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German Pages 407 [408] Year 2006
Martin Baisch Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft
W G DE
Trends in Medieval Philology Edited by Ingrid Kasten · Nikiaus Largier Mireille Schnyder
Editorial Board Ingrid Bennewitz · John Greenfield · Christian Kiening Theo Kobusch · Peter von Moos · Uta Störmer-Caysa
Volume 9
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Martin Baisch
Textkritik als Problem der Kulturwissenschaft Tristan-Lektüren
Walter de Gruyter · Berlin · New York
© Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm fiber Haltbarkeit erfüllt.
ISSN 1612-443X ISBN-13: 978-3-11-018568-3 ISBN-10: 3-11-018568-7 Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. © Copyright 2006 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin Druck und buchbinderische Verarbeitung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
Vorwort Die vorliegende Arbeit ist die für den Druck gekürzte und überarbeitete Fassung meiner im Februar 2001 vom Fachbereich Philosophie und Geisteswissenschaften der Freien Universität Berlin angenommenen Dissertation. Die nach diesem Termin erschienene Literatur ist bis zum redaktionellen Abschluss im Dezember 2005 weitgehend berücksichtigt worden. Als Stipendiat am Münchner Graduiertenkolleg »Textkritik als Grundlage und Methode historischer Wissenschaften' hatte ich die Möglichkeit, im interdisziplinären Austausch ein theoriegeleitetes textwissenschaftliches Denken kennen zu lernen, das sich in Hinblick auf die editionsphilologischen, literaturtheoretischen und kulturwissenschaftlichen Probleme meiner Arbeit als sehr fruchtbar erwies. Beteiligte an solchem Gespräch, das in einer erstaunlichen Form von Neugier, Intensität und Freundlichkeit geführt wurde, waren u. a. Hans Walter Gabler, Roger Lüdeke, Norbert H. Ott, Carmen Cardelle de Hartmann, Ernst Hellgardt, Christianes Henkes, Walter Hettche, Annette Oppermann, Gabriele Radecke, Harald Salier, Annette Schütterle und Elke Senne. Großen Dank empfinde ich aber auch meinen (ehemaligen) Berliner Kollegen und Freunden gegenüber. Matthias Meyer und Hendrikje Haufe haben durch kritische Lektüre wie durch die fortwährende Bereitschaft zur Diskussion viel dazu beigetragen, meine Argumentation zu schärfen. Hinweisen von Harald Haferland und HansJochen Schiewer bin ich gerne gefolgt. Prof. Dr. Volker Mertens, der das Zweitgutachten angefertigt hat, danke ich für zahlreiche Anregungen. Die Entwicklung der Arbeit hat das Forschungscolloquium von Prof. Dr. Ingrid Kasten bei mehreren Gelegenheiten in immer anregenden und kritischen Diskussionen verfolgt. Für genaue Kritik wie hilfreiche Einwände und ergiebige Hinweise habe ich Ingrid Kasten zu danken, ohne die die Arbeit nicht möglich geworden wäre. Mein tiefer Dank gilt aber auch den Freunden Fritz Maiwirth und Holger Hofmann wie meiner Familie für das Wichtigste. Ischl und Jochen Baisch überdies für die finanzielle Unterstützung bei den Druckkosten. Bei der Einrichtung des Manuskripts für den Druck haben mich Markus Greulich, Ann Mindnich und Johannes Trauisen unterstützt. Ein letzter Dank geht an die Herausgeber der Reihe
VI
Vorwort
T M P und an Heiko Hartmann und Andreas Vollmer vom Verlag Walter de Gruyter für die gute Zusammenarbeit.
Berlin, im März 2006
Martin Baisch
Inhalt 1.
Einleitung
2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4.
Kritik der Textkritik Hermeneutik und Kritik im 19. Jahrhundert Mittelalterliche Texte als Aufgabe (Misch-)Handschriften Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans
1 4 4 9 12 14
2.4.1. Exkurs: Mündlichkeit und Schriftlichkeit
21
2.5. 2.6. 2.7.
Text als (re)ecriture Text als .Handschrift': Material Philology Autor - Redaktor - Schreiber
24 32 37
3.
Textkritik als Funktionsgeschichte der Uberlieferung mittelalterlicher Texte Anekdotische Varianz? Text als Handlung
54 54 56
3.2.1. Exkurs: Literarische Interessenbildung als Ansatz funktionsgeschichtlicher Literaturbetrachtung Leistungen und Defizite
68
Text und Rezeptionsästhetik: Der mittelalterliche Schreiber als,Leser' Text als Konterdiskurs Kommentar und Überlieferung Die Unverfügbarkeit der Uberlieferung Totale Philologie
75 86 92 94 97
3.1. 3.2.
3.3. 3.4. 3.5. 3.6. 3.7. 4. 4.1. 4.2. 4.3. 4.4. 4.5.
Das handschriftliche Material Das Skriptorium Die Handschriften Schreiber, Schreibsprache und Datierung der Handschriften Textkürzung und -bearbeitung Bisherige Deutungen der Textbearbeitung und -kürzung
99 99 100 103 109 115
4.5.1. Cgm 51 4.5.2. Zu Wolframs Paragval im Cgm 19
115 123
ΥΠ!
4.6.
5. 5.1. 5.2. 5.3. 5.4. 5.5. 5.6. 5.7. 5.9. 6. 6.1 6.2 6.3.
Inhalt 4.5.3. Die Salzburger Fragmente von Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens Die Illustrationszyklen im C g m 19 und 51 4.6.1. Das Alte ist das Neue 4.6.2. Autonomie und Heteronomie der Bildprogramme 4.6.3. Kunst oder Kult Interpretationen zur Textgestalt der M ü n c h n e r TraÄw-Handschrift Zur Interpretation Tristan in Irland Listen am Hof In der Minnegrotte Frauenbilder Abschied Fortsetzungen 5.7.1. Exkurs: Die Fehlstellen der Tm/a«-Handschrift Β in Ulrichs Trcr&ra-Fortsetzung Zusammenfassung
131 133 136 137 142 146 146 148 184 228 248 256 274 285 297
W o l f r a m s Titurel i m Spannungsfeld v o n Fragmentarisier u n g als literarischer Strategie u n d .Poetik' der U b e r l i e f e r u n g 306 Die Erfahrung des Lesens 306 Zur Textkritik von Wolframs Titurel 312 Literarische Fragmentarisierung und Materialität der Uberlieferung 321
7.
Ausblick
350
8. 8.1 8.2
Bibliographie Primärliteratur Sekundärliteratur
354 354 357
9.
Begriffs- u n d Werkregister
400
1. Einleitung „Nur langweilige Bücher haben eine problemlose Textgeschichte." 1
Jeder Text, von dem - in welcher Form auch immer - Wirkung ausgegangen ist, besitzt eine Geschichte. Textgeschichte im philologischen Sinn beschreibt Konstanz und Varianz eines Textes im historischen Prozess. Textgeschichte gibt Auskunft über den Umgang, den ein Text im geschichtlichen Wandel erfahren hat. Sie berichtet über Prozesse von Aneignungen und Anverwandlungen der Texte, deren Wortlaut, je nach Geltung des Textes, stabil oder variant gehalten wird. Des Weiteren erzählt die Uberlieferung mittelalterlicher Texte ihre eigenen Geschichten. .Anekdotisch' sind diese Geschichten insofern, als sie augenblickshaft die Perspektive auf den Kontext des Textes richten. Den Erzählungen der Uberlieferung eines Textes folgen, heißt Bedeutungen des Textes aufzuspüren, die an bestimmten Momenten der Geschichte eines Textes Signifikanz besaßen. Anekdotische Uberlieferung erzählt von den Ansprüchen einer Kultur an ihre Texte; das in der Uberlieferung gespeicherte Wissen geht verloren, nutzt man sie lediglich zur Textkonstitution, deren Verfahren auf ahistorischer Begrifflichkeit basiert. Textkritik nur als Lehre von den Fehlern zu begreifen, beschreibt ein reduktionistisches Modell ihrer Möglichkeiten. Desgleichen ist der Versuch, eine Typologie von Varianz mittelalterlicher volkssprachlicher Texte zu erarbeiten, zwar von großer Bedeutung, weil er die a priori wertende Begrifflichkeit traditioneller Textkritik überwindet und den Möglichkeitsraum von Textvarianz absteckt. Doch ein solcher vorrangig formalästhetischer Beschreibungsversuch rückt die Quantifikation und grammatikalisch-stilistische Klassifikation der Varianten in den Mittelpunkt des philologischen Interesses. Kulturhistorisch orientierte Fragen nach der Genese, dem Status und der
1
PETER VON MATT: Verkommene Söhne, mißratene Töchter. Familiendesaster in der Literatur, München, Wien 1995, S. 52.
2
Einleitung
Funktion mittelalterlicher volksprachlicher Varianz bleiben damit unberücksichtigt. Anhand des Textmaterials der Handschriftengruppe um die bebilderte Münchner Wolfram-Handschrift Cgm 19 - entstanden in einem aus mindestens neun Schreibern bestehenden oberdeutschen Skriptorium aus der Mitte des 13. Jahrhunderts - wird in der vorliegenden Arbeit das Potenzial textkritischer und überlieferungsgeschichtlicher Fragestellungen aufgezeigt. Damit wird die aus dem 19. Jahrhundert stammende Dissoziation von .Kritik' und Hermeneutik in Frage gestellt und der Versuch unternommen, einer Konzeption von Literaturwissenschaft zuzuarbeiten, welche die Ergebnisse primär textphilologischer Analyse zu integrieren vermag. Die bei der Abschrift der handschriftlich überlieferten Texte vorgenommenen Textänderungen können in funktionaler Betrachtung mit der Institution des mittelalterlichen Kommentars verglichen werden. Die in dieser Schreiberwerkstatt hinsichtlich Textbestand, Textfolge und Textformulierungen variierende Uberlieferung der Texte Wolframs von Eschenbach, Gottfrieds von Straßburg, Ulrichs von Türheim und Rudolfs von Ems und die Praxis der Kommentierung zielen auf die Sinnpflege kultureller Texte, die das Selbstverständnis einer Gemeinschaft in normativer und formativer Hinsicht mitbestimmen und bewahren. 2 Als funktionsäquivalente Institutionen antworten Kommentar und Uberlieferung regulierend und stabilisierend auf veränderte Kontextbedingungen und spezifische Herausforderungen der tradierten Texte. Das Moment der Aktualisierung des jeweiligen Werkes - der Adaptation an einen gewandelten Sinnhorizont - rückt bei dieser Betrachtung von Uberlieferung in den Mittelpunkt. Diese Perspektive verlangt nach einer Reflexion überkommener Begrifflichkeit. Editionsphilologische Kategorien wie ,Autor', ,Text' und ,Werk' erhalten ihre analytische Trennschärfe erst in historischer Betrachtungsweise. Beobachtungen an der Textgestalt bzw. im TextBild-Verhältnis der einzelnen Überlieferungsträger können als Indizien verstanden werden, die auf Spannungen und Konflikte im kulturellen Imaginären jener Gesellschaft hindeuten. Sie verweisen auf die kulturelle Dynamik mittelalterlicher Uberlieferung, die nicht in den kritischen Apparaten wissenschaftlicher Editionen und der darin verwirklichten „Philologie als Sabotage des Lesens" still gestellt wer2
Vgl. ALEIDA ASSMANN: Was sind kulturelle Texte? In: Literaturkanon - Medienereignis - Kultureller Text. Formen interkultureller Kommunikation und Ubersetzung. Hrsg. von ANDREAS POLTERMANN, Berlin 1995 (Göttinger Beiträge zur internationalen Ubersetzungsforschung 10), S. 232-244.
Einleitung
3
den sollte.3 Vielmehr sollte philologisches Arbeiten in der Aufmerksamkeit auf auch in Details versteckten Widerständigkeiten Unerwartetes entdecken, in der genauen Lektüre Um- und Abwegen folgen, um derart jene philologische Neugierde4 zu zu lassen, welche erst überraschende Einsichten in die Uberlieferung von Texten und ihr Verständnis ermöglicht.
3
ULRICH WYSS: Ich tuon sam der swan, der singet, swenne er stirbet. Ü b e r die Lesbarkeit des Minnegesangs. In: D e r fremdgewordene T e x t . Festschrift H . B r a c k e n zum 65. Geburtstag. Hrsg. von SILVIA BOVENSCHEN, Berlin, N e w Y o r k 1997, S. 24-41, S. 28.
4
Vgl. U m w e g e des Lesens. Aus dem L a b o r philologischer Neugierde. Hrsg. v o n CHRISTOPH HOFFMANN/CAROLINE WELSH, Berlin 2006.
2. Kritik der Textkritik 2.1. Hermeneutik und Kritik im 19. Jahrhundert „Kritische Philologie ist selbst ein bewegendes Moment der Aufklärung und, im unterschiedlichen Ausmaß, an drei revolutionären Tendenzen des 18. Jahrhunderts beteiligt: am deutschen Jakobinismus, am ästhetischen Programm des romantischen Lebensstils und an der Kritik der christlichen Religion." 1 „Es müßte genügen, in den Briefen von Jacob und Wilhelm Grimm zu lesen, in diesen Briefen an Bettina, an Karl Bartsch, an Friedrich Blume, vor allem in diesem unglaublichen Briefwechsel mit Karl Lachmann, um zu sehen, von welchem Wirbel sie allesamt erfaßt sind, in welchem Ausmaß sie in ihrer Selbstgewißheit erschüttert waren. Wortsachen, Wortaffären überall! Zu sehen, wie aufgeregt sie waren, wenn es um Lesarten ging, die sie untereinander austauschten wie Geschenke. Nicht wenige dieser Männer und Frauen hat dies linguistische Fieber um ihre Gesundheit gebracht, manche an den Rand des Wahnsinns, einige in den Wahnsinn selbst getrieben (so Georg Friedrich Benecke)." 2 restriktives Modell v o n Textkritik, das die Germanistik i m 19. J a h r h u n d e r t als wissenschaftliche Disziplin etabliert, vollzieht eine Trennung zwischen im engeren Sinne textkritischem und hermeneutischem Umgang mit den überlieferten Texten. Das methodische D i k t u m des Inhabers der Berliner Doppelprofessur f ü r Klassische u n d Deutsche Philologie - recensere sine interpretatione - verweist auf eine editorische Textkonstitution als Methode, die kritisch die Uberlieferung sichtet, via Binde- und T r e n n f e h l e r Familien v o n Handschriften begründet, den Text des A r c h e t y p u s rekonstruiert und in diesem Fehler emendiert 3 : LACHMANNS
1 2
3
HEINZ SCHLAFFER: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis, Frankfurt/Main 1990, S. 197. NORBERT HAAS: Buchstäbliche Liebesbriefe - Kafka aus dem Manuskript. In: Übersetzen. Ubertragen. Uberreden. Festschrift für K. Laermann. Hrsg. von SABINE EICKENRODT u. a., Würzburg 1999, S. 213-217, S. 215. Novum Testamentum Graece et Latine. Hrsg. von KARL LACHMANN, Bd. 1, Berlin 1842, S. V: „ex auctoribus quaerere, quod primo loco posui, id quod recensere dicitur, sine interpretatione et possumus et debemus."
5
Hermeneutik und Kritik im 19. Jahrhundert
L a c h m a n n unterscheidet z w i s c h e n R e c e n s i o - R e k o n s t r u k t i o n des A r c h e t y p u s m i t H i l f e der erhaltenen T e x t z e u g e n - u n d E m e n d a t i o - V e r b e s s e r u n g etwaiger F e h l e r dieses A r c h e t y p u s . F ü r seine A r t der R e c e n s i o ist die N e i g u n g z u w e i t g e h e n d e r V e r e i n f a c h u n g charakteristisch. E r stützt sich n a c h M ö g l i c h k e i t auf die ältesten C o d i c e s . D i e V e r w a n d t s c h a f t s v e r h ä l t n i s s e werd e n auf G r u n d g e m e i n s a m e r F e h l e r b e s t i m m t . E s ergeben sich w e n i g e , o f t z w e i K l a s s e n . A l s T e x t des A r c h e t y p u s ist a n z u s e h e n , w a s alle K l a s s e n gem e i n s a m h a b e n , o d e r aber, w a s die beste dieser K l a s s e n , u n t e r s t ü t z t v o n einzelnen V e r t r e t e r n der ü b r i g e n , bietet.'' S c h o n an FRIEDRICH SCHLEIERMACHERS Versuch einer
Neubegrün-
d u n g v o n K r i t i k u n d H e r m e n e u t i k lässt sich b e o b a c h t e n , w i e ein e n g gefasster
Begriff
von
Textkritik
vom
allgemein
philosophisch-
h e r m e n e u t i s c h e n Begriff der Kritik abgetrennt wird. Findet sich n o c h in FRIEDRICH SCHLEGELS .Philosophie der Philologie' v o n 1797 ein umfassender die
philologischer
Kritikbegriff
SCHLEIERMACHERSCHE
Variante
angekündigt,
des
so
Kritikbegriffs
erscheint bereits
als
S c h w u n d f o r m . 5 W ä h r e n d S C H L E G E L die p h i l o l o g i s c h e K r i t i k als bestimmendes
Moment
der
historischen
fasst,6 verweist SCHLEIERMACHER
und
philosophischen
Kritik
die w e i t e r g e h e n d e n B e r e i c h e
.doctrinalen' K r i t i k - die B e u r t e i l u n g des ideell-begrifflichen
der
Gehalts
sprachlicher Ä u ß e r u n g e n - u n d der h i s t o r i s c h e n ' K r i t i k in die Eigenständigkeit
anderer
Wissensdisziplinen.
Der
.philologischen
bleibt die B e s c h ä f t i g u n g mit den Textfehlern. 4
5
6
7
Während
Kritik'
SCHLEIER-
KARL STACKMANN: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. In: Festschrift für J . Trier zum 70. Geburtstag. Hrsg. von WILLIAM FOERSTE/KARL H . BORCK, Köln, Graz 1964, S. 240-267, S. 244f. Wieder in: K. S.: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hrsg. von JENS HAUSTEIN, Göttingen 1997, S. 1-25. Vgl. auch PETER F. GANZ: Lachmann as an Editor of Middle High German Texts. In: Probleme Mittelalterlicher Uberlieferung und Textkritik, Oxforder Colloquium 1966. Hrsg. von PETER F. GANZ/WERNER SCHRÖDER, Berlin 1968, S. 12-30. SEBASTIANO TIMPANARO: Die Entstehung der Lachmannschen Methode. 2., erweiterte und überarbeitete Auflage, Hamburg 1971. HANS-GERT ROLOFF: Karl Lachmann, seine Methode und die Folgen. In: Geschichte der Editionsverfahren vom Altertum bis zur Gegenwart im Überblick. Hrsg. von H.-G. R., BERLIN 2003, S. 63-81. FRIEDRICH SCHLEGEL: Zur Philologie I, II. In: F. S.: Fragmente zur Poesie und Literatur. 1. Teil. Hrsg. von H . EICHNER, Paderborn u. a. 1981 (Kritische FriedrichSchlegel-Ausgabe Bd. 16), S. 33-81. Die philologische Kritik bildet hierbei den Ausgangspunkt eines hermeneutischkritischen Prozesses, der sich zunächst mit der Herstellung des historisch bedingten Textes beschäftigt, sich dann aber - im Rahmen einer kritisch-philosophischen Reflexion auf die historischen Bedingungen des Verstehensprozesses selbst - schrittweise zu einer „'Enzyklopädie' entwickelt, welche die Geschichte überhaupt zum Gegenstand hat" (ANDREAS ARNDT: Philosophie der Philologie. Historisch-kritische Bemerkungen zur philosophischen Bestimmung von Editionen. In: editio 11 (1997), S. 1-19, hier S. 6). Vgl. FRIEDRICH D. E. SCHLEIERMACHER: Hermeneutik und Kritik. Hrsg. von MANFRED FRANK, Frankfurt/Main 1977, S. 250.
6
Kritik der Textkritik
MACHER jedoch noch ausdrücklich das Wechselverhältnis von Kritik und Hermeneutik betont, 8 orientiert sich die Einrichtung der wissenschaftlichen Germanistik als Textkritik an LACHMANNS verengtem Paradigma. 9 Die Orientierung an der Leitdisziplin der Klassischen Philologie 10 spielt dabei ebenso eine Rolle wie die rigide Ausgrenzung anderer Formen des Umgangs mit der mittelalterlichen Literatur. 11 Die Etablierung einer so genannten philologischen Ethik, die auch in „exemplarischen Philologenbiographien" ihre Ausgestaltung findet, ersetzt, wie RAINER KOLK gezeigt hat, „die fast völlige Abwesenheit eigenständiger methodologischer Selbstreflexion der neuen Disziplin bis weit in das 19. Jahrhundert hinein." 12 Die moderne Editorik erkauft 8
D o c h finden sich auch bei SCHLEIERMACHER Ansätze, die Kritik aus dem Geltungsbereich der Hermeneutik zu lösen, weil diese „auch da nötig ist, wo die Kritik fast gar nicht stattfindet, überhaupt weil Kritik aufhören soll, ausgeübt zu werden, Hermeneutik aber nicht" (SCHLEIERMACHER: Hermeneutik und Kritik, S. 71).
9
Schon JACOB GRIMM unterscheidet in seiner Rede auf LACHMANN zwischen einer Philologie, die die .Worte u m der Sachen' betreiben und einer Philologie, die die .Sachen u m der Worte willen' untersucht: „Man kann alle philologen, die es zu etwas gebracht haben, in solche theilen, welche die worte u m der Sachen, oder die Sachen u m der worte willen treiben. Lachmann gehörte unverkennbar zu den letztern und ich übersehe nicht die groszen vortheile seines standpuncts, wenn ich umgedreht mich lieber zu den ersteren halte. [...] nicht dasz es Lachmann an mannigfaltigster Sachkenntnis irgend abgieng, deren sein auszerordentliches gedächtnis stets für ihn eine menge bereit hielt und die ihm bei ausgedehnter belesenheit täglich anwuchs; allein seit er seinen wahren, eigentlich beruf erkannte [...], haftete bewust oder unbewust seine theilnahme an den Sachen nur insofern er daraus regeln und neue griffe für die behandlung seiner texte schöpfen konnte [...]. in solchem sinn liesze sich von strengen philologen sagen, dasz sie alle aufmerksamkeit auf den reinen text kehrend, ihren geschmack dafür an Sacherklärungen gleichsam sich zu verderben scheuen, pflicht ist ihnen das gesicherte wort aufzustellen, liege nun darin, gehe daraus hervor was da wolle." 0ACOB GRIMM: Rede auf LACHMANN. Gehalten in der Öffentlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften am 3. Juli 1851. In: DERS.: Kleine Schriften. Bd. 1, S. 145-162, hier S. 150f.) Vgl. zu dieser Rede ULRICH WYSS: Die Wilde Philologie. J a c o b G r i m m und der Historismus. München 1979, S. 282: „Der Hunger der wilden Philologie nach Positivitäten ist unstillbar; die domestizierte Philologie, als deren Exponent Lachmann dargestellt wird, schränkt sich auf die Darstellung ästhetischer Totalitäten ein, die von vornherein von der Wirklichkeit des Lebens abgeschnitten sind."
10
KARL STACKMANN: Die Klassische Philologie und die Anfänge der Germanistik. In: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Hrsg. von HELMUT FLASHAR U. a., Göttingen 1979, S. 240-259.
11
ULRICH HUNGER: Romantische Germanistik und Textphilologie: Konzepte zur Erforschung mittelalterlicher Literatur zu Beginn des 19. Jahrhunderts. In: D V j s 61 (1987), Sonderheft: Von der gelehrten zur disziplinären Gemeinschaft, S. 42-68. RAINER KOLK: Wahrheit - Methode - Charakter. Zur wissenschaftlichen Ethik der Germanistik im 19. Jahrhundert. In: I A S L X I V , 1 (1989), S. 50-73, hier S. 61.
12
Hermeneutik und Kritik im 19. Jahrhundert
7
sich ihren Objektivitätsanspruch um den Preis einer programmatischen Ausgrenzung der Kritik aus dem Geltungsbereich der Hermeneutik. Noch J O A C H I M B U M K E S skeptische Forderung, zunächst kein „Frageprogramm für die Interpretation epischer Parallelfassungen zu entwickeln, solange die Uberlieferungsfragen nicht geklärt sind und solange es keine kritischen Ausgaben gibt"13, wiederholt im bewussten und reduktionistischen Verzicht auf Interpretation noch einmal die Trennung von ,Kritik' und Hermeneutik, die sich - wie angedeutet wurde - in den systematischen Entwürfen der Disziplin seit S C H L E I E R M A C H E R findet. Es muss kaum betont werden, dass diese Trennung als einer jener Gründe für die zu überwindende Marginalisierung der Textkritik im Fach begriffen werden kann. Zwar kann B U M K E S Position als Einlösung des Objektivitätspostulats verstanden werden,14 das die Textkritik des 19. Jahrhunderts vehement vertrat und seltener vollzog, doch ist an den methodischen Grundsatz zu erinnern, nach dem editorische und hermeneutische Entscheidung wechselseitig aufeinander angewiesen sind.15 Es ist darauf zu beharren, dass sich der textkritische Umgang mit der Uberlieferung der höfischen Romane im Rahmen philologischer Erkenntnis der Kontrollinstanz wie immer auch subjektiver Textinterpretation nicht ent-
13
JOACHIM RUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8), S. 88. Vgl. aber die Ausführungen bei KARL STACKMANN: U b e r die wechselseitige Abhängigkeit von Editor und Literarhistoriker. Anmerkungen nach dem Erscheinen der Göttinger Frauenlob-Ausgabe. In: ZfdA 112 (1983), S. 37-54.
14
WERNER SCHRÖDER der Textkritik des 19. .Neue Philologie' die Jahrbuch 33 (1998), S.
15
Vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, Tübingen 1998, S. 54: „Anders als Bumke bin ich nicht der Meinung, daß vorerst die Auseinandersetzung mit den überlieferten Texten zu schweigen habe, bis die grundstürzenden Erkenntnisse der neueren Editionsphilologie verarbeitet sind, denn gerade die Nibelungenphilologie bietet viele Beispiele, bei denen die Editoren fehlgriffen oder mindestens den überlieferten Text für korrigierbedürftig hielten, weil sie ihn nicht verstanden. Edition und hermeneutische Entscheidung sind wechselseitig aufeinander angewiesen." Das objektivistische Postulat der Trennung von Befund und Deutung könnte als Topos traditioneller Textkritik bezeichnet werden. Vgl. hierzu HANS ZELLER: Befund und Deutung. Interpretation und Dokumentation als Ziel und Methode der Edition. In: Texte und Varianten. Probleme ihrer Edition und Interpretation. Hrsg. von GUNTER MARTENS/HANS ZELLER, München 1971, S. 4589, S. 79.
hingegen sieht einen Gegensatz zwischen BUMKES Ansatz und Jahrhunderts (W. S.: BUMKE contra LACHMANN oder: wie die mittelhochdeutschen Dichter enteignet. In: Mittellateinisches 171-183).
8
Kritik der Textkritik
zieht. 16 In der Philologie dominiert der asketische Positivismus, obwohl - wie H E I N Z S C H L A F F E R herausgearbeitet hat - ihr „ein kultureller Auftrag mit ästhetischen Implikationen vorgegeben" ist.17 Wenn dennoch von der Edition als dem Königsweg der Philologie gesprochen worden ist, dann ist die Präzisierung „im Sinne Boeckhs enzyklopädisch gedachte[r] Philologie" hinzuzufügen. 18 Der Rückgriff auf Erkenntnisse der philologischen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts vermag auf jene methodische Beschränkungen aufmerksam zu machen, welche die Geschichte der germanistischen Textkritik beherrschten. In der hermeneutischen Theorie AUGUST BOECKHS nimmt die Diskussion der philologischen Kritik noch eine zentrale Position ein. Zwar trennt auch BOECKHS .Methodenlehre' in der Tradition SCHLEIERMACHERS formal zwischen einer ,Theorie der Hermeneutik' und einer .Theorie der Kritik' 19 , doch sieht BOECKH beide Teilbereiche in enger dialektischer Beziehung, wie sich an der Behandlung der »grammatischen' und der .historischen' Interpretation im Rahmen der .Theorie der Hermeneutik' zeigt. 20 Texte lassen sich nur edieren, wenn man sich über sie verständigt hat. 21 BOECKH wendet sich im gleichen Zuge gegen jene klassische Teilung der Kritik
16 17
18
19
PETER SZONDI: Über philologische Erkenntnis. In: DERS.: Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/Main 1970, S. 9-34, S. 15. SCHLAFFER: Poesie und Wissen, S. 194. HARTMUT BÖHME betont, dass „die editorische Fixierung der Mediävistik auf das Textcorpus der mittelalterlichen Blütezeit" lange Zeit komparatistische und kulturgeschichtliche Fragestellungen verhindert hat (Η. B.: Die Literaturwissenschaft zwischen Editionsphilologie und Kulturwissenschaft. In: Perspektiven der Germanistik. Neueste Ansichten zu einem alten Problem. Hrsg. von ANNE BENTFELD/WALTER DELABAR, Opladen 1997, S. 32-46, S. 34). KARL STACKMANN: Die Edition - Königs weg der Philologie? In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher deutscher Texte. Hrsg. von KURT GÄRTNER/ROLF BERGMANN, Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 4), S. 1-18, S. 16. Vgl. AUGUST BOECKH: Enzyklopädie und Methodenlehre der philologischen Wissenschaften. Hrsg. von ERNST BRATUSCHEK. Erster Hauptteil: Formale Theorie der philologischen Wissenschaft, Darmstadt 1966 (Unveränderter reprografischer Nachdruck der 2., von RUDOLF KLUSSMANN besorgten Aufl. Leipzig 1886).
20
Vgl. hierzu auch INGRID STROHSCHNEIDER-KOHRS: Textauslegung und hermeneutischer Zirkel. Zur Innovation des Interpretationsbegriffes von AUGUST BOECKH. In: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhunden. Zur Geschichte und Methodologie der Geisteswissenschaften. Hrsg. von HELMUT FLASHAR u. a., Göttingen 1979, S. 84-102, bes. S. 93f.
21
KARL STACKMANN: Aufgaben der Deutschen Philologie des Mittelalters. In: KARL STACKMANN: Mittelalterliche Texte als Aufgabe. Kleine Schriften I. Hrsg. von JENS HAUSTEIN, Göttingen 1997, S. 419-428, hier S. 422.
Mittelalterliche Texte als Aufgabe
9
in eine »niedere' und .höhere'. 22 Die enge Verbundenheit von Kritik und Hermeneutik in BOECKHS Entwurf zeigt sich auch in dem Hinweis, „daß Interpretation als Erschließung und Verständnis [...] vor der Kritik stehe [...] oder als .Grundlage jeder richtigen Kritik' gelten müsse." 23 Doch der Umkehrschluss gilt auch. Die Interpretation eines Textes bewährt sich in der Auseinandersetzung mit dessen Uberlieferung. Das Material der Uberlieferung wird zum Prüfstein der Auslegung des Textes.
2.2. Mittelalterliche Texte als Aufgabe Altgermanistische Reflexionen über den textkritischen Umgang mit den überlieferten epischen Texten des Mittelalters beziehen sich in den letzten Jahrzehnten auf KARL STACKMANNS Aufsatz .Mittelalterliche Texte als Aufgabe' von 1964.24 Wegweisend hatte STACKMANN herausgearbeitet, dass die Uberlieferungsverhältnisse eines Textes bestimmte Bedingungen erfüllen müssen, damit die oben skizzierte LACHMANNSCHE Methode erfolgreich umgesetzt werden kann. Zu diesen Bedingungen gehört zunächst, dass am Beginn der Überlieferung lediglich ein Text steht: „Die Uberlieferung muß geschlossen sein, d.h. am Anfangspunkt der für uns überschaubaren Tradition m u ß ein einziger, fest umrissener Archetypus stehen." 25 Sodann muss die Geschichte der Texte vertikal verlaufen sein: Ein Schreiber zeichnet nur den Text einer Vorlage auf. „Der Ausdruck .vertikal' ist aus dem Bild des Stammbaumes abgeleitet, in welchem die Tochterhandschriften jeweils unterhalb der Mutterhandschriften untergebracht sind."26 Drittens sollen nur einwandfrei erkannte Feh22
23 24
25 26
GÜNTHER PFLUG: Hermeneutik und Kritik. AUGUST BOECKH in der Tradition des Begriffspaars. In: Archiv für Begriffsgeschichte 19 (1975), S. 138-196, hier: S. 145 und S. 177. STROHSCHNEIDER-KOHRS: Textauslegung und hermeneutischer Zirkel, S. 98. Vgl. etwa HERIBERT A. HlLGERS: Die Überlieferung der Valerius-MaximusAuslegung Heinrichs von Mügeln. Vorstudien zu einer kritischen Ausgabe, Köln, Wien 1973, S. 1-13; WERNER HÖVER: Z u m Stand der Methodenreflexion im Bereich der altgermanistischen Editionen. In: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft Bonn 26.28.02.1973. Hrsg. von LUDWIG HÖDL/DlETER WUTTKE, Boppard 1978, S. 131-142; JOACHIM HEINZLE: Mittelhochdeutsche Dietrichepik. Untersuchungen zur Tradierungsweise, Uberlieferungskritik und Gattungsgeschichte später Heldendichtung, München 1978 (MTU 62), S. 99-102. STACKMANN: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, S. 246. Ebd. S. 246, Anm. 22.
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Kritik der Textkritik
ler die .Verwandtschaften' zwischen Handschriften klären.27 Schließlich müssen die am Uberlieferungsprozess beteiligten Schreiber mit der Intention gearbeitet haben, den Text ihrer Vorlage genau abzuschreiben.28 Wie STACKMANN betont, ist aber eine Uberlieferungskonstellation, die diese Bedingungen erfüllt, bei Texten aus dem deutschen Mittelalter kaum je gegeben. Aus diesem Befund zog die altgermanistische Textkritik Folgerungen, die im Fach weitreichende Gültigkeit erreichen konnten. 29 JOACHIM HEINZLE hat auf die wichtigsten Aspekte dieser Folgerungen für die Editionstheorie und -praxis hingewiesen: „Der entscheidende Unterschied zur Textkritik alten Stils liegt im .Geist', mit dem die kritische Arbeit unternommen wird, in jenem .Prinzip Unsicherheit' eben." 30 Das .Prinzip Unsicherheit', das dem Leser einer Textedition deren Rekonstruktionscharakter vor Augen führen soll, entwickelt HEINZLE in drei Grundsätzen. Der erste besteht darin, dass der Herausgeber sich einer Leithandschrift anvertraut, welcher der Editor im Sprachlichen wie im Bereich der iterierenden Varianten folgt. 31 Ferner entscheidet er nicht zwischen gleichwertigen, d.h. textgenetisch nicht voneinander ableitbaren Präsumptiwarianten. 32 Die Herstellung eines kritischen Textes erfolgt also über methodisch streng kontrollierte Eingriffe in den Text einer Leithandschrift. Die 27 28 29
30
31
32
Ebd. S. 256: „Man kann die Textkritik [...] geradezu als Lehre von den Fehlern definieren." Vgl. ebd. S. 247. Vgl. JOACHIM RUMKE: Untersuchungen zur Uberlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert. Die Herbon-Fragmente aus Skokloster. Mit einem Exkurs zur Textkritik der höfischen Romane. In: ZfdA 120 (1991), S. 257-304, hier S. 290. JOACHIM HEINZLE: Laudatio auf K. Stackmann. In: KARL STACKMANN, ,Ich theile ... nicht die Ansicht von Gervinius'. Wilhelm Grimm über die Geschichte der Poesie. Reden anläßlich der Verleihung des Brüder-Grimm-Preises 1991 (Mainzer Universitätsreden 17), Marburg 1992, S. 3-9, hier S. 4. Bei STACKMANN: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, S. 267 heißt es: „Die neue [Ausgabe], die auf alle Stellen hinweist, an denen das iudiäum des Herausgebers den Ausschlag gegeben hat, soll ein höchstes Maß an Unsicherheit erzeugen, die Aufmerksamkeit dafür wach halten, daß der gebotene Text die Wirklichkeit eines lebenden Textes nur unvollkommen nachbildet." Zum Begriff der iterierenden Varianten vgl. STACKMANN: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, S. 257f.; JÜRGEN KÜHNEL: Wolframs von Eschenbach Paryval in der Überlieferung der Handschriften D (Cod. Sangall. 857) und G (Cgm 19). Zur Textgestalt des .Dritten Buches. In: Festschrift für Κ. H . Halbach zum 70. Geburtstag am 25.6.1972. Hrsg. von ROSE BEATE SCHÄFER-MAULBETSCH U. a., Göppingen 1972 ( G A G 70), S. 145-213, hier S. 173; BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 52. Zum Begriff der Präsumptiwarianten vgl. STACKMANN: Mittelalterliche Texte als Aufgabe, S. 263. BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungen/klage, S. 53. JOACHIM HEINZLE spricht von analogen Varianten (HEINZLE: Mittelhochdeutsche Dietrichepik, S. 60-67, bes. S. 64 Anm. 24).
Mittelalterliche Texte als Aufgabe
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Suche nach dem Autortext ist nicht aufgegeben, doch dem divinatorischen Vermögen des Textkritikers sind aufgrund der Gegebenheiten der jeweiligen Uberlieferung Grenzen gesetzt. Folglich kann der Editor mit seinem rekonstruierten Text den Autortext verfehlen. Dass der edierte Text rekonstruiert worden ist, soll durch graphische Mittel betont werden, um nicht dem Vorwurf einer Simulation des mittelalterlichen Originals in der Edition Vorschub zu leisten. Letztens hat die Edition dem Leser bewusst zu machen, dass er sich an den textkritischen Problemen der Ausgabe abarbeiten könne.33 Neben dem hier nur angedeuteten Leithandschriften-Prinzip34 kann ein weiteres Verfahren der derzeitigen altgermanistischen Textkritik angefügt werden, das angewendet wird, wenn die Uberlieferung eines Werks sich nicht auf einen einzigen Archetypus zurückführen lässt: der Paralleldruck der verschiedenen Fassungen eines Texts. Dieses Verfahren eignet sich für eine Uberlieferungskonstellation, die sich durch eine kleinere Handschriftenzahl auszeichnet. Für Texte, die synchron und diachron eine größere Verbreitung erreicht haben, die also in mehreren reich belegten Fassungen vorliegen, hat die Text- und Überlieferungsgeschichte der ,Würzburger Forschergruppe für Prosa des deutschen Mittelalters' um KURT RUH editorische Möglichkeiten erarbeitet.35 Das Konzept von MehrtextEditionen sieht - unter dem Stichwort ,textgeschichtliche Edition' vor, dass die einzelnen Fassungen eines Textes parallel dargeboten werden. Jede einzelne Fassung ist nach dem Leithandschriftenprinzip
33
Vgl. HEINZLE: Laudatio auf K. Stackmann, S. 4.
34
Vgl. das forschungsgeschichtliche Resümee KARL STACKMANNS zur Durchsetzung des Leithandschriften-Prinzips in der altgermanistischen Editorik: „Was zunächst die Versdichtungen angeht, so hat sich das Leithandschriftenprinzip weitgehend, wenn auch in sehr verschiedener, dem Einzelfall angepaßter F o r m durchgesetzt. Auch die Kenntlichmachung von Eingriffen in den Text dieser Handschrift ist in vielen Fällen erfolgt." (K. S.: Autor - Überlieferung - Editor. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997. Hrsg. von ECKART C . LUTZ, Freiburg/Schweiz 1998 (Scrinium Friburgense 11), S. 11-32, S. 16.)
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Vgl. GEORG STEER: Stand der Methodenreflexion im Bereich der altgermanistischen Editionen. In: Probleme der Edition mittel- und neulateinischer Texte. Kolloquium der Deutschen Forschungsgemeinschaft 26.-28.02.1973. Hrsg. von LUDWIG HÖDL/DlETER WUTTKE, Boppard 1978, S. 117-129; GEORG STEER: Gebrauchsfunktionale Text- und Uberlieferungsanalyse. In: Uberlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von KURT RUH, Tübingen 1985 ( T T G 19), Tübingen 1985, S. 5-36; GEORG STEER: Textgeschichtliche Edition. In: ebd., S. 37-52; WERNER WlLLIAMS-KRAPP: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick. In: IASL 25 (2000), H . 2, S. 1-21.
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Kritik der Textkritik
erarbeitet. Das Prinzip der kritischen Rekonstruktion hat auch hier seine Geltung. 36
2.3. (Misch-)Handschriften In einem Rezensionsaufsatz zu WERNER SCHRÖDERS kritischer Edition von Wolframs von Eschenbach Willehalm-¥rz%meOX hat J O A C H I M BUMKE schon 1979 die Frage nach kontaminierter Uberlieferung im Bereich mittelalterlicher volkssprachiger Texttradierung aufgeworfen: Meines Erachtens müßte der Begriff der Kontamination für die altdeutsche Philologie grundsätzlich neu überdacht werden. Kontamination setzt ein philologisches Interesse am Text voraus, das für die volkssprachige Dichtung erst einmal nachgewiesen werden müßte. Die konventionelle Textkritik rechnet mit Kontaminationen überall dort, wo Befunde nicht in das Stemma passen. Wenn man sich von der Vorstellung freimacht, daß der Prozeß der Texttradierung in F o r m eines Stammbaums verlaufen sein muß, wird es überflüssig, das Wundermittel Kontamination zu bemühen. 3 7
Mischhandschriften - Handschriften, „deren Text in wechselnden Verwandtschafts- und Abhängigkeitsverhältnissen zu anderen Handschriften stehen" 38 - kommen, so das Konstrukt der traditionellen Textkritik, aufgrund von Kontamination zustande. Dabei arbeitet der Schreiber einer Handschrift den Text unterschiedlicher Vorlagen ineinander. Die Kontamination verrät sich daran, daß der kontaminierte Zeuge einerseits Sonderfehler seiner eigenen Vorlage nicht zeigt, weil er aus einer anderen das Richtige entnommen hat, andererseits Sonderfehler solcher Vorlagen zeigt, von denen er in der Hauptsache nicht abhängt. 39
BUMKES Bemühungen um die Uberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert haben Zweifel daran geweckt, ob Kontamination als reales Phänomen jenseits ihrer Hypo-
36
37 38 39
GEORG STEER: Textgeschichtliche Edition, S. 37-52. Vgl. zur wissenschaftsgeschichtlichen Einordnung der Text- und Uberlieferungsgeschichte auch den Beitrag von VOLKER MERTENS: Strukturen - Texte - Textgeschichte. Zum wissenschaftlichen Werk von KURT RUH. In: Das Mittelalter und die Germanisten. Zur neueren Methodengeschichte der Germanischen Philologie. Freiburger Colloquium 1997. Hrsg. von ECKART C. LUTZ, Freiburg/Schweiz 1998 (Scrinium Friburgense 11), S. 49-62. JOACHIM BUMKE: Brauchen wir eine neue IFÄa/w-Ausgabe? Anmerkungen zur kritischen Edition von Werner Schröder. In: Euphorion 73 (1979), S. 321-333, hier S. 330. JOACHIM BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 14. PAUL MAAS: Textkritik. 2., verbesserte und vermehrte Auflage, Leipzig 1950, S. 8.
(Misch-)Handschriften
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stasierung in der textkritischen Methode den Gegebenheiten und Bedingungen der Uberlieferung dieser Texte gerecht wird: Man muß sich darüber im klaren sein, daß die Annahme einer verbreiteten Kontaminationspraxis nicht auf Beobachtungen an den Handschriften herrührte, sondern sich auf eine Logik der textkritischen Methode berief. Die traditionelle Textkritik erklärt das Verwandtschaftsverhältnis zwischen den Handschriften eines Werkes entweder vertikal, das heißt durch Abstammung, oder horizontal, das heißt durch sekundäre Querverbindungen. [...] W o Störungen in der vertikalen Beziehung der Handschriften zu beobachten sind, nimmt man Kontamination an. Auf diese Weise können selbst Handschriftenverhältnisse, bei denen die Textbeziehungen scheinbar wirr durcheinandergehen, übersichtlich dargestellt werden. Wie bedenklich ein solches Vorgehen vom methodischen Standpunkt aus ist, scheint von der Forschung nicht bemerkt worden zu sein.40
Bedingung für einen durch Kontamination gekennzeichneten Umgang mit den Texten auch der höfischen Romane41 ist eine als philologisch zu charakterisierende Textauffassung.42 Damit ist eine Textbehandlung gemeint, die den Erhalt des ursprünglichen Textes im Auge hat und deshalb das Zeugnis weiterer Uberlieferungsträger hinzuzieht. Es ist aber die Frage, ob überhaupt und wenn ja, wie verbreitet ein derart bewahrendes Interesse am richtigen (Autor?)-Text im zu untersuchenden Zeitraum bzw. Texttyp anzusetzen ist. Kontaminierende Abschreibepraxis lässt sich, nach den Beobachtungen B U M K E S , an den Uberlieferungszeugnissen des 13. Jahrhunderts aber kaum feststellen. Dieser auch noch an weiterem Textmaterial zu erhärtende Befund stellt freilich einen Widerspruch zu der großen Anzahl von Handschriften dar, die ihre Texte - in stemmatologischer Hinsicht in Mischungen präsentieren. Um die Genese von .Mischhandschriften' zu erklären, orientiert sich die altgermanistische Textkritik - so sie nicht am Erklärungsmodell der Kontamination festhält - an der Modellauffassung, nach der die höfischen Romane in Parallelfassungen tradiert wurden.43
40 41
BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 29f. Die Diskussion, ob die Verserzählungen um 1200 als Epen oder als Romane zu bezeichnen sind, soll hier nicht geführt werden. Vgl. hierzu besonders INGRID KASTEN: Bachtin und der höfische Roman. In: bickel wort und mldiu maert. Festschrift E. Nellmann. Hrsg. von DOROTHEE LINDEMANN u. a., Göppingen 1995 ( G A G 618), S. 5170.
42 43
BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 16 und S. 29. Vgl. hierzu auch EBERHARD NELLMANN: Kontamination in der Epiküberlieferung. Mit Beispielen aus der Vorauer Kaisenbromk-Hnndschrih. In: ZfdA, 130 (2001), S. 377391; JAN-DIRK MÜLLER: Die .Vulgatfassung' des Nibelungenliedes, die Bearbeitung * C und das Problem der Kontamination. In: Das Nibelungenlied. Actas do Simposio Inter-
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Kritik der Textkritik
2.4. Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans „Mehrfachfassungen sind geradezu ein Kennzeichen mittelalterlicher, v o r allem volkssprachlicher Textüberlieferung." 4 4
Das Textcorpus der höfischen Romane galt als der klassische Anwendungsbereich, ja als „die stärkste Bastion traditioneller Textkritik" im Sinne der LACHMANNSCHEN Methode. 45 Dies hängt wohl zum einen damit zusammen, dass für diese Gattung klassizistisch-emphatische Vorstellungen von ,Autor' und ,Werk' in der Forschung lange Zeit veranschlagt wurden. Zum anderen repräsentiert der höfische Roman einen Texttyp, der in stärkerem Maße als andere hochmittelalterliche Textgattungen literarisiert ist. Die Perspektive auf diese Texte hat sich erst seit Beginn der 90er Jahre aufgrund der Arbeiten RÜDIGER SCHNELLS, NIKOLAUS HENKELS, PETER STROHSCHNEIDERS und vor allem JOACHIM BUMKES grundlegend geändert. 46
44
45
46
national 27 de Outubro de 2000. Hrsg. von JOHN GREENFIELD, Porto 2001, S. 5177. JOACHIM BUMKE: Der unfeste Text. Überlegungen zur Überlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhunden. In: .Aufführung* und .Schrift' in Mittelalter und in Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XVII), S. 118-129, hier S. 123. JAN-DIRK MÜLLER: Aufführung - Autor - Werk. Zu einigen blinden Stellen gegenwärtiger Diskussion. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung 9.-11.10.1997. Hrsg. von NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 149-165, hier S. 151. RÜDIGER SCHNELL: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter. Zum Entstehen des frühneuhochdeutschen Prosaromans. In: Literatur und Laienbildung im Spätmittelalter und in der Reformationszeit. Symposion Wolfenbüttel 1981. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN/KARL STACKMANN (Germanistische Symposien. Berichtsbände V), Stuttgart 1984, S. 214-248, Diskussionsbericht S. 249-251, bes. S. 220-231; PETER STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen. Stichworte zu einem unbeachteten Aufgabenfeld. In: ZfdA 120 (1991), S. 419439; BUMKE: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, bes. S. 285-304; NIKOLAUS HENKEL: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. Jahrhundert. Überlegungen zum Verhältnis von Textgeschichte und literarischer Interessenbildung. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), S. 39-59. Eine Kurzfassung dieses Aufsatzes hat HENKEL unter dem Titel .Kurzfassungen höfischer Erzähltexte als editorische Herausforderung' veröffentlicht (in: editio 6 (1992), S. 1-11). Vgl. aus romanistischer Perspektive MARY B. SPEER: The Long and the Short of Lancelot's Departure from Logres. Abbreviation as Rewriting in La Morl Le Rai Artu. In: Text and Intertext in Medieval Arthurian Literature. Hrsg. von NORIS J. LACY, New York, London 1996, S. 219-239.
Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans
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D i e Textgestalt der höfischen Versromane in den Überlieferungszeugen belegt die Unfestigkeit bzw. Offenheit auch dieser Texte. 4 7 D i e genannten Autoren machen auf das Problem der Fassungen i m Bereich der höfischen R o m a n e aufmerksam. 4 8 Mit BUMKES monumentaler Monographie zur Nibelungenklage liegt nun der avancierte Versuch vor, die Uberlieferung eines höfischen Erzähltextes mit allen Mitteln der traditionellen Textkritik aufzubereiten und zugleich anhand des analysierten Materials ein theoretisches Modell mittelalterlicher Textualität zu entwerfen, an der sich die zukünftige Diskussion u m die Textkritik und Interpretation des höfischen R o m a n s orientieren kann. 4 9 V o m emphatischen Begriff des Autors - im Sinne einer das Textmaterial zentrierenden und organisierenden Kohärenzfigur - verabschiedet sich BUMKES Untersuchung aufgrund der Ergebnisse seiner empirisch-philologischen Arbeit mit den handschriftlich überlieferten Texten. D a s Beschreibungs- und Analysemodell der gleichwertigen Parallelversionen50 für die höfische E p i k fußt auf der Erkenntnis, dass i m Bereich dieser Textgattung von frühen, d.h. .autornahen' Mehrfachfassungen der Texte auszugehen ist, die sich durch einen hohen G r a d an
47
An die Arbeiten JÜRGEN KÜHNELS aus den 1970er Jahren, die wesentliche Beobachtungen der gegenwärtigen Diskussion um die Textkritik der höfischen Romane vorwegnehmen, sei hier erinnert, (f. K.: Wolframs von Eschenbach Panjval in der Uberlieferung der Handschriften D {Cod. Sangall. 857) und G (Cgm 19), S. 145-213; J. K.: Der .offene Text'. Beitrag zur Uberlieferungsgeschichte volkssprachiger Texte des Mittelalters. In: Akten des V. Internationalen Germanistenkongresses Cambridge 1975. Hrsg. von LEONARD FORSTER/HANS-GERT ROLOFF, Bern, Frankfurt/Main 1976 (Jahrbuch für Internationale Germanistik, Reihe A, Bd. 2, 2), S. 311-321.)
48
Zur Diskussion des Fassungsbegriffs im Bereich der Heldenepik vgl. GEORG STEER: Das Fassungsproblem in der Heldenepik. In: Deutsche Heldenepik in Tirol. König Laurin und Dietrich von Bern in der Dichtung des Mittelalters. Hrsg. von EGON KÜHEBACHER, Bozen 1979 (Schriften des Südtiroler Kulturinstitutes 7), S. 105-115. BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage·, vgl. auch: Die Nibelungenklage. Synoptische Ausgabe aller vier Fassungen. Hrsg. von JOACHIM BUMKE, Berlin/New York 1999. Vgl. BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 390-455. Das Charakteristikum der .Gleichwertigkeit' von Textfassungen zielt lediglich auf den Umstand, dass sich diese nicht textgenetisch voneinander ableiten lassen. Von einem weitergehenden Verständnis von .Gleichwertigkeit' scheint auszugehen FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Der Uberlieferungsrang der Budapester Minnesang-Fragmente. In: Wolfram-Studien X V (1998), S. 114-142, hier S. 129: „Überlieferungsvarianz verlangt, da sie als textueller Sachverhalt aus einem Rezeptionsakt hervorgeht, grundsätzlich als historische Differenz erkannt zu werden; ihr Begriff kann das Merkmal der Gleichwertigkeit nicht aufnehmen." Vgl. auch ALBRECHT HAUSMANN: Reinmar der Alte als Autor. Untersuchungen zur Uberlieferung und zur programmatischen Identität, Tübingen 1999 (Bibliotheca Germanica 40), S. 38.
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Kritik der Textkritik
Variabilität auszeichnen.51 An BUMKES Konzept der Fassung müssen aber auch die theoretischen Implikationen wahrgenommen werden. Eine Philologie, welche die Existenz von Mehrfachfassungen der tradierten Texte postuliert, konstatiert nicht einfach einen objektiven überlieferungsgeschichtlichen Befund, sondern konstruiert - darauf hat PETER STROHSCHNEIDER hingewiesen - ein Überlieferungsmodell, das seinerseits als Diskursschema das wissenschaftliche Vorgehen konzeptionalisiert. 52 Diese Feststellung zielt auf den Umstand, dass die überlieferungsgeschichtlichen und textkritischen Untersuchungen BUMKES das wissenschaftliche Erkenntnisobjekt vom Text des Autors hin zu den Fassungen eines Textes verlagert: „Damit verschiebt sich der Werk-Begriff vom Original auf die Fassungen. Wenn das epische Werk nur in den verschiedenen Fassungen zugänglich ist, stellen die Fassungen das Werk selbst dar, weil es nicht möglich ist, sich unabhängig von den Fassungen eine Vorstellung von dem Werk zu machen." 53 STROHSCHNEIDER selbst versteht unter dem von ihm verwendeten Begriff der Kurzfassungen „kürzende Fassungen höfischer Romane, welche in ihrem Kernbestand auf den Wortlaut des gekürzten Textes zurückgehen und dessen metrische Form wahren, zugleich aber auf eine redaktionell zu nennende Weise in dessen Erzähl- und Sinnstruktur so eingreifen, daß dies historisch interpretierendem Verständnis zugänglich ist." 54 Für HENKEL bezeichnet der Begriff ,Kurzfassungen' „Textzeugen innerhalb der Uberlieferung eines Werks, die sich vom vermuteten Original dadurch unterscheiden, dass sie Textlücken oder Zusätze aufweisen."55 .Fassungen' liegen nach Ansicht BUMKES im Bereich der höfischen Romane vor, wenn 1. ein Epos in mehreren Versionen vorliegt, die in solchem Ausmaß wörtlich übereinstimmen, daß man von ein und demselben Werk sprechen kann, die sich jedoch im Textbestand und/oder in der Textfolge und/oder in den Formulierungen so stark unterscheiden, daß die Unterschiede nicht zufällig entstanden sein können, vielmehr in ihnen ein unterschiedlicher Formulierungs- und Gestaltungswille sichtbar wird; und wenn 2. das Verhältnis, in dem diese Versionen zueinander stehen, sich einer stemmatologi-
51 52
Vgl. BUMKE: Der unfeste Text, S. 127. Vgl. PETER STROHSCHNEIDER: [Rezension zu] Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage. Untersuchungen zur Uberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, Berlin, New York 1996 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte 8). In: ZfdA 127 (1998), S. 102-117, hier S. 114.
53 54 55
BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 48f. STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen, S. 422. HENKEL: Kurzfassungen 1993, S. 39.
Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans
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s e h e n B e s t i m m u n g w i d e r s e t z t , also k e i n A b h ä n g i g k e i t s v e r h ä l t n i s i m S i n n e d e r klassischen T e x t k r i t i k v o r l i e g t , w o m i t z u g l e i c h ausgeschlossen w i r d , dass die V e r s i o n als B e a r b e i t u n g d e r a n d e r e n d e f i n i e r t w e r d e n k a n n ; vielm e h r m u ß aus d e m U b e r l i e f e r u n g s b e f u n d z u e r k e n n e n sein, d a ß es sich u m .gleichwertige Parallelversionen' handelt.56
Dabei hält es BUMKE für ratsam, den Begriff der Fassung von der Bindung an einen Autor freizuhalten. Dennoch versucht er, den Begriff der Fassung von dem Begriff der Bearbeitung abzugrenzen. Unter einer Bearbeitung versteht BUMKE nun „eine Textfassung, die eine andere Version desselben Textes voraussetzt und sich diesem gegenüber deutlich als sekundär zu erkennen gibt. Für Fassungen dagegen ist kennzeichnend, daß sie keine Bearbeitungen sind, das heißt gegenüber anderen Versionen nicht als sekundär zu erweisen sind, sondern Merkmale der Originalität aufweisen."57 Indem hier zur kategorialen Bestimmung des Fassungsbegriffs am Kriterium des ,Gestaltungswillens' bzw. der .Originalität' festgehalten wird, bleiben die Grenzen so schon BUMKE - zwischen der Fassung eines Textes und der Bearbeitung desselben fließend.58 Dem Fassungsurheber wie dem Bearbeiter eines Textes werden im modernen Sinne schöpferische Autorqualitäten attestiert. In einer Kritik an BUMKEs Fassungskonzept hat ALBRECHT HAUSMANN am Beispiel der Überlieferung zu Hartmanns von Aue Iwein darauf hingewiesen, dass die prekären Gegebenheiten hinsichtlich der Textkritik des höfischen Romans weniger als Problem unterschiedlicher Kommunikations- bzw. Tradierungsbedingungen zwischen Mittelalter und Moderne aufzufassen sind; die offenkundigen kulturgeschichtlichen Differenzen, welche die historische Alterität mittelalterlicher Uberlieferung belegen, stuft HAUSMANN als eher gering ein. Das Problem begreift er als eines der Methode: Diese ver56
BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 32. Vgl. ebenso die Definition v o n Fassung bei BODO PLACHTA: Artikel Fassung. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. v o n KLAUS WEIMAR. Bd. 1. 1997, S. 567: „(Text-)Fassungen sind unterschiedliche Ausführungen eines insgesamt als identisch wahrgenommenen Werks. Sie können auf den Autor, aber auch auf fremde Personen zurückgehen. Fassungen können sich voneinander durch W o n l a u t , Form und Intention unterscheiden. Sie sind durch partielle .Textidentität' aufeinander beziehbar und durch .Textvarianz' voneinander unterschieden [...]."
57 58
BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 45f. Vgl. auch die Kritik v o n STROHSCHNEIDER: [Rezension zu] Joachim Bumke: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 115: „Der Ausdruck .Gestaltungswille* bindet zunächst Fassungsgenese und Fassungsidentität an eine Subjektposition, die er mit dem Kriterium der Intentionalität versieht; in dieser Hinsicht unterscheiden sich .Fassungen' und .Bearbeitungen' also nicht. Allerdings ist die Gegebenheit oder Nicht-Gegebenheit eines Gestaltungswillens auf Seiten eines Text-Urhebers kein textanalytisch erweisbarer Sachverhalt."
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Kritik der Textkritik
füge über keine geeigneten Mittel, einen originalen Text zu rekonstruieren.59 Da das Auftreten von Parallelfassungen auf dem Gebiet der höfischen Epik derartig häufig ist, sieht BUMKE darin „ein Phänomen von gattungsspezifischer Bedeutung", so dass er „die Beschreibung und Interpretation des Uberlieferungsbefundes für jedes einzelne Epos" einfordert. 60 BUMKE erblickt in der Existenz von Fassungen den Beweis dafür, dass mittelalterlicher Umgang mit Texten im „Bestreben, den Erwartungen der Zuhörer gerecht zu werden und ihnen die Texte überzeugend zu präsentieren", 61 Techniken implizieren, die „Umfang, Wortlaut und Abfolge veränderten, ohne daß die Identität des Textes 62 davon betroffen war." 63 Dass STROHSCHNEIDER und HENKEL in ihren Definitionen bzw. in ihrem Erklärungsmodell der Genese dieser Handschriften auf dem früheren Aufsatz von SCHNELL fußen, zeigt sich schon an dem Begriff .Kurzfassung'. Bei SCHNELL heißt es: [...] in einigen H a n d s c h r i f t e n 6 4 sind V e r s d i c h t u n g e n , o b w o h l die V e r s f o r m beibehalten w u r d e , den selben B e a r b e i t u n g s v o r g ä n g e n u n t e r z o g e n w o r d e n , w i e w i r sie v o n den P r o s a a u f l ö s u n g e n der V e r s r o m a n e her k e n n e n : Beschreibungen, R e d e s z e n e n , E r z ä h l e r k o m m e n t a r e , R e f l e x i o n e n , k u r z u m alles, w a s nicht u n m i t t e l b a r d e m F o r t g a n g der H a n d l u n g dient, w u r d e gestrichen o d e r g e k ü r z t . 6 5
Die Tendenz zur „Beschränkung auf die summa facti" 66 sieht S C H N E L L als M o t i v a t i o n d e r B e a r b e i t u n g an. H E N K E L u n d
59
60 61 62
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65 66
STROH-
ALBRECHT HAUSMANN: Mittelalterliche Überlieferung als Interpretationsaufgabe. .Laudines KniefalF und das Problem des .ganzen Textes'. In: Text und Kultur. Mittelalterliche Literatur 1150-1450. Hrsg. von URSULA PETERS, Stuttgart, Weimar 2001 (Germanistische Symposien. Berichtsbände 23), S. 72-95. BUMKE: Untersuchungen zur Uberlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, S. 301. Ebd. S. 303. Was die .Identität' eines Textes dann exakt noch ausmacht, wenn er im Überlieferungsprozess derartigen Veränderungen ausgesetzt ist, ist eines der zentralen Probleme gegenwärtiger Textkritik. BUMKE: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, S. 304. SCHNELL: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter, S. 221 bezieht sich nur auf Beispiele aus dem 14. und 15. Jahrhundert; STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen, kann weiteres handschriftliches Material präsentieren (S. 423-426); HENKEL: Kurzfassungen 1993, listet auf den S. 4247 das Textmaterial auf; vgl. auch BUMKE: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, S. 290-301. SCHNELL: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter, S. 221. Ebd. S. 221.
Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans
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SCHNEIDER beziehen sich hier explizit auf SCHNELLs Position. 67 HENKEL versucht, diese Kürzungstechniken literaturgeschichtlich zu verorten: „Das Mittelalter entwickelt in nahezu allen Gattungsbereichen der lateinischen Literatur solche Abbreviationes und bildet damit hinsichtlich Konzeption und praktischer Handhabung den Hintergrund für eine Technik, die ich an Erzähltexten der Volkssprache verfolgen will." 68 Dafür entwickelt HENKEL ein Modell, mit dem er die Kürzungstechniken systematisch zu erfassen versucht. 69 Er unterscheidet vier Kürzungstypen, denen „formal gemein ist, daß das Reimpaar als Grundelement vielfach erhalten bleibt." 70 Kleineren Reduktionen um ein bis drei Reimpaare und Kürzungen von größeren Handlungsabschnitten von 10 bis 400 Versen, welche die beiden ersten Kürzungstypen darstellen, schreibt HENKEL die Tendenz zur brevitas zu. Er unterstellt diesen Kürzungen, dass sie den Erzählablauf nicht verändern, sondern seine Fülligkeit zurücknehmen. 71 Der dritte Kürzungstyp bezeichnet die Verknappung bzw. Streichung von Erzählerkommentaren und Exkursen. „Die Redaktoren entfernen hier Elemente des Erzählens, die der Kontaktaufnahme von Erzähler und Publikum, der Lenkung des Verständnisses und der Herstellung von Einvernehmen zwischen Autor/Erzähler und Publikum dienen." 72 Schließlich wird - der letzte Kürzungstyp - in der erzählten Handlung selbst Text gekürzt: „descriptiones von Personen, Tieren, Sachen, Bauwerken; Monologe, Dialoge, Gesprächs- und Beratungsszenen; Kampfschilderungen." 73 HENKELS Modell basiert auf der Diskussion
67
Vgl. HENKEL: Kurzfassungen 1992, S. 7f.; STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen, S. 428f.
68
HENKEL: Kurzfassungen 1993, S. 40. Vgl. hierzu auch FRANZ- JOSEF WORSTBROCK. Oilatatio matenae. Z u r Poetik des Em: Hanmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30. Für eine Systematisierung der möglichen Veränderungen an einem Text im Uberlieferungsprozess, die auch das Kriterium der Gattung berücksichtigt, plädiert ebenso RÜDIGER SCHNELL (R. S.: Was ist neu an der New Philology* Zum Diskussionsstand in der germanistischen Mediävistik. In: A l t e und Neue Philologie. Hrsg. v o n MARTINDlETRICH GLEßGEN/FRANZ LEBSANFT, Tübingen 1997 (Beihefte zu editio 8), S. 6195, bes. S. 93; R. S.: . A u t o r ' und .Werk' im deutschen Mittelalter. Forschungskritik und Forschungsperspektiven. In: Wolfram-Studien X V (1998), S. 12-73). HENKEL: Kurzfassungen 1992, S. 7. Vgl. ebd. S. 7. HENKEL betont „die sprachlich-stilistisch redundante Gestaltung" und „die oft lockere Handhabung von Begründungs- und Motivationszusammenhängen" als wichtige Kennzeichen mittelalterlichen Erzählens, die es möglich machten zu kürzen, ohne den Sinnzusammenhang des Erzählten zu tangieren.
69
70 71
72 73
Ebd. S. 8. Ebd. S. 8.
