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German Pages 446 Year 2014
Barbara Birkhan Foucaults ethnologischer Blick
Edition Kulturwissenschaft | Band 17
Für M. und F.
Barbara Birkhan (Dr. phil.) ist Sozial- und Kulturanthropologin. Ihre Forschungsthemen sind Poststrukturalismus, Anthropologie des Wissens, LifeSciences, geistiges Eigentum, Biodiversität sowie politische Ökologie.
Barbara Birkhan
Foucaults ethnologischer Blick Kulturwissenschaft als Kritik der Moderne
Gedruckt mit Unterstützung des Bundesministeriums für Wissenschaft und Forschung in Wien und einer Förderung durch die Österreichische Forschungsgemeinschaft
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Barbara Birkhan Umschlagabbildung: Tomaz Kunst, »Nazca lines in Peruvian desert«, Fotolia.com, bearbeitet von Barbara Birkhan Lektorat: Barbara Birkhan, Ingvild Birkhan Satz: Barbara Birkhan Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1955-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Einführung | 7 Foucaults Texte als Gegenstand der Analyse | 11 Zur Rezeption von Foucault in Anthropologie und Philosophie | 26 Leitfaden durch das Buch | 39
DISTANZIERUNG DER MODERNE
| 45
Wahnsinn und Gesellschaft – Die Sprache des Anderen | 51 Abschied vom Eigensinn des Anderen | 63 Die Ordnung der Dinge – Kritik des Gleichen | 69 Universelle Ähnlichkeit | 73 Differentielle Gleichheit | 77 Einzuholende Andersheit | 81 Ethnologie als paradigmatische Gegenwissenschaft | 107
ETHNOLOGISCHE PERSPEKTIVE
| 119
Widerstand im Gegenstand | 123
Die reinen Wissenschaften sind unberührbar | 125 Prekarisierung der Humanwissenschaften | 141 Das Gewicht der Zeichen | 147 Archäologie des Wissens – Begriffliche Opposition | 165 Auftrennen und Verstricken nach archäologischem Muster | 176 Die Sprache der Archäologie politisiert | 197 Die archäologische Textur | 205
Strategie der ethnologischen Veränderung | 229
Epistemologie der Diversifikation | 230 Der Stellenwert der Anderen bei Habermas | 238 Der Umfang von Foucaults Revisionen | 269 Die Aktualität der Kritik | 273 Kontrapunkt zur Identität der Moderne | 281 Der Vorgang kritischer Transformation | 292 Vernunft und Wahrheit in der Zentrifuge | 307 Blickwechsel in der Äußerung von Alternativen | 323
Der enunziative Gehalt von Perzeption und Explikation | 324 Emanzipationsbewegung ohne Subjekt | 335 Kulturelle Kreativität im globalen Austausch | 348 Die Artikulation relational objektiver Positivitäten | 359 Synopsis | 389 Bibliographie | 415
Einführung
Ausgangspunkt der Beschäftigung mit Michel Foucault, die zum vorliegenden Buch führte, war die ausgesprochen deutliche Präsenz des Philosophen Foucault in der Anthropologie zum einen und andererseits die Diskussion um Foucault als Ethnologen in der Philosophie. Diese etwas paradoxe Situation motivierte das Vorhaben, theoretische und methodische Grundpositionen von Foucaults Arbeiten vor dem Hintergrund der Frage nach seiner ethnologischen Verortung neu aufzurollen. Das Hauptgewicht liegt dabei auf Foucaults Ansatz als Kritik und der Verbindung dieser Position mit der Ethnologie. Ein wichtiger Grund hierfür ist, dass Foucault seine Forschungen als Ethnologie der eigenen Kultur bezeichnet hat, und dass die Ethnologie für ihn kritischen Charakter hatte. Die ethnologische Positionierung von Foucault wird in zweierlei Hinsicht vorangetrieben – was den interdisziplinären Zugang kennzeichnet. In die intensiven philosophischen Kontroversen zu Foucaults kritischem Ansatz soll eine anthropologische Perspektive eingebracht werden. Der sehr breiten Rezeption von Foucault in der Sozial- und Kulturanthropologie hingegen soll eine Seite von Foucault präsentiert werden, die hier wenig Beachtung gefunden hat, nämlich sein Rekurs auf die Ethnologie. Allerdings steht die Auseinandersetzung mit philosophischen Texten angesichts der hier weit umfangreicheren Sekundärliteratur zu Foucaults Epistemologie im Vordergrund. Dass in meinem Zugang die Rolle der Ethnologie für Foucaults Ansatz den Kern der Fragestellung bildet und dies mit Bezug auf sozial- und kulturanthropologische Konzeptionen kultureller Vielfalt expliziert wird, führt zu Ergebnissen, die sich immer wieder signifikant von der philosophischen Literatur unterscheiden. Durch diesen Blickwechsel zwischen Anthropologie und Philosophie wird Foucaults wissenschaftlicher Diskurs als eine spezifische Epistemologie der Kultur- oder Sozialwissenschaften bestimmt, die philosophisch als Kritik der Moderne Gewicht bekommt.
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Das Forschungsanliegen teilt sich in zwei Aspekte, an denen auch der Aufbau des Buches orientiert ist. Es geht zum einen um den Gegenstand der Kritik, also die Frage, was und warum Foucault kritisiert. Zum anderen gilt es, die Perspektive dieser Kritik und somit die darin implizierten Alternativen herauszuarbeiten. Denn Foucault ist in seiner Kritik an der westlichen Moderne nicht nur der Geist, der stets verneint, sondern diese Verneinung beruht auf einer bestimmten Argumentationslogik, die selbst eine Positivität darstellt. Mit dem ersten Teil der Untersuchung ist zugleich jene epistemologische Distanzierung eingeführt, auf der Foucaults ethnologische Perspektive beruht. Die zweite Fragerichtung verfolgt zunächst die Definition des Objekts im Diskurs von Foucault. Dann rücken mit Blick auf die produktive Begrifflichkeit Reichweite und Gliederung des Diskurses in den Vordergrund. Dem folgt eine Analyse des strategischen Impetus von Foucaults ethnologischer Verortung insbesondere gegenüber zentralen Positionen in der philosophischen Debatte. Schließlich wird mit deutlicherem Konnex zur Sozial- und Kulturanthropologie die Instanz der Artikulation in Foucaults Diskurs ausgelotet. Der Forschungszugang hat die Aufgabe, angesichts der genannten Fragestellung eine spezifische Seite von Foucaults Arbeiten in ihrer Aktualität zu beleuchten. Dabei können auch Positionen erscheinen, die Foucault selbst nicht explizit formuliert hat. Dies bezieht sich natürlich insbesondere auf die Funktionalität und Produktivität der Ethnologie als Paradigma der Kritik. Unter diesen Vorzeichen ist das Interesse darauf gerichtet, Foucaults Ansatz in seinem epistemologischen Aufbau dergestalt zu umreißen, dass dessen Konzeption vor allem in Hinblick auf anthropologische Fragen nach dem Status von Diversität deutlich wird. Die Konzentration auf Funktion und Produktivität bedeutet zum einen, dass nicht Foucaults Selbstsicht einziger und oberster Maßstab ist. Zum anderen impliziert dies, dass im Unterschied zu einem Großteil der Sekundärliteratur der Blick auf Foucaults Diagnosen historischer Tatbestände hier nicht von der Problematik geleitet ist, ob sie der Vergangenheit gerecht werden. Demnach sind auch in der vorliegenden Arbeit diese referentiellen Ebenen keine wesentlichen Orientierungsfaktoren, an denen die Bewertung von Foucault festzumachen ist. Foucault in seiner aktuellen Relevanz ins Licht zu rücken, heißt des Weiteren, dass die Herangehensweise prinzipiell systematisch ausgerichtet ist. Auch die Einführung wichtiger theoretischer Bezugspunkte im wissenschaftlichen Kontext versteht sich eher als Exploration einer bestimmten Denklogik denn als Nachweis historisch-wirkungsgeschichtlicher Zusammenhänge.
E INFÜHRUNG | 9
Als theoretische Prämissen gelten dem Vorgehen strukturalistische und poststrukturalistische Prinzipien und es orientiert sich methodologisch an den Eckpunkten der Diskursanalyse von Foucault. Insofern ist es angezeigt, den Texten kein autoritatives Subjekt zugrunde zu legen, auf das die Bedeutung des Werks zu beziehen ist, und diese nicht an ihren ursprünglichen Sinn zu binden. Sondern Gegenstand der Untersuchung sollen die Grenzen der Erkenntnis in ihrer Produktivität sein. Demgemäß ergibt sich Foucaults ethnologische Position im Zuge der Analyse methodisch über die produktive Differenzierung. Dies betrifft sowohl konstitutive Abgrenzungen in Foucaults eigenem Denken als auch die seinem Projekt entsprechende Notwendigkeit, es in seiner Konsistenz gegenüber anderen – teleologischen – Projektionen zu sehen. In diesem Kontext wird Foucaults Konstruktivismus des Diskurses als soziale Aktivität kommunikativer Auseinandersetzung deutlich. Zugleich ist dadurch den ethnologischen Vorzeichen von Foucault insofern Rechnung getragen, als die ethnologische Umkehr mehr als nur oberflächlich verfremden kann, sofern die Trennung zwischen westlicher Moderne und anderen sozialen, symbolischen oder ökonomischen Strukturierungen nicht substantialisiert, nicht mit historischer Tiefe im Sinne der Subjektphilosophie verfestigt aufgefasst wird. Wenn aber nun die Ethnologie im epistemologisch-paradigmatischen Gefüge in den Vordergrund rückt, ist es Aufgabe der Analyse, die Transformation durch den Standpunkt von Foucaults Ethnologie im Diskurs der Philosophie mit der Methode ethnologischer Objektivierung zu betrachten und nicht den philosophischen Voraussetzungen zu folgen. Und weil die Bewegung nicht auf die Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner verschiedener philosophischer Perspektiven hin orientiert ist und diese auch nicht als Teile einer übergeordneten Gesamtsicht verstehen will, kann die Fragestellung Foucaults Projekt in der konturierenden Dispersion zeichnen, wie es seine grundlegende Dezentrierung westlicher Universalitätsansprüche verlangt. Im gewählten Forschungsprozess geht es also darum, nicht wie in der Moderne das Andere auszuschließen oder mit großzügigem Gestus zu versöhnen, sondern der Blick ist auf die Vielfalt und die damit verbundene Möglichkeit der Veränderung gerichtet. Da das Gewicht von Foucaults Argumentation in ihrem differentiellen Wert liegt und nur dies die Spezifität von Foucaults Epistemologie in ihrer Positivität zeigt, verzichtet auch die hier vorgenommene Untersuchung darauf, den Raum des Selben durch Zurückdrängung der Grenzen universell auszudehnen und Foucaults Blick als die einzig mögliche Wahrheit zu sehen. Eine vom Großteil philosophischer Sekundärliteratur sich abhebende Darstellung beruht auf dieser theoriegenerierten Methode. Folglich kann das Ziel nicht sein, Foucault besser zu verstehen als er sich selbst, und auch nicht, Foucault auf die eine und einzige Art richtig zu interpretieren. Vielmehr bildet die vorliegende Explikation eine spezifische Perspektive,
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die im wissenschaftlichen Diskurs gegenüber anderen abzuwägen ist. Das Ergebnis sollte aber auch als Versuch eines theoretisch-methodologischen Standpunktes gelesen werden, der unabhängig von der Frage, wieweit er Foucault gerecht wird, danach einzuschätzen wäre, ob er konsistent ist und welchen produktiven Stellenwert er hat. Das vorliegende Buch ist eine überarbeitete, teils gekürzte, teils etwas erweiterte und umstrukturierte Fassung meiner Dissertation im Fach Kultur- und Sozialanthropologie an der Universität Wien. Die Entstehung meiner Studie wurde wesentlich durch ein produktives Umfeld ermöglicht, wofür ich mich an dieser Stelle, ohne jede Zuweisung von Verantwortung für das nun präsentierte Ergebnis, ausdrücklich bedanken möchte. Mein erster und größter Dank gilt Fernand Kreff, der auch in der Wissenschaft mein wichtigster Partner ist. Seine Toleranz und Großzügigkeit, sein weiter Horizont und seine Hilfsbereitschaft bildeten eine zuverlässige Basis für meine Arbeit. Auch meinen Eltern möchte ich für ihr Verständnis und ihre geduldige Unterstützung danken. Ingvild Birkhan danke ich zudem für viele interessante philosophische Gespräche sowie ein engagiertes Lektorat unter Zeitdruck. Sehr anregend und hilfreich für meine interdisziplinäre Fragestellung waren in Wien und in Bamberg (Deutschland) institutionelle Bedingungen, wo es kaum Beschränkungen gab, den eigenen Interessen folgend Vorlesungen aber auch Seminare aus anderen Fachrichtungen etwa Soziologie oder Psychologie sowie natürlich vor allem Philosophie und Wissenschaftsforschung zu besuchen. Hier will ich vor allem all jenen danken, die in großteils unbezahlten Arbeitsstunden die Wissenschaft vorantreiben und das Interesse an der Sache nachhaltig vermitteln. Ebenso zu nennen sind Denkanstöße durch Symposien und Kongresse im universitären und außeruniversitären Wissenschaftsbereich. Ausgesprochen fruchtbar war, dass ich mehrmals an dem vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie in Wien unter der Leitung von Prof. Dr. Thomas Fillitz veranstalteten „Socrates-Erasmus Intensive Programme“ teilnehmen konnte. Die in diesem Rahmen geführten Diskussionen speziell mit Wissenschaftlern aus Frankreich haben in einigen zentralen Überlegungen meiner Forschung Niederschlag gefunden. Schließlich schulde ich meinem Dissertationsbetreuer Prof. Dr. Andre Gingrich Dank – insbesondere für den Hinweis auf die Kontroverse zum Perspektivismus und Relationismus, wodurch der anthropologische Blickwinkel meiner Arbeit mehr Profil bekam. Der Publikation sehr förderlich war auch die professionelle und entgegenkommende Betreuung der Drucklegung durch den Verlag.
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F OUCAULTS T EXTE
ALS
G EGENSTAND
DER
ANALYSE
Den Schwerpunkt der Exploration von Foucaults ethnologischem Blick bildet die Auseinandersetzung mit der Primärliteratur. Für die Arbeit an der gegenständlichen Thematik werde ich mich auf Foucaults epistemologische Schriften konzentrieren. Das heißt: Die Ordnung der Dinge und die Archäologie des Wissens stehen im Zentrum der Forschung. Auf diese beiden Bücher wird auch insofern näher eingegangen, als sie Haupttexte des ersten und zweiten Teils sind und ausführlicher dargestellt werden. Wichtig sind natürlich auch Die Ordnung des Diskurses sowie die Vielzahl der Artikel und Interviews, wo bestimmte Aspekte knapper auf den Punkt gebracht sind. Andere große Themen von Foucault – speziell seine Beschäftigung mit verschiedenen Machtformen – stehen nicht für sich genommen zur Diskussion, sondern es wird nur auf einzelne wichtige Fragen im Zusammenhang mit Foucaults ethnologischer Positionierung hingewiesen. Einsatzpunkt der Untersuchung ist jedoch eine kurze Darstellung von Wahnsinn und Gesellschaft. Damit wird einerseits bezweckt, nicht zur Gänze auf jenen überwiegenden Teil der Bücher von Foucault zu verzichten, in denen ein unmittelbares soziopolitisches Engagement zu sehen ist. Der ausschlaggebende Grund, auf diesen Text einzugehen, war aber, dass sich demgegenüber erst der von Foucault als Ethnologie bezeichnete Standort herausbildet. Erkenntnistheoretisch zeigen nämlich Foucaults Arbeiten meines Erachtens zumindest eine tief greifende Wende – und zwar nach Wahnsinn und Gesellschaft. Insofern sich meine Analyse solcherart auf einen großen Einschnitt stützt, thematisiert sie also die Strukturierung der Schriften von Foucault in ihrer ganzen Bandbreite und gründet den Zugang zur Primärliteratur nicht allein auf das Unterscheidungskriterium epistemologisches, theoretisch-methodologisches Experiment versus historiographische, materiale Monographien. Die für meine Fragestellung wesentliche Skansion bezieht sich auf einen bestimmten Aspekt von Foucaults Denken und steht daher nicht notwendigerweise in Widerspruch zu anderen Strukturierungen – und seien es auch die von Foucault selbst favorisierten. Insgesamt geht der Tenor in die Richtung, Foucault habe ein uneinheitliches, widersprüchliches Textkorpus hinterlassen und zwar insbesondere, „weil sich seine Theorien in kein System und in keine Kontinuität einfügen lassen“1. Mit Blick auf den philosophischen Hintergrund werden häufig drei oder vier Phasen unterschieden, wonach Foucault zunächst von der Phänomenologie und 1
Baberowski 2005: 192.
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besonders Heidegger sowie davor Binswanger her gedacht hätte (Psychologie und Geisteskrankheit, Wahnsinn und Gesellschaft), dann ab der Geburt der Klinik vom Strukturalismus und nach der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens vor allem von Nietzsche ausgegangen sei (Überwachen und Strafen, Sexualität und Wahrheit 1. Der Wille zum Wissen), gefolgt von einer in dieser Hinsicht schwer zuordbaren Phase am Ende seines Lebens (Sexualität und Wahrheit 2. Der Gebrauch der Lüste und Sexualität und Wahrheit 3. Die Sorge um sich). Es kann aber auch die Analyse allein der Wissensebene in der Ordnung der Dinge sowie ihre theoretische Konzeption in der Archäologie des Wissens abgehoben werden von der stärkeren Integration aller kultureller Ebenen in den anderen Arbeiten und ähnlich kann die Thematisierung des Wissens dem Fokus auf die Macht gegenübergestellt werden. Damit verknüpft ist die Unterscheidung von archäologischer Methode (Die Geburt der Klinik, Die Ordnung der Dinge, Die Archäologie des Wissens) und genealogischer Methode (Überwachen und Strafen, Der Wille zum Wissen) und Texten, welche die Methoden undifferenzierter oder in Kombination verwenden. Zur Trias ergänzt wird dies durch Ethik und Problematisierung in den beiden anderen Bänden von Sexualität und Wahrheit. Sehr häufig gilt der Wechsel von der Repressions- zur Produktionsperspektive in der Machtanalyse im Willen zum Wissen als zentraler Wendepunkt. Ferner wird die Dekonstruktion des Subjekts kontrastiert mit dessen Wiederaufleben in den letzten zwei Büchern. Es finden sich in der Sekundärliteratur also durchaus verschiedene Möglichkeiten, Foucaults Arbeiten aufzuschlüsseln.2 Hierbei lässt sich die Betonung von grundsätzlichen Brüchen und Revisionen sowie abruptem Themenwechsel von Lesarten trennen, die größere Kontinuität sehen. In der Zeit um und nach Foucaults Tod scheint eher erstere Auffassung gängig gewesen zu sein. Und in Bezug darauf hält Bührmann fest, dass oft mit Hinweis auf die Existenz von drei Werkphasen lobend vermerkt wird, wie Foucault sich nach dem Scheitern der jeweils vorhergehenden umorientierte, um deren Probleme zu lösen.3 Gegenwärtig dürfte diese Einschätzung etwas in den Hintergrund rücken.4 2 3 4
Für einen Überblick zur Rezeption von Foucault in der Philosophie vgl. z.B. Schneider (2008). Vgl. Bührmann 2001: 127f. Dies entspricht auch dem Ergebnis von Bührmann (2001: 127f.). Krasmann und Volkmer (2007: 9) sehen als Ursache dafür auch die veränderte Lage der Primärliteratur – also die Edition der kleinen Schriften und der Vorlesungen von Foucault am Collège de France. In dieselbe Richtung gehen (gemäß Preview-Text) offenbar die Einschätzungen in dem Studienhandbuch zu Foucault von Raffnsøe; GudmandHøyer; Thaning (2011).
