiven) Bedingungen für Zugehörigkeitserfahrungen in den biographischen Konstruktionen systematisch in den Blick zu nehmen. Umgekehrt ermöglichte es der biographieanalytische Zugang, Zugehörigkeitserfahrungen und -konstruktionen als zeitlich-prozessuale Phänomene im lebensgeschichtlichen Zusammenhang zu untersuchen. Dadurch wurde es möglich, Zugehörigkeitskonstruktionen nicht nur als „Momentaufnahme[n]“ (Mecheril 2003: 124) in den Blick zu nehmen, sondern diese in ihrer (individuell-biographischen) Zeitlichkeit
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bzw. Geschichtlichkeit zu rekonstruieren. Dadurch konnte gezeigt werden, wie sich Zugehörigkeitserfahrungen lebensgeschichtlich ‚aufschichten‘ und wie sich biographische Zugehörigkeitsverständnisse im Verhältnis zu unterschiedlichen Kontexten konstituieren und transformieren. Dabei wurden in der Betrachtung der individuellen Fallgeschichten einerseits Kontinuitäten erkennbar: In den Fallrekonstruktionen ließ sich aufzeigen, dass Zugehörigkeits- und Differenzerfahrungen in biographischer Perspektive keine voneinander isolierten, situativen Begebenheiten sind, sondern im lebensgeschichtlichen Verlauf miteinander verknüpft werden und Spuren in den Selbstverständnissen der Subjekte hinterlassen. Die Zugehörigkeitsverständnisse und Selbstpositionierungen der Subjekte sind deswegen nicht beliebig. Sie lassen sich nicht allein als situative Reaktionen auf die Möglichkeiten lesen, die der jeweils aktuelle Kontext eröffnet, sondern sie werden auch vor dem Hintergrund bestimmter lebensgeschichtlicher und kollektivbiographischer Erfahrungs- und Deutungshorizonte artikuliert, die ein Ergebnis vorangegangener Erfahrungen in anderen sozialen Zusammenhängen sind. Neben eigenen Differenz- und Zugehörigkeitserfahrungen haben auch familial und soziokulturell tradierte Zugehörigkeitsverständnisse eine Bedeutung für die Zugehörigkeitskonstruktionen und Selbstpositionierungen der Subjekte. Andererseits wurde gezeigt, dass Zugehörigkeitsverständnisse nicht statisch sind, sondern als wandelbare Positionierungen zu verstehen sind, die immer im Verhältnis zu konkreten sozialen Kontexten und diskursiven Möglichkeitsräumen analysiert werden müssen. So wurde deutlich, dass Übergänge in neue lebensweltliche und institutionelle Kontexte ebenso wie die Begegnung mit signifikanten Anderen zum Anlass für die Reflexion und Transformation von Selbst- und Zugehörigkeitskonstruktionen werden können. Der biographische Zugang sensibilisiert damit systematisch für die Mehrdimensionalität und Dynamik sozialer Zugehörigkeiten und Positionierungen.
Literatur
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Transkriptionsnotation
,
kurzes Absetzen im Satz
.
‚hörbares‘ Satzende (Absenken der Stimme)
-
kurze Pause, weniger als eine Sekunde
(2)
Pausen von einer Sekunde oder mehr (Zeitangabe in Klammern)
NEIN
laut gesprochene Passagen
°nein°
leise gesprochene Passagen
(lacht)
paraverbale Äußerungen der Sprecher*in
/(lachend) ja so ich/
von paraverbalen Passagen/Satzteile
Ja ich meine Ach so
Äußerungen
begleitete
gleichzeitiges Sprechen von Interviewerin und Erzähler*in
festge_
Wort- oder Satzabbruch
hat=hat
schnell hintereinander gesprochene Worte
nein
betont gesprochene Passagen
[mitgemacht]
Transkription ist unsicher
(…)
Kürzung von Zitaten durch Auslassungen
Kultur und soziale Praxis Marcus Andreas Vom neuen guten Leben Ethnographie eines Ökodorfes Juni 2015, 306 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,99 €, ISBN 978-3-8376-2828-9
Gesine Drews-Sylla, Renata Makarska (Hg.) Neue alte Rassismen? Differenz und Exklusion in Europa nach 1989 Mai 2015, 332 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2364-2
Jörg Gertel, Rachid Ouaissa (Hg.) Jugendbewegungen Städtischer Widerstand und Umbrüche in der arabischen Welt 2014, 400 Seiten, Hardcover, zahlr. z.T. farb. Abb. , 19,99 €, ISBN 978-3-8376-2130-3
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Tatjana Thelen Care/Sorge Konstruktion, Reproduktion und Auflösung bedeutsamer Bindungen 2014, 298 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2562-2
Yeliz Yildirim-Krannig Kultur zwischen Nationalstaatlichkeit und Migration Plädoyer für einen Paradigmenwechsel 2014, 260 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2726-8
2014, 304 Seiten, kart., 24,99 €, ISBN 978-3-8376-2402-1
Heidrun Friese Grenzen der Gastfreundschaft Die Bootsflüchtlinge von Lampedusa und die europäische Frage 2014, 250 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2447-2
Christa Markom Rassismus aus der Mitte Die soziale Konstruktion der »Anderen« in Österreich 2014, 228 Seiten, kart., 29,99 €, ISBN 978-3-8376-2634-6
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