20
Kritik der Textkritik
u m die ästhetische Faktur der frühneuhochdeutschen Prosaromane. 7 4 Unter den Stichworten De-Rhetorisierung und Linearisierung/'Summieren' werden die Veränderungen in der Textgestalt der Prosaromane gegenüber ihren höfischen Vorlagen zusammengefasst. D a sich solche Textbeobachtungen auch in den Überlieferungszeugnissen der höfischen Romane des 13. Jahrhunderts finden lassen, greifen die bisherigen Erklärungsversuche dieser Phänomene allerdings zu kurz. So hatte bereits JAN-DIRK MÜLLER eine Argumentation zurückgewiesen, welche die Textbearbeitungen begrifflich als ,Trivialisierung' bzw. als Verbürgerlichung' fassen wollen. 7 5 MÜLLERS eigener Ansatz, der die stilistischen Differenzen zwischen Prosaromanen und ihren Vorlagen mit „veränderten Bedingungen der literarischen Kommunikation" 7 6 erklären soll, bedarf angesichts ähnlicher Texteingriffe in Handschriften des 13. Jahrhunderts jedoch kritischer Ergänzung. HENKEL wie STROHSCHNEIDER betonen, dass die überlieferten Textzeugnisse nicht nur auf diese charakteristische Bearbeitungstendenz, die auf die brevitas des Textes zielt, zu untersuchen sind, sondern auch auf „alternative redaktionelle Konzepte" 7 7 , um die Bearbeitungen der Texte in den Handschriften hinreichend zu erklären. 78 Dennoch verstellt die Orientierung an den Textbearbeitungen, die bei den Prosaauflösungen zu beobachten sind, den Blick darauf, welche Texterscheinungen unter dem Phänomen Uberlieferungsvarianz im Bereich des höfischen Romans der Aufmerksamkeit und Erklärung bedürfen. Nicht alle Fassungen eines Textes sind als Kurzfassungen zu beschreiben. Tilgung von Text stellt lediglich eine Möglichkeit der Veränderung zwischen verschiedenen Fassungen eines Textes dar. BUMKES „Modell für die Beschreibung variierender Epenüberlieferung", das er exemplarisch auf die Klage-Fassungen * B und * C anwendet, überschreitet den noch von SCHNELL, HENKEL und STROHSCHNEIDER angesetzten Analysehorizont. BUMKE kann
74
Vgl. hierzu den grundlegenden Forschungsbericht von JAN-DIRK MÜLLER: Volksbuch/Prosaroman im 15./16. Jahrhundert - Perspektiven der Forschung. In: IASL Sonderheft 1 (1985), S. 1-124.
75
Ebd. S. 51f.
76
Ebd. S. 54.
77
STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen, S. 429.
78
HENKEL: Kurzfassungen 1992, S. 8: „Die Motivation, die den Kurzfassungen zugrunde liegt, ist mit den Stichwörtern brevitas oder De-Rhetorisierung nur unzulänglich beschrieben. In einzelnen Fällen ist sicher die Uberlieferungsgemeinschaft mit Texten der Geschichtstradierung von Einfluß gewesen [...], in anderen Fällen die Uberlieferung eines Werkkomplexes in eine quasi-historische Dimension [...]." Vgl. zu diesem Punkt auch SCHNELL: Prosaauflösung und Geschichtsschreibung im deutschen Spätmittelalter, S. 228-231.
Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans
21
mit diesem Modell zeigen, welche Textveränderungen in der Überlieferung der Gattung des höfischen Romans zu beobachten und als Varianz beschreibbar sind.79 Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass in der Uberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Romane aufgrund der hier diskutierten Arbeiten in den 90er Jahren ein Umdenken zu beobachten ist, das sich aller erst methodisch artikuliert hat und der Forschung ein .unbeachtetes Aufgabenfeld' erschlossen hat. Ausgeblieben ist bislang die Uberprüfung der methodischen Überlegungen am konkreten Material der Überlieferung.80 BUMKEs Analyse der Überlieferung der Nibelungenklage bzw. seine synoptische Fassungen-Edition dieses Textes bilden hier eine Ausnahme.81 Die Forderung nach der Edition von kritisch hergestellten Fassungen eines Textes steht den Bemühungen nicht entgegen, die Genese und Funktion der Überlieferungsvarianz dieser Texte zu erklären.82 Ohne solche Untersuchungen bzw. weitere Editionen, welche die Texte der hochhöfischen Epoche in der Vielfalt ihrer Fassungen präsentieren, werden die textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Einsichten keinen Eingang in die nicht vorrangig textkritisch orientierte Literaturwissenschaft finden. 2.4.1. Exkurs: Mündlichkeit und Schriftlichkeit Die schriftlich fixierten Texte der volkssprachigen Überlieferung des Mittelalters sind als „kulturelle Zeugnisse" zu betrachten, „die von den geschichtlichen Gegebenheiten ihrer Zeit geprägt sind".83 Konkret zielt diese Aussage auf den Umstand, dass die Literatur fördernde 79 80
81
82
83
Zur Kritik von BUMKEs Modell vgl. das Kapitel 3.3.1. Vgl. aber schon JOACHIM BUMKE: Die Erzählung vom Untergang der Burgunder in der Nibelungenklage. Ein Beispiel von variierender Uberlieferung. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von HARALD HAFERLAND/MICHAEL MECKLENBURG, München 1996 (Forschungen zur Geschichte der Älteren Deutschen Literatur 19), S. 71-83; SPEER: The Long and the Short of Lancelot's Departure from Logres. Abbreviation as Rewriting in La Mori Le Roi Artu. Vgl. auch die Editionen von WOLFGANG ACHNITZ: ,Der Ritter mit dem Bock'. Konrads von Stoffeln Gauriel von Muntabel, Tübingen 1997 (TuT 46) und FRANCIS B. BREVART: Das Eckenlied. Sämtliche Fassungen, 3 Bde, Tübingen 1999 (ATB 111). BUMKE: Die Nibelungenklage empfiehlt S. 557 kritische Parallelausgaben der verschiedenen Fassungen des Nibelungenlieds (Fassungen *A, *B, *Ό, *J), Hartmanns von Aue Iwein (*A und *B), Wolframs von Eschenbach Partim/ (*D und *G) und Titurel (*G und *HM), schließlich Gottfrieds von Straßburg Tristan (*M, Ή , *F und *W?). BUMKE: Der unfeste Text, S. 118.
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Kritik der Textkritik
Adelsgesellschaft des Hochmittelalters kaum den Schriftgebrauch kannte. Diesen Sachverhalt gilt es bei der Analyse mittelalterlicher Textüberlieferung auch im Bereich der Gattung des höfischen Romans zu berücksichtigen. JOACHIM BUMKE fragt in Zusammenhang mit den redaktionellen Fassungen der schriftlich fixierten höfischen Romane, „wie es sich erklärt, daß die weitgehend schriftlos lebende Adelsgesellschaft des 12. Jahrhunderts daran interessiert war, Dichtungen zu fördern, die in ihren Bauprinzipien der Schriftlichkeit verpflichtet waren [...]." 84 Ohne Zweifel steckt die kulturelle Situation in ihrem Spannungsverhältnis von Mündlichkeit und Schriftlichkeit die Rahmenbedingungen ab, in der sich das Phänomen der Fassungen im Bereich der höfischen Romane ausbilden kann. BUMKE konstatiert bestimmte Funktionen, welche die Schriftlichkeit in der vom Mündlichen wie vom Schriftlichen geprägten Mischkultur des Hochmittelalters zu erfüllen hatte.85 Nur mit den Mitteln der Schriftlichkeit konnte es gelingen, ein theoretisches Konzept höfischer Vorbildlichkeit zu entwickeln und so darzustellen, daß der Zusammenhang zwischen den erzählten Handlungen und diesem Konzept den Zuhörern deutlich wurde. Zu diesem Zweck bedienten sich die Dichter der Methoden und Techniken der Sinnvermittlung, die die lateinische Schrifttradition zur Verfügung stellte, zum Beispiel der gelehrten Form des Prologs, der Einfügung von Kommentaren und Exkursen in den Erzählzusammenhang und der Anwendung der allegorischen Auslegungsmethode. Auf diese Weise lernten die schriftunkundigen Laien Mittel der Abstraktion kennen, die vorher nur den lateinisch Gebildeten zugänglich waren, und die Dichter führten ihnen vor, wie diese Mittel in den Dienst einer gesellschaftlichen Selbstdeutung gestellt werden konnten. 86
Bei diesem Versuch einer funktionalen Perspektive der Literarisierung höfischer Kultur konstatiert BUMKE neben dem Interesse des deutschen Hofpublikums für die „Darstellung höfischer Vorbildlichkeit" auch ein solches für die Schilderung aller „Einzelheiten der modernen Gesellschaftskultur", „dem die Dichter durch Beschreibungen 84 85
86
JOACHIM BUMKE: Höfische Kultur. Versuch einer kritischen Bestandsaufnahme. In: PBB 114 (1992), S. 414-492, S. 490f. Vgl. z. B. MICHAEL CURSCHMANN: Hören - Lesen - Sehen. Buch und Schriftlichkeit im Selbstverständnis der volkssprachlichen literarischen Kultur Deutschlands um 1200. In: PBB 106 (1984), S. 218-257. CURSCHMANN spricht vom „Mischcharakter der mittelalterlichen Kultur" (S. 218), bzw. einer Zwischenkultur „als .Symbiose' aus mündlichen und schriftlichen Lebensformen literarischer Phänomene" (S. 222). BUMKE: Bestandsaufnahme, S. 491. Prologe, Exkurse und Kommentare als spezifische, der lateinischen Tradition entnommene Methoden der Sinnvermittlung finden sich in den volkssprachigen Romanen um 1200. O b sie in die Texte integriert wurden, um ,ein theoretisches [einheitliches?] Konzept höfischer Vorbildlichkeit' zu propagieren, möchte ich dahingestellt sein lassen.
Text als Fassung: Zur Textkritik des höfischen Romans
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von Kleidern, Waffen, Pferden, Zelten, Burgen, Empfängen, Mahlzeiten, Festen usw. genüge zu tun suchten."87 In der hier betont engen Bindung des höfischen Autors und seines Werks an das Interesse einer sich selbst be- und hinterfragenden Adelsschicht werden zunächst spezifisch ästhetisch determinierte Bedeutungsschichten der Texte negiert. Hier wird ein Literaturbegriff angesetzt, der normativ die Aussageebenen eines Textes in gesellschaftlichen Interessen aufgehen lässt und dabei die allererst wirklichkeitsmodellierenden Potenzen eines Textes verkennt. Es ist darauf zu bestehen, dass auch den höfischen Romanen um 1200 eine Komplexität eignet, welche die Rezeptionsmöglichkeiten und -bedürfnisse des adligen Hofpublikums womöglich weit hinter sich lässt. So beschreibt H A R A L D H A F E R L A N D Wolframs von Eschenbach Pargval als Lesemysterium: Ungeachtet solcher durch Mündlichkeit gekennzeichneter Arbeitsbedingungen ist der Parqval dem ursprünglichen Kontext seiner Entstehung und Darbietung im mündlichen Epenvortrag entwachsen und zu aufwendig geplanter und durchgeführter Leseliteratur geworden. Das heißt nicht, daß er nicht noch hätte vorgetragen werden können. Aber kein uneingeweihter mittelalterlicher Hörer hat wohl je seine Hintergründigkeit ermessen können. 88
Auch die weitgehende Zerstörung des Initialensystems in Gottfrieds von Straßburg Trcj-Ä«»-Fragment in den verschiedenen Uberlieferungsträgern lässt erkennen, wie schwierig es für die mittelalterlichen Rezipienten war, derart versteckte, kryptische Strukturen, die den Texten eingeschrieben sind, wahrzunehmen. Die Redaktionsfassungen der höfischen Romane als Rezeptionsphänomene müssen also nicht in dem von BUMKE skizzierten ,Gebrauchszusammenhang' aufgehen. Darin läge die Gefahr, die Uberdeterminiertheit des literarischen Textes auf eine einzige Bedeutungsschicht zu reduzieren. Autoren wie Bearbeiter der höfischen Romane überschreiten ohne Schwierigkeiten den Gestaltungsraum jener anvisierten Funktionalisierung. Auch wenn eine Bildungskluft zwischen den Literatur produzierenden litterati, die neue narrative Techniken der Sinnproduktion aus der lateinischen Buchkultur in der volksprachlichen Literatur um 1200 etablieren, und den Rezipienten, denen diese Techniken möglicherweise unbekannt waren, angenommen wird, so ist diese Differenz der Bildungsniveaus als Analysekategorie in Bezug auf die Fassungsvielfalt der höfischen Romane nur von beschränktem Wert. Die Redaktoren dieser Fassungen ließen sich zwar als zwischen diesen unterschiedlichen Wissens87
Ebd. S. 491.
88
HARALD HAFERLAND: Die Geheimnisse des Grals. Wolframs rium? In: ZfdPh 113 (1994), S. 23-51, S. 25.
Ρarrival als
Lesemyste-
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Kritik der Textkritik
standards vermittelnde Instanzen denken. Nicht primär in dem Sinn, dass sie die komplexen Sinnkonstruktionen der Texte zerstörten, sondern dass sie in die Texte eingriffen, um einen neuen Sinn, der durchaus dem Publikum den Text verständlicher machen konnte, zu konstituieren. 89 Aber diese Aufgabe konnte auch von den Autoren selbst übernommen werden.
2.5. T e x t als ,(re)ecriture' „Wir sind des Baumes müde. Wir dürfen nicht mehr an die Bäume glauben, an große und kleine Wurzeln, wir haben genug darunter gelitten. Die ganze Baumkultur ist auf ihnen errichtet, von der Biologie bis zur Linguistik. [...] Der Baum und die Wurzeln zeichnen ein trauriges Bild des Denkens, das unaufhörlich, ausgehend von einer höheren Einheit, einem Zentrum oder Segment, das Viele imitiert [...]. Baumsysteme sind hierarchisch und enthalten Zentren der Signifikanz und Subjektivierung, Zentralautomaten, die als automatisiertes Gedächtnis funktionieren. [...] Seltsam, wie der Baum die Wirklichkeit und das gesamte Denken des Abendlandes beherrscht hat, von der Botanik bis zur Biologie, der Anatomie, aber auch Erkenntnistheorie, Theologie, Ontologie, die ganze Philosophie [...]: der Wurzelgrund, Grund, roots und foundations. Das Abendland unterhält eine privilegierte Beziehung zum Wald und zur Rodung." 9 0 „'Kritik', wenn möglich, nicht. Denn der Sinn der Kritik, was sollte er anders sein, auf was sollte er hinauslaufen, wenn nicht auf kollektiven Wahn." 91
Die zeitgenössische Editionsphilologie kann offensichtlich nicht mehr umhin, sich in literaturtheoretische Debatten verstricken zu lassen. Verunsicherungen methodischer Grundbegriffe werden programmatisch in Kauf genommen. In ihren Bemühungen zur theoretischen Reflexion versucht auch die Editorik, wie GERHARD NEU-
89
NIKOLAUS HENKEL: Litteratus - illitteratus. Bildungsgeschichtliche Grundvoraussetzungen bei der Entstehung der höfischen E p i k in Deutschland. In: Internationaler Germanisten-Kongreß in T o k y o . Sektion 15: Erfahrene und imaginierte Fremde. Hrsg. v o n YOSHINORI SHICHIJI, München 1991 (Akten des VIII. Internationalen Germanistik-Kongresses T o k y o 1990, Bd. 9), S. 334-345, konstatiert, dass die gebildeten A u t o r e n u m 1200 literarische Techniken aus der lateinischen Tradition übern o m m e n haben, die v o m höfischen P u b l i k u m in unterschiedlichem M a ß .verstanden' wurden. HENKEL fordert z u d e m , dass heutige Interpreten diesen Tatbestand bei ihrer Arbeit berücksichtigen sollten, ohne aber genauer zu erläutern, wie dieser Zusammenhang in den Texten zu eruieren wäre.
90
GILLES D E L E U Z E , FELIX G U A T T A R I : R h i z o m , Berlin 1977, S. 26f.
91
HAAS: Buchstäbliche Liebesbriefe - K a f k a aus dem Manuskript, S. 216.
Text als .(re)ecriture'
25
MANN verdeutlicht, den Herausforderungen neuerer und neuester Literaturtheorie gerecht zu werden. E r s t in den letzten J a h r z e h n t e n - gerade i m Gefolge der g r o ß e n L e i s t u n g e n d e r E d i t i o n s p h i l o l o g i e des 19. u n d beginnenden 2 0 . J a h r h u n d e r t s - ist deutlich g e w o r d e n , w i e die Wissenschaft der E d i t i o n n u r so lange i h r e n positivistischen, ja geradezu naturwissenschaftlichen
Status sich zu erhalten
m o c h t e , solange die Begriffe des . T e x t e s ' , des . W e r k e s ' u n d des
ver-
.Autors'
u n a n g e f o c h t e n blieben. A l s diese sich in A u s e i n a n d e r s e t z u n g m i t den E i n s i c h t e n strukturalistischer u n d .poststrukturalistischer' B e m ü h u n g e n aufzulösen begannen, w u r d e m a n g e w a h r , daß diese scheinbar so gesicherten Begriffe des . T e x t e s ' , des . W e r k e s ' u n d des . A u t o r s ' a u c h s c h o n auf A u t o r e n des 19. J a h r h u n d e r t s
nicht
o h n e weiteres u n d voraussetzungslos
angewandt
werden können.92
Die Auseinandersetzung der neugermanistischen Editionsphilologie mit dem Prager Strukturalismus und Pariser Poststrukturalismus, die besondere Aufgabenstellung der französischen critique genetique, die das kritische Edieren ihrer ,Texte' zunächst gar nicht mehr im Blick hat, sondern die Materialität und Prozessualität der Autormanuskripte als genuin literaturwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand definiert, der Versuch seitens der Mediävisten, eine New Philology zu etablieren, welche die theoretische Durchdringung des Umgangs mit mittelalterlichen Handschriften einfordert, - all die genannten Richtungen suchen den Anschluss an aktuelle und weniger aktuelle Theorieangebote. Solches gilt auch für die kritische Revision des angelsächsischen copy-text-editing, die der amerikanische Editionstheoretiker DAVID C. GREETHAM vorschlägt. Im Rückgriff auf den poststrukturalistischen Begriff der ecriture stellt dieser das Programm eines "postmodernist editing" in Aussicht, "[that] operates under the assumptions of poststructuralist differance, the continued deferral of absolute meaning, and the texts it produces are scriptible not lisible, open not closed." 93 Der von BERNARD CERQUIGLINI vorgetragene Textbegriff,
92
GERHARD NEUMANN: Edition und Interpretation. Stichworte Freiburger Universitätsblätter 21 (1982) Heft 78, S. 9-12, S. lOf.
zum Heft.
In:
93
DAVID C. GREETHAM: Editorial and Critical Theory: F r o m Modernism to Postmodernism. In: Palimpsest. Editorial Theory in the Humanities. Hrsg. von GEORGE BORNSTEIN, Ann Arbor 1993, S. 9-18, S. 17. Vgl. auch DERS.: [Textual] Criticism and Deconstruction. In: Studies in Bibliography 44 (1991), S. 1-30. LOUIS HAY: Die dritte Dimension der Literatur. Notizen zu einer critique genetique. In: Poetica 16 (1984), S. 307-323. ALMUT GRESILLON: Literarische Handschriften: Einführung in die critique genetique, Bern 1999. Zu korrespondierenden Versuchen der Neugermanistik: GUNTER MARTENS: Was ist - aus editorischer Sicht - ein Text? Überlegungen zur Bestimmung eines Zentralbegriffs der Editionsphilologie. In: Zu Werk und Text. Beiträge zur Textologie. Hrsg. von SIEGFRIED SCHEIBE/CHRISTEL LAUFER. Berlin 1991, S. 135-156.
26
Kritik der Textkritik
der von einigen Vertretern der New Philology 4 aufgegriffen wurde, erweist sich strukturell affin zum /mtorf-Konzept in der Nachfolge von R O L A N D B A R T H E S und J A C Q U E S D E R R I D A und stellt für die traditionelle Textkritik eine weitaus größere Provokation dar als die in der Altgermanistik geführte Diskussion um das Konzept .Fassungen'.95 Nach C E R Q U I G L I N I S Einschätzung kann von einer in den mittelalterlichen Texten wirksamen Präsenz und Intentionalität von Autoren und/oder Schreibern keine Rede sein. Diese Auffassung vom mittelalterlichen Text leugnet im Grunde dessen Existenz. Die mittelalterlichen Verhältnisse - so C E R Q U I G L I N I - produzieren Varianten ohne Text. Mittelalterlicher Text ist Varianz: A u f d e r Basis v o n A r b e i t e n PAUL ZUMTHORs, aber w o h l auch d e r Ü b e r t r a gung u n d W e i t e r f ü h r u n g v o n Ideen MICHEL FOUCAULTS spricht e r [ = CERQUIGLINI] v o n d e r . m o b i l i t e incessante et j o y e u s e de l ' e c r i t u r e m e d i e v a le\ d i e in dieser B e w e g t h e i t (.mobilite') u n d in i h r e r ständigen E r n e u e r u n g (.cette incessante recriture') m i t d e n B e g r i f f e n . A u t o r ' u n d . W e r k ' n i c h t adäquat e r f a ß t w e r d e n k ö n n e ; v i e l m e h r sei es die Q u a l i t ä t d e r unablässigen , W i ( e ) d e r b e a r b e i t u n g ' , die d e n m i t t e l a l t e r l i c h e n S t o f f f o r m e [...]. 9 6
war von der durch Mündlichkeit wie Schriftlichkeit geprägten kulturellen Situation des Mittelalters ausgegangen, die er als vocalite bezeichnet. Der Begriff verdeutlicht die Notwendigkeit eines Literaturbegriffs, welcher der Durchdringung von mündlichen Verfahren und dem Prozess der Institutionalisierung von Schrift gerecht wird. Unter dem Begriff des mittelalterlichen .Textes' fasst Z U M T H O R nur mehr noch die „sprachliche Sequenz, also Worte und Sätze".97 Text bildet hier eine Dimension des Werkes, das in der perPAUL ZUMTHOR
94
Vgl. etwa SUZANNE FLEISCHMANN: Philology, Linguistics, and the Discourse of the Medieval Text. In: Speculum 65 (1990), S. 19-37, S. 25: "[...] 'the text' is destabilized into the plurality of its variants."
95
BERNARD CERQUILIGINI: Eloge de la Variante. Histoire critique de la philologie, Paris 1989. Eine ausgewogene und weiterführende Einordnung der New Philology findet sich bei DONALD MADDOX: Philology: Philo-logos, Philologica or Philologie/)*} In: Towards A Synthesis? Essays on the New Philology. Hrsg. von KEITH BUSBY, Amsterdam 1993 (Faux Titre. Etudes de language et litterature francaises publiees 68), S. 5970. Wenig reflektiert hingegen ist die Darstellung der Positionen CERQUILIGINIS in: Texte zur Theorie des Textes. Hrsg. von STEPHAN KAMMER/ROGER LÜDEKE, Stuttgart 2005, S. 114f. Vgl. auch JOACHIM HEINZLE: Handschriftenkultur und Literaturwissenschaft. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 9-28, S. 23f. INGRID BENNEWITZ: Alte 'Neue' Philologie? Zur Tradition eines Diskurses. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, 116 (1997), S. 46-61, S. 51. PAUL ZUMTHOR: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, München 1994, S. 36. Vgl. hierzu die Rezension der französischen Ausgabe von CHRISTIAN KlENING (in: PBB 113 (1991), S. 113-120). Ein Portrait ZUMTHORs lie-
96
97
Text als ,(re)ecriture'
27
formance Gestalt gewinnt. 98 Werkhaftigkeit ist damit an das Kriterium der Aufführung gebunden. Die Kategorie der Aufführung siedelt ZUMTHOR im Schnittpunkt von Produktion, Übermittlung (.transmission'), Rezeption, Bewahrung (,conservation') und Repetition a n . " Kritik an traditionellen philologischen Verfahren kann aus dieser Sicht nicht nur deshalb geübt werden, weil diese sich auf das geschriebene Wort fixieren und damit das spezifisch Mittelalterliche verfehlen. Auch impliziert ZUMTHORs Sicht situationsspezifische Änderungen des Wortlauts eines Textes, die zur geregelten mouvance, der Beweglichkeit des Textes, führen. CERQUIGLINI geht aber über ZUMTHORs Position hinaus, indem er die Kategorie der Autorschaft für die mittelalterlichen Verhältnisse generell leugnet und Uberlieferungsvarianz als beliebig und regellos ansetzt. Damit verabsolutiert er die Varianz und reklamiert den totalen Text der poststrukturalistischen Theorie für das Mittelalter. 100 Den Versuch einer Applikation dieses Textbegriffs hat R. HOWARD BLOCH unternommen. 1
98
fert JAN-DIRK MÜLLER: Paul Zumthor. In: Grundlagen der Literaturwissenschaft. Exemplarische Texte. Hrsg. von BERNHARD J. DOTZLER, Köln u. a. 1999, S. 169171. ZUMTHOR: Die Stimme und die Poesie in der mittelalterlichen Gesellschaft, S. 36: „Mit dem Terminus CEuvre werde ich künftig die Gesamtheit aller zur performance gehörenden Faktoren bezeichnen, alles, was hic et nunc poetisch mitgeteilt wird: Worte und Sätze, Klänge, Rhythmen, visuelle Elemente."
99 Vgl. ebd. S. 37. 100 Vgl. CERQUIGLINI: Eloge de la Variante, S. 25. Vgl. zur germanistischen Kritik der Positionen CERQUIGLINIS bzw. der New Philology die Arbeiten von KARL STACKMANN (K. S.: Die Edition - Königsweg der Philologie? In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher Texte. Bamberger Fachtagung 26.-29. Juni, Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 4), S. 1-18; K. S.: Neue Philologie? In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt/Main 1994, S. 398-427). Allerdings bindet STEPHEN G. NICHOLS ZUMTHORS gänzlich vom Konstrukt der Performanz determinierten Textbegriff an die Schrift zurück: "Without denying the importance of the performative voice or the anthropological significance Zumthor finds in it, I think we must resist his deplacement of writing from the performative arena of the medieval lyric. We must do so for the simple reason that writing was as much part of the lyric performance as voice. Lyrics written in manuscripts, especially the earliest ones, encouraged running words together in ways that allowed them to be read in various ways, often equivocally." (S. G . N . : Voice and Writing in Augustine and in the Troubadour Lyric. In: Vox intexta. Orality and Textuality in the Middle Ages. Hrsg. von ALGER N . DOANE/CAROL BRAUN PASTERNACK, Madison 1991, S. 137-161, S. 139) 101 R. HOWARD BLOCH: The Medieval Text - Guigemar - As a Provocation to the Discipline of Medieval Studies. In: Romanic Review 79 (1988), S. 63-73. Wieder in: The N e w Medievalism. Hrsg. von MARINA S. BROWNLEE/KEVIN BROWNLEE/STEPHEN G. NICHOLS, Baltimore 1991, S. 99-112. Kritisch hierzu DIETMAR RlEGER: New Philology} Einige kritische Bemerkungen aus der Sicht eines Literaturwissenschaftlers. In: Alte und Neue Philologie. Hrsg. von MARTIN-DIETRICH GLEßGEN/FRANZ LEB-
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Kritik der Textkritik
Mittelalterliche Textualität, wie sie CERQUIGLINI definiert, sieht dieser aufgrund ihrer radikalen Dynamisierung editorisch nur dann bewältigt, wenn das Buch als .Träger' der edierten Texte durch die Möglichkeiten des Computers abgelöst ist. Dem hat KARL STACKMANN energisch widersprochen: Die im Namen einer philologeposttextuaire [...] vollzogene Ablösung der Texte v o m bedruckten Papier und ihre Reduzierung auf den Moment ihres ausschnittsweisen Erscheinens auf dem Monitor ist vermutlich mehr durch postmoderne Abneigung gegen alles Statische und Abgeschlossene veranlaßt, als daß sie der mittelalterlichen Wirklichkeit gerecht wird. 1 0 2
Der derzeit statthabende und auch in der Germanistik wahrgenommene Medienumbruch, der einen Funktionsverlust der Schrift bewirkt, trägt eine Mitverantwortung - so ist zu vermuten - bei der Rephilologisierung der Literaturwissenschaft. Das Fach reagiert auf eine vermeintliche Bedrohung. Allerdings sollten die editorischen Möglichkeiten des Computers nicht vorschnell verurteilt werden. Die Aufbereitung des handschriftlichen Materials als Arbeitsinstrumentarium kann in diesem Medium dem Philologen neue Fragestellungen allererst ermöglichen.103
Doch ist einer unkritischen Übernahme des Textbegriffs CERQUIGLIN1SCHER Prägung zu widersprechen. Allerdings scheint der KafkaEditor GERHARD NEUMANN CERQUILIGINIS Position zuzustim-
men, wenn er die »Schreiber-Kultur des Mittelalters als eine Varianten-Kultur' charakterisiert: Kopien, die die mönchischen Abschreiber verfertigen, seien nicht als Fehlerquellen in der Uberlieferung des Archetypus, also eines v o m A u t o r selbst aufgezeichneten Originals, aufzufassen, wie dies LACHMANN getan hatte, sondern als Dokument eines fröhlichen, improvisierenden Begehrens nach einem ,Mehr an Text', einem Mehrwert von Sinn und Sprache. Im Augenblick der Geburt der altfranzösischen .Muttersprache' aus dem einlinig coSANFT (Beihefte zu editio 8), Tübingen 1997, S. 97-109. Die Nähe BLOCHS ZU dekonstruktivistischen Positionen untersucht HANS ULRICH GUMBRECHT: Ein Hauch von Ontik. Genealogische Spuren der New Philology. In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, 116 (1997), S. 31-45. 102 STACKMANN: Die Edition - Königsweg der Philologie? S. 10. 103 Vgl. BERNARD CERQUIGUNI/JEAN-LOUIS LEBRAVE: Philectre: Ein interdisziplinäres Forschungsprojekt im Bereich der elektronischen Philologie. In: LiLi 106 (1997), S. 8-93.
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Text als .(re)ecriture'
d i e n e n Latein entspringe eine Lust a m E r f i n d e n und Variieren, a m E r p r o ben des neuen, .ungeregelten' Idioms in einem schöpferischen Feld n o c h o h n e disziplinierende N o r m - die Ö f f n u n g eines vielstimmigen Resonanzr a u m s v o n Varianten, einer .ecriture de la variance', die durch i m m e r neue Ab- u n d U m s c h r i f t e n in unablässiger Vibration gehalten würde: ,Le sens est partout, l'origine nulle part'. 1 0 4 E s ließe sich e i n w e n d e n , dass i m Mittelalter nicht n u r in Texte abgeschrieben
und Manuskripte
Klöstern
hergestellt wurden.105
Doch
gibt es in der T a t in mittelalterlicher U b e r l i e f e r u n g eine Schicht des T e x t e s , w e l c h e d i e R e d e v o n d e r u n a b l ä s s i g e n mouvance cher
Textualität
zu
rechtfertigen
scheint.
mittelalterli-
Traditionelle
Textkritik
fasst diese S c h i c h t in d e r G e r m a n i s t i k u n t e r d e m B e g r i f f d e r ,iterier e n d e n Varianten'106, in der R o m a n i s t i k unter d e m Begriff der ,Mikro-Varianz'107.
Gemeint
ist m i t d i e s e n B e g r i f f e n ζ. B . d e r
regellose
A u s t a u s c h v o n bedeutungsgleichen K o n j u n k t i o n e n oder der Wechsel von
Relativ- u n d
Demonstrativpronomina
usw.108
Genetische
Ab-
hängigkeitsverhältnisse lassen sich a u f g r u n d der A n a l y s e dieses Textmaterials nicht ableiten, editorische Entscheidungen sind nicht m ö g lich.
Entgegen
CERQUIGLINIs
Beschreibung
des
mittelalterlichen
T e x t e s ist a b e r a n e i n e m a l l e r d i n g s g e n a u z u d e f i n i e r e n d e n , Fehlerbegriff meiner M e i n u n g nach festzuhalten.109 W e r
engen
[abschreibt
104 GERHARD NEUMANN: Schreiben und Edieren. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hrsg. von HEINRICH BOSSE/URSULA RENNER, Freiburg i.B. 1999 (Rombach Reihe Grundkurs 3), S. 401-426, S. 423. Freilich hat CERQUIGLINls Sichtweise mittelalterlicher Textualität in der Altgermanistik - so weit ich sehe - fast einhellige Ablehnung erfahren. 1 0 5 B U M K E : Die vier Fassungen der Nibelungenk/atj, S. 7 6 : „Von keiner der annähernd dreihundert deutschen Epenhandschriften des 13. Jahrhunderts (und der Zeit um 1300) läßt sich, soweit ich sehe, mit Sicherheit sagen, wo sie geschrieben worden ist, in wessen Auftrag sie geschrieben wurde und wer sie geschrieben hat. Daß die weltliche Dichtung in deutscher Sprache hauptsächlich in Klöstern abgeschrieben wurde, ist eher unwahrscheinlich. Die Schriftgestaltung in mehreren Epenhandschriften deutet darauf hin, daß die Schreiber mit dem Schreibstil von Kanzleien vertraut waren. Dabei wird in erster Linie an städtische Kanzleien zu denken sein." 106 STACKMANN: Mittelalterlicher Text als Aufgabe, S. 257f.; KÜHNEL: Wolframs von Eschenbach Pangval in der Uberlieferung, S. 173; BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 52. 107 KEITH BUSBY: 'Variance' and the Politics of Textual Criticism. In: Towards A Synthesis? Essays on the New Philology. Hrsg. von Κ. B., Amsterdam 1993 (Faux Titre. Etudes de language et litterature francaises publiees 68), S. 29-45, S. 33f. 108 JAN-DIRK MÜLLER spricht in Bezug auf die iterierenden Varianten von einem Adlibitum-Bereich der Textvarianz (MÜLLER: Aufführung - Autor - Werk, S. 164). 109 Ein sehr instruktives Beispiel für die Notwendigkeit eines exakt definierten Fehlerbegriffs findet sich bei BUMKE: Untersuchungen zur Überlieferungsgeschichte der Höfischen Epik im 13. Jahrhunden, S. 268: „Diese Liste zeigt, in welche Schwierigkeiten eine Textphilologie gerät, die sich angesichts abweichender Lesungen in den
30
Kritik der Textkritik
oder wem diktiert wird, macht Fehler, auch wenn dabei eine kulturelle Rahmensituation anzusetzen ist, in der orthographische und grammatikalische Regelungen die Schrift noch nicht strikt normativ strukturieren. Schwerer wiegt freilich der häufig erhobene Einwand, der das „fröhliche, improvisierende Begehren nach einem ,Mehr an Text'" als „unhaltbaren Romantizismus" attackiert.110 Der von der New Philology propagierte radikal dynamisierte Textbegriff behauptet für mittelalterliche Textualität einen auf Dauer gestellten Prozess der Bedeutungsproduktion. Indessen scheint hier eine Verwechslung der begrifflichen Ebenen vorzuliegen. Denn zunächst bezieht sich das «77/Äre-K.onzept der poststrukturalistischen Literaturtheorie auf den Aspekt der Textbedeutung schlechthin, der zunächst unabhängig von der linguistischen Varianz gedacht ist. Varianz stellt sich allererst im Blick auf das Manuskript oder die Handschrift, dem materiellen Träger der Schrift, ein. In der um Systematik bemühten Terminologie P E T E R S H I L L I N G S B U R G S bezieht sich der letztere Aspekt auf den Begriff des material text.111 S H I L L I N G S B U R G betont, dass der material text den Zugang des Lesers zum Werk ermöglicht. Ohne materiale Umsetzung gibt es gar keinen Text. 112 Dagegen sind die Überlegungen B A R T H E S Handschriften immer gleich zu einer Entscheidung über Echtheit oder Unechtheit gezwungen sieht. Indem Fehler konstatiert werden, w o keine Fehler zu erkennen sind - das gilt meines Erachtens für alle 35 Stellen - , gewinnt das subjektive Element bei der Festlegung dessen, was echt oder unecht ist, ein unzulässiges Ubergewicht." 110 JAN-DIRK MÜLLER: Ritual, pararituelle Handlungen, Geistliches Spiel. Z u m Verhältnis von Schrift und Performanz. In: Audiovisualität vor und nach Gutenberg. Z u r Kulturgeschichte der medialen U m b r ü c h e . Hrsg. von HORST WENZEL u. a., Wien 2001 (Schriften des Kunsthistorischen Museums Wien Bd. 6), S. 63-71, S. 64; vgl. auch MÜLLER: A u f f ü h r u n g - A u t o r - Werk, S. 151: „ D i e Vorstellung eines unendlichen Stroms (der Rede, der Traditionen), der von Zeit zu Zeit zu einem Text gerinnt, besser: in einer kontingenten Augenblicksaufnahme sistiert wird, ist ein verkappter Rousseauismus Z u m t h o r s , insofern die Differentialität der Zeichen in der Schrift i m R ü c k g a n g auf jeden S t r o m getilgt oder mindestens unkenntlich gemacht wird." 111 PETER SHILLINGSBURG: Resisting Texts. Authority and Submission in Constructions of Meaning, A n n A r b o r 1997 (Editorial T h e o r y and Literary Criticism), S. 73: "It will be useful [...] to have a term for the union of linguistic text and document. I call it the matenal text. It seems clear that a reader reacts not just t o the linguistic text when reading but also to the material text, though it be subconsciously, taking in impressions about paper and ink quality; typographic design; size, weight, and length of document; and style and quality of binding; and perhaps f r o m all these together, some sense of authority or integrity (or lack thereof) for the text." 112 E b d . S. 74: " A material text, any material text, is the reader's only access route to the work. A linguistic text cannot exist for anyone (who does not already hold it in m e m o r y ) without a material medium; the linguistic text and its medium are the material text with all the implications of that union. Material texts are the production of
Text als ,(re)ecriture'
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und DERRIDAS zur ecnture auf den semiotic text bezogen.113 Mag nun auf der Ebene des semiotic text das Prinzip der ecriture als Postulat einer auf Dauer gestellten Bedeutungstransformation seine Geltung besitzen, so unterliegt dieses Konzept auf der Ebene des material text deutlichen Beschränkungen. Hält man aber die angeführten begrifflichen Ebenen nicht auseinander, kann der Eindruck entstehen, dass die mit Textgenese und Schreibprozessen befassten Editionsphilologen den Annahmen poststrukturalistischer Theoriebildung zugearbeitet hätten.114 Die Vorstellung, die mittelalterliche Textualität zeichne sich durch ein unablässiges, beliebiges und regelloses Ab- und Umschreiben der Texte aus, hält der Uberprüfung am konkreten Material der Uberlieferung nicht stand. Eine permanente Bedeutungstransformation ist auf der Ebene der Uberlieferung gerade nicht zu beobachten. Vielmehr ist bei der Tradierung mittelalterlicher Texte mit spezifischen und selektiven Aktualisierungen der Sinnschichten eines Werkes zu rechnen. Diese Textproduktivität kann als Moment des aktualisierenden Vollzugs von vorbildhaften Texten verstanden werden. Ihre Vorbildhaftigkeit dokumentiert sich durch eine je aktuelle Autorisierung in einem weiten Spannungsfeld zwischen bloßer Abschrift (mit den üblichen Schreibvarianten) und textverändernder Adaptation, die im mittelalterlichen Traditionsverständnis m. E. ein weit stärkerer Erweis für die vorbildhafte Autorität eines literarischen Autor-Oeuvres ist als eine Schreiberkopie. 115
Die aktualisierende Adaptation eines Textes verweist nach mittelalterlichem Verständnis gerade auf die Autorität seines Autors, der in gewissem Sinne über die Varianz erst zu sich kommt.116 Deshalb ist es nicht möglich, mittelalterliche Rezeption bzw. Reproduktion von Texten mit Verfahren dekonstruktivistischer Textlektüre gleichzusetzen: Verwandtschaft und Differenz mittelalterlicher Lektürepraxis zu einer dekonstruierenden Lektüre bedürften näherer Ausarbeitung. Wenn es richtig utterance. The first material text (say the manuscript) is the first attempted union of the essayed version and a document." 113 Ebd. S. 71: "A semiotic text consists of the signs found recorded in a physical f o r m of the work." 114 BÖHME: Die Literaturwissenschaft zwischen Editionsphilologie und Kulturwissenschaft, S. 37: „Es ist nicht ohne W i t z , daß der Dekonstruktivismus, welcher keinen Ursprung und kein Ende des Textes, keine Authentizität und Intentionalität anerkennt, dazu genutzt werden konnte, um eben deswegen, die Masse des zu Edierenden uferlos auszudehnen und eine A r t von l:l-Wiedergabe des Textes zu legitimieren." 115 JOHANNES JANOTA: Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten. In: ,In Spuren gehen'. Festschrift f ü r H. Koopmann. Hrsg. von ANDREA BARTEL U. a., Tübingen 1998, S. 65-80, S. 78f. 116 Vgl. ebd. S. 79.
Kritik der Textkritik
32
ist, d a ß d e m M i t t e l a l t e r die V o r s t e l l u n g des g e s c h l o s s e n e n , v o n e i n e m A u t o r i n t e n d i e r t e n u n d gültig f o r m u l i e r t e n T e x t e s f r e m d ist u n d d e r T e x t
nicht
jenseits e i n e r F o l g e v o n k o n k r e t e n A n v e r w a n d l u n g e n e x i s t i e r t , s o ist dies doch
schon
allein d a d u r c h v o m
poststrukturalistischen
Verständnis
von
L e k t ü r e u n t e r s c h i e d e n , d a ß jene A n v e r w a n d l u n g e n allesamt sich a m K r i t e r i u m ü b e r z e i t l i c h e r W a h r h e i t o r i e n t i e r e n ; Sinn w i r d d u r c h T r a d i t i o n v e r s a m m e l t , n i c h t in e i n e r F o l g e v o n A n e i g n u n g s a k t e n z e r s t ä u b t . 1 1 7
2.6. Text als ,Handschrift': Material Philology " W h a t is at issue is t h e status m a n u s c r i p t s s h o u l d be a c c o r d e d . " 1 1 8
Das Stichwort der .Materialität' von Texten verweist auf die „Bedeutung, die dem Zeichenträger für den Prozess der Speicherung und Übermittlung von Information zugemessen wird." 119 Materieller Zeichenträger ist im Mittelalter meist die aus Pergament angefertigte Handschrift, deren Funktion als sinnerzeugende und sinnvermittelnde Instanz von dem Romanisten STEPHEN G. NICHOLS - einem der Initiatoren der NOT Philology - in besonderer Weise hervorgehoben worden ist. NICHOLS präzisiert seine Vorstellungen der Erneuerung philologischer Erkenntnis im Konzept einer Material Philology}10 Hierbei vertritt er die Position eines philologischen Skeptizismus, die der Varianz in den Uberlieferungsträgern allein gerecht werden soll: „[...] for variants are simply different ways of representing, and thus interpreting, a given thought. Material philology, which takes manuscript skepticism seriously, operates very differently from textual criticsm's ideal inherent in its quest to reconstitute a lost." 121 Programmatisch 117 JAN-DIRK MÜLLER: [Rezension zu] MARY CARRUTHERS: The book of m e m o r y . A study of M e m o r y in Medieval Culture. Cambridge Univ. Press 1990. In: P B B 117 (1995), S. 180-187, S. 184, A n m . 3. 118 SIMON GAUNT/SARAH KAY: Introduction: Theory and Practice of T h e o r y . In: F o r u m for Modern Language Studies 33 (1997) H . 3, S. 193-203, S. 197. 119 JAN-DIRK MÜLLER: Neue Altgermanistik. In: Jahrbuch der Schillergesellschaft 39 (1995), S. 4 4 5 - 4 5 3 , S. 450. 120 STEPHEN G. NICHOLS: W h y Material Philology? Some Thoughts. In: ZfdPh, Sonderheft: Philologie als Textwissenschaft. Alte und Neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOREN/HORST WENZEL, 116 (1997), S. 10-30. Vgl. auch S. G. N . : Introduction: Philology in a Manuscript Culture. In: Speculum 65 (1990), S. 1-10; S. G. N . : O n the Sociology of Medieval Manuscript Annotation. In: Annotation and Its Texts. Hrsg. von STEPHEN A . BARNEY, N e w Y o r k , Oxford 1991, S. 43-73; S. G. N . : Philology and Its Discontents. In: The Future of the Middle Ages. Medieval Literature in 1990s. Hrsg. von WILLIAM D. PADEN, Gainesville 1994, S. 113-141. 121 NICHOLS: W h y Material Philology? Some Thoughts, S. 16. Den Anschluss an den Textbegriff CERQUIGLINIs markiert NICHOLS auch in seiner Einleitung der der New
Text als .Handschrift': Material Philology
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dezentriert NICHOLS' Konzept die Bedeutung des [Autor]Textes im mittelalterlichen Codex und betont seine Funktion als Kreuzungspunkt verschiedener .Diskurse': Rather than seeking t o recover the lost voice of a single author, we need an a p p r o a c h that focuses o n the poetic text as one of several discourses within the manuscript. Such a theory w o u l d consider the manuscript as a c o m p l e x s y s t e m of expression and study its networks of meaning production. It w o u l d assume that scribe, illuminator, rubricator - the one and the m a n y w h o s e w o r k focuses o n the poetic text - are aware of their posterior status vis-a-vis the verbal narrative and their interaction with one another's dis122 courses.
NICHOLS' Erklärungsrahmen bei der Analyse der mittelalterlichen Codices favorisiert die Prinzipien der Singularität, Kontingenz und Akzidentalität. 123 Die materielle Realisation eines Textes in einer mittelalterlichen Handschrift als Ausdruck eines eigenen Systems der Sinnproduktion wird dabei in den Vordergrund gerückt. Der [poetische] Text in einer Handschrift bildet nur eine Dimension, durch welche die Bedeutung des Uberlieferungsträgers konstituiert wird. Der Text und seine Semantik werden in dieser Sichtweise gegenüber seinem Status in der traditionellen Textkritik depotenziert. Autor, Schreiber, Redaktor, Illuminator, Rubrikator und Kommentator verfertigen als Pluralität von Autorinstanzen in je besonderer Arbeitsteilung eine Handschrift, produzieren damit einen polyphonen Sinnzusammenhang, dessen Rekonstruktion Einblick in den kulturel-
Philolog gewidmeten Ausgabe des Speculum (Nichols, Introduction: Philology in a Manuscript Culture, S. 1.) 122 NICHOLS: Philology and Its Discontents, S. 117f. Vgl. auch NICHOLS: On the Sociology of Medieval Manuscript Annotation, S. 48: "For the medieval work, within the manuscript matrix, reveals a series of creative tensions between what we may call the nuclear work, composed at some prior time by one individual possessing a specific aesthetic, philosophical, linguistic, and historical point of view, and the 'extended work', the text with all its extradiegetical, illustrated, interpolated, and abbreviated manifestations produced by one or usually more individuals often decades or even centuries after the writer composed." 123 Nach Meinung von HANS ULRICH GUMBRECHT „[...] plädiert [NICHOLS] für eine neue Konzentration auf die materiale Phänomenologie der mittelalterlichen Manuskripte und für eine neue Analyse der kodikologischen und paläographischen Befunde in ihrer jeweiligen Singularität. [...] Vor allem geht es darum [...] die Materialität der Manuskripte als eine komplexe Symptomatologie zu nutzen, welche uns die historisch spezifischen Formen im Umgang mit der Text- und der Sinn-Dimension erschließt. [...] Manuskripte sollen als Spuren und als Partituren gesehen werden. Als Spuren von Akten der Manuskript-Produktion (auf ihren verschiedenen Ebenen) und als Partituren, welche den Umgang mit Manuskripten steuerten (und in gewisser Weise bis heute steuern)." (GUMBRECHT: Ein Hauch von Ontik. Genealogische Spuren der New Philology, S. 32; vgl. ebd. S. 41.)
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Kritik der Textkritik
len Kontext, in dem die Handschrift entsteht, gewährt. 124 NICHOLS' Plädoyer gilt einer optimistischen Aufwertung der Handschrift als realem Objekt - als anthropologisch intendierte Wendung gegen eine wortfixierte Philologie: Material philology takes as its point of departure the premise that one should study or theorize medieval literature by reinserting it directly into the 'vif of its historical context by privileging the material artifact(s) that convey this literature to us: the manuscript. This view sees the manuscript not as a passive record, but as an historical document thrusting itself into history and whose very materiality makes it a medieval event, a cultural drama. After all, manuscripts are so often the only surviving witnesses - or the most reliable guides - to the historical moments that produced the literary text often in bewildering forms.125 Die Handschrift als dichtes Bedeutungsgewebe wird so zur Schnittstelle verschiedener Bedeutungsfäden, die in sie hineinführen und als Knotenpunkt ihre Ereignishaftigkeit dokumentieren. Fragt man nach den Ausgangspunkten von NICHOLS Überlegungen zu einer Material Philology, so lässt sich erneut das mouvance-Konzept ZUMTHORS anführen: Any archetype exists primarily as an intellectualized standard for evaluating the variations worked out in the individual texts. These manuscript texts, in themselves and in their mutability, are the proper subject of critical analysis. Since they represent a collaborative re-creation involving authors, performers, revisers, and scribes, the work is completely detached from its originator, who at any event had thoroughly subverted his individuality in the production of literary compositions. 26 Hinter der emphatischen Feier der mittelalterlichen Handschrift ihrer Objekthaftigkeit, an der sich der Funke der Geschichte entzünden soll, ihrer spezifischen .Verdichtung' von kulturell und sozial aufgeladener .Energie' - ist die (metaphorische?) Übertragung des Textbegriffs zu vermuten, wie ihn STEPHEN GREENBLATT zur Analyse einer ,Poetik der Kultur' entworfen hat. 127 NICHOLS Plädoyer 124 Vgl. aber schon SYLVIA HUOT: The Scribe as Editor: Rubrication as Critical Apparatus in T w o Manuscripts of the Roman de la Rose. In: L'Esprit Createur 27 (1987), S. 6778. 125 NICHOLS: W h y Material Philology? Some Thoughts, S. 11. 126 So fasst die Romanistin MARY B. SPEER Positionen ZUMTHORS zusammen (Μ. Β. S.: Wrestling with Change. O l d French Textual Criticism and Mouvance. In: Olifant 7 (1979/80), S. 311-326, S . 3 1 8 ) . 127 Vgl. STEPHEN GREENBLATT: Grundzüge einer Poetik der Kultur. In: DERS.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Berlin 1991, S. 107-122. ANNE MiDDLETON wertet das Projekt der New Philology als A n t w o r t v o n Mittelalterforschenden auf die Herausforderungen (und Erfolge?) des New Historicism·. "It [New Philology] might also articulate the longdeferred response of medieval literary studies to
Text als .Handschrift': Material Philology
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für die Rückbesinnung auf die Erkenntnismöglichkeiten, die in der Beschäftigung mit mittelalterlichen Handschriften liegen, lässt sich so überraschenderweise als „Re-Pragmatisierung des dekonstruktivistischen Textbegriffs" 128 , wie ich ihn oben erläutert habe, verstehen. In der Materialität des mittelalterlichen Objekts sollen spezifische Sinnverdichtungen rekonstruiert werden. 129 NICHOLS bietet mit den ebenso interessanten wie problematischen Begriffen der supplementation bzw. der manuscript matrix Kategorien zur Beschreibung von mittelalterlichen Handschriften an, die das Bestreben der New Philology erkennen lassen, den Gegenstand ihrer Bemühungen zu theoretisieren: A s a description of a series of interactions with a prior w o r k , the manuscript will s h o w evidence of the h o r i z o n of k n o w l e d g e and expectation brought t o bear b y the producers of the manuscript. [...] I offer 'supplementation' as a useful theoretical t e r m for the m a n y f o r m s of accretion t o medieval texts in the space of the manuscript. 1 3 0
Dass NICHOLS hier auf das DERRIDASCHE Supplement anspielt, ohne den Bezug direkt herzuleiten und zu begründen, macht die Verwendung des Begriffs problematisch, weil die impliziten Theoreme des Konzepts DERRIDAS nicht ohne kritische Diskussion auf mittelalterliche Verhältnisse übertragen werden können. 131 B y manuscript matrix I mean nothing m o r e nor less than the historical fact that medieval texts were written in a manuscript format which is both multhe implicit challenge of the 'new historicism', which, though issued from within a traditional field to which it has long been critically allied, has thus far failed to stir medievalists' emulation." (A. M.: Medieval Studies. In: Redrawing the Boundaries. The Transformation of English and American Literary Studies. Hrsg. von STEPHEN G R E E N B L A T T / G I L E S G U N N , N e w Y o r k 1 9 9 2 , S . 12-40, S . 2 7 . )
128 MORITZ BAßLER: New Historicism und der Text der Kultur: Zum Problem synchroner Intertextualität. In: Literatur als Text der Kultur. Hrsg. von MORITZ CSÄKY/RlCHARD REICHENSPERGER, Wien 1999, S. 23-40, S. 27. 129 Wenn solche Rekonstruktionen in den Analysen NICHOLS gelingen, dann liegt dies auch an den gekonnt ausgewählten, wertvoll ausgestatteten und illuminierten Handschriften. 130 NICHOLS: Philology and Its Discontents, S. 118. 131 V g l . J A C Q U E S D E R R I D A : G r a m m a t o l o g i e .
Übersetzt von HANS-JÖRG
RHEINBER-
GER und HANNS ZISCHLER, 2. Auflage Frankfun/Main 1988 [zuerst: De la grammatologie, Paris 1967], S. 250: „Das Supplement fügt sich hinzu, es ist ein Surplus; Fülle, die eine andere Fülle bereichert, die Uberfülle der Präsenz. Es kumuliert und akkumuliert die Präsenz [...]. Aber das Supplement supplementiert. Es gesellt sich bei, um zu ersetzen. Es kommt hinzu oder setzt sich unmerklich an-(die)-Stelle-von; wenn es auffüllt, dann so, wie man eine Leere füllt. Wenn es repräsentiert und Bild wird, dann wird es Bild durch das vorangegangene Fehlen einer Präsenz." Den Begriff des Supplements für die Analyse illuminierter Handschriften fruchtbar zu machen, versucht MICHAEL CAMILLE: The Book of Signs: Writing and visual difference in Gothic manuscript illumination. In: Word and Image 1 (1985), S. 133-148, bes. S. 138-143.
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Kritik der Textkritik
tivoiced and temporally open-ended, in the sense that it is continually being re-represented and redefined [...]. The manuscript matrix betokens an historically determinate representational space unlike any that has existed since the advent of print culture; it is a space of radical alterity very different from the conception of textual space propounded by the critical edition.132
Eine ähnliche Auffassung der mittelalterlichen Handschrift, wie NICHOLS sie entwickelt hat, findet sich in jüngeren Forschungsbeiträgen, die in der Debatte um den Aufführungscharakter mittelalterlicher Literatur angesiedelt sind.133 So fasst MARTIN HUBER spätmittelalterliche Codices „als komplexe, inszenierte Zeichensysteme [auf], die sich aus unterschiedlichen Parametern zu einer Art ,Partitur' zusammenfügen". 134 Auch HEDWIG MEIER und GERHARD LAUER versuchen zunächst, sich dem von ihnen untersuchten ,Codex Buranus' mit der „Logik der Partitur" zu nähern, indem sie im schriftlichen Uberlieferungsträger dessen performative Anteile sichtbar machen. 135 132 NICHOLS: Philology and Its Discontents, S. 119. Vgl. hierzu auch MICHAEL CAMILLE: Sensations of the Page: Imaging Technologies and Medieval Illuminated Manuscripts. In: T h e Iconic Page in Manuscript, Print, and Digital Culture. Hrsg. von GEORGE BORNSTEIN, Ann Arbor 1998 (Editorial T h e o r y and Literary Criticism 13), S. 33-53, S. 44: "But another term that he had used to locate attention on the page was the 'manuscript matrix', which suggests the grid of the computer, not the flesh of the w o m b (which is the word's etymological source). Medieval texts and images have to be put back into the body, the matrix not of a network of meanings but the unstable site of sensation itself." 133 HEDWIG MEIER, GERHARD LAUER: Partitur und Spiel. Die Stimme der Schrift im Codex Buranus. In: .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und in Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996, S. 31-47; MARTIN HUBER: Fingierte Performanz. Überlegungen zur Codifizierung spätmittelalterlicher Liedkunst. In: .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und in Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996, S. 93-106. Vgl. auch KLAUS GRUBMÜLLER: Uberlieferung - Text - Autor. Z u m Literaturverständnis des Mittelalters. In: Die Präsenz des Mittelalters in seinen Handschriften. Ergebnisse der Berliner Tagung in der Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, 6.-8. April 2000. Hrsg. von HANS-JOCHEN SCHIEWER/KARL STACKMANN, Tübingen 2002, S. 5-17, bes. S. 16f. 134 HUBER: Fingierte Performanz, S. 95: „'Partitur' bezeichnet im weiteren ein aus horizontalen und vertikalen Parametern gebildetes Zeichensystem, dessen spezifischer Sinn sich nur in der Verbindung der Parameter erschließt. Nicht der musikwissenschaftliche Terminus im engeren Sinne ist jedoch im Blick; der Begriff .Partitur' wurde vielmehr - nicht zuletzt aufgrund seiner metaphorischen Aussagekraft - als Grundlage für ein allgemeineres heuristisches Beschreibungs- und Analysemodell gewählt." 135 MEIER/LAUER: Partitur und Spiel, S. 35, bes. S. 38. In der Diskussion u m die Anwendbarkeit des Performanz-Konzepts schlägt JAN-DIRK MÜLLER einen anderen Weg ein: Indem er einen Text Reinmars, der in der handschriftlichen Uberlieferung kaum iterierende Varianten enthält, auf die in ihm vertextete Aufführungssituation hin analysiert, rekonstruiert er eine durch die Aufführung determinierte „'Poetik' von Minnesang", bei der nicht der Aspekt der Überlieferung im Zentrum steht (J.-D.
Autor - Redaktor - Schreiber
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I m Rückgriff auf Ritualtheorien ARNOLD VAN GENNEPS und VIC-
TOR TURNERS interpretieren sie den Codex sodann als ,Spiel', ja als .soziales Drama', das durch die „Kreativität des Wechselspiels von Antistruktur und Struktur" über den kulturellen Kontext der Entstehungszeit der Handschrift Auskunft gibt.136 Allerdings provoziert das fehlende Kontextwissen über die pragmatische Situierung der Handschrift die kritische Nachfrage, welcher konkrete Erkenntniszuwachs über den kulturellen Kontext aus der theoretisch avancierten Analyse der Handschrift gewonnen werden konnte.137 Aspekte der Materialität und Medialität in die Analyse der handschriftlich überlieferten Texte mit einzubeziehen, kann kaum als neuartige Perspektive auf die Textkultur des Mittelalters beschrieben werden. Gleichwohl ist sie aktuell. Denn tatsächlich neuartig scheinen mir die Versuche zu sein, die mittelalterlichen Handschriften mit neueren theoretischen Überlegungen zum Sprechen zu bringen.138 Zur Debatte steht also das Verhältnis von Codex und Theorie, das auszuloten weiterer Analysen (als die hier angeführten) bedarf, bevor etwaige Gefahren der Theoretisierung beschworen werden können.
2.7. Autor - Redaktor - Schreiber „Die Bibel: iss für mich 'n unordentliches Buch mit 50 000 Textvarian_ «139 ten.
Der Schriftsteller Joachim - Hauptfigur in Arno Schmidts ,Kurzroman' Seelandschaft mit Pocahontas - begründet im obigen Zitat die seiner Meinung nach mangelnde autoritativ-normative Relevanz der Bibel philologisch: mit der Unfestigkeit dieses Textes.140 Dies macht im Gegenzug deutlich, dass die Festigkeit eines Textes auch mit seiner
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M.: Performativer Selbstwiderspruch. Zu einer Redefigur bei Reinmar. In: PBB 121 (1999), S. 379-405, S. 387). MEIER/LAUER: Partitur und Spiel, S. 46. Vgl. CHRISTOPH HUBER: Rezension zu .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. DFG-Symposion 1994. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Stuttgart, Weimar 1996. In: Arbitrium 1 (1999), S. 24-32, S. 26. Vgl. PETER STROHSCHNEIDER: Innovative Philologie? In: www.germanistik2001.de Vorträge des Erlanger Germanistentags. Hrsg. von HARTMUT KUGLER. Redaktion: FRIEDRICH M. DIMPEL, Bielefeld 2002, S. 901-924. Arno Schmidt: Seelandschaft mit Pocahontas. In: ders.: Das erzählerische Werk in acht Bänden. Bd. 2, Zürich 1985, S. 69-114, S. 69.
140 Natürlich dürfte dem klugen und antiklerikal eingestellten Schriftsteller in Schmidts R o m a n nicht entgangen sein, dass schon im Mittelalter gerade die feste Textgestalt der Bibel als außerordentlich schutzwürdig galt.
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Kritik der Textkritik
Geltung innerhalb einer bestimmten historisch-kulturellen Situation zusammenhängt. Produktionsästhetische Reflexionen und Äußerungen mittelalterlicher, vornehmlich volkssprachlicher Autoren, welche die Unveränderbarkeit ihrer Texte einfordern, hat THOMAS BEIN zu einer Hloge de l'invanabihte^ zusammengestellt. Prologe und Exkurse der mittelhochdeutschen Bibelepik belegen das Interesse ihrer Autoren, die Festigkeit der eigenen Texte zu sichern, denen der Stoff Autorität und Dignität verleiht. 142 Die Uberlieferung ist allerdings den auktorialen Vorgaben kaum gefolgt. Auffallend an diesen Textstellen ist auch, dass die Autoren ihre Tätigkeit in Kategorien künstlerischer Meisterschaft artikulieren. Mithin führt dieses heterogene Textmaterial vor allem die Frage nach dem Autor und der Historizität des Konzepts ,Autor' vor Augen: „Wen kümmert's, wer spricht, hat jemand gesagt, wen kümmert's, wer spricht."143 Gegenwärtig lässt sich beobachten, wie die Kategorie der Autorschaft in der Germanistik auf großes Interesse stößt. 144 Die Gründe hierfür sind sicher vielfältig; einer besteht ohne Zweifel in der Problematisierung des Autorbegriffs vor allem durch neue literaturtheore-
141 THOMAS BEIN: Mit fremden Pegasusen pflügen. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher L y r i k und Lyrikphilologie, Berlin 1998 (Philologische Studien und Quellen 150), S. 129-134. 142 Vgl. etwa Konrad von H e i m e s f u n : Diu urstende. Hrsg. von KURT GÄRTNER/WERNER J. HOFFMANN, Tübingen 1991 (ATB 106), V. 10-26. Konrad von Fußesbrunnen: DIE KINDHEIT JESU. Kritische Ausgabe von HANS FROMM/KLAUS GRUBMÜLLER, Berlin, N e w York 1973, V. 3013-3017. Zum Werk- bzw. Textbegriff bei Konrad von Heimesfurt vgl. BRUNO QUAST: Hand-Werk. Die Dinglichkeit des Textes bei Konrad von Heimesfurt. In: PBB 123 (2001), S. 65-77; PETER STROHSCHNEIDER: Reden und Schreiben. Interpretationen zu Konrad von Heimesfurt i m Problemfeld vormoderner Textualität. In: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von JOACHIM BUMKE/URSULA PETERS, 124 (2005), S. 309-344. 143 Das Beckett-Zitat nach MICHEL FOUCAULT: Was ist ein Autor? In: DERS.: Schriften zur Literatur. Frankfurt/Main 1988, S. 7-31, S. 11. 144 Vgl. Autor und Autorschaft i m Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELIZABETH A. ANDERSEN u. a., Tübingen 1998; Rückkehr des Autors. Zur Erneuerung eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. von FOTIS JANNIDIS u. a., Tübingen 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71); Autorität der/in Sprache, Literatur, Neue Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN U. a., Bielefeld 1999; Texte zur Theorie der Autorschaft. Hrsg. von FOTIS JANNIDIS u. a., Stuttgart 2000. Text und Autor. Beiträge aus dem VenedigSymposium 1998 des Graduiertenkollegs .Textkritik' München. Hrsg. von CHRISTIANE HENKES/HARALD SALLER, Tübingen 2000 (Beihefte zu editio 15); Autorschaft. Positionen und Revisionen. Hrsg. von HEINRICH DETERING U. a., Stuttgart, Weimar 2002 (DFG-Symposien. Berichtsbände 24).
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tische Vorstöße in den letzten Jahrzehnten. 145 Diese Versuche endeten oft - statt bei einer Historisierung von Autorschaft und Autorschaftskonzepten - bei einer Abkehr von der Kategorie des Autors überhaupt. Doch wäre die theoretisch orientierte Verabschiedung des Autors in seiner Rückkehr via historisch-systematischer Rekonstruktion von Autorkonzepten aufhebbar. Auch zielt die schon angesprochene Behauptung C E R Q U I G L I N I S , dass das Prinzip Autorschaft in der mittelalterlichen Kultur keine Grundlage besitze, im Grunde auf die Negation der Kategorie des Autors - nicht auf eine historisierende Perspektive des Phänomens. Wenngleich der Fehler der MittelalterPhilologie des 19. Jahrhunderts darin bestand, dass sie den modernen emphatischen Autorbegriff auf das Mittelalter projizierte, so kann im Umkehrschluss und in Fehlrezeption F O U C A U L T S C H E R Argumentation nicht vom Tod des Autors im Mittelalter gesprochen werden. F O U C A U L T S Aufsatz beschreibt, wie U W E J A P P darlegt, den Autor als eine .Funktion' bzw. ein .Prinzip' des Diskurses. „Untersucht wird folglich nicht der Autor als Urheber von Diskursen, sondern der Diskurs als der [historisch variable] Spielraum von Autorfunktionen."146 F O U C A U L T imaginiert zwar eine Kultur, „in der Diskurse verbreitet und rezipiert würden, ohne dass die Funktion Autor jemals erschiene", aber dadurch wird nur der historisch-systematische Ansatz betont.147 Doch noch eine weitere Unterscheidung, die in der derzeitigen Diskussion des Autorbegriffs zu wenig Berücksichtigung findet, ist hier vorzunehmen: nämlich jene zwischen dem ,Autor-als145 H i e r wären neben MICHEL FOUCAULTS Vortrag: Was ist ein A u t o r ? u n d WILLIAM K. L. WIMSATT/MONROE C . BEARDSLEY: T h e intentional fallacy. In: Critical Theo r y since Plato. Hrsg. v o n Η . ADAMS, F o n W o r t h 2 1992, S. 945-951 noch ROLAND BARTHES: La mort de l'auteur. In: DERS.: CEuvres completes. T o m e II. 1966-1973. Hrsg. v o n E. MARTRY, Paris 1994, S. 491-495 zu nennen. 146 UWE JAPP: D e r O r t des Autors in der O r d n u n g des Diskurses. In: Diskurstheorien u n d Literaturwissenschaft. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN/HARRO MÜLLER. F r a n k f u r t / M a i n 1988, S. 223-234, S. 228. Vgl. auch GERHARD WOLF: Autopoiesis u n d Autorpoesie. Z u r F u n k t i o n des Autors in frühneuzeitlichen H a u s c h r o n i k e n . In: Fragen nach d e m A u t o r : Positionen u n d Perspektiven. Hrsg. v o n FELIX P. INGOLD u n d WERNER WUNDERUCH, Konstanz 1992, S. 61-71. Aus textkritischer Perspektive STEFAN GRABER: D e r A u t o r t e x t in der historisch-kritischen Ausgabe. Ansätze zu einer Theorie der Textkritik, Bern, Berlin, F r a n k f u r t / M a i n u.a. 1998, S. 67-71. Schließlich KLAUS MICHAEL BOGDAL: Historische Diskursanalyse der Literatur. Theorie, Arbeitsfelder, Analysen, Vermittlung, Opladen 1999, S. 135-171 (Kapitel III. Diskurs - Autor). 147 FOUCAULT: Was ist ein Autor? S. 31. So auch FOTIS JANNIDIS: D e r nützliche A u t o r . Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text u n d historischem Kontext. In: R ü c k k e h r des A u t o r s . Z u r E r n e u e r u n g eines umstrittenen Begriffs. Hrsg. v o n FOTIS JANNIDIS, T ü b i n g e n 1999 (Studien und Texte zur Sozialgeschichte der Literatur 71), S. 353-389, S. 358.
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Interpretament' und dem ,Autor-als-Produzenten' eines Textes. Während FOUCAULT die Existenz des letzteren nicht problematisiert, so wendet er sich doch gegen den ,Autor-als-Interpretament\ F ü r FOUCAULT ist dieser A u t o r , „soweit der Interpret ein Autor-Individuum als sinnstiftende Instanz für die ihm zugeschriebenen Texte in Anspruch n i m m t " , eine „Selbsttäuschung" des Interpreten: Zwar konstruiert man bei der Auslegung des Textes ,ein gewisses Vernunftwesen [...], das man Autor nennt', in Wahrheit aber ,ist das, was man an einem Individuum als Autor bezeichnet [...] nur die mehr bis minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen läßt.148 D i e auch gattungsbedingte Anonymität vieler mittelalterlicher Texte, die selbstverständliche Bearbeitung lateinischer und volkssprachlicher Vorlagen 1 4 9 , die oftmals erhebliche Varianz zwischen den Fassungen ein und desselben Textes und die geringe Zahl an Autographen im Mittelalter 1 5 0 sind als historische Signaturen einer spezifischen Ausbildung der A u t o r f u n k t i o n aufzufassen, aber auch ein Begriff wie der des doenedieps, der die „Vermutung nahe[legt], man habe unter mittelalterlichen Autoren durchaus eine A r t Recht auf geistiges Eigentum erkannt und anerkannt." 1 5 1 Diesem Problemfeld sind ebenso die mannigfachen Selbstnennungen der Autoren bzw. die Literaturkata-
148 FOUCAULT: Was ist ein Autor? S. 20. Auch ROLAND BARTHES' Aufsatz La mort de l'auteur, der als ein Endpunkt in der methodischen Problematisierung des Autorbegriffs verstanden werden kann, postuliert weniger den T o d des Autors, sondern diskutiert die Hinfälligkeit des supplementären Autor-Interpretaments. Zu kritisieren wäre aus rezeptionstheoretischer Perspektive FOUCAULTS Akzentuierung des Rezeptionsvorgangs als .psychologisierende Projektion' (vgl. hierzu JANNIDIS: Der nützliche Autor. Möglichkeiten eines Begriffs zwischen Text und historischem Kontext, S. 356f.). 149 FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Oilatatio matenae. Zur Poetik des Em Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1-30. 150 Vgl. hierzu JOHANNES SPICKER: Singen und Sammeln. Autorschaft bei Oswald von Wolkenstein und H u g o von Montfort. In: Z f d A 126 (1997), S. 174-192; ALAN ROBERTSHAW: Der spätmittelalterliche Autor als Herausgeber seiner Werke: Oswald von Wolkenstein und H u g o von Montfort. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELISABETH A. ANDERSEN u. a., Tübingen 1998, S. 335-345. 151 KARL STACKMANN: Die Edition - Königsweg der Philologie? In: Methoden und Probleme der Edition mittelalterlicher Texte. Hrsg. von KURT GÄRTNER, Tübingen 1993 (Beihefte zu editio 4), S. 1-18, S. 11. CARMEN CARDELLE DE HARTMANN arbeitet für den lateinischen Bereich heraus, dass die Autoren eher als Bürgen des Inhalts ihrer Texte denn als deren Besitzer betrachtet wurden (C. C . d. H.: Funs uerborum alienorunr. Plagiat im Mittelalter. In: Text und Autor. Beiträge aus dem VenedigSymposium 1998 des Graduiertenkollegs .Textkritik' München. Hrsg. von CHRISTIANE HENKES/HARALD SALLER, Tübingen 2000 (Beihefte zu editio 15), S. 85-95).
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löge in den höfischen Romanen 152 oder die von der Forschung (rekonstruierten .Dichterfehden' 153 zuzurechnen. Die historische Rekonstruktion der „Bedeutung der Instanz des Autors für Funktionen der Textbegründung und Textautorisation" 154 ist eine legitime Fragestellung, auf die - wie eine Äußerung des Romanisten VOLKER ROLOFF zeigt - von Seiten der Mediävistik gelassen reagiert werden kann: „Die FOUCAULTSCHE Relativierung der Kategorie des Autors [...] verbindet sich mit dem Zweifel an der Kategorie des Textes und führt damit zu einer Problemstellung, die für Mediävisten viel weniger überraschend ist als für die Literaturhistoriker der Moderne." 155 Die Kritik an der Gültigkeit des Autor-Werk-Modells für den Bereich der mittelalterlichen Literatur aufgrund des Bedingungsgefüges mittelalterlicher Uberlieferung kann aber nicht einfach mit dem Hinweis auf die Artikulation von (bewusster) Autorschaft entkräftet werden. Die „Verfügbarkeit des Autornamens" 1 5 6 , die sich ζ. B. in den Literaturkatalogen der epischen Texte zeigt, steht für die Aufwertung volkssprachiger Autorschaft ein, der eine neue Autorität zugeschrieben wird. Die Signierung des Textes durch einen Autornamen garantiert jedoch keine Geschlossenheit der Uberlieferung. Der Autorna152 Vgl. SEBASTIAN COXON: The Presentation of Authorship in Medieval German Narrative Literature 1220 - 1290. (Oxford Modern Languages and Literatures Monographs) Oxford 2001. 153 Der Wahl des Begriffs der .Fehde' für bestimmte Formen literarischer Kommunikation z.B. zwischen Wolfram und Gottfried oder Reinmar und Walther in der Germanistik des 19. und 20. Jahrhunderts liegen emphatische Autorschaftskonzeptionen zugrunde. 154 PETER STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes. Okkasionelle Bemerkungen zur New Philology. In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. v. H E L M U T T E R V O O R E N / H O R S T W E N Z E L , S o n d e r h e f t d e r Z f d P h 116 (1997), S . 62-86,
S. 6 7 . 155 VOLKER ROLOFF: Intertextualität und Problematik des Autors (am Beispiel des Tristan von Beroul). In: Artusroman und Intertextualität. Hrsg. von F R I E D R I C H W O L F Z E T T E L , G i e ß e n 1 9 9 0 , S . 1 0 7 - 1 2 5 , S . 110.
156 JOACHIM BUMKE: Autor und Werk. Beobachtungen und Überlegungen zur höfischen Epik (ausgehend von der Donaueschinger Parzivalhandschrift G 9 ). In: Philologie als Textwissenschaft. Alte und neue Horizonte. Hrsg. von HELMUT TERVOOR E N / H O R S T WENZEL, S o n d e r h e f t der Z f d P h 116 (1997), S. 87-114, S. 97:
„Die
Verfügbarkeit des Autornamens bezeugt eine neue Bedeutung von volkssprachiger Autorschaft, die offenbar mit der Umorientierung der Literatur im 13. Jahrhunden zusammenhängt. Die Rückorientierung an den bewunderten Dichtern der Zeit um 1200 verlieh diesen eine Autorität, wie sie volkssprachige Dichtung vorher nie besessen hatte und wie sie in der deutschen Literatur erst wieder in der Opitz-Verehrung des 17. Jahrhunderts begegnet. Man dichtete Lieder im Namen von Reinmar und Neidhart, signierte lehrhafte Stücke mit den Namen des Stricker oder des Tannhäuser und verfaßte Epen unter Wolframs Namen. So entstand ein neuer Kanon, der das literarische Bewußtsein bis ins 15. Jahrhundert geprägt hat."
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me kann in der Überlieferung verschwinden; ein A u t o r k a n n in der Uberlieferung neu geschaffen werden. 157 So k ö n n e n auch bestimmte Autorbilder die weitere Rezeption eines Textes lenken. Reflexionen über den A u t o r u n d seine Funktionen, wie sie sich in den metapoetischen Passagen der höfischen Epik finden, zeigen das Bemühen an, F o r m e n elaborierterer Autorschaft hervorzubringen u n d bedürfen weiterer Analyse, will man die Genese des emphatischen Autorbegriffs skizzieren.
*
Die Frage nach dem A u t o r f ü h r t angesichts der mittelalterlichen Überlieferungsbedingungen unmittelbar zur Frage nach dem Schreiber v o n Handschriften. Eine Episode aus Wolframs von Eschenbach Par%ival vermag zu belegen, welche komplexen Zusammenhänge sich hinter dem Begriff des Schreibers verbergen. 158 Heutige Vorstellungen, die mit der Tätigkeit eines Schreibers Unselbständigkeit oder Unterwürfigkeit verbinden, werden den mittelalterlichen Verhältnissen nicht gerecht. D e r junge Held Parzival wird bei seinem ersten Besuch als Gast auf der Gralsburg Munsalvaesche Augenzeuge einer seltsamen Prozession. D e n großen Festsaal der Burg, in dem sich die Ritterschaft versammelt hat, betritt zunächst ein Knappe, der eine blutende Lanze trägt. Es folgen 24 Jungfrauen, die wertvolles Tischgerät u n d Kerzen mit sich führen. Schließlich erscheint die Königin Repanse de Schoye, die den Gral trägt u n d vor dem kranken König u n d seinem Gast absetzt. Die Mahlzeit beginnt, nachdem alle Speisen u n d Getränke durch den Gral bereitgestellt werden. N a c h d e m die Festgesellschaft zu Ende gegessen hat, wird das kostbare Geschirr von den Tischen entfernt. Diesen Vorgang überwachen vier scribaeren: 237,28
G
ieslichem gieng ein schribare nach. der sich dar zuo zeigte. vnd si wider vf bereite.
D
ieslichem gie ein scribaere nach,
der sich dar zuo arbeite, vnd es widr üf bereite.
157 Vgl. SUSANNE KÖBELE: Der Liedautor Frauenlob. Poetologische und überlieferungsgeschichtliche Überlegungen. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Hrsg. von ELIZABETH A. ANDERSEN U. a., Tübingen 1998, S. 277-298, S. 278. 158 Vgl. hierzu die Beiträge in dem Themenheft Der Schreiber άετ Zeitschrift Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 7 (2002), H. 2. Hrsg. von MARTIN J. SCHUBERT.
Autor - Redaktor - Schreiber so gedient ware. (G, fol. 19vb Z. 36-40)159
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so da gedienet waere. (D, S. 66)160
Die vier .Schreiber' scheinen zu überwachen, dass von dem kostbaren goldenen Geschirr während des Mahls auf der Gralsburg nichts verschwindet. 161 Sie sollen die Goldgefäße, die auf die Speisung durch den Gral als Existenzgrundlage der Gralgesellschaft verweisen, wieder einsammeln. 162 Während in der Handschrift D diese Tätigkeit als Anstrengung gekennzeichnet wird, müssen die Schreiber im Text der Handschrift G lediglich anwesend sein. U n t e r einem schriber versteht ERNST MARTIN, der diese Stelle kommentiert, einen Geistlichen, einen kapellän, „der Messe las, die Briefe der Ritter las u n d schrieb und die Rechnungen führte". 163 Weshalb die Beaufsichtigung und das Einsammeln des Tischgeräts als .mühselig' bezeichnet wird, liegt daran so MARTIN - , dass „einem Ritter [...] diese Tätigkeit zu kleinlich erschienen" wäre. 164 Spätere Kommentatoren dieser Textstelle wunderten sich über die Tätigkeiten dieser Schreiber auf der Gralsburg: „Daß das kostbare Geschirr kontrolliert wird, erstaunt angesichts des Reichtums auf der Gralburg." 165 Durch den Verweis auf die Existenz mittelalterlicher Verzeichnisse von Tafelgeschirr ist ein Ansatzpunkt zur Interpretation der Stelle gewonnen, von dem aus die poetische Rekontextualisierung des Motivs weiter bedacht werden kann. 166 Die Uberlieferungsvarianz an dieser Stelle vermag vielleicht einen Hinweis zu geben, dass das Abtragen von Geschirr - auch w e n n es sich dabei u m Goldgefäße in der Burg Munsalvasche handelt - nicht alle 159 Wolfram von Eschenbach: Parzival, Titurel, Tagelieder. Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Bd. 1: Faksimile. Bd. 2: Transkription der Texte von GERHARD AUGST/OTFRIED EHRISMANN/HEINZ ENGELS m i t e i n e m Beitrag z u r
Geschichte der Handschrift von FRIDOLIN DREßLER, Stuttgart 1970. 160 Wolfram von Eschenbach: Parzival (Handschrift D). Abbildung des Parzival-Teils von Codex St. Gallen 857 sowie des (heutigen) Berliner Fragments L (mgf 1021) der Kindheit Jesu Konrads von Fußesbrunnen aus dem St. Galler Codex. Hrsg. von BERND SCHIROK, Göppingen 1989 (Litterae 110). 161 So deutet JOACHIM BUMKE die Szene 0. B.: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter, 6. Auflage München 1992, S. 261). 162 ALEXANDRA STEIN: wort unde were. Studien zum narrativen Diskurs im Parzival Wolframs von Eschenbach, Frankfurt/Main 1993 (Mikrokosmos 31), S. 116. 163 Wolframs von Eschenbach Parzival und Titurel. Hrsg. und erklärt von ERNST MARTIN, Bd. II, Kommentar, 1903, Neudruck: 1976. 164 Ebd. Wobei zu bemerken ist, dass die Bedienung bei Tisch durch vier Ritter erfolgt {Parzival 237,26f.). 165 Wolfram von Eschenbach: Parsjval. Nach der Ausgabe KARL LACHMANNS revidiert u n d k o m m e n t i e r t v o n EBERHARD NELLMANN. Ü b e r t r a g e n v o n DIETER KÜHN.
Frankfurt/Main 1994 (Bibliothek des Mittelalters 8.1 und 8.2). NELLMANN hält die Schreiber für Kanzleibeamte mit geistlicher Ausbildung. 166 Ebd. zu Par^vallV, 28. Vgl. BUMKE: Höfische Kultur, S. 261f.
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.Schreiber' (der Handschriften) für angemessen hielten. Umgekehrt könnte argumentiert werden, dass gerade stribaere in der Gralgesellschaft, in der mündliche wie schriftliche Sprachhandlungen eine besondere Rolle spielen, einen speziellen Status innehaben, der sich in der Kontrolle des Goldgeschirrs manifestiert. Mithin wäre es völlig verfehlt, mit dem mittelhochdeutschen Begriff scribaere unselbständige und untergeordnete Tätigkeiten zu fassen. 17 Aufschlussreich in diesem Zusammenhang ist auch die bildliche Darstellung des Minnesängers Rudolf der Schreiber, der in einer Miniatur der Heidelberger Liederhandschrift C als Kanzleileiter dargestellt ist.168 Andererseits muss auf das Faktum verwiesen werden, dass das Wissen über die Schreiber der deutschsprachigen Handschriften des 12. und 13. Jahrhunderts sehr begrenzt und in der Hauptsache über den kodikologischen Befund zu eruieren ist. Aufgrund gewisser Ähnlichkeiten im Schreibstil wird vermutet, dass die Schreiber dieser Zeit - meist in Auftrag von Fürstenhöfen - in städtischen Kanzleien gearbeitet haben. In diesen Zusammenhang gehört auch der in dem Literaturexkurs des Wilhelm von Orlens Rudolfs von Ems erwähnte Meister Hesse, den man sich als Leiter der städtischen Kanzlei in Straßburg vorstellt. Damit wird die Vermutung gestärkt, dass die volkssprachige weltliche Epik nicht allein im klösterlichen Bereich abgeschrieben und vervielfältigt wurde.169 Allerdings wird es um die Mitte des 13. Jahrhunderts nur wenige profane Institutionen gegeben haben, in denen Codices wie der Cgm 19 oder der Cgm 51 entworfen und hergestellt wurden. Schwierig zu beantworten ist die Frage, wie die Arbeitsteilung zwischen Autoren, Redaktoren und Schreibern theoretisch und praktisch ausgesehen hat und zu beschreiben ist. J O A C H I M B U M K E betont, „daß die Schreiber [der deutschen Epenhandschriften] nicht nur Ko167 In Chretiens Perceval finden die 'Schreiber' keine Erwähnung (vgl. Chretien de Troyes: Le R o m a n de Perceval ou Le Conte du Graal. Altfranzösisch/Deutsch. U bersetzt u. hrsg. von FELICITAS OLEFF-KRAFFT, Stuttgart 1991). 168 Auf der Abbildung diktiert Rudolf anderen Schreibern und verteilt Briefe an Boten. Vgl. FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Rudolf der Schreiber. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von KURT RUH u. a. Bd. 8. Berlin, N e w Y o r k 1992, Sp. 374f. 169 U b e r die Rolle, welche die germanistische Textkritik Meister Hesse in Bezug auf die Uberlieferung von Werken Gottfrieds von Straßburg und Wolframs von Eschenbach zugeschrieben hat, vgl. das Kapitel 4.5.1 der vorliegenden Untersuchung. Vgl. auch MARTIN BAISCH: La vam din getichte/1Van hat es nu nihte! Zur Konzeption der Autorschaft in Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens. In: Text und Autor. Beiträge aus dem Venedig-Symposium 1998 des Graduiertenkollegs .Textkritik' München. Hrsg. von CHRISTIANE HEMKES/HARALD SALLER, Tübingen 2000 (Beihefte zu editio 15), S. 53-70.
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pisten, sondern auch Redaktoren und sogar Autoren gewesen sein konnten." 170 Die Darstellung und Bewertung der Tätigkeiten von Redaktoren und Schreibern bei der Herstellung von volkssprachlichen Handschriften im Mittelalter ist in der traditionell orientierten Textkritik zwischen den Polen fahrlässiger Willkür gegenüber dem vorgegebenen Text und dessen intentionaler Gestaltung angesiedelt. Oft stehen diese beiden Positionen unverbunden nebeneinander: Die Einsicht, dass in Texten einer Handschrift spezifische literarische Gestaltungsabsichten zu greifen wären, wird von der Feststellung abgelöst, dass die Schreiber den Autortext trivialisierten. Textgeschichte wird auf die Verschlechterung des Autor- bzw. Vorlagentextes reduziert. Gegen eine verunglimpfende Sichtweise wie gegen eine emphatische Feier des mittelalterlichen Redaktors oder Schreibers wendet sich JAN-DIRK MÜLLER: So wenig der mittelalterlichen Kopierpraxis die Vorstellung vom teils schwachsinnigen, teils faulen, teils sorglosen Schreiber gerecht wird, dessen unseliges Wirken mittels reinigender Textkritik zu eliminieren ist, so wenig stimmt die Vorstellung von einer unabläßig kreativen Variantenproduktion, von denen eine so gut wie die andere ist.
Dem mittelalterlichen Traditor, „für den das Weiterbilden ja selber ebenso als Erhalten gemeint ist, wie das Erhalten an das Weiterbilden geknüpft sein kann",172 ist kaum mit dichotomischen, das Kriterium 170 BUMKE: D i e vier Fassungen der NMungenklaee,
S. 77.
171 JAN-DIRK MÜLLER: Aufführung A u t o r - W e r k , S. 165. Eine relativierende Position vertritt schon WERNER HÖVER: „Wir wissen wenig von der Mentalität der mittelalterlichen Schreiber und können nur annehmen, daß für volkssprachliche T e x t e andere Uberlieferungsbedingungen gelten als ζ. B . für lateinische. [...] D i e deutschen Handschriften zeigen i m m e r wieder, daß ihre Schreiber recht freizügig mit ihren Vorlagen umgingen. In der Altgermanistik mehren sich aber die S t i m m e n , die davor warnen, die Schreiber grundsätzlich als Verfälscher hinzustellen, man findet i m m e r häufiger den Begriff des .denkenden' oder .intelligenten' Schreibers, der bemüht ist, einen sinnvollen T e x t weiterzugeben" (W. H . : Z u m Stand der Methodenreflexion i m Bereich der Altgermanistischen Editionen, S. 139). Vgl. auch JOHN A . ASHER: Der übele Gerhart. Einige Bemerkungen zu den von Gabriel Sattler geschriebenen Handschriften. In: Festschrift für HEINZ EGGERS zum 65. Geburtstag. Hrsg. von HERBERT BACKES. In: P B B 9 4 (1972), S. 416-427. RUDOLF A . HOFMEISTER: In Defense of Medieval Scribes. In: Colloquia Germanica 7 (1973), S. 289-300. PAUL GERHARD SCHMIDT: P r o b l e m e der Schreiber - D e r Schreiber als P r o b l e m . Stuttgart 1994 (Sitzungeberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J o h a n n Wolfgang G o e t h e Universität F r a n k f u r t / M a i n Bd. X X X I , N r . 5). Ressentiments gegenüber der Tätigkeit mittelalterlicher Schreiber finden sich in vielen die T e x t k r i t i k behandelnden Beiträgen WERNER SCHRÖDERS (W. S.: Critica Selecta. Zu neuen Ausgaben mittelhochdeutscher und frühneuhochdeutscher T e x t e . Hrsg. von WOLFGANG MAAZ/FRITZ WAGNER, Hildesheim 1999 (Spolia Berolinensia Bd. 14)). 172 KARL-HEINZ GÖTTERT: Die Spiegelung der Lesererwartung in den Varianten mittelalterlicher T e x t e (am Beispiel des Reinhart Fuchs). In: D V j s 48 (1974), S. 93-121, S. 102.
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der Originalität in den Vordergrund spielenden Konzeptionen beizukommen. Von zu großem Rekonstruktionsoptimismus ist eine Forderung geprägt, die jede Textvariante eines Uberlieferungsprozesses in einem Bearbeitungskonzept verankern will. Dennoch erfährt „der den Text hinsichtlich Struktur und poetischer Faktur beherrschende und produktiv mit- und weitergestaltende Redaktor"173 in der editionsphilologischen Diskussion der Fassungen im Bereich des höfischen Romans zu Recht eine deutliche Aufwertung. Die Intention des Redaktors einer Fassung, die in einem über die dargestellten Kürzungstechniken vermittelten thematischen Konzept zu suchen wäre, avanciert zur Kategorie der Interpretation. Im Falle der Kurzfassungen bedient sich der Redaktor bei seinem „knappe (n), kommentar- und reflexionsarm auf den Handlungsgang konzentrierte (n) Typus des Erzählens"174 einer „Poetik der Abbreviatio und der Brevitas"175, um seine Gestaltungsabsichten dem Text einzuprägen.176 Auch als Sonderfall innerhalb volkssprachlicher Uberlieferungsverhältnisse im Mittelalter vermag die Donaueschinger ParqvalHandschrift aus dem 14. Jahrhundert als interessantes Analyseobjekt zu dienen und für die Geschichtlichkeit von Autorschaftskonzepten zu zeugen.177 Bei der Beschäftigung mit dieser Handschrift, die in einer ungewöhnlichen Textzusammenstellung z.B. neben einer redigierten Fassung von Wolframs Pargval auch den Nüwen Parsifal von Claus Wisse und Philipp Colin überliefert, kann von der Beobachtung ausgegangen werden, „daß der Begriff der Autorschaft im Mittelalter aufs engste mit der Überlieferung der Texte verknüpft war".178 173 HENKEL: Kurzfassungen höfischer Erzähldichtung im 13./14. J a h r h u n d e r t , S. 50. 174 STROHSCHNEIDER: Höfische R o m a n e in Kurzfassungen, S. 436. 175 E b d . S. 437. 176 Ein eigenes Untersuchungsfeld, das in Bezug auf die mittelalterliche Literatur n o c h k a u m erschlossen ist, stellt die Frage nach der E n t s t e h u n g v o n literarischen T e x t e n i n n e r h a l b v o n Werkstätten dar (vgl. hierzu BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 593f.; MÜLLER: Spielregeln f ü r den Untergang, S. 69f.). 177 Die mittelniederländische Lancelot-Handschrift 129 A 10, in den ersten J a h r z e h n t e n des 14. J a h r h u n d e r t s entstanden, verbindet mit der Donaueschinger Parvjval·Handschrift signifikante Parallelen in K o n z e p t i o n u n d A u f b a u : „Die Haager Lancelothandschrift enthält die U b e r s e t z u n g des letzten Drittels des ersten und die beiden folgenden Teile der Trilogie [des Roman de Lancelot en prose]. Was diese H a n d s c h r i f t aber so einziganig m a c h t , ist die Tatsache, daß zwischen Teil I u n d II zwei, u n d zwischen Teil II u n d III nicht weniger als fünf R o m a n e eingeschoben sind, Bearbeitungen v o n ursprünglich selbständigen mittelniederländischen A r t u s r o m a n e n . Es w u r d e danach gestrebt, eine durchgehende Erzählung zustande zu bringen" (WILLEM PlETER GERRITSEN: Textgenese, Textbearbeitung z u m m ü n d l i c h e n V o r t r a g u n d Wiedergabe in einer E d i t i o n . Überlegungen z u r mittelniederländischen Lancelot-Handschrift D e n Haag, K.B. 129 A 10. In: editio 13 (1999), S. 53-65, S. 53). 178 BUMKE: A u t o r u n d W e r k , S. 87.
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W e r v o m Autor spricht, darf v o m W e r k und seiner Überlieferung im Falle der mittelalterlichen Literatur nicht schweigen. D e r Donaueschinger Codex enthält Texte von sieben oder acht Autoren, denen JOACHIM BUMKE
eine je unterschiedlich
ausgeprägte
Autorschaft
zuspricht. 179 Zu Recht wird hier vom emphatischen Begriff des Autors Abschied genommen. Zur weiteren Deskription und Analyse mittelalterlicher Autorschaft könnte sich der Rückgriff auf die Autordiskussion in den theologischen Auseinandersetzungen vor allem des 13. Jahrhunderts als hilfreich erweisen. Die mittelalterliche Theoriebildung hinsichtlich des Autors im Bereich der wissenschaftlichen, d. h. theologischen Diskussion, sieht diesen nicht als creator ex nihilo. Vielmehr nimmt der Autor „an einer Rede teil, die lange vor ihm in Gang gekommen ist, und setzt darin nur seine eigenen Akzente, ind e m er m e h r oder weniger .Eigenes' hinzufügt." 1 8 0 ALASTABR. J . MLNNIS hat diejenigen Begriffe herausgearbeitet, mit denen unter-
schiedliche Autorfunktionen in der lateinischen Theorie beschrieben werden: In the thirteenth century, a series of terms came to be employed in theological commentaries which indicates a wish to define more precisely the literary activity characteristic of an auctor. The literary role of the auctor, considered in its widest sense, was distinguished from the respective roles of the scribe {scriptof), compiler (compilator) and commentator {commentator). St. Bonaventure discussed this series of terms at the end of elaborate 'Aristotelian prologue' to his commentary on Peter Lombard's Libri sententiarum (written 1250-2). Is it correct to call the Lombard an auctor} Bonaventure decides that this work possesses sufficient auctoritas by virtue of the quality of its materials. But the accuracy of the term auctor is also considered from a more literary point of view. There are four ways of making a book, and only one is appropriate to the auctor. [...] The auctor contributes most, the scriptor contributes nothing, of his own. The scribe is subject to materials composed by other men which he should copy as carefully as possible, nihil mutando. The compilator adds together or arranges the statements of other men, adding no
179 Ebd. S. 91: In der Donaueschinger Handschrift „finden sich Texte von sieben oder acht Autoren: Wolfram und Chretien, Pseudo-Wauchier de Denain ( = Zweite Fortsetzung), Manessier ( = Dritte Fonsetzung), der Verfasser der Elucidation, sowie Wisse, Colin und Samson Pine, den man als Mit-Autor werten kann." Doch gilt es in Bezug auf mittelalterliche Literatur, über die positivistische Bestimmung unter Umständen mehrerer Autoren eines Textes hinauszugehen und danach zu fragen, welche poetischen Funktionen die Verdopplung oder Vervielfachung von Autorschaft in einem Text übernimmt. Der Codex enthält mit seiner Minnesang-Sammlung darüber hinaus auch Texte einer anderen Gattung. 180 JAN-DIRK MÜLLER: Auctor - Actor - Author. Einige Anmerkungen zum Verständnis vom Autor in lateinischen Schriften des frühen und hohen Mittelalters. In: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. Hrsg. von FELIX P. INGOLD/WERNER WUNDERUCH, St. Gallen 1995, S. 17-31, S. 25.
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Kritik der Textkritik o p i n i o n of his o w n (addendo, sed non de suo). T h e commentator strives t o explain the views of others, adding something of his o w n b y w a y of explanation. Finally and m o s t i m p o r t a n t l y , the auctor writes de suo but draws o n the statements of other m e n to support his o w n views. 1 8 1
Autorschaft ist hier einerseits gradualistisch als Teilhabe an letztlich göttlicher auctoritas gefasst.182 Andererseits werden die konkreten literarischen Arbeitsschritte im Umgang mit (überliefertem) Text zur Bestimmung von Autorschaft herangezogen. Die definitorische Differenziertheit in der Unterscheidung zwischen Schreiber, Kompilator, Kommentator und Autor, wie sie sich in Bonaventuras Vorrede zu dem Kommentar In primum librum Sententiarum findet, kann für die volkssprachliche Literatur nicht angesetzt werden. Doch bringt BUMKE seinen Begriff der .eingeschränkten Autorschaft' mit jenem des Kompilators zusammen: [...] ,Ein compilator ist derjenige, der das, was andere gesagt haben, mit eigenen Worten mischt'. So haben auch die höfischen E p i k e r ihre Tätigkeit verstanden: sie sind (angeblich) wörtlich ihren Vorlagen gefolgt und haben d o c h bei der Gestaltung des V o r g e f u n d e n e n ihre ganze Kunstfertigkeit angewandt. I m 12./13. J a h r h u n d e r t w u r d e compilatio zu einem Zentralbegriff der Literaturtheorie. 1 3
181 ALAST AIR J. MlNNIS: Medieval Theory of Authorship. Scholastic literary attitudes in the later Middle Ages. Second edition, Philadelphia 1989, S. 94f. Vgl. auch ELIZABETH J . BRYAN: Collaborative Meaning in Medieval Scribal Culture. The Otho Lazamon, Ann Arbor 1999 (Editorial Theory and Literary Criticism), S. 19f. Bei Bonaventura heisst es: "Quadruplex est modus faciendi librum. Aliquis enim scribit aliena, nihil addendo uel mutando; et iste mere dicitur scriptor. Aliquis scribit aliena, addendo, sed non de suo; et iste compilator dicitur. Aliquis scribit et aliena et sua, sed aliena tamquam principalia, et sua annexa ad evidentiam: et iste dicitur commentator, non auctor. Aliquis scribit et sua et aliena, sed sua tamen principaliter, aliena tamquam annexa ad confirmationem; et talis debet dici auctor." In: Opera ominia. Hrsg. von PATRES COLLEGII SANGT! BONAVENTURAE, 1882-1902, Bd. 1, proemii quaestionis 4 conclusio, 14. 182 Vgl. MlNNIS: Medieval Theory of Authorship, S. 95: "By inspiration, the omnipotent gives understanding to the human auctor. all wisdom comes ultimately from God." Vgl. auch JEAN STAROBINSKI: Der Autor und die Autorität. In: Der Autor im Dialog. Beiträge zu Autorität und Autorschaft. Hrsg. von FELIX P. INGOLD/WERNER WUNDERLICH, St. Gallen 1995, S. 11-14. Den Prozess hin zur Autonomie schöpferischer Kreativität zeichnet THOMAS CRAMER nach (T. C.: Solus creator est deus. Der Autor auf dem Weg zum Schöpfertum. In: Daphnis 15 (1986), S. 261-276). 183 BUMKE: Autor und Werk, S. 110. Vgl. auch ALASTAIR J. MlNNIS: Late-Medieval Discussions of Compilatio and the Role of the Compilator. In: PBB 101 (1979), S. 385-421; BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 77f.; ALMUT SUERBAUM: Accessus ad auctores: Autorkonzeptionen in mittelalterlichen Kommentartexten. In: Autor und Autorschaft im Mittelalter. Kolloquium Meißen 1995. Hrsg. von ELIZABETH A. ANDERSEN U. a., Tübingen 1998, S. 29-37.
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W e n n FRANZ-JOSEF WORSTBROCK die v o l k s s p r a c h l i c h e n A u t o r e n u m 1200 als Wiedererzähler bezeichnet, ergibt sich eine N ä h e z u m B e g r i f f des K o m p i l a t o r s , der ja V o r g e f u n d e n e s neu gestaltet: Die Konzeption des Autors mittelalterlicher Erzählwerke als eines Wiedererzählers erlaubt eine genauere Befragung des Autorbegriffs selbst. Der Wiedererzähler erzählt, was der Materia nach nicht sein ist, ihm vorausliegt, der Tradition angehört. Sein Eigentum ist das Artifiaum, die jeweilige Form. Autor im Sinne eines Urhebers seines Textes kann er daher nicht heißen und will es auch nicht. 184 WORSTBROCK konstatiert z u d e m z w i s c h e n d e m S c h a f f e n der E r z ä h ler u m 1200 u n d den mittellateinischen P o e t i k e n signifikante A n a l o gien. Galfrids Poetiken sind nicht allein im wesentlichen der erzählenden Gattung zugedacht, sie sind förmliche Poetiken des Wiedererzählens. Die Kunst des Dichters wird ausschließlich als Arbeit an einer gegebenen Materie betrachtet. [...] Die .Poetria nova' ist in ihrem Aufbau unverkennbar an der Reihe der fünf Officia oratoris der klassischen Rhetorik orientiert, doch läßt sie bezeichnenderweise das erste Officium, die Inventio, beiseite; Findung des Stoffes ist für sie kein Thema der Erörterung, da er als gegeben betrachtet wird. Am Anfang des von Galfrid v. 43-76 gezeichneten Schaffensvorgangs steht die mentale Konzeption des Werks als Form, als archetypus\ ihr folgen die praktischen Schritte der Ausführung, für die jeweils die bekannten alternativen Verfahren zur Wahl stehen: Ordo naturalis und Ordo artificialis, Dilatatio materiae und Abbreviatio, Ornatus difficilis und Ornatus facilis. 185 W a s theoretischer D i s k u r s als g e m e i n s a m e A n s i c h t e n um k o n s t i t u i e r e n den T e x t BROCK als „ U n i v e r s a l e der
u n d das .praktische' erzählerische S c h a f f e n teilen - die tradierte materia u n d das artifiädes Wiedererzählers - , betrachtet WORSTE p o c h e " 1 8 6 . D o c h ü b e r g e h t WORSTBROCK
184 FRANZ-JOSEF WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und Frühe Neuzeit. Ubergänge, U m b r ü c h e und Neuansätze. Hrsg. von WALTER HAUG, Tübingen 1999 (Fortuna vitrea 16), S. 128-142, S. 139. Vgl. ebd. S. 139: „Der Wiedererzähler ist nach alledem im mittelalterlichen Verständnis kein Autor, sondern der Artifex. Auch das mhd. Wort ,tihtore' meint, soweit ich sein V o r k o m m e n im Bereich der Epik überschaue, nicht den Auetor, sondern den - bei den Reimen angefangen kunstreichen Formgeber." Vgl. hierzu auch die Überlegungen bei JOACHIM BUMKE: Retextualisierungen in der mittelalterlichen Literatur, besonders in der höfischen Epik. In: ZfdPh 124 (2005), Sonderheft: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von JOACHIM BUMKE/URSULA PETERS, S. 6-46, bes. S. 10-13 und LUDGER LIEB: Die Potenz des Stoffes. Eine kleine Metaphysik des .Wiedererzählens'. In: ebd., S. 356-379. 185 Ebd. S. 137. 186 Ebd. S. 138. Vgl. ebd. S. 138: „Sie (jene Universale der Epoche) wird in der Poetik für das Feld des Artificium zu einem rhetorisch instrumentierten operationalen System entwickelt, welches Verfahrensmöglichkeiten der Disposition, der Erweiterung und K ü r z u n g und der Formulierung angibt."
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Kritik der Textkritik
auch nicht das Problem, dass der „Begriff der Materia einer festen Kontur" 1 8 7 entbehrt. Entsprechend erfinden die Dichter der R o m a n e , die den TristanStoff behandeln, diese Geschichten nicht, sondern finden und .lesen' sie, wie Gottfried v o n Straßburg es ausdrückt; und ihr Verdienst ist es, dass sie ,richtig lesen': leb wei% wol, ir ist vilgewesen,/ die von Tristande hant gelesen·,/ und ist ir doch niht vil gewesen,/ die von im rehte haben gelesen (V. 131-134). [...] sin sprachen in der rihte niht,/ als Thomas von Britanje gibt,/ der aventiure meister was. (V. 149-151) 188 Gottfrieds Lektüre prüft das Uberlieferte und zielt auch auf Umakzentuierungen des Stoffes, w o sie vorgibt, T h o m a s d'Angleterre zu folgen. 1 8 9 Teilhabe an der Geltung der Tradition stellt sich neben die Transformation vorgegebener Texte: T o be sure, r o m a n c e authors are forever referring t o their sources, usually written u n d m o s t often in Latin, as a w a y of substantiating their o w n poetic authority. But it w o u l d be a mistake, because of this rhetorical selfjustification, t o place into question or to efface the author's o w n originality or virtuosity. Because this gesture refers backward only in order t o sacrifice past tradition t o present innovation, it is antinostalgic in the m o s t resounding sense. 1 9 0
D e r volkssprachige A u t o r als zweite causa efficiens vermag ein Spiel mit seiner Verantwortlichkeit für das von ihm Geschriebene zu treiben. Wolframs v o n Eschenbach polemische Ablehnung der Buchgelehrsamkeit - sowohl in der sogenannten .Selbstverteidigung' des Par^ival 187 Ebd. S. 138. 188 Dass mittelalterliche Literatur als Auftragskunst auch ganz konkret an bestimmte Stoffe, Vorlagen oder Handschriften gebunden ist, muss nicht eigens erwähnt werden. Für eine Darstellung mittelalterlicher Textgenese vgl. MARY CARRUTHERS: The Book of Memory. Α Study of Memory in Medieval Culture. Cambridge 1990, S. 191: "Composition starts in memorized reading. The commonest way for a medieval author to depict himself is as reader of an old book or a listener to an old story, which he is recalling by retelling. At this point it might be well to consider the commonplace of the reader/author as a bee." RÜDIGER KROHN weist darauf hin, dass mhd. finden auch die Semantik von .dichten' aufweisen kann: „Die Frage aber, ob es sich dabei um die bloße v4»/findung vorhandenen Materials oder um die freie, originale Erfindung handelt, erfährt durch die überlieferten Textbeispiele keine ganz eindeutige Klärung." (R. K.: Zwischen Finden und Erfinden. Mittelalterliche Autoren und ihr Stoff. In: Fragen nach dem Autor: Positionen und Perspektiven. Hrsg. von FELIX P. INGOLD/WERNER WUNDERLICH, Konstanz 1992, S. 43-59, S. 52.) 189 Vgl. URBAN KÜSTERS: Späne, Kreuze, Initialen. Schriftzeichen als Beglaubigungsmittel in mittelalterlichen Tristan-Dichtungen. In: Literatur im Informationszeitalter. Hrsg. von DIRK MATEJOVSKL/FRIEDRICH KLTTLER, Frankfurt/Main, New York 1996, S. 71-101, S. 96. 190 DAVID F. HULT: Author/Narrator/Speaker. The Voice of Authority in Chrestiens Chamtte. In: Discourses of Authority in Medieval and Renaissance Literature. Hrsg. von KEVIN BROWNLEE/WALTER STEPHENS, Dartmouth 1989, S. 76-96, S. 82.
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als auch im Prolog zum Willehalm - wie die Inszenierung der (fiktiven) Quellenberufungen im Gralroman belegen virtuos einen vielschichtigen Umgang mit auctontas, der wiederum durch den Blick in die lateinische Diskussion erhellt werden kann. Dort nämlich wird die „literary and moral [...] responsibility for an act or a piece or writing" zum Kriterium, das einen auctorvon einem compilator trennt.191 Für FRANZ-JOSEF WORSTBROCK markiert ein metapoetisches Zeugnis, das Rudolf von Ems in dem Literaturkatalog seines Alexanisfer-Romans gibt, einen Einschnitt im volkssprachlichen Erzählen in Deutschland. Innerhalb einer literarischen Polemik gegenüber seinem Konkurrenten Biterolf schreibt Rudolf von Ems der eigenen Autorschaft offen und unverstellt ein größeres Maß an auctontas zu: Er bezeichnet sich als urhap dirre maere, als Urheber dieser Alexandererzählung, der er als der Kompilator der neuen Stoffkonstellation in der Tat ist. Die ganze wärheit der Alexandergeschichte beginnt erst, so Rudolfs Anspruch, mit der neuen, von ihm selber verantworteten Kompilation. Der Kompilator erhält, indem er nach eigenem Wissen und Urteil eine neue Grundlage der Materia schafft und damit einen Teil des Materia-Parts übernimmt, eine auctornähere Qualität, die Qualität einer vorgeordneten Wahrheitsinstanz für die gesamte wiedererzählte Alexandergeschichte. Hier zeigt sich eine beachtliche Erweiterung der Verfasserkompetenz über den Artifex hinaus, eine Erweiterung, die eine Generation nach Rudolf in Konrads Trojanerkrieg weit umfassender noch und dichter zur Verschränkung von Kompilator und Artifex treibt. 192
Zugleich findet sich in Rudolfs erster Autorenrevue auch eine kritische Passage, in der er seinen dichtenden Zeitgenossen einen Niveauverlust gegenüber der Romankunst der Vätergeneration vorwirft. Zwar wurde noch nie so viel geschrieben, doch die Meisterschaft der Alten werde damit nicht erreicht {/Alexander V. 3091-3100).193 Ungeachtet aber dieser Stellungnahme beansprucht Rudolf für sich, dass mit seinem Werk die volkssprachige Alexander-O'ichxun^ ihren eigentlichen Ursprung genommen hat. Rudolf strebt also für diese Textgattung eine ähnliche Gründerrolle an, wie sie in den Literaturkatalogen für den höfischen Roman Heinrich von Veldeke überantwortet wird.194 191 MlNNIS: Medieval T h e o r y of Authorship, S. 101. 192 WORSTBROCK: Wiedererzählen und Übersetzen, S. 142. 193 Anders versteht diese Stelle XENJA VON ERTZDORFF: Rudolf von Ems. Untersuchungen zum höfischen Roman im 13. Jahrhundert, München 1967, S. 35. Vgl. dazu aber die Rezension v o n WERNER SCHRÖDER, in: A f d A 80 (1969), S. 25-41, S. 27. 194 Vgl. auch SILVIA SCHMITZ: Die .Autorität' des mittelalterlichen A u t o r s im Spannungsfeld v o n Literatur und Uberlieferung. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neuen Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997. Band 2. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN U. a., Bielefeld 1999, S. 465-483.
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Kritik der Textkritik
Die Übertragbarkeit der Autorschaftskonzeption der theologischen Diskussion auf die volkssprachliche Literatur, die keine explizite Theorie literarischen Schaffens - jenseits der antiken Rhetoriken herausgebildet hat, gilt es bei der Rekonstruktion mittelalterlicher volkssprachlicher Autorschaft kritisch im Blick zu halten. Selbstverständlich ist es nicht möglich, lateinische Theorie und Praxis in der Volksprache aufeinander abzubilden. Doch können die Bestimmungen der Kommentartradition einige Hinweise geben, mit denen vielleicht auch die Arbeitsweise der volkssprachigen Autoren erhellt werden könnte. Das heißt nicht, dass diese Autoren den gesetzten Rahmen [implizit] nicht auch überschreiten konnten. JOACHIM BUMKES Begriff der .eingeschränkten Autorschaft' zur Kennzeichnung mittelalterlicher Verhältnisse korrespondiert mit einer Bestimmung JAN-DIRK MÜLLERS, der den mittelalterlichen Autorbegriff als unterdeterminiert charakterisiert. 195 Konfrontiert man solche theoretischen Vorstöße, die auf die Frage nach der Konzeptionalisierung mittelalterlicher Autorschaft zielen, mit einer editionsphilologischen Perspektive, so stellen sich weitere Probleme: Daraus ergibt sich die Frage, ob die vornehmlich an neuerer Literatur entwickelte Trennung von Produktion und Rezeption, also die Unterscheidung zwischen Varianten und Lesarten eines Textes, für volksprachige Literatur des Mittelalters überhaupt angemessen ist. Wenn sich über die Produktion der Texte, etwa über den Anteil an Autorvarianten innerhalb der Uberlieferungsdivergenzen, nichts aussagen läßt, und darüber hinaus ohnehin jeder Schreiber potentieller Autor ist, sollte die Unterscheidung von autorisierten Varianten und überlieferungsbedingten Lesarten für die volksprachige mittelalterliche Literatur aufgegeben werden, um dem für diese geltenden, weiter zu fassenden Originalitätsbegriff editionstheoretisch gerecht zu werden. 1 9 6
Dieses Plädoyer für die Aufhebung der Differenz von Entstehungsund Uberlieferungsvarianten kann seine Schlüssigkeit je erst in der Uberprüfung am konkreten Material der Uberlieferung gewinnen. Vor dem Hintergrund der in diesem Kapitel behandelten Frage nach dem Autor sollte schließlich deutlich geworden sein, dass die Feststellung, „daß Hartmann von Aue einen Iwein verfaßt hat" 197 , die Krite195 MÜLLER: Aufführung - Autor - Werk, S. 158: „Der mittelalterliche Autorbegriff ist unterdeterminiert. Der Verfasser kann sein Produkt nur eine kurze Wegstrecke lang kontrollieren, dann ist er auf andere angewiesen (wie Schreiber, Illustratoren, Bearbeiter, Vortragende), deren Arbeit seinem Zugriff entzogen ist." 196 WOLFGANG ACHNITZ: Der Ritter mit dem Bock. Konrads von Stoffeln Gaunel von Muntabel. Tübingen 1997 (TuT 46), S. 112. In ähnliche Richtung argumentiert schon BUMKE: Autor und Werk, S. 113. 197 JENS HAUSTEIN: Rezension zu JOACHIM BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungmklagt. In: ZfdPh 118 (1999), H. 3, S. 442-445, S. 445.
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rien zu explizieren, und das heißt, interpretationsleitende Vorannahmen und Fragestellungen zu artikulieren hat, auf der sie fußt.
3. Textkritik als Funktionsgeschichte der Überlieferung mittelalterlicher Texte 3.1. Anekdotische Varianz? "Doing ethnography is like trying to read (in the sense of 'construct a reading of') a manuscript - foreign, faded, full of ellipses, incoherences, suspicious emendations, and tendentious commentaries, but written not in conventionalized graphs of sound but in transient examples of shaped behavior."1
In der Einleitung zu seinem Buch Wunderbare Besitztümer erläutert STEPHEN GREENBLATT, dass er seinen Text „um Anekdoten herum konstruiert], um petites histoires, wie die Franzosen sagen, im Unterschied zum grand redt einer totalisierenden, integrativen, progressiven Geschichtsschreibung, die weiß, wo sie hin will." 2 Die von GREENBLATT favorisierte anekdotische Präsentation des historischen Materials basiert auf der Ablehnung traditioneller Formen der Geschichtsschreibung. GREENBLATT versteht einen anekdotischen Zugang als Eintrittsmöglichkeit in das zu untersuchende historische Feld. Diese nichtlineare, sprunghafte und mehrdimensional angelegte Darstellungsform verweigert sich bewusst Darstellungsprinzipien wie Chronologie, Kausalität und Teleologie. GREENBLATTS Interesse an der Anekdote gründet sich in deren Auffassung als kontingent und repräsentativ: Wenn Anekdoten einerseits die Eigenart des Zufälligen aufzeichnen - und [...] eher mit dem Rand verbunden sind als mit dem unbeweglichen und lähmenden Zentrum - , so werden sie doch andererseits als npräsentative Α-
Ι
2
CLIFFORD GEERTZ: Thick Description - Towards an Interpretative Theory of Culture. In: DERS.: The Interpretation of Culture. Selected Essays, Princeton 1973, S. 3-30, S. 15. Vgl. zu Verbindungen zwischen ethnographischer Tätigkeit und editionsphilologischen Vorgehensweisen ULRIKE LANDFESTER: Editionsphilologie als Kulturwissenschaft? Zu einer neuen .homerischen Frage' in der Germanistik. In: Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung? DFG-Symposion 2003. Hrsg. von WALTER ERHART, Stuttgart, Weimar 2004 (Germanistische Symposien. Berichtsbände; Bd. XXVI), S. 482-501, S. 498f. STEPHEN GREENBLATT: Wunderbare Besitztümer. Die Erfindung des Fremden: Reisende und Entdecker, Berlin 1994, S. 10.
Anekdotische Varianz?
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n e k d o t e n erzählt; das heißt, m a n hält sie für wichtige Bestandteile einer umfassenderen E n t w i c k l u n g oder Struktur, die der eigentliche Gegenstand der Geschichtsschreibung wäre, z u der es aber w e g e n der nicht enden w o l l e n d e n Flut v o n weiteren A n e k d o t e n , die der Reisende zu erzählen w e i ß , niemals k o m m t . [...] A n e k d o t e n gehören also zu den wichtigsten Erzeugnissen der Repräsentationstechnologie einer Kultur, insofern sie z w i s c h e n der blinden A b f o l g e begrenzter Augenblicke u n d einer umfassenderen Strategie, die durch sie jedoch nur angedeutet wird, vermitteln. 3
Charakterisiert man mittelalterliche volkssprachliche Varianz als anekdotisch in dem hier vorgetragenen Sinne, so versteht man den Status volkssprachlicher Varianz innerhalb der mittelalterlichen Kultur als kontingent und repräsentativ. Das tradierte Textmaterial verweist - unter dieser Perspektive - auf das Oszillieren der überlieferten Sinnbildungen zwischen Kontingenz und Repräsentativität. Die Varianz der von mir untersuchten Texte und (in Funktionsäquivalenz) die Form der Anekdote als Repräsentationstechnik einer Kultur sind geprägt von diesem Mechanismus, der im New Historicism als spezifische Darstellungsform wieder aufgegriffen wird. Die Varianz in den Texten der Handschriftengruppe um den Cgm 19 ist also anekdotisch in dem Sinne, dass sie Aufschluss über historisch spezifische, sinnhaft aufgeladene und textkritisch schwer zu rekonstruierende Rezeptionsakte gewährt, die uns eine mehr oder minder ,dichte Beschreibung'4 eines situational gebundenen Moments der Texte vermittelt. Unsere Rekonstruktion der Sinnproduktion solcher Momente zeitigt Ergebnisse, denen die Merkmale Kontingenz und Repräsentativität zugeschrieben werden können.
3
Ebd. S. 11. Vgl. JOEL FlNEMAN: The History of the Anecdote. In: The N e w Historicim. Hrsg. von H . ARAM VEESER, Routledge 1989, S. 49-76, S. 61: "In formal terms, my thesis is the following: that the anecdote is the literary form that uniquely lets histoty happen by virtue of the way it introduces an opening into the teleological, and therefore timeless, narration of beginning, middle, and end. The anecdote produces the effect of the real, the occurence of contingency, by establishing an event as an event within and yet without the framing context of historical successivity, i.e., it does so only in so far as its narration both compromises and refracts the narration it reports." Vgl. auch STEPHEN GREENBLATT: Erich Auerbach und der New Historiasm. Bemerkungen zur Funktion der Anekdote in der Literaturgeschichtsschreibung. In: S. G.: Was ist Literaturgeschichte? Mit einem Kommentar von C. BELSEY, Frankf u r t / M a i n 2000, S. 73-100; BURKHARD SCHNEPEL: Anekdoten über Anekdoten. In: Performativität und Ereignis. Hrsg. von ERIKA FlSCHER-LlCHTE u. a., Tübingen, Basel 2003, S. 149-162.
4
Z u r Übernahme bzw. Vermittlung ethnologischer Modelle innerhalb literaturwissenschaftlicher Textinterpretationen vgl. u. a. MÜLLER: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes, S. 39-45.
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Textkritik als Funktionsgeschichte
3.2. Text als Handlung "The New Philology must, insofar as possible, recontextualize the texts as acts of communication, thereby acknowledging the extent to which linguistic structure is shaped by the pressure of discourse." 5
Wenn es stimmt, dass literarische Texte „in ihrer paradoxalen Struktur von Referenzlosigkeit einerseits und Vieldeutigkeit andererseits [...] Gegenstände der kulturellen Selbstwahrnehmung sind" 6 sind, dann haben sie auch Teil an dem von JAN ASSMANN beschriebenen Phänomen des kulturellen Gedächtnisses. 7 Aufgrund des [re]konstruktiven Charakters des kulturellen Gedächtnisses - seines permanenten Oszillierens zwischen Erinnern und Vergessen - ist es sinnvoll, die gesellschaftlichen Institutionen, in denen sich die Speicherung textuellen Wissens vollzieht, in die philologische Arbeit mit einzubeziehen. 8 Auch die textkritisch und überlieferungsgeschichtlich orientierte Literaturwissenschaft nimmt zur Kenntnis, dass ihre Editionen und Untersuchungen nicht nur historischem Wandel ausgesetzt sind, sondern dass sich auch deren Formen und Inhalte in Auseinandersetzung mit dem kulturellen Gedächtnis ändern: Zu den Aufgaben einer Muttersprachphilologie gehört die Sicherung der literarischen Uberlieferung. Das war immer so und muß auch so bleiben. Ein kulturelles Gedächtnis kann ohne verläßliche Uberlieferung nicht funktionieren. Es ist aber auch unbestritten, daß selbst sehr gute Editionen, die relativ zeitresistent sind, dennoch veralten. Deswegen können Neueditionen kanonischer Autoren notwendig werden - und zwar nicht nur, weil Editionsprinzipien sich ändern, sondern weil in Editionen sich das kulturelle Gedächtnis neu und präzise formiert. Editionen sind gute Indikatoren, in
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FLEISCHMANN: Philology, Linguistics, and the Discourse of the Medieval Text, S. 37. WILHELM VOßKAMP: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft. In: Interpretation 2000: Position und Kontroversen. Festschrift zum 65. Geburtstag von Η . Steinmetz. Hrsg. von HENK DE BERG/MATTHIAS PRANGEL, Heidelberg 1999, S. 183-199, S. 190. JAN ASSMANN: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen, München 1999 (zuerst 1992), bes. S. 48-66. WILHELM VOßKAMP: Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaft, S. 191: „Literaturwissenschaftliche Analysen sind ohne Berücksichtigung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen kultureller Uberlieferungen nicht befriedigend durchführbar. Die Speicherfunktion bildet dabei nur die eine Seite, Selektion (mittels Kanonices, Zensur, Institutionen und Organisationsformen) bilden die andere. Das Gedächtnis der Institutionen (vom Theater bis zur Universität) bewahrt (oder vergißt) kollektives Wissen in bestimmten textuellen Formen und Genres."
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welcher Weise sich die Gegenwart zu kanonischen und nicht-kanonischen Uberlieferungen positioniert. 9
Aber auch mittelalterliche Textzusammenstellungen - das ist Philologen mit historischer Forschungsperspektive nicht entgangen - sind als spezifische Sinnbildungspraktiken wahrzunehmen. In Hinblick auf die Interpretation von mittelalterlichen Uberlieferungsträgern, in denen sich besondere Textkombinationen finden, schlägt PETER STROHSCHNEIDER deshalb vor, die Texte in jene Uberlieferungszusammenhänge wieder einzupassen, und das hieße, i m einzelnen Fall Texte als sich gegenseitig erklärende Teile eines konkreten Überlieferungsgefüges zu interpretieren, eine bestimmte handschriftliche Textzusammenstellung als Realisation eines historisch spezifischen Textverständnisses sowie als selektive Aktualisierung der Sinndimensionen der Einzelwerke zu rekonstruieren. 10
Exakt dieses Verfahren hat VOLKER MERTENS in seinem Aufsatz über die Meusebachsche Handschrift in Berlin, die neben der TnstanHandschrift Ρ die Eilhart-Handschrift D überliefert, gewählt. Hier liegt uns ein Versuch vor, die literarischen Gestaltungsabsichten des Redaktors des Berliner Ms. Germ. fol. 640 zu rekonstruieren.11 Denn literaturhistorisch gesehen ist die Kombination dieser beiden Texte zu einer Erzählung des Tristan-Stoiies einzigartig und daher von einigem Klärungsbedarf. MERTENS nähert sich dem Codex über eine Lektüre und Analyse des ganzen in der Handschrift überlieferten Texts bzw. Werks.12 Er kommt zu dem Ergebnis, dass sowohl in Gottfrieds wie in Eilharts Text sprachlich-stilistisch wie konzeptionell eingegriffen wurde, damit der Bruch zwischen so unterschiedlichen Texten überspielt werden konnte.13 Die Anpassungsleistungen, 9 10 11
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HARTMUT BÖHME: Die Literaturwissenschaft zwischen Editionsphilologie und Kulturwissenschaft, S. 32f. PETER STROHSCHNEIDER: Gotfrit-Fortsetzungen. Tristans Ende im 13. Jahrhunden und die Möglichkeiten nachklassischer Epik. In: DVjs 65 (1991), S. 70-98, S. 74. VOLKER MERTENS: Wes mag dit^ men
schaden jenhen? Eilharts Tristan als F o r t s e t z u n g
von Gottfrieds Torso in der Meusebachschen Handschrift zu Berlin. In: Europäische Literaturen im Vergleich. Melanges en l'honneur de W. Spiewok a l'occasion de son 65eme anniversaire. Hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER, Greifswald 1994 (Wodan. Tagungsbände u. Sammelschriften 15), S. 280-295. Dieses Vorgehen gründet sich auf eine Auffassung von ,,mittelalterliche(r) Werkvorstellung, die allem Anschein nach auf die Erzählkontinuität ausgerichtet war und die Dimensionen von Kohärenz und Einheitlichkeit in Auffassung und Stil anscheinend als weniger wichtig einstufte" (ebd. S. 280). Vgl. hierzu auch MARTIN BAISCH: Was ist ein Werk? Mittelalterliche Perspektiven. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXIV,2 (2002), S. 105-125. Vgl. MERTENS: Wes mag dit* mere sp schaden jenhen ? Eilharts Tristan als F o r t s e t z u n g v o n
Gottfrieds Torso in der Meusebachschen Handschrift zu Berlin, S. 283.
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die in beiden Texten unterschiedliche Qualität besitzen, finden auf genuin literarischem Feld statt. Allenthalben geht es bei den Änderungen um Angleichungsbemühungen der in den beiden Texten unterschiedlichen ästhetischen Konzepte.14 Situationalität und Institutionalität des mittelalterlichen Textes sein Kommunikationskontext - lassen sich mit einem Ansatz adäquat beschreiben, der Text als Handlung begreift. Er vermag, kulturhistorisch orientierten Fragen nach der Genese, dem Status und der Funktion mittelalterlicher volkssprachlicher Varianz einen geeigneten Bezugsrahmen zu geben. Traditionelle Textkritik richtete auf solche Fragen - bei der Konstitution ihrer Texte - wenig Aufmerksamkeit. Sie fasste Uberlieferung lediglich als Verschlechterung eines ursprünglichen Textes auf und begriff Uberlieferung nicht als autonomes Objekt funktionaler Fragestellungen. Der von PETER STROHSCHNEIDER entwickelte Text-Begriff versucht, den mittelalterlichen Text im Rückgriff auf textlinguistische, kommunikations- und mediengeschichtliche Überlegungen aufgrund seiner situationalen Gebundenheit in der durch Vokalität15 bestimmten mittelalterlichen Kultur zu definieren.16 Mit dem Schlagwort vom
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Dieser Fragestellung ist JAN-DIRK MÜLLER in Bezug auf die im 15. Jahrhundert entstandene Brüsseler T/wton-Handschrift nachgegangen, in der neben Gottfrieds Fragment und dem Ende der Fortsetzung Ulrichs von Türheim noch der .Episodentext' Tristan als Mönch überliefert ist. MÜLLER fragt, „wie sich die Episode als Teil des Tristan-Romans insgesamt verstehen läßt, so wie ihn die Handschrift aufzeichnet." Wie notwendig auch der Blick auf den Illustrationszyklus der Brüsseler Handschrift ist, insofern das Sinnpotenzial der Texte der Handschrift durch die Bilder selektiv aktualisiert wird, fuhrt LIESELOTTE E. SAURMA-JELTSCH vor, die freilich die Zusammenstellung der in der Handschrift tradierten Texte ignoriert (J.-D. M.: Vergiftete Erinnerung. Zu Tristan als Mönch. In: Homo Medietas. Aufsätze zur Religiosität, Literatur und Denkformen des Menschen vom Mittelalter bis in die Neuzeit. Festschrift Α. M. Haas zum 65. Geburtstag. Hrsg. von CLAUDIA BRINKER-VON DER HEYDE/NKLAS LARGIER, Bern 1999, S. 455-470, S. 456; L. E. S.-J.: Der Brüsseler Tristan: Ein mittelalterliches Haus- und Sachbuch. In: Tristan und Isolt im Spätmittelalter. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 3. bis 8. Juni 1996 an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Hrsg. von XENJA VON ERTZDORFF unter redaktioneller Mitarbeit von RUDOLF SCHULZ, Amsterdam, Atlanta, GA 1999 (Chloe 29), S. 247-301). Vgl. URSULA SCHÄFER: Zum Problem der Mündlichkeit. In: Modernes Mittelalter. Neue Bilder einer populären Epoche. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Frankfurt/Main 1994, S. 357-375. STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes; PETER STROHSCHNEIDER: Textualität der mittelalterlichen Literatur. Eine Problemskizze am Beispiel des Wartburgkrieges. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER/HORST WENZEL, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 19-41; vgl. auch CLEMENS KNOBLOCH: Zum Status und zur Geschichte des Textbegriffs. Eine Skizze. In: LiLi 77 (1990), S. 66-87, bes. S. 82f.
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.Text als Handlung' 17 zielt dieser Versuch auf die Historisierung gerade auch der textkritischen Begrifflichkeit und ist als provokativer Einwand gegen eine weiterhin rekonstruierend verfahrende Textkritik gemeint. Diese hält ja die Hierarchisierung der handschriftlichen Manifestationen eines Textes nach wie vor für möglich. 18 S T R O H S C H N E I D E R S Textbegriff fasst ,Text' als eine „sprachlich verfaßte kommunikative Handlung". 19 Mit Bezug auf Arbeiten K O N R A D E H L I C H S 2 0 wird Text als .wiederaufgenommene Mitteilung' verstanden. Der Text-Begriff ist damit von seiner Bindung an die Kategorie der Schrift gelöst, „denn vor - und neben - den skripturalen gibt es mündliche Überlieferungsformen". 21 S T R O H S C H N E I D E R betont die Differenz zwischen diesem Textbegriff und weiteren Formen sprachlicher Handlungen: „Von jederart sprachlich verfaßter und stets situationaler kommunikativer Handlung unterscheidet sich der Text dadurch, daß er eine relativ situationsabstrakte, freilich stets allein wieder situational aktualisierbare Form der Rede ist." 22 Text entsteht in dem Moment, in dem er von einer unmittelbaren Sprechsituation abgelöst wird und sich in zwei bis virtuell unendlich viele einzelne Situationen entfalten kann. „Texte sind demnach durch ihre .sprechsituationsüberdauernde Stabilität gekennzeichnet', .die Uberlieferungsqualität einer sprachlichen Handlung' ist das Kriterium für die Kategorie .Text'." 23 Anders ausgedrückt: „Texte sind Sprechakte im 17
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Vgl. KARLHEINZ STIERLE: Text als Handlung und Text als Werk. In: DERS.: Ästhetische Rationalität. Kunstwerk und Werkbegriff, München 1996, S. 191-198. Vgl. auch HANS ULRICH GUMBRECHT: Konsequenzen der Rezeptionsästhetik oder Literaturwissenschaft als Kommunikationssoziologie. In: Poetica 7 (1975), S. 388-413. Vgl. STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes, S. 71, Anm. 39. STROHSCHNEIDER: Textualität der mittelalterlichen Literatur, S. 20: „Demgegenüber gehe ich im folgenden von diesen beiden Sätzen aus: 1. Jeder Text ist eine sprachlich verfaßte kommunikative Handlung. Doch soll der Textbegriff so gewählt werden, daß der Umkehrschluß nicht gilt. Die Relation der Termini .Kommunikationshandlung', .Sprache' und .Text' wäre also über eine Hierarchie von Ein- und Ausschlußverhältnissen zu bestimmen: 2. Nicht jede kommunikative Handlung ist sprachlich verfaßt, und nicht alle sprachlichen Kommunikationshandlungen vollziehen sich in Form von Texten." KONRAD EHLICH: Text und sprachliches Handeln. Die Entstehung von Texten aus dem Bedürfnis nach Uberlieferung. In: Schrift und Gedächtnis. Beiträge zur Archäologie der literarischen Kommunikation. Hrsg. von ALEIDA ASSMANN u. a., München 1983, S. 24-43; vgl. auch KONRAD EHLICH: Zur Genese von Textformen. Prolegomena zu einer pragmatischen Texttypologie. In: Textproduktion: Ein interdisziplinäres Forschungsüberblick. Hrsg. von GERD ANTOS/HANS P. KRINGS, Tübingen 1989 (Konzepte der Sprach- und Literaturwissenschaft 48), S. 84-99. STROHSCHNEIDER: Textualität der mittelalterlichen Literatur, S. 21f. Ebd. S. 22. Ebd. S. 21.
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Kontext zerdehnter Situationen."24 Diese Sprechakte lassen sich in der Uberlieferung der mittelalterlichen Texte rekonstruieren. Die methodische Bestimmung des Handlungs- oder Aktcharakters von Texten (in einer Handschriftenkultur) lässt sich - so meine ich an zentrale Theoreme der philologischen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts anschließen.25 Denn dort schon sind Einsichten in die „Dialektik von Sprache und Rede, von Sprachzustand und Redeereignis"26 formuliert, die helfen könnten, die Uberlieferung eines Textes systematisch als aktualisierende Reformulierung des Textes zu perspektivieren, ohne diese als beliebig oder bezugslos zu verstehen. Die philologische Hermeneutik des 19. Jahrhunderts sah vielmehr zuerst in aller Deutlichkeit das hermeneutische Problem, das in der unauflöslichen Rückbindung auch noch des einmaligsten Textes an seine Sprache und das heißt an ein allgemeines System von Zeichenkonventionen liegt. Der dialektische Zusammenhang von Sprache und Rede, einmaliger Verwirklichung des herausragenden Textes und anonymer Arbeit am System der Sprache selbst als dem Ausdruck einer ganzen Kultur wurde in der Klassischen Philologie am großen Paradigma der Antike zu immer schärferen Bewußtsein gebracht. 2
Die Einsicht in den „Zusammenhang von Strukturgeschichte der Sprache und Ereignisgeschichte der Rede"28 liegt auch der Unterscheidung SCHLEIERMACHERS zwischen grammatischer' und .psychologischer' (auch .technischer') Interpretation des Textes zugrunde. Die grammatische Deutung bezieht den Text auf das System sprachlicher Regeln und auf die geschichtlichen und kulturellen Traditionen,
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JAN ASSMANN: Kulturelle Texte im Spannungsfeld von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, S. 272. ASSMANN erläutert den Vorteil eines solchen Textbegriffs im Rahmen kulturwissenschaftlicher Untersuchungen: „Andererseits greift er durch seine Bindung an den Begriff der Uberlieferung ein zentrales Bedeutungselement der philologischen Tradition wieder auf. Text ist nicht jede, sondern nur diejenige sprachliche Äußerung, mit der sich auf Seiten des Sprechers ein Bedürfnis nach Uberlieferung und auf Seiten des Hörers ein Bedürfnis nach Wiederaufnahme verbindet, also Äußerungen, die auf eine Art von räumlicher und/oder zeitlicher Fernwirkung hin angelegt sind und auf die man über die Distanz hinweg zurückgreift. [...] Texte sind Äußerungen gesteigerter Verbindlichkeit. Wenn wir diesen Begriff nochmals steigern, gelangen wir zu dem Begriff des kulturellen Textes [...]." (Ebd. S. 272) Vgl. zum folgenden SCHLEIERMACHER: Hermeneutik und Kritik; MANFRED FRANK: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und Textinterpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/Main 1985, S. 247-364; HARALD WEIGEL: ,Nur was du nie gesehn wird ewig dauern'. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, Freiburg 1989, S. 199-209. KARLHEINZ STIERLE: Literaturwissenschaft. In: Das Fischer Lexikon Literatur. Bd. 2. Hrsg. von ULFERT RlCKLEFS, Frankfurt/Main 1996, S. 1156-1185, S. 1170. STIERLE: Text als Handlung und Text als Werk, S. 192. Ebd. S. 192.
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die in der jeweiligen Sprachäußerung kodiert sind: „Dieser Interpretationstyp betrachtet die Rede mithin als unter der Potenz der Sprache stehend."29 Die psychologische Interpretation legt den Primat ihrer Analyse hingegen auf die individuelle und eigentümliche30 Modellierung dieser vor geprägten Strukturen und Regeln der Sprachverwendung im Text. Während die grammatische Interpretation sich am kodifizierten System der Sprache und der darin sedimentierten Wirklichkeitsmodelle orientiert, zielt die psychologische Interpretation auf die Intention des Sprechers: „Wie jede Rede eine zwiefache Beziehung hat, auf die Gesamtheit der Sprache und auf das gesamte Denken ihres Urhebers: so besteht auch alles Verstehen aus den zwei Momenten, die Rede zu verstehen als herausgenommen aus der Sprache, und sie zu verstehen als Tatsache im Denkenden."31 Am konkreten Material der Uberlieferung eines Textes - so nun die These - ist der Umschlag der Sprache des Werks eines Autors in die Rede des Schreibers als Vollzug des Autortextes bzw. der voraus liegenden Handschrift mittels Re/Konstruktion und Re/Produktion mithin die Dialektik von Sprache und Rede in der Rede (von Autor und Schreiber) selbst zu beobachten.
Unter Rückgriff auf F E R D I N A N D D E S A U S S U R E S Unterscheidung von langue und parole findet sich bei D A V I D F . H U L T eine Charakterisierung der L A C H M A N N S C H E N Textkritik, welche die hier postulierte Auffassung von ,Text als Handlung' zu unterstützen vermag. H U L T 29
FRANK: Das individuelle Allgemeine, S. 265. Nach FRANK verdeutlicht die grammatische Interpretation, „daß nämlich die Bestimmung der Einheit sowohl der syntaktischen Form wie des materiellen Wort-Werts nichts ein für allemal Gegebenes zutage fördert, sondern eine doppelte Funktion des unmittelbaren und des systematischen Kontextes einer Sprache ist. Signifikanten sind eben keine fixen Versinnlichungen invarianter Ideen; sie distinguieren sich im systematischen Gesamt einer streng kombinatorischen und differentiellen Ordnung zu Zeichen, deren Bedeutung abermals relativ ist auf ihren jeweiligen Gebrauch zwischen .unmittelbaren Umgebungen' - einen Gebrauch, den kein Gesetz im vorhinein und für immer determinieren könnte." (Ebd. S. 271)
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WEIGEL: ,Nur was du nie gesehn wird ewig dauern'. Carl Lachmann und die Entstehung der wissenschaftlichen Edition, S. 202: „Eigentümlichkeit kann Schleiermachers Lieblingswort genannt werden. [...] Die Individualität eines jeden guten Autors erwächst spontan in der Eigentümlichkeit eines Stils, der im Werk die Potenzen von Denken und Sprache vermittelt. Schlechter Stil unterliegt dem Verdikt der Manieriertheit, er täuscht die Eigentümlichkeit der Vermittlung nur vor."
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SCHLEIERMACHER: Hermeneutik und Kritik, S. 77.
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führt zunächst an, "[...] that the Lachmannian editor is simply trying to distinguish parole from langue when he reconstruct the authorial text from a morass of manuscript variants."32 Der Genfer Sprachwissenschaftler führte die Unterscheidung zwischen überindividuellen Sprachsystem {langue) und der Sprachverwendung durch den einzelnen Sprecher {parole) ein.33 Die Übertragung dieses Modells auf die Vorgehensweise des Textkritikers erläutert HULT wie folgt: T h e ' c o m m u n i t y of speakers' is redefined as the group of manuscript exemplars of a given text. T h e n e w , considerably m o r e specified langie translates as the general law that can be established f r o m that group, and the parole is the individual, aberrant manuscript reading. 34
HULTS Argumentationsgang enthält vor dem hier skizzierten Horizont aber eine signifikante Verkürzung. Denn er unterschlägt, dass auch die (Autor- oder Uberlieferungs-) Variante als Rede immer rück gebunden ist an das allgemeine System der Sprache einer Epoche und nicht nur an das Sprachuniversum, das durch die übrigen Handschriften des Textes gebildet wird. Der Reduktionismus, der HULTS Position kennzeichnet, findet sich auch in dem Hinweis, dass der rekonstruierte Text aus der Sicht „of the entire Old French corpus" als einzelner .Sprecher' zu bezeichnen wäre.35 Es ist offensichtlich, dass auch der Text des einzelnen Uberlieferungszeugen im Sinne DE SAUSSURES als parole gegenüber dem Sprachsystem des Altfranzösischen aufzufassen ist. Betrachtet man mit dem Text des einzelnen Uberlieferungszeugen den (aus mehreren Uberlieferungszeugen) konstituierten Text einer kritischen Edition, so signalisiert der rekonstruierte Text in der Tat „the studied elimination of all that is individual, accessory, and accidental from what is supposed to be a unique authorial voice."36 Die Dichotomie von langue/parole wie die Dialektik von Sprache und Rede im Sinne der philologischen Hermeneutik des 19. Jahrhunderts fundieren eine Auffassung von Text als Handlung, 32
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DAVID F. HULT: Reading It Right: The Ideology of Text Editing. In: The N e w Medievalism. Hrsg. von MARINA S. BROWNLEE u. a., Baltimore 1991, S. 113-130, S. 120. FERDINAND DE SAUSSURE: Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft. Mit neuem Register, Berlin u. a. 2. Aufl. 1967, S. 16: „Wenn wir die Summe der Wortbilder, die bei allen Individuen aufgespeichert sind, umspannen könnten, dann hätten wir das soziale Band vor uns, das die langue ausmacht. Es ist ein Schatz, den die Praxis der parole in den Personen, die der gleichen Sprachgemeinschaft angehören, niedergelegt hat, ein grammatikalisches System, das virtuell in jedem Gehirn existiert, oder vielmehr in den Gehirnen einer Gesamtheit von Individuen; denn die langue ist in keinem derselben vollständig, vollkommen existiert sie nur in der Masse." HULT: Reading It Right, S. 121. Ebd. S. 121. Ebd. S. 121.
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indem sie auf das Wechselverhältnis von historischem Regelsystem der Sprache und .Eigentümlichkeit' des Textes insistiert. Implizit ist mit diesem Ansatz, der .Text als Handlung/Rede' definiert, aber eine Aufwertung der Uberlieferung verbunden. *
Wird nun Text als Wiedergebrauchsrede definiert, ist auch die historisch je spezifische Situation, in der der Text eine Form der Realisierung findet, in den Blick zu nehmen. STROHSCHNEIDER kennzeichnet den situativen Rahmen, in dem der mittelalterliche poetische Text aktualisiert wird, durch die Bindung an die körpergebundene Performanz als jW-Zo^i-i-Kommunikation in der höfischen Öffentlichkeit, die freilich - kaum institutionell gesichert - als „hochgradig okkasionell, auch prekär" zu beschreiben wäre.37 Angesichts dieses Versuchs, den mittelalterlichen Text in seiner Situation zu rekonstruieren, weist WULF OESTERREICHER auf die Schwierigkeit hin, dass diese Textgestaltungen keineswegs mehr „die Kennzeichen ihrer originären diskursiven Kontexteinbettungen und kommunikativen Funktionalisierungen" aufweisen: Der Betrachter ist gezwungen, hier grundsätzlich von einer DeKontextualisierung, einer Oe-lns^enierung und einer Reduktion der vielfältigen semiotischen Modi des ursprünglichen kommunikativen Geschehens auszugehen. 38 37
STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes, S. 23: „Man kommuniziert unter Anwesenden, in einem Zeigfeld, das als Raum wechselseitiger Wahrnehmung zu beschreiben ist. Kommunikationen sind v. a. reziprok, ihre Medien in sprachlichen wie nichtsprachlichen Codes und ihre Speicher sind stets auch die gegenwärtigen Körper, und sie funktionieren daher immer auch synästhetisch, insbesondere audiovisuell." Vgl. auch FRANZ H. BAumL: Autorität und Performanz: Gesehene Leser, gehörte Bilder, geschriebener Text. In: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epochen. Hrsg. von CHRISTINE EHLER/URSULA SCHAEFER, T ü b i n g e n 1998 (ScriptOralia 94), S. 248-273, hier S. 252:
„Zum Phänomen der Vokalität tritt in der Performanz die nicht weniger steuernde Visualität sowohl wie die erlebte Traditionalität der Performanz hinzu - eine Traditionalität, zu der jede Performanz das ihre beiträgt und an der die Teilnehmer jeder Performanz ständig beteiligt sind." Kritisch hingegen zur Annahme, die der Institution des öffentlichen Vortrags von Literatur in der höfischen Kultur besondere Bedeutung beimisst, T H O M A S C R A M E R : hilfet äne sinne kunsd Lyrik im 13. Jahrhundert. Studien zu ihrer Ästhetik, Berlin 1998, S. 12ff. Vgl. hierzu auch Theorien des Performativen. H r s g . v o n ERIKA FISCHER-LICHTE/CHRISTOPH WULF. In: Paragrana 10
(2001).
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WULF OESTERREICHER: Textzentrierung und Rekontextualisierung: Zwei G r u n d -
probleme der diachronischen Sprach- und Textforschung. In: Verschriftung und Verschriftlichung. Aspekte des Medienwechsels in verschiedenen Kulturen und Epo-
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Textkritik als Funktionsgeschichte
Aufgrund seiner kommunikations- und mediengeschichtlichen Orientierung verabsolutiert STROHSCHNEIDERS Versuch jedoch die Alterität mittelalterlicher Textualität. 39 Es scheint, als ob dem Erfassen „historisch fremde[r] Textualitätsformen" mittels des .modernen' Instruments des hermeneutischen Textvergleichs mit Skepsis begegnet wird, weil auf diese Weise die „Konsistenz- und Kompletionsbedingungen" des mittelalterlichen Textes mehr verdeckt als aufgedeckt würden. Diese Skepsis hängt damit zusammen, dass STROHSCHNEIDER auch die Skripturalität schriftlich konzipierter und mittels Schrift fixierter Texte nur als subsidiär auffasst. 0 Die Ansicht, „daß die Unterschiede zwischen den Parallelversionen [der höfischen Romane] gerade nicht prinzipielle Differenzen ästhetischer oder ethischer Konzeptionen sind" 4 , ist ebenso durch das Argument geprägt, das von der Dominanz der Mündlichkeit innerhalb der Produktionswie Rezeptionsbedingungen dieser Texte ausgeht. Wie oben ausgeführt, ist im Bereich dieser Textgattung von frühen, d. h. autornahen Mehrfachfassungen der Texte auszugehen, die sich durch einen hohen Grad an Variabilität auszeichnen. Ein Teil dieser Fassungstexte sind als Kurzfassungen der Romane beschreibbar, die einer „Poetik der
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chen. Hrsg. von CHRISTINE EKLER/URSULA SCHAEFER, Tübingen 1998 (ScriptOralia 94), S. 10-39, S. 24. Das Textverständnis kann - trotz und infolge dieses Verlusts an „relevanten Semantisierungseffekte[n]" - aufgrund „implizite[r] Wissensbestände[...] und Traditionen, situationelle[r] Gegebenheiten, interaktionale[r] Muster, szenische[r], musikalische[r], gestische[r], mimische[r], stimmliche[r] und sonstige[r] im Vortrag sich manifestierende[r] Ausdrucksverfahren einer umfassend verstandenen Semiosis" gesichert werden (ebd. S. 26). Vgl. STACKMANN: Autor - Überlieferung - Editor, S. 29ff. STROHSCHNEIDER: Textualität der mittelalterlichen Literatur, S. 24; STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes, S. 71: „Solche konkreten Zusammenhänge von körpergebundener und schriftgestützter Kommunikation lassen sich generalisieren zum Prinzip der Subsidiarität der Schrift im Mittelalter." Dagegen betont CRAMER die schriftliterarische Poetik des Minnesangs: „[...] die enge Bindung der Lyrik an die Schrift in Entstehung, Vermittlung und Rezeption im Bewußtsein der Autoren, Redaktoren und Maler vom 12. bis (wahrscheinlich zunehmend) zum 14. Jahrhundert ist nicht zu leugnen" (CRAMER: Wa^ hilfet äne sinne kunsü S. 43). STROHSCHNEIDER: Rezension, S. 107f. Es heißt dort weiter: „[...] solche Konzeptionsunterschiede konnte man einem kategorial vom Autor nur schwer zu unterscheidenden Redaktor zurechnen und dieserart das Problem entschärfen. Es sind vielmehr Unterschiede, die in vergangenen Kommunikationssituationen oft wohl kaum einen Unterschied machten, die zu beschreibbaren Variationen allererst vom historisch fernen Beobachtungspunkt einer philologischen Analyse aus werden, welche so erfahrungsgesättigt, instrumentenreich und genau ansetzt wie die vorliegende, und die gerade darin einen (medien-)historisch fremden Status von Text bezeugen, einen Status nämlich, der die Identität eines Textes nicht an die Identität seines Wortlautes bindet" (ebd. S. 107f.).
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Abbreviatio und der Brevitas"42 gehorchen. Diese Bearbeitungstendenz finden in „alternative[n] redaktionellefn] Konzeptefn]" ihre Entsprechung, in denen sich durchaus Differenzen in der ästhetischen und ethischen Auffassung der Texte ausdrücken können.43 Schließlich ist bei hochmittelalterlichen Texten wie Gottfrieds von Straßburg Tristan oder Wolframs von Eschenbach Ρarrival „ein literarisiertes Publikum" 44 anzunehmen, deren Textrezeption sich im Rahmen eines mehr textorientierten als traditionsorientierten Erwartungshorizonts vollzieht.45 Ein solcherart „literarisiertes, mit institutionalisierter Schriftlichkeit vertrautes Publikum" 46 konnte auch die mündliche Performanz ihrer Texte als selbstbezügliche Sinnbildungen, denen bestimmte ethische und ästhetische Konzeptionen zugrunde lagen,
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Vgl. STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen, S. 437. Herborts von Fritzlar Liet von Troie belegt, dass auch in der Zeit um 1200 - natürlich als Ausnahme von der Regel - eine Poetik der brevitas die Umarbeitung einer französischen Vorlage leiten konnte. Herborts Bearbeitung ist durch Schriftabhängigkeit und Intertextualität geprägt, wie manche Witze Herborts, die nur durch den Blick in die französische Vorlage zu verstehen sind, offenbaren (vgl. ELISABETH SCHMID: Ein trojanischer Krieg gegen die Langeweile. In: Mediävistische Komparatistik. Festschrift Franz-Josef Worstbrock. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER/WOLFGANG HARMS, Leipzig 1997, S. 199-220).
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STROHSCHNEIDER: Höfische Romane in Kurzfassungen, S. 429. BÄUML: Autorität und Performanz, S. 266.
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Zur Begrifflichkeit vgl. BÄUML: Autorität und Performanz, S. 264. Ebd. S. 268. Aus produktionsästhetischer Perspektive weist KLAUS RlDDER ausdrücklich auf die Entpragmatisierung der Gattung des höfischen Romans hin. Vgl. K. R.: Autorbilder und Werkbewußtsein im Ρarrival Wolframs von Eschenbach. In: Wolfram-Studien X V (1998), S. 168-194, hier: S. 171: „Der im höfischen Roman geschaffene Raum der Auseinandersetzung mit Literatur, Erzählen und Autorschaft wird genutzt, um über stilisierte Autor- und Erzählerbilder erzählreflexive Fragen zu diskutieren." Wichtig erscheinen mir in diesem Zusammenhang auch die überlieferungsgeschichtlichen Beobachtungen BURGHART WACHINGERS an dem kostbaren Wiener Willehalm Codex von 1387, der eine Miniatur mit einem schreibenden Wolfram enthält: „Demgegenüber vereinnahmt das Bild der ITO/eAe/OT-Handschrift den ungelehrten Laiendichter Wolfram ohne Umstände in die Welt der litterati, indem es ihn in dem geläufigsten Bildschema des schreibenden Autors darstellt. [...] So gut bezeugt das Konzept des msen leiert Wolfram ist, es gab offenbar schon im 13. Jahrhunden daneben die Möglichkeit, Wolfram ganz unspezifisch als Schriftsteller zu sehen, der sich nur durch seinen Rang von anderen Literaten unterschied." (B. W.: Wolfram von Eschenbach am Schreibpult. In: Wolfram-Studien X I I (1992), S. 9-14, hier: S. 11). Auf den Widerspruch, dass Wolfram sich selbst als illiteraten Laien inszeniert und andererseits ebenso „seine Gelehrsamkeit in einigen Bereichen der freien und mechanischen Künsten" vorführt, weist MICHAEL CURSCHMANN hin (M. C.: Höfische Laienkultur zwischen Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Das Zeugnis Lamberts von Ardres. In: .Aufführung' und .Schrift' in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER. Stuttgart, Weimar 1996 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XVII), S. 149-169, hier: S. 149).
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rezipieren.47 Diese Texte markieren im „Prozeß der Zunahme der Sprachlichkeits- und Textualitätsanteile"48 einen Punkt, der es erlaubt, im Text selbst (und seiner Uberlieferung) nach Semantisierungseffekten zu suchen, die auch Rückschlüsse auf die spezifische kulturelle Situation ermöglichen, in welcher der Text seine Geltung hat. Der höfische Roman ist nachgerade in der klerikalen Schriftkultur verwurzelt. Mag auch der mittelalterliche poetische Text im konkreten Kommunikationszusammenhang seiner Aufführung durch „Tradition und Vorwissen, Präsenz und Performanz" 49 determiniert sein und mögen auch eine Vielzahl dieser Parameter kaum zu rekonstruieren sein, so darf man sich doch nicht den Erkenntnismöglichkeiten verschließen, die in einer Analyse des überlieferten Textmaterials besteht. Mit einer Auffassung von Text als wiederaufgenommener, kommunikativer Handlung wird die Uberlieferung auch mittelalterlicher Texte nicht mehr als „etwas Nachträgliches, Sekundäres oder Akzidentielles"50 verstanden, vielmehr wird mit dieser Auffassung das Moment der Aktualisierung des Werkes, der Adaptation an einen gewandelten Sinnhorizont als das entscheidende Charakteristikum von Uberlieferung grundsätzlich betont. 51 „Alle schriftlichen Aufzeichnungen eines Textes müssen als .prinzipiell gleichrangige kommunikative Handlungen' angesehen werden."52 Jede einzelne dieser
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Abgesehen davon, dass die Romane Wolframs oder Gottfrieds auch auf eine lesende Rezeption angelegt waren. OESTERREICHER: Textzentrierung und Rekontextualisierung, S. 27. Ebd. S. 28. STROHSCHNEIDER: Textualität der mittelalterlichen Literatur, S. 25 Anm. 22. JANDlRK MÜLLER kritisiert in diesem Zusammenhang das punktuelle Vorgehen traditioneller Textkritik, wodurch die Wahrnehmung neuer Konzeptionen in jüngeren Uberlieferungszeugen nur schwer möglich wird: „Es war ein Manko der älteren Editionsphilologie, überwiegend vom Vergleich von Einzelstellen (punktuellen Lesartendifferenzen, sog. Bindefehlern etc.) auszugehen und zu fragen, ob Abweichungen wahrscheinlicher in die eine oder in die andere Richtung verlaufen sind, so daß man daraus Schlüsse für den ursprünglichen Wortlaut ableiten konnte. Selbst wenn eine Entscheidung möglich ist, ist damit die Frage nach der Konzeption der jüngeren (.schlechteren') Handschrift noch nicht erledigt" (MÜLLER: Spielregeln für den Untergang, S. 73). Vgl. JANOTA: Mittelalterliche Texte als Entstehungsvarianten, S. 78. Von dieser Bestimmung noch einmal abzuheben wäre KARLHEINZ STIERLES Bemerkung, „daß Literatur von vornherein gar kein Gegenstand ist, sondern die Matrix eines imaginären Vollzugs" durch den Leser bzw. doch auch durch den mittelalterlichen Rezipienten, der sich - lesend und abschreibend - einen Text anverwandelt (STIERLE: Literaturwissenschaft, S. 1166). So versteht STACKMANN: Autor - Überlieferung - Editor, S. 29 die Position STROHSCHNEIDERS. Eine solche Profilierung des Textbegriffs macht eine historisierende
Text als Handlung
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Handlungen ist aber situationeil gebunden und prägt sich dem Text in unterschiedlicher Weise ein. Das kann aufgrund der Modalitäten pragmatischen Gebrauchs geschehen und zu kontingenten Sinnverschiebungen und Sinnverlusten im Text führen. Doch können dem Text auch spezifische Sinnbildungen eingeschrieben werden. Gegen die hier skizzierte Position kann der gewichtige Einwand erhoben werden, dass der Text einer bestimmten Handschrift aus Uberlagerungen von Textschichten besteht, deren exakte Rekonstruktion das Bestreben des Textkritikers ist. Doch sind diesem Bemühen immer wieder Grenzen durch die editorische Zugänglichkeit des Materials und durch die beschränkte Reichweite der textkritischen Methode gesetzt.53 Jede einzelne Handschrift überliefert Textvarianten, die den vorläufigen Endpunkt unüberschaubarer textgeschichtlicher Prozesse darstellen. Wann Varianten tatsächlich mit dem Willen eines Schreibers oder Auftraggebers zuverlässig in Verbindung zu bringen sind, ist in der Regel nicht feststellbar. Jede Handschrift stellt letztlich die Summe der ihr vorausgehenden Änderungen am Original oder der jeweiligen Vorlage oder Vorlagen (im Falle des Vorlagenwechsels) der weiteren Abschriften - und zwar beabsichtigte oder unbeabsichtigte - sowie der eigenen, vom Schreiber der Handschrift vorgenommenen Eingriffe dar. 54
Jeder einzelne mittelalterliche Codex erneuert aber - als Redeereignis - in der spezifischen Situation, in der er Wirkung erzielt, die Präsenz jener Textbedeutungen, die - rekonstruierbar oder nicht - letztlich aus verschiedenen Vorlagen stammen mögen. 55 Eine Analyse der Uberlieferung ermöglicht den Blick auf die „Situativität auch des tendenziell situationsabstrakten Schrifttextes". 56
53 54 55
56
Neubestimmung des Begriff des Werks nötig (vgl. hierzu erste Überlegungen bei BAISCH: Was ist ein Werk? Mittelalterliche Perspektiven). Vgl. STEER: Textkritik und Textgeschichte, S. 114f. WlLUAMS-KRAPP: Die überlieferungsgeschichtliche Methode. Rückblick und Ausblick, S. 13. Einer Interpretation des Wartburgkrieges legen BEATE KELLNER und PETER STROHSCHNEIDER lediglich den Text einer Handschrift zugrunde, weil sie nach der hier skizzierten Auffassung Texte als historische Vollzugsformen kommunikativer Handlungen begreifen: „Denn allein schon mit den Hauptüberlieferungszeugen C, J und k liegen gewissermaßen drei Wartburgkntg-Texxt vor, die nicht nur im Wortlaut so wie Strophenbestand und -folge, sondern auch in ihrem Textualitätsstatus, näherhin in ihren Verschriftlichungsstrategien, ihren Kohärenz- und Argumentationslogiken unterschiedlich profiliert sind." (Β. K. und P. S.: Die Geltung des Sanges. In WolframStudien XV (1998), S. 144f.) STROHSCHNEIDER: Situationen des Textes, S. 71.
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Textkritik als Funktionsgeschichte
3.2.1. Exkurs: Literarische Interessenbildung als Ansatz funktionsgeschichtlicher Literaturbetrachtung: Leistungen und Defizite Die Kritik an Modellen gesellschaftsgeschichtlicher bzw. funktionshistorischer Analyse der höfischen Literatur hat der fachinternen Diskussion nicht nur zu einer Öffnung gegenüber Fragestellungen und Deutungskonzepten aus anderen Disziplinen verholfen, sondern führte auch zu einer kritischen Reflexion und Präzisierung überkommener Begrifflichkeiten bzw. Konzepten der literatursoziologisch-sozialgeschichtlichen Forschung. Neuere funktionsgeschichtliche Ansätze - wie etwa die Mentalitätsgeschichte, Arbeiten des New Historidsm und der New bzw. Material Philology, der ^«dkr-Forschung, sowie das weite Feld der Historischen Anthropologie - finden seit den 80er Jahren programmatisch Eingang in das altgermanistische Forschungsgebiet. Im engeren Bereich textkritischer und überlieferungsgeschichtlicher Ansätze ist das Modell der ,Literarischen Interessenbildung' in Anschluss an sozialhistorische Forschungen, die das Verhältnis von Gönner/Auftraggeber und Autor untersuchen, entwickelt worden. Leistungen und Defizite dieses Ansatzes sollen im Folgenden diskutiert werden. H a n d s c h r i f t e n sind nicht n u r Textzeugen, s o n d e r n jede einzelne H a n d schrift ist auch ein k o n k r e t e r A n h a l t s p u n k t f ü r den U m g a n g m i t L i t e r a t u r u n d das Interesse daran. Jede H a n d s c h r i f t setzt einen Besteller o d e r eine Bestellerin v o r a u s , jedenfalls i m Bereich der w e l t l i c h e n Literatur, u n d jede H a n d s c h r i f t ist z u einem b e s t i m m t e n Z w e c k geschrieben w o r d e n . 5 8
Folgt man dieser Sichtweise, so scheint es auf den ersten Blick, als träte in einem markant redaktionell bearbeitetem Text, wie ihn ζ. B. Gottfrieds Romanfragment und die Fortsetzung Ulrichs von Tür57
V g l . M Ü L L E R : N e u e A l t g e r m a n i s t i k , S . 4 4 5 - 4 5 3 ; C H R I S T I A N KLENING: A n t h r o p o l o -
gische Zugänge zur mittelalterlichen Literatur. Konzepte, Ansätze, Perspektiven. In: Forschungsberichte zur germanistischen Mediävistik. Bd. 5,1. Hrsg. von HANSJOCHEN SCHIEWER, Bern u. a. 1996 (Jahrbuch für internationale Germanistik Reihe C ) , S. 11-129; U R S U L A PETERS: Z w i s c h e n N e w Historicism u n d G e n d e r - F o r s c h u n g .
Neue Wege der älteren Germanistik. In: DVjs 71 (1997), S. 363-396; URSULA PETERS: Mittelalterliche Literatur am Hof und im Kloster. Ergebnisse und Perspektiven eines historisch-anthropologischen Verständnisses. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung 9.11.10.1997.
Hrsg.
von
NIGEL
F.
PALMER/HANS-JOCHEN
SCHIEWER,
Tübingen
1 9 9 9 , S. 1 6 7 - 1 9 2 .
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JOACHIM BUMKE: Geschichte der mittelalterlichen Literatur als Aufgabe (Vorträge an der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften. Geisteswissenschaften G 309), Opladen 1991, S. 40. Hinzufügen könnte man die Frage, was eigentlich bestellt wurde: ein (bestimmter) Text oder eine Handschrift.
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heim in der Münchner Tm/a»-Handschrift darstellt, unmittelbar das wie immer auch zu rekonstruierende .Interesse' seines mittelalterlichen .Bestellers' entgegen. Begreift man den Zustand derartiger Uberlieferungsträger als Ergebnis von Rezeptionsprozessen, neigt man vielleicht dazu, das in diesen Handschriften von anderen Textfassungen Abweichende den Vorgaben und Zwängen außerliterarischer .Gebrauchszusammenhänge' zuzuschlagen. Mehr noch als bei einem Handschriftentext, bei dem man größere Autornähe annehmen darf, wird man bei einer planvoll bearbeiteten Fassung die Krafteinwirkung von Auftraggebern und Gönnern, den Erwartungsdruck des höfischen Publikums vermuten. Allerdings sind die methodischen Schwierigkeiten bei dem Versuch, die einem Text zugefügten Veränderungen auf ein bestimmtes Interesse ζ. B. des Publikums zurückzuführen, immens. Mittelalterlicher Literatur einen Begriff von literarischer Autonomie zuzugestehen, ist ohnehin schwierig; Redaktionsfassungen solches zu unterstellen, scheint aufgrund ihres sekundären Textstatus' noch heikler. Die Begriffe der literarischen Autonomie bzw. (als Gegenbegriff) der literarischen Heteronomie sind im Kontext des Konzepts der .Literarischen Interessenbildung' zur Beschreibung und Analyse von mittelalterlicher Literatur u. a. von JOACHIM HEINZLE definiert und verteidigt worden. HEINZLE unterscheidet zwei Begriffe von literarischer Interessenbildung: „Was bewegt Menschen, Texte hervorzubringen und zu rezipieren, zu fördern und zu tradieren? So könnte man die Frage nach der literarischen Interessenbildung in ihrem weitesten Sinne formulieren." 59 Der engere Terminus, den HEINZLE auf die mittelalterliche Literatur anwendet, bezieht sich strikt „auf die außerliterarischen Begründungs- und Wirkungszusammenhänge." Literarische Autonomie ist für HEINZLE dann „das, ,was sich nicht' mit solchen .Interessen' verrechnen läßt." 60
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JOACHIM HEINZLE: Vorbericht. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposium 1991. Hrsg. von J. H., Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), S. VI-XIV, S. X .
60
Ebd. S. X I . Vgl. auch JOACHIM HEINZLE: Wie schreibt man eine Geschichte der deutschen Literatur des Mittelalters? In: Der D U 41 (1989), S. 27-40, S. 36: „Die Entwicklung der volkssprachigen Schriftlichkeit ist kein absoluter Vorgang. Hinter ihr steht [...] das Interesse gesellschaftlicher Gruppen und Institutionen, die Möglichkeiten des Mediums für ihre Zwecke nutzen. [...] Die Werke stehen primär in außerliterarischen Gebrauchszusammenhängen, sind Träger adliger Repräsentation, dienen der Begründung, Verherrlichung, Sicherung von Herrschaft, formulieren, prägen, festigen das Selbstverständnis der gesellschaftlichen Gruppe usw. Kurzum: die Geschichte der mittelalterlichen Literatur ist auf eine sehr direkte Weise die Geschichte des Interesses am Nutzen der Literatur für das Leben."
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Textkritik als Funktionsgeschichte
Methodisch fordert H E I N Z L E dabei ein Vorgehen, das zunächst „nach Möglichkeit von konkreten, aufgrund historischer Quellen einwandfrei fixierbaren Situationen literarischer Interessenbildung" seinen Anfang nimmt. 61 Doch sieht er sich mit dieser Forderung gerade im Bereich der höfischen Literatur - vor die Schwierigkeit gestellt, „daß die historischen Daten der Entstehung und (primären) Rezeption der Texte sehr oft nicht zu erheben sind". 62 Uber die Rekonstruktion einer „Auswahl gut dokumentierter Gebrauchssituationen", die modellhaft und repräsentativ den Umgang einer Epoche mit ihren Texten belegen, sucht H E I N Z L E einen Ausweg aus der mangels historischer Quellen schwierigen Forschungssituation. 63 H E I N Z L E S Überlegungen lassen sich - schon begrifflich - eng an die Text- und Uberlieferungsgeschichte der Würzburger Forschergruppe um KURT RUH anschließen.64 Dort verbindet sich die Erweiterung des Literaturbegriffs programmatisch mit der Erweiterung des Textbegriffs. 65 Auch hier zielt die Analyse auf die Ermittlung derjenigen Gebrauchssituation, in der ein Text, d. h. eine Handschrift, rezipiert wurde. Doch bleibt in beiden Konzepten der auf H U G O K U H N zurückgehende Begriff der Gebrauchssituation bzw. das Verhältnis des Gebrauchskontextes zum Text unpräzise.66 Ohne die Rückbindung 61
62 63 64
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JOACHIM HEINZLE: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. Kleiner Kommentar zu einer Forschungsperspektive. In: Mittelalterliche Literatur im Lebenszusammenhang. Hrsg. von ECKART C. LUTZ, Freiburg/Schweiz 1997 (Scrinium Friburgense 8), S. 79-93, S. 83. Ebd. S. 88. Damit ist die Frage, ob die Historie als Königsweg zur Interpretation literarischer Texte betrachtet werden kann, genauso ungelöst wie jene, wie denn ein Umgang mit Geschichte, der diese Texte zu erhellen hätte, aussehen könnte. Vgl. STEER: Textgeschichtliche Edition; STEER: Gebrauchsfunktionale Text- und Uberlieferungsanalyse; KURT RUH: Uberlieferungsgeschichte mittelalterlicher Texte als methodischer Ansatz zu einer erweiterten Konzeption von Literaturgeschichte. In: Uberlieferungsgeschichtliche Prosaforschung. Beiträge der Würzburger Forschergruppe zur Methode und Auswertung. Hrsg. von Kurt Ruh, Tübingen 1985 ( l T G 19), S. 262-272. Kritisch hierzu MERTENS: Strukturen - Texte - Textgeschichte. Zum wissenschaftlichen Werk von Kurt Ruh, S. 53-56. Zur problematischen Ausdifferenzierung von .schöner' und pragmatischer Literatur bei KURT RUH vgl. dessen Aufsatz Poesie und Gebrauchsliteratur. In: Poesie und Gebrauchsliteratur im deutschen Mittelalter. Würzburger Colloquium 1978. Hrsg. von VOLKER HONEMANN U. a., Tübingen 1979, S. 1-13. HUGO KUHN: Entwürfe zu einer Literaturgeschichte des Spätmittelalters, Tübingen 1980, S. 78ff. Zur Kritik an KUHN vgl. JAN-DIRK MÜLLER: Aporien und Perspektiven einer Sozialgeschichte mittelalterlicher Literatur. Zu einigen neueren Forschungsansätzen. In: Historische und aktuelle Konzepte der Literaturgeschichtsschreibung. Zwei Königskinder? Zum Verhältnis von Literatur und Literaturwissenschaft. Hrsg. von WILHELM VOßKAMP/EBERHARD LÄMMERT, Tübingen 1986 (Kontroversen, alte und neue. Akten des VII. Internationalen Germanis-
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an eine die Texte bzw. Handschriften67 als vielschichtige Sinnsysteme aufschließende Interpretation ist die Rekonstruktion von Gebrauchssituationen gegenüber ihren Erkenntnisobjekten unter komplex. Wenn auch spezifische Vorgaben innerhalb von historisch bestimmbaren Rezeptionssituationen konstitutive Bedeutung bei der Herstellung eines Textes erlangen können, so lassen sich allererst im Text und über seine Analyse jene Daten zusammentragen, die seine Wirkung und ihre Aktualisierung begründen. Der Weg zur Bestimmung eines in einen mittelalterlichen Text eingeschriebenen .Interesses' führt über die Analyse der Textfassungen bzw. der einzelnen Uberlieferungsträger eines Textes. J A N - D I R K M Ü L L E R hat das Konzept der literarischen Interessenbildung beispielhaft an Ulrichs von Türheim Tm/a«-Fortsetzung problematisiert bzw. modifiziert. Die Spuren verschiedener Interessen, die M Ü L L E R in Ulrichs Prolog aufspürt, ergeben eine komplexe Ausgangssituation für die Schaffung eines literarischen Werks im Mittelalter: Verewigung des eigenen Namens, Minnedienst und Dienst am unvollendeten Werk sind also drei voneinander abgehobene Interessenzusammenhänge, denen sich die Tw/ij/i-Fortsetzung verdankt. Bezugspunkt ist jeweils Konrad, Adressat literarischer Hommage, um die Gunst einer Dame werbender Ritter und Literaturfreund. .Interesse' hat da jeweils eine andere Bedeutung und präjudiziert entsprechend in ganz unterschiedlichem Grade Struktur und Aussage des Textes. 68
Die so definierten Interessenzusammenhänge prägen sich dem Text spezifisch auf. Oft ist deren Reichweite aber so gering, dass textanalytische Befunde zu einem vagen Thesenkonstrukt zusammengestellt werden müssen, damit die Einwirkung außerliterarischer Interessen überhaupt plausibel gemacht werden kann. Denn der höfische Ro-
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ten-Kongresses Göttingen 1985. Hrsg. von ALBRECHT SCHÖNE, Bd. 11), S. 56-66. Kritisch auch KLAUS GRUBMÜLLER: Wie kann die .Mediävistik' ihren Gegenstand verlieren? In: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft XLIII (1999), S. 466-469, S. 468: „Die Sozialgeschichte der Literatur ist sicher nicht gescheiten, wenn es ihr um die Ermittlung der literarischen Aktivitäten von Höfen und Fürsten zu tun ist und um die Parallelisierung zu anderen Repräsentationsakten; sie ist es wohl, wenn sie daraus Schlüsse auf die Gestalt der Werke anstrebt. Für die auf die Ermittlung des Publikums ausgerichtete Überlieferungsgeschichte gilt ähnliches. Und in beiden Fällen hilft auch die Umbenennung des Konzepts in .Literarische Interessenbildung' nicht weiter." Die ζ. T. große Zahl an überlieferten Handschriften kann zunächst methodisch kein Kriterium abgeben, sich von der Untersuchung dieser Überlieferungsträger abzuwenden. JAN-DIRK MÜLLER: ZU einigen Problemen des Konzepts .Literarische Interessenbildung'. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter, DFG-Symposion 1991. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), S. 365-384, S. 367.
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man als Texttyp hat dann doch soviel an literarischer Autonomie erreicht, dass von festen pragmatischen Zwängen und Verpflichtungen nicht die Rede sein kann. Schließlich scheint in literarischen Texten eine Änderung von gesellschaftlichen Normen und Werten auftreten zu können, die allein schon aufgrund ihrer zeitlichen Langfristigkeit nicht direkten Interessenbildungen zugeschrieben werden können. Auch über den Minne- und Aventiureroman Wilhelm von Orlens Rudolfs von Ems ist im Rahmen der Diskussion um das Konzept der .Literarischen Interessenbildung' gestritten worden.69 Während JOACHIM HEINZLE - aufbauend auf HELMUT BRACKERTS Deutung 7 0 -
den Roman im Dienste politischer Interessen „als Fürstenspiegel für den jungen Stauferkönig Konrad (IV.) und als Geschichtswerk im Dienste der staufischen Herrschaft" interpretiert,71 verteidigt JANDlRK MÜLLER aus interpretationstheoretischen Gründen eine Auffassung, nach welcher der Text als Gegenentwurf zu Gottfrieds Tristan zu verstehen ist. HEINZLE plädiert dafür, Rudolfs Roman „primär aus einem politischen Interessenzusammenhang heraus zu verstehen".72 MÜLLER wendet sich gegen eine solche Hierarchisierung der Deutungsmöglichkeiten von Texten und stellt die Frage, „ob ein rezeptionsgeschichtliches Argument überhaupt einen textanalytischen Befund (strukturelle Analogien und Umbesetzungen) widerlegen kann."73 Dabei geht MÜLLER nicht unbedingt davon aus, dass Rudolf bewusst einen Κηύ-Tristan konzipiert hat.74 KLAUS RIDDER hat schließlich gezeigt, wie eine zwischen diesen Positionen vermittelnde Lektüre des Romans aussehen könnte: „Die 69 70 71 72 73
74
Vgl. zum folgenden auch BAISCH: La vam din getickt/Wan hat es nu nihte! Zur Konzeption der Autorschaft in Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens. HELMUT BRACKERT: Rudolf von Ems. Dichtung und Geschichte, Heidelberg 1968 (Germanische Bibliothek. Dritte Reihe). JOACHIM HEINZLE: Vorbericht des Herausgebers, S. XII. HEINZLE: Vorbericht des Herausgebers, S. XII. JAN-DIRK MÜLLER: ZU einigen Problemen des Konzepts .Literarische Interessenbildung', S. 371. Ausführlich geht WALTER HAUG auf die Beziehungen zwischen Gottfrieds Tristan und Rudolfs Wilhelm von Orlens ein (W. H.: Rudolfs Willehalm und Gottfrieds Tristan: Kontrafaktur als Kritik. In: DERS.: Strukturen als Schlüssel zur Welt. Tübingen 1989, S. 637-650). MÜLLER: Zu einigen Problemen des Konzepts .Literarische Interessenbildung', S. 371f. Auch KLAUS RIDDER betont, dass Rudolf seinen Roman zwar mit Blick auf den Tristan, aber nicht als Gegenentwurf gestaltet hat. (K. R.: Liebestod und Selbstmord. Zur Sinnkonstitution im Tristan, im Wilhelm von Orlens und in Partonopier undMeäur. In: Tristan und Isolt im Spätmittelalter. Vorträge eines interdisziplinären Symposiums vom 3. bis 8. J u ni 1996 an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Hrsg. von XENJA VON ERTZDORFF, Amsterdam, Atlanta 1999 (Chloe 29), S. 303-329, S. 312f.)
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Orientierung der Erzählhandlung an dynastischen Herrschaftsvorstellungen der Zeit reicht aber nur bis zu dem Moment, in dem Elye dem Leichnam ihres Mannes gegenübersteht. Ihr Handeln richtet sich nun an dem aus dem Tristan bekannten literarischen Liebestod-Schema aus. [...] In Rudolfs Gestaltung der Szene kommt ein Spannungsverhältnis zwischen dem feudalhistorischen Leitbild kontinuierlicher, legitimer Herrschaft und dem im Tristan literarisierten Ideal der Absolutheit einer Liebesbeziehung zum Ausdruck."75 Wenn sich nun Rudolf in seinem Roman die Fiktion verfügbar macht, so spricht das nicht für oder gegen deren Unverfügbarkeit im Rahmen eines politischen Interessenzusammenhangs. Kenntnis der literarischen Tradition und deren innovative Transformation lässt sich in Rudolfs Werk ohne Schwierigkeiten festmachen. Hier sei nur auf seine Darstellung der Elye an der Bahre des toten Wilhelm im ersten Buch des Romans verwiesen, bei der sich der Autor auf Romane Wolframs und Gottfrieds stützt und dennoch eine neue Konzeption des Episodenzitats vorlegt.76 Auch das Erzählmotiv des Minnebriefs - als Szenen- und Briefmuster in mittelhochdeutscher Literatur zuerst in Wolframs Pargrnl ausgebildet - erfährt in Rudolfs Roman eine Weiterentwicklung, indem im Wilhelm von Orlens ein regelrechter Minnebriefwechsel zwischen Wilhelm und Amelie inszeniert wird. 77 Schließlich bezieht sich Rudolf in seiner Ausgestaltung des Literaturkatalogs zu Beginn des zweiten Buches wiederum nicht nur auf das Muster, das sich bei Gottfried vor der Schwertleite Tristans findet, sondern auch auf Wolframs Parsgval, indem er den Dialog zwischen dem Erzähler und der Frau Aventiure für seine Autorenliste funktionalisiert.78 Gleichwohl ist es m. E. wenig gewinnbringend, außerliterarische Interessen eines Mäzens oder einer Mäzenatengruppe, die bei der Produktion eines Textes mitwirken, und die poetischen Sinnaktualisierungen eines Autors, der seinen Text innerfiktional in einem Literatursystem verortet, einander strikt entgegenzusetzen. Es könnte doch möglich sein - und wäre Rudolfs Wilhelm hierfür nicht 75 76
77 78
RlDDER: Liebestod und Selbstmord, S. 315f. Vgl. HELMUT BRACKERT: Elye an der Bahre des toten Geliebten. Szenentypus und Frauenbild in Rudolfs von Ems Willehalm von Orlens. In: Philologische Untersuchungen. Gewidmet E. Stutz zum 65. Geburtstag. Hrsg. von ALFRED EBENBAUER, Wien 1984, S. 90-101, S. 94. HELMUT BRACKERT: Da stuont daz minne ml ge^am. Minnebriefe im späthöfischen Roman. In: ZfdPh 93 (1974). Sonderheft: Spätmittelalterliche Epik, S. 1-18. BURGHART WACHINGER: Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburgs im 13. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. von WOLFGANG HARMS/LESLEY P. JOHNSON, Berlin 1975, S. 56-82, S. 65.
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Textkritik als Funktionsgeschichte
ein Beispiel? - , in einen Text politische Interessen einzuschreiben und sich ebenso literarische Freiräume zu schaffen, um ζ. B. über Autorschaft zu reflektieren. Dabei bietet sich eine genaue Untersuchung der metapoetischen Passagen des Romans an, sind sie doch der Ort, an dem Rudolf seine Autorschaft entwirft, zur Textgenese Stellung nimmt und scheinbar außerliterarische Interessen, z.B. das Gönnerlob, artikuliert.79 In Auseinandersetzung mit der literarischen Tradition skizziert Rudolf in jenen Textpassagen seine Auffassung von Erzählen und Autorschaft. Aus solchen Gründen heraus hat W O L F G A N G H A U B R I C H S versucht, den Begriff der Interessenbildung, der bei konkreter Anwendung auf literarische Werke seine Unscharfe offenbart, zu differenzieren. Er entwickelt ein (allerdings sehr heterogenes) Modell der Entstehung von Literatur, nach dem in insgesamt vier Motivationsschichten außer- und innerliterarische Kräfte je unterschiedlich stark ein Werk prägen.81 Darüber hinaus muss H A U B R I C H S aber zugestehen, dass sich H E I N Z L E S Konzept unfähig zeigt, „Gattungen ausreichend zu beschreiben, in denen die Form, ihre Tradition und ihre Variabilität in den Vordergrund des Interesses tritt und sich Ansätze literarischer Autonomie gerade in der strukturellen Komplizierung und Spezifizierung von Formen zeigen."82 In dem schwierig zu bestimmenden Verhältnis von literarischer Form eines Werks, seiner Poetizität, und der spezifischen Funktion des Werkes innerhalb der .Interessen', die es hervorgebracht haben, ist auch für die höfische Literatur um 1200 mit einem ästhetischen Uberschuss zu rechnen, der sich einfacher Verrechenbarkeit entzieht.
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CHRISTOPH HUBER: Herrscherlob und literarische Autorreferenz. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. DFG-Symposion 1991. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), Stuttgart, Weimar 1993, S. 452-473. WOLFGANG HAUBRICHS: Welche Geschichte hat die Literatur? Reflexionen zu einigen neuen Paradigmen der mediävistischen Literaturgeschichtsschreibung. In: Mediävistische Literaturgeschichtsschreibung. G . Ehrismann zum Gedächtnis. Hrsg. von ROLF BRÄUER/OTFRID EHRISMANN, Göppingen 1992 (GAG 572), S. 81-93. Ebd. S. 88f. Ebd. S. 89.
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3.3. Text und Rezeptionsästhetik: Der mittelalterliche Schreiber als ,Leser' 83 Der strophische Prolog des Romanfragments Gottfrieds von Straßburg, das die Lebensgeschichte des Helden Tristan nach der altfranzösischen Vorlage des Thomas von Bretagne erzählt, setzt programmatisch ein. Er rückt den in den folgenden Strophen reflektierten Leitbegriff des Gedenkens, des Gedächtnisses an den Anfang des Verses: Gedaehte mans ze guote niht, von dem der werlde guot geschieht, so waere ez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht.84
Gedenkt man ir ze guote niht, von den der werlde guot geschiht, so waere ez allez alse niht, swaz guotes in der werlde geschiht.85
Die beiden im wissenschaftlichen Gebrauch befindlichen Editionen des Werkes 86 weisen in den Anfangsversen Differenzen auf, der die Beschäftigung mit der Uberlieferung unumgänglich macht. 87 Der Romanbeginn ist in der Form einer Sentenz gestaltet, die letztlich eine ethische Perspektivierung formuliert. In den Mittelpunkt der Reflexion sind das Gedächtnis an den oder die Wohltäter und seine oder ihre Werke gerückt. Ohne die Ausbildung eines solchen Gedächtnisses, das ,gute Taten' für die Nachwelt bewahrt, exis83
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Das folgende Kapitel verdankt viel den intensiven Diskussionen am Münchner Graduiertenkolleg .Textkritik' (vgl. besonders: ROGER LÜDEKE: Wiederlesen. Revisionspraxis und Autorschaft bei Henry James. Tübingen 2002). Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von FRIEDRICH RANKE, neu herausgegeben, ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von RÜDIGER KROHN, 3. Bde., 5. Auflage, Stuttgart 1990. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von KARL MAROLD, unveränderter vierter Abdruck nach dem dritten mit einem auf Grund von FRIEDRICH RANKES Kollationen verbesserten Apparat besorgt von WERNER SCHRÖDER, Berlin, New York 1977. Diese Textausgaben, die seit ihrem Erscheinen die größte Verbreitung und Wirkung entfalteten, können wissenschaftlichen Ansprüchen nicht genügen, da bei der einen die Publikation des Apparates, der die Uberprüfung textkritischer Entscheidungen erlauben würde, ausgeblieben ist (RANKE), bei der anderen erhebliche textkritische Mängel festgestellt wurden (MAROLD). In der Forschung scheint es keine Rolle zu spielen, nach welcher Ausgabe der Text zitiert wird. Vgl. hierzu auch BUMKE: Der unfeste Text. Überlegungen zur Uberlieferungsgeschichte und Textkritik der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, S. 121. Vgl. zur Textkritik des ersten Verspaares WERNER SCHRÖDER: Leistungen der Dichtung und der Dichter. In: ZfrPh 107 (1991), S. 160-166, S. 161: „Das [von RANKE] dem man suffigierte s = es ist nicht überliefert. Von Ε (die dtr hat) abgesehen, haben alle Handschriften ir, das in Μ aus des gebessert ist, und daher rührt RANKES MAROLD und BECKSTEIN/GANZ haben ir beibehalten, das keinen Anlaß zum Zweifel, und in v. 2 überwiegendes den statt dem (nur in Η u. S, in Μ fehlend)."
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Textkritik als Funktionsgeschichte
tierten diese nicht. Man hat hier inhaltliche Korrespondenzen zum memoria-Topos in der lateinischen Historiographie gesehen. Die Arbeit des Historikers sichert das Weiterleben der geschichtlichen Taten im Gedächtnis der Nachwelt: „So wird auch die Leistung derer, die sie vollbracht haben, genau so hoch eingeschätzt, wie glänzende Geister sie in Worten zu erheben vermochten." (Catilina, 8,4)88 Doch die nächsten Strophen des Prologs formulieren weitere Ansprüche an die das Gute bewahrende Rezeption: „The worthy recipient of the work should possess two qualities, goodwill and discrimination. These are rendered all the more attractive to the public through being contrasted with their opposites, wickedness and falsification." 89 Die zweite Pentade des strophischen Prologs - formal durch umarmenden Reim abgesetzt - thematisiert eine Engführung der Problematik vom Ethischen zum Ästhetischen: „Der Text reflektiert auf die Konstituierung der Geltung von Kunst im Kommunikationsakt zwischen Produktion und Rezeption, wobei das Gewicht deutlich auf die Rezeptionsseite verschoben wird." 90 Auch im Bereich literarisch-ästhetischer Produktion ist ihr Erhalt an eine reflektierend-kritische, selektierend-bewahrende Aufnahme gebunden: Ir ist so ml, die des nupßegentj da% sie da^guote übele wegentj da% übel wider guote rngent:/ die pflegent niht, si widerpflegent (MAROLD/SCHRÖDER Str. 8, V. 29-32). Der Logik von Vergessen und Erinnern entsprechend vermag sich Kunst nur im Rahmen einer sozial und institutionell abgesicherten „Gedächtnispflege" 91 zu erhalten: Chunst unde nähe sehender sin/ swie wol diu schtnen under inj geherberget nit %uo ynj er leschet kunst unde sin (MAROLD/SCHRÖDER Str. 9, V. 33-36). Gottfrieds Prolog stellt die Lage der Literatur als prekäre dar. Ihre Geltung scheint nur mehr im Akt der Rezeption gesichert. Kaum je ist bedacht worden, dass die hier formulierte rezeptionsästhetische Wendung auch den Bereich der Überlieferung berührt, insofern so88
SAMUEL JAFFE: Gottfried von Straßburg and The Rhetoric of History. In: Medieval Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Medieval Rhetoric. Hrsg. von JAMES JEROME MURPHY, Berkeley u. a. 1978, S. 288-318, S. 307: "Actually, however, the substance of Gottfried's opening sententia is as Sallustian as its function. It is, in fact, Gottfried's reformulation of a Sallustian generality (Cat. VIII, 4) well known to late antiquity and the Middle Ages." 89 MARK CHINCA: Gottfried von Straßburg Tristan, Cambridge 1997 (Landmarks of World Literature), S. 45. 90 BEATE KELLNER: Autorität und Gedächtnis. Strategien der Legitimierung volkssprachlichen Erzählens im Mittelalter am Beispiel von Gottfrieds von Straßburg Tristan. In: Autorität der/in Sprache, Literatur, Neue Medien. Vorträge des Bonner Germanistentags 1997. Bd. 2. Hrsg. von JÜRGEN FOHRMANN u. a., Bielefeld 1999, S. 484-508, S. 490.
91
Ebd. S. 491.
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wohl jene mittelalterlichen Handschriften, die Gottfrieds Fragment tradierten, als auch moderne wissenschaftliche Editionen die überkommenen Texte dem kulturellen Gedächtnis ihrer Epoche verfügbar machen, Geltung zuschreiben und sichern. Eine Auffassung von Text als wiederaufgenommener, kommunikativer Handlung verschiebt die literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit von der Rekonstruktion der vermeintlich originären Bedeutung eines (ursprünglichen) Textes - sei es eines Autors, sei es einer Fassung - hin zu der Möglichkeit neuer Ausgestaltungen seiner Sinndimensionen in gewandelten historischen Situationen. Dabei ist die adäquate Beschreibung historischer Kontexte gerade im Bereich mittelalterlicher Literatur aufgrund der schwierigen Quellenlage äußerst kompliziert. Wenn, wie gezeigt wurde, der sozialgeschichtlich orientierte Ansatz der Literarischen Interessenbildung vor der ästhetischen Komplexität bzw. der Entpragmatisierung der Gattung des höfischen Romans kapitulieren muss, so vernachlässigt das Modell Text als Handlung zunächst die spezifisch historische Rahmung ihrer Texte. Auch wenn die Vertreter einer Material Philology der geschichtlichen Einbettung ihrer Texte, d. h. ihrer Handschriften, das Wort reden, so gelang in den bisherigen Analysen der Uberlieferungsträger kaum der Nachweis einer die Historie aufschließenden Interpretation. Schwierigkeiten bereitet es darüber hinaus freilich noch, einen Textbegriff zu entwickeln, der einen operativen Rahmen für die Beschreibung und Interpretation der Varianz im Bereich des höfischen Romans bereitstellen könnte. Denn der Textbegriff, den die altgermanistische Textkritik für das Problem der divergierenden Fassungen der höfischen Romane entwickelt, löst sich zwar, wie oben dargestellt, von der Vorstellung des von einem Autor verantworteten, originären und unveränderbaren Werkes, fundiert den Fassungsbegriff aber in der textanalytisch unspezifischen Kategorie des ,Gestaltungswillens'. Außerdem tritt hier zunächst die textkritische Rekonstruktion der Fassungstexte eines Werkes in den Vordergrund. CERQUIGLINIS Textmodell schließlich, das die mittelalterliche Schreibpraxis als ecriture de la variance versteht, bietet keine Anschlussmöglichkeiten für funktionale Fragestellungen. Das Modell des ,fließenden Texts', der sich permanent und regellos auf allen Ebenen verändert, sperrt sich a priori einer systematischen Analyse der Genese von Varianz.
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Textkritik als Funktionsgeschichte
Exkurs: Bumkes Modell für die Beschreibung variierender Epenüberlieferung U m der Varianz in der Uberlieferung der höfischen Romane angemessen zu begegnen, entwirft JOACHIM BUMKE ein synchrones Beschreibungsmodell, das „1. der Vielgestaltigkeit der zu beschreibenden Phänomene und 2. der Unbrauchbarkeit des herkömmlichen Begriffapparats" gerecht werden soll.92 Das Modell ist ein Versuch, eine Typologie von Varianz mittelalterlicher volksprachlicher Texte zu erarbeiten. Von großer Bedeutung ist es gerade deshalb, weil es die a priori wertende Begrifflichkeit traditioneller Textkritik überwindet und den Möglichkeitsraum von Textvarianz absteckt. Unter dem Begriff der .Epischen Variation' versteht BUMKE „alle Unterschiede zwischen verschiedenen Handschriften und verschiedenen Fassungen eines Epos [...], soweit sie sich nicht als Fehler einzelner Schreiber erklären lassen".93 Damit deckt der Begriff eine Vielfalt von Phänomenen ab, die quantitativ und qualitativ stark differieren und die in den Texten ζ. T. ineinander greifen. BUMKES Modell zielt darauf ab, „alle Variationsphänomene in ein Koordinatensystem" einzuordnen, „das 1. die Art der Variation (was und wie variiert wird) und 2. das Ausmaß der Variation (wie stark variiert wird) erkennen lassen soll".94 Um Varianz qualitativ beschreiben zu können, unterscheidet BUMKE mit seinem Modell zwischen den Kategorien Textbestand, Textfolge und Textformulierung, die sich zu unterschiedlichen Varianztypen kombinieren. 95 Das Kriterium der Quantität von Varianz wird auf den Ebenen Vers, Verspaar und größere Versgruppen untersucht. Morphologische und syntaktische Varianten werden im Beschreibungsmodell separat behandelt. Die Deskription der Phänomene von Varianz soll auf eine Weise geschehen, die - und dies in programmatischer Absicht - ohne Interpretation auskommt: „Das Modell soll gerade dazu dienen, die ganze Palette der verschiedenen Phänomene, die als epische Variationen begegnen, sichtbar zu machen. Die qualitativen Veränderungen, die etwa der Begriff Variation des Textbestands auf den verschiedenen
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BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 390. Ebd. S. 390. Ebd. S. 391. Vgl. z.B. ebd. S. 393: „Tatsächlich ist der Typ .Variation der Textformulierung mit Variation des Textbestands und/oder Textfolge' der häufigste Variationstyp überhaupt."
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Ebenen erfährt, müssen bei der Interpretation der Befunde herausgestellt werden." 96 So zielt das Modell auf eine Darstellung der synchronen Struktur von Varianz (am Beispiel der Nibelungenklage) und verzichtet auf eine Rückkoppelung mit dem komplementären Phänomen der Textkonstanz.97 Es verbleibt in der Innenordnung des untersuchten Textsystems, öffnet vorurteilsfrei den Blick auf die Vielfalt möglicher Erscheinungsformen von Varianz, kann und will diese aber nicht an funktionale Analyse rück binden. Es stellt sich aber die Frage, ob ein solch formal und phänomenologisch orientierter Zugriff das Problem der Textvarianz mittelalterlicher Texte nicht verkürzt. Denn die Bestimmung differierender Typen von Varianz kann ohne thematischinhaltliche und kontextuell-funktionale Frageraster nicht auskommen. Mittels eines solchen Frageansatzes lassen sich Gründe für die Genese von Varianz rekonstruieren. Formal-systematische Modelle stellen zwar die unterschiedlichen Parameter eines Textes dar, die der Varianz unterliegen, aber erst in einem funktional-strukturellen Erklärungsrahmen können diese Veränderungen auf ihre Aussagefähigkeit hin untersucht werden. *
In Anschluss an das Textmodell W O L F G A N G I S E R S soll der Versuch unternommen werden, einen Begriff von ,Text' einzuführen, der kulturhistorische Fragestellungen zur spezifischen Funktion mittelalterlicher Varianz theoretisch zu fundieren vermag. Mit der Einführung und Konzeptionalisierung der Termini Selektion und Kombination als fingierende Akte kann der Begriff des Textes in systematischer Perspektive beschrieben und für die angeführte Fragestellung fruchtbar gemacht werden. Er erlaubt es, die Schreiber von Handschriften als ,Leser' ihrer Vorlagen zu bestimmen, die auf textkonstitutive Merkmale wie Unbestimmtheit und Leerstellen als
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Ebd. S. 396.
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In der Debatte um die Uberlieferungsvarianz auch der höfischen Romane im 12. und 13. Jahrhundert darf das Phänomen der Konstanz der Texte nicht unberücksichtigt bleiben. PETER STROHSCHNEIDER plädiert für eine Analyse des Wechselverhältnisses von Varianz und Invarianz der Texte: „Als Interdependenz solcher relativ situationsabstrakten .Formiertheit' der poetischen Rede und der spezifischen situationeilen variance des Textes, meine ich, müßte man die soziale, also kommunikative Logik des mittelalterlichen Textes rekonstruieren können." (P. S.: Situationen des Textes, S. 85f.)
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Kommunikationsbedingungen des Textes je verschieden reagieren.98 Im Akt der (ab/schreibenden) Rezeption bzw. Reproduktion gelingt oder misslingt die Rekonstruktion des Textes als sinnkonstituierendes System, wird die „textuelle Plastizität" momenthaft arretiert." In ähnlicher Perspektive analysiert A L B R E C H T H A U S M A N N die Überlieferung des Reinmarschen CEuvres, wenn er in Anlehnung an R O M A N I N G A R D E N S Begriff der .Konkretisation' ein rezeptionstheoretisches Autorkonzept veranschlagt.100 H A U S M A N N S Konzept der ,Autorkonkretisation' zielt auf die Rekonstruktion eines textgeschichtlich (relativ) konstanten Corpus von Reinmar-Texten, denen das Prädikat der .historischen Relevanz' zugeschrieben wird, weil sich in ihm über die verschiedenen Rezeptionsakte der mittelalterlichen Schreiber und Redaktoren ein Bild des Autors - als Manifestationsform der Uberlieferung - konkretisiert und sedimentiert. Mit diesem Ansatz lassen sich ohne Zweifel Aussagen über die historische Auffassung Reinmarscher Lieder im 13. Jahrhundert treffen. Doch H A U S M A N N geht noch weiter: Er setzt die rekonstruierten historischen Möglichkeiten der Ausgestaltung des Werkes Reinmars und dessen Varianz als normativen Maßstab heutiger Lektüre und Interpretation dieser Texte. Damit setzt er die von ihm erschlossenen mittelalterlichen Rezeptionsvorgänge absolut; der Autor erscheint von vornherein nur in der Perspektive der Hypostasierung durch Schreiber und Redaktoren des Spätmittelalters. Darin liegt eine theoretische Beschränkung, die mir nicht notwendig scheint.10 Angesichts dieser Konzeptionalisierung mittelalterlicher Uberlieferungsverhältnisse lässt sich kaum mehr fragen, ob es überhaupt noch möglich ist, die Stimme des Autors im Rauschen der Uberlieferung zu hören.102 Um diese dennoch wahrzunehmen, ist es notwendig, das Verhältnis von Autorschaft und Intertextualität näher zu
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J. D O T Z L E R : Leerstellen. In: Literaturwissenschaft. Einführung in ein Sprachspiel. Hrsg. von H E I N R I C H B O S S E / U R S U L A R E N N E R , Freiburg i . B . 1999 (Rombach Reihe Grundkurs 3), S. 211-229. K A R L H E I N Z STIERLE: Die Einheit des Textes. In: Funkkolleg Literatur. Bd. 1. Hrsg. BERNHARD
v o n HELMUT BRACKERT/EBERHARD LAMMERT, F r a n k f u r t / M a i n 1969, S. 168-187, S. 1 8 0 .
100 Vgl. HAUSMANN: Reinmar der Alte als Autor, bes. S. 26-31. 101 Vgl. zur Kritik am Begriff der .historischen Relevanz' auch die Rezension von G E R T H Ü B N E R ZU H A U S M A N N S Buch (in: ZfdPh 120 (2001), S. 456-459). 102 Die Formulierung dieser Frage spielt auf einen Aufsatz von K A R L H E I N Z S T I E R L E zum Verhältnis von .Werk und Intertextualität' an (vgl. K. S.: Werk und Intertextualität. In: Dialog der Texte. Hamburger Kolloquium zur Intertextualität. Hrsg. von W O L F S C H M I D / W O L F - D L E T E R S T E M P E L , Wien 1983 (Wiener slawistischer Almanach 11), S. 7-26).
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betrachten.103 STDERLE bestimmt Intertextualität als ein konstitutives Merkmal poetischer Texte, insofern sich „jeder Text [...] in einem schon vorhandenen Universum der Texte [situiert], ob er dies beabsichtigt oder nicht. Die Konzeption eines Textes finden heißt, eine Leerstelle im System der Texte finden oder vielmehr in einer vorgängigen Konstellation von Texten. [...] Der Konstellation entspringt die Möglichkeit des Textes, die der Text selbst einlöst, über- oder unterbietet." 104 Für meine Überlegungen ist des weiteren STIERLES Unterscheidung zwischen produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Intertextualität von Bedeutung: 105 Die Konfiguration der Texte, der sich der Text verdankt, ist aber nicht identisch mit der Konfiguration, in die der Text für seinen Leser eintritt. Beide Konfigurationen streben immer weiter auseinander, je größer die Distanz zwischen dem ersten Leser und dem aktuellen Leser geworden ist, je mehr Texte sich zwischen den gegebenen Text und seinen Rezipienten schieben.106
Mir scheint, dass auch für die Bestimmung eines mittelalterlichen Werkbegriffs die Scheidung von produktionsästhetischer und rezeptionsästhetischer Intertextualität Berücksichtigung finden muss. Denn diese Differenz in der Bestimmung von Intertextualität vermag zu begründen, weshalb auch bei varianter Uberlieferung die Kategorie der Autorintention bei textkritisch-hermeneutischen Bemühungen von Wichtigkeit ist: Das Werk schafft sich einen Horizont, vor dem es sich in seiner Besonderheit darstellt. Soll dieser Horizont aber ein erfahrbarer, ästhetisch gegenwärtiger Horizont sein, nicht nur ein gewußter Horizont, so bedarf es nicht nur der Verweisimg selbst, sondern ihrer ästhetischen Vergegenwärtigung. Werke sind nicht unendlich bedeutungsoffen. Es sind Äquivalente von Aufmerksamkeitsleistungen. [...] Das Werk setzt die Priorität seiner Werkidentität über seine Offenheit und Unbestimmtheit. So läßt es sich als ein bestimmtes Verhältnis von Bestimmtheit und Unbestimmtheit beschreiben. Das Werk selbst ist das Zentrum eines Sinns, der über es hinausreicht. Es konstituiert ein Sinnfeld, dessen Mittelpunkt es zugleich ist. Alles, was in diesem Feld erscheint, ist auf die Mitte zentriert, die das Werk selbst setzt. Eben deshalb kann auch die .Intertextualität' das Werk nicht dezentrieren.
103 Vgl. hierzu auch MARTIN BAISCH: Autorschaft und Intertextualität. Beobachtungen zum Verhältnis von Autor und Fassung im höfischen Roman. In: Autor - Autorisation - Authentizität. Hrsg. von THOMAS BEIN u. a., Tübingen 2004 (Beihefte zu editio 21), S. 93-102. 104 STffiRLE: Werk und Intertextualität, S. 7. 105 Diese Unterscheidung berücksichtigt Hausmann in seinem Konzept der .Autorkonkretisation' nicht. Deswegen redet er, so meine ich, der Verabsolutierung von Uberlieferung das Wort. 106 STIERLE: Werk und Intertextualität, S. 7f.
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Textkritik als Funktionsgeschichte Das dezentrierte, fremden Texten anheimgefallene Werk müßte seine ästhetische Identität verlieren. 107
Dem Werk bleibt auch angesichts der Bedingungen eines in (autornahen) Fassungen überlieferten Textes jener Sinn als Spur eingeschrieben, die auf die Intention des Autors zurückführen kann. Die Überlieferung eines Textes ist nicht bedeutungsleer und intentionslos, insofern als sich das Verhältnis der Uberlieferung zu ihrem Text als hermeneutisches und pragmatisches bestimmen lässt. Der Text kann in der Uberlieferung - verstanden als Rezeption oder Reproduktion einfach übernommen werden, er kann überboten, korrigiert, erweitert oder ironisch gebrochen werden; er bleibt aber, wohl in den meisten Fällen, im von ihm selbst gesetzten Spielraum. ISERS funktionsgeschichtliches Textmodell weiß sich der außertextuellen Lebenswelt insofern verpflichtet, als es das Verhältnis von Text und Realität als Akte der Selektion und Kombination von Elementen kontextueller Bezugsfelder bestimmt. Der literarische Text wird somit als Eingriff in die für seine Umwelt konstitutiven Sinnsysteme begriffen, aus denen er wiederum hervorgeht. Der Akt der Selektion von Elementen der Textumwelt bezieht sich nach ISER sowohl auf soziokulturelle Norm- und Sinnsysteme als auch auf Elemente der literarischen Tradition. Das heißt, fiktionale Rede selektiert aus den verschiedensten Konventionsbeständen, die sich in der historischen Lebenswelt vorfinden. Sie stellt diese so zueinander, als ob sie zusammengehörten. Deshalb erkennen wir in fiktionaler Rede auch so viele Konventionen wieder, die in unserer bzw. anderen sozialen und kulturellen Umwelten eine regulierende Funktion ausüben; ihre horizontale Organisation bewirkt es allerdings, daß sie nun in unvermuteten Kombinationen auftauchen und dadurch die Stabilität ihrer Geltung verlieren. Folglich erscheinen die Konventionsbestände als sie selbst, weil sie von ihrem lebensweltlichen Funktionszusammenhang abgelöst sind. Sie hören auf, Regulative zu sein, da sie selbst thematisch werden. 108
Innerhalb des neuen poetischen Kontexts sind die Elemente der Textumwelt Reduktionen ausgesetzt, werden sie in neue Sinn erzeugende Ordnungen eingebaut. Die Wertigkeit, welche die Elemente im Rahmen ihrer außertextuellen Organisationsform besaßen, unterliegt dem Wechsel und der Veränderung. Der neue Stellenwert der integrierten Bezugssysteme der Lebenswelt wird für den Rezipienten vor 107 Ebd. S. 14f. 108 WOLFGANG ISER: Die Wirklichkeit der Fiktion. Elemente eines funktionsgeschichtlichen Textmodells der Literatur. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von RAINER WARNING, München 1975, S. 277-324, S. 287; vgl. auch W. I.: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 1991, S. 24f.
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der Folie der ursprünglichen lebensweltlichen Strukturiertheit wahrnehmbar. Als unhintergehbarer Horizont des Vertrauten bildet diese Strukturiertheit den Ausgangspunkt, von dem aus die textimmanente Reformulierung zuerst bestimmbar wird. Die Zielrichtung, die dem Akt der Selektion zugrunde liegt, ist jedoch insofern eine unbestimmte Größe, als sie auf der Textebene nicht artikuliert wird. Die Intention des Selektionsakts ist an die Differenz zwischen der relativen kontextuellen Bestimmtheit der Umweltsysteme und der Unbestimmtheit ihrer Verwendung im Text rück gebunden. Die Intention ist - wie ISER schreibt - „nur über die Manifestationsmöglichkeiten einzukreisen, die sich in der Selektivität des Textes im Blick auf seine Umweltsysteme erkennen lassen".109 Lesen, als Sinn hervorbringende Tätigkeit, besteht nun in der Wahrnehmung der Differenz zwischen dem Horizont des Vertrauten und dem Erfassen der aufgehobenen Geltung der Sinnsysteme. Der Leser sieht sich vor der Aufgabe, die Umcodierung der Bezugsfelder des Textes in ihrer textuellen Reformulierung nachzuvollziehen.110 Die Sinnkonstitution des Textes erweist sich als Kommunikation des Lesers mit dem Text zur Aufhebung von Kontingenz. Denn ein fiktionaler Text bildet nicht die in der Lebenswelt herrschenden Normen- und Orientierungssysteme ab, vielmehr selektiert er nur aus ihren Beständen und erweist sich durch die Anordnung gewählter Elemente gegenüber solchen Systemen als kontingent. Ahnliche Kontingenzbeträge ergeben sich zwischen Text und Leser. So wenig der Text eine homologe Entsprechung zur Realität darstellt, so wenig steht er in homologer Beziehung zum Wert- und Dispositionsrepertoire seiner möglichen Leser.
Begriff der Kombination von Textelementen bezeichnet die innertextuelle Entsprechung zum Begriff der Selektion.112 Der Akt der Kombination bezieht sich auf die unterschiedlichen Organisationsebenen des Textes. Worauf ISER mit der Einführung dieses Begriffs den Blick lenkt, ist der sinnproduzierende Vorgang der Relationierung von Textelementen: „So erzeugt die Kombination als Akt des Fingierens innertextuelle Relationierung."113 Textbedeutung stellt sich allererst im wechselseitigen Bezug der Textelemente her: Die SinnpoISERS
109 ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 27. 110 Nach ISER geraten die in den Text integrierten Elemente der Bezugskontexte in ein semantisches Oszillieren: „Das Repertoire-Element ist daher weder mit seiner Herkunft noch mit seiner Verwendung ausschließlich identisch, und in dem Maße, in dem ein solches Element seine Identität verliert, kommt die individuelle Kontur des Textes zum Vorschein." (ISER: Die Wirklichkeit der Fiktion, S. 300) 111 ISER: Die Wirklichkeit der Fiktion, S. 294. 112 Vgl. ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 27-34. 113 ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 29.
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Textkritik als Funktionsgeschichte
sitionen gewinnen ihre Stabilität und Bestimmtheit nicht aus sich selbst, sondern nur in differentieller Bezogenheit auf andere Sinnpositionen des Textes. Wie im Falle des Aktes der Selektion verweist der Text in seiner Oberflächenstruktur nicht auf die Intentionen der Relationierung seiner Textelemente. Denn Relationierung im Text läuft nicht über das Relais einer dritten Dimension, deren Bestimmtheit darüber verfügen würde, was überhaupt verbunden werden darf. Statt dessen entsteht die Relationierung der Textsegmente - und das heißt der Schemata eingekapselter Positionen aus der Textumwelt - durch wechselseitiges Aufprägen ihrer Verschiedenheit." 4
Selektion wie Kombination verweisen somit auf die grundlegende Unbestimmtheit literarischer Kommunikation, die der Leser durch Versuche der Rekonstruktion der in den Text eingegangenen Sinnbildungsmuster und ihrer Umcodierung je neu aufhebt. 115 Vor diesem Verständnishorizont wird volkssprachliche Varianz als Form aktiver Rezeption beschreibbar, durch die der Schreiber einer Handschrift im gewandelten Sinnhorizont seiner Situation umschreibend auf die konstitutive Unbestimmtheit literarischer Kommunikation reagiert. Uberlieferung wird somit als Rezeption aufgefasst, die sich interpretationshaft entfaltet: „Jede einzelne Interpretation ist die Aktualisierung einer in der Werkstruktur fundierten Sinnmöglichkeit." 116 Varianz reformuliert die in der Vorlage selektierten Text/Umwelt-Beziehungen und erneuert - bezogen auf den Akt der Kombination - die Organisation der Textelemente im neuen Kontext des entstehenden Uberlieferungsträgers. Wie schon angeführt, entsteht Bedeutung in einem Text über Relationierung von Textelementen, die über die jeweilige und wechselseitige Bezugnahme neue Sinndimensionen erlangen, die ihnen zuvor nicht eigneten. Uberlieferung als Rezeption antwortet regulierend und stabilisierend auf die Ausweitung der Sinndimensionen von Textelementen, indem sie die ausgewählten Elemente neu im Textgefüge eingliedert. In extremen Fällen von Uberlieferungsvarianz kann es zu Verschiebungen im Text kommen, die auch die Struktur des Werkes als Ganzes betreffen. Hier kommt es zu Rückkopplungseffekten zwischen den Prozessen der ReKombination und Re-Selektion, in deren Verlauf bereits aktualisierte
114 ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 390. 115 Vgl. hierzu auch WOLFGANG ISER: Die Appellstruktur der Texte. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von RAINER WARNING, München 1975, S. 228252. 116 WOLFGANG ISER: Im Lichte der Kritik. In: Rezeptionsästhetik. Theorie und Praxis. Hrsg. von RAINER WARNING, München 1975, S. 325-342, S. 330.
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Neuselektionen bestimmte Relationierungen aktualisieren, umgelten oder aufheben. Die Applikation des ISERSCHEN Textmodells als rezeptionsästhetischer Bezugsrahmen auf den Bereich volkssprachlicher Varianz ermöglicht eine adäquate Deskription der Uberlieferungsvorgänge, indem das Modell über die Funktionsweisen der Akte der Selektion und Kombination bzw. deren nicht versprachlichte Intentionalität das Moment textkonstitutiver Unbestimmtheit herausarbeitet, auf das mittelalterliche Rezeption Sinn bildend reagiert. Umgekehrt vermag die Rezeptionstheorie von der Horizonterweiterung, welche die Perspektive auf das mittelalterliche Material darstellt, zu profitieren, indem sie eine spezifische, historische Modellierung von Rezeption untersuchen kann. 117 Damit hört der Leser auf, nur Fiktion zu sein. Doch meint dies nicht, dass der so .real' gewordene Leser in seiner .Lektüre' nicht auch auf diskursiv vorgegebene Konzeptionalisierungen von »Lesen' reagiert: Der Leser ist aber auch in der Rezeptionstheorie weiterhin stets ein Kollektiv-Singular. Ein individuelles Lese-,Werk' wird an keiner Stelle aufgezeichnet. [...] Durch die Lese-Position ist, funktional betrachtet, geregelt, wer was wann und wie sich welches literarische Wissen aneignen kann, darf oder muß. Sie ist wie die Autorposition einem historischen Wandel unterworfen. ,Der' Leser ist allerdings im Unterschied zum individualisierbaren Autor eine Fiktion. Was wir beschreiben können, sind institutionell verankerte, historische Leser-Positionen, deren diskursive Bedingungen den einzelnen Leseakt bestimmen. 1 "
Dass die mittelalterlichen Uberlieferungsverhältnisse es - bei entsprechender Ausrichtung der Fragestellung - erlauben können, des .Lesers' habhaft zu werden, hat die Forschung schon gesehen, ohne ausreichend Konsequenzen aus diesem Sachverhalt zu ziehen. 119 117 PIERRE BOURDIEUS literatursoziologische Überlegungen haben ergeben, dass historisch und gesellschaftlich unterschiedliche Aneignungsweisen von Kunst und Kultur anzunehmen sind. Vgl. PIERRE BOURDIEU: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes. Übersetzt von BERND SCHWIBS/ACHIM RUSSER. Frankfurt/Main 1999 (Les regies de l'art. Genese et structure du champ litteraire. Editions du Seuil, Paris 1992); MARKUS SCHWINGEL: Kunst, Kultur und Kampf um Anerkennung. Die Literatur- und Kunstsoziologie PIERRE BOURDIEUS in ihrem Verhältnis zur Erkenntnis- und Kultursoziologie. In: IASL 22 (1997), S. 109-151. 118 BOGDAL: Historische Diskursanalyse der Literatur, S. 146. 119 GÖTTERT: Die Spiegelung der Lesererwartung in den Varianten mittelalterlicher Texte (am Beispiel des Riinbari Fuchs), S. 95: „Denn die auf immer neuen Abschriften beruhende Tradierung älterer Literatur bewahrt uns in den Varianten der Schreiber ein bei Lichte besehen unschätzbares Material immer neuer Manifestationen der Wirkung der tradierten Texte und aufgrund der spezifischen Tradierungsform eben Zeugnisse über den Vorgang einer individuellen Aneignung - eine A n Fixierung des .Lesens'."
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3.4. Text als Konterdiskurs „Daraus folgt zunächst, daß das Repertoire eines fiktionalen Textes nicht als Abbild gegebener Verhältnisse zu verstehen ist. Wenn überhaupt, so bildet er bestenfalls gegebene Verhältnisse im Zustand ihres Uberschrittenseins ab, und da ein solcher Zustand keine Qualität gegebener Verhältnisse ist, steht der fiktionale Text zwischen Vergangenheit und Zukunft. Seine .Gegenwärtigkeit' hat insofern den Charakter des Geschehens, als das Bekannte nicht mehr gemeint und das Intendierte nicht formuliert ist."120
Wenn mit ISERS Textmodell die formalen Mechanismen von Textproduktion systematisch beschrieben werden können, die Erschließung der Textbedeutung durch den Leser als Sinn bildende Auffüllung von Unbestimmtheitsstellen erfasst wird, so bleibt die Frage nach dem Status jener Eingriffe in die kontextuellen Bezugsfelder, die zur Konstitution eines Textes führen. Solche Bezugnahmen lösen aus den außertextuellen wirklichkeitsmodellierenden Systemen .Repertoire-Elemente' heraus und rekontextualisieren sie im entstehenden Text. Dabei lassen sich vielfältige Verschiebungen im Bedeutungsgefüge integrierter Bezugnahmen beobachten. So sind die Repertoire-Elemente im Text Verschiedenes zugleich. Sie halten den Hintergrund parat, dem sie entnommen worden sind. Gleichzeitig aber setzt die neue Umgebung die Beziehungsfähigkeit der wiederkehrenden Normen bzw. der Konventionsbestände frei, die im alten Kontext durch ihre Funktion gebunden waren.121
Verfahren, die historisch-systematisch sprachliche Ausbettungen aus je gegebenen situativen Kontexten, deren Vermittlungen und Einbettungen in Texten decodieren, könnte man als diskursanalytisch bezeichnen. Zuletzt hat sich RAINER WARNING grundsätzlich mit den
Möglichkeiten
einer literaturwissenschaftlichen
Applikation
der
FOUCAULTSCHEN Diskursanalyse auseinandergesetzt. In Anschluss
an den französischen Philosophen hält WARNING fest, dass Diskurse „eine bestimmte Wissensformation, eine Episteme" darstellen: Als solche sind sie [die Diskurse] immer schon historisch spezifizierte Einheiten von Aussagen, die sich systematischer Klassifizierbarkeit entziehen, aber auch nicht nach ihr verlangen, und sie sind schließlich eingelassen in ein Substrat, das Foucault diskursive Praxis nennt, d. h. es sind, linguistisch gesprochen, pragmatisch fundierte Einheiten der Rede.122
120 ISER: Die Wirklichkeit der Fiktion, S. 300f. 121 ISER: Die Wirklichkeit der Fiktion, S. 300. 122 RAINER WARNING: Poetische Konterdiskursivität. Zum literaturwissenschaftlichen Umgang mit FOUCAULT. In: DERS.: Die Phantasie der Realisten, München 1999, S. 313-345, S. 315.
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Als eine Variante der literaturwissenschaftlichen Anwendung der Diskursanalyse charakterisiert WARNING die Interpretation poetischer Texte auf die in ihnen sedimentierte Wissensformation: „Man ging mit poetischen Texten um wie Foucault mit wissenschaftlichen, fand also in mittelalterlicher Literatur die Episteme der Ähnlichkeit, in klassischer Literatur eine taxonomisch repräsentierende Wissensorganisation und in nachklassisch-moderner Literatur Geschichtlichkeit und Tiefendimensionalität."123 So hat ζ. B. JOACHIM KÜPPER den Analogismus als Basis-Merkmal der mittelalterlichen Rede zu definieren versucht.124 Nach KÜPPERS Skizze prägen figurale und allegorische Konzepte den mittelalterlichen Diskurs: Man wird im Hinblick auf das Mittelalter an zwei ergänzenden Momenten festhalten müssen, zum einen dem einer von den Texten selbst eingeforderten allegorischen Lektüre, d. h. letztlich einer F o r m von weiter verstandener rhetorischer Allegorie, sodann dem der Prästabilitiertheit der Sekundärbedeutungen, im Sinn einer Hegemonie christlicher Vorstellungen. Diese Merkmale sind indes nicht zu beziehen auf die einzelnen Texte, sondern auf den Diskurs und dessen dominante Entwicklungstendenzen; konkret: es gibt im Mittelalter sehr wohl Texte, die nicht das eine oder nicht das andere und auch solche, die beide genannten Merkmale nicht erfüllen, aber es ist Kennzeichen der mit dem Namen Mittelalter belegten Epoche, entsprechende Texte im Zuge der weiteren Tradierung [...] mehr und mehr den entsprechenden zwei Gestaltungsprinzipien zu unterwerfen. 125
Trotz der hier aufscheinenden Vorsicht KÜPPERS, zwischen Diskursmerkmalen und Texteigenschaften zu unterscheiden, mag man WARNINGS Kritik anführen, der dieser Herangehensweise „Mimesis an diese Episteme" und den „Verzicht auf Ausdifferenzierung spezifisch poetischer Diskurse" vorwirft.126 KÜPPERS Bemerkungen zum höfischen Roman, der sich der „kolonialisierenden Aktivität des Analogismus"127 nicht entziehen könne und u. a. über die Strukturierungsleistung des .doppelten Kurses' von einer unerlösten, aber erlösbaren Welt erzähle, laufen Gefahr, diesem Reduktionismus zu erliegen bzw. über den gelungenen Nachweis der Episteme in der
123 Ebd. S. 316. 124 JOACHIM KÜPPER: Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderon. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990 (Romania Monacensia 32), S. 232. 125 Ebd. S. 237. 126 WARNING: Poetische Konterdiskursivität, S. 316. 127 KÜPPER: Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Calderon, S. 257.
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Textgattung hinaus keine weitere Entzifferungsleistung der Literarizität dieser Texte ermöglichen zu können.128 Im Rückgriff auf Positionen MICHEL FOUCAULTS versucht WARNING, das Konzept „einer systematischen Fundierung poetischer Nicht-Diskursivität, poetischer Konterdiskursivität" zu entwickeln129. Dabei geht er von der Beobachtung aus, „daß Foucault poetische Texte grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis zu diskursiv organisiertem Wissen, also zur .Ordnung des Diskurses' sieht, als Freiraum neben und außerhalb von Machtdispositiven."130 Hinter WARNINGS Bemühungen, den diskursanalytischen Ansatz als literaturwissenschaftlichen systematisch zu fundieren, liegt das „Postulat nach einer Dialektik von Einbettung und Ausbettung"131. Erst mit Hilfe dieser Perspektive können Bezugnahmen von poetischen Texten als Affirmationen oder Distanzierungsbewegungen beschrieben werden und strukturell und funktional analysiert werden. Doch sind gegen eine Applikation der FOUCAULTSCHEN Diskursanalyse auf die Epoche des Mittelalters Gründe geltend gemacht worden, die sich gegen WARNINGS systematische Bestimmung von poetischer Konterdiskursivität wenden: Weder kann [im Mittelalter] eine komplexe Ausdifferenzierung von Diskursen vorausgesetzt werden, noch entspricht der mittelalterliche Institutionenbegriff dem modernen. V o r allem aber sind mittelalterliche Wissensdiskurse weitgehend nicht autonom, sondern vielfach durch theologische und politische Prämissen geprägt. [...] Zu historisieren ist in diesem Zusammenhang auch die Rolle der Literatur im engeren Sinne, die noch zahlreiche Funktionen vereinigt, die in der Moderne an andere Diskurse delegiert worden sind. Literatur bildet im 12. Jahrhundert kein autonomes semiotisches System, auch nicht einen kritischen Gegendiskurs zur gesellschaftlichen Normierung wie in der Moderne, obgleich spezifische ästhetische Formationsregeln ihr durchaus einen besonderen Status zuweisen. 132 128 Vgl. zum problematischen Interpretament des .doppelten Kursus' ELISABETH SCHMID: Weg mit dem Doppelweg. Wider eine Selbstverständlichkeit der germanistischen Artusforschung. In: Erzählstrukturen in der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg. von FRIEDRICH WOLFZETTEL unter Mitwirkung von PETER IHERING, Tübingen 1999, S. 69-85. 129 WARNING: Poetische Konterdiskursivität, S. 317. Vgl. auch DERS.: Das Imaginäre der Proustschen 'Recherche. Mit einem Beitrag von KARLHEINZ STIERLE zur Erinnerung an HANS ROBERT JAUSS, Konstanzer Universitätsreden 201, 1999, S. 15-53. 130 WARNING: Poetische Konterdiskursivität, S. 317. 131 Ebd. S. 318. 132 UDO FRIEDRICH: Die Zähmung des Heros. Der Diskurs der Gewalt und Gewaltregulierung im 12. Jahrhundert. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER/HORST WENZEL, Stuttgart, Leipzig 1999, S. 149-179, S. 153f. BEATE KELLNER verweist auf die gegenüber der Neuzeit geringere Datenmenge im Mittelalter, wodurch die Rekonstruktion diskursiver Vernetzungen
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Doch trifft diese Kritik, die auf generellen und in ihrer Allgemeinheit nicht widerlegbaren Epochendifferenzen zwischen .Mittelalter' und ,Moderne' beharrt, nicht WARNINGS Entwurf von poetischer Konterdiskursivität, weil dieser im Rückgriff auf CORNELIUS CASTORIADIS' Bestimmung des .Radikal Imaginären' grundlegender ansetzt: „Als eigentliches Movens poetischer Konterdiskursivität gilt es das Imaginäre zu erkennen und anzuerkennen."133 Das Imaginäre, wie es CASTORIADIS in die Diskussion eingebracht hat, begreift dieses als unhintergehbare Voraussetzung der Institutionalisierung von Gesellschaft.134 Damit weitet das Imaginäre seinen Wirkungsort aus: Vom Vermögen einer Person wird es zur Bedingung der Entstehung von Gesellschaft. „Romantisches Subjekt sowie thetisches Bewußtsein als aktivierende Instanzen des Imaginären werden hier durch die Instituierung von Gesellschaft ersetzt. Damit tritt CASTORIADIS in seinem Zugriff auf das Imaginäre aus dem Horizont einer im weitesten Sinne verstandenen Subjektphilosophie heraus. Dieser Schritt vom Subjekt zur Gesellschaft ist auffälligerweise mit einer Globalisierung des Imaginären verbunden."135 CASTORIADIS führt die Kategorie des Imaginären ein, weil so das Gemachtsein von Gesellschaft herausgearbeitet werden kann: „Als Möglichkeit gesellschaftlicher Selbstveränderung wird .radikal Imaginäres' ein Letztes, das Gesellschaft als Medium seines Erscheinens ebenso braucht, wie Gesellschaft als Institution durch Imaginäres allererst ist."136 In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, wie in diesem Ansatz die .Psyche' konzipiert wird. Wie WARNING betont, orientiert sich CASTORIADIS am FREUDSCHEN Modell: „Der Grundgedanke FREUDS, den CASTORIADIS aufnimmt, ist die Annahme eines Begeh-
erschwert werde (Β. K.: Gewalt und Minne. Zu Wahrnehmung, Körperkonzept und Ich-Rolle im Liedkorpus Heinrichs von Morungen. In: PBB 119 (1997), S. 33-66, S. 42 Anm. 30). Vgl. auch MARTIN IRVINE: Medieval Textuality and the Archaeology of Textual Culture. In: Speaking T w o Languages. Traditional Disciplines and Contemporary Theory in Medieval Studies. Hrsg. von ALLEN J. FRANTZEN, N e w York 1991, S. 181-210. 133 WARNING: Poetische Konterdiskursivität, S. 318. 134 CORNELIUS CASTORIADIS: Gesellschaft als imaginäre Institution. Entwurf einer politischen Philosophie. Übersetzt von HORST BRÜHMANN, Frankfurt/Main 1984. DERS.: Radical imagination and the social instituting imaginary. In: Rethinking Imagination. Culture and Creativity. Hrsg. von GILLIAN ROBINSON, London, N e w York 1994, S. 136-154. Vgl. auch ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 350-377. 135 ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 355. CASTORIADIS: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 225: Jenseits der bewußten Tätigkeit der Institutionalisierung finden die Institutionen ihren Ursprung im gesellschaftlichen Imaginänn" 136 ISER: Das Fiktive und das Imaginäre, S. 357.
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rens, das prinzipiell nicht realisierbar ist." 137 Während FREUD aber den Mangel unerfüllten Begehrens in phantasmatischen Repräsentationen aufhebt, das ödipale Begehren etwa in ödipalen Träumen erfüllt weiß, situiert CASTORIADIS das unstillbare Begehren der Psyche in sich selbst: Das einzige unerfüllbare (und eben darum unzerstörbare) Begehren ist für die Psyche nicht etwa dasjenige, das im Realen niemals vorkommen könnte, sondern das, was als solches in der Vorstellung in der psychischen Realität niemals zu erscheinen vermag. Was fehlt und immer mangeln wird, ist das Unvorstellbare jenes .Urzustands' vor aller Trennung und Differenzierung, jene Proto-Vorstellung, die die Psyche nicht mehr hervorzubringen imstande ist, die aber ins psychische Feld unzerstörbare Kraftlinien eingezeichnet hat, daß darin Gestalt, Sinn und Lust eine unzertrennliche Einheit bilden. Dieses erste Begehren ist irreduzibel, weil es sich auf etwas richtet, das weder in der Realität ein Objekt findet, in dem es sich verkörpern könnte, noch in der Sprache Worte findet, in denen es sich aussprechen könnte. Nur in der Psyche selbst findet es ein Bild, um sich Gestalt zu geben. Hat die Psyche erst einmal die Erfahrung des Bruchs mit ihrem monadischen .Zustand' gemacht, wozu das .Objekt', der andere und der eigene Körper sie nötigen, so hat sie für immer ihre Mitte verloren und ist stets an dem orientiert, was sie nicht mehr ist, was nicht mehr ist und nicht mehr sein kann. Die Psyche ist ihr eignes, verlorenes ObjektP1
Das Imaginäre im Kontext der Psyche kann letztlich als Differenzprinzip beschrieben werden, weil es - ausgerichtet auf die Reproduktion einer für immer verlorenen Einheit - als radikale Dynamis, als permanentes Anderswerden, als ein „Strom von Vorstellungen / Affekten / Strebungen" 139 auf das Uneinholbare zielt, ohne es je erreichen zu können. 4 0 Die Einwirkung des Sozialen auf das Psychische tilgt aber keinesfalls ihr kreatives Vermögen, permanent das eigene Anderswerden in Gang zu halten: „In diesem Sinne bleibt das gesellschaftlich Imaginäre bedingt durch das radikal Imaginäre der Psyche, was jeden Versuch illusorisch erscheinen läßt, auf der Ebene sozialer Bedeutungen Begriffe zu isolieren, die einem rein identitätslogischen Denken gehorchen. Man kann kein Wissen konzipieren, keine E-
137 138 139 140
WARNING: Das Imaginäre der Proustschen Recherche, S. 20. CASTORIADIS: Gesellschaft als imaginäre Institution, S. 49 lf. Ebd. S. 603. WARNING: Das Imaginäre der Proustschen Recherche, S. 22: „Was sich logisch als Identität darstellt, ist unter der Perspektive des Imaginären eine Einheit i m Zeichen der Differenz, des Aufschubs, des unabschließbaren Anderswerden. Erst damit ist dann auch das Imaginäre selbst konsequent differentiell gedacht und nicht auf einen unifizierenden G r u n d zurückgebracht."
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pisteme, die nicht immer schon markiert, ja geradezu imprägniert ist, durch das Imaginäre [...]."141 Das Imaginäre kann bei der kritischen Analyse von Diskursformationen nicht ausgeschlossen werden, weil auch das Imaginäre, das kontextuellen Wissensbereichen entstammt, dieses Wissen nicht einfach inventarisiert, gliedert, wiederholt und neu kombiniert: „Vielmehr wird dieses Wissen unter eine kritische Perpektive gebracht."142 W A R N I N G fundiert also sein Konzept eines poetischen contre-discours in der Kategorie des Imaginären, die er in unlösbarer Einheit mit den Wissenssystemen einer Epoche verbunden sieht. Er geht davon aus, dass es kein Wissen ohne imaginäre Besetzungen gibt, wie vice versa keine Hervorbringungen des Imaginären existieren, die nicht Teil des Wissens wären. Die Episteme und das Imaginäre bilden also eine wesentlich komplexe, eine wesentlich hybride Einheit [...]. Man kann mit dem Wissen entweder ernsthaft und diszipliniert umgehen, oder aber mehr zwanglos-spielerisch. Man wird also eine solche pragmatische Achse ansetzen müssen, um auf der eigentlich diskursiven Ebene zu jener Skala von mehr oder weniger disziplinierten Diskursen zu gelangen, also von Diskursen, die mehr oder weniger dem unterworfen sind, was Foucault selbst die Ordnung der Diskurse nennt. Den Wissensdiskurs und den poetischen Konterdiskurs in Opposition setzen ist nicht eine semantische, sondern eine pragmatische Operation. Man kann nicht .indizieren', was dem Wissen und was dem Imaginären angehört, weil der Konterdiskurs ebenfalls über Organisationsprinzipien, über Formationsregeln verfügt, wie sie etwa die Gattungsregeln darstellen. Man wird folglich diese Regeln befragen müssen auf Merkmale, kraft derer der poetische Konterdiskurs sich unterscheidet von jedwedem anderen Diskurs, der Strategien der Exklusion und der internen Disziplinierung unterworfen ist. 143
Gerade aber wenn es stimmt, dass für das Mittelalter noch keine komplexe Ausdifferenzierung von Diskursen im modernen Sinn anzusetzen ist und dass die Literatur dieses Zeitalters noch zahlreiche Funktionen in sich vereinigt und kein autonomes semiotisches System ausgebildet hat, gewinnt eine Analyse mittelalterlicher poetischer Texte und ihrer Uberlieferung, die das Zusammenspiel von Imaginärem und dem Wissen in den Blick rückt, eine eigene Berechtigung und erhöhte Bedeutung.
141 WARNING: Poetische Konterdiskursivität, S. 321. 142 Ebd. S. 318. 143 Ebd. S. 322.
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3.5. Kommentar und Überlieferung Mag man auch mit guten Gründen von einer grundsätzlichen ,Kommentarunbedürftigkeit' des literarischen Kunstwerks ausgehen; mag man veranschlagen, dass der Text seinen eigenen Kontext stellt - und damit seinen eigenen Kommentar,144 so verkennt man doch die gegebene Praxis der Kommentierung, die - obwohl es sie vielleicht nicht geben sollte - als ein Missverständnis eine normative Kraft des Faktischen je entwickelt hat und Anerkennung fand.145 Als Beispiel hierfür kann die Uberlieferungsgeschichte des Tristan-KoToam Gottfrieds von Straßburg dienen. Bekannter Weise zeichnet sich Gottfrieds Erzählweise durch eine Vielzahl von Exkursen und Kommentaren aus, welche die narrative Handlung - in welcher Absicht auch immer - begleiten: In aller Deutlichkeit liefert hier ein durch die klerikale Schriftkultur geprägter Autor einen Kommentar in bzw. zu seinem Text. Die Uberlieferung stößt sich indessen an Gottfrieds kommentierender Erzählpraxis. Die Minnegrotte mit ihrer Allegorese in Gottfrieds Trätaff-Fragment ist eine jener Passagen, die im Münchner Tristan-Codex Cgm 51 durch ihren Redaktor besonders große Veränderungen in der Textgestalt erfahren hat.146 In keiner Episode ist der Abstand des Textes gegenüber anderen Fassungen des Romans größer als hier. Die Rücknahme der allegorisch-kommentierenden Textmodellierung im Münchner Codex, die in dieser Textfassung zu beobachtende .Sinnentlastung' von theologischen Denkformen und Methoden, die Leugnung des Konflikts zwischen Liebe und Gesellschaft, schließlich die Tilgung des Lektürevorschlags, senemtm als Therapie für Liebende - im Prolog wie in der Minnegrottenepisode angezeigt 144 HORST-JÜRGEN GERIGK: Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, Berlin, New Y o r k 1975, S. 189-209, bes. S. 192: „Kommentieren heißt [...] auf außerfiktionale Realitäten Bezug nehmen, auf Realitäten, die genauso vorhanden wären, wenn es den Text nicht gäbe. Diese Feststellung hat nun eine Präzisierung erfahren. Es wurde deutlich, daß mit den außerfiktionalen Realitäten die erschlossenen Dinge und nicht die erschließenden Situationen gemeint sind, denn diese werden durch den Zugriff des Kommentars ja gerade außer Kraft gesetzt. Die Abwertung jeglichen Kommentars als Bezugnahme auf außerfiktionale Kontexte sei nun positiv zu der Behauptung vorgetrieben: Das Kunstwerk ist sein eigener Kontext. Das heißt: Es setzt die benötigten Dinge derart ein, daß alle Kontexte, in denen diese ansonsten stehen, beseitigt oder in den Hintergrund gerückt werden. Mit einem Wort: Das Kunstwerk stellt den Kontext, aus dem es spricht, selbst her." 145 Einen Uberblick über das facettenreiche Bild mittelalterlicher Kommentarformen und ihrer Funktionen bietet CHRISTOPH HUBER: Formen des .poetischen Kommentars' in mittelalterlicher Literatur. In: Commentaries - Kommentare. Hrsg. von GLENN W. MOST, Göttingen 1999 (Aporemata 4), S. 323-352. 146 Vgl. hierzu das Kapitel 5.4. In der Minnegrotte.
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zu nutzen, offenbaren eine komplexe Dekomplexierung des Textes, die gerade nicht auf ein Unverständnis seines Bearbeiters zurückgeführt werden sollte. Sowohl Gottfrieds Verfahren der Sinnmodellierung wie auch die Suspension dieser Textebene in der Uberlieferung können als Belege einer Praxis der Kommentierung gelten. Folgt man der These von der .Kommentarunbedürftigkeit' des literarischen Textes, verkennt man zudem, dass Kommentierung nicht nur viel geübte Praxis ist, sondern überdies Funktionen übernimmt: Es gibt offensichtlich viele andere Prozeduren der Kontrolle und Einschränkung des Diskurses. Diejenigen, von denen ich bis jetzt gesprochen habe, wirken gewissermaßen von außen; sie funktionieren als Ausschließungssysteme; sie betreffen den Diskurs in seinem Zusammenspiel mit der Macht und dem Begehren. Ich glaube, man kann noch eine andere Gruppe ausmachen. Interne Prozeduren, mit denen die Diskurse ihre eigene Kontrolle selbst ausüben; Prozeduren, die als Klassifikations-, Anordnungs-, Verteilungsprinzipien wirken. Diesmal geht es darum, eine andere Dimension des Diskurses zu bändigen: die des Ereignisses und des Zufalls. Hier ist in erster Linie der Kommentar zu nennen.1
FOUCAULTS formale Funktionsbestimmung des Kommentars verweist auf seine (sinn)modellierende und klassifikatorische Potenz. So verdeutlicht Gottfrieds virtuoses Spiel mit der Form des Kommentars vielleicht dessen eigentliche „Aufgabe, das schließlich zu sagen, was dort schon verschwiegen artikuliert war. Er muß (einem Paradox gehorchend, das er immer verschiebt, aber dem er niemals entrinnt) zum ersten Mal das sagen, was doch schon gesagt worden ist, und muß unablässig das wiederholen, was eigentlich niemals gesagt worden ist."148 Mit Blick auf die oben erläuterte Auffassung von Text als „stabilisierte!/] Kommunikation" 149 definiert JAN ASSMANN den Kommentar als eine jener „Institutionen, die der Wiederaneignung einer in die Schrift ausgelagerten sprachlichen Äußerung und der Wiederherstellung ihres .Textes' dienen."150 Kommentierung wird notwendig, u m den mit einem spezifischen Text verbundenen Bedeutungszusammenhang identisch zu halten. Dies setzt voraus, dass es sich hierbei um einen Text handelt, dem eine besondere Geltung innerhalb einer historischen und kulturellen Situation zugeschrieben wird. 147 MICHEL FOUCAULT: Die Ordnung des Diskurses. Inauguralvorlesung am College de France, 2. Dezember 1970, Frankfurt/Main, Berlin, Wien 1977, S. 15f. 148 Ebd. S. 18. 149 STIERLE: Die Einheit des Textes, S. 181. 150 JAN ASSMANN: Text und Kommentar. Einführung. In: Text und Kommentar. Archäologie der literarischen Kommunikation IV. Hrsg. von J. A . / BURKHARD GLADIGOW, München 1995, S. 9-33, S. 22.
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Im Falle der kulturellen Texte, auf deren Tradition die kulturelle Identität einer Gesellschaft beruht, muß ein solches Abdriften nach außen unter allen Umständen verhindert werden. Sie müssen im Innenhorizont des zirkulierenden Sinnvorrats verbleiben.151
Durch die Institution des Kommentars kann verhindert werden, dass verdrängte und verborgene Sinnschichten im Text aktualisiert werden. Anpassungsleistungen des Textes als Formen der Amplifikation, Akkomodation, Glossierung und Ubersetzung verweisen andererseits auf gewandelte historische Kontexte mit veränderten Geltungsansprüchen. Man kann als .ausbeutendes Verstehen' brandmarken, was innerhalb eines bestimmten Kontextes als Praxis den Umgang mit Texten steuert. Wer kommentiert, weiß sich im Besitz des größeren, des einschlägigen Wissens. Wer kommentiert, weiß um den Kontext, aus dem ein Text spricht. Wer kommentiert, geht - und sei es stillschweigend - von der Voraussetzung aus, daß jeder Text aus einem Kontext zu uns spricht, den er nicht bei sich trägt. Mithin sei es nötig, diesen Kontext wieder herzustellen, um verstehen zu können, was der Text sagt.152
Als funktionsäquivalente Institutionen antworten Kommentar und Uberlieferung regulierend und stabilisierend auf veränderte Kontextbedingungen und spezifische Herausforderungen der tradierten Texte. Dieser Vergleich zwischen der Textform Kommentar und der Uberlieferung mittelalterlicher Texte - und sei es auch nur, um nach einer etwaigen Funktionsäquivalenz zu fragen - postuliert eine vielleicht fragwürdige, jedoch zumindest provozierende Aufwertung mittelalterlicher Tradierung von Texten.
3.6. Die Unverfügbarkeit der Uberlieferung In einer Untersuchung zum Romanwerk Chretiens de Troyes, welche die Dialektik von Erinnern und Vergessen in diesen Texten problematisiert, spricht KARLHEINZ STIERLE von der Unverfügbarkeit der Erinnerung und dem Gedächtnis der Schrift. STIERLE entwickelt seinen Erinnerungsbegriff in Analogie zum Konzept des Imaginären, wie es von CASTORIADIS charakterisiert wurde: Erinnerung ist unverfügbar. Sie blitzt auf, steht unversehens vor Augen und widersetzt sich aller Bemühung, ihrer habhaft zu werden. Aber sie läßt sich auch nicht löschen, ja sie kann insistent sein bis zur Obsession. Was ist es, 151 Ebd. S. 24. 152 GERIGK: Entwurf einer Theorie des literarischen Gebildes, S. 190. Zum Begriff des .ausbeutenden Verstehens' vgl. ebd. S. 59-63.
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das sie aus der Gestaltlosigkeit des ans Vergessen zurückgefallenen Vergangenen als eine farbige, lebendige Präsenz vor einem Hof schattenhafter Gedächtnisfiguren hervortreten läßt? Wie vom Imaginären ist das tagträumende Bewußtsein von vagierenden Erinnerungen durchzogen und durchtränkt. Nomadenhaft durchstreifen die nvenants des Gewesenen das Feld des gegenwärtigen Bewußtseins und geben ihm bruchstückhaft Kenntnis von der zeitlichen Geschichtetheit des Selbst. Durch die Erinnerung erfährt das Ich sich in der Unverfügbarkeit seines Gewesen- und Gewordenseins, vor einem permanenten Hintergrund dessen, was für immer oder für jetzt dunkel und unabsehbar geworden ist. In ihrer Unverfügbarkeit ist Erinnerung eine Gabe und Last, die dem Ich beständig das Unheimliche seiner Konturenlosigkeit und Plastizität vor Augen hält.153
Gedächtnis als das Vermögen der Erinnerung wird von einem Ich wie von einer Kultur - so STIERLE - zur Verfügbarkeit genötigt: „Gedächtniskultur ist die individuelle und kollektive Arbeit, die Unverfügbarkeit der Erinnerung einen Raum verfügbarer und verläßlicher Gedächtnisrepräsentationen abzugewinnen. Der Roman als Gattung mit seiner konstitutiven Bindung an das Kriterium der Schriftlichkeit - so die zentrale These STIERLES - hat die Unverfügbarkeit der Erinnerung zum Thema. Das ist ein Widerspruch: Die unverfügbare Erinnerung eingepflanzt in die Verfügbarkeit des Romans. Doch zielt das momenthafte Auftauchen der Erinnerung im Raum des Gedächtnisses gerade nicht darauf, dass sich die Erinnerung der Verfügbarkeit des Gedächtnisses unterordnet. Vielmehr wird auf diese Weise die Unverfügbarkeit der Erinnerung ästhetisch manifest und damit diskutierbar. STIERLES Plädoyer für die Wahrnehmung der Unverfügbarkeit der Erinnerung in den Romanen Chretiens richtet sich implizit gegen strukturalistisch orientierte Textdeutungen, die im Rahmen philologisierter Intertextualitätskonzepte die totale Verfügbarkeit der Fiktion behaupten. Das soll hier nicht weiter ausgeführt werden. Hingegen ist der Zusammenhang von Erinnern und Vergessen, Verfügbarkeit des Gedächtnisses und Unverfügbarkeit der Erinnerung zentral für eine kulturwissenschaftlich orientierte Textkritik, die das abstrakte Konzept von Schrift, wie es in STIERLES Arbeit aufscheint, mit ihren realen Objekten konfrontiert. Die Uberlieferung ist die Erinnerung des Textes. Sein Gedächtnis ist nicht die Schrift, sondern sind Stein- wie Wachstafeln, Pergament- und Papierhand-
153 KARLHEINZ STIERLE: Die Unverfügbarkeit der Erinnerung und das Gedächtnis der Schrift. Uber den Ursprung des Romans bei Chretien de Troyes. In: Memoria. Vergessen und Erinnern. Hrsg. von ANSELM ^VERKAMT/RENATE LACHMANN, München 1993 (Poetik und Hermeneutik XV), S. 117-159, S. 117. 154 Ebd. S. 118.
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Schriften, Bücher in allen Formaten, Kalenderblätter, Briefe, Oktavhefte und - Editionen. WARNINGS Überlegungen zu einer diskursanalytisch verfahrenden Literaturinterpretation sind produktionsästhetisch ausgerichtet. Fasst man diese rezeptionsästhetisch, so entfaltet Uberlieferung verstanden als schriftliche Protokolle von Leseakten - implizit eine Verweisfunktion, die im Prozess der Abschrift einer Handschrift aus dem herstellenden Beobachten der Dekomposition und Neuorganisation der für den Text relevanten Bezugssysteme resultiert. Sie stellt die von Fassung zu Fassung (von Handschrift zu Handschrift) möglicherweise differierenden, je reselektierten, je rekombinierten Elemente jener Sinnsysteme bloß, die den Kontext des Textes und seiner Uberlieferung bilden, insofern Uberlieferung Bruchstellen, Risse und Spuren markiert, die bei Versuchen literarischer Kontingenz/Komplexitätsbewältigung strukturell nicht ausbleiben können. Stellt ein Text - neben anderen möglichen - einen Versuch von Weltbemächtigung dar, so kann seine Uberlieferung als Kommunikationsakt eines weiteren Versuchs der Strukturierung von Welt aufgefasst werden. Dabei macht Uberlieferung sichtbar, was der Text ausgeschlossen hat oder als ,gelöst' darstellt. Varianz problematisiert die im Text vorgenommenen Selektionen und Kombinationen, indem sie in einer Bewegung der Komplexierung oder Dekomplexierung Ausschlüsse, Reduktionen, Setzungen und Leerstellen verarbeitet. Überlieferung als ein ,Symptom' des Textes155 positioniert sich als Differenz einer Antwort, für die der Text einstehen will, und speist sich aus den Gegenstrebigkeiten der in den Text integrierten und den Text umstellenden Sinnsysteme. Dann aber kann es nicht mehr um das .Produkt', sondern nur um die Produktion von Zeichen gehen, um die sie leitenden Strategien, um Unbestimmtheiten und offene Widersprüche, um einzelne Lösungen, die neue Lösungen provozieren. Der Text ist als transitorisches Resultat von .Arbeit' darzustellen: Arbeit an einem Stoff, einem literarischen Motiv, einem Konzept. Dabei gibt es riskantere und gewöhnlichere Lösungen, aporetische Zuspitzungen und harmonisierende Kompromisse, Banalisierungen und Normalisierungen. Der eine überlieferte Text ist qualitativ nicht wie der andere. Man wird durchaus auch Vorgänge der Verfälschung oder der Textverderbnis feststellen können, wie sie Grundannahmen des Lachmannschen Verfahrens sind, und man wird zu begründeten Unterscheidungen zwischen Fassungen kommen. 156
155 .Symptomale' Lektüre der Überlieferung von Texten zielt also auf das Bemühen, die Wiederkehr des im Text Verdrängten zu erfassen. 156 MÜLLER: Neue Altgermanistik, S. 450.
Totale Philologie
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3.7. Totale Philologie „Ediere so, als erlösche mit D e i n e m Blick aufs Manuskript die Schrift. M o t i v der Rettung." 1 5 7
In den Erfurter Zusatzkapiteln zum anonym überlieferten Faustbuch von 1587 findet sich eine Episode, in der Faustus sich als Humanist und das meint hier als Textkritiker - präsentiert.158 So nimmt der Protagonist an einer „Promotion in der Vniversitet" teil, bei der nicht nur „etliche zu Magistern" gemacht werden, sondern auch über die „Nutzbarkeit" der Komödien von Terenz und Plautus debattiert wird. Die Texte dieser Autoren sollen - das ergibt die pädagogisch orientierte Debatte - in der Schule gelesen werden, weil so nicht nur die lateinische Sprache vermittelt werden kann, sondern auch weil die Texte Einblicke in die menschlichen Eigenschaften gewähren: „als wenn er [Terenz] in der Menschen Hertzen gesteckt/ vnnd eines jedem Sinn und Gedancken/ gleich als ein Gott erkuendiget hette". Doch existieren eine Vielzahl dieser Komödien nicht mehr, „weil dieselben entweder durch Wassers oder Fewers Noth auch jexnmerlich verdorben". Doch da könnte Faustus, der den erstaunten Gelehrten „etliche schoene Sententz vnd Sprueche aus den verlornen Comoedien" zu Gehör bringt, nun helfen. Das Versprechen Faustus', „aller beyden Poeten alle ihre Schrifften/ sie weren verloren worden oder vmbkommen/ wie sie wolten/ gar wol vnnd leichtlich herwider vnd ans Liecht bringen"159, stößt bei „den Herren Theologen vnnd fuernembsten des Raths" auf Ablehnung. Die dämonischen Möglichkeiten von Faustus, die verlorenen Texte für einen kurzen Moment verfügbar zu machen, so dass „viel Studenten/Notarien vnd Schreiber" die zerstörte Uberlieferung abschreiben könnten, lassen den Verdacht aufkommen, dass „der boese Geist [...] in die new erfunde157 ROLAND REUß: .genug Achtung vor der Schrift'? Zu: Franz Kafka, Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. In: Text-Kritische Beiträge 1 (1995), S. S. 107-126, S. 126. 158 Vgl. Romane des 15. und 16. Jahrhunderts. Nach den Erstdrucken mit sämtlichen Holzschnitten hrsg. von JAN-DIRK MÜLLER, Frankfurt/Main 1991 (Bibliothek der Frühen Neuzeit 1), S. 1354f. 159 JAN-DIRK MÜLLER weist darauf hin, dass der Text sich hier auf den Diskurs humanistischer Editionstheorie bezieht: „Die Formulierung dafür {alle wider ans Liecht bringen) stimmt mit der Selbstbeschreibung humanistischer Editionspraxis überein (in lucem edere o. ä.). Allerdings verfügt Faustus hierfür nicht nur über philologische, sondern auch über dämonische Mittel; damit kann er seine Kollegen übertrumpfen." (J.-D. M.: Ausverkauf menschlichen Wissens. Zu den Faustbüchern des 16. Jahrhunderts. In: Literatur, Artes und Philosophie. Hrsg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1992 (Fortuna vitrea 7), S. 163-194, S. 189.)
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nen allerley Gifft vnd aergerliche Exempel" eingeschmuggelt habe. Man lehnt das Angebot Faustens ab; schließlich sei man auch in Besitz ausreichend guter Autoren und Bücher, „daraus die Jugend die rechte artige Lateinische Sprachen lernen moechte". Gewiß richtet sich die Abwehr gegen die Einmischung des Teufels, gewiß hat der Teufel möglicherweise schon beim Verlust der alten Schriften die Hand im Spiel, doch wären am theologisch-pädagogischen Maßstab auch die ungeheuerlichen Anstrengungen humanistischer Philologie zu messen, Verlorenes ,ans Licht zu bringen*. Immer wieder wird die Frage gestellt, was denn eigentlich die heidnischen Autoren mit ihrer falschen Mythologie oder ihren moralisch fragwürdigen Themen zum Leben eines Christen beizutragen hätten und ob darunter nicht viel Teufelswerk sei. 160
Faustus' .teuflisches' Angebot einer „totalen Philologie" 161 und dessen Zurückweisung durch die klerikale und universitäre Elite verweist in aller Schärfe auf den Umstand, dass textkritische Bemühungen ohne Berücksichtigung der sozialen, kulturellen und wissenschaftlichen Rahmenbedingungen kaum hinreichend beschrieben werden können. Damit wird deutlich, dass ein Umgang mit einer vollständig verfügbaren Texttradition schon aufgrund außertextueller Selektionsentscheidungen gar nicht möglich ist.162 Textkritik als Methode historischer Wissenschaften reagiert rekonstruktiv und sinnstiftend auf Vorgaben, die allenfalls bestimmte semantische Ebenen der zu edierenden Texte aktualisieren.
160 Ebd. S. 190. 161 So die Formel bei MÜLLER, der anders akzentuiert, S. 192: „Was taugt endlich eine totale Philologie, die alles durch Abgang der Zeiten Verlorene und Verborgene wieder an Licht bringen kann, wenn man sie an ihren pädagogischen Zielen mißt? Warum braucht man noch mehr Terenzkomödien, wo zur Erziehung die überlieferten ausreichen und man nicht sicher sein kann, was der Teufel so alles an Contrebande in die wiedergewonnene Antike einschmuggeln könnte?" 162 Ganz abgesehen von unwiederbringlichen Verlusten der Uberlieferung.
4. Das handschriftliche Material 4.1. Das Skriptorium Das handschriftliche Material, das sich die vorliegende Untersuchung zum Gegenstand genommen hat, zeichnet sich dadurch aus, dass es der Produktion einer einzigen Schreiberwerkstatt entstammt. Denn aufgrund paläographischer, kodikologischer, sowie text- und sprachgeschichtlicher Befunde ist es gelungen, für eine Reihe von vier (bzw. fünf) Handschriften bzw. Handschriftenfragmenten die gemeinsame Entstehung in einem im bairischen oder ostalemannischen Sprachgebiet angesiedelten Skriptorium um die Mitte des 13. Jahrhunderts wahrscheinlich zu machen, in dem mindestens neun Schreiber gearbeitet haben. Die Handschriftenproduktion erfolgte - so die Hypothese der Forschung - im Auftrag der staufisch-wittelsbachischen Königskanzlei. Die Beschäftigung mit den in dieser Werkstatt hergestellten Handschriften versteht sich als Teil des Programms einer mediävistischen Rezeptionsforschung, das z.B. H A N S F R O M M eingefordert hat: N o c h zu konzipieren und durchzuführen bleibt dabei eine Geschichte der Schreibstube als einer Institution, ohne welche die Geschichte der Bildung im Spätmittelalter nicht zu denken ist. In einer solchen Untersuchung müßte den Scriptorium-Typen nachgegangen werden. Wir wissen etwas von der Arbeitsteiligkeit, die dort zum Teil herrschte, weil wir sie an den Handschriften ablesen können. Wir wissen aber kaum etwas beispielsweise über mögliche Spezialisierungen inhaltlicher Art, ob Urkunden und Dichtungen nebeneinander geschrieben wurden, ob ein Schreiber je nach Gattung verschiedene Schriften beherrschte oder ob einzelne Schreiber spezialisiert ausgebildet wurden. 1
Die Erforschung einzelner Skriptorien könnte Ansatzpunkte liefern, um eine Handschrift in ihrem geschichtlichen Kontext zu erfassen und zu beurteilen. J O A C H I M B U M K E hat eine ganze Reihe von Fragen aufgelistet, die auf die Schwierigkeiten hinweisen, mit denen man bei
1
HANS FROMM: Die mittelalterliche Handschrift und die Wissenschaft vom Mittelalter. In: DERS.: Arbeiten zur deutschen Literatur des Mittelalters, Tübingen 1989, S. 349-366, S. 362.
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Das handschriftliche Material
einem solchen Vorhaben - angesichts fehlender auswertbarer Daten konfrontiert wird. Die .Scriptorien', in denen die Epenhandschriften [des 12. und 13. Jahrhunderts] geschrieben worden sind, kennen wir nicht. Soll man davon ausgehen, daß nur an den größeren Höfen, die bereits eigene Kanzleien besaßen, weltliche Dichtungen in deutscher Sprache abgeschrieben wurden? Oder hat man die Texte in den Schreibstuben der Klöster abschreiben lassen? Kann die Tatsache, daß nicht wenige Bruchstücke in Klöstern aufgefunden wurden, als Indiz dafür angesehen werden? Die Miniaturen dürften zum größten Teil aus klösterlichen Malwerkstätten stammen; es ist jedoch möglich, daß Text und Bilder nicht an demselben Ort entstanden sind. Haben im 13. Jahrhundert bereits städtische Schreibstuben eine größere Rolle für die Verbreitung von höfischer Literatur gespielt?2
Angesichts der wenigen Informationen, die über die Genese der deutschen volkssprachlichen Handschriften vorliegen, ist es von zentraler Bedeutung, das Profil dieser Schreibstube über eine Analyse der hier angefertigten Handschriften zu untersuchen. Es bietet sich an diesem Material die wohl einzigartige Möglichkeit, mittelalterlichen Umgang mit verschiedenen Texten der Gattung des höfischen Romans zu beobachten und nachzuvollziehen.
4.2. Die Handschriften In dem genannten Skriptorium ist ein bebilderter Codex mit einigen Werken Wolframs von Eschenbach angefertigt worden, dessen Zusammensetzung rechtfertigt, von einer Werkausgabe des Autors zu sprechen. Die Wolfram-Handschrift G (Cgm 19)3 überliefert neben 2
JOACHIM BUMKE: Epenhandschriften. Vorüberlegungen und Informationen zur Uberlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 12. und 13. Jahrhundert. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters. Festschrift für Karl Stackmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN, Göttingen 1987, S. 45-59, S. 55; vgl. hierzu auch NIGEL F. PALMER: German
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Literary Culture in the Twelfth and Thirteenth Centuries. An Inaugural Lecture delivered before the University of Oxford on 4 March 1993, Oxford 1993. Vgl. Wolfram von Eschenbach: Panjval, Titurel, Tagelieder. Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München. Bd. 1: Faksimile. Bd. 2: Transkription der Texte von GERHARD A U G S T / O T F R I E D EHRISMANN/HEINZ ENGELS m i t e i n e m B e i t r a g z u r Geschichte der Handschrift von FRIDOLIN DREßLER, Stuttgart 1970; PETER J Ö R G
BECKER: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen. Eneite, Tristrant, Em, Ivein, Parapi/al, Willebalm, Jüngerer Titurel, Nibelungenlied und ihre Reproduktion und Rezeption im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit, Wiesbaden 1977, S. 8285; BERND SCHIROK: Parzivalrezeption im Mittelalter, Darmstadt 1982 (Erträge der Forschung 174), S. 35f.; THOMAS KLEIN: Die Parzivalhandschrift C g m 19 und ihr
Umkreis. In: Wolfram Studien XII (1992), S. 32-66. Wolfram von Eschenbach: Par^i-
Die Handschriften
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dem Pargval auch die beiden Fragmente von Wolframs Titurel und die Tagelieder Den Morgenblic und Sine kläwen (MF XXIV, Ι-Π).4 Neben der sogenannten Münchner Wolfram-Handschrift ist in dieser Schreiberwerkstatt auch die älteste vollständige Handschrift von Gottfrieds Romanfragment und der Fortsetzung Ulrichs von Türheim entstanden, die in der Münchner Staatsbibliothek die Signatur Cgm 51 trägt. 5 Neben diesen beiden großen Bilderhandschriften können auch zwei weitere, allerdings nur fragmentarisch überlieferte Handschriften dieser Schreiberwerkstatt zugewiesen werden: das Fragment E 6 (Cgm 194/ΠΙ) von Wolframs Ρarrival und die Salzburger Fragmente von Rudolfs von Ems Wilhelm von Orlens (Salzburg, St. Peter, a. VI. 56).7 vaL Studienausgabe. Mittelhochdeutscher Text nach der sechsten Ausgabe von KARL LACHMANN. Ubersetzung von PETER KNECHT. Einführung zum Text von BERND SCHIROK, Berlin/New York 1998, S. X X X I I - X X X I V (mit weiterer Literatur). Der Fall der Textzusammenstellung einer Handschrift nach dem Autorschaftsprinzip im Bereich der volkssprachlichen Romanüberlieferung im 12. und 13. Jahrhundert kann als singular betrachtet werden, wobei man sich aber die Frage stellen kann, wessen CEuvre in dieser Zeit in einer solchen Handschrift zusammengestellt werden konnte. Ebenso charakterisiert BURGHART WACHINGER den Cgm 19 als den „ungewöhnl i c h e ^ ) Versuch einer gattungsübergreifenden Autorausgabe" (B. W.: Autorschaft und Uberlieferung. In: Autorentypen. Hrsg. von B. W./WALTER HAUG, Tübingen 1991 (Fortuna vitrea 6), S. 1-28, S. 6). 4
Auf fol. 74v finden sich noch verschiedene Notizen von Händen des 15. Jahrhunderts. Vgl. hierzu BECKER: Handschriften und Frühdrucke mittelhochdeutscher Epen, S. 84; SCHIROK: Parzivalrezeption im Mittelalter, S. 35f.
5
Gottfried von Straßburg: Tristan. Mit der Fortsetzung Ulrichs von Türheim, Faksimile· Ausgabe des Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Textband mit Beiträgen von ULRICH MONTAG/PAUL GlCHTEL, Stuttgart 1979. Vgl. GESA BONA™, HELMUTH LOMNITZER: Verzeichnis der Fragment-Überlieferung von Wolframs Parvjval. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder. Hrsg. von KURT GÄRTNER/JOACHIM HEINZLE, Tübingen 1989. S. 87-149, S. 105 (mit weiterer Literatur). Ein Abdruck des Fragments findet sich in: Poetische Fragmente des 12. und 13. Jahrhunderts. Hrsg. von FRIEDRICH WlLHELM/RlCHARD NEWALD, Heidelberg 1928 (Germanische Bibliothek, I. Sammlung germanischer Elementar- und Handbücher, III. Reihe: Lesebücher, Bd. 8), Nr. 5, S. 11-16; vgl. zum Sprachstand des Parzivalfragments Ε FRANCIS NOCK: Die *MGruppe der Parziväl-Handschriften. In: PBB (Halle) 90 (1968), 145-173, S. 151f. und KLEIN: Die Parzivalhandschrifc Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 46f.; zur textgeschichtlichen Einordnung GESA BONATH: Untersuchungen zur Uberlieferung des Pargval Wolframs von Eschenbach, Bd. 1 und 2, Lübeck/Hamburg 1970/71, Bd. 2, S. 266269. SCHIROK: Parzivalrezeption im Mittelalter, S. 44. Abbildung bei KARIN SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache. Bd. I: Vom späten 12. Jahrhundert bis um 1300. Textband, Wiesbaden 1987, Abb. 84 (lr).
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7
Für Abbildung und diplomatische Abschrift des Fragments vgl. GEROLD HAYER: Ein neues Salzburger Fragment zum Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems. In: Litterae ignotae. Beiträge zur Textgeschichte des deutschen Mittelalters: Neufunde und Neuinterpretationen. Hrsg. von ULRICH MÜLLER, Göppingen 1977 (GAG 50), S. 21-32; vgl. auch WALTER LENSCHEN: Gliederungsmittel und ihre erzählerischen Funktionen im IVilltbalm von Orlens des Rudolf von Ems, Göttingen 1967 (Palaestra
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Das handschriftliche Material
Damit kann dieses Skriptorium gegen die Mitte des 13. Jahrhunderts als das bedeutendste Zentrum für die Herstellung von Epenhandschriften in Deutschland gelten.8 Erst kürzlich hat KARIN SCHNEIDER zudem zwei bruchstückhafte Streifen aus einer Handschrift von Wolframs von Eschenbach Willehalm aus dem 13. Jahrhundert publiziert, die sie aus paläographischen und dialektalen Gründen mit dem genannten Skriptorium in Verbindung bringt, ohne sich aber mit letzter Sicherheit dafür auszusprechen, dass die IP/V/MaZw-Bruchstücke tatsächlich in dieser Schreiberwerkstatt entstanden sind.9 Die paläographische Analyse dieser Fragmente und Handschriften ergibt, dass an ihnen insgesamt neun Schreiber gearbeitet haben. 10 Während die beiden großformatigen Codices Cgm 19 und Salzburg St. Peter a. VI. 56 eine dreispaltige Einrichtung aufweisen, sind die kleineren Handschriften Cgm 51 und 194/ΙΠ - sowie das Münchner Willehalm-Yxzyx^riX. Cgm 5249/4g zweispaltig angelegt. Die dreispaltige Anlage, wie sie zu Beginn des 13. Jahrhunderts noch die Berliner Eneide-Handschrift zeigt, ist wohl nach französischem Vorbild erfolgt und zeugt von aufwändiger repräsentativer Ausstattung. 11 KARIN SCHNEIDER konstatiert für die in diesen Textzeugen verwendete Schriftart - eine frühgotische Minuskel - wenig kalligraphische Güte: „Die sehr kleinen, flüssigen, in die Breite tendierenden Schriften fallen durch teilweise Ubereinstimmung mit Gebrauchs- und Urkundenschriften auf."12 Allerdings verweist die „Anwendung der gotischen Schriftmerkmale" auch auf das
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250), N r . 15, S. 52; ERIKA WEIGELE-ISMAEL: Rudolf von Ems Wilhelm von Orlens. Studien zur Ausstattung und zur Ikonographie einer illustrierten deutschen Epenhandschrift des 13. Jahrhunderts am Beispiel des Cgm 63 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Frankfurt a. M. 1997, N r . 20, S. 235. Vgl. BUMKE: Epenhandschriften. Vorüberlegungen und Informationen zur Überlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 12. und 13. Jahrhundert, S. 56. KARIN SCHNEIDER: Ein neues Fragment des Willehalm·Discissus Fr 25. In: WolframStudien XV (1998), S. 411-416. Vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 33. Vgl. BUMKE: Epenhandschriften. Vorüberlegungen und Informationen zur Uberlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 12. und 13. Jahrhundert, S. 56. SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, S. 151. Vgl. auch BERNHARD BlSCHOFF: Paläographie des römischen Altertums und des abendländischen Mittelalters (Grundlagen der Germanistik 24), Berlin 1979, S. 172 u. S. 177, A n m . 73; FRIDOLIN DRESSLER: Die Handschrift Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München. In: Wolfram von Eschenbach: Parsjval, Tituni, Tagelieder. S. 5-30, bes. S. 14-19. ULRICH MONTAG: Die Handschrift Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Inhalt - Beschreibung - Forschungsstand. In: Gottfried von Straßburg: Tristan. Mit der Fortsetzung Ulrichs von Türheim, Faksimile-Ausgabe des Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Textband mit Beiträgen von ULRICH MONTAG/PAUL GlCHTEL, Stuttgart 1979, Bd. 2, S. 5-71, bes. S. 34f.
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Schriftniveau, „das für einen bestimmten Text entsprechend seiner Stellung in der Wertehierarchie gewählt wird; deutsche weltliche Dichtung wird zumeist, auch in illuminierten Handschriften, in einfacherer Schrift aufgezeichnet als lateinische Texte oder volkssprachiges geistliches Schrifttum."13 Die Qualität der einzelnen Schriften, die Schneider mit dem Begriff „des eiligen Gebrauchsschrifttyps" kennzeichnet, ist dennoch unterschiedlich.14 4.3. Schreiber, Schreibsprache und Datierung der Handschriften THOMAS KLEIN hat sich intensiv mit der Schreibsprache der Werkstatt, „die rückwärtsgewandt, ja in mancher Hinsicht geradezu archaisch wirkt", auseinandergesetzt.15 Nach seiner Auffassung kann die in den genannten Handschriften benutzte Schreibsprache als konservatives .Zentraloberdeutsch' bezeichnet werden, das für das 13. Jahrhundert antiquiert erscheint.16 Zu den sprachlichen Besonderheiten, welche die Handschriften des Skriptoriums maßgebend prägen, gehören der ,ch'-Konsonantismus (auch für finales j), die Schreibung ,h' für finales ch, „eine ausgesprochen konservative, noch frühmittelhochdeutsche Bezeichnung der betonten Vokale"17, die Dominanz der Schreibung ,e' für nebensilbiges e, schließlich die ostoberdeutsche eApokope. Wie schon bei der Schriftausprägung unterscheiden sich die 13
KARIN SCHNEIDER: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten. Eine Einführung, Tübingen 1999 (Sammlung kurzer Grammatiken germanischer Dialekte B. Ergänzungsreihe 8), S. 33. 14 SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, S. 152. Dort auch eine genaue Charakterisierung der einzelnen Schreiber. Zum Schreiber der Salzburger Fragmente vgl. HAYER: Ein neues Salzburger Fragment zum Willtbalm von Orlens des Rudolf von Ems, S. 21. Vgl. auch SCHNEIDER: Ein neues Fragment des IT/Ma/Sw-Discissus Fr 25, S. 412. Vgl. auch URSULA SCHULZE: Deutschsprachige Urkunden des Elsaß im 13. Jahrhundert und die Lokalisierung literarischer Handschriften. In: Skripta, Schreiblandschaften und Standardisierungstendenzen. Urkundensprachen im Grenzbereich von Germania und Romania im 13. und 14. Jahrhundert. Beiträge zum Kolloquium vom 16. bis 18. September 1998 in Trier. Hrsg. von KURT GÄRTNER [u. a.], Trier 2001, S. 475-495. 15
KLEIN: D i e P a r z i v a l h a n d s c h r i f t C g m 19 u n d i h r U m k r e i s , S. 39; v g l . a u c h THOMAS
KLEIN: Ermittlung, Darstellung und Deutung von Verbreitungstypen in der Handschriftenüberlieferung mittelhochdeutscher Epik. In: Deutsche Handschriften 11001400. O x f o r d e r K o l l o q u i u m 1985. H r s g . v o n VOLKER HONEMANN/NIGEL F. PALMER, T ü b i n g e n 1988, S. 110-167, bes. S. 124-128 u n d S. 167.
16 17
Vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 39-41. Ebd. S. 39.
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Das handschriftliche Material
Schreiber dieser Handschriftengruppe im Gebrauch ihrer Schreibsprache z.T. sehr voneinander. „Im Verhältnis zu der Schreibsprache von G 1 [dem Hauptschreiber von Cgm 51 und Cgm 19], G 4 und G 5, die den Grundtypus des Skriptoriums am reinsten vertreten, hat jeder der übrigen Schreiber eigene, und zwar jeder andere, systematische Besonderheiten."18 Während die zentraloberdeutsche Schreibsprache des Skriptoriums Hauptkennzeichen des Bairischen wie des Alemannischen meidet, findet sich in Einzelformen doch die Vermischung von Bairischem mit Alemannischem. So rechnet KLEIN damit, dass alemannische (für das Pargval-Fragment E) wie bairische Schreiber (für die Salzburger Fragmente von Rudolfs Willehalm) in dieser Schreibwerkstatt an volkssprachigen Handschriften gearbeitet haben. Nach einer je unterschiedlichen Ausbildung im Schreiben des Deutschen schloss sich nach KLEIN eine zweite gemeinsame Weiterbildungsphase an, „in der die Schreiber in einem wie auch immer gearteten Verbund arbeiteten und ihre ,G-Prägung' erhielten."19 Für das bereits erwähnte Willehalm-Yvi%me.ax hat die dialektale Untersuchung ebenso eine ostalemannisch-bairische Sprachmischung ergeben/ Dass die spezielle Schreibsprache des Skriptoriums mit ihrer Mischung aus alemannischen und bairischen Merkmalen besonders verbunden ist mit den Gewohnheiten des Hauptschreibers G 1, zeigt der Tristan-Codex. In dieser Handschrift tritt ein zweiter Schreiber nur an wenigen Stellen (fol. 96vb, 26-34; fol. 102rb, 10-38; fol. 105rb, 42-47) in Erscheinung, der sich an die von Klein vermutete westalemannische Vorlage hält, wohingegen G 1 seine ostalemannisch-bairischen Formen beibehält.21 Weiterhin ist zu beobachten, dass G 1 im Versinnern des Cgm 51 der von ihm wohl eingeführten zentraloberdeutschen Schreibsprache folgt, sich aber im Reim an die alemannischen Formen der Vorlage hält. 2
18
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Ebd. S. 47. Zu diesen Besonderheiten gehören: „Längenbezeichnung durch Zirkumflex, häufig ,i' für Nebensilben-i und ,ue' für üe, uo bei G2; Sekundärumlautbezeichnung durch Zirkumflex und Akut bei G3; stets ,ü' für uo, ät bei G6; ,ai' für ei und stets ,k-, bei S [Salzburger Fragmente]; ,c' für -g und klare Tendenz zu ,t' für d- nach Notkers Gesetz bei Ε [Cgm 194/III]" (ebd. S. 47). Ebd. S. 48. SCHNEIDER: Ein neues Fragment des Willehalm-Oiscissus Fr 25, S. 414. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 48f.; MONTAG: Die Handschrift Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Inhalt - Beschreibung - Forschungsstand, S. 47. Vgl. auch MAROLD/SCHRÖDER, S. X-XVII; KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 49f.
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Wie schon erwähnt, ist der erste Schreiber des C g m 51 auch der Hauptschreiber der Münchner Wolfram-Handschrift: E r hat die Hälfte des Par^W-Romans (G 1: 1,1-434, 15; fol. lr-32vc, Z. 44) und die 77/«n?/-Fragmente a m Ende der Handschrift angefertigt. Dieser Schreiber füllt im C g m 19 die Textspalten mit einer sehr unterschiedlichen Zeilenzahl. E r beginnt mit 55 Zeilen, zeigt später aber Spalten mit fast 80 Zeilen. D e r Hauptschreiber v o n C g m 19 und C g m 51, der in beiden Codices ein Initialensystem einführt, das sowohl Sinneinschnitte markiert, als auch ein imaginäres Liniengeflecht auf den Doppelseiten konstituiert, 2 3 verfügt „über eine radikal vereinfachte, wenn auch spitzig wirkende Schrift". 2 4 Formales Kennzeichen der Geübtheit dieses Schreibers ist auch, dass die v o n ihm angefertigten Handschriften lediglich „die Vorzeichnung des Schriftraums", nicht aber „die Liniierung für die Zeilen" aufweisen: D a s Fehlen solcher Hilfslinien signalisiert die K o m p e t e n z des Schreibers. 2 5 Festzustellen ist auch, dass dieser Schreiber Korrekturen an d e m v o n ihm Geschriebenem vornimmt. 2 6 A n der Herstellung des Pargval i m Münchner Wolfram-Codex sind noch vier weitere Schreiber beteiligt gewesen. 2 7 Ein weiterer 23
Zu den Initialen in der Tristan- und der Wolfram-Handschrift vgl. FRIEDRICH RANKE: Die Überlieferung von Gottfrieds Tristan. In: Z f d A 55 (1917), S. 157-278, 381-438; als Separatim: Darmstadt 1974, bes. S. 74 und 159f.; ELISABETH FELBER: Die Handschrift G von Wolframs Parana/ (Cod. Germ. 19), Diss, masch. Wien 1946, S. 8 und 26; BERND SCHIROK: Der Aufbau von Wolframs Par^val. Untersuchungen zur Handschriftengliederung, zur Handlungsführung und Erzähltechnik sowie zur Zahlenkomposition, Diss. Freiburg 1972, S. 97-100. DRESSLER: Die Handschrift C g m 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 16. MONTAG: Die Handschrift C g m 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Inhalt - Beschreibung - Forschungsstand, S. 36-39; ELISABETH KLEMM: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek. 2. Bde. Wiesbaden 1998, S. 217.
24
SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, S. 152; vel. auch DRESSLER: Die Handschrift C g m 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 17; MONTAG: Die Handschrift C g m 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 34-36.
25
SCHNEIDER: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten, S. 128. Die anderen Schreiber des C g m 19 arbeiten mit Zeilen-Liniierung (vgl. DRESSLER: Die Handschrift C g m 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 14). FELBER weist darauf hin, dass „bei der ersten Hand der Initialenbuchstabe vor der Initiale" nur selten klein vorgeschrieben ist, wie „bei den anderen Schreibern [...] es die Regel" ist (FELBER: Die Handschrift G von Wolframs Panival (Cod. Germ. 19), S. 27). Vgl. SCHNEIDER: Paläographie und Handschriftenkunde für Germanisten, S. 146. G 2: fol. 32vc, Z. 45-54v; G 3: fol. 55r-68va, Z. 9 und fol. 69vb-70v; G 4: fol. 68va, Z. 9-69rb, Z. 11; G 5: fol. 69rb, Z. 12-69vb. Vgl. zum Lagenaufbau der Handschrift DRESSLER: Die Handschrift C g m 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 15. Zur Schreibsprache der Schreiber G 2, G 3, G 4 und G 5 vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift C g m 19 und ihr Umkreis, S. 42-45.
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Schreiber hat auf fol. 75v - zweispaltig - drei kurze Prosastücke 28 eingetragen, die dem Ende des 13. Jahrhunderts entstammen. 29 Dieser Schreiber kann somit nicht dem ursprünglichen Schreiberverbund, der um die Mitte des Jahrhunderts Handschriften herstellte, zugerechnet werden. THOMAS KLEIN plädiert für eine mittelfränkische Herkunft dieses Schreibers.30 Einem sechsten an der Herstellung der Münchner WolframHandschrift beteiligten Schreiber wird die Abschrift von Wolframs Tageliedern I und Π zugesprochen. Schon LACHMANN stellt eine sehr alte Hand fest.31 Die Tagelieder sind auf der Rückseite des letzten Blattes der Handschrift eingetragen (Bl. 75 v). Die zwölfte Lage des Bandes umfasst die foil. 70-75, deren Doppelblätter 70/75, 71/74 und 72/73 aus je 2 Einzelblättern bestehen, die mit einem Pergamentstreifen zusammengeklebt sind.32 Die Blätter 71/74 und 72/73 enthalten den Täunel-Text und sind von G 1 angefertigt worden. Das Blatt 75 enthält auf der Vorderseite die erwähnten Prosa-Stücke und auf der Rückseite die beiden Tagelieder. Dieses Blatt wurde mit dem letzten Blatt des Pangval-Textes zusammengeklebt. Platz ist für Initialen frei gelassen worden, ohne dass sie ausgeführt worden wären.33 Die Lieder sind einspaltig (mit überlangen Verszeilen) aufgeschrieben worden. 34 KARL HEINZ BORCK hat den Schreiber wie folgt charakterisiert: 28
29 30 31 32 33
34
In der Handschrift finden sich folgende Prosanachträge: a. ,Der nackte Bote' (nach: Der Stricker); b. ,Die ertrunkene Seele'; c. Beginn einer Erzählung von dem .Ritter Poppe und dem Grafen Wernart von Lewenperch'. Vgl. zu den Prosastücken CARL VON KRAUS: Drei Märlein in der Parzivalhandschrift G und das Exempel vom Armen Heinrich. In: Festgabe S. Singer, Tübingen 1930, S. 1-19; HEINZ ENGELS: Wolframs von Eschenbach Partim/, Titurel und Tagelieder in der Uberlieferung der Handschrift G. In: Parana/. Titunl. Tagelieder. Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Bd. 2, S. 31-49, bes. S. 45-47; KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 52f. SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, S. 150. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 51. Vgl. KARL LACHMANN: Vorrede. In: Wolfram von Eschenbach: Par^ml, 1998, S. XIII. Vgl. DRESSLER: Die Handschrift Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 15. ENGELS: Wolframs von Eschenbach Par^val, Titurtl und Tagelieder in der Uberlieferung der Handschrift G, S. 47: „Der Text ist fortlaufend geschrieben. Die einzelnen Verse sind durch Reimpunkte bezeichnet, die Strophenanfänge durch Initialen. Der Anfang der beiden Lieder sollte wohl durch größere Initialen besonders kenntlich gemacht werden. Die Zierbuchstaben wurden dann aber nicht ausgeführt." PETER WAPNEWSKI: Die Lyrik Wolframs von Eschenbach. Edition. Kommentar. Interpretation, München 1972, S. 21: „Während die Blätter der Handschrift im übrigen dreispaltig beschrieben sind, setzt der Schreiber der Lieder nicht ab, versucht jedoch eine Art von Gliederung mit Hilfe von Punkten und hochgestellten Strichen. Da er dies Verfahren ebenso inkonsequent wie unsicher praktiziert, erleichtert es in
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Die Lieder sind in eigenwilliger Orthographie und von einer offenbar weniger) geübten Hand aufgezeichnet worden. Beides spricht nicht unbedingt dafür, daß auch der Nachtrag von einem Berufsschreiber vorgenommen wurde. Demnach besteht die Möglichkeit, daß die nur hier bezeugte siebente Hand dem Auftraggeber oder einem anderen frühen Besitzer des Codex gehört. 3 5
Hier hat KARIN SCHNEIDER widersprochen: Sie zählt - ebenso wie THOMAS KLEIN - den sechsten Schreiber der Handschrift zu den in der Werkstatt tätigen. KLEIN kennzeichnet den Sprachstand der beiden Tagelieder als (wahrscheinlich) bairisch.36 Das Fragment Ε (Cgm 194/ΙΠ) von Wolframs~Parrivalüberliefert auf einem rundum beschnittenen Einzelblatt in zwei Spalten zu je 60 Zeilen die Verse lra: 160, 29-162, 21 (22), lrb 162, 29-164, 26, Iva: 165, 3-166, 26 (27), Ivb: 167, 3-168, 27. Festzustellen sind Korrekturen des Schreibers, den Klein im Alemannischen ansiedelt. Die beiden Pergamentblätter der Salzburger Fragmente von Rudolfs Wilhelm von Orlens überliefern den Schluss des vierten und den Beginn des fünften Buches des Minne- und Aventiureromans. Hinsichtlich der Schrift der Salzburger Fragmente konstatiert ULRICH MONTAG, dass sie einerseits derjenigen des Hauptschreibers G 1 sehr nahe steht, andererseits aber auch Ähnlichkeiten mit dem zweiten Schreiber des Cgm 51 teilt.37 Schon GEROLD HAYER bemerkte, dass die Schrift in S „in Stil und Duktus" der ersten Hand im Cgm 19 und im Cgm 51 ähnelt.38 Doch THOMAS KLEIN wendet ein, dass der Text auf den Salzburger Fragmenten schreibsprachlich von jenem der beiden Hände im Tristan-Coden abweicht: Er rechnet den Schreiber der Salzburger Fragmente - wie jenen der beiden Tagelieder im Cgm 19 nach einer genauen Dialektbestimmung dem bairischen Sprachgebiet zu.39
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36 37 38 39
Zweifelsfällen nicht die Herstellung des Bauschemas, wie denn überhaupt ,die freilich wunderbare Orthographie dieses schreibers' (Lachmann) irritieren kann." KARL HEINZ BORCK: Wolframs Tagelied Den morgenhlic hi wahtaers sänge erkos. Zur Lyrik eines Epikers. In: Studien zur Deutschen Literatur. Festschrift für A. Beck zum siebzigsten Geburtstag. Hrsg. von ULRICH FÜLLEBORN/JOHANNES KROGOLL, Heidelberg 1979 (Probleme der Dichtung 16), S. 9-17, S. 10. BORCK zählt den Schreiber der Prosastücke zum ursprünglichen Verbund der Werkstatt und zählt infolgedessen sieben Schreiber. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 45f. MONTAG: Die Handschrift Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Inhalt - Beschreibung - Forschungsstand, S. 44, Anm. 58. HAYER: Ein neues Salzburger Fragment zum Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems, S. 21 KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 46. Vgl. auch HAYER: Ein neues Salzburger Fragment zum Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems, S. 22.
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Handschriftengeschichtliche Indizien weisen sowohl für die Codices Cgm 19 und 51 als auch für die Salzburger Fragmente nach Bayern: „Dieses Gruppenschicksal hat erheblich mehr Gewicht als die Provenienz einer einzelnen Handschrift. Auch das spricht für eine Entstehung im bairischen oder angrenzenden ostalemannischen Raum und jedenfalls gegen eine weiter westliche Situierung des Skriptoriums." 40 Datiert wird diese Handschriftengruppe auf das zweite Viertel des 13. Jahrhunderts. 41 Für den Tristan-Codex hängt die zeitliche Bestimmung eng mit der Entstehungszeit der Fortsetzung Ulrichs von Türheim zusammen: D i e C h r o n o l o g i e der T e x t e Ulrichs v o n T ü r h e i m läßt sich zu Teilen v o m Sterbedatum K o n r a d s v o n Winterstetten her rekonstruieren. D a er i m Prolog des Tristan als Auftraggeber erscheint, ist für diesen R o m a n K o n r a d s T o desjahr 1243 terminus ante quem.42
Infolgedessen datiert Schneider die Th>to»-Handschrift in die Mitte des 13. Jahrhunderts. 43 Uber den Schreiber G 1, dem Hauptschreiber auch der Wolfram-Handschrift, wird eine ähnliche Entstehungszeit für den Cgm 19 angesetzt. Da Rudolf von Ems im Wilhelm von Orlens ebenso den Reichsministerialen Konrad von Winterstetten als seinen Mäzen erwähnt, wird der Versroman um 1243 vorgelegen haben: Die Salzburger Fragmente des Romans können also als sehr frühe Uberlieferungszeugen gelten.
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KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 53. SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, verweist S. 150 auf bayrische Sprachmerkmale in Federproben aus dem 15. Jahrhundert im Cgm 19. Zur Besitzergeschichte des Cgm 19 vgl. DRESSLER: Die Handschrift Cgm 19 der Bayerischen Staatsbibliothek München, S. 5-11. Zu jener des Cgm 51 MONTAG: Die Handschrift Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Inhalt - Beschreibung - Forschungsstand, S. 43-53, bes. S. 48ff. Z.B. bei KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 36. PETER STROHSCHNEIDER: Ulrich von Türheim. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Zweite, völlig neu bearbeitete Auflage. Hrsg. von BURGHART WACHINGER [u. a.], Bd. 10, Berlin/New York 1999, Sp. 28-39, Sp. 29. Vgl. auch JOACHIM BUMKE: Mäzene im Mittelalter. Die Gönner und Auftraggeber der höfischen Literatur in Deutschland 1150-1300, München 1979, S. 251f., S. 274, S. 276f.; BUMKE: Die vier Fassungen der Ntbelunginklage, S. 83. SCHNEIDER: Gotische Schriften in deutscher Sprache, S. 152f.; MONTAG: Die Handschrift Cgm 51 der Bayerischen Staatsbibliothek München, Inhalt - Beschreibung Forschungsstand, S. 36.
Textkürzung und -bearbeitung
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4.4. Textkürzung und -bearbeitung Die Texte, die in dieser großen Schreiberwerkstatt angefertigt worden sind, weisen im Vergleich zu Textzeugen in anderen Handschriften Unterschiede hinsichtlich Textbestand, Textfolge und Textformulierungen auf. Die einzelnen Uberlieferungsträger des Skriptoriums sind von Kürzungen und Bearbeitungen der Texte in ganz unterschiedlichem Maß betroffen. A m stärksten sind Gottfrieds Romanfragment und die Fortsetzung durch Ulrich von Türheim im Münchner TristanCodex. einer Redaktion ausgesetzt gewesen. 44 Die altgermanistische Textkritik bemerkte schon frühzeitig, dass der Text dieser Tm/a«-Handschrift einen spezifischen historischen Zustand repräsentiert. Denn der Cgm 51 enthält eine stark verkürzte Fassung der Texte Gottfrieds und Ulrichs: Es fehlen fast 4000 Verse, wobei die Hälfte allerdings auf den Verlust von Blättern zurückzuführen ist. 45 Über die Gründe und die Funktionen der Kürzungen (und der anderen Bearbeitungsformen) in Μ wird bis heute kontrovers diskutiert. Unter anderem hält WERNER SCHRÖDER die kürzende Redaktion für intentional: Da [bei der Textfassung von M] handelt es sich niemals um Versehen (von ein paar ausgelassenen Versen abgesehen), vielmehr um vorsätzliche Eingriffe. Die meisten sind nicht ohne weiteres als Streichungen zu erkennen. Die weggelassenen Verse sind so geschickt herausgegriffen, daß es weder syntaktische Verwerfungen noch Reimstörungen gibt. W o sie einzutreten drohten, ist der Vers davor oder danach geändert, nötigenfalls ein Zusatzvers eingefügt. 4 '
Dass diese redaktionellen Eingriffe inhaltliche und formale Veränderungen in den Texten bewirken, konstatierte bereits die ältere Forschung, die aber zu unterschiedlich wertenden Einschätzungen dieser Texteingriffe kam. 44
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BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 83: „Noch ausgeprägter ist die redaktionelle Textarbeit in der Handschriftengruppe um den Cgm 19, vor allem wenn man das Kürzungsprogramm des Cgm 51 in den Mittelpunkt rückt. Auch in diesem Fall gibt es keine historische Bezeugung der Auftragsverhältnisse, so daß das textprägende Interesse aus dem Textbefund selbst erschlossen werden muß." Vgl. BUMKE: Untersuchungen zur Uberlieferungsgeschichte der höfischen Epik im 13. Jahrhundert, S. 296. Mechanisch bedingte Blattverluste treten zwischen fol. 71 und fol. 72 (Verse 11599-13574), bzw. zwischen fol. 100 und fol. 102 (Verse 4612584) auf. WERNER SCHRÖDER: Irrwege und Wege zu einer neuen Tmtan-Ausgabe. In: ZfdA 120 (1991), S. 140-156, S. 147. Vgl. auch KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 58: „Fast durchweg bezeugen die redaktionellen Veränderungen, vor allem auch die Kürzungen, eine sehr gute Textkenntnis und ein bemerkenswertes Geschick."
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Das handschriftliche Material
Ein ähnlich kürzend bearbeitender Zugriff - wie im Falle der Münchner Trcr/a«-Handschrift - lässt sich auch an dem freilich nicht allzu umfangreichen Text der Salzburger Fragmente feststellen: Die Fragmente tradieren 530 Verse und haben etwa 96 Verse ausgelassen. 47 Das legt den Verdacht nahe, dass eine formende Redaktion bei der Anfertigung von Handschriften als Usus dieser Schreibstube anzunehmen ist. JOACHIM BUMKE hat darauf hingewiesen, dass einige Romane des 12. und 13. Jahrhunderts in sogenannten Kurzfassungen, denen eine relative Autornähe womöglich zugestanden werden kann, überliefert sind. Besonderes Interesse verdienen dabei die Werke Ulrichs von Türheim und Rudolfs von Ems, weil die Kurzfassungen ihrer Epen in Handschriften überliefert sind, die wahrscheinlich noch zu Lebzeiten der Autoren geschrieben worden sind und die vielleicht aus demselben Umkreis stammen wie die Auftraggeber dieser Werke. [...] Man sollte sich von der Vorstellung freimachen, daß Kürzungen von epischen Texten als unzulässige Eingriffe in die Originalfassung der Werke anzusehen seien.48
Die beiden anderen, allerdings nicht umfangreichen Fragmente des Skriptoriums weisen keine Textkürzungen auf: Das ParqvalBruchstück E 4 9 wie das Willehalm-'Frz^menx. Cgm 5249/4g zeigen weder Plus- noch Minusverse. Der Umfang der auf diesen Fragmenten überlieferten Texte ist aber so gering, dass keine Aussagen über eine spezifische Gestaltung der Fragmente gemacht werden können. Die beiden Tagelieder Den Morgenblic und Sine kläwen sind im Münchner Codex unikal überliefert: Aussagen über mögliche Bearbeitungstendenzen dieser Texte sind also nicht möglich. Die Schreiber und nach ihnen auch die Forschung haben Wolfram von Eschenbach die zwei anonymen Lieder zugeschrieben und damit „zwei der künstlerisch bedeutsamsten Tagelieder Wolframs" 5 0 der Nachwelt übermittelt. Nimmt man an, dass die Tradierung von Lieddichtung bis zum Ende des 13. Jahrhunderts meist mündlich erfolgte und die Lieder performativ rezipiert worden sind, spricht die Aufnahme die47 48
49 50
Vgl. HAYER: Ein neues Salzburger Fragment zum Willehalm von Orlens des Rudolf von Ems, S. 22. Vgl. BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 296f. Als autornahe Kurzfassungen kennzeichnet BUMKE die Fassung S von Herborts Liet von Trot'e, die Fassung Μ von Gottfrieds Tristan und von Türheims TORFAE-Fortsetzung, die Fassung S des Wilhelm von Orlens von Rudolf von Ems, schließlich die Kurzfassungen von Etzenbachs Alexander und des Friedrich von Schwaben. Dem Fragment Ε fehlen - wie auch den vollständigen PanpW-Handschriften G und G m - d i e Verse 163,25-28. Lyrik des frühen und hohen Mittelalters. Edition der Texte und Kommentare von INGRID KASTEN. Übersetzung von MARGHERITA KUHN, Frankfurt a.M. 1995 (Bibliothek des Mittelalters 3), S. 1052.
Textkürzung und -bearbeitung
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ser Lieder in das Programm der Handschrift sowohl für die hohe Wertschätzung des CEuvres Wolframs als auch für die literarische Kompetenz des Redaktors. Im Cgm 19 werden die Liedertexte als Lesestoff bewahrt:51 Dem literarisch bewanderten Schreiber oder Auftraggeber der Münchener Handschrift waren demnach Texte bekannt, die wenige Generationen später im Elsaß (Kleine Heidelberger Liederhandschrift) wie im Bodenseeraum (Weingartner Liederhandschrift, Große Heidelberger Liederhandschrift) nicht mehr zum tradierten Liedgut gehört haben dürften, denn der Annahme, daß die Urheber aller drei Sammlungen ihnen bekannte Wolframtexte auswählend übergangen hätten, steht die Beliebtheit entgegen, die Wolfram als Erzähler genoß.52
Obwohl der Text der Wolframschen TV/W-Fragmente im Cgm 19 Minusstellen aufweist, reiht JOACHIM BUMKE die /-Fragmente der Münchner Wolfram-Handschrift nicht unter die Reihe der Kurzfassungen ein.53 Wenn man aber von der Hypothese der textverändernden und textkürzenden Eingriffe in die Werke des Skriptoriums ausgeht, so ist damit zu rechnen, dass auch jene 164 Ti'/»re/-Strophen der Münchner Wolfram-Handschrift eine spezifische Prägung bei der Abschrift erhalten haben, die - textkritisch ausgedrückt - sekundärer Art wäre, nicht auf den Autor zurückginge.54 So fehlen dem Münchner Titurel ja auch gegenüber den beiden anderen Textzeugen elf Strophen.55 Diese Strophen finden sich auch alle im Text des Jüngeren Titurel*
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55 56
Infolgedessen plädieren J O A C H I M BUMKE u n d J O A C H I M HEINZ-
Vgl. DIETER KARTSCHOKE: Rezension zu DENNIS H . GREEN: Medieval Listening
and Reading. The primary reception of German literature 800-1300, Cambridge University Press 1994. In: Arbitrium 2 (1997), S. 160-162, S. 161. JOACHIM BUMKE vermutet, dass es im 13. Jahrhundert keine zuverlässige Sammlung von Wolframs Liedern gegeben hat (vgl. BUMKE: Wolfram von Eschenbach. 7., völlig neu bearbeitete Auflage, S. 30). BORCK: Wolframs Tagelied Den morgtnblic bi wahtaers sangt erkos. Zur Lyrik eines Epikers, S. 10. BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 42: „Auch von Wolframs TiturelFragmenten gibt es zwei Fassungen aus dem 13. Jahrhundert, die im Text bestand und in den Formulierungen weit auseinandergehen. Die eine Fassung wird durch die Münchener Handschrift G vertreten, die andere durch die Handschriften Η und M." KLEIN hält es für unwahrscheinlich, „daß dieser Schreiber entgegen seiner sonstigen Praxis im Titurel überhaupt nichts ausgelassen hätte" (KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 63). Vgl. auch ENGELS: Wolframs von Eschenbach Parqval, Titurel und Tagelieder in der Überlieferung der Handschrift G, S. 42-45, bes. S. 43: „Wir müssen damit rechnen, dass G Strophen ausgelassen hat." In der Handschrift G sind die Strophen 30 (H); 31; 33; 34; 36 (HM); 53 (H); 80a-80d, 82a (M) nicht erhalten. JOACHIM BUMKE: Zur Überlieferung von Wolframs Titurel. Wolframs Dichtung und der Jüngere Titurel. In: ZfdA 100 (1971), S. 390-431, S. 411.
112
Das handschriftliche Material
LE dafür, einige der Plusstrophen aus den Überlieferungszeugen Η und Μ Wolfram zuzuschreiben. 57 Der Text des Par^va/ im Münchner Wolfram-Codex kann hingegen keinesfalls als kürzende Redaktion bezeichnet werden. Auffallend sind aber doch - vor allem im Schreibbereich von G 1, „der ja die von ihm geschriebenen Texte zugleich auch bearbeitet zu haben scheint"58, - eine ganze Reihe von Textauslassungen. Es finden sich in dem von ihm angefertigten Par^ww/-Abschnitt - der ersten Hälfte des Romans - Texttilgungen, die aber im Vergleich zu den von ihm abgeschriebenen Texten im Cgm 51 geringer ausfallen.59 THOMAS KLEIN hat zudem beobachtet, dass die Verteilung der Auslassungen im Cgm 19 anders gewichtet ist als im Cgm 51.60 Die Textbearbeitung kann aber auch nicht als Nachlässigkeit des Schreibers aufgefasst werden: Die Betrachtung des unterschiedlichen Versbestandes in D und G läßt also, zumal für jene Textpartien, die von Schreiber I der Handschrift G stammen, erkennen, daß viele Veränderungen von G bewußt vorgenommen worden sind. Es zeigt sich eine allgemeine Tendenz zur Kürzung, Vereinfachung und Verdeutlichung eines überkommenen Textes [...]."
Wolframs Gralroman ist - anders als die anderen in dieser Werkstatt tradierten höfischen Erzähltexte - offenbar keiner erheblich kürzenden Bearbeitung ausgesetzt gewesen. Wenn man darin eine besondere Hochschätzung dieses Textes erblickt,62 setzt man ästhetische Maßstäbe, welche dessen Geschlossenheit und Festigkeit mit der Autorität seines Autors verbindet. D o c h kann auch die ,Weiterarbeit' an einem 57
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JOACHIM HEINZLE: Stellenkommentar zu Wolframs Titurel. Beiträge zum Verständnis des überlieferten Textes, Tübingen 1972, S. 53f., 58f., 61, 90, 126f., 132; JOACHIM BUMKE: Titurelüberlieferung und Titurelforschung. Vorüberlegungen zu einer neuen Ausgabe von Wolframs Titurelfragmenten. In: ZfdA 102 (1973), S. 147-188, bes. S. 166-174. Zur Textkritik der T;>«n?/-Fragmente vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 6. Wolframs Titurtl im Spannungsfeld von Fragmentarisierung als literarischer Strategie und .Poetik' der Uberlieferung. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 62. GESA BONA™ weist nach, dass G gegenüber D - der Leithandschrift der "'D-Fassung des Romans - bis V. 434,15 210 Verse fehlen. Demnach sind aber 104 Verse in *G oder * G G m ausgefallen (G. B.: Untersuchungen zur Uberlieferung des i V ^ r W Wolframs von Eschenbach, Bd. 2, S. 107, S. 25 If., S. 274-276). KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 62: „Sie [die Bearbeitungstendenz] ist zwar bis zum 3000. Dreißiger (v. 9000) ähnlich, dann aber nehmen die Auslassungen ganz anders als im Cgm 51 wieder ab, und in den letzten ca. 50 Dreißigern finden sich gar keine nur G eigenen Auslassungen mehr." ENGELS: Wolframs von Eschenbach Pargval, Titurel und Tagelieder in der Uberlieferung der Handschrift G, S. 39. Auffällig ist, dass ENGELS alle Textauslassungen von G - im Vergleich zur St. Galler Handschrift D - auf der Ebene der Abschrift dieser Handschrift ansiedelt. Vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 62f.
Textkürzung und -Bearbeitung
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(mittelalterlichen) Text durch andere Autoren oder Schreiber das Ansehen und die Geltung des eigentlichen Urhebers signalisieren. Der Text des Wolframschen Pargval ist im G-Skriptorium abgeschrieben und dabei verändert worden: Die Funktion dieser Texteingriffe bedürfen der weiteren Analyse, um das Profil des Wolfram-Bildes, das sich in der Arbeit dieses Skriptoriums sedimentiert, schärfer zu akzentuieren. Bei der Beschäftigung mit den Handschriften dieses Skriptoriums muss zu der textgeschichtlichen Frage Stellung genommen werden, ob die Fassungen der Texte von G, Μ und S in dem Skriptorium selbst entstanden sind.63 Direkte Hinweise gibt es dafür nicht. Indirekte allerdings: Dass in den erhaltenen Textzeugen Erstfassungen der Redaktion greifbar sind, wird dadurch wahrscheinlich, dass die redigierten Textteile in den Handschriften Cgm 19 und 51 in den Schreibbereich eines einzigen Schreibers fallen, nämlich in den von G 1, dem Hauptschreiber dieser Textzeugen.64 Ein sicherer Beleg der Annahme, dass in Μ der originale Redaktionstext vorliegt, wird dadurch erschwert, dass in den Handschriften Β und Ε Tristan-Texte überliefert sind, die mit dem Münchner Tristan-Codex viele Auslassungen teilen.65 Sind BE nun direkt abhängig von M66 oder gehen alle drei Handschriften auf einen Hyparchetyp *MBE zurück, was eine nur beschränkte textliche Eigenständigkeit der Münchner Handschrift zur Folge hätte?67 63 64 65 66
67
Vgl. ALAN R. DEIGHTON: Zur handschriftlichen Überlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: ZfdA 112 (1983), S. 198-207, S. 199. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 55; vgl. schon RANKE: Die Uberlieferung von Gottfrieds Tristan, S. 414f. Vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 55. RANKE, KLEIN, DEIGHTON und WETZEL favorisieren eine direkte Abkunft der Tm/an-Handschriften Β und Ε von Μ (RANKE: Die Uberlieferung von Gottfrieds Tristan, S. 74f.; KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 58; DEIGHTON: Zur handschriftlichen Uberlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 206f.; RENE Wetzel: Die handschriftliche Uberlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg. Untersucht an ihren Fragmenten, Freiburg (Schweiz) (Germanistica Friburgensia 13), 1992, S. 361ff.). Auch ELKE BRÜGGEN und HANS-JOACHIM ZLEGELER erwägen, „ob nicht Β ebenso wie Ε auch unmittelbar auf Μ habe zurückgreifen können, was die Nutzung einer *BEb-Handschrift [...] nicht ausschließt." (ELKE BRÜGGEN/HANS-JOACHIM ZIEGELER: Der Tristanstoff und die Manuskriptkultur des Mittelalters. Text und Bild in der Kölner Tristan-Handschrift B. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis. 8. April 2000. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VICTOR MILLET, Tübingen 2002, S. 23-74, S. 31.) GESA BONATH, THOMAS KERTH u n d C O N KOOZNETZOFF b e s t r e i t e n die d i r e k t e
Abhängigkeit von Μ für BE (BONATH: Untersuchungen zur Uberlieferung des Parqval Wolframs von Eschenbach, Bd. 1, S. 34 Anm. 88; Ulrich von Türheim: Tristan. Hrsg. von Τ . K., Tübingen 1979 (ATB 89), S. XV; C. K.: Genealogical Analysis of an
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Das handschriftliche Material
In Anschluss an die Position RANKES, der dafür plädiert, dass B E vertikal von Μ abhängen,68 verweist KLEIN im Besonderen auf die Existenz von sechs Einzelversen in der Münchner Tm/ö«-Handschrift. Diese Verse werden einer Nachtragshand des beginnenden 14. Jahrhunderts zugeschrieben, die das wohl nicht absichtliche Fehlen dieser Verse69 erkannte und die Lücken selbständig füllte.70 Da diese Zusatzverse sich nur in den Handschriften B E finden, liegt der Befund nahe, dass sie direkt aus Μ abgeschrieben sind. Wie schon RANKE gehen KLEIN und DEIGHTON mit überzeugenden Gründen davon aus, dass für die Herstellung von ""BE neben Μ noch eine andere vollständige Tmta«-Handschrift verwendet wurde.71 Letztlich lässt es sich nicht beweisen, dass in den überlieferten Handschriften der Werkstatt die ersten Textzeugen der Redaktion zu fassen sind.72 Es kann aber als wahrscheinlich gelten, dass in diesem großen Skriptorium um 1250 Umarbeitungen höfischer Erzähltexte entstanden, die als erste Niederschriften in den Codices Cgm 19, Cgm 51 und in den Salzburger Fragmenten S erhalten sind. Gerade aber die erwähnten sechs Plusverse der Nachtragshand im Text der Münchner TwAj»-Handschrift veranlassen JOACHIM BUMKE zu einer skeptischen Bemerkung, die auf die Begrenztheit textkritischer Erkenntnismöglichkeiten zielt: W e n n jedoch damit zu rechnen ist, daß ein Abschreiber selber seine Vorlage textlich verändert und den veränderten Text dann in seine Abschrift übern o m m e n hat, müßte man wohl darauf verzichten, das Abhängigkeitsverhältnis überhaupt genauer bestimmen zu wollen. 7 3
BUMKE kritisiert des Weiteren - im Falle der am Cgm 51 beteiligten Werke - die textgeschichtlichen Untersuchungen, die sich um die Entschlüsselung der Abhängigkeitsverhältnisse der Handschriften bemühen, noch mit einem weiteren Argument. Er verweist darauf, dass
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Unpublished Tristan-Fragment, Cod. Vindob. 15340. In: Festschrift für E. W. Herd. Hrsg. von AUGUST OBERMAYER, Dunedin 1980 (Otago German Studies 1), S. 134150, S. 147f.). Vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 55. In Μ sind sonst nur ganze Reimpaare gekürzt. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, führt die Verse auf S. 55 Anm. 99 an. Vgl. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 56-58; DEIGHTON: Zur handschriftlichen Uberlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 204-206. KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 58; DEIGHTON: Zur handschriftlichen Uberlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 207. BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 22. BUMKE diskutiert im Rahmen seiner Auseinandersetzung mit dem textkritischen Konstrukt der Kontamination auch den hier interessierenden Fall der Kölner Tn>ta»-Handschrift Β ausführlich (vgl. ebd. S. 21f.).
Bisherige Deutungen der Textbearbeitung und -kürzung
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[...] die Textbezeugung von Türheims TTwtoa-Fortsetzung bis dicht an die Entstehungszeit dieses Epos' zurückreicht, was dazu führt, daß nicht mehr deutlich zwischen Autor und Redaktor unterschieden werden kann. Damit erübrigt sich weitgehend die Frage, ob die Kurzfassung von Türheims Tristan im Cgm 51 als Produkt einer nachträglich vorgenommenen Kürzung angesehen werden muß. Statt dessen kann man den Text, wie ihn die Handschrift überliefert, als (mehr oder weniger) originäre Bezeugung einer Epenfassung würdigen, wozu die handschriftliche Uberlieferung sonst nur selten Gelegenheit bietet.7*
4.5. Bisherige Deutungen der Textbearbeitung und -kürzung
4.5.1. C g m 51 KURT HEROLD fragt in seiner Dissertation von 1911 nach dem Konzept, das der Textbearbeitung und -kürzung im C g m 51 zugrunde liegt. 75 HEROLDS Arbeit listet in einem ersten Teil die Varianten der Münchner Handschrift auf - kategorisiert nach Wortbestand, Wortformen, Syntax, Metrum und Stil. Im zweiten Teil nimmt er Stellung zu den Lücken der Handschrift. Die Tendenz der Bearbeitung erblickt HEROLD in einer „Redaktion nach Hartmann" 7 6 : Unsere Handschrift [M] zeigt eine durchaus einheitliche Umarbeitung, die darin gipfelt, bei formalen Abweichungen einerseits den regelmäßigen mhd. Wort- und Sprachgebrauch einzuführen und andererseits [...] in Fragen der Wortgebung und Stilistik die Diktion Gottfrieds durchaus der Sprache Hartmanns zu nähern.77
Das von HEROLD gesichtete Textmaterial lässt sich aber mit dieser Hypothese nicht erklären. Die für den Münchner Codex angenommene ,Hartmannisierung' basiert auf der Untersuchung des Stils des redigierten Textes und klammert eine inhaltliche Analyse der Bearbeitungstendenzen aus. Darüber versäumt es HEROLD, die Kategorien zu benennen, die seiner Meinung nach den Hartmann-Stil kenn-
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BUMKE: Die vier Fassungen der Nibelungenklage, S. 83.
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KURT HEROLD: D e r Münchner Tristan. Ein Beitrag zur Überlieferungsgeschichte und Kritik des Tristan Gottfrieds von Straßburg, Straßburg 1911 (Quellen und Forschungen zur Sprach- und Culturgeschichte der germanischen Völker 114). HEROLD: Der Münchner Tristan, S. 77. E b d . S. 77.
76 77
116
Das handschriftliche Material
zeichnen; auch erläutert er nicht, weshalb gerade der Hartmannsche Stil paradigmatisch die Epoche bestimmt haben soll.78 Allerdings kann man HEROLDS Materialzusammenstellung entnehmen, dass der Redaktor der Münchner Tm/^-Handschrift die Komplexität von Gottfrieds Sprache zurücknimmt. Die Zerstörung z.B. einer Reihe von „Wortwiederholungen und Wortspielen"79 in Μ zeugt von einer Vereinfachung der elaborierten Rhetorik des Straßburgers. Neben dieser Tendenz zur Trivialisierung des Textes kann zuweilen auch das Bemühen beobachtet werden, das Gesagte verständlich zu machen. Solches kann man vermuten, wenn der Redaktor französische Wendungen Gottfrieds ins Mittelhochdeutsche übersetzt.80 RANKE nahm die These HEROLDS, nach der sich die Bearbeitung der im Cgm 51 tradierten Texte an Hartmanns Romanen orientierte, auf und versuchte, den Hartmann-Verfechter zu identifizieren: Jener in Straßburg urkundlich bezeugte Meister Hesse, der in Rudolfs von Ems Dichterexkurs im Wilhelm von Orlens genannt und hoch gelobt wird, 81 avancierte so dank RANKE in der altgermanistischen Forschung für 50 Jahre zum Chefredaktor der G-Werkstatt. 82 Meister Hesse gilt in dem Exkurs des Rudolfschen Romans als Literaturkenner, der ästhetische Mängel an den ihm vorgelegten oder vorgetragenen Texten auszumerzen weiß. Er übernimmt eine beratende Funktion bei der weiteren Textproduktion. Erst GESA BONATH widerlegte RANKES spekulative These, nach der Meister Hesse zum Schreiber und Redaktor von Cgm 19 und 51 befördert wurde. 83 Was die For78
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82 83
Zur Kritik an Herold vgl. auch GERD-DIETMAR PESCHEL: Prologprogramm und Fragmentschluß in Gotfrits Tristanroman, Erlangen 1976 (Erlanger Studien 9), S. 123 und 125. HEROLD: Der Münchner Tristan, S. 55. Beispiele für diese stilistischen Vereinfachungen finden sich bei Herold (S. 55-59). Vgl. HEROLD: Der Münchner Tristan, S. 38f. Diese Ubersetzungsarbeit des Redaktors kann zudem mit seiner, auch im weiteren Textverlauf zu beobachtenden antihöfischen Einstellung erklärt werden. Vgl. Rudolf vom Ems: Wilkhalm von Orlens. Hrsg. aus dem Wasserburger Codex der Fürstlich Fürstenbergischen Hofbibliothek in Donaueschingen von VICTOR JUNK, 2. unveränderte Auflage, Dublin/Zürich 1967 (DTM 2), V. 2279-2289: „'Nu taete ichz, ob ich wisse/ Ob mir maister Hesse/ Von Straßburg de sribaere/ Wolde disu maere/ Prisen ob si waerent guot.'-/ Ja er, binamen ja, er tuot!/ Er hat beschaidenhait so vil,/ Swa er tihte bessern wil,/ Das er zu rechte bessern sol,/ Da kumt sin uberhoeren wol,/ Wan ez besserunge holt." Vgl. RANKE: Die Überlieferung von Gottfrieds Tristan, S. 156. Vgl. BONATH: Untersuchungen zur Uberlieferung des Panjval Wolframs von Eschenbach, Bd. 1, S. 33-36. Als einen wichtigen Grund führt BONATH die (erwähnten und) in Μ zerstörten Wortspiele und Klangeffekte an. Solches hätte Rudolf, der stilistisch Gottfried folgt, Meister Hesse nicht durchgehen lassen. Da er ihn ja aber lobend erwähnt, kann jener Meister Hesse nicht der M-Redaktor gewesen sein.
Bisherige Deutungen der Textbearbeitung und -kürzung
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schung zu der historisch fassbaren Person Meister Hesses ermitteln konnte, hat URSULA PETERS mit der nötigen Vorsicht zusammengefasst: E s ist deshalb sehr viel naheliegender, in Meister Hesse einen angesehenen Straßburger Geistlichen zu sehen, der bereits in den 30er Jahren des 13. Jahrhunderts von dem Rat offenbar regelmäßig mit der schriftlichen Fixierung von Urkunden bzw. der rechtlichen Bestätigung von Verwaltungsakten betraut und deshalb als notarius burgemium bezeichnet wurde. Rudolf von E m s äußert sich über die Schreibertätigkeit Meister Hesses überhaupt nicht. Er spricht lediglich von ihm als einem geachteten Literaturkenner, der mit seinem Uterarischen Urteil über die bereits fertiggestellten Romanpartien ihm, dem Autor, das Weiterarbeiten erleichtern würde, da sein - wie Frau Aventiure betont - ausgeprägtes Literaturverständnis (beschaidenhait V. 2285) und seine prüfende Aufmerksamkeit beim Literaturvortrag {überhören V. 2288) zur Perfektionierung dichterischer Werke beitrage. Mehr erfahren wir von den Fähigkeiten dieses Meister Hesse nicht.' 4
GERD-DIETMAR PESCHEL rollte dann - in Erneuerung einer Vermutung KARL MAROLDS - die Frage nach der Urheberschaft der Bearbeitung und ihrer Funktionen neu auf.85 PESCHEL, der eine Aufstellung der Differenz im Textbestand von M(BE) und der Heidelberger Handschrift bietet, kommt zu dem Schluss, dass im Münchner Codex eine kurze Erstfassung des Romans überliefert ist, die Gottfried selbst zu der long version ausarbeiten wollte. Als Alternative erwägt PESCHEL, dass ein Autorkollege Gottfrieds an dem Romanfragment soviel auszusetzen hatte, dass er es zu der Kurzfassung des Textes im Cgm 51 bearbeitete.86 Gegen die Auffassung, dass Gottfried sowohl als Autor einer Kurzfassung als auch einer Langfassung des Tristan zu betrachten ist, kann vor allem eingewendet werden, dass der andere Text, den die Münchner Handschrift enthält, nämlich Ulrichs von Türheim Fort84
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URSULA PETERS: Literatur in der Stadt. Studien zu den kulturellen Organisationsformen städtischer Literatur im 13. und 14. Jahrhundert, Tübingen 1983, S. 250-254, hier S. 254. Vgl. zur literaturkritischen Tätigkeit Meister Hesses auch die Bemerkungen von BEIN: ,Mit fremden Pegasusen pflügen'. Untersuchungen zu Authentizitätsproblemen in mittelhochdeutscher Lyrik und Lyrikphilologie, S. 152; vgl. auch ADRIAN STEVENS: Zum Literaturbegriff bei Rudolf von Ems. In: Geistliche und weltliche Epik des Mittelalters in Osterreich. Hrsg. von DAVID MCLINTOCK [u.a.], Göppingen 1987 (Publications of the Institute of Germanic Studies 37), S. 19-28. MAROLD hatte in seiner Ausgabe von Gottfrieds Roman vermutet, „dass wir in der in M(BE) vorliegenden Textgestalt die erste Redaktion des Gedichtes durch Gottfried sehen können, die er dann erweiterte, und deren erweiterte Gestalt in die anderen Texte übergegangen ist [...]" (MAROLD/SCHRÖDER, S. LVI; vgl. auch PESCHEL: Prologprogramm und Fragmentschluß in Gotfrits Tristanroman, S. 117-123). Vgl. PESCHEL: Prologprogramm und Fragmentschluß in Gotfrits Tristanroman, S. 129.
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Das handschriftliche Material
setzung, ebenfalls eine kürzende Bearbeitung erfahren hat. So spricht SCHRÖDER von der „Gleichartigkeit der Bearbeitung", der Gottfrieds Torso und Ulrichs Fortsetzung in Μ ausgesetzt waren, ohne dies freilich näher zu belegen.87 In einem späteren Aufsatz räumt PESCHEL ein, dass die Tatsache der Bearbeitung von Ulrichs Text seine These von Gottfried als Autor der redigierten Textfassung in Μ widerspricht.88 BUMKE hat bei seinen Bemühungen, zwischen .Fassung' und .Bearbeitung' eines Textes zu differenzieren, den Fall des Cgm 51 ausführlich diskutiert. Für ihn ist - wie schon erwähnt - die Entstehungszeit der Handschrift noch zu Lebenszeit einer der beteiligten Autoren von entscheidender Bedeutung. So zieht BUMKE in Erwägung, dass Ulrich von Türheim die Fassung seiner Fortsetzung, wie sie in der Münchner Tw/va% ist άατζ. Die Figur in der Mitte des Bildes - die mit Regina bezeichnete Königin Isolde - greift in das Schwert der zornigen jungen Isolde. Sie teilt das Register in zwei Szenen. Auf dem Spruchband am rechten Bildrand heißt es: Brangane was tnstrade guot benam denfrouwengar den muot.
80
FRANZ JOSEF WORSTBROCK: Der Zufall und das Ziel. Ü b e r die Handlungsstruktur in Gottfrieds Tristan. In: Fortuna. Hrsg. von WALTER HAUG/BURGHART WACHINGER, Tübingen 1995 (Fortuna vitrea 15), S. 34-51, S. 41. Vgl. hierzu auch HUBER: Die A u f n a h m e und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 105. Gestaltung von Bild u n d Text im Cgm 51 treffen sich darin, dass sie der TruchsessenEpisode weniger Aufmerksamkeit widmen.
81
Tristan in Irland
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CHRISTOPH HUBER hat auf ein rezeptionsgeschichtliches Indiz
im Cgm 51 aufmerksam gemacht, das die komplexe Beziehung zwischen Tristan und Isolde kommentiert: Nicht verständnislos hat ein früher Rezipient auf der Bildseite der ältesten Gottfried-Handschrift M, welche die Badeszene darstellt, in die darüberliegende Leiste einen dem Mittelalter wohlbekannten Vers Vergils über die unwiderstehliche Macht der Liebe geschrieben: Omnia mncit amor sed nos cedamus amori (Ecloge 10, v. 69: .Alles besiegt die Liebe, und auch w i r wollen der Liebe nachgeben.'). 82 *
Gottfrieds Konzeption der zweiten Gerichtsszene, in der es zum Zweikampf zwischen dem Truchsessen und dem wahren Drachentöter Tristan kommen soll, verändert der Redaktor über eine Reihe von Texteingriffen in erheblichem Maße. Der Inszenierungscharakter der Gerichtsszene ist im Münchner Codex zurück genommen worden. Tristan will, wie die beiden Isolden, am Gerichtstag Eindruck machen. Vielerlei Vorbereitungen zielen auf die Präsentation perfekter höfischer Körper. Die glanzvollen Auftritte von Isolde und Tristan, die ihre Wirkung beim Hofpublikum nicht verfehlen und die als Höhepunkte einer als „strategische Eindrucksmanipulation" 83 zu verstehenden Inszenierung begriffen werden können, überführen den Truchsessen der Lüge. Dieser Erfolg gibt - vor aller Erörterung des Falles - denen Recht, die ihrem Anspruch eine die Differenz von Innen und Außen aufhebende Form geben. Der eigentliche Gerichtsfall gerät infolge dessen zur Nebensache.84 Rechtzeitig zum Kampftag ist die Truhe mit Tristans Kleidern vom Schiff gebracht worden. Tristan beschenkt die drei Damen, denen er sein Leben verdankt. Die Truhe enthält noch reichlich schapel unde vürspartj seckele unde vingerlin (^Tristan 10826f.). Ein Erzählerkommentar, der im Münchner Codex fehlt, preist die Kostbarkeit dieser Schätze.85 82
83 84 85
HUBER: Gottfried von Straßburg: Tristan, 2000, S. 75. Der Vergilvers findet sich auch als Beischrift auf fol. 15r. Dieses Blatt illustriert den Tod Blantscheflurs und die Geburt Tristans. HAFERLAND: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, S. 292. Vgl. ebd. S. 289f. Μ fehlen die Verse Tristan 10829-10832. Die Behauptung PESCHELS, dass Μ der Vers Tristan 10836 fehle, trifft nicht zu (vgl. PESCHEL: Prologprogramm und Fragmentschluß in Gotfrits Tristanroman, S. 108). Sie gründet sich auf die ungenaue Beschreibung im Apparat des Tristan. Denn in Μ fehlt nicht der ganze Vers, sondern nur
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Nachdem Tristan sich sorgfältig angekleidet hat, erzielt er seinen ersten Erfolg: Die beiden Isolden und Brangaene sind von seiner prächtigen Erscheinung derart beeindruckt, dass sie sich über die schöne Gestalt und deren Ausstattung - Inbegriff des Männlichen, des Adeligen - austauschen müssen. Endlich ist Tristans herrliche Gestalt in Kleider gehüllt, die zu ihr passen. Der adlige Rang, den die junge Isolde an diesem Körper längst wahrgenommen hat, ist aber auch Produkt der vornehmen Bekleidung.86 Der Redaktor lässt diese kurze Szene aus.87 Mit dem öffentlichen Auftritt Tristans setzt sich die schon in der Textanalyse des ersten Gerichtstags beobachtete Inszenierung des Geschlechterverhältnisses fort. RASMUSSEN hat - gegenüber der ersten Gerichtsszene - eine Umkehr der Machtverteilung beobachtet: T h e second hearing of the seneschal's case proceeds initially v e r y m u c h like the first one; the seneschal addresses the king and is answered b y the queen, w h o s u m m o n s Tristan. H o w e v e r , T r i s t a n ' s entrance signals that gender issues have been set aright (the 'real m a n ' has appeared) and order has been restored; the king is n o w fully in charge and takes over the hearing. T h e queen's last public act is t o direct m o c k i n g barbs at the seneschal, w h o s e kin, humiliated b y this obvious lies, force h i m t o back d o w n in disgrace. Before the assembled nobility, Tristan presents K i n g M a r k ' s suit, and K i n g G u r m u n and T r i s t a n negotiate and a f f i r m the marriage settlement between K i n g M a r k and Princess Isolde. D u r i n g this part of the scene, the queen does
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der Relativsatz, der dem Text von späterer Hand unter der Spalte wieder hinzugefügt worden ist. Durch die Kürzung des Relativsatzes entstehen Schwierigkeiten im Reimgefüge. Der Text in Μ lautet (ab Vers Tristan 10834): wan als vil da% tristran. im selben eine gurtet nam. (unter der Spalte mit Verweiszeichen.· da% im tragen molge^am) ein tschapel und ein vingerlin. diu im gebare mobten sin (M, fol. 69ra Z. 32-34). Ich halte diesen Eingriff des Redaktors weniger für einen (absichtslosen) Fehler als für eine missglückte Kürzung. Der Text betont - aus der Perspektive der drei Frauen - explizit Tristans männliche Erscheinung: sie gedähten alle in einer frist:/ \wärt, dim man der ist/ ein manlich creatiure;/ sin mat und sin figure/ äe schephent ml an ime den man (...)' (Tristan 10857-10861). Vgl. SCHULTZ: Bodies That Don't Matter: Heterosexuality before Heterosexuality in Gottfried's Tristan, S. 98: "Gottfried seems to believe that 'clothes make the man' in a very concrete way. The clothes cannot do it alone: they need a body with which they harmonize. But that body remains ungendered as long as it is unclothed. Ungendered body and suitable clothes together create the gendered man. [...] Predictably, when clothing creates gendered bodies it does not create them equal. Clothing collaborates with the man's body and confirms its nobility. It turns Tristan into the subject of heroic action, 'a knightly man'. Clothed, Tristan is admired, first by Isold, her mother, and Brangaene, then by the whole court [...]." Dem Codex fehlen die Verse Tristan 10851-10862. Statt ihrer fügt der Bearbeiter ein Verspaar ein: nu duhtersi lobeäch./ erwunschet und saeld'nrich(M, fol. 69ra Z. 47f.).
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not speak, although both she and Isolde are still present. Affairs of state are again firmly in the hands of men.88 Bei den höfisch inszenierten Auftritten v o n Isolde u n d Tristan übern i m m t der Bearbeiter der M ü n c h n e r Tm/a»-Handschrift nicht die detaillierten Beschreibungen ihrer Gestalt u n d Kleidung, ihrer Haltung, B e w e g u n g u n d Gestik. 8 9 Besondere Bedeutung k o m m t dabei der Erscheinung Isoldes zu: si [Isolde] truoc von brunem semft an roc unde mantel, in dem snite von Franze, und was der roc dermite da engegene, da die siten sinkent uf ir liten, gefranzet unde geenget, nähe an ir lip getwenget mit einem borten, der lac wol, da der borte ligen sol. der roc der was ir heinlich, er tete sich nähe zuo der lieh: ern truoc an keiner stat hin dan, er suochte allenthalben an al von obene hin ze tal; er nam den valt unde den val under den füezen alse vil als iuwer iegelicher wil. der mantel was ze flize mit herminer wize innen al uz gezieret, bi zilen geflottieret; er was ze kurz noch ze lanc, er swebete, dä er nider sanc, weder zer erden noch enbor. [...] man sachz innen und uzen und innerhalben luzen daz bilde, daz diu Minne an libe und an dem sinne so schone hete gedraet: diu zwei, gedraet unde genast, diu envollebrähten nie baz ein lebende bilde danne daz. gevedere schächblicke die flugen dä snedicke schächende dar unde dan: 88 89
RASMUSSEN: Mothers and Daughters in Medieval German Literature, S. 128. In Μ fehlen die Verse Tristan 10901-10989 (die Beschreibung des Auftritts Isoldes), 11103-11144 (die Darstellung von Tristans prachtvoller Ausstattung) und 11207-11220 (die Reaktion des Hofes auf Tristans Auftritt).
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift i c h waene, I s o t vil m a n e g e n m a n sin selbes da beroubete. ('Tristan 10904-10965)
Gottfrieds ausführliche Darstellung von Isoldes Erscheinen vor Gericht hat in der Forschung viel Aufmerksamkeit erfahren.90 Dabei haben die Interpreten - bei aller Differenz der Auffassungen - vor allem Gottfrieds exzeptionelle Technik der descriptio hervorgehoben: G o t t f r i e d ' s d e s c r i p t i o n o f I s o l d e e n t e r i n g t h e j u d g e m e n t hall i n D u b l i n " f o r t h e c o n t e s t w i t h t h e s t e w a r d r e p r e s e n t s a n a t t e m p t t o b r e a k f r o m t h e confines of convention.92
Nach C . S T E P H E N J A E G E R , der Gottfrieds Beschreibung von Isolde mit Darstellungsprinzipien der gotischen Plastik in Verbindung setzt, betont die Darstellung der Heldin den Faltenwurf ihrer Kleider: T h e m o t i o n o f t h e e n t r a n c e p a s s e s i n t o t h e s w e e p of t h e g a r m e n t s . T h e p o e t is n o t i n t e r e s t e d i n c o l o r , f a b r i c , r i c h n e s s , w o r k m a n s h i p , b u t in f l o w , s w e e p a n d f o l d s o f t h e g a r m e n t s . T h e fit a n d h a n g o f t h e r o b e m e r i t s 14 l i n e s o f description."
Gottfrieds Betonung der sich bewegenden Kleidung an Isoldes Körper repräsentiere, so J A E G E R weiter, den gleitenden Blick des Betrachters.94 Uber die Beschaffenheit dieses Blicks, wie er im Text entworfen wird, hat E L K E B R Ü G G E N folgende These aufgestellt: „Im kollek90
Vgl. z.B. WILLIAM Τ . H . JACKSON: T h e A n a t o m y of Love. T h e Tristan of Gottfried von Straßburg, N e w Y o r k , L o n d o n 1971, S. 225-232; C . STEPHEN JAEGER: Medieval H u m a n i s m in Gottfried von Straßburg's Tristan and Isolde, Heidelberg 1977, S. 105-115; CHRISTOPH HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen. Untersuchungen zu Thomasin von Zerklaere, Gottfried von Straßburg, Frauenlob, Heinrich von Neustadt, Heinrich von St. Gallen, Heinrich von Müggeln und Johannes von Tepl, München 1988 ( M T U 89), S. 85-91; ELKE BRÜGGEN: Kleidung und adliges Selbstverständnis. Literarische Interessenbildung a m Beispiel der Kleidermotivik in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. In: Literarische Interessenbildung im Mittelalter. D F G S y m p o s i o n 1991. Hrsg. von JOACHIM HEINZLE, Stuttgart, Weimar 1993 (Germanistische Symposien. Berichtsbände XIV), S. 200-215, bes. S. 205f. u. S. 209.
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Hier ist JAEGER ein Irrtum unterlaufen: Tristan landet mit seinem Schiff zwar vor Dublin, die Gerichtstage werden aber in Weisefort anberaumt und abgehalten (vgl. Tristan 9262f., 9704, 11486). JAEGER: Medieval H u m a n i s m in Gottfried von Straßburg's Tristan and Isolde, S. 106. E b d . S. 110; vgl. hierzu auch SCHULTZ: Bodies That D o n ' t Matter: Heterosexuality before Heterosexuality in Gottfried's Tristan, S. 97f.: "Gottfried's description of Isolde's robe invites us to contemplate 'the place where the sides join the hips' and to visualize the effect of a garment that was 'pulled close to her body,' that was 'intimate with her', that 'clung to her body', at the same time. O f course, 'sides' and 'hips' are not peculiarly female: the body that is disclosed is not a sexed b o d y . " Vgl. ebenso JACKSON: T h e A n a t o m y of Love, S. 229. Vgl. JAEGER: Medieval H u m a n i s m in Gottfried von Straßburg's Tristan and Isolde, S. 111.
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tiven räuberischen Blick, Rudiment eines gesellschaftlich tabuisierten Besitzwunsches, fängt Gottfried die Wirkung Isoldes ein." 95 JAEGER kommt zu dem Schluss, dass Gottfrieds Isolden-Beschreibung die literarische Kunstfertigkeit des Autors beweise und „an event autonomous from the meaning of the work" sei.96 Der letzteren Annahme hat CHRISTOPH HUBER widersprochen: Isoldes äußere Erscheinung weist auf ihr Wesen und darüber hinaus auf die Instanz der Minne zurück. Damit kommt der Beschreibung sehr wohl Charakterisierungsfunktion zu; die Personifikation der Minne als Bildnerin bindet sie nicht nur in den weiteren Romankontext, sondern [...] in die Tradition der Venus-Figur von Alans Plamtus?7
Nach HUBER stellt die Beschreibung Isoldes, die er in Frauenportraits des Alanus vorgebildet sieht, eine Überhöhung der Romanfigur dar, die in die Nähe zum Mittel der Personifikation gerückt werden kann. 98 Der damit etablierte Zweitsinn einer allegorisierenden descripήο-Technik bewegt sich nach HUBER spannungsgeladen zwischen den Polen höfischer Idealität und einer „latenten Minnegefährlichkeit" 99 der Frauenfigur. Die im C g m 51 fehlende Beschreibung Isoldes vor Gericht bewirkt also eine Desambiguisierung der Figur. 100 Daraus
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BRÜGGEN: Kleidung und adliges Selbstverständnis. Literarische Interessenbildung am Beispiel der Kleidermotivik in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 209. Ebenso als Objekt voyeuristischer Phantasien interpretiert SCHULTZ hier die Darstellung Isoldes (SCHULTZ: Bodies That Don't Matter: Heterosexuality before Heterosexuality in Gottfried's Tristan, S. 98). MARIA E. MÜLLER verweist auf die dtscriptio der Kriegerin Camilla in Heinrichs von Veldeke Eneasroman, in welcher der Körper dieser Jungfrau ebenfalls begehrlichen Blicken ausgesetzt ist (MÜLLER: Jungfräulichkeit in Versepen des 12. und 13. Jahrhunderts, S. 233). 96 JAEGER: Medieval Humanism in Gottfried von Straßburg's Tristan and Isolde, S. 113. 97 HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 86. 98 Vgl. ebd. S. 89: „Die Hauptdifferenz zu Alanus liegt freilich tiefer: Dieser setzt philosophisch konzipierte Personifikationen in Szene, Gottfried zeigt auf Allgemeines in der Romanfiktion und überhöht Figuren des mm bis an die Grenze zur Personifikation. Darin ist die Originalität seiner Übertragung und die Neuerung im Rahmen des höfischen Romans zu sehen." 99 Ebd. S. 89. HUBER bezieht sich hier auf die oben zitierten und in der Münchner Handschrift fehlenden Verse Tristan 10961-10965. 100 HUBER führt eine weitere Funktion der Beschreibung Isoldes im Sinngefüge des Romans an: „Nach Ort und Funktion der \so\Azn-descriptio in Gottfrieds Roman ist also weiter zu fragen. [...] Daher ist die Aufmerksamkeit auf den strukturellen Ort der dtscriptio des Idols zu lenken. Isolde tritt hier ,in Erscheinung' an dem Punkt der Handlung, wo sie endgültig und rechtskräftig in die Sphäre Cornwalls und damit in ihre neue Minneexistenz hinüberwechselt. Wenn dabei ihr äußeres und inneres Profil im Rahmen perfekt konventioneller höfischer Normerwartung bleibt, resümiert dies die durchlaufene Phase und kennzeichnet sie als nur vorläufig für die kommende."
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
folgt ebenso, dass Gottfrieds erzählerische Strategie ihrer an der lateinischen Tradition orientierten Dimension in der Textgestalt des Cgm 51 beraubt ist: Gottfrieds Erzählen, das hier mittels der Übernahme einer elaborierten descriptio-Technik „eine Kommentar-Ebene extrapoliert"101, wird diese Möglichkeit der Sinnvermittlung genommen. *
Die Vielfalt der Bedeutungsschichten, die Gottfried der Beschreibung seiner Heldin unterlegt hat, kann noch durch ein rezeptionsgeschichtliches Indiz belegt werden. Teile der descnptio von Isolde, die im Text des Münchner Codex getilgt ist, tauchen als wörtliche Zitate in einer alemannischen Bearbeitung des um 1200 entstandenen und anonym tradierten Schwankmaeres Aristoteles und Phyllis auf.102 In der redigierten Fassung der Kurzerzählung, die wohl am Ende des 13. Jahrhunderts angefertigt wurde, finden sich „vier geschlossene Textstücke von zweimal 15, einmal 14 und einmal 10 Versen aus Gottfrieds Tristan einmontiert. 103 Zwei Passagen des kurzen Verstextes {Aristoteles und Phyllis 238-252 bzw. 270-284) sind Gottfrieds Beschreibung des Auftritts von Isolde vor Gericht entnommen (Tristan 10966-10980 bzw. 10992-11006). Die Schilderung des feierlichen Auftritts Isoldes scheint nun deshalb in den Bearbeitungstext integriert worden zu sein, weil sie so sehr die manipulierende Wirkung betont, auf welche die Erscheinung der Figur abzielt: „Auch im maere handelt es sich um eine Inszenierung, die letztlich der Entlarvung eines falschen Anspruchs dient."104
101 102
103
104
(HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 89) Ebd. S. 367. Vgl. HANS ROSENFELD: Aristoteles und Phyllis. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Bd. 1. Hrsg. von KURT RUH u. a., 2. völlig neu bearbeitete Auflage, Berlin, New York 1981, Sp. 434-436; Aristoteles und Phyllis. In: Neues Gesamtabenteuer. Das ist Fr. H. von der Hagens Gesamtabenteuer in neuer Auswahl. Die Sammlung der mittelhochdeutschen Mären und Schwanke des 13. und 14. Jahrhunderts. Bd. 1. Hrsg. von HEINRICH NlEWÖHNER, zweite Auflage hrsg. von WERNER SIMON, mit den Lesarten besorgt v. M. BOETERS u. K. SCHACKS, Dublin, Zürich 1967, S. 234-243. Vgl. auch die Edition des Textes und den Kommentar in: Novellistik des Mittelalters. Märendichtung. Hrsg., übersetzt u. kommentiert von KLAUS GRUBMÜLLER, Frankfun a.M. 1996 (Bibliothek des Mittelalters 23), S. 492523 u. S. 1185-1196. BURGHART WACHINGER: Zur Rezeption Gottfrieds von Straßburg im 13. Jahrhundert. In: Deutsche Literatur des späten Mittelalters. Hamburger Colloquium 1973. Hrsg. von WOLFGANG HARMS und L. PETER JOHNSON, Berlin 1975, S. 56-82, S. 78. Ebd. S. 80. ALAN R. DEIGHTON versteht die poetische Verwendung der Anleihen als Kommentar zu von Gottfried aufgeworfenen Problemzusammenhängen: „In the uses
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*
Tristans Auftritt in Weisefort, „der als Gegenstück zu Isoldes Einzug komponiert ist"105, zeigt deutlich, wie über dessen Beschreibung der Rechtsanspruch des Helden nach seinem Sieg über den Drachen hervorgehoben wird: „Der Held bekräftigt seine überlegene Position im Intrigengewebe der sich zuspitzenden Handlung." Tristan - von Brangaene vor die überraschten Angehörigen des Hofes geführt präsentiert sich im golddurchwirkten Gewand - ein Luxus, der, wie der Text betont, fremd an diesem Hof ist: er [Tristan] truoc ciclädes kleider an, diu wären üzer maze rich, fremede unde lobelich. sine wären niht von hove gegeben: daz golt daz was dar in geweben niht in der hovemäze. {Tristan 11106-11111)
Diese Art Prachtentfaltung erfährt in Gottfrieds Darstellung aber keine Aufladung mit einem allegorischen Zweitsinn: „Vor der Kostbarkeit des Materials scheint hier freilich ein möglicher sensus auf der Strecke zu bleiben. [...] Gegenüber Isolde fehlt ein durchgehender ethischer Zweitsinn. Gottfried scheint ihn in einer Drehung des Gedankens gerade abzulehnen."107 HUBER deutet Gottfrieds unterschiedliche Handhabung allegorischer Techniken bei der poetischen
of quotations from Tristan the poet is not parodying Gottfried's work but making serious comments which indicate an interest in the work which, far from remaining superficial, reaches down into the centre of the problems it raises." (A. R. D.: diu mp sint aUiu niht also. Aristoteles und Phyllis and the reception of Gottfried's Tristan. In: N e w German Studies 6 (1978), S. 137-150, S. 148) Vgl. auch MARION Ε. GIBBS: The Medieval Reception of Gottfried's Tristan. In: A Companion to Gottfried von Strassburg's Tristan. Hrsg. von WILL HASTY, Rochester 2003, S. 261-284, S. 267ff. In Μ fehlt noch der Vergleich Isoldes mit einem Papageien (Tristan 10999f.); einem Sperber und einem Falken darf sie in Μ verglichen werden. Nach PESCHEL: Prologprogramm und Fragmentschluß in Gotfrits Tristanroman, S. 108 steht hier papegän zum ersten Mal in deutscher Sprache. Kann man hier eine Kürzung vermuten, die auf bessere Verständlichkeit zielt? Das Fehlen dieses extravaganten Vergleichs lässt sich auch mit der Abschwächung des Inszenatorischen in dieser Episode erklären. 105 HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 90. Vgl. auch JACKSON: The Anatomy of Love, S. 232. 106 HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 90f. 107 Ebd. S. 90. Hinsichtlich der Verwendung allegorischer Sinnbildungstechnik wäre die Darstellung der Bewaffnung Tristans für den Moroltkampf hinzu zu ziehen. Doch erfährt diese Szene im Text der Münchner Kurzfassung keine Bearbeitung.
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Gestaltung des Auftritts der beiden Figuren am zweiten Gerichtstag in Weisefort als Hinweis darauf, dass die Distanz zwischen dem zukünftigen Liebespaar an dieser Stelle des Romans noch keineswegs aufgehoben ist.108 Mag man auch dem Redaktor der Münchner TristanHandschrift kaum ein derart auf der Kenntnis der lateinischen Tradition fußendes Verständnis des Textes von Gottfried zutrauen, noch ihm zubilligen wollen, dass er Gottfrieds Transformation vorgegebener Sinnbildungsmuster wahrgenommen hat, so besteht doch Anlass zu der Vermutung, dass die Textkürzungen, welche die Episode des Auftritts von Tristan und Isolde in Weisefort betreffen, die in den desuiptiones aufscheinende Kritik an den beiden Figuren zurücknehmen wollen. Wo einerseits Isoldes Schönheit und Ausstrahlung ambivalent erscheint, weil sie auf die bei Hofe anwesenden Männer eine gefährliche Wirkung entfaltet109, ist es andererseits Tristans zur Schau gestellter Reichtum, der den Verhältnissen am Hof in Weisefort nicht entspricht. Die Idealität, die beiden Akteuren attestiert wird, kippt - und diese Textbeobachtung mag ein Grund für die Kürzung in diesem Textbereich gewesen sein. Gottfried unterlässt es nicht, auch die Wirkung von Tristans Auftritt auf das Hofpublikum zu beschreiben.110 Dieses lobt seine Gestalt wie seine Kleider, sein prächtiges Gefolge wie seine Prädestination zum Kampf gegen den Truchsessen. ir genuoge sprächen daz: 'wä geschuof ie got figiure baz ze ritterlichem rehte? hi, wie ist er ze vehte und ze kampfwlse gestellet so ze prise! wie sint diu kleider, diu er treit, so rilichen uf geleit! ezn gesach nie man in Irlant sus rehte keiserlich gewant. sin massenie diu ist gekleit mit küniclicher richeit. und waerliche, swer er si, 108 Ebd. S. 91. 109 Vgl. WESSEL: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde, S. 316: „Seit Isolde als von der Minne zu ihrem Dienst erschaffener Beizvogel auftrat, vermag sie durch ihre Erscheinung und ihre Blicke aktiv-verletzende Gewalt auf die Männer auszuüben, bis sie selbst zum Jagdvogel der Minne wird." 110 Vgl. HUBER: Die Aufnahme und Verarbeitung des Alanus ab Insulis in mittelhochdeutschen Dichtungen, S. 91: „Die Deutung der Funktion seines [Tristans] Auftritts im Erzählablauf hat Gottfried der Hofgesellschaft in den Mund gelegt."
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er ist muotes unde guotes frf.'
(Tristan 11207-11220)
Diese Textpassage, in der die Hofgesellschaft Tristan rühmt, kann als Beleg dienen, dass die mit dem prunkvollen Auftritt verbundenen Ziele erreicht wurden. Damit lässt sich eine funktionale Entsprechung zwischen dieser Schilderung und den Beschreibungen von Tristan und Isolde konstatieren. In Gottfrieds Text, wie ihn der Cgm 51 tradiert, fehlt die Schilderung der Wirkung des Paares am Gerichtstag in Weisefort. 111 In der Tilgung der Beschreibung von Tristans und Isoldes Auftritten in Weisefort, die Gottfried je verschieden mit Sinndimensionen ausstattet, sowie der Reaktion der Hofgesellschaft auf den Anblick des Fremden manifestiert sich eine Bearbeitungstendenz, die den inszenatorischen Aufwand, mit dem Gottfried seine beiden Hauptfiguren in Szene setzt, verkleinert. Es ist, als ob dem Redaktor das elaborierte Spiel der höfischen Selbstinszenierungen unnötig schien, da ein Blick in das Innere des Drachenkopfes ausreicht, den Betrüger zu überführen. Zweifelsohne hat auch der erzählerische Prozess durch den Modus der Bearbeitung, wie ihn der Cgm 51 bewahrt hat, Veränderungen erfahren: Sinndimensionen des Textes, die Gottfried qua Einsatz allegorischer Beschreibungstechniken erzeugt, scheinen verschüttet. Die Texteingriffe zielen auf die Bewahrung der Idealität der beiden Hauptfiguren. So wundert es auch nicht, dass die erneut vorgebrachten Ansprüche des Truchsessen auf die irische Königstochter zu Beginn der Verhandlung vom Redaktor der Münchner TristanHandschrift in seinen Text nicht übernommen wurden.112 Vor der ersten großen Textlücke im Münchner Codex, die sich nicht auf die Arbeit des Redaktors zurückführen lässt, fehlt der Handschrift noch ein kleines Textstück, das die Trauer aufgrund des Abschieds der jungen Isolde von Irland beschreibt. 113 Kurz darauf ist der Handschrift nach fol. 71 eine ganze Lage verlorengegangen. Es fehlen im Münchner Codex die Verse Tristan 11603-13578. Schon HER O L D hat errechnet, dass der Redaktor auch in diesem Textbereich kürzend eingegriffen hat: „Die Seite zu durchschnittlich 100 Versen
111 Auch das in Μ getilgte Verspaar Tristan 11147f., das Tristan aufgrund seiner Herrlichkeit lobt, halte ich deshalb fur gekürzt, weil der Inszenierungscharakter der Gerichtsszene zurückgenommen werden sollte. 112 Die Tilgung der Verse Tristan 11057-11068 schließt sich jenen Kürzungen an, welche die Rolle des Truchsessen vermindern. Zwei kleinere Kürzungen (Tristan 10887f. und 11089-11094) reduzieren weiterhin den Part der (anderen Nebenfigur) Brangaene in dieser Episode. 113 Der Redaktor tilgt die Verse Tristan 11503-11508.
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
gerechnet, macht dies einen Fehlbetrag von ungefähr 1600 Versen, während nach Ausweis des Gedichts 1975 Verse fehlen." 114 Leider ist es nicht möglich, für diese Textlücke von Μ die Hss. Β und Ε heranzuziehen, die sonst viele Textkürzungen des Redaktors übernommen haben: Bei der Bestimmung dieses Verhältnisses [von Μ und BE] ist die Beschaffenheit des Textes in Β und Ε zwischen 11603 und 13578, die Stelle, w o jetzt in Μ nach fol. 71 eine Lage fehlt, von größter Bedeutung. Hier bieten Β und Ε einen Text, der im Gegensatz zur Textfassung in den übrigen Teilen dieser Hss. nicht nur ungekürzt ist, sondern, wie Marold schon erkannte, eindeutig zur alpha-Gruppe der Hss. gehört [...]. U5
5.3. Listen am Hof Nach der durch eine fehlende Lage entstandenen Lücke 116 setzt der Text der Münchner Handschrift an der Stelle wieder ein, an welcher der Truchsess Marjodo durch die Nacht irrt und seinen Traum vom das Königsbett besudelnden Eber 117 gerne dem erzählt hätte, der ihm auch schöne Geschichten erzählte (Tristan 13481).118 Auf der Suche nach seinem cumpanjun Tristan findet Marjodo seinen Traum bestätigt: Die Spuren im Schnee, die ihm der Mondschein zeigt, führen zu einer Kammer, hinter der Marjodo bald nur die Königin vermuten kann. D a in der Kammer Dunkelheit herrscht (ein von Brangaene plaziertes Schachbrett verdeckt die Kerzen), muss er sich mit den Händen
114 HEROLD: Der Münchner Tristan, S. 75. 115 DEIGHTON: Zur handschriftlichen Überlieferung des Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 199f. Vgl. hierzu auch KLEIN: Die Parzivalhandschrift Cgm 19 und ihr Umkreis, S. 57. 116 Der in die Lücke fallende Text berichtet vom Minnetrank und seinen Folgen, der Ankunft in Cornwall, der Hochzeitsnacht mit dem Tausch der Braut, dem Mordanschlag auf Brangaene und schließlich den Listen Gandins. 117 Der Traum Marjodos erhält innerfiktional keine Auslegung; er deutet auch nicht die Zukunft, sondern codiert gegenwärtiges Geschehen. Der Eber - ein traditionell vorgeprägtes Tiersymbol - erscheint auch auf Tristans Schild (Tristan 6618); im Traumkontext verweist der rasende Eber als Sexualsymbol, aus der Sicht des Hofes, negativ auf den Ehebruch. Vgl. KLAUS SPECKENBACH: Der Eber in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Verbum et Signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Bd. 1. Hrsg. von HANS FROMM u. a., München 1975, S. 425476, bes. S. 471-476. 118 Vgl. HANS UNTERREITMEIER: Tristan als Retter, Perugia 1984 (Centra Internationale di Studi di Filosofia della Religione Saggi 13), S. 179.
Listen am Hof
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durch den Raum tasten, um dann zu hören, was ihn von Tristan entfremdet und den König aufhetzen lässt ( T r i s t a n 13589-13599).119 Der nidige Maqodo (Tristan 13641) ist im Text zunächst durch einen Kommentar des Erzählers als positive Figur eingeführt worden: In den selben stunden hete Tristan einen cumpanjün, der was ein edeler bariin, des küneges lantsseze, sin oberster truhsaeze, und was geheizen Marjodo: der selbe was Tristande do gefriunt und geminne durch die süezen küniginne. der truog er tougenlichen muot. (Tristan 13464-13473)
Im Text der Münchner Handschrift hat der Baron keineswegs eine Stellung als höchster Hofbeamter: Dort ist er in näherer Bezeichnung herzog. Der Eingriff des Redaktors lässt sich am einfachsten damit erklären, dass dieser wohl sah, dass die Stelle des Truchsessen schon besetzt war. Schon die Estoire und später Eilhart in seiner Fassung des Stoffes hatten für dieses Amt Tinas von Litan vorgesehen.121 Bei Eilhart ist Tinas die ganze Handlung hindurch ein treuer Freund und Helfer des Paares. 1 2 Marjodo hingegen - selbst in die Königin verliebt - bricht seine Freundschaft mit Tristan und intrigiert fortan gegen das Paar. Bei Eilhart war es ein Herzog namens Antret, Verwandter Markes und Tristans, der eine siebenköpfige Gruppe von Tristan-Gegnern anführt, den König misstrauisch macht und somit Marjodos Funktion innehat.123 Schließlich hätte der Truchsess Tinas im Text der Münchner Trcr/iW-Handschrift noch auftauchen können, 119 Ebd. S. 180: „Das Gehörte genügt ihm (Marjodo), um zu erkennen, was Tristan in den maertn verschwiegen hatte, das Traumbild genügt ihm, um zu sehen, was in den Spuren nicht sichtbar ist. Fast könnte man von einem Traum-Ersatzbild für Verdrängtes sprechen, wenn man es im Narrativen beläßt: Er sah und hörte, was er selbst eigentlich gewollt hatte in seiner heimlichen Liebe zur Königin." 120 Vgl. Tristan 13676 = M, fol. 72va Z. 3, 13709 = fol. 72va Z. 35, 13711 = fol. 72va Z. 37, 13744 = fol. 72vb Z. 13, 14021 = fol. 73vb Z. 24, 14026 = fol. 73vb Z. 29, 14239 = fol. 74rb Z. 39,15691 = fol. 83rb Z. 5. 121 Vgl. VOLKER MERTENS: Eilhart, der Herzog und der Truchsess. Der Tnstrant am Weifenhof. In: Tristan et Iseut. Mythe Europeen et Mondial. Actes du Colloque des 10, 11 et 12 Janvier 1986. Hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER, Göppingen 1987 (GAG 474), S. 262-281, S. 271. 122 Vgl. ebd. S. 271-273. 123 Vgl. Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde, mittelhochdeutsch/neuhochdeutsch von DANIELLE BUSCHINGER/WOLFGANG SPIEWOK, Greifswald 1993 (Wodan 27, Serie 1, Texte des Mittelalters 7), V. 3276-3284.
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falls nicht weitere Lagen, die einen Teil der Ulrichschen Fortsetzung überlieferten, verloren gegangen wären. Ulrich von Türheim nämlich belässt Tristan seinen treuen Freund. 124 So lässt sich vermuten, dass der Redaktor soviel Kenntnis der Texte von Gottfried und Ulrich besaß, dass er die Unstimmigkeit von zwei Truchsessen Markes beseitigen konnte, oder aber er wollte keine negative Truchsessenfigur, weil ihm Eilharts Fassung bekannt war: Antret leiht im Text des Cgm 51 Marjodo seinen Titel. Die Reihe der List-Episoden wird von einer schwankhaften Szene eröffnet 125 , die sich in der Hauptsache im königlichen Bett abspielt. Die Eilhartsche Version des Stoffes kennt diese Episode nicht. Die Fassung der Münchner Handschrift offenbart in diesem Textabschnitt des bettemaere viele Eingriffe des Redaktors. Marke, der sich von Marjodo das Hofgerücht von der cbungin und tristrande126 einreden lässt, holt sich von dem Herzog auch Rat für die nächtlichen Befragungen seiner Frau. Die erste Runde im nächtlichen Disput geht an das Duo Marke-Marjodo: Isolde, gefragt, wen sie als Schutz für sich wünsche bei Abwesenheit des Königs, der eine Wallfahrt ankündigt, antwortet: Tristan. Die Antwort betrübt Marke, und er gibt sie und sein Missfallen an den Herzog weiter. In dessen Reaktion hat der Redaktor gestrichen, dass damit offenbar sei, dass Isolde ihre Liebe zu Tristan nicht verbergen könne und es ein Unding sei, Tristan noch am Hof zu halten. 127 Seine Antwort ist damit im Text des Cgm 51 so verändert, dass sie keine Vorgaben für das weitere Handeln des Königs enthält. Die fröhliche, weil ahnungslose Königin erzählt ihrer Vertrauten von dem Gespräch mit Marke. Als Brangaene hört, in wessen Obhut Isolde sich wünschte, erkennt die in höfischen Intrigen beschlagene Zofe die List, und sie weiß auch, dass der Herzog dahintersteckt {Tristan 13727-13752). Der erschreckt-unhöfliche Ausruf Brangaenes - ä, tumbe fährt sie ihre Herrin an - ist im Text des Cgm 51 auf die emoti124 Vgl. ζ. B. Ulrich 931-938; 952-1079. 125 ALOIS WOLF betont, dass die Kette der List-Episoden von Gottfried in einem Spannungsbogen gestaltet ist: „Gottfried stellt das Kesseltreiben gegen das Liebespaar in gestufter F o r m dar, wobei zusehends die Öffentlichkeit einbezogen wird." (WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 198) Auch WALTER HAUG stellt fest, „daß die Serie der Betrugsszenen am Hofe in eine ansteigende dramatische Linie gebracht ist" (W. H.: Die Tristansage und das persische Epos Wis und Ramin. In: G R M 54 (1973), S. 404423, S. 417). 126 Vgl. M , fol. 72rb, Z. 22; Tristan 13645: von Isolde und Tristande. 127 Im Text des Cgm 51 hat der Redaktor den Rest von Marjodos Antwort syntaktisch verändert: vpiart htm im ist also, daζ muget ir merken wol hie bi. als liep tu wip und ere si. so dultes nimm (M, fol. 72va Z. 38-41, vgl. Tristan 13712-13719).
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onal abgeschwächte, den Status Isoldes wahrende Interjektion owe reduziert (M, fol. 72vb Z. 8; Tristan 13739). Fortan kämpfen in den „schachzugartigen" 128 Bettgesprächen zwei personell gleichartig ausgestattete Parteien: Marjodo, gleichsam mit am Bett von Marke und Isolde sitzend, stellt die Fragen; Brangaene, nun auch dort, beantwortet sie. Die Initiative zu dem Spiel mit List und Lüge geht aber (noch) eindeutig von Marke und Marjodo aus.129 Der Erzähler wendet sich nach dem Gespräch zwischen Herrin und Zofe wieder Marke zu: er zwivelte an Tristande, an dem er niht erkande, daz valsche gebaere (M: daz deheinen valsch baere) und (M: odr) wider den triuwen wsere. sin friunt Tristan, sin fröude (M: fröwe 130 ) Isot diu zwei waren sin meistiu not. (Tristan 13761-13766; M , fol. 72vb Z. 30-35)
Diese Textpassage, die Marke im Zustand von yvivel unde arcn>änm zeigt, führt hinüber zu dem gleichnamigen Exkurs, der in der Münchner Handschrift erheblich verkürzt wurde. Der Exkurs, dessen Beginn zwei rhetorische Fragen signalisieren (Tristan 13781-13784), verwirft in einem ersten Gedankengang die Möglichkeit, dass wer liebt, den, welchen er liebt, auch verdächtigen könne: wan daz ez aldiv werlt tot. so ist ez ein harte vnwiser mot. vnde ist ein michel tumpheit. daz man an liebe zwifel treit. wan niemen ist mit liebe wol. 132 an dem er zwifel haben sol. (Μ, fol. 73ra Z. 8-13; Tristan 13795-13800) 1 " 128 UNTERREITMEIER: Tristan als Retter, S. 181. 129 Vgl. INGRID HAHN: Raum und Landschaft in Gottfrieds Tristan. Ein Beitrag zur Werkdeutung, München 1963 (Medium aevum. Philologische Studien 3), S. 137. 1 3 0 Vgl. H E R O L D : Der Münchner Tristan, S. 8 8 . P E T E R G A N Z / R E I N H O L D B E C H S T E I N : Gottfried von Straßburg: Tristan (Deutsche Klassiker des Mittelalters, N. F. 4), 2 Bde., Wiesbaden 1987 übernehmen gegen RANKE/KROHN und Tristan die Lesart der Hss. MWP. 131 Erstmals tauchen die beiden Leitbegriffe dieser Episoden ab Vers 13721 (Tristan) auf. Vgl. im Kommentarband KROHNS zur Rankeausgabe die Bestimmung zu den beiden Begriffen S. 201f. 132 M A R O L D / S C H R Ö D E R konjizieren in Tristan 13799 wol zu vol, obwohl alle Handschriften wol überliefern. RANKES Ausgabe folgt hier der Uberlieferung. 133 Die beiden letzten Verse sind in der Münchner Handschrift durch das Notazeichen einer späteren Leserhand gekennzeichnet worden. T O M A S T O M A S E K hat festgestellt, dass sich in der Heidelberger Trcrfae-Handschrift Η (Cpg 360) viele derartige Spuren spätmittelalterlicher Leserezeption finden, welche die didaktische Schicht des Romans beleuchten. Dabei ist zu berücksichtigen, dass Gottfrieds Text hier ursprüng-
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Noch größerer Schaden entstünde aber, wenn der Verdächtiger versuchte, seine argwöhnischen Gedanken in Tatsachenwissen umzuwandeln: da^ ist im danne ein her^eleit./ vor allem her^e leide (M, fol. 73ra Z. 21f.; Tristan 13808f.).134 Hier bricht der Redaktor von Μ die Abschrift des Exkurses ab. Er verpasst eine weitere gedankliche Zuspitzung in der Bewertung von Verdächtigung und Unterstellung in der Liebe, welche die anfängliche Beurteilung des Exkurses auf den Kopf stellt: Der Zweifel, als das geringere Übel, ist, an der Wahrheit gemessen, gut. Wo nämlich Übel schlimmeres Übel hervorbringt, ist das geringere von beiden gut. Der bedrückendste Zweifel ist also leichter zu ertragen als seine Bestätigung. D a der Zweifel nun einmal zur Liebe gehört, soll sie daran festhalten. Mit ihm nur kann sie sich bewahren, denn die Wahrheit ist das Ende der Liebe. 135
Der Text, wie er in der Fassung des Cgm 51 tradiert ist, entzieht sich der Elaboriertheit des Gedankengangs, indem er sich einer weiteren gedanklichen Engführung verweigert. Eine positive Wertung des %wivel unde arcivän, die freilich aus der Negativität der Gewissheit erwächst, findet sich in der Münchner Handschrift nicht. Argwohn und Verdacht bleiben etwas Übles. Doch ist in diesem Zusammenhang auch nach der Funktion dieses Exkurses im Textganzen zu fragen: The excursus recasts the initial narrative situation, that of Mark beset by doubt and suspicion, as an instance of the universal condition of lovers. The king, a definite person, has become a function of an indefinite type. Likewise the policy he subsequently adopts for finding out the truth is shown to be in accordance with love's habitual way of operating. The behaviour of an lieh zusammen mit Freidanks Bescheidenheit überliefert worden ist. Auch in Freidanks Text sind Nota-Zeichen eingetragen. Vgl. Τ. T.: Überlegungen zu den Sentenzen in Gotfrids Tristan. In: hicktlwort und mldiu more. Festschrift für E. Nellmann zum 65. Geburtstag. Hrsg. von DOROTHEE LINDEMANN u. a., Göppingen 1995 (GAG 618), S. 199-224, S. 206f.; ALAN R. DEIGHTON: Die Randbemerkungen in den Handschriften des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Euphorion 78 (1984), S. 266-274. 134 EMIL NICKEL: Studien zum Liebesproblem bei Gottfried von Straßburg, Königsberg 1927 (Königsberger Deutsche Forschungen 1), verweist auf S. 55 Anmerkung 1 im Zusammenhang mit dem Gedankengang des rjwzW-ijrawä/i-Exkurses auf die Reinmarstrophe MF 167,2. Will ein Mann weise sein, so soll er seine Frau nicht versuchen noch geqhtn. Es sei denn, er strebe eine Trennung an. 135 So lautet die Konstruktion in der Wiedergabe von WINFRIED CHRIST: Rhetorik und Roman. Untersuchungen zu Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isold, Meisenheim a. Glan 1977 (Deutsche Studien 31), S. 58. CHRIST weist dem Exkurs lediglich eine publikumsorientierte Funktion zu: Er sei gegen das taedium des Publikums gerichtet und „dient zugleich dem docere" (ebd. S. 63). LORE PEIFFER: Zur Funktion der Exkurse im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Göppingen 1971 (GAG 31), wertet S. 188 den Exkurs als Maxime über die Minne: Sie meint, dass „ein absolutes Durchschauen und Kennen des Partners [...] eine Sicherheit bedeutet, die unvereinbar mit Liebe, ja geradezu tödlich für sie ist [...]."
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individual is derived from general principles, which render it intelligible and enable one to predict its development and final outcome. [...] There remains, however, something in this digression that is surplus to the requirement of explaining the definite by derivation from the indefinite. Gottfried's reasoning implies advice [...].136 Bezugspunkt der im Kommentar vorgelegten Reflexion ist Markes Eifersucht; damit dient der die Handlung unterbrechende Einschub auch der Charakterisierung der Figur des Königs. Markes Verhalten wird durch die Aussage des Exkurses legitimiert: To love is to doubt, it seems, and the lover inevitably progresses from doubt to certainty. Mark may be foolish, he may be embarked on a course that will end in certain grief and shatter his love for Isolde, but neither he nor any lover can act otherwise.137 Indem aber im Text der Münchner Tm/ö«-Handschrift gerade jener Teil des Exkurses fehlt, der Markes Handeln entschuldigt, ist der Exkurs im Text des Cgm 51 kaum anders denn als unverhohlene Kritik an König Marke zu verstehen. 138 Das Ende des Exkurses führt wieder zur Figur Markes, der sich von seinen Verdächtigungen befreien will, indem er auf die Wahrheit drängt. 139 In der zweiten Runde des nächtlichen Worte-Ringens k o m m t Marke in Absprache mit Marjodo auf seine angekündigte Abreise zurück (Tristan 13877-13881). Zunächst aber lässt der König seinen Körper sprechen: Er umarmt und küsst Isolde auf Augen und Mund, u m die Authentizität seiner Liebe zu beweisen. Solche Liebe stellt keine Fallen. Doch der Erzähler signalisiert Sympathie für Isolde: diu gelerte küniginne/ si stie\ sin wider sin (:Tristan 13882f.). So gibt die Königin 136 CHINCA: Gottfried von Straßburg: Tristan, S. 73f. 137 Ebd. S. 74. Vgl. Tristan (13827-13830): ^mvel sol an liebe mesen:/ mit dem muo\ liebe genesen;/ die mle si den %wivel hat,/ die mle mag ir werden rät. 138 CHINCA betont, wie begrenzt die Geltung der Exkursaussage ist: "Although it is couched in the terms of quaestio infinita, the excursus has only intermittent validity. Its supposedly universal principles do not govern Mark's doubt for all of the time, and they are even contradicted by what Gottfried says in another excursus" (CHINCA: Gottfried von Straßburg: Tristan, S. 74). 139 U m Unstimmigkeiten aufgrund der Textkürzung zu vermeiden, ändert der Redaktor in Μ die Verse 13857f.: Aber kam eines nahtes sdj ab er e^ unde Marjodo [...] zu aber chom eines nahts so. / da%_ der chunch vnde Mariodo. 140 Mit der Sympathie des Lesers in den Episoden der List und Gegenlist auf Seiten des Paares rechnet ebenso PETER KERN: „Da ist z u m einen der Stoff selber, das Sujet der schwankhaft getönten Geschichten v o m übertölpelten Ehemann, ein in der ganzen Weltliteratur seit eh u n d je verbreitetes Genre, bei dem es geradezu zur literarischen Konvention gehört, dass das H e r z des Lesers f ü r die findigen Liebenden schlägt, der hintergangene Ehemann aber dem Spott preisgegeben ist." Z u m anderen meint KERN, dass Gottfried den Stoff in diesen Episoden nach einer anderen Gattungskonvention, nämlich nach dem Schema des Minnesangs organisiert: „Aus dem Minnesang
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vor, Markes Wallfahrt für einen Spaß (eine Täuschung!) gehalten zu haben. Da sie jetzt den Ernst des Unternehmens zu erkennen scheint, fängt sie zu weinen an, um Markes Verdacht auszuräumen, was ihr auch gelingt ('Tristan 13885-13898). Der Erzähler fügt Isoldes List einen misogynen Kommentar bei: An Frauen sei kein Falsch zu entdecken, außer ihrer Fähigkeit, grundlos und wann immer sie wollen zu weinen (Tristan 13899-13906). Im in der Münchner Handschrift tradierten Text findet sich diese Stellungnahme des Erzählers nicht. Da sie sich eng auf Isoldes Verstellungskünste bezieht, ist zu vermuten, dass mit dem Entfernen des kleinen Exkurses das Verhalten der Figur auf Kommentarebene nicht negativ beurteilt werden sollte. Weitere Kürzungen innerhalb dieser Episode verweisen auch auf die Tendenz, die Isoldefigur zu positivieren.141 Als Gründe für ihr Weinen führt Isolde zum einen ihre Exilsituation an, zum anderen behauptet sie, Markes Liebe sei nur Täuschung, weil er sie doch sonst nicht verlassen würde (Tristan 13911-13931). Marke weist sie auf ihre Möglichkeiten und Befugnisse als Herrscherin hin;142 zudem führt der König jenen Ritter an, unter dessen Schutz
Isolde stehen soll: min neve, der höfsche Tristan (Tristan 13942).143 Doch die
Täuschung Markes durch Isolde ist weiterhin aus Täuschung gemacht. In Tristans Obhut nämlich möchte sie nicht kommen, weil der versuche, sie zu täuschen: Der Mörder Morolts fürchte ihren
kannte das damalige Publikum ja die huote (die Aufpassersituation), die merkaert und die nidaere (die Aufpasser und Mißgünstigen); sie waren dort stets aus dem Blickwinkel der Liebenden gesehen und als Minnefeinde verurteilt, gescholten, verwünscht." Gottfried erreicht nun Parteilichkeit für die Liebenden, indem er die Gegner des Paares in der Position der merkaert zeigt. Er überträgt die Perspektive des Minnesangs auf diese Romanepisoden (P. K.: Sympathielenkung im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Sammlung - Deutung - Wertung. Ergebnisse, Probleme, Tendenzen und Perspektiven philologischer Arbeit. Festschrift für W. Spiewok zum 60. Geburtstag. Hrsg. von DANIELLE BUSCHINGER, Stuttgart o.J., S. 205-217, S. 215f.). 141 Hinter der Kürzung dieses Kommentars eine Ausrichtung an bestimmte Publikumserwartungen zu vermuten, halte ich für unwahrscheinlich: Solche Bemerkungen sind unmittelbar an das Publikum adressiert, das zu spontanen Reaktionen bewegt werden soll. PETRUS W. TAX: Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. Studien zum Denken und Werten Gottfrieds von Straßburg, 2., durchgesehene und erweiterte Auflage, Berlin 1961 (Philologische Studien und Quellen 8), weist S. 88 darauf hin, dass der Kommentar in der Saga keine Entsprechung besitzt. 142 Μ fehlt hier folgendes Verspaar: da% [gemeint sind Hute unde lant] sol ^uwerm geböte statt;/ swa^ir gebietet, deist getan. ('Tristan 13937f.) Markes Argument, dass Isolde als Königin auch bei seiner Abwesenheit - völlige Machtbefugnis besitzt, fehlt im Text des Cgm 51 zwar nicht, doch ist es in dieser Handschrift weniger deutlich gemacht. Es handelt sich also wieder um einen Texteingriff, der sich auf die Figur Isoldes bezieht. 143 Μ ändert diese Zeile zu miner swester sun tristran (M, fol. 73va Ζ. 1). Dieser Texteingriff verdankt sich der antihöfischen Tendenz der Bearbeitung.
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Hass. In der Schilderung Isoldes, wie Tristan sie zu umschmeicheln versuche, tilgt der Redaktor der Münchner Handschrift die vier Verse Tristan 13969-13972. Zu dieser Kürzung passt auch die nächste Minusstelle, die erneut in einen Redeteil Isoldes fällt. Die List, durch die Isolde und Brangaene in dieser Nacht als Siegerinnen hervorgehen werden, wird nämlich noch weiter geführt. Nun ist es Isolde, die Marke gegenüber vorgibt, Tristan, den Geliebten, mit ihrer Aufmerksamkeit und Zuneigung zu täuschen. Ihr Verhalten habe mehr das Ansehen ihres Mannes im Blick als das Eigene (Tristan 1397413998). Isolde und Brangaene handeln nach einer Logik der Täuschung, die kaum elaboriertere Formen annehmen könnte: „diu löse Isot [...] behauptet, nicht von herben zu tun, was sie von herben tut, und sie gibt vor, von herben zu tun, was sie nicht von herben tut. Rücksichtsloser könnte Verstellung nicht sein."144 Genau an dieser Stelle fehlen im Text von Μ sechs Verse der Rede Isoldes, die von ihrem vermeintlich auf Täuschung basierenden Verhalten gegenüber Tristan berichten: durch daz h i n ich im dicke mit manegem luggen blicke, mit herzelosem munde betrogen sine stunde, daz er wol gesworen haete, daz ichz von herzen taste, fTristan 13993-13998)
Dass die Königin hier explizit ihre Verstellungskünste gegen den Geliebten richtet - zwar nur als ein Mittel in einer auf Marke bezogenen Täuschungsrede - , dieser Sachverhalt findet sich nicht im Text des Cgm 51. Der Schatten der Täuschung fällt in dieser Fassung von Gottfrieds Text nicht auf die Liebe des Paares. Damit scheint ebenso Isoldes Befähigung zu höfischer Intrige eingeschränkt. Marke aber ist zufrieden mit dem Gehörten: Marke der %wiveksre/ der was da wider wege komenj sin gesellin (M, fol. 73 vb Z. 19: div cbungin) diu hete ime benomen/ beidiu ywivel unde wän (Tristan 14014-14017). Schnell erzählt er dem Herzog von dem Gespräch: Marjodo missfällt zwar das Vertrauen, das Marke der Königin entgegenbringt, gleichwohl präpariert er ihn für die dritte Nacht. 4 5 Wieder gibt Marke vor, das Land verlassen zu müssen. Bei der Wahl, mit welchen Leuten Isolde sich umgeben möchte, gibt er ihr 144 HAFERLAND: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, S. 297. 145 In Μ ist das Verspaar Tristan 14029f. gekürzt (Marjodo berät den König in den Listfragen).
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freie Hand. Nur Tristan, von dem er ja weiß, dass er Isolde unangenehm ist, werde er so schnell wie möglich zurück nach Parmenien schicken (Tristan 14036-14069). Erneut ist in Isoldes Antwort, die sich darum bemüht, dass der Geliebte nicht weggeschickt wird, vom Redaktor gestrichen worden.146 Isolde redet vergeblich: Marke erkennt bald, dass sie für Tristan redet. Der alte Zustand des Verdachts bemächtigt sich wieder des Königs (Tristan 14143-14150). Marke versunken in %orngallen (Tristan 14150): So endet in der Münchner Handschrift die Episode von den nächtlichen Listgesprächen der Eheleute und ihren Helfern. In dieser Textfassung fehlen die erneute Beratung der Königin mit ihrer Zofe und die vierte und letzte Listnacht, in der erstmals Isolde die Initiative ergreift.147 In dieser Nacht hätte Isolde nicht nur körperliche Mittel - Tränen, Umarmungen und Küsse148 - eingesetzt, um ihren Ehemann und König zu täuschen, sie hätte auch ha^-reden geführt und sich unter den Schutz von Marjodo gewünscht.149 Diesem differenzierten und listenreichen Verhalten hätte Marke kaum widerstehen können. So zerstört der Redaktor, von Gottfrieds Konzeption aus gedacht, die kunstvoll konstruierte Struktur der vier Gespräche, in der jedes ,Team' zwei Nächte für sich entschieden hat. Die Episode endet bei Gottfried in einem Unentschieden. Auf der Suche nach Gewissheit ist für König Marke das Ziel noch nicht erreicht. Der Konflikt zwischen den Parteien verbleibt im Schwebezustand. Und dieser ist ja für die Beteiligten 146 Zunächst fehlen im Text der Münchner T/w/as-Handschrift die Verse Tristan 1409714102, in denen Isolde argumentiert, dass König Marke aus Liebe zu ihr keinen Freund aus seiner Gunst fallen lassen soll. Die nächste Minusstelle ist Tristan 1413514138, in denen Isolde den König vor die Wahl stellt, entweder mit ihm verreisen zu dürfen oder Tristan als Beschützer des Landes in seiner Abwesenheit einzusetzen. 147 In der Fassung von Μ fehlen die Verse Tristan 14151-14238. Vgl. TAX: Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. Studien zum Denken und Werten Gottfrieds von Straßburg, S. 89. Den wertenden Folgerungen von TAX, der die höfische Sphäre in Gottfrieds Roman gänzlich negativ beurteilt, vermag ich nicht zuzustimmen (ebd. S. 90). 148 JAMES A. SCHULTZ konstatiert, dass die Erwähnung, wie Isolde - in Täuschungsabsicht - Marke an ihre Brüste drückt, im Kontext der hochmittelalterlichen Literatur als aussergewöhnlich bezeichnet werden kann: „Before 1200 they [breasts] do not figure in any description of beautiful women in MHG texts. In fact, Isolds embrace of Mark, mentioned earlier, and Jeschute's second encounter with the hero of Pangval represent the first references by MHG writers to women's breasts in erotic contexts." (SCHULTZ: Bodies That Don't Matter: Heterosexuality before Heterosexuality in Gottfried's Tristan, S. 94). 149 Vgl. HARTMUT SEMMLER: Listmotive in der mittelhochdeutschen Literatur. Zum Wandel ethischer Normen im Spiegel der Literatur, Berlin 1991 (Philologische Quellen und Studien 122), S. 133: „Die Initiative geht diesmal allein von Isot aus. Zunächst setzt sie massiv nonverbale Mittel ein, um ihre Zuneigung zu bekunden. Dann folgt ein formal dicht durchstrukturierter Monolog Isots [...]."
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leichter zu ertragen, wenn man den Aussagen des zweiten Teils des yvivel-arcwän-^xkurses folgt, den der Redaktor der Münchner TristanHandschrift jedoch weggelassen hatte. Der Inhalt des verbliebenen Exkursrests, der die negative Bewertung des vpivels herausstellt, wirft am Ende dieser Episode noch einmal ein bezeichnendes Licht auf die Figur König Markes. Die Texteingriffe, Minusstellen wie Umformulierungen, bewirken eine Negativierung dieser Figur in der Fassung des Cgm 51. Hinzuzufügen ist noch, dass eine Tendenz der Redaktion, welcher Gottfrieds Werk in der Münchner Handschrift unterworfen ist, in dieser Episode fortgeführt wurde: Am Bild Isoldes sind mittels der Textkürzungen Veränderungen vorgenommen worden. Gottfrieds Konzeption entwirft sie als kluge und listige Liebende, welche die Intrigen mit Hilfe ihrer Vertrauten Brangaene nicht nur abwehrt, sondern auch aktiv kämpft, wenn es ihr und Tristan dient. In der Textfassung des Cgm 51 zeigt hingegen das Fehlen der letzten ListNacht, dass sie die Intrigen Markes und Marjodos mehr erdulden als aktiv gegen sie kämpfen soll. Am Ende dieser Episode gibt es im Münchner Codex kein Gleichgewicht der Kräfte. Marke gibt sich seinen Verdächtigungen hin; die Liebe zwischen Tristan und Isolde ist durch die Anfeindungen belastet. Das Paar bleibt in einer Notwehrsituation, die insofern entlastend für es wirken kann, als sie Mittel zur Verteidigung heiligt, die sonst in dem Verhaltenscodex eines adligen Paares nicht vorgesehen wären. *
Durch die Kürzung des vierten Bettgesprächs zwischen Marke und Isolde verändert sich im Text des Münchner Tristan-Codex die erzählerische Motivation für den Einsatz des höfisch-intriganten Zwergs Melot. 150 Ist sonst Marjodo durch den Umstand, dass der König sich wieder auf die Seite des Paares ziehen ließ, unzufrieden und dadurch bereit, eine neue Geheimwaffe ins Spiel zu bringen (Tristan 14239150 Vgl. SIDNEY Μ . JOHNSON: Medieval German Dwarfs: A Footnote to Gottfried's Melot. In: Gottfried von Straßburg and the Medieval Tristan Legend. Papers from an Anglo-North-American Symposium. Hrsg. von ADRIAN STEVENS/ROY WlSBEY, Cambridge 1990 (Arthurian Studies X X I I I . Publications of the Institute of Germanic Studies 44), S. 209-221, S. 221: "Melot petit von Aquitan is truly a court dwarf. With his access to King Marke and to the royal chambers, he was probably a chamberlain of some sort [...]. He fits well into the court to which he is attached. It is a court full of jealousy, intrigue and suspicion, and he is able to play on these traits to his advantage. He is an essential part of court intrigue, and his role as intriguer is developed somewhat more than it is in Gottfried's source."
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14247)151, so ist Marjodo in der Fassung Μ durchaus zufrieden mit dem (unversöhnten) Zustand Markes: nv da% [der vQvivel Markes] der herzöge ersach./ was im liep ungemach (M, fol. 74rb Z. 39f.). Einem vom Zorn verbitterten König muss Marjodo den zauberkundigen Zwergen nicht aufdrängen: Marke will ihn (fast) von selbst, um an die Wahrheit des Paares zu kommen. Der neue Helfer bemerkt schnell, auch ohne in die Sterne zu schauen152, dass die Königin und Tristan einander in Liebe verbunden sind. Ein Triumvirat - Meldt und Marke und Maijodd (Tristan 14279)153 beschließt, das Paar voneinander zu trennen: Tristan hat die Frauengemächer zu meiden, der Hof ergibt sich in Gerüchten (Tristan 1428614309). Der Erzähler beschreibt ausführlich und rhetorisch ambitioniert das Leid der Liebenden, das durch die Trennung bewirkt wird.154 Marke registriert die Traurigkeit von Tristan und Isolde und plant, auf die Jagd zu gehen. Zuvor gibt er aber Befehl an den Zwerg, die Liebenden zu bespitzeln. Die wissen sich keinen Rat gegen die Uberwachung (Tristan 14348-14388). Einmal mehr muss Brangaene aushelfen, die nicht Isolde, sondern Tristan den Trick mit den Holzspänen verrät.155 Das Gespräch zeigt beide in großer Niedergeschlagenheit.
151 Diese erzählerische Konstellation kann als ein Versuch der Entschuldigung des schwachen Königs bei Gottfried gedeutet werden: Er gibt dem Druck eines Minnefeindes nach, der einen anderen Minnefeind engagiert. 152 Dies (kann und) tut Melot in Eilharts Version, um an das Verborgene zu rühren. Gottfried distanziert sich davon in einem Erzählerkommentar (Tristan 14247-14253). UNTERREITMEIER: Tristan als Retter, kommentiert S. 185: „Nicht aus den Sternen liest das Gezwerg [...], sondern aus der kemenaten\ denn es was dem kiinege heinlich [...]." Vgl. auch JOHNSON: Medieval German Dwarfs: A Footnote to Gottfried's Melot, S. 218f. 153 Im Text von Μ (fol. 74va Z. 26) ist die Reihenfolge der Minnefeinde - gemäß ihrer Rangfolge - verändert: marke vnd melot vnd mariodo. Vgl. hierzu UWE RUBERG: Zur Poetik der Eigennamen in Gottfrieds Tristan. In: Sprache, Literatur, Kultur: Studien zu ihrer Geschichte im deutschen Süden und Westen. W. Kleiber zu seinem 60. Geburtstag gewidmet. Hrsg. von ALBRECHT GREULE/U. R., Stuttgart 1989, S. 301-320, S. 313: „Die Namenkonstellation in dieser kleinen .Interessengruppe' [...] ist so arrangiert, daß die beiden einflußreichen Ratgeber den eher zögernden und schwankenden Marke flankierend in ihre Mitte nehmen. Zumindest weicht die Reihenfolge auffällig von der ranggemäßen Abfolge ab, in der etwa im Nibelungenlied die drei burgundischen Brüder und Könige Gunther, Gernot und Giselher eingeführt werden." 154 Vgl. Tristan bes. 14314-14318; 14322-14327 beschreibt, wie das Paar, das sich nicht sehen darf, an Farbe verliert, es .bleicht'. Μ tilgt das Verspaar 14341f.: λ [Tristan und Isolde] waren beide under in qvein/ mit übele und mit guote al ein. Es sind die einzigen Verse der Melot-Episode, die in Μ fehlen. 155 Bei Eilhart weiß Tristan selbst, wie Holzspäne als Boten genutzt werden können.
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V o n einer ähnlich hohen Emotionalität zeugt jene Szene, in welcher der liebeskranke Tristan die Zofe Brangäne beschwörend um Hilfe bittet [...]. Dabei fungiert Tristans und Brangänes gemeinsames Weinen [...] vor allem zeichenhaft als eine gegenseitige Versicherung des tiefen Verständnisses, das die trunnden füreinander aufbringen. Brangäne und Isolde werden kurz darauf ebenfalls als gemeinsam trurende unde clagende (14667) dargestellt.156
Gegenüber der Episode mit den Bettgesprächen ist das ein erstaunlicher Wechsel der Perspektive: Die Leid-Seite der Minne zwischen Tristan und Isolde gewinnt die Oberhand. An diesem Geschehen hat auch eine Nebenfigur wie Brangaene großen Anteil.157 Doch durch die List mit dem neuen Kommunikationsmittel können sich die Liebenden achtmal in acht Tagen heimlich im Baumgarten treffen (Tristan 14509).158 Eines Nachts beobachtet Melot, da% vertane getrvercj des välandes antrnrc (Tristan 14515f.), wie Tristan zu einer Dame schleicht. Wer diese ist, kann der Zwerg aber nicht erkennen. Um Tristan zu täuschen, gibt sich Melot am nächsten Tag als Bote Isoldes aus, der ein geheimes Treffen zu melden habe. Als wahrer Freund des Paares warnt er Tristan vor der intriganten Hofgesellschaft. Tristan bezichtigt ihn des Träumens159 und jagt ihn davon (Tristan 14525-14586). In diesem Textabschnitt finden sich in der Münchner Handschrift keine Kürzungen. Auf der Suche nach dem konzeptuellen Zugriff einer überlieferungsbedingten Kurzfassung, ist auch der von Redaktoreingriffen nicht betroffene Text von Interesse. Das Paar erfährt aufgrund seiner Liebe am Hof Not und Bedrängnis: „Die huote Melots, die Marke befiehlt, bewirkt eine trurende Brangaene (14497), eine trurende Königin (14909), einen truraere Tristan (14498 und 14913) und einen trurigen Marke (14916)."160 Mittel und Wege, sich der huote zu erwehren, sind Bran-
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Überlegungen zum truren im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Lili 1 1 4 ( 1 9 9 9 ) , S. 9 - 2 0 , S. 1 3 . Vgl. die Rede Brangaenes: da^e^got imer riuwe./ da* wir ie wurden geboren. / wir haben elliu driu verlortn./ unserfroude und unser erej wir enchomen nimer mere.j an unserfriheit als e j ysot owe tristrant owe./ das^ ich iuch mit ogen iegesach./ unde iwer ungemach. / von mir uf erstanden ist. (M, fol. 75ra, Z. 38-47) In bezug auf Brangaenes List der Erfindung der markierten Späne stellt T O M A S E K fest, „daß gerade in diesen äußerst emotionshaltigen Szenen sehr konkrete, praktische Problemlösungen gefunden werden." ( T O M A S E K : Überlegungen zum trurtn im Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 14) Das Motiv des Träumens bindet die beiden Minnefeinde Marjodo und Melot aneinander. Der eine träumt das Tatsächliche; den andern trifft der Vorwurf, das Tatsächliche geträumt zu haben. Da Träume als nicht objektivierbar gelten, darf das Verborgene - die Liebe zwischen Tristan und Isolde - in ihnen Platz finden, darf sogar, im Falle Melots, offen ausgesprochen werden. UNTERREITMEIER: Tristan als Retter, S. 183. TOMAS TOMASEK:
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
gaene und Tristan vertraut. Isolde hingegen handelt hier nicht: Der Text, der sich an dieser Stelle vehement der Leid-Thematik öffnet, zeigt sie als niedergeschlagene und traurige Geliebte des Helden. Damit rückt jene Seite der Heldin in den Hintergrund der Erzählung, auf die HANS UNTERREITMEIER hingewiesen hat: Das wichtigste Ergebnis der Analyse der vier Gesprächsszenen ist, daß sie die Nahtstelle zwischen den beiden Seiten Isoldes zeigt, die Tristan und den Hof trennen, daß das raffiniert artistische, ambivalente Spiel Isoldes mit Marke, Brangaenes mit Marjodo der Darstellung der anderen Seite dient, die den Rahmen des Höfischen übersteigt, aber an ihn gebunden bleibt.161
Auf fol. 77v der Münchner TwÄz«-Handschrift befindet sich unterhalb der ersten Spalte ein auffälliges Rezeptionszeugnis des Textes: Dort hat eine Hand des späten 13. oder frühen 14. Jahrhunderts auf kalligraphisch hohem Niveau drei Wörter eingetragen, welche die Form eines vierendigen Kreuzes bilden: auf genad / willichlich. Die ,Wortzeichnung' ist schwerlich als einfache Federprobe zu deuten. Der Wortlaut der Eintragung kann mit zeitgenössischen Urkundenformeln in Verbindung gebracht werden. Unmittelbarer erzählerischer Kontext dieser Randzeichnung ist die Baumgarten-Episode: Zum nächtlichen Treffen ruft Tristan seine Geliebte einmal mehr mit den Holzspänen herbei. In Eilharts Version werden die Namensinitialen von Tristrant und Ysalde auf dem Span als fünfendiges Kreuz angebracht: dar an sal gemalet sin/ ein cruce mit vunf orten,! wan ich sie mit den mrtenI besprechin leidir nicht en mag.162 Die Späne dienen als ein Ersatzmittel für die verhinderte direkte mündliche Kommunikation. Weitere poetische Funktionen, welche die Holzspäne in Eilharts Tristrant übernehmen, hat URBAN KÜSTERS beschrieben:
Derjenige, der die Späne zurechtschneiden kann, versteht sich auch auf die rechte Liebe. [...] Als rechtssymbolischer, metonymischer Bedeutungsträger wird der aus dem Türpfosten geschlagene Span bei der Besitzübergabe dem neuen Besitzer pars pro toto überreicht; er trägt ihn fortan als sichtbares Besitzzeichen mit sich. Wenn Tristan also die Späne schneidet, könnte man darin einen symbolischen Akt der Besitznahme der Königin erkennen, eingesetzt gegen die Macht des Königs und der liebesfeindlichen Bewachung (huote). Die mittelalterliche Rechtssphäre kennt den Span freilich auch als Erkennungszeichen des Gerichtsboten [...].163
161 Ebd. S. 185. 162 Vgl. Eilhart von Oberg: Tristrant und Isalde, V. 3346-49. 163 URBAN KÜSTERS: Späne, Kreuze, Initialen. Schriftzeichen als Beglaubigungsmittel in mittelalterlichen Trr>/ij»-Dichtungen. In: Literatur im Informationszeitalter. Hrsg. v o n DIRK MATEJOVSKI/FRIEDRICH KITTLER, F r a n k f u r t a. M . , N e w Y o r k
S. 71-101, S. 74f.
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Dass die Anfangsbuchstaben der Namen Tristrants und Ysaldes bei Eilhart in der Form des Kreuzes angeordnet sind, hat die Funktion, die Echtheit der Verbindung zu beglaubigen. In Gottfrieds Fragment - so betont TAX ausdrücklich - sind die Buchstaben auf dem Span nicht ineinander geschrieben: O b in Gottfrieds Quelle Tristan überhaupt Buchstaben in den Spänen eingeritzt hat, ist unsicher. Hier ist es nun höchst bezeichnend, daß der deutsche Dichter so ausdrücklich hervorhebt, wie das t und das i angebracht werden sollen: die Buchstaben stehen auf den beiden entgegengesetzten Seiten, das H o l z befindet sich also in seiner ganzen Länge zwischen den zwei Zeichen. 164
Doch der Text ist an dieser Stelle nicht eindeutig. HEINZ KLINGENBERG plädiert dafür, dass die Initialen der Helden auf dem Span ineinander geschrieben sind und ein Kreuz bilden: Deute ich recht, bot ein geritztes monogrammatisches Kreuz (als griechisches Kreuz von allen vier Seiten aus) nicht mehr, aber auch nicht weniger als die Anfangsbuchstaben beider Namen, einhalp ein Τ und anderhalp ein I fand Tristan von den Buchstaben TI zum Kreuz, Isolde v o m Kreuz zu den beiden Buchstaben IT [...].165
Der spätmittelalterliche Rezipient, der im Cgm 51 das ,Wortkreuz' unter Gottfrieds Text setzte, kommentiert die elaborierte Form indirekter Kommunikation, die der Roman vorführt und diskutiert. Er hat die Gottfriedsche Schilderung, wie die Buchstaben auf dem Span anzubringen sind, derart .verstanden', dass die Initialen auf dem Holzspan ein Kreuz bilden. Dass er die Worte so auf das Pergament schreibt, dass sie die Form eines Kreuzes bilden, betrachte ich als Sympathieerklärung für das Paar, dessen Liebe auf diese Weise beglaubigt wird. Festgehalten werden kann auch, dass dieser Rezipient Kenntnisse der Urkundensprache besessen hat.
Von Tristan zum Teufel gejagt, begibt sich Melot sogleich zu König Marke, um dem auf die Jagd Gerittenen von seinen Beobachtungen zu berichten und ihn zu überreden, sich selbst im Baumgarten vom 164 TAX: Wort, Sinnbild, Zahl im Tristanroman. Studien zum Denken und Werten Gottfrieds von Straßburg, S. 92. Der Deutung von TAX, dass Gottfried durch diese Abweichung von Eilhart die Trennung der Liebenden „in geistiger Hinsicht, im höheren Sinn ihrer Liebe" (S. 93) signalisieren wollte, vermag ich nicht zu folgen. 165 HEINZ KLINGENBERG: Si las hot, si las Tristan. Das Kreuz im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Strukturen und Interpretationen. Studien zur deutschen Philologie. B. HORACEK zum 60. Geburtstag. Hrsg. von ALFRED EBENBAUER u. a., Wien, Stuttgart 1974, S. 145-161, S. 155.
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Treiben des Paares zu überzeugen. In der Nacht eilen der König und sein Zwerg in den Garten; sie verstecken sich in der Krone eines Olbaums und warten auf die Königin und Tristan (Tristan 14587-14616). Das Stelldichein im Baumgarten aus der Tristangeschichte ist die Episode der Artusepik, der in der mittelalterlichen Kunst das meiste Interesse entgegengebracht wird. Neben den zahlreichen zyklischen Darstellungen auf Wandteppichen, Decken, Fliesen usw. erscheint diese Szene sehr häufig isoliert von der übrigen Geschichte auf vielen Denkmälern. [...] Dieser Episode liegt ein Schwankmotiv aus dem Themenkreis des düpierten Gatten zugrunde: es ist die Geschichte v o m König im Baum, den Ehefrau und Liebhaber überlisten. Alle Erzählungen verlaufen nach folgendem Schema: die junge Ehefrau wird von ihrem eifersüchtigen alten Mann streng gehütet; sie überlistet ihn dennoch, und die Begegnung mit dem Geliebten findet immer im Beisein des Gatten! - auf oder unter einem Baum statt. Diese Geschichten gehören zum festen Repertoire der mittelalterlichen Schwankliteratur. 1 "
Gottfried überformt die Schwankmotivik der Episode einerseits durch die „groß herausgestellte Wahrheit-Licht-Schatten-Thematik"167 und andererseits durch eine Enterotisierung des Geschehens: An die durch die huote bewirkte Traurigkeit des Paares schließt sich die durch die drohende Gefahr unter dem Olbaum 168 entstandene Angst an, der sie nur mit vielen Worten entkommen können.
166 DORIS FOUQUET: Die Baumgartenszene des Tristan in der mittelalterlichen Kunst und Literatur. In: ZfdPh 92 (1973), S. 360-370, S. 360. Vgl. auch HELLA FRÜHMORGEN-VOSS: Tristan und Isolde in mittelalterlichen Bildzeugnissen. In: DVjs 47 (1973), S. 645-663, S. 651: „Keine Tristanbegebenheit aber ist so oft abgebildet und so charakteristisch geworden wie die des belauschten Stelldicheins im nächtlichen Baumgarten [...]." Dort auch S. 651f. Beispiele für Abbildungen. Vgl. auch GERD DICKE: Das belauschte Stelldichein. Eine Stoffgeschichte. In: Der Tristan Gottfrieds von Straßburg. Symposion Santiago de Compostela, 5. bis. 8. April 2000. Hrsg. von CHRISTOPH HUBER/VICTOR MILLET, Tübingen 2002, S. 199-220. 167 WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 199. Vgl. ebd.: „Gottfried setzt dabei erneut und doppelbödig die Jagdmetaphorik und die Lichtsymbolik ein. Damit verbunden stellt sich erneut die Frage nach dem Erkennen der Wahrheit bzw. welcher Wahrheit, der Wahrheit der Liebenden oder der vordergründigen des Hofes." 168 Ebd. S. 200: „Der Baumgarten, der auf die Tradition des locus amoenus und dessen erotische Implikationen verweist, erscheint als Jammergarten, V. 14662, der Baum, bei Eilhart eine Linde, also erotisch, bei Berol eine Fichte wie in der Heldenepik [...], wird zum Olbaum, der zwar auch in der altfranzösischen Heldenepik gedeihen kann, bei Gottfried in Verbindung mit Jammergarten aber bestimmter religiöser Assoziationsmöglichkeiten nicht entbehrt." Auffällig ist in dieser Episode auch, wie häufig Tristan und Isolde sich in dem folgenden Listgespräch auf Gott beziehen oder Gott um Hilfe bitten. Eine Funktion der zahlreichen Bezugnahmen könnte in der Verwendung als Hüllformel bestehen: Das eigene Denken von Tristan und Isolde wird so verdeckt (Tristan 14648-14660 (Tristan); 14710-14713 (Isolde)).
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Sowohl die große Beliebtheit der Episode169 als auch Gottfrieds Gestaltung der Erzählung lassen vermuten, dass der Redaktor der Münchner Handschrift wenig Grund haben konnte, große Eingriffe im Text vorzunehmen. Der Redaktor ändert, nachdem Tristan mittels der Späne nach der Geliebten geschickt hat und nachdem er in der spiegelnden Wasseroberfläche der Quelle seine Verdächtiger erblickt hat, in Tristans Gebet, in dem er Gott um Hilfe bittet, in klärender Absicht den letzten Vers. Statt unser [Tristans und Isoldes] ere und unser leben/ da^ si dir [Gott] hinaht ergeben! (Tristan 14659f.), heißt es im Text der Münchner Handschrift: unser ere un unser leben, da:ζ si in dine genade ergeben (M, fol.77rb Z. 29f.). HERBERT KOLB hat im Zusammenhang mit der Gottesurteil-Episode darauf hingewiesen, dass Isolde angesichts der offenkundigen Schwäche ihrer Position - genau jenes meint und erwartet, wenn sie auf gotes höfscheit vertraut: nämlich Gnade.170 Durch die Einführung des Gnadenbegriffs gelingt es dem Redaktor, die Aussage dieses Textabschnitts zu verdeutlichen und das Streben nach dem Beistand Gottes herauszustellen. Die erste Textkürzung 171 in dieser Passage betrifft die Szene, als Brangaene und Isolde die auf dem Wasser treibende Botschaft Tristans erhalten. 172 Die im Cgm 51 überlieferte Fassung übermittelt nicht, dass Isolde die Botschaft des Geliebten liest. Das hat zur Folge, dass es hier allein die Zofe Brangaene ist, welche die Späne im Wasser erkennt und natürlich zu deuten weiß. Die Königin hingegen wird mit diesem Listmanöver nicht in Verbindung gebracht; sie macht sich - von Brangaene unterrichtet - in den Baumgarten auf. In den nun folgenden langen Listreden des Paares173 findet sich lediglich eine Textkürzung, die sich auf die Aktivitäten des Hofes bezieht. Isolde wird von Angehörigen des Hofes verdächtigt, ein illegitimes Liebesverhältnis mit Tristan zu haben. Der Argwohn geht in der in Μ überlieferten Textfassung allein vom König aus. So wendet sich hier der Text gegen die Annahme, dass Marke allein aufgrund des Druckes durch den Hof so handelt, wie er handelt. 169 FRÜHMORGEN-VOSS: Tristan und Isolde in mittelalterlichen Bildzeugnissen, S. 653: „Die mittelalterlichen Tristanerzähler haben die Episode wohl nie übergangen und sie meist glücklich in ihre Kompositionen eingesetzt." 170 Vgl. HERBERT KOLB: Der Hof und die Höfischen. Bemerkungen zu Gottfried von Straßburg. In: ZfdA 106 (1977), S. 236-252, bes. S. 250f. 171 Dass im Text des Cgm 51 der Vers da heidi« Schate undegras (Tristan 14627) fehlt, halte ich für einen Fehler. 172 In Μ fehlen die Verse: isot diu vies [RANKE/KROHN: vienc si, nämlich die Holzspäne] und sach si an,/ ή las isot, si las Tristan (Tristan 14677f.). 173 In Μ ist auf fol. 77va Z. 41 der Beginn von Isoldes erster Rede mit einem Haken gekennzeichnet.
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
daz mich min herre Marke bewaenet also starke durch iuwern willen, her Tristan, weiz got, da missetuot er an, so gar als er erkunnet hat, wie min herze hin ziu stät. die mich ze msere habent braht, weiz got, die sint vil unbedäht: in ist min herze vil unkunt. {Tristan 14771-14779)
daz mich min herre marke, bewast also starke, dvrch iwern willen her tristran. weizgot da misse tot er an. so gar als er erchunnet hat. wie min herze hin ziu stat. im ist min herze vil wol chunt. (M, fol. 77vb Z. 46)
A n diesem Beispiel lässt sich auch die Arbeitstechnik des Redaktors beobachten: Unstimmigkeiten, die aufgrund einer Textkürzung entstehen könnten, werden geschickt durch Textumformulierungen beseitigt. Betrachtet man den Umfang der im Baumgarten geführten Reden, ergibt sich ein überraschendes Ungleichgewicht zwischen den beiden Partnern: Das Gespräch zwischen Tristan und Isolde ist auch durch quantitativ interessante Proportionen gekennzeichnet. Der Umfang der Reden nimmt ab, was der Situation entspricht, Isolde tut ja schon anfangs so, als wolle sie keinen Augenblick länger verweilen; ihre erste Rede [...] umfaßt aber dennoch 76 Verse, die Antwort Tristans 36 [...]. Die zweite Rede Isoldens 63 [...]; dem entspricht bei Tristan [...] bloß eine Passage von 15 Versen. Isolde, auch hier die Hauptgestalt, beherrscht eindeutig das Feld.174 Doch ist dem Redaktor Isoldes rednerische Überlegenheit kein D o r n im Auge angesichts der sich zuspitzenden gefahrvollen Situation, in der das Paar seine Liebe bewährt. In Gottfrieds Roman endet das Gespräch unter dem Olbaum für alle Beteiligten, Betrüger wie Betrogenem, in Traurigkeit: div chunginne div gie hin. diu küniginne diu gie hin siuftende unde trurende, sufzende vn trurende. amerende vn amvrende. ameirende und amürende, mit togenlichem smerzen. mit tougenlichem smerzen ir libes vn ir herzen. ir libes unde ir herzen. der trurige tristran. der trüraere Tristan der giench och trurende dan. der gieng ouch trurende dan doch fröte ez in starke. und weinende starke. der trurige marke. der trarige Marke, der vf dem böme daz175 saz. der üf dem boume da saz, der betrurte aber daz. der betrurete aber daz und gieng im rehte an slnen lip, vnde giengim rehte an sinen lip. daz er den neven vn daz wip. daz er den neven und daz wip
174 WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 200f. 175 Das ,z' ist in der Handschrift unterpungiert.
Listen am Hof ze arge haete bedaht. CTristan 14912-14925)
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ze arge hete bedaht. (M, fol. 78va Z. 38-78vb Z. 5)
Die erfolgreiche List rettet die Unsichtbarkeit der Liebe zwischen Tristan und Isolde und garantiert so deren Fortbestand an Markes Hof. Sie hat aber, das zeigen die übereinstimmenden Gefühlsreaktionen von Täuscher und Getäuschtem, ihren Preis: „Die Liebe aber wiegt die Lüge auf. Wenn auch sonst freilich nichts." 176 Μ verändert den Vers, in dem von Tristans heftigem Weinen gesprochen wird, beträchtlich: doch frote in starke (M, fol. 78va Z. 45). Zu freuen scheint Tristan, nach dem Willen des Bearbeiters, dass der König mit Erfolg hinters Licht geführt wurde und er darüber traurig ist, das Paar verdächtigt zu haben. Die Trauer aller Beteiligten offenbart, dass die Konfliktsituation des Paares unaufhebbar ist. Denn Tristan und Isolde müssen Marke um ihrer Liebe willen täuschen. Und der König hat durch seine Anweisungen an Melot die Situation mitgestaltet. Doch ist Tristan im Text des Cgm 51 nicht nur seines Weinens beraubt; aus dem trürcere wird ein lediglich trauriger Held: Im Unterschied zum trurigen Marke wird er [Tristan] terminologisch als der truraere [...] bezeichnet, worin sich die programmatische Bedeutung dieses .traurigen Helden' im Rahmen der i/wi?«-Thematik niederschlägt. 177
Die Normalisierung dieser stilistischen Besonderheit im Text des Cgm 51 bedeutet auch das Zurücknehmen von Tristans (besonderer) Fähigkeit zu trauern, bzw. traurig zu sein. Indem in der Münchner Handschrift Tristan über den König triumphiert, wird der Konflikt entschärft und auf die Schwanksituation reduziert. Der übertölpelte Marke nagt nicht am Gewissen der Liebenden. Ihr Recht, sich gegen die List der Lauscher zu wehren, wird nicht angetastet. So fehlt in Μ auch eine kleine Passage, die von Markes und Melots Kummer und Leid nach dem Lauschangriff handelt (Tristan 14935-14946). Der Zwerg war zuvor von seinem König beschimpft worden, weil er ihm den vermeintlich falschen Verdacht einflüsterte. Die Minnefeinde haben sich überworfen; Anteil am trüren haben sie nicht. I m Probe- und Versöhnungsgespräch zwischen dem König und Isolde am nächsten Morgen fehlen im Text des Cgm 51 zwei Erzäh-
176 So kommentiert HAFERLAND: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, S. 298 die Baumgartenszene. 177 TOMASEK: Überlegungen zum trurtn im Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 17. Vgl. auch Tristan 14502, 15854, 18649: der trurmt Tristan - Μ überliefert der trurige tristran (M, fol. 75va Z. 29; 84ra Z. 9; 96ra Z. 28); Tristan 15790: wan der trürcm Tristan - Μ tradiert
wart dertrurige tristran (M, fol. 83va Z. 48).
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
lerkommentare, die auf die doppeldeutige Rede Isoldes hinweisen.178 Zusätzlich sind die Anredeformen im Gespräch zwischen König Marke und seiner Gattin familiarisiert: In der Rede, in der sich Marke für seinen Verdacht gegenüber Tristan entschuldigt, nennt er Isolde in Μ zuerst liebiv jmwe min (M, fol. 79ra Z. 22) statt frou künigin (Tristan 15007); in derselben Rede nennt er Isolde her^eliebiv fröwe min (M, fol. 79ra Z. 30) statt sceligiu künigin (Tristan 15015); schließlich - wenige Verse weiter - nennt Marke die Irin sösgv chunginne (M, fol. 79ra Z. 44) statt frou küniginne (Tristan 15029). Der Konflikt spielt sich nicht mehr zwischen König und Königin, also im gesellschaftlichen Raum, ab. Er siedelt im .Familiären'. Damit wird die gesellschaftliche Dimension des Konflikts abgeschwächt. Kaum ist das Paar der Falle im Baumgarten entronnen, kaum findet sich Isolde in einer überlegenen Situation Marke gegenüber wieder, finden sich erneut Eingriffe im Text, die diese Überlegenheit nicht zu groß erscheinen lassen wollen, die das listige Spiel Isoldes zurücknehmen. Marke übergibt dem herbeigerufenen Tristan, dem schnell verziehen wird, die Königin in seine Obhut. Tristan hat wieder Zutritt zum Frauengemach. Dem Paar wird ein tvunschleben (Tristan 15047) geschenkt, das allerdings nur von kurzer Dauer ist. Eine Analyse der Illustrierung der Baumgartenszene im Münchner Tristan-Codex hat sich zunächst mit der Schwierigkeit auseinander zu setzen, ob in der Bebilderung dieser Episode im Cgm 51 religiöse Sinnschichten aktualisiert sind. Die erste Baumgartenszene, deren Illustrierung auf fol. 76r (s. Abb. 4) zu finden ist, lehnt sich ikonographisch nicht an gängige Sündenfall-Darstellungen an und bildet damit eine Ausnahme unter den bildlichen Rezeptionszeugnissen zur Baumgartenszene. MICHAEL CURSCHMANN hält dennoch eine Aufrufung religiöser Konnotationen für möglich, weil sich die christliche Sündenfall-Ikonographie längst etabliert und die Baumgarten-Motivik .durchdrungen' hat. Ihre religiöse Semantik, die immer schon mit transportiert scheint, prägt der Darstellung dieser List-Episode, in der das Liebespaar von den im Baum sitzenden Marke und Melot belauscht wird, eine Ambiguität auf, die auch im Text durch die Wiederholung der Szene angelegt ist.179 Auch JULIA WALWORTH betont 178 Zunächst fehlt eine Bemerkung, dass Marke sich die Antworten Isoldes, die sie im Scherz spricht, genau merkt: ir wort und auch ir meint (Tristan, 14971f.); dann fehlt eine Auslegung der Worte Isoldes durch den Erzähler, der klarstellt, dass Isolde den Grund, weshalb es Tristan schlecht geht, nur zu gut kennt: Liebe (Tristan 1497914982). 179 CURSCHMANN: Images of Tristan, S. 14: "It may be significant that the Munich Tristan does not render the scene in this particular fashion, but I am inclined to think
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das semantische Oszillieren in den bildlichen Darstellungen der Baumgartenszene, das allererst im Rezeptionsakt stillgestellt werden kann: In short, there is no single interpretation of this image, nor can one say that in one context the Orchard Rendezvous is to be given a wholly negative interpretation, while in another it is humorous, or positive. The very power of the image lies in the range of its possible connotations, and its significance is best understood as a joint process involving both the creator and the viewer. ISO
Die Bildsequenz dieser Seite kulminiert in der Darstellung des belauschten Liebespaares, das auf der rechten Seite des dritten Registers abgebildet ist. Im ersten Register sind auf der linken Seite Tristan und Brangaene im Gespräch dargestellt. Als Folge dieser Unterhaltung ist auf der linken Seite zu sehen, wie Tristan den Holzspan in das Wasser wirft. In dem dazugehörigen Spruchband heißt es: do leget tristran in da% wasser den span. Das mittlere Register ist monoszenisch angelegt: Es zeigt, wie das sich umarmende Paar von Melot beobacht wird. Dem Zwerg ist ein Spruchband zugeordnet: melot giench im allen nach.m Im unteren Register sind - wie im ersten Register - zwei Szenen dargestellt: Links sieht man den König und Melot zu Pferd, rechts Tristan und Isolde mit den Lauschern im Baum. Die Bildseite thematisiert, wie es dem Paar gelingt, die prekäre Situation der huote zu meistern. Auf diesen Illustrationen ist es vor allem Tristan, der in der aussichtslosen Lage mit Hilfe der Vertrauten Brangaene die geeigneten Listen zur Anwendung bringt und auch die heiklen Momente im Baumgarten übersteht. Die Seite stellt sich zu den Aventiure-Sequenzen des Zyklus, die den exorbitanten Helden in den Mittelpunkt rücken. Die Leidthematik, die Gottfrieds Roman an dieser Stelle prägt, findet infolgedessen in der Bebilderung keine Entsprechung.
that that has no more to do with the medium than with anything else. Even before the influence of the twelfth-century literary prototypes began to wane, traditional Christian iconography took over, selected and stabilized this particular episode as an emblematic visualization of the whole, and not the least of the many attractions of the resulting image became its built-in ambiguity. Seeing Tristan and Isolde meet in this delightfully, deceitful way could also remind one of that original sin came into the world because Adam could not resist the temptation of the forbidden fruit. Thus Adam became the first of the 'Minnesklaven'." 180 JULIA WALWORTH: Tristan in Medieval Art. In: Tristan and Isolde. A Casebook. Hrsg. mit einer Einleitung von J. TASKER GRIMBERT, New York, London 1995 (Arthurian Characters and Themes 2), S. 255-299, S. 283. 181 Eine Nachtragshand fügt dem Spruchband der fra hinzu. Im Zwischenstreifen zwischen erstem und zweitem Register hat eine spätere Hand folgenden Vers hinzugefügt: ach got e^ noch soll mesm da\ lieb mit.
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Abb. 4: Cgm 51, fol.76r
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Doch bedeutet dies nicht, dass die Illustrationen generell keine Nähe zu Gottfrieds Text besitzen; so zeigt das Gespräch zwischen Tristan und Brangaene, in dem die Zofe dem Helden die List mit den Spänen verrät, gerade die genaue Kenntnis von Gottfrieds Roman. Auffällig ist schließlich, dass die Bildseite nicht erzählt, wie die Konfrontation im Baumgarten ihr Ende findet. Hier ist eine Leerstelle gesetzt, die durch die Lektüre des Textes gefüllt werden kann.
Die Gottesurteil-Episode in Gotfrids Tristan ist weiterhin ungeklärt und in ihrem Interpretationspotential nicht ausgeschöpft; sie ist zentral für die Deutung des Werkes; sie gehört somit zu den literaturwissenschaftlichen Problemstücken, vor denen sich sogar der Entschuldigungstopos für die weitere Vermehrung der Sekundärliteratur verbietet, weil jeder Interpret sich ihnen aus seinen Voraussetzungen neu stellen muß. 182
Die Schwierigkeiten, die Gottfrieds Roman an dieser Stelle aufwirft, bestehen zum einen darin, dass Isolde trotz gefälschten Eides die Eisenprobe unverletzt besteht und somit Gott selbst das betrügerische Handeln der Liebenden zu decken scheint. Zum anderen beschäftigt der Erzählerkommentar, der behauptet, da^ der vil tugenthafle Krist/ wintschaffen alse ein ermelist (Tristan 15739f.), die Forschung, die darüber streitet, ob der Kommentar blasphemisch gemeint sein könnte.183 Gottfried von Straßburg's Tristan finds himself, on the other hand, in a dissolving world, where meaning has become questionable, where the normal feudal order no longer obtains, where even God seems subsumed by the wholly conditional. 184
182 KLAUS GRUBMÜLLER: ir unwarheit warbaeren. Über den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gotfrids Tristan. In: Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters, Festschrift für K. Stackmann. Hrsg. von LUDGER GRENZMANN, Göttingen 1987, S. 149-163, S. 150. 183 VOLKER MERTENS hat aber darauf hingewiesen, dass die handschriftliche Überlieferung an diesem Kommentar keinen Anstoß genommen hat. Nur die Berliner Handschrift Ν aus dem 14. Jahrhundert überliefert folgende Textumformulierung: dat der dogenhafte crist/ niedtn eyn erlostrist. (V. 15739f.) (V. M.: Klosterkirche und Minnegrotte. In: Mittelalterliche Literatur und Kunst im Spannungsfeld von Hof und Kloster. Ergebnisse der Berliner Tagung, 9.-11. Oktober 1997. Hrsg. von NIGEL F. PALMER/HANS-JOCHEN SCHIEWER, Tübingen 1999, S. 1-16, S. 8) Eine ausführliche Darstellung der verschiedenen Forschungspositionen zur Gottesurteil-Episode bietet RÜDIGER SCHNELL: Suche nach Wahrheit. Gottfrieds Tristan und Isolde als erkenntniskritischer Roman (Hermaea. Germanistische Forschungen, N.F. 67), Tübingen 1992, S. 57-68. 184 JAMES F. POAG: Lying Truth in Gottfried's Tristan. In: DVjs 61 (1987), S. 223-237, S. 223. POAG postuliert aber keineswegs, dass Gottfrieds Roman durch programmatische Kontingenz von Sinn determiniert ist. Er stellt fest, "that Gottfried's narrative
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Die Interpretation von Gottfrieds Romanfragment, die sich in der Gestalt der Münchner TwÄa»-Handschrift zeigt, offenbart wenig Interesse an der religiösen Problematik dieser Episode185: Das narrative Geschehen um den Eid und die Probe bleiben wie der erwähnte Kommentar vom Redaktor unangetastet. Bei der Untersuchung der Episode vom Gottesurteil, dem sich Isolde zu unterwerfen hat, um sich von dem Verdacht der Untreue gegenüber Marke zu befreien, wird häufig übersehen, dass sich die Episode sehr gut in die Listhandlung des Romans einpasst.186 Der doppelsinnige Eid, „the culmination of Isolde's trickery"187, schließt direkt an Isoldes Bekenntnis im Baumgarten an: Sie [Isolde] weiß sich zu helfen, hatte sie doch schon einmal im Namen Gottes behauptet, nie jemandem wirklich angehört zu haben als allein dem, der ihr ihre Jungfräulichkeit nahm [...]. Marke, der lauschte, sollte sich gemeint fühlen. Nicht Gott, sondern Marke wird ein zweites Mal auf die nämliche
art generates structures of 'recognition' and 'disclosure' which point in fact to a transcendent dimension. The transcendent moment I see as situated in that movement toward truth and freedom which has been said to constitute the human person." 185 Nach Meinung von WERNER SCHRÖDER findet eine theologische Auseinandersetzung allerdings gar nicht statt, sie ist Effekt der Forschungsliteratur, gegen die SCHRÖDER gute Argumente anführt (W. S.: Text und Interpretation. Das Gottesurteil im Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a.M. 16 (1976) Nr. 2, S. 47-66, Wiesbaden 1979). Vgl. auch EVA WlLLMS: Der Lebende« Brot. Zu Gottfried von Straßburg Tristan 238 (240). In: ZfdA 123 (1994), S. 19-44, S. 22f.: „Legitimation aus religiöser Sicht ist ebenso wie Irritation durch eine solche, sowohl was die Liebe selbst wie auch das gesellschaftliche Leben als Ganzes angeht, weitgehend ausgeklammert. Selbst der Komplex um das Gottesurteil [...] scheint mir keinen Hinweis auf Gottfrieds Religiosität oder deren Fehlen zuzulassen. Die Vorlage, der er ja bekanntlich recht genau folgt, bot ihm mit dem Schwur Isoldes eine Lösung an, die das bekannte selbstverständliche Einverständnis Gottes mit den Protagonisten, wie es seine Vorgänger stets eingesetzt hatten, voraussetzt. Gott ist mit den Helden, erlöst sie aus Nöten, löst ihre Probleme, läßt sie nicht verderben. [...] Dieser höveschegot, den Gottfried hier ja deutlich als Zitat einführt, ist eine ebenso literarische Erscheinung wie die Figuren, die er dirigiert, und seine windschaffene Existenz ist keine Blasphemie, sondern eine literarische Gegebenheit. Ihn zu tadeln, ist Gottfrieds einzige Möglichkeit, sich von einer Lösung zu distanzieren, die der Stoff nun einmal vorgesehen hat." 186 Vgl. z. B. GRUBMÜLLER: ir unwarbeit warbaeren. Uber den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gotfrids Tristan, S. 151: „Die Eisenprobe, durch die Isolde im Tristan seit Thomas von Britanje ihre Unschuld nachweisen soll, steht als Höhepunkt in einer Reihe von Versuchen Markes und seiner Hofgesellschaft, die Wahrheit aufzudecken." L. PETER JOHNSON: Gottfried von Straßburg: Tristan. In: Interpretationen. Mittelhochdeutsche Romane und Heldenepen. Hrsg. von HORST BRUNNER, Stuttgart 1993, S. 233-254, S. 247: „Die Probe gehört zur ausgedehnten Listmotivik." 187 THOMAS A. KERTH: With God on her side. Isolde's Gottesurteil. In: Colloquia Germania 11 (1978), S. 1-18, S. 2.
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Weise getäuscht, als er mit ungeeigneten Mitteln die Wahrheit an den Tag zu zerren sucht.188
Bevor allerdings Isolde von Marke gezwungen wird, ihr Zeugnis mit dem Anfassen eines im Feuer erhitzten Eisens - „dem brutalsten Gerichtsverfahren der Zeit" 189 - zu bestätigen, schaltet Gottfried einen Exkurs über die valscheit ein (Tristan 15051-15076). Nach PEIFFER verurteilt Gottfried in dem Exkurs „das heuchlerische Uberdecken des Hasses mit dem Schein seines Gegenteils." 190 A m Beispiel von nähgebiir (Tristan 15054) und hüsgenö^ (Tristan 15056) wird soziales Verhalten kritisiert, das nach außen Freundschaft signalisiert, im Innern aber auf Feindschaft basiert. Bei diesem Verhalten, so der Erzähler, entstehe mehr Schaden als durch eines, das seine Feindschaft nicht verberge. GRUBMÜLLER erstaunt es, dass ausgerechnet das Verhalten von Melot und Marjodo in dem Exkurs kommentiert und kritisiert wird: Aber es geht - durchaus überraschend an dieser Verbindungsstelle zwischen den beiden großen Täuschungsszenen - gar nicht um das Zerstörerische der Betrugsmanöver, das die beiden Liebenden ins Werk setzen und dem sie zugleich ausgeliefert sind: Melot und Marjodo [...] sind Ziel der Invektive, die doch beide immerhin [...] um die Aufdeckung der Wahrheit bemüht sind.191
Für GRUBMÜLLER besteht die Funktion dieses Exkurses und seine Platzierung in dem Roman in einer „Sympathielenkung durch den Erzähler, aber doch eine Sympathiekundgabe, die sich ganz auf die Seite des betrügerischen Paares schlägt, also die Perspektive nur dieser beiden Erzählfiguren absolut setzt und ein Interesse an .objektiver' oder zumindest faktischer Wahrheit nicht nur aufgibt, sondern gerade denunziert." 192 W o die Gefahr für das Paar zunimmt, wächst das Rettende auch, indem die doch anstößigen Verteidigungslisten mittels Kritik des Hofes und publikumsgerichteter Zeitkritik in den Exkursen abgemildert werden. 188 HAFERLAND: Höfische Interaktion. Interpretationen zur höfischen Epik und Didaktik um 1200, S. 298. Auch WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 200, zieht eine Verbindung zwischen beiden Episoden. Vgl. auch WOLFGANG SCHILD: Das Gottesurteil der Isolde. Zugleich eine Überlegung zum Verhältnis von Rechtsdenken und Dichtung. In: Alles was Recht war. Rechtsliteratur und literarisches Recht. Festschrift für R . Schmidt-Wiegand zum 70. Geburtstag. Hrsg. von HANS HÖFENGHOFT u. a., Essen 1996, S. 55-75, S. 69: „Isolde jedenfalls handelt im wesentlichen aus Gottvertrauen; freilich ebenfalls nicht tatenlos und passiv [...]. Es geht ihr nicht um ihr Verhältnis zu Gott, sondern nur zu Marke und den Mitgliedern seines Hofes." 189 HUBER: Gottfried von Straßburg: Tristan, 2000, S. 91. 190 PEIFFER: Zur Funktion der Exkurse im Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 158. 191 GRUBMÜLLER: ir unwarheit warbaeren. Über den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gotfrids Tristan, S. 151. 192 Ebd. S. 152.
208
Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
In diesem Exkurs fehlt in der Münchner Handschrift jene Passage, die vom valsche(n) hüsgeno% berichtet. 193 Die Definition von valscheit*4, die sich nach Grubmüller auf das Verhalten der Protagonisten anwenden lässt, ist getilgt. Was an Kritik im Exkurs bestehen bleibt, bezieht sich auf den süre(n) nächgebür und - auf Melot und Marjodo (Tristan 15075). Der Texteingriff des Redaktors signalisiert seine Sympathie für das betrügerische Paar und desambiguisiert die Aussage des Erkurses, indem nun allein Melot und Marjodo valscheit attestiert wird. Die [sich dem Exkurs] anschließenden erzählenden Verse bringen in der Hauptsache eine Wiederholung der Gedanken des Exkurses, sogar in ähnlicher Abstufung: Einem allgemeinen Abschnitt über Melots und Marjodos Heucheln [...] folgt mit Tristans Warnung an Isolde eine bildliche Beschreibung ihrer valscheit, die den Metaphern des Exkurses verwandt ist [...], und daran schließt sich, die Handlung weiterführend, die Konsequenz dieser heimlichen Feindschaft: neuer Zweifel und Argwohn Markes. 195
In dieser narrativ ausgestalteten Textpassage kürzt der Bearbeiter der Münchner Handschrift vehement. 19 In der Fassung des Cgm 51 bleibt erhalten, dass Melot und Marjodo - Schlange und Hund - Tristan gegenüber heucheln und durch ihr Intrigieren bei König Marke erneut Zweifel wecken. 197 Dennoch ist deutlich, dass der Anteil der Minnefeinde im Erzählen der Münchner Handschrift erheblich reduziert ist. Die durch das Handeln der beiden Nebenfiguren motivierte Hofkritik, die nach Meinung der Forschung hilft, das Treiben des Paares zu exkulpieren, wird zurückgenommen. Es scheint, als ob in Μ Hofkritik als das genommen wird, was sie zunächst ist: Hofkritik. Ihre Funktion, die Liebenden zu entschuldigen, wird von dem Redaktor nicht genutzt. Indem im Münchner Codex das Erzählen auf die Liebenden ausgerichtet wird, führt es eine Tendenz weiter, die Herbert Kolb als Isolierung des Paares beschreibt: Daß in der Version Thomas/Gottfried das Urteil zum glühenden Eisen überhaupt stattfinden kann, ist eine Folge davon, daß hier Isold wie auch Tristan von allen Freunden, die Eideshilfe für Isold leisten könnten, isoliert werden und dadurch dem H o f samt seinem weder ganz eigenständigen noch ganz willfährigen König ausgeliefert sind. [...] Die Vereinsamung der Liebenden durch die jüngeren Dichter erstreckt sich also noch weiter: sie werden von aller freundschaftlichen Verbindung zum Artushof abgeschnitten. 198
193 Es fehlen die Verse Tristan 15055-15060. 194 Vgl. Tristan 15057-60: ich meine da* tyr valscheit,/
vitnt ist,/ da% ist ein frtislich mitewist.
195 196 197 198
derfiiunde frimdes bilde treit/ und in dem herben
Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 158f. Es fehlen die Verse Tristan 15081-15112. Für die weitere Motivation der Handlung sind beide Vorgänge notwendig. KOLB: Der Hof und die Höfischen, S. 246.
PEIFFER: Zur Funktion der Exkurse i m
Listen am Hof
209
In der Textfassung der Münchner Handschrift sind zusätzlich die Verbindungen des Paares zu seinen Feinden gekappt. Diese Fassung meidet die Hofkritik und konzentriert sich auf die beiden Hauptfigu199
ren. Die List mit dem zwischen den Ruhelagern gestreuten Mehl, die dann das Gottesurteil erfordert, schließt in der Münchner Handschrift rasch an die Versöhnung nach dem Hinterhalt im Baumgarten an. Die Liebenden werden, nach einem Aderlass Ruhe genießend, allein gelassen, nicht ohne dass Melot Mehl streut, um eventuelle Spuren zwischen den Betten sichtbar werden zu lassen. König und Zwerg gehen - die Falle ist gestellt - zur Messe. Brangaene warnt Tristan vor der List. Doch Tristan, der minnen blinde (Tristan 15190), springt von Bett zu Bett, die Ader platzt auf, besudelt das Bett Isoldes und, nachdem er zurückgesprungen ist, auch das Tristans mit Blut. Die „gewaltsam-sensuelle Manifestation der Tristanminne"200 in dieser Szene, wie die vorhergehende Episode im Baumgarten derber Schwankstoff, wird bei Gottfried überlagert von der Problematik des Erkennens von Wahrheit.201 Der von der Messe zurückkehrende Marke findet zwar in beiden Betten Blut, aber zwischen den Betten im Mehl keine Fußspuren: diu bewcerde diu was aber swach (Tristan 15240).202 199 JAN-DIRK MÜLLER hat für die Rückkehrabenteuer Tristrants im Eilhartschen Roman die nämliche erzählerische Tendenz festgestellt: „Die fortschreitende Isolation [des Paares] ist an etwas anderem zu erkennen: dem allmählichen Verschwinden des Hofes als Bezugnahme des Handelns." (S. 34) Als Kehrseite der zunehmenden Isolierung des Paares kann MÜLLER ein anderes, positives Phänomen ausmachen: „Die immer schärfere Isolation von den anderen, ein Skandalon, das spätere Bearbeiter abzumildern suchen, bedeutet nun paradoxerweise zunehmende Nähe [...]." (S. 35) Es liegt auf der Hand, dass bei der antigesellschaftlichen Tendenz der Tristanminne das Phänomen der Isolierung der Liebenden von der Gesellschaft strukturell gegeben ist; es taucht in den Fassungen des Stoffes in unterschiedlicher Gestaltung auf, wie KOLB für Gottfried, und MÜLLER für Eilhart darlegen können 0.-D. M.: Die Destruktion des Heros oder wie erzählt Eilhart von passionierter Liebe? In: II romanzo di Tristano nella letteratura del Medioeva. Der Tristan in der Literatur des Mittelalters, a cura di PAOLA SCHULZE-BELLl/MiCHAEL DALLAPIAZZA (Atti del Convegno - Beiträge der Triester Tagung 1989), Trieste 1990, S. 19-37). 200 WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 201. 201 HUBER: Gottfried von Straßburg: Tristan, 2000, S. 92: „So bieten die List-Episoden Exerzitien in der Kunst des Zeichenlesens, wie sie dem mittelalterlichen Semiotiker vertraut sind, nur daß die bezeichneten Inhalte sich zugleich mit den Entdeckungen verschleiern und verwirren." 202 UNTERREITMEIER: Tristan als Retter, S. 191: „Im .geringfügigen' Beweismittel, nicht im burlesken Sprung liegt der Kern der Aussage dieser Szene bei Gottfried: die zweideutige Antwort auf Markes Frage nach der warheit (15257) der minne. Im Mittelpunkt auch dieser Szene steht wieder nicht die burlesk dargestellte Tatsache der minne Tristans und Isoldes, sondern die Deutung dieser nur scheinbar burlesken Tatsache durch den .irdischen' Mann, Isoldes Ehemann."
210
Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Da diese Indizien keine klare Antwort geben, verstummt Marke: nv sweiger im gesprach nie wort (M fol. 80ra Ζ. 6).203 Argwohn und Zweifel beherrschen erneut Markes Gedanken und Gefühle. Die Münchner Handschrift kürzt an dieser Stelle zweimal an der Ausgestaltung von Markes Befangenheit im Nicht-Wissen.204 Zunächst fehlt eine Beschreibung des grübelnden Königs: mit disem zwivel enweste er war; er wände her, er wände dar; ern weste, waz er wolde oder wes er wjenen solde. ('Tristan 15253-15256)
Die zweite Minusstelle umfasst eine Reflexion des Erzählers, der Markes Position zwischen Erkenntnis und Täuschung beschreibt: mit disen zwein was er betrogen: disiu zwei wär unde gelogen diu hete er beide in wäne und was ouch beider äne: ern wolte si niht schuldic hän und enwoltes ouch niht schulde erlän. {Tristan 15263-15268)
Damit ist der Konflikt, in den Marke sich stellt und der ihm zur Ehre gereicht, nur in abgeschwächter Form dargestellt. Auf Kommentarebene hatten Zweifel und Argwohn überraschenderweise eine positive Wertung erfahren. Hier hatte der Redaktor ebenso gekürzt und dadurch Kritik an der Markefigur bewirkt. Den Exkurs über %vivel unde aravän zitiert KOLB in seinem Plädoyer für ein freundliches (vom Zweifel bestimmtes) Marke-Bild in dieser Episode.205 In diese Richtung zielen auch die Beobachtungen CLASSENS zur Bettsprung-Szene: 203
204 205
Vgl. Tristan 1 5 2 2 8 : nu gesmeig er und sprach me kein wort. Marke zeigt damit mehr Skrupel als der wortgewaltige Meleagant in Chrestiens 'Lancelot-Roman, der - mit einer ähnlichen Indizienkonstellation konfrontiert - äußert: J'ai trove/ Sane an νοξ dras, qui le tesmangne,/ Puis que dire le me besoingne./ Par ce le sai, par ce le pruisj Que an i>o% dras et es suens truis/ Le sane qui chei de sesplaits:/ Ce sont ansaingnes bien veraies. (Vv. 4788-4794) (Ich habe an Euerm [der Königin] Laken Blut entdeckt, das beweist es, (4790) wenn ich es schon sagen muß. Ich weiß und beweise es dadurch, dass ich auf Euerm und seinem [das Laken des unschuldigen Keu] Laken das Blut, das aus seinen Wunden flöß, finde: das sind ganz untrügliche Anzeichen.) Die vermeintlich eindeutigen Augen-Beweise veranlassen Meleagant sodann, den Schwur zu leisten, den der rechtskundige Lancelot ebenso glänzend formuliert wie Isolde den ihren. Der Text ist zitiert nach: Chrestien de Troyes: Lancelot. Übersetzt und eingeleitet von HELGA JAUSS-MEYER, München 1974 (Klassische Texte des Romanischen Mittelalters in zweisprachigen Ausgaben 13). Getilgt sind die Verse Tristan 1 5 2 5 3 - 1 5 2 5 6 und 1 5 2 6 3 - 1 5 2 6 8 . HERBERT KOLB: Isoldes Eid. Zu Gottfried von Straßburg, Tristan 1 5 2 6 7 - 1 5 7 6 4 . In: ZfdPh 1 0 7 (1988), S. 3 2 1 - 3 3 5 , bes. S. 330-332.
Listen am Hof
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Der König weiß demnach, was vorgeht, denn das Blut spricht eine deutliche Sprache und verrät, daß Tristan bei Isolde gelegen hat. [...] Marke ist aber nicht nur Richter und König, sondern zugleich auch Liebender, der sich stets geprellt fühlt und sich doch nicht dagegen wehren kann [...]. Je mehr sich die Gerüchte zu harten Indizien konkretisieren, desto mehr befürchtet Marke, letztlich dazu gezwungen zu sein, ein Urteil zu sprechen und damit sowohl Isolde als auch Tristan zu verlieren f...]. 206
Die Not der Ungewissheit, die Marke angesichts der prekären Beweislage erfährt, findet in der Fassung der Münchner Tristan-Handschrift gerade keine Betonung. Als es fast scheint, als ob Gottfried den in Gedanken versunkenen König als handlungsunfähig207 charakterisieren will, indem er Marke zwischen gesichertem Wissen und Zweifel an diesem Wissen schwanken lässt, da reduziert der Redaktor der Münchner Handschrift diese Spannung: Auch in seiner Textfassung gibt sich Marke dem Zweifel hin; doch weiß er sich in seiner Not schneller zu helfen. Der König ruft seine Fürsten zusammen. Die Bebilderung der Bettsprung-Szene, die sich im Cgm 51 auf fol. 76ν findet (s. Abb. 5), betont Markes Rolle als König und Richter. Denn das obere Register zeigt ihn in zwei Szenen je im Gespräch mit den beiden Verdächtigen, Tristan und Isolde. Warnend hat der sitzende Marke jeweils die Hand erhoben. Gottfrieds Text kennt diese Gesprächsszenen nicht. Das mittlere Register zeigt, wie die Falle gestellt wird: Melot streut das Mehl zwischen die Betten, in denen Tristran und Ysot liegen. König Marke verlässt den Raum. Die rechte Illustration im unteren Register präsentiert den Helden, wie er zum Sprung in Isoldes Bett ansetzt. Links sind die Folgen des Sprungs zu sehen: Tristran di ader brtchen. Die Bildseite legt besonderes Gewicht auf die Darstellung der huote, der das Paar ausgesetzt ist. Markes zweiflerisch-grübelnde Reaktion auf den Vorfall findet im Bildmedium keine Berücksichtigung. Stattdessen wird dargestellt, wie die List Melots
206 ALBRECHT CLASSEN: König Marke in Gottfrieds von Straßburg Tristan. Versuch einer Apologie. In: Amsterdamer Beiträge zur älteren Germanistik 35 (1992), S. 3763, S. 51f. 207 Vgl. hierzu TOMASEK: Überlegungen zum trurtn im Tristan Gottfrieds von Straßburg, S. 16: „Zu den herausgehobenen trurcnden im Tristan gehört auch König Marke, dessen Traurigkeit im Verlaufe der Handlung zunehmend die Züge einer krankhaften Melancholie annimmt. Nach der Entdeckung der Liebenden durch Marjodo setzen in Marke nämlich »jvivtl und arcman (13717) einen inneren Zerrüttungsprozess in Gang, der vom Erzähler genau nachgezeichnet wird. [...] Zuviel Nachdenken und Traurigkeit, die .klassischen' Ursachen der Melancholie, bewirken in Marke sodann einen nachhaltigen Realitätsverlust: Seit der Mehlstreuepisode besitzt er genügend Indizien für Tristans und Isoldes Schuld, doch klammert sich der verimte König nun an den kleinen Rest verbliebener Zweifel, die ihn hoffen lassen, die Liebenden nicht überführen zu müssen [...]."
212
Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
durch die Gegenlist Tristans aufgehoben wird. Von Bedeutung ist, dass die Episode nicht auf dieser Bildseite zu Ende erzählt wird. Die Spannung erzeugende Leerstelle wird erst auf fol. 82r (s. Abb. 6) gefüllt. Dort entdeckt König Marke - dargestellt im oberen Register das Blut in Isoldes Bett. Markes Fürsten raten zu einem Konzil, das in London nach Pfingsten stattfinden soll. Der Bischof von Thamise208 übernimmt die Leitung der Verhandlung und fordert die Anhörung Isoldes. Marke entspricht dieser Bitte ('Tristan 15329-15425). Der Bischof verlangt daher von der Königin, zu dem Vorwurf der Untreue Stellung zu nehmen. In ihrer Verteidigungsrede verweist diese, wie schon in den Bettgesprächen mit Marke, auf ihren besonderen Status an dem fremden Hof. 209 In der Rede ist in Μ das Verspaar Tristan 15505f. eliminiert: ir (Isolde spricht das Konzil an) geloubet vil gereiteI miner dorperheite. Damit ist Isoldes Worten die aggressive Spitze genommen, sie macht den Anwesenden keinen Vorwurf, sondern fügt sich bereitwillig und demutsvoll den Auflagen des Gerichts. Marke fordert das Gottesurteil, das sechs Wochen später in Caerleon stattfinden soll. Aus der Perspektive der Angeklagten, die damit in den Mittelpunkt gerückt wird, ist das weitere Geschehen erzählt.210 Isolde wendet sich an Gott und ersinnt eine List; doch den Lesern oder Hörern des Romans wird der
208 GRUBMÜLLER: ir unwarheit warbaeren. Ü b e r den Beitrag des Gottesurteils zur Sinnkonstitution in Gotfrids Tristan, S. 153, weist auf die Rolle des Bischofs hin, „den Gottfried bei der kurzen Beschreibung seines Auftrittes in der Ansammlung aller zuständigen Epitheta zu einem Musterbild des integren und unbestechlichen greisen Ratgebers macht". Die Illustrierung der Konzilszene im Münchner Codex im mittleren Register auf fol. 82r zeigt den als rex thronenden Marke mit erhobenem A r m und die stehenden Fürsten bei intensiver Beratung. Auffällig ist hier die N ä h e der Bebilderung zu Gottfrieds Text: Der im R o m a n erwähnte Krummstab des Bischofs (Tristan 15353) ist auch ins Bild gesetzt (vgl. GLCHTEL: Die Bilder der Münchener TristanHandschrift, S. 121; FALKENBERG: Die Bilder der Münchener Tn>/an-Handschrift, S. 86). 209 LESLEY SEIFFERT betont die „loneliness and indignity" Isoldes und schreibt dem Prozess den „character of a degradation ritual" zu (L. S.: Finding, Guarding, and Betraying the Truth: Isolde's Art and Skill, and the Sweet Discretion of her Lying in Gottfried's Tristan. In: Gottfried von Straßburg and the medieval Tristan legend. Papers f r o m an Anglo-North American Symposium. Hrsg. von ADRIAN STEVENS/ROY WLSBEY, Cambridge 1990 (Arthurian Studies X X I I I . Publications of the Institute of Germanic Studies 44), S. 181-207, S. 188.) Auch KOLB: Der H o f und die Höfischen, betont S. 247 Isoldes „Lage des Ausgeliefertseins" bzw. das „Entehrende und Entwürdigende" der Rechtsprozedur. 210 Vgl. ROSEMARY N . COMBRIDGE: Das Recht im Tristan Gottfrieds von Straßburg, Berlin 1964 (Philologische Studien und Quellen 15), S. 112.
Listen am Hof
Abb. 5: C g m 51, fol. 76v
213
Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Abb. 6: C g m 51, fol. 82r
Listen am Hof
215
Plan nicht verraten. Sie erfahren ihn erst, während das Geschehen sich abspielt.211 Wie Tristan, brieflich von Isolde informiert, rechtzeitig am Gerichtstag als Pilger erscheint, überliefert der Text der Münchner Twta«-Handschrift ebenso wie die Episode, in welcher der Held mit der Königin im Arm, nachdem diese ihm ins Ohr geflüstert hat, zu Boden fällt. Vom Lob der Hofgesellschaft für Isolde, die den vermeintlich täppischen Pilger vor Strafe schützt, erfährt der Rezipient dieser Handschrift allerdings nicht. 212 Isoldes raffiniertes Spiel213 scheint in der Fassung dieser Handschrift zurück genommen zu sein. In diese Richtung deutet auch das Fehlen der Beschreibung von Isoldes härenem Bußgewand vor Gericht. 214 hie mite was si zem münster komen und hete ir ambet vernomen mit inneclichem muote. diu wise, diu guote, ir andäht diu was gotelich: si truoc ze nähest an ir lieh ein herte hemede haerin, dar obe ein wullin rockelin kurz und daz me dan einer hant ob ir enkelinen want, ir ermel waren üf gezogen vaste unz an den ellenbogen; arme unde füeze wären bar. manec herze und ouge nam ir war swäre und erbermecliche. ir gewandes unde ir liehe des wart dä dicke war genomen.
(Tristan 15655-15671)
hie mit was si zem munster chomen. vnde het daz ambet vernomen. mit innchlichem mote, div wise div gote.
het got in ir helfe genomen. (M, fol. 83ra Z. 29-33)
Das Gewand der Angeklagten, „exposing so much of her arms and feet" 215 , übernimmt bei diesem öffentlichen Auftritt Isoldes bestimmte Funktionen: Das Bußkleid, das alle Blicke auf sich zieht, dient der Eindrucksmanipulation. Schon bei Isoldes Auftritt am irischen Hof, als dem betrügerischen Truchsessen der Prozess gemacht wurde, hatte
211 Vgl. JOHNSON: Gottfried von Straßburg: Tristan, S. 247. 212 In Μ fehlen die Verse Tristan 15611-15615. 213 JOHNSON: Gottfried von Straßburg: Tristan, S. 247: „Wie die Entlarvung des Truchsessen die Mutter, so zeigt Isoldes Inszenierung ihres Reinigungseids sie als vollendete Theaterregisseurin und Schauspielerin, als würdige Schülerin ihrer Mutter und Tristans." 214 Die Verse Tristan 15659-15670 sind im Münchner Codex getilgt. 215 SEIFFERT: Finding, Guarding, and Betraying the Truth: Isolde's Art and Skill, and the Sweet Discretion of her Lying in Gottfried's Tristan, S. 189.
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
sich ihr Kleid wie eine zweite Haut an ihren Körper geschmiegt.216 Dass der Redaktor der Münchner Handschrift der Büßerin in seiner Textfassung dieses Mittel der Manipulation vorenthält, bewirkt, dass die Inszenierung der Heldin an elaborierter Ausgestaltung verliert.217 Die Textauslassungen, welche die Gottesurteil-Episode in der Fassung der Münchner Handschrift kennzeichnen, verweisen auf zentrale Tendenzen der Bearbeitung, die Gottfrieds Text in dem bairisch-alemannischen Skriptorium widerfährt. In der Tilgung des MinnefeindeParts zeigt sich die Intention, sich auf das Erzählen der Geschehnisse um die beiden Hauptfiguren zu konzentrieren. Damit geht der Verzicht auf die in Gottfrieds Konzeption so ausgeprägte Hofkritik einher. Dass die Komplexität der Markefigur zurückgenommen wird, belegt ebenfalls diese Tendenz. Die restlichen Eingriffe des Redaktors in dieser Episode betreffen die Darstellung der Königin. Nie ist die Gefahr für Leib und Leben Isoldes größer als in dieser Episode. Nie sind die Listen der Liebenden gewagter. Der Redaktor entschärft die überlegen und spielerisch erscheinende Betrugsinszenierung Isoldes. Jene Mittel, die nicht notwendig dem Entkommen aus der Notsituation dienen, die einen (erzählerischen) Selbstzweck der Listen vermuten lassen, stören den Bearbeiter, wenn sie von der Heldin des Romans ausgeführt werden. Die Bebilderung der Gottesurteil-Episode im Cgm 51, die sich in der Handschrift auf fol. 82v findet (s. Abb. 7), stellt die Figur der trickreichen Königin in den Mittelpunkt der Darstellung. Das obere Register zeigt, wie Tristan in der Bildmitte auf der Erde kniet und Isolde umfangen hält: Diese „stützt ihr Haupt kummervoll in die rechte Hand ; die Figur trägt das Haar offen. Im mittleren Register ist auf der linken Seite zu sehen, wie Isolde vor ihrem Richter steht: Marke - sitzend mit gekreuzten Beinen - hält die rechte Hand erho216 Dort war die virtuose Beschreibung Isoldens vom Redaktor der Handschrift ebenfalls gekürzt worden. Vgl. WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 203. TOMASEK wendet sich in seiner Besprechung von WOLFS Buch gegen die Deutung, dass von Isoldes Gewand erotische Wirkung ausginge (vgl. PBB 114 (1992), S. 150-155, S. 154). 217 Vgl. aber SCHNELL: Suche nach Wahrheit, S. 64: „Isolds Gebete und Fasten (15548), Almosengeben (15643ff.), ihr Bußgewand (15656ff.) erfolgen nicht aus Berechnung, sondern gehören zum Ritual eines mittelalterlichen Gottesurteils [...]." Dennoch ist im Falle von Isoldes Gottesurteil nach den Funktionen zu fragen, die ein Motiv erfährt, wenn es in einen poetischen Kontext integriert wird. SCHNELLS Absage an eine Konzeption der Isolde-Figur, bei der ihr raffiniertes Verhalten im höfischen Terrain im Mittelpunkt steht, scheint mit den Grundthesen seines Buchs zusammenzuhängen. Das Konzil mittels eines Bußgewandes zu manipulieren, die Regeln höfischer Interaktion derart virtuos zu beherrschen, ist schwer mit dem Konzept der Innennormen zu vereinbaren, das SCHNELL auf die Figur der Isolde anwendet. 218 FALKENBERG: Die Bilder der Münchener Tristan-Handschrift, S. 88.
Listen am Hof
217
ben. Die Königin ist mit einem Gebende und einem gefütterten Pelz bekleidet. RANKE erblickt in der Abbildung die Schwurszene Isoldes.219 Auf der rechten Seite ist Isolde - nun mit Krone und rotem Kleid - dargestellt, wie sie mit ausgestreckter Hand vor dem Bischof steht und ihm ihre .unverletzte' Hand zeigt.220 Damit signalisiert die letzte Szene deutlich, dass die Angeklagte wieder ihren Status als Königin erlangt hat. Ein Anwalt der Eindeutigkeit war Gottfried freilich nicht, eher ein Meister der Vieldeutigkeit. Sein Tristan ist ein Vexierroman, der aus unterschiedlichen Perspektiven ganz unterschiedliche Ansichten vorspiegelt. Wie der Wunderhund Petitcreiu, das Kunstwerk aus Avalon [...] lädt er zu unterschiedlichen Reaktionen ein. [...] Der Triiian-Roman ist als offenes Kunstwerk konzipiert, das die Interpreten zu unterschiedlichen und konträren Interpretationsexperimenten herausfordert. Tristan ist fasziniert von dem H u n d , weil seine scharfsichtigen Augen von den Farben getäuscht werden. Der Erzähler analysiert die Farben und die Farbmischungen, die die Wahrnehmung täuschen. Das Signifikat des offenen Kunstwerks kann nicht bestimmt werden, aber es ist möglich, die sprachlichen Kunstgriffe, die literarischen Techniken und die komplexen Signifikantenpraktiken zu analysieren, mit denen Gottfried die Komplexität und Vielschichtigkeit seines Textes konstruiert hat. 221
Dem Hündchen, das der junge und unverheiratete Herzog Gilan dem geflohenen Tristan auf einem Purpurtuch präsentiert, um die Melancholie des Gastes, dessen Trennungschmerz, zu vertreiben, attestierte die Forschung polyvalente Sinndimensionen im Textgefüge, die eine einsinnige Semantisierung seines Bedeutungsgehalts verunmöglichen.222
219 Vgl. FRIEDRICH RANKE: Tristan und Isolde, München 1925 (Bücher des Mittelalters 1),S. 281. 220 Vgl. ebd. S. 281; SCHILD: Das Gottesurteil der Isolde, S. 57; KLEMM: Die illuminierten Handschriften des 13. Jahrhunderts deutscher Herkunft in der Bayerischen Staatsbibliothek, S. 222. 221 URSULA LLEBERTZ-GRÜN: Pluralismus im Mittelalter. Eine polemische Miszelle. In: Monatshefte 86 (1994), S. 3-7, S. 4. Vgl. hierzu auch BERTAU: Deutsche Literatur, der Petitcreiu als „Allegorie der Poesie" (S. 950) interpretiert. 222 Zu der Petitmiu-Episode vgl. besonders LOUISE GNÄDINGER: Hiudan und Petitcreiu. Gestalt und Figur des Hundes in der mittelalterlichen Tristandichtung, Zürich 1971, S. 18-48; WERNER SCHRÖDER: Das Hündchen Petitcreiu im Tristan Gottfrieds von Straßburg: In: Dialog. Literatur und Literaturwissenschaft im Zeichen deutschfranzösischer Begegnung. Festgabe J. Kunz. Hrsg. von RAINER SCHÖNHAAR, Berlin 1973, S. 32-42; WESSEL: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg Trittau und Isolde, S. 444-453; GLOGAU: Untersuchungen zu einer konstruktivistischen Mediävistik, S. 119-136; SILKE PHILIPOWSKI: Mittelbare und Unmittelbare Gegenwärtigkeit oder: Erinnern und Vergessen in der PetitcruEpisode des Tristan Gottfrieds von Straßburg. In: PBB 120 (1998), S. 28-35.
218
Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Abb. 7: Cgm 51, fol. 82v
Listen am Hof
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Petitcreiu, Geschenk einer Göttin aus dem Feenreich Avalun an Gilan, hat zwei Eigenschaften: Die Farbe seines Fells lässt sich nicht bestimmen und der Klang des Glöckchens, das an einer goldenen Kette um den Hals Petitcreius befestigt ist, wirkt als Heilmittel gegen Depressionen (Tristan 15822-15863). Die Liebenden sind von je einer dieser Eigenschaften stärker gebannt: Während Tristan sich fasziniert durch den Schein des Farbenspiels täuschen lässt223, beschäftigt sich Isolde eher mit der leidvertreibenden Klangwirkung des Glöckchens, die sie für sich allerdings nicht in Anspruch nehmen will.224 Schließlich verzichten die beiden Liebenden darauf, das Wunderhündchen als Palliativum zu benützen: Tristan kommt durch den Sieg über den Riesen Urgan in den Besitz des Hundes und schickt ihn als Geschenk an Isolde; diese umsorgt das kleine Geschöpf außerordentlich, zerreißt aber die Kette mit der Glocke.225 Petitcreiu ist somit Zeichen der Tristanminne, nicht als Objekt, sondern in seiner Funktion. Das Hündchen selbst mit seinen märchenhaften Eigenschaften wird entzaubert und zeigt gerade dadurch, wie vollkommene Minne zu sein hat. 226
In der Münchner Tw/a«-Handschrift ist zu Beginn der Petitcreiu-Episode lediglich ein Verspaar gekürzt worden, das von der Bedürfnislosigkeit des Hundes handelt.2 7 Diese Eigenart des Hundes gehört einer Reihe anderer Besonderheiten des Wundertieres an, welche die Forschung in Beziehung zur Minnegrotte setzt: 223 ir beider [Farbenvielfalt und Glockenspiel] nam in wunder/ und dühte in doch hier under/ wunder umbe da% hundelin/ vilmichel wunderlicher sin,/ dan umbe den stiegen schellenklanc,/ der ime in sin öre sanc/ und nam im sine triurt. / diζ dühte in äventiure, / da^er mit Hebten ougen/ siner ougen lougen/ an allen disen varwen vantj wan ime ir keiniu was bekant,/ swie vit er irgename war. (Tristan 15871-15883) 224 Isolde möchte nicht von ihrer Traurigkeit befreit sein, wenn Tristan seine behält; deshalb zerstört Isolde das Kunstwerk Petitcreiu: hie mite brach sidi schellen abe/ und lie die kttene daran./ hie verlos ouch diu schelle van/ al irrtht und alle ir kraft. (Tristan 16392-16395) 225 Die Forschung wertet die Verzichtsleistung Isoldes höher, weil diese sich nicht wie Tristan vom Farbenspiel täuschen lässt und eindeutiger in der Ablehnung scheint. Tristan hingegen wird Narzißmus vorgeworfen, der in seinem zärtlichen Umgang mit dem Hund zum Ausdruck komme. Vgl. WESSEL: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde, S. 446; GNÄDINGER: Hiudan und Petitcreiu, S. 47. PHILIPOWSKI: Mittelbare und Unmittelbare Gegenwärtigkeit, wertet die unterschiedliche Wahrnehmung des Hundes durch Tristan und Isolde „als Indikator einer Brechung in der Tristanminne denn als Zeichen von unverbrüchlicher Zweisamkeit" (S. 29): „Wenn Petitcriu Tristan den Sieg über die Erinnerung ermöglicht und Isolde den Sieg über das Vergessen, kündigt sich in diesem Unterschied bereits das Scheitern ihrer minne an."(S. 34) 226 HUBER: Gottfried von Straßburg: Tristan, 2000, S. 95. 227 Es fehlt Verspaar Tristan 15893f.: ouch ena% «rj [Petitcreiu] noch entranc niht,/ als man von im gfht.
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Interpretationen zur Textgestalt der Münchner Tristan-Handschrift
Äußerungen wie Winseln oder Bellen kennt also Petitcreiu nicht; bei Spiel, Vergnügen, Heiterkeit und freudigem Zeitvertreib wird er nicht unwillig; Speise und Trank bedarf es nicht. Die Unverdrießlichkeit und Bedürfnislosigkeit des Hündchens steht in antizipierender thematischer Beziehung zum Motiv der banekie und der Nahrungslosigkeit der Waldleben- und Minnegrottenepisode. 228
Weiteres Textmaterial kann angeführt werden, um die These von Petitcreiu als „Präfiguration des Minnegrottenereignisses"229 plausibel zu machen. Die enge Anbindung der Petitcreiu-Episode an die folgende lässt fragen, weshalb der Redaktor der Münchner Handschrift hier den Text nicht intensiver bearbeitet hat, sind doch seine Texteingriffe quantitativ und qualitativ nie stärker als in der Episode, die vom Leben des Paares in der Minnegrotte erzählt. Eine Antwort könnte in den unterschiedlichen Darstellungsformen liegen, die beide Episoden für ihre (ähnlichen) Inhalte verwenden: Viel eher steht Schein gegen Schein: eine verheißungsvolle poetische Fiktion, das Hündchen, gegen eine reich entfaltete, ausgetüftelte Allegorie, die Minnegrotte und ihr Bereich. Beiden, dem Minnehündchen und dem Bau der Grotte, fehlt eigentlich die Grundlage eines ausreichenden Literalsinnes, sie werden erst in ihrer Allegorese - beim Wunderhündchen spricht man zwar vorsichtiger von Symbolik - weittragend und sinnerhellend in den Gang der Geschichte eingebaut. 230
Dass der Redaktor die Beschreibung des Wunderhündchens in seiner Fassung unangetastet lässt, könnte darin begründet liegen, dass dieses Symbol leidbereiter Minne erzähltechnisch gesehen die Narration nicht blockiert, während eine Allegorie und ihre Auslegung die Erzählung unterbricht. Die Episode konzentriert sich - und dieses ist ein weiterer Grund - auf die Innenbeziehung des voneinander getrennten Paares. Berücksichtigt man die bisher festgestellten Tendenzen der Redaktion, legt der Bearbeiter des Cgm 51 gerade darauf großes Gewicht. Freilich ist die Bedürfnislosigkeit Petitcreius, die in Μ wegfällt, jene Eigenart des Hundes, die expliziter als die anderen auf das folgende Geschehen verweist. Zudem besitzt Petitcreiu noch die wichtige Funktion, die Urgan-Handlung zu motivieren.
228 GNÄDINGER: Hiudan und Petitcreiu, S. 39. Vgl. auch WESSEL: Probleme der Metaphorik und die Minnemetaphorik in Gottfrieds von Straßburg Tristan und Isolde, S. 447: „Inhaltlich wird die Art typologischen Beziehungsverhältnisses deutlich, wenn es von dem Hündchen heißt, dass es weder zu fressen noch zu trinken brauche [...] es ist also in sich selbst bedürfnislos dargestellt während Tristan und Isolde einander durch den Tausch ihrer Blicke leibliche Nahrung entbehrlich machen." 229 GNÄDINGER: Hiudan und Petitcreiu, S. 43. Vgl. auch WOLF: Gottfried und die Mythe, S. 205. 230 GNÄDINGER: Hiudan und Petitcreiu, S. 44.
Listen am Hof
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U m aber von Gilan das Hündchen zu erhalten, muss Tristan dessen Reich von einer Plage befreien: Die Beseitigung des an einem Fluss lebenden Riesen Urgan, der sich den Herzog tributpflichtig gemacht hat, ist die an Tristan gestellte Aufgabe. Als uns diu wäre istorje seit/ von Tristandes manheit {Tristan 15919f.) - so beginnt Gottfried cÜe Episode mit dem Urgan-Kampf. Im Münchner Codex wird das Geschehen hingegen von auenture belegt.231 W h e r e G o t t f r i e d does use explicitly historiographic terms, it o n l y c o n f i r m s o u r impression that if there is a link between the love story and history, there is also an irreducible difference. H e is, f r o m the lexicographical evidence, the first author in G e r m a n y t o use the vernacular t e r m s istorje and geste.™
Wie auch immer Gottfried seinen Roman von Tristan und Isolde in Geschichte verankern wollte, der Redaktor der Münchner Handschrift verweigert sich der neu eingeführten historiographischen Terminologie, die auch die besondere Bildung des Autors belegt.233 Als Tristan den Riesen mit den Tributleistungen - rinder, schäf unde smn (Tristan 15936) - an einer Brücke stellen kann, erweist sich in der ersten Runde des Kampfes, die mit Worten ausgetragen wird, dass der behaarte Flussbewohner wohl informiert ist über die Kämpfe und die Kampfarten dessen, der ihm den Weg versperrt (Tristan 16000-16015). Das Töten ist für den Helden in Gottfrieds Roman eine anstrengende und mühsame Arbeit: Zunächst wird Tristans Pferd mittels der von Urgan geworfenen Stange in zwei Hälften geteilt, dann gelingt es Tristan, dem Riesen ein Auge auszustechen, sodann eine Hand abzu231 Vgl. M, fol. 84rb Z. 27f.: als uns diu auenture seit, von tristrandes manheit. 232 MARK CHINCA: History, Fiction, Verisimilitude. Studies in the poetics of Gottfried's Tristan, London 1993 (Text and Dissertations 35), S. 47. GERTRUD GRUNKORN führt Gottfrieds Bildung als Grund für die Einführung der neuen Begrifflichkeit an: „Seinen äußerst gebildeten Status betont der Autor (Gottfried) auch im Handlungsverlauf, indem er für den verbürgten Stoff Fremdwörter benutzt, die die Authentizität seiner Quelle hervorheben sollen. So verwendet er die Begriffe feste und istorje (bei Gottfried zum ersten Mal bezeugt), die in der Schrifttradition für wahrheitsbehauptende Rede stehen." (G. G.: Die Fiktionalität des höfischen Romans um 1200, Berlin 1994 (Philologische Studien und Quellen 129), S. 97.) 233 Weitere Belege: Zur Rechtfertigung des Herkunftsberichts von König Gurmun steht in Vers Tristan 5884f. als ich an dtr istorje las/ und als rehte more seit. In M(BE) findet sich: als ich an den böchen las. vnde als da^ reht mart seit (M, fol. 40va Z. 9f.). Dass Tristan auf Drachenkampf ausreitet, hat der Erzähler in den Handschriften M(BE) an dem man (M, fol. 59ra Z. 24) gefunden, nicht an der geste wie die übrigen Handschriften (Tristan 8946). Die Verse Tristan 18695f., die den nächsten «ir/i2«-Codex überlieferten Texten, in dem sich der Part von Nebenfiguren wie König Marke oder Brangaene ebenfalls verkürzt zeigt, wird man eher der letzteren Annahme zustimmen. Auch in diesem Textbereich differiert die Reihenfolge der Strophen in den Handschriften. Erneut präsentiert die Handschrift G die Ereignisse nicht in der zu erwartenden zeitlichen Abfolge: Der heimliche Aufbruch Gahmurets wird vor dem Abschiedsgespräch des Helden mit Herzeloyde (Str. 80a-d) und vor der Ubergabe ihres Abschiedsgeschenks (Str. 81) erzählt. Diese und die folgende Strophe stehen in Μ nach Str. 81: 78, (80a-d), 81, 82. Diese [...] Strophenfolge unterscheidet sich [...] von der in G überlieferten dadurch, daß sie einen geschlossenen Geschehensablauf bietet: Abschied Schionatulander/Sigune (76-78) - Abschied Herzeloyde/Gahmuret ([80a-d], 81) - heimliche Abreise von magen und mannen, Beschreibung des Zuges, Reiseroute (79, 80, 82). Die Reihenfolge in Hs. G, in der der Abschied Gahmurets von Herzeloyde erst erfolgt, nachdem wir ihn bereits auf der Fahrt gesehen haben (79, 80), wird aber [...] von den Haupthss. des J T gestützt, so daß man die Umstellung in Μ der Ordnungsliebe eines Bearbeiters wird zuschrieben müssen. 1,w U L R I C H STECKELBERG, der das Varianzphänomen veränderter Strophenfolge in Wolframs Titurel und in Hadamars von Laber ]agdAllegorie verglichen hat, meint feststellen zu können, dass aus den Strophenumstellungen in den Tz/«r