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Gutting allerdings argumentierte bereits 1985, dass bei Foucault nicht eine Phase die andere ablöst. In Hinblick auf die theoretisch-methodische Seite sagt er: „Through all these developments, however, Foucault remains faithful to the fundamental goal of the archaeological method as it first appears in FD [Wahnsinn und Gesellschaft]: to analyze structures lying beneath those elucidated by standard techniques in the history of thought.“5
Flynn ist ebenfalls einer jener, die eine axiale Lesart der verschiedenen Ansätze in Foucaults Arbeiten vertreten. Dabei teilt er die Methodologie in Archäologie, Genealogie und Problematisierung;6 aber: „In no way is it a matter of one method supplanting or even superseding the other as some authors have claimed.“7 Desgleichen hält es Davidson für eine Fehleinschätzung, dass Foucault die Archäologie – und zwar aufgrund intrinsischer Fehlkonstruktionen – aufgegeben habe.8 In Hinblick auf thematische Fragen wiederum bemerkt zum Beispiel Hooke, dass Foucault im Vorwort zur Ordnung der Dinge Thesen und Begriffe wie etwa jenen der Norm einführt, welche die späteren Untersuchungen zu Power/Knowledge vorwegnehmen.9 Dies stützt Guttings Befund, wonach schon am Anfang mit Wahnsinn und Gesellschaft viele Elemente der Power/Knowledge-Thematik vorhanden sind. Denn obwohl deren direkte Fokussierung Foucault über seine früheren Bücher hinausführe, „in many ways it remains an explicit development of what is implicit in the books from FD [Wahnsinn und Gesellschaft] through AK [Archäologie des Wissens]“10. Gutting liest zudem sehr klar einen Faktor heraus, der die spätere Machtanalyse als konsequente Fortsetzung der Kritik an der Subjektphilosophie ausweist: „This approach [die Mikrophysik der Macht] does for nondiscursive practices what archaeology did for discursive practices: It eliminates the role of a central, controlling ‚subject‘.“11 Obwohl Bevir eine Ablöse zwischen Archäologie und Genealogie annimmt, unterstreicht er ebenfalls, dass die „two concepts played similar roles in relation to the subject and so remain critically similar in a way 5 6 7
Gutting 1999: 109. Vgl. Flynn 2005: XIII. Flynn (2005: 114) und im Anschluss daran vgl. McCall (2007: 193). Siehe auch Detel (2003: 188). 8 Vgl. Davidson 2003: 192. 9 Vgl. Hooke 1987: 48. 10 Gutting 1999: 260, vgl. 110. 11 Gutting 1999: 271.
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Dreyfus and Rabinow do not really allow for“12. Auch Streit sieht zwischen der Archäologie des Wissens und Überwachen und Strafen keinen großen Bruch, und mit Kritik an der von Dreyfus und Rabinow nahe gelegten Abfolge distinkter Phasen meint er: „Die Trennung von ‚Archäologie‘ und ‚Genealogie‘ entlang der Achsen von Wissen und Praktiken verkürzt Foucaults Denken unzulässig [...].“13 Ähnlich erkennt Diaz-Bone bei Foucault eine größere Kontinuität sowohl was die Diskursdynamik betrifft als auch die Analyse institutioneller Praktiken.14 Unsystematischen Brüchen widerspricht auch die Kombinatorik, bei der Überwachen und Strafen als Analyse gilt, wie Macht den Körper von außen formiert, Der Wille zum Wissen als Analyse, wie dies durch innere Kontrolle geschieht.15 Gemäß Lemke wäre dann auch Foucaults Beschäftigung mit der Subjektivierung nicht als Ende, sondern als Erweiterung der Machtanalytik zu sehen.16 Ebenso kommt Harrer zu dem Schluss, dass zwischen Foucaults früherer Phase der Untersuchung normalisierender Macht und seinen späten Arbeiten zur ‚Ästhetik der Existenz‘ und ‚Ethik des Selbst‘ eher eine Kontinuität denn ein Bruch besteht.17 Und wie Noiriel betont, hat auch Deleuze Foucaults Projekt immer als eine Einheit betrachtet.18 Veyne schreibt sogar, dass sich „die Lehre Foucaults [...] durch ihre spezifische Kohärenz auszeichnet“19. All dies steht in gewissem Kontrast etwa zu Honneths Urteil. Denn dieser zählt Foucault nicht zu den „transparenten, zielbewußten Autoren“, sondern zu jenen „anderen, dunkleren Autoren“, deren Wirkungsgeschichte nicht nur kleinere Erschütterungen, sondern Entgegensetzungen kennt.20 Honneth hebt hervor, „was von den Interpreten stets als die radikale Diskontinuität der Schriften von
12 Bevir 1999: 81. 13 Streit 1995: 370. Allerdings schreibt Streit (1995: 375) dem Willen zum Wissen eine exzeptionelle Stellung zu; danach wäre Foucault wieder zu seinem früheren Ansatz zurückgekehrt. 14 Vgl. Diaz-Bone 2007: Abs. 51. 15 Vgl. Bevir 1999: 66. 16 Vgl. Lemke (1997: 29) und (2007: 69). Demgegenüber sprechen Krasmann und Volkmer (2007: 8) dem Wechsel zwischen Foucaults Machtanalysen und seinen Forschungen zur Ethik der Selbstverhältnisse die Bedeutung der „wohl markantesten werkgeschichtlichen Zäsur“ zu, wobei nun aber eine Einbeziehung der Vorlesungen zur Gouvernementalität (in Geschichte der Gouvernementalität 1-2 [2004]) doch „ein deutlicheres Verständnis für die feineren Übergänge“ erlauben sollte. 17 Vgl. Harrer 2005. 18 Vgl. Noiriel 1994: 550. 19 Veyne 2010: 8. 20 Honneth 2003: 15.
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Foucault beschrieben worden ist“21 – wobei er besonders akzentuiert, dass sich Foucault selbst kaum auf frühere Werke zurückbezogen hätte. Allerdings hat Foucault keineswegs nur die diskontinuierliche und bezugslose Streuung seiner Texte betont. Viele Male hat er im Gegenteil seine Themen nach verschiedenen Kriterien gebündelt; hat sie unter einen gemeinsamen Begriff – etwa den der Problematisierung – gestellt; hat eine durchgehende Thematik wie die Wahrheitsfrage oder eine Geschichte der Wahrheit identifiziert.22 Die Archäologie des Wissens hätte er geschrieben, sagt Foucault zum Beispiel, um den Zusammenhang zwischen Wahnsinn und Gesellschaft, der Geburt der Klinik und der Ordnung der Dinge aufzuzeigen.23 Oder er stellt fest, dass seine Frage immer ‚Macht und Wissen‘ gewesen sei.24 Eine dieser Gruppierungen wäre die in der Philosophie prominent gewordene Trias25 Archäologie, Genealogie und Ethik, wobei Foucault aber zumindest Archäologie und Genealogie durchaus als sich ergänzende Dimensionen seiner Forschung beschreibt, die er auch bis zum Schluss beibehält.26 Davidson ist also ohne weiteres zu folgen, wenn er über Foucaults Prozedere sagt: „In jeder Phase seiner wissenschaftlichen Laufbahn nahm er rückblickend Neuinterpretationen seines gesamten bisherigen Oeuvres vor, indem er die Projekte der Vergangenheit im Licht seiner gegenwärtigen Interessen neu beschrieb und damit seinen Blick auf sie veränderte [...].“27
In der vorliegenden Studie soll aus methodischen Gründen – und auch der Leseerfahrung entsprechend – vom konsistenten Zusammenhang der Texte ausgegangen werden und die epistemologischen Verschiebungen in Hinblick auf die Fragestellung der Untersuchung erst konkret erarbeitet werden. Zunächst ist nämlich festzustellen, dass von einem distanzierteren Fluchtpunkt aus Foucaults Arbeiten durchaus beachtliche Kohärenz und Beharrlichkeit vermitteln können. Das zeigt sich jedenfalls hinsichtlich der thematischen Interes21 Honneth 2003: 16. Bührmann (2001: 127f.) nennt in diesem Sinne neben Honneth auch Fink-Eitel oder Visker. Deutliche Brüche erkennen z.B. auch Keller (2007) oder Faubion (2008). 22 Vgl. Der Gebrauch der Lüste [1984]: 13. 23 Vgl. Die Geburt einer Welt [1969]: 999. 24 Vgl. Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 187. 25 Vgl. z.B. Kögler 1994. 26 Vgl. Die Ordnung des Diskurses ([1971]: 41f.) und Der Gebrauch der Lüste ([1984: 19]). 27 Davidson 2003: 192.
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sen. Schon in Psychologie und Geisteskrankheit sind Kernprobleme in Bezug auf den sozialen Stellenwert des Anderen angesprochen, denen sich dann Wahnsinn und Gesellschaft in großer Breite widmet. Des Weiteren gilt zu bedenken, dass die Beschreibung der Klassik in Wahnsinn und Gesellschaft ja großteils um das Verhältnis von Vernunft und Unvernunft kreist und somit Aspekte berührt, die in der Ordnung der Dinge Gegenstand der ausführlichen Analyse der klassischen Episteme sind. In Wahnsinn und Gesellschaft kündigt Foucault zudem eine Untersuchung ärztlicher Theorien an,28 die dann in der Geburt der Klinik ausgeführt wird. Die Geburt der Klinik scheint in mancher Hinsicht wie ein Nachsatz zu Wahnsinn und Gesellschaft, denn sie bestimmt den Umbruch zum neunzehnten Jahrhundert mit einer Neuorganisation der Medizin, die nun den Wahnsinn ganz zu ihrem Gegenstand hat. Andererseits kristallisieren sich hier sowohl für Foucaults eigene Epistemologie als auch für die diskursive Struktur der Moderne zentrale Figuren der Ordnung der Dinge heraus.29 Foucault setzt in der Geburt der Klinik also nicht nur die schon mit den ersten beiden Büchern zur Konzeption von Wahnsinn und Geisteskrankheit begonnene Kritik an den Wissenschaften vom Menschen fort, sondern er deutet auch an, dass eine Studie als Weiterführung der Recherchen zum Positivismus und der davon überdeckten, aber vorhandenen Endlichkeit des Menschen notwendig wäre30 – Die Ordnung der Dinge. Überwachen und Strafen schließt mit dem Gefängnis im Fokus direkt an die von Wahnsinn und Gesellschaft herausgestellte Relevanz der Internierung und das Auftauchen der produktiv-disziplinierenden Rolle des Staates. Viele Aspekte der in Überwachen und Strafen elaborierten Systematik der Macht sind wichtige Elemente jener Differenzierungen, welche Foucault für den Wahnsinn schon festhielt. Auch der in Überwachen und Strafen weit ausgeführte Gedanke, dass das Gefängnis Delinquenz hervorbringt, findet sich in Wahnsinn und Gesellschaft.31 Und ganz allgemein lassen sich angesichts der Nähe, in die Wahnsinn und Verbrechen häufig gerückt wurden, durchgehend wichtige Bezüge zwischen den beiden Büchern sehen. Zugleich knüpft die Rolle des (kontrollierenden, objektivierenden) Blicks in Überwachen und Strafen aber direkt an die in der Geburt der Klinik zentrale Frage nach dem ‚Sehen‘ im Positivismus respektive Empirismus der Moderne, also nach der Formierung des ärztlichen Blicks.
28 Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 49 Fußnote 80. 29 Vgl. z.B. Die Geburt der Klinik [1963]: 22, 38 zur Klassik und 105ff., 131ff. zur Moderne. 30 Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 210. 31 Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 364, 366.
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Man kann folglich den Eindruck gewinnen, dass Foucault ein bestimmtes Materialkorpus immer wieder von unterschiedlichen Schwerpunkten her aufrollt. Und dabei ist die Kritik der Humanwissenschaften ein gemeinsamer Nenner. Die Dekonstruktion der Humanwissenschaften in der Ordnung der Dinge, welcher häufig eine zu isolierte Auffassung der Episteme zum Vorwurf gemacht wird, wäre daher mit den Ergebnissen der anderen Bücher kombiniert als Teil eines alle kulturellen Ebenen umfassenden Bildes zu betrachten. Die kritisch-reflexive Funktion der Humanwissenschaften (so der Phänomenologie) gegenüber dem Positivismus erweist sich in der Geburt der Klinik einer „in die Tiefe gehenden Untersuchung“, als „im System seiner Bedingungen schon vorhanden“.32 Zwar noch nicht in Machtbegriffen, aber sonst sehr ähnlich den späteren Texten, findet sich hier Foucaults Konzeption von Macht, wo der Widerstand Teil des Systems ist. Zudem kündigt Foucault in der Archäologie des Wissens an, nachdem bereits Gegenstände (Wahnsinn und Gesellschaft), Äußerungsformen (Geburt der Klinik) und Begriffe (Ordnung der Dinge) zum Zentrum seiner Analyse diskursiver Formationen geworden seien, in Zukunft die theoretische Wahl und damit die Funktion des Diskurses im Feld nichtdiskursiver Praktiken in den Vordergrund zu rücken33 – eine Vorgabe auch für das Konzept des Dispositivs, das dann Der Wille zum Wissen explizit formuliert. Mit der Sexualität wird ein Thema aufgegriffen, von dem es in Wahnsinn und Gesellschaft heißt, es wäre eine Geschichte der sexuellen Verbote wie auch des Traums zu schreiben – letzteres eine Materie, die in Sexualität und Wahrheit 3 breiteren Raum bekommt. Die Sexualität als Gegenstand archäologischer Untersuchung ist in der Archäologie des Wissens konkret skizziert, und es wird auch schon die Ethik als eine mögliche Dimension dieser Analyse benannt.34 In der Ordnung des Diskurses projektiert Foucault nicht nur eine Arbeit zum Sprechverbot im Diskurs über die Sexualität, sondern auch eine Arbeit zur Strafjustiz, die sich mit der Rolle medizinischer, psychiatrischer und soziologischer Diskurse befasst.35 Die soziale Problematisierung der Sexualität wiederum knüpft dann an Verschiebungen, die Überwachen und Strafen bereits bearbeitet hat, und führt die Analyse der Macht weiter, nimmt aber auch ganz deutlich Gedanken aus der Geburt der Klinik auf, wo Verhältnisse dargestellt sind, die später unter den Begriffen Biopolitik und Biomacht gefasst werden.36
32 33 34 35 36
Die Geburt der Klinik [1963]: 209. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 95ff. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 275f. Vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971: 42f. Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: bes. Kapitel III und V.
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Eine direkte Fortführung des Willens zum Wissen sind die Überlegungen zu Gouvernementalität, verstanden als Form der Macht des Staats, die weniger territorial als auf eine Bevölkerungsmasse als Zielscheibe ausgerichtet ist; eine Macht, die als Hauptwissensform die politische Ökonomie und als wesentliches technisches Instrument die Sicherheitsdispositive hat.37 Dies lässt sich aber auch als Bündelung und Rekonzeptualisierung diesbezüglicher Diagnosen vor allem in Überwachen und Strafen lesen.38 Und auch die Arbeit an den Transformationen im medizinischen Bereich hat Perspektiven vorweggenommen, die Foucault dann in seinen Analysen zur Entstehung des modernen Staates unter dem Oberbegriff der Gouvernementalität ausarbeitet. Spezifisch für den modernen Staat ist, so Foucault, dass sich Techniken der Individualisierung mit Verfahren der Totalisierung überkreuzen, und zwar unter Rekurs auf die alte Machttechnik der Pastoralmacht.39 Letzteres sollte wiederum wichtiges Thema eines nicht veröffentlichten Teils der Untersuchungen von Sexualität und Wahrheit sein. Die Bände 2 und 3 von Sexualität und Wahrheit, also Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich, verfolgen weiter die Relevanz des für den Körper produktiven, sozial bestimmten Selbstverhältnisses. Allerdings hat sich Foucault hier einem zeitlich viel weiter zurückgreifenden, für ihn neuen Material zugewandt. Und die Bücher erscheinen nicht wie der Wille zum Wissen unmittelbar kritisch, sondern zeigen, eher auf Alternativen konzentriert, andere soziale Subjektivierungsformen des Individuums als jene Konzeption zu unterdrückender wilder Kräfte und immer weiter aufzuhebender Selbstbegrenzungen, die in der Moderne das Subjekt verlangten. Wichtig ist nun die Praxis der Freiheit – und auch dies nicht zum ersten Mal. Denn wie am Ende von Wahnsinn und Gesellschaft nochmals deutlich wird, war die Frage nach der Freiheit und deren Differenzierung ein tragendes Moment der Beschäftigung mit dem Wahnsinn. Jetzt stehen jedoch explizit Technologien des Selbst im sozialen Rahmen zur Diskussion. Zugleich behält Foucault aber sehr wohl Mechanismen der Kontrolle als Überwachung und Disziplin seiner selbst sowie der Biopolitik im Auge.40
37 Vgl. Die ‚Gouvernementalität‘ ([1978]: 820f. und 815), dass die Gouvernementalität sich durch die Biomacht, v.a. die Bevölkerungspolitik, entfalten konnte. 38 Vgl. Die Geburt der Biopolitik ([1979]: 1026), wo Foucault im Zusammenhang mit der Gouvernementalität darüber spricht, dass der Liberalismus (der Chicago-School) die Logik des Marktes auf Bereiche ausdehnen will, die „nicht in erster Linie ökonomisch sind, wie die Familie und die Geburtenrate, die Kriminalität und die Strafrechtspolitik“. 39 Subjekt und Macht ([1982]: 277); dabei geht es heute oft um Compliance, also v.a. auch darum, wie angepasstes Verhalten zum Eigeninteresse wird. 40 Vgl. Die Sorge um sich [1984]: u.a. 88.
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Eine Möglichkeit, Foucaults Texte unter einer Grundfrage zu versammeln, wäre, dass es stets um das vielfältige Verhältnis von Individuum und Gesellschaft geht, also darum, wie verschiedene Gesellschaften unterschiedliche Individualitäten festlegen, welche sozialen Bereiche hierfür wichtig sind und insbesondere, welche Positivität den jeweiligen sozialen Individuen dabei auch erkenntnistheoretisch zukommt. Daher hat sich Foucault intensiv an Positionen der Subjektphilosophie und ihrem Anderen abgearbeitet. Dies lässt sich auch mit einer der vielen Personae, die Foucault angenommen hat, in Einklang bringen: „Vielmehr habe ich mich um eine Geschichte der verschiedenen Formen der Subjektivierung des Menschen in unserer Kultur bemüht. Und zu diesem Zweck habe ich Objektivierungsformen untersucht, die den Menschen zum Subjekt machen.“41
Eine in Foucaults Arbeit tatsächlich ungebrochene Kontinuität genießt die mit diesem Forschungsinteresse verknüpfte Problematisierung der Historizität. Dieser rote Faden ist auch für die gegenständliche Fragestellung ein zentraler Anhaltspunkt. Und hier zeigt sich besonders deutlich, wie unmittelbar sich theoretisch-methodologische Überlegungen und historiographische Monographien ergänzen. Unzweideutig lehnt Foucault schon in Wahnsinn und Gesellschaft und ebenfalls in Psychologie und Geisteskrankheit den Gedanken an eine notwendige Linearität ab.42 Daher rekonstruiert er in Wahnsinn und Gesellschaft nicht eine ‚sinnvolle‘ Chronologie der Entdeckungen oder eine klassische Ideengeschichte, sondern – mit Rückbezug auf Psychologie und Geisteskrankheit – eine präsentische Geschichte dessen, „was das Erscheinen einer Psychologie überhaupt ermöglicht hat“43. Und er spricht in diesem Zusammenhang bereits von einem „konkreten Apriori“44. Auch in der Geburt der Klinik ist Gegenstand der Analyse dieses konkrete oder „historische Apriori“ – so formuliert es Foucault hier, wie dann in der Archäologie des Wissens.45 Die Beschäftigung mit der Geschichte und deren Dekonstruktion – Anliegen, denen die Ordnung der Dinge und die Archäologie des Wissens gewidmet sind – hat also einen tragenden Grund schon in Wahnsinn und Gesellschaft, wenn Foucault schreibt:
41 42 43 44
Subjekt und Macht [1982]: 269. Vgl. z.B. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 104, 115, 129. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 550. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 126, 386 und 549. Waldenfels (1987: 517) betont, dass die Idee eines konkreten Apriori sich in der Phänomenologie findet. 45 Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 13, 205.
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„Die Notwendigkeit des Wahnsinns [Herv. i.O.] während der ganzen Geschichte des Abendlandes ist mit jener entscheidenden Geste verbunden, die vom Lärm des Hintergrundes und seiner Monotonie eine bedeutungsvolle Sprache abhebt, die sich in der Zeit übermittelt und vollendet. Man kann es kurz fassen und sagen, daß er an die Möglichkeit der Geschichte [Herv. i.O.] gebunden ist.“46
Foucault distanziert damit kritisch jeden Glauben an eine Entwicklungslogik und analysiert darüber hinaus den funktionalen Stellenwert dieser Strukturierung der Gesellschaft. In der Geburt der Klinik wendet er sich mehrfach gegen historische Konzeptionen der Veränderung als Fortschritt oder auch nur als Reaktion auf die vorgängige Situation.47 Foucault versteht die Geburt der Klinik bereits als einen „Versuch, in dem so verworrenen, so wenig und so schlecht strukturierten Bereich der Ideengeschichte zu einer Methode zu gelangen“48. Damit ist die Aufgabe der Archäologie des Wissens benannt. Innerhalb dieser unumstößlichen Positionsbestimmung von Foucault kommt es nach Wahnsinn und Gesellschaft zur stärkeren Ausarbeitung methodisch-theoretischer Perspektiven auf die Geschichtlichkeit. Im Zuge dessen hebt Foucault seinen Zugang in der Geburt der Klinik von der Ideengeschichte49 ab und betont im Gegenzug die definitorische Wirksamkeit des Kontextes (ausgehend von fundamentalen Dispositionen des Wissens und strukturellen Notwendigkeiten, die auch sozioökonomische Bedingungen umfassen) und konstatiert Prinzipien der Transformation, das Wiederauftauchen früherer Thematiken (etwa Ähnlichkeiten mit der Renaissance in neuem Gewand) oder Umkehrungen, was bis zur Ablehnung vorhandener technologischer Mittel führen konnte.50 All das sind historische Figuren, die nicht nur für die so genannte ‚strukturalistische Phase‘ bis zur Ordnung des Diskurses, sondern auch danach gelten. Besonders ganz zuletzt, in den Bänden 2 und 3 von Sexualität und Wahrheit, widersetzt sich Foucault nochmals eindeutig dem Blickwinkel des Fortschritts und spricht sich ein weiteres Mal gegen jegliche evolutionäre Auffassung aus: Man solle keinesfalls in der Logik von Vorstufen denkend Früheres angesichts späterer Problematisierungen als darauf hinlaufend deuten, in Früheres also nachträglich Späteres projizieren.51
46 47 48 49 50 51
Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 12. Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 84. Die Geburt der Klinik [1963]: 206. Vgl. z.B. Die Geburt der Klinik [1963]: 15. Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 84, 151, 185, 208, 180. Vgl. Der Gebrauch der Lüste ([1984]: 191, 212 und etwa 230) sowie z.B. Die Sorge um sich ([1984]: 56).
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Bei allen Umorientierungen, die in Foucaults Texten je nach Fragestellung natürlich sehr wohl zu finden wären, bleibt der Bruch mit historischen Identitäten doch durchgängig das Auge des Sturms. Damit verknüpft sich das Ziel, bei welcher Thematik auch immer, Diversität aufzuweisen – und Veränderung denkbar zu machen. Aber auch einem im engeren Sinne auf die Epistemologie des Diskurses und die dabei zum Tragen kommende Logik der produktiven Grenze konzentrierten Blick, wie er für die hier vorgenommene Fragestellung im Vordergrund steht, erscheinen die theoretischen Arbeiten durchaus nicht isoliert. Dass die Repressionsperspektive zu Gunsten der Produktivität von Macht aufgegeben wird, vollzieht sich nicht erst im Willen zum Wissen, sondern wird hier nur machtanalytisch elaboriert. Die Produktivität der Grenze lokalisiert Foucault in der Ordnung der Dinge historisch als fundamentale Gegenbewegung zur Moderne und sie ist dann der Angelpunkt, um den sich in der Archäologie des Wissens alles dreht – auch wenn hier nur ansatzweise mit machttheoretischem Vokabular gearbeitet wird. In offensichtlich deutlicher Engführung mit dem Willen zum Wissen ist die Konzeption diskursiver Tatsachen dann bereits in der Ordnung des Diskurses formuliert. Dies lässt sich auch mit Foucaults eigenen Worten vereinbaren, wie ein Gespräch von 1977 zeigt. Foucault sagt: „Die Machtbeziehungen sind vor allem produktiv.“ Darauf bemerkt der Gesprächspartner: „Das ist gegenüber ihren früheren Büchern eine neue Idee.“ Foucault antwortet: „Wenn ich die entsprechende Pose annehmen und mich in eine ein wenig fiktive Kohärenz einhüllen wollte, würde ich sagen, dass das stets mein Problem gewesen ist [...].“52 Die Archäologie des Wissens ist als theoretisch-methodischer Ansatz formuliert, den Beispiele aus Foucaults früheren und zukünftigen Forschungsvorhaben illustrieren. Sie hält sich (mit gewissen Gewichtsverschiebungen) eng an die in der Ordnung der Dinge erarbeiteten Vorgaben. Bereits in der Geburt der Klinik wird der Diskurs zentraler Gegenstand, und Foucault nennt seine Arbeit Diskursanalyse.53 Der Begriff ‚diskursiv‘ findet sich jedoch schon in Wahnsinn und Gesellschaft. Auch bezeichnet Foucault seine Forschung hier als „Archäologie des Denkens“54. Umgekehrt ist schwer zu sagen, inwiefern der erst später wichtige Begriff der Problematisierung einen wirklich neuen Gegenstandsbereich meinen soll. Foucault selbst spricht am Ende seines Lebens davon, dass der Grundbegriff, der allen Untersuchungen als gemeinsame Form diente, die Prob52 Die letzten drei Zitate sind aus Nein zum König Sex [1977]: 346. 53 Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 15. 54 Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 250 und vgl. 187.
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lematisierung sei.55 Und wenn die Problematisierung – wiewohl an jenes Verhalten gewendet, das von den Menschen auch thematisiert wird56 – eine Ebene meint, die sich von den Vorstellungen und den Verhaltensweisen der Menschen abhebt,57 dann lässt sich dies tatsächlich direkt mit der Verortung des Wissens in der Archäologie verknüpfen. Die archäologische Methode schließt aber auch ein Thema nicht aus, das als „Geschichte der Rationalität, wie sie in den Institutionen und im Verhalten der Menschen am Werk ist“58, einen Forschungsgegenstand der so genannten ‚genealogischen Phase‘ bildet. Liest man Foucaults Bücher sequentiell, so wird unmittelbar nachvollziehbar, dass Foucault behauptet, er schreibe seine Bücher in Reihen, wo sich ein Buch der offenen Probleme der vorherigen annimmt und dann seinerseits wieder neue Fragen eröffnet. Damit ist aber nicht gesagt, dass deren Ergebnisse und Ansätze jedes Mal über Bord geworfen würden. Denn Foucault greift nicht nur thematisch-inhaltlich, sondern auch epistemologisch durchaus deutlich auf frühere Überlegungen zurück. Die soeben grob skizzierten Schriften von Foucault stehen daher eher unter den Vorzeichen von Kontinuitäten mit Verschiebungen der Perspektive und Wiederaufnahme von fallen gelassenen Fäden. Und in dieser Weise werden die Texte zur Darstellung von Foucaults ethnologischem Blick prinzipiell auch gehandhabt, solange die Analyse nichts Gegenteiliges ergibt.59 Dass der hier gewählte Zugang im Unterschied zu einem Gutteil der Sekundärliteratur die Arbeiten von Foucault nicht in strikt getrennte Phasen geteilt auffasst und auch nicht Foucaults subjektiven Festlegungen und ihren Umkehrungen unbedingt der Vorrang gegeben wird, erlaubt die Wahl eines Blickwinkels, der Foucaults Forschungen vom Feld des Strukturalismus und insbesondere dessen ethnologischer Verankerung ausgehend betrachtet. Zwar ist Foucaults Absage aus dem Vorwort zur deutschen Ausgabe der Ordnung der Dinge zu hören:
55 56 57 58 59
Vgl. Die Sorge um die Wahrheit [1984]: 825. Vgl. Der Gebrauch der Lüste [1984]: 183, 195f., 198. Vgl. Der Gebrauch der Lüste [1984]: 18f. Foucault untersucht die Staatsräson [1979]: 1002. Die in eckiger Klammer nach Foucaults Texten angegebenen Ersterscheinungsjahre sollen dabei der zeitlichen Lokalisierung von Foucaults Aussagen dienen. Auch in der Literaturliste sind seine Arbeiten dementsprechend angeordnet – und nicht gemäß dem Jahr der verwendeten (meist deutschsprachigen) Ausgabe, auf die sich die Seitenangaben beziehen.
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„Dieser letzte Punkt ist eine Bitte an den deutschsprachigen Leser. In Frankreich beharren gewisse halbgewitzte ‚Kommentatoren‘ darauf, mich als einen ‚Strukturalisten‘ zu etikettieren. Ich habe es nicht in ihre winzigen Köpfe kriegen können, dass ich keine der Methoden, Begriffe oder Schlüsselwörter benutzt habe, die die strukturale Analyse charakterisieren. Ich wäre dankbar, wenn eine ernstere Öffentlichkeit mich von einer [solchen] Verbindung freimachen würde [...].“60
Andererseits gilt es, Foucaults ständige Warnung vor einer auf oberflächlichen Differenzen beruhenden Selbstdefinition in wissenschaftlichen Auseinandersetzungen zu bedenken. Und auch der an Foucaults Distanzierung anschließende Passus sollte miteinbezogen werden: „Es stünde mir – von allen – am schlechtesten an, zu behaupten, daß mein Diskurs von Bedingungen und Regeln frei sei, auf die ich wenig achte und die andere heute gelieferte Arbeiten bestimmen. Aber es wäre zu leicht, die Mühe der Analyse solcher Arbeit zu vermeiden, indem man ihr ein zugegeben eindrucksvoll klingendes, aber ungenaues Etikett verpaßt.“61
Das Etikett ist ungenau, weil es ein weites Spektrum umfasst. Im Rückblick lässt sich vielleicht eher sagen, dass Foucault das Feld des Strukturalismus mitbestimmt und differenziert hat, als diese Familienzugehörigkeit seiner Arbeiten ganz zu kappen. Und es kann wichtig sein, für eine konsistente Betrachtung besonders unter sozial- und kulturanthropologischen Gesichtspunkten die einzelnen Aspekte von Foucaults Ansatz mit Bezug auf den Strukturalismus von LéviStrauss einzuschätzen. Dennoch ist nicht zu übersehen, dass sich Foucault zweifellos in bestimmten Punkten von Lévi-Strauss abhebt.62 Zugleich hat sich aber auch Foucault selbst nicht durchgängig vom Strukturalismus distanziert. Welches Gewicht er strukturalistischen Perspektiven noch lange nach dem hier zitierten Vorbehalt gegeben hat, wird im Laufe der Arbeit ersichtlich. Obwohl Foucault durchaus oft über epistemologische Figurationen spricht, die man strukturalistisch nennen kann, geht es ihm offenbar darum, jede Substantialisierung hintanzuhalten. Insofern ist zu verstehen, wenn er wiederholt sagt, „dass niemand sich mit wem auch immer darüber verständigen kann, was der Struktu-
60 Die Ordnung der Dinge [1966]: 15. 61 Die Ordnung der Dinge [1966]: 16. 62 Dies betrifft insbesondere den Bezug auf die Physis. Im Gegensatz zu Lévi-Strauss und gewissen Spielarten des Strukturalismus thematisiert Foucault nicht universelle kognitive Operationen. Daher sagt z.B. Hobart (1984: 5): „Rather he is closer to British empiricism in being concerned with how styles of thinking were disseminated in practice in the West. No claim to universality appears.“
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ralismus ist“63.Foucaults Weigerung, sich festlegen zu lassen, wird jedoch gegenwärtig häufig zum Anlass genommen, Strukturalismus und Poststrukturalismus in der Diskussion vollkommen auszublenden. Dadurch können basale Zusammenhänge in Foucaults Begriffswelt aus dem Blick geraten, wobei meines Erachtens ein Gutteil der Brisanz seiner Operationen verloren geht. Andererseits ist natürlich sofort anzumerken, dass der Strukturalismus nicht nur von Anfang an für Foucaults Einordnung herangezogen wurde, sondern auch weiterhin in der Sekundärliteratur eine Rolle spielt.64 Die vorliegende Untersuchung will nun aber weniger Foucaults Arbeiten vereinheitlichend definitiv zuordnen, sondern sie will analysieren, wie sich die Epistemologie von Foucaults ‚Ethnologie der eigenen Kultur‘ mit bestimmten Positionen, die den Strukturalismus und Poststrukturalismus kennzeichnen, denken oder weiterdenken lässt. Dass eine Fragestellung in diese Richtung heute nicht mehr so selbstverständlich ist, wie man auf den ersten Blick meinen könnte, wäre beispielsweise dem Foucault Handbuch zu entnehmen. Hier sind weder Bezügen zu Lévi-Strauss noch zu Saussure eigene Kapitel gewidmet und diese spielen auch in den Rubriken zu „Referenzautoren“ oder „Überschneidungen und Differenzen“ kaum eine Rolle.65 Immerhin gibt es ein Kapitel, das den Strukturalismus als zeitgenössischen Bezugspunkt für Foucault thematisiert. Und hier fällt der Befund im Wesentlichen negativ aus.66 Ein anderer Teil der Sekundärliteratur betont wiederum sehr wohl strukturalistische Zusammenhänge, konzentriert sich dabei aber eher auf Althusser, Lacan, Barthes oder den Ansatz von Dumézil.67 Wenn für Foucaults ethnologische Verortung hier vor allem auf das Feld des Strukturalismus rekurriert wird, so muss das nicht bedeuten, Foucaults Denken auf seinen Ursprung hin zu durchleuchten und den Strukturalismus als einzig wesentliche genealogische Linie zu behaupten. Der hier gewählte methodische Zugang schließt nicht aus, dass andere theoretische Sichtweisen andere Filiatio-
63 Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 331. 64 Besonders zu nennen ist hier die Auf- und Ausarbeitung des Strukturalismus von Dosse (1996, 1997). Von anthropologischer Seite wird dies natürlich ausführlich von Rabinow (Dreyfus; Rabinow 1994) sowie etwa auch von Faubion (2008) expliziert. 65 Vgl. Kammler; Parr; Schneider (Hg.) 2008. 66 Vgl. Stingelin 2008: 182-184. „Tatsächlich teilt – selbst der frühe – Foucault mit der strukturalistischen Bewegung weder deren wichtigste Begriffe noch deren (Tiefen-)Hermeneutik“ (Stingelin 2008: 183). 67 Vgl. z.B. Eribon, der Foucault ganz wesentlich unter die Vorzeichen von Dumézil stellt, allerdings auch die Beziehung zu Lévi-Strauss nicht ausspart und Divergenzpunkte hervorkehrt (Eribon 1998: v.a. 245-249).
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nen zum Vorschein bringen – insbesondere Foucaults Verhältnis zu Heidegger und natürlich Nietzsche.68 Und es ist bereichernd, wenn für bestimmte Denkfiguren von Foucault immer wieder neue Anknüpfungspunkte auftauchen. So lassen sich hinsichtlich Foucaults Arbeit mit der Grenze etwa interessante Verbindungen zu Kant ziehen.69 Auch der Verweis auf die französische Epistemologie, speziell eines Bachelard und Canguilhem, erlaubt es, wichtige Voraussetzungen für Foucaults Zugang zu sehen.70 Sehr produktiv sind komparative Forschunge, die eher konturierend angelegt sind. So etwa Arrangements wie: Foucault und Adorno, Foucault und Bakhtin, Foucault und Bourdieu, Foucault und Chomsky, Foucault und Darwin, Foucault und Fox Keller, Foucault und Gadamer, Foucault und Kuhn, Foucault und Luhmann, Foucault und Lyotard, Foucault und Weber sowie natürlich immer wieder Foucault und Habermas. Da beim Aufweis von Foucaults Kritik Iso- und Heteromorphismen mit anderen Texten zentral sind, hat auch meine Analyse in gewissem Ausmaß den Charakter der gegenwärtig florierenden Vergleichsarbeit. Allerdings werden die Primärquellen von Lévi-Strauss, Saussure und Habermas hier nicht für sich genommen angesichts von Sekundärliteratur diskutiert, sondern zur Explikation der Spezifika von Foucaults ethnologischem Blick verwendet. 68 Said (1972: z.B. 3, 16, 23, 26) hebt besonders die Nähe zwischen Nietzsche und Foucaults Archäologie hervor – was ungewöhnlich ist, da Nietzsche oft speziell als Pate der Genealogie gesehen wird. Nietzsche gilt dann auch als wesentlicher Anstoß für Gewichtsverlagerungen, die unter dem Begriff Poststrukturalismus – offenbar 1966 geprägt – firmieren (vgl. z.B. Ernst 2001 oder Eudaily 2005). Aus anthropologischer Sicht erwähnenswert ist, dass Rabinow im Gegensatz zu Dreyfus Heidegger deutlich weniger Gewicht gibt (vgl. Rabinow 2004b: 71f. und 117f.). Für viele stellvertretend kann Baberowski (2005: 193) genannt werden, mit dem Verweis von Foucault auf Heidegger, „dessen Philosophie ihm zum Anstoß wurde“. Hoy (2005: 102) wiederum führt aus, dass Foucault, Derrida, Bourdieu und Levinas sehr von Heidegger beeinflusst sind, sich aber davon (bzw. den französischen Heideggerianern) doch strikt distanzieren wollten, und der eigentliche Kampf darum ging, wie Nietzsche zu verstehen sei. Zu Foucault und der Phänomenologie vgl. auch Unterthurner (2007). Améry (1973: 478) hingegen bezieht den Stellenwert der Sprache im Strukturalismus überhaupt zurück auf „einen der Väter modernen Denkens“, nämlich Wittgenstein. 69 Vgl. v.a. Hemminger (2004) oder auch Han (2002). 70 Vgl. etwa Gutting 1999: 52ff. Diese Genealogie z.B. widerspricht der großen Nähe zwischen Foucault und Heidegger. So sagt Diaz-Bone (2007: Abs. 40): „Die systematischen Revisionen der Phänomenologie durch Bachelard zu vergegenwärtigen ist die Voraussetzung, um die Foucaultsche Diskursanalyse als einen Ansatz mit konturierendem Bezug zur Phänomenologie zur Kenntnis zu nehmen, der aus einer radikal anderen als der phänomenologischen Theoriewelt stammt.“
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Z UR R EZEPTION VON F OUCAULT IN ANTHROPOLOGIE UND P HILOSOPHIE In Anbetracht des Plans, Foucaults Positionierung als Ethnologe herauszuarbeiten, ist in einem ersten Schritt kurz darauf einzugehen, wie seine Standpunkte in der Sozial- und Kulturanthropologie reflektiert werden. Foucaults Rede vom ‚Ende des Menschen‘ kann auch heute noch gerade für die Anthropologie als Wissenschaft vom Menschen irritierend sein. Und doch steht dies weniger im Brennpunkt der großen Aufmerksamkeit, die Foucault hier erfährt. De facto verläuft die Wasserscheide in der anthropologischen Diskussion nämlich zu einem Gutteil entlang der Kampflinien um die Postmoderne, in deren Lager Foucault häufig gestellt wird. Dabei fällt nolens volens ein Backlash ins Auge, der im Namen von Science, Objektivität und empirischem Positivismus oder Realismus gegen Relativismus, Subjektivismus, Dekonstruktion und Selbstreflexivität gerichtet ist.71 Die Schläge zielen nicht nur auf die so genannte Writing-Culture-Richtung in der Anthropologie, sondern beziehen nicht selten ein weiteres Umfeld, zu dem auch Foucault gehört, mit ein. Aber auch wenn nicht auf solche Argumentationsmuster Bezug genommen wird, gehört heute eine Schelte der Postmoderne vielfach zum guten Ton – und zwar mit dem Verweis, dass die Postmoderne die Kultur- und Sozialanthropologie dominieren würde. Interessanterweise versteht sich jedoch kaum jemand, der der Postmoderne bezichtigt wird, als postmodern. Die Postmodernen sind entweder die Anderen oder es wird behauptet, gar nicht zu wissen, was postmodern sei.72 Ähnlich schwer fassbar ist die Postmoderne – und darin impliziert auch Foucaults Distanzierung von der Moderne – im Spiegel gesellschaftspolitischer Positionierungen. Zum einen lautet der Vorwurf, dass sie zu relativistisch Kritik verhindert und so das Ziel eines Fortschritts, der heute realistischerweise immer in Verbindung mit dem Kapitalismus stehe, aus den Augen verliert; andererseits wird der Postmoderne vorgehalten, als ständige Cultural Critique dem Kapitalismus Vorschub zu leisten, indem sie genau diejenigen Institutionen der Gesellschaft unterminiere, die gegen den Kapitalismus gerichtet sind.73 Eine der Aufgaben meiner Arbeit ist folglich, Foucaults Denken in einer 71 Vgl. z.B. Fujimura 1998. 72 Vgl. z.B. die Debatte zwischen D’Andrade (1995) und Scheper-Hughes (1995) mit Kommentaren, wo etwa Scheper-Hughes, von D’Andrade als postmodern angegriffen, ihrerseits andere als postmodern angreift. Und vgl. auch Crapanzano im Kommentar zur genannten Debatte, sowie etwa Fuchs und Berg (1993: 77) zu Clifford. 73 Vgl. weiter die Debatte zwischen D’Andrade (1995) und Scheper-Hughes (1995), die implizit erstere Position einnimmt, sowie dann Ong im Kommentar dazu.
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Weise zu explizieren, die eine präzisere Verortung in diesem Spannungsfeld der Anthropologie gewährleistet. Im letzten Kapitel wird dann unter anderem darauf eingegangen, inwiefern sich Foucault und sein Linguistic Turn von anderen Bezugsgrößen der Postmoderne, wie etwa Geertz, unterscheidet. Auch in der Philosophie wird Foucault immer wieder der Postmoderne zugeordnet und nicht speziell nur dem Poststrukturalismus.74 Wichtiger Referenzpunkt hierfür ist in der deutschsprachigen und zum Teil auch in der anglophonen Debatte Habermas’ Diktum, dass Foucault von seiner Epistemologie her zur unkritischen Anti-Moderne respektive zu den Jungkonservativen zu zählen sei.75 Der mangelnder Kritikfähigkeit zugrunde liegende ‚Tod des Subjekts‘ wird allerdings oft als Konsequenz strukturalistischer und poststrukturalistischer Dekonstruktionen verstanden.76 Zwar ist etwa Nagl-Docekal zu entnehmen, dass das Subjekt natürlich nicht nur in Strukturalismus und Poststrukturalismus problematisiert wird.77 Und doch ist es diese Kritik, die offenbar zuletzt in der Philosophie größte Unruhe und Gegenwehr hervorgerufen hat. Denn hier ist eine radikale Subjektkritik zu finden, die, wie Nagl-Docekal schreibt, „an simplifizierenden Einschätzungen orientiert ist und daher zum einen ihr Ziel nicht vollends trifft, zum anderen nicht gewahr wird, daß für eine konsistente Reflexion ihrer eigenen Voraussetzungen Theorieelemente erforderlich wären, wie sie in der Tradition der Subjektphilosophie entwickelt wurden“.78 Meine Analyse konzentriert sich in puncto philosophischer Sekundärliteratur freilich nur am Rande darauf, Foucaults Kritik im innerphilosophischen Diskurs generell zu verorten. Ziel ist vielmehr eine anthropologisch versierte Diskussion jener philosophischen Reflexion zu Foucault, die seine Epistemologie unter den Vorzeichen der Ethnologie thematisiert. Den Angelpunkt bildet Foucaults Selbstdefinition, er sei ein Ethnologe der eigenen Kultur. Nach Einschätzung von Lavagno ist bei aller Vielgestaltigkeit der Arbeiten von Foucault dies doch ein bestimmender Grundsatz.79 Und in der Philosophie hat diese Positionierung
74 Vgl. Baberowski 2005: 192. 75 Vgl. Habermas 1988: 191. 76 Vgl. zur Kontroverse um die Dekonstruktion des Subjekts z.B. die aus drei Tagungen hervorgegangenen Sammelbände Frank; Raulet; Reijen (Hg.) (1988) sowie NaglDocekal; Vetter (Hg.) (1987). 77 Vgl. den Überblick von Nagl-Docekal (1987: 12-21). 78 Nagl-Docekal 1987: 21. 79 Vgl. Lavagno 2006: 43. Auch etwa Dörfler (2001: 93) benennt Foucaults Arbeit insgesamt als „Ethnologie der eigenen Kultur“.
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auch einige Beachtung gefunden.80 Wie schon einleitend angedeutet, spielt Foucault zwar in der Anthropologie eine wichtige Rolle, sie betrachtet ihn aber im Allgemeinen nicht als einen der ihren. Sofern es eine explizite Reflexion über Foucaults fachliche Einordnung gibt, wird weniger Foucaults eigene ethnologische Positionierung kommentiert als die Tatsache, dass fachfremde Konzepte in der Anthropologie so starke Nachfrage erfahren. Insgesamt werden gerade auch die mit Foucaults ethnologischer Selbstdefinition verbundenen epistemologischen Fragen primär durch die Philosophie verhandelt. Eine besonders wichtige Ausnahme von anthropologischer Seite bildet Rabinow, der in seinen Forschungen nicht nur sehr stark auf Foucaults Instrumentarium zurückgreift, sondern der Foucaults Arbeit als solche ausgedehnt analysiert hat. In der Philosophie ist also Foucaults Berufung auf die Ethnologie zum Teil auf fruchtbaren Boden gefallen und hat womöglich zu einer verstärkten Offenheit gegenüber der Relevanz ethnologischer respektive anthropologischer Konzepte beigetragen. Und vielleicht gewinnt die Anthropologie sogar im Zuge einer von Foucault mitausgelösten Infragestellung philosophischer Paradigmen eine gewisse Bedeutung für Neuorientierungen. So erkennt etwa Liebmann Schaub bei Foucault einen „non-Western counterdiscourse or subtext that also affects his mode of thought and, as a result, his style“81. Das ermögliche Foucault „a critique of Western civilization as a whole“82. Dennoch wird natürlich auch in der Philosophie Foucaults Konzept der Gegenwissenschaft häufig diskutiert, ohne die spezifische Rolle zu reflektieren, welche der Ethnologie dabei zukommt. Ein nicht unerheblicher Teil der intensiveren Beschäftigung mit Foucaults Epistemologie und Kritik, wie sie für meine Fragestellung interessant ist, kommt von Seiten der Frankfurter Schule oder ihrem Umfeld. Und hierbei bildet der kritische Impetus von Foucault einen der grundlegenden Streitpunkte. Im deutschsprachigen Raum – aber teils auch in den USA – verdichtet sich diese Diskussion seit geraumer Zeit auf die Gegenüberstellung von Foucault und Habermas hin. Tatsächlich gibt es meines Erachtens Gründe für diese Auseinandersetzung, zumal sich beide Positionen bei einigen Gemeinsamkeiten gut gegenseitig konturieren lassen. Die vorliegende Arbeit thematisiert in diesem Zusammenhang nicht primär die bisherige Argumentation, sondern will der Kontroverse eine weitere Dimension verleihen. Unter den Auspizien der ethnologischen Positionierung von Foucault soll die bisher in der Konfrontation zwischen beiden Philo80 Besonders systematisch thematisiert Fink-Eitel (1994) Zusammenhänge zwischen der Konzeption der ‚Wilden‘ und philosophischen Positionen, wobei Foucault ausführlich analysiert wird. 81 Liebmann Schaub 1989: 306. 82 Liebmann Schaub 1989: 315.
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sophen nur ansatzweise gestellte anthropologische Frage verfolgt werden, welcher jeweilige Stellenwert ‚den Anderen‘ in der Kommunikation bei Foucault einerseits und bei Habermas andererseits zukommt. Das Ergebnis dieser Kontrastierung soll dann auch Basis einer breiteren Behandlung der strategischkritischen ethnologischen Alternative von Foucaults Ansatz sein. Einer der Ausgangspunkte ist also, dass beide Projekte sich als Kritik moderner Perspektiven verstehen.83 Demgemäß haben beide, wie Honneth feststellt, vom geschichtsphilosophischen Modell der Naturbeherrschung Abschied genommen und wollen die Frage nach Herrschaftsweise und Integrationsform unserer spätkapitalistischen Gesellschaft beantworten, wobei sie die soziale Ordnung westlicher Gesellschaften unter dem Aspekt sich totalisierender Macht sehen.84 Honneth wertet sogar Foucault einerseits und Habermas andererseits als Fortsetzung der Kritischen Theorie. Als wichtiger Streitpunkt sei hier vorwegnehmend die Problematik genannt, wie die normative Begründung von Foucaults Ansatz zu beurteilen ist.85 Honneth meint: „[W]ährend die gesamte Rahmenkonstruktion seiner historischen Untersuchungen von moralischen Überzeugungen lebt, für die gewissermaßen zwangsläufig eine universale Geltung reklamiert werden muß, findet sich davon nicht einmal mehr ein Rest, sobald die Theorie systematisch expliziert wird. Daher ist das, was die Vertreter der ersten Interpretationsrichtung für eine postmoderne Form der interventionistischen Sozialtheorie halten, nichts anderes als das Ergebnis einer mangelnden Reflexion Foucaults auf die normativen Bedingungen seiner eigenen Schriften.“86
Ein Teil meiner Analyse wird auf die Frage zulaufen, wieweit dieser Vorwurf gerechtfertigt ist. Ein zweiter wichtiger Aspekt betrifft den Status von Foucaults Arbeit und ihre Produktivität. Honneth sieht in den 1980er und 1990er Jahren von den Rändern der Disziplinen her eine Veränderung im Begriff des Sozialen, die sich dem Einfluss Foucaults verdankt.87
83 Darauf wird im Verlauf der Arbeit natürlich ausführlicher eingegangen. Zu Literatur, die Foucault und die Frankfurter Schule vergleichend behandelt, siehe die Angaben am Beginn des entsprechenden Unterkapitels (Abschnitt 2 von Kapitel 6). 84 Vgl. Honneth 1989: 119. 85 Vgl. Honneth (1990: 14f.), der hier die Bruchlinie etwa an Positionen von Rajchman einerseits und Taylor andererseits knüpft. 86 Honneth 1990: 16. 87 Honneth 2003: 19.
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Mit Verweis darauf, dass von Foucaults „geradezu ethnologischem Blick“88 die Rede ist, vertritt Honneth allerdings folgende Einschätzung: „Insofern waren die Untersuchungen von Foucault nicht dazu angetan, den Nährboden zu bereiten, auf dem sich Lernprozesse innerhalb einer wissenschaftlichen Disziplin vollziehen konnten; wer nach Begrifflichkeiten verlangte oder Konzepte suchte, mit deren Hilfe innerdisziplinäre Fortschritte erzielt werden sollten, war schlecht beraten, wenn er sich in der ‚Werkzeugkiste‘ Foucaults umzutun versuchte. So haben die ‚Spezifität‘ und die ‚Marginalität‘ seiner Schriften es verhindert, daß das Werk im ganzen zum Kern einer Traditionsbildung oder gar zum Stoff einer positiven Rezeption in den Einzelwissenschaften werden konnte: Die Spezifität der einzelnen Analysen ließ es nicht zu, aus dem Korpus der Bücher den Ansatz einer geschlossenen, generellen Theorie herauszudestillieren, die Marginalität der Perspektive, die in den Untersuchungen eingenommen wurde, schloß eine positive Rückwirkung auf die Diskurse innerhalb der humanwissenschaftlichen Disziplinen so gut wie aus. Aus dieser Not ist bald in der internationalen Diskussion die Tendenz entstanden, die Auseinandersetzung mit dem Werk Foucaults weitgehend auf das Gebiet des Philosophischen zu verlagern. Dazu hatte freilich Foucault nicht zuletzt selbst den Anstoß gegeben, indem er in vielzähligen Interviews und Gesprächen immer wieder von philosophischen Schlagworten Gebrauch machte, um die brüchige Einheit seines Werks auf einen allgemeinen, provokativen Nenner zu bringen [...].“89
Diese Bewertung kann und soll im Laufe der Untersuchung in mancher Hinsicht hinterfragt werden.90 Hier unmittelbar von Interesse ist, ob sich das Urteil für die Rezeption von Foucault in der Sozial- und Kulturanthropologie nachvollziehen lässt. Eine umfangreichere Forschung zu dieser Thematik ist meines Wissens noch ausständig.91 Deshalb wird nun darauf etwas genauer eingegangen. Systematische und detailliertere Daten bietet eine Zitationsanalyse in meiner Dissertation.92 88 Honneth 2003: 16f. 89 Honneth 2003: 17. 90 Fächerübergreifend gesehen, widersprechen z.B. die Ergebnisse von Diaz-Bone; Bührmann; Gutiérrez Rodríguez; Schneider; Kendall; Tirado (2007) wohl Honneths Urteil: In ihrem Aufriss zur Arbeit mit dem Diskursbegriff analysieren sie die Lage der Diskursanalyse in einzelnen Ländern und bieten eine große Zahl an Literaturhinweisen; dabei betonen sie, dass Foucault etwa für die Diskursforschung im The SAGE Handbook of Qualitative Research (Dezin; Lincoln (Hg.) 2000) sehr wichtig genommen wird. Hingegen definiert Wodak ihre Diskursanalyse mit Bezug auf die Frankfurter Schule und gibt an, grundsätzlich von Chomsky, Habermas, Bernstein und Cicourel beeinflusst zu sein (vgl. Gespräch mit Kendall 2007). 91 So findet sich z.B. auch im Foucault Handbuch diese Disziplin nicht unter jenen, deren Foucault-Rezeption besprochen wird (vgl. Kammler; Parr; Schneider (Hg.) 2008; und vgl. hier hingegen den Abschnitt zur Rezeption von Foucault in der Philosophie). 92 Vgl. Birkhan 2010b.
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Wenn der akademische Titel in der Anthropologie eine Lizenz zum Wildern bedeutet,93 dann ist Foucault eine besonders beliebte Beute. So ist zum Beispiel in dem bekannten Band Assessing Cultural Anthropology Foucault mit 8 Literaturangaben vertreten. Er liegt damit an siebenter Stelle, gleichauf mit Boas und Sahlins und nur um eine Angabe von Lévi-Strauss geschlagen.94 Foucault wird aber nicht etwa nur in einigen wenigen Artikeln intensiv