Skeptizismus als theologisches Problem 9783666562167, 9783525562161


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Skeptizismus als theologisches Problem
 9783666562167, 9783525562161

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Schnürt / Skeptizismus als theologisches Problem

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GÜNTHER SCHNURR

Skeptizismus als theologisches Problem

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Edmund Schlink Band 14

© Vandenhoeck & Ruprecht, Güttingen 1964. Printed in Germany. Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesamtherstellung: Hubert & Co., Göttingen 8206

M E I N E N ELTERN

Vorwort Dieses Buch ist die Kurzfassung meiner im Sommer 1961 der Theologischen Fakultät in Heidelberg vorgelegten Dissertation. Das darin behandelte Problem hat mich meine ganze Studienzeit hindurch beschäftigt. Herrn Prof. Sdilink habe ich zu verdanken, daß ich es, obwohl es damals noch als theologisch ziemlich abseitig galt, wissenschaftlich austragen konnte. Seine Fürsprache ermöglichte auch die Veröffentlichung der Arbeit. Ich freue mich darüber um so mehr, als das ehemalige Außenseiterthema inzwischen verspricht, als ein wesentliches Thema der gegenwärtigen theologischen Besinnung erkannt zu werden. Litzelstetten, den 2. Mai 1964

6

Günther Schnurr

Inhalt Vorbemerkung

11

Erster Teil: Der philosophische

Skeptizismus

1. K a p i t e 1: Das philosophische Motiv und Ziel der Skepsis

14

I. Der Wissenschaftsarispruch der Skepsis II. Die metaphysische Intention als urphilosophisches Anliegen Skepsis

14 der

16

1. Die metaphysische Intentionalität des Philosophierens überhaupt . . . a) Der Ursprung der metaphysischen Frage b) Motiv und Ziel der metaphysischen Frage c) Die letztliche, formale Identität aller philosophischen Spitzenfragen .

16 18 19 19

2. Die metaphysisdie Intentionalität der Skepsis a) Der existentielle Ansatz der Skepsis als Keimzelle der erkenntnistheoretischen Fragestellung b) Die drei skeptischen Grundfragen c) Das Ergebnis der skeptischen Sinnsuche als Spiegel der Ursprungserfahrung des Philosophierens d) Die Skepsis und das Absolute

21

2 . K a p i t e l : Die Methode der Skepsis

21 22 22 27 34

1.Die Dynamis skeptike

34

2. Die Destruktion der dogmatischen Aussagen a) Die Methode der Antithetik

35 35

b) Das Prinzip der Isosthenie

35

3. Epoche und Aphasie

36

4. Die skeptische Darstellungsform a) Erzählen b) Deskription und Kommentation c) Die schriftstellerische Form der Skepsis d) Skeptische Redensarten 5. Der anthropozentrische Ansatzpunkt

37 37 37 40 40 41

6. Begleiterscheinungen der Anthropozentrie a) Moralisierung b) Die durchgehende Psychologisierung aller vorgefundenen historischen Daseinsaussagen und Ereignisse c) Der Blick für das Singuläre 7. Das Verhältnis von Kritik und Skepsis

42 42 42 44 45

7

3. K a p i t e l : D i e Argumentation der Skepsis I. Die formale skeptische Untersuchung der menschlichen Erkenntnisfunktionen

47

1. Die sensuale Skepsis 2. Die rationale Skepsis a) Die Kritik der Begriffsbildung b) Die Kritik der Definition c) Die Kritik des Schlußverfahrens und der logisdien Begründung . . . d) Das Problem des Wahrheitsbegriffs und der Existenz von Wahrheit . 1. Das Wahrheitskriterium 2. Die Existenz absoluter Wahrheit

48 49 50 51 51 52 52 55

I I . Die materiale skeptische Untersuchung der einzelnen Problemkreise

56

1. Der anthropologische Problemkreis a) Die Einebnung der menschlichen Sonderstellung b) Die Schwäche der Erkenntnisfunktionen c) Die psychische und voluntative Schwäche des Menschen d) Die Glaubensmotivation e) Die Unrentabilität des Lebens 1. Die Unzufriedenheit im praktischen Handeln 2. Die Vergänglichkeit und Hinfälligkeit des Lebens 3. Die Wertindifferenz und Impersonalität des Schicksals 4. Die Leidensbestimmtheit des Daseins

56 57 58 59 62 64 64 65 65 66

2. Der ethische Problemkreis a) Der ethische Relativismus 1. Die Problematik eines allgemeingültigen Moralaxioms 2. Der Relativismus von Gut und Böse b) Die Fragwürdigkeit der moralischen Autoritäten 1. Die Komplexität des Menschen 2. Die Insuffizienz des Prinzips des Natürlichen 3. Die Not und Gebrechlichkeit des Menschen als der letzte Autoritätsgrund der positiven Rechtsgestalt 4. Die faktische Legitimation der ethischen Normen

67 67 67 69 70 71 71

3. Der religiöse und theologische Problemkreis a) Die Kritik der Religion 1. Die psydiologisierende Erklärung 2. Die Analogisierung durch Vergleich b) Die Kritik der natürlichen Theologie 1.Die Gottesvorstellung 2. Das Dasein Gottes 3. Die Vorsehung Gottes c) Die Kritik der Offenbarungsreligion

73 73 73 73 74 74 75 76 76

4. Der kosmologische Problemkreis a) Die Kritik des Kausalitätsgesetzes b) Der Begriff der Fortuna bei Montaigne

78 79 79

4. K a p i t e l : Die Lebenshaltung des Skeptikers I. Metaphysische Bescheidung 1. 2. 3. 4. 8

47

Ignorance doctorale Irrésolution infinie und Offenheit Indifferenz Eventuelle Flucht zur Offenbarung

71 72

81 81 81 83 85 85

II. Bejahter Lebenswahn

86

1. Distanzierte Akkommodation a) Sachlichkeit und Neutralität b) Konservatismus c) Toleranz

87 87 88 88

2. Naturhingabe und Moderation a) Gehorsam b) Geduld c) Moderation

89 89 89 90

3. Equilibre intérieur

90

I I I . Das Ichbewußtsein

91

1. Reuelosigkeit 2. Esoterik 3. Elitegefühl 4. Einsamkeit

93 93 93 93

IV. Die Stellung zur Wissenschaft

94

V. Ataraxie als dogmatischer Rest?

95

1. Bescheidung als Glückseligkeit 2. Die Verzweiflung . . .

96 97

5. K a p i t e l : Abarten, Erscheinungsformen und Vorformen des Skeptizismus 1. Relativismus a) Der ethische und religiöse Relativismus der Sophisten b) Die Moralistik der Neuzeit c) Der Historismus des 19. Jahrhunderts 2. Pessimismus 3. Nihilismus 4. Der radikale Skeptizismus in Psychosen

99 100 100 101 101 103 104 105

Zweiter Teil: Theologische Beurteilung des Skeptizismus 6. K a p i t e l : Die philosophische Legitimität der Skepsis als ihre Relevanz für die Theologie

107

1. Die Voraussetzungen des Philosophierens a) Die strukturellen Momente b) Die ontologische Denkvoraussetzung c) Die Verwirklidiungsformen

109 109 109 111

2. Schwierigkeiten innerhalb des konsequenten Vollzugs des Philosophierens a) Die Subjekt-Objekt-Spaltung b) Das Problem der Verifikation, der lebendigen Realisation c) Das fundamentalontologische Problem des Nichtseins

111 113 114 117

3. Die geistige Problemlage und ihre theologische Relevanz

118

9

Exkurs: Typen philosophischer Versuche der Überwindung des Skeptizismus

.

1.Descartes 2. Kant 3. Fichte 4. Die Existenzphilosophie 5. Die Mystik

122 123 126 132 135 144

7. K a p i t e l : Das Sdieitern einer theologischen „Indienstnahme" des Skeptizismus und die Versteifung des radikalen zum „soteriologisdien" Skeptizismus

149

I. Das Sdieitern des theologiegeschichtlichen Versuchs, den Skeptizismus als positives Element im Glaubensakt zu interpretieren

149

1. Nicolaus von Cues 2. Pierre-Daniel Huet 3. August Tholuck 4. Sören Kierkegaard 5. Paul Tillich a) Tillichs „Idee einer universalen Erlösungsgeschichte", deren Mitte Jesus der Christus ist b) Die Ablehnung der Lehre von der doppelten Prädestination und von der ewigen Verdammnis c) Der immanentistisdie Charakter des absoluten Glaubens als des Mutes zum Sein d) Der Inhalt des absoluten Glaubens: der „Gott über Gott" . . . .

153 158 163 170 176

II. Die Versteifung des radikalen zum „soteriologischen" Skeptizismus

186

8. K a p i t e l : Die theologischen Erklärungs- und Ermöglich ungsgründe des radikalen metaphysischen und soteriologisdien Skeptizismus

198

I. Die theologische Erklärung des Skeptizismus 1. Skepsis als Akt 2. Skeptizismus als Existenzhaltung 3. Die skeptische Existenzhaltung als punktuelle Aktualität II. Die theologische Begründung der Ermöglichung und Verwirklidiung des soteriologisdien Skeptizismus 1. Die 2. Die 3. Die 4. Das 5. Der

Verborgenheit Gottes Verwechselbarkeit der Offenbarung Unansdiaulichkeit des Neuen Lebens schlechthin unverfügbare „extra nos" des Heils doppelte Ausgang des Gerichts

9. K a p i t e l : Die Überwindung des Skeptizismus 1. Christus das Ende der Skepsis 2. Die Verheißung des Heiligen Geistes a) Der usus spiritualiter elenchticus legis b) Das Geheimnis der göttlichen Erwählung c) Der Kampf des Glaubens Literaturverzeichnis 10

179 181 182 183

199 199 203 212 217 217 222 227 229 230 232 233 235 243 247 250 255

Vorbemerkung Die Begriffe „skeptisch, Skepsis und Skeptizismus" sind vieldeutig. Die Skala ihrer Verwendung reicht von der „nüchternen Vorsicht" im praktischen Leben über die „kritische Zurückhaltung und Prüfung" wissenschaftlichen Arbeitens bis hin zur „Bescheidung oder Verzweiflung" metaphysisch-existentiellen Sich-Verhaltens. In dem letzten, philosophischen Sinne der metaphysischen Skepsis, die metaphysische Bescheidung oder metaphysische Verzweiflung bedeutet, wird der Begriff des Skeptizismus hier verstanden. Dieser Skeptizismus scheint uns eine spezifische Möglichkeit metaphysischer Existenzhaltung des Menschen als ens metaphysicum, also bezüglich der „Sinnfrage" zu sein, die aus der Erfahrung und aus der Reflexion der Erfahrung eines fortlaufenden Leerlaufs dieser Sinnfrage resultiert. Sinn ist ein Sinngefüge, da sinngebend, also eine Beziehungsgröße, der auf der menschlichen Seite die Reflexion, die Beziehung von Vernunft und Erfahrung, entspricht. Und Skeptizismus ist die Reflexion, in der die sinnsuchende Vernunft die Erfahrung zerfragt und dadurch jedes (zumindest die ihr zugänglichen) Sinngefüge zerstört und seinen Letztgültigkeitsanspruch auflöst. Die durchgängige Negativität seiner Reflexionsresultate zeitigt in ihm das Bewußtsein der Ohnmacht und Unfähigkeit des Menschen zur eigenen Beantwortung der Sinnfrage, welches sich verdünnt zum Zweifel am Sinn überhaupt und entweder absinkt zur monotonen Resignation über den Sinn und über sich selbst als sinnsuchenden oder sich steigert zur Verzweiflung am Sinn und an sich selbst als sinnsuchendem. Mit diesem Bewußtsein verbindet sich eine letzte existentielle Distanz und Reservation gegenüber dem eigenen und dem anderer, in vorgegebenen Sinngebungen sich bewegenden Existenzvollzug. Ihr fehlt das Engagement, die Fähigkeit zur sich verantwortenden Hingabe. Als Phänomen tritt solcher radikaler Skeptizismus in den Vordergrund besonders in den Zeiten geistes- und glaubensgeschichtlicher Krise. So z. B. in der Krise des alttestamentlichen Glaubens bei Kohelet, in der Spätantike, im Ausgang des Mittelalters und in der Jetztzeit als dem „Ende der Neuzeit". Wie in allen diesen Krisenzeiten wird er auch heute durch 11

mannigfache Verdrängungsversuche verdeckt, so z.B. durch die Entscheidungspathetik gewisser existentialistischer Richtungen, durch die Heilungs- und Heilsprätention der Psychoanalytik, durch die Wirtschaftsund Technikgläubigkeit der Masse. Trotz des teilweisen „Erfolgs" dieser Ablenkungsversuche, die sich gerade aus der unerträglichen Existenznot solcher skeptischer Erfahrung bzw. skeptischer Ahnung erklären, bleibt ein unverkennbares Charakteristikum der heutigen Zeit ihre vorwiegend weltanschauliche, philosophische und religiöse Müde und Indifferenz. Und es dürfte nicht verfehlt sein, die inzwischen wieder latent gewordene, zur „ Durchstimmtheit" und Bestimmtheit materialisierte, radikal skeptische Bewußtseinsstufe und Existenzhaltung des metaphysischen Skeptizismus als den eigentlichen, immer noch untergründig wirksamen Nerv derselben zu bezeichnen. Insofern als den heutigen Epigonen solcher Skepsis die Begegnung des christlichen Glaubens in der Verkündigung der Kirche gilt, dürfte für uns die metaphysische Skepsis theologisch aktuelle Relevanz bekommen. Um so mehr, als wir in ihr eine spezifisch menschliche Möglichkeit sehen, nämlich die grenzhafte Wirklichkeit der Endstufe des Philosophierens, d.h. der Sinnsuche des natürlichen Menschen. Gerade in Anbetracht dieses Endpunktcharakters des Skeptizismus wäre es vielleicht besser und der geistigen Situation angemessener, die Indifferenz der heutigen Zeit gegenüber dem christlichen Glauben mehr von der verzweifelten geistigen Müdigkeit als nur von der dumpfen geistigen Trägheit des homo naturalis her zu interpretieren. In dieser — gewiß oft sehr blasierten und frivolen — Müdigkeit scheint sich vielmehr die lähmende Nachwirkung der verzweifelten Ohnmächtigkeit der metaphysischen Aussagelosigkeit und Ignoranz des Skeptizismus niederzuschlagen. Ebenso dürfte sich die Engagementlosigkeit und Hingabeunfähigkeit dieser Müdigkeit ernsthaft am ehesten als Erbe der letztlichen Distanziertheit der skeptischen Existenzhaltung begreifen lassen. Auch und besonders gegenüber dem Zuspruch der christlichen Heilsbotschaft äußert sich diese Müdigkeit als Glaubens- und Hingabeunfähigkeit. Es ist unsere Meinung, dieselbe theologisch nur dann diskutieren zu können, wenn wir sie als Auswirkung der konsequenten Steigerung des metaphysischen zum „soteriologischen" Skeptizismus zu verstehen versuchen. Insofern erscheint uns als eine für die heutige Auseinandersetzung der Theologie mit der Problematik der geistesgeschichtlichen Umwelt besonders dringliche Aufgabe die, die Faktizität solchen radikalen philo12

sophischen, d.h. metaphysischen Skeptizismus theologisch zu interpretieren. Erst dann dürfte es möglich sein, theologisch legitim die Frage der Uberwindung desselben aufzugreifen. Um eine wirkliche, dieser Existenzhaltung ernsthaft begegnende Auseinandersetzung jedenfalls kommunikationsmethodisch zu ermöglichen, lassen wir vor der spezifisch theologischen Beurteilung der Skepsis diese selbst in ihrem philosophischen Anliegen zu Wort kommen. Dies geschieht in dem Versuch einer systematischen Darstellung ihrer Position an Hand der Argumentation ihrer bedeutendsten in der Geistesgeschichte uns begegnenden Vertreter. Die Berechtigung einer solchen Systematisierung der historisch zu verschiedenen Zeiten auftretenden skeptischen Positionen liegt darin, daß ihre Gedankenführung im wesentlichen jeweils dieselbe ist.

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Erster Teil

DER PHILOSOPHISCHE SKEPTIZISMUS ERSTES

KAPITEL

Das philosophische Motiv und Ziel der Skepsis I . D e r W i s s e n s c h a f t s a n s p r u c h der Skepsis Die skeptische Philosophie erhebt den Anspruch, die einzige legitime Richtung der Philosophie zu sein. Auf den ersten Blick mutet diese Behauptung befremdend an, anstößig ebenso für den gesunden Menschenverstand wie für die dogmatischen Systeme aller Zeiten. Ein Denken, dessen letzte Weisheit in einem sich bescheidenden Nichtwissen liegt, nennt sich das wahre Wissen, die höchste Philosophie. Aber hinter der skeptischen Version des sokratischen Paradox „ich weiß, daß ich nicht weiß" steht eine Aussage von tiefstem metaphysischem Belang: der Versuch des Wissens um die letzten Dinge, um die Gründe und Ziele unseres Seins und Tuns, endet in einer letztlichen Ungewißheit. Auch für die Skepsis ist der Mensch wesensmäßig philosophisch veranlagt — ens metaphysicum —, ein animal rationale, auf Wissen ausgerichtet Wie jeder dogmatische Philosoph versucht der Skeptiker, seine Erfahrungen und Erkenntnisse in die Bewußtseinshelle der Reflexion zu heben, zu prüfen und Schlüsse für sein Selbstverständnis und für seine Weltanschauung zu ziehen, d. h. dem Sinn seines Daseins in einem philosophischen System Ausdruck zu verleihen. Daß dabei alle ihm zugänglichen Systembildungen vor seinem kritischen Blick nicht bestehen können, ist die Erfahrung und Erkenntnis des Skeptizismus. Das daraus folgende Bekenntnis des Nichtwissens ist seine Weisheit, der Ertrag seiner Wissenschaft. Neben diesem Wissenschaftsanspruch erhebt die Skepsis auch den Anspruch auf Wissenschaftlichkeit im Sinne einer rein technischen Wissen1 Unter Wissen ist hier das eigentliche Wissen der Philosophie verstanden: metaphysisches oder ontologisches Wissen, das das Geheimnis des Seins und damit alle darin enthaltenen Probleme zu begreifen und zu lösen sudit. Das ihm entsprechende Wissenschaftsorgan wird „ontologisdie Vernunft" genannt.

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schaft 2 . Als solche richtet sie sich nach den Regeln der technischen oder der formalen Vernunft, die das notwendige und zum Wesen des Intellekts gehörende Organ der Wirklichkeitserfassung ist. Zu den Regeln der technischen Vernunft gehört vor allem das strikte Befolgen ihrer Denkgesetze, der Logik, das Gebot der intellektuellen Redlichkeit und Folgerichtigkeit. So ist das Hauptwerkzeug der Skepsis der Satz vom Widerspruch. Dem Prinzip der Rationalität entspricht auf seiten der Empirie das Gebot der Sachlichkeit und Sachgemäßheit, der möglichst weitgehenden Objektivität: kein vages Meinen und Vermuten, kein haltloses Wähnen, sondern methodisches, sachgerechtes Erforschen und kritisches Durchleuchten der Gegenstandsbereiche und Problemfelder. So verwerten die Skeptiker aller Zeiten die empirischen Fakten, z. B. die historischen, psychologischen, natur- und moralwissenschaftlichen Erkenntnisse, in weitestem Maße. Uber sämtliche Wirklichkeits- und Problembereiche des Daseins breitet die Skepsis das formal-logische Netz der wissenschaftlichen Vernunft 3 . Man bewundert das ungeheure Wissen der antiken Skeptiker, ihren Scharfsinn, mit dem sie Schwächen und Lücken der dogmatisch-philosophischen Systeme aufdecken, ihre elegante, schlagfertige, oft übertrieben ironische und doch hieb- und stichfeste Argumentation. Ja, die Skeptiker richten sich nicht nur nach diesen streng formal-logischen Maßstäben, sondern sie machen sich geradezu zu deren Anwälten, indem sie die dogmatische Philosophie eines Versagens gegenüber den Gesetzen der Logik zeihen und überführen. Dementsprechend wird ihnen im Laufe der Philosophiegeschichte der teilweise (gegenüber den skeptischen Epigonen) berechtigte Vorwurf gemacht, die Regeln der technischen Vernunft durch zu konsequente Einhaltung zu strapazieren: der Skeptizismus sei die notwendige Folgeerscheinung einer Hypertrophie der nur wissenschaftlichen Vernunft 4 . Verkannt 2

Erst in der späten Neuzeit wird der Unterschied zwischen Wissenschaft und Philosophie betont. Im Grunde gehören beide eng zusammen; denn die wissenschaftliche Vernunft als technische, kognitive oder formale Vernunft ist letztlich nur eine Funktion, ein Element der ontologischen und wird von dieser als der weiteren umfaßt (vgl. Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Werke IV, S. 302). Der wesentliche Unterschied zwischen beiden läßt sich verdeutlichen an dem Unterschied zwischen Wahrheit und Richtigkeit: Die technische Vernunft besorgt die immanente Richtigkeit einer Erkenntnis; die Wahrheit dagegen findet, wenn überhaupt, allein die ontologische Vernunft. 3 D i e Unzahl an Beweisgängen und Beispielen ist trotz der Tatsache, daß sie inzwischen zum großen Teil veraltet sind und die entsprechenden Wissenschaften von heute kaum mehr betreffen, ein eindeutiges Zeichen vom unbedingten Wissenschaftlichkeitsanspruch und philosophischen Wahrheitswillen der Skeptiker. Daß dieser wissenschaftliche Eros auch ihnen zur ungezügelten Leidenschaft werden kann, beweisen die übertriebenen logistischen Spielereien aller Skeptiker der zweiten und dritten Generation — ein Fehler, den sie mit allen Epigonen gemein haben. * So z. B. W. James (The will to belief, S. 19 f., 28 f.), der den pyrrhonischen Skeptizismus für eine Verabsolutierung des materialistisch-naturalistischen Postulats der Irrtumslosigkeit hält und ablehnt.

15

wird bei diesem Vorwurf nur — und das ist grundlegend wichtig —, daß hier die Skeptiker sich auf das Feld der Dogmatiker begeben, um die Unzulänglichkeit der dogmatischen Denkmittel und damit die Illegitimität ihrer Ansprüche aufzuweisen. Sie machen sich zum Anwalt gerade der dogmatischen Denk- und Erkenntnisvoraussetzungen, um diese dann ad absurdum zu führen. Sie denken auch dort noch, wo der Dogmatiker aufhört. Daß damit das ganze vernünftige Denken und auch ihre eigene logische Vernunft zu Fall kommt, macht ihnen nichts aus. Sie wagen diesen letzten, notwendigen Streich — tour d'escrime, coup desespere5 — in der Auseinandersetzung mit der voreilig-überheblichen, dogmatischen Vernunft. Im Hinblick darauf nennen sie ihre skeptische Methode ein Purgiermittel, das sich selbst mitabführt 6 . Der Nachweis der Wissenschaftlichkeit des Skeptizismus wird vor allem gegenüber einem anderen, geläufigeren Vorwurf der Dogmatiker geführt: der Skeptizismus sei nur eine Sache ungenügender Durchreflektiertheit, Symptom eines geistigen Kurzschlusses oder einer psychischen Verkrampfung. Dieser Vorwurf ist zwar gegenüber vielen unter dem Namen der Skepsis auftretenden Haltungen berechtigt — z.B. gegenüber der naiven Skepsis der Masse von Halbgebildeten, besonders in Zeiten geistiger Krisen und Umbrüche, oder gegenüber dem angelernten oder mehr angefühlten Skeptizismus einer frivolen, erfahrungsreichen Lebewelt 7 . Aber er wird dem spezifisch philosophischen Anliegen und der äußerst hohen Bewußtheitsstufe des echten Skeptizismus nicht gerecht.

II. D i e m e t a p h y s i s c h e I n t e n t i o n a l s u r p h i l o s o p h i s c h e s Anliegen der Skepsis 1. Die metaphysische

Intentionalität

des Philosophierens

überhaupt

Philosophie im eigentlichen Sinne ist metaphysisch ausgerichtet. Metaphysik entspringt dem Versuch des Menschen, sich in der Welt zurechtzufinden, seinen Ort im Ganzen des Daseins zu erkennen und so seine Aufgabe in ihm zu verstehen. Sie ist die Suche nach dem Sinngrund des Daseins. Dieses Streben, auf das der Mensch von Natur aus angelegt ist 8 , ist sein spezifisches Vermögen im Gegenüber zur übrigen Kreatur. 5

Montaigne, Essais (fortan zit. als: Ess.) II, 12, S.261, 303. Ess.II, 12, S.223 f. Vgl. Sextus Empiricus, Hypotyposeis (fortan zit. als: Hyp.) I, 206 und Adversus Mathematicos (fortan zit. als: Math.) VIII, 480. 7 Vgl. R.Richter, Der Skeptizismus in der Philosophie und seine Überwindung I, S.XXI. 6

8

Math. VII, 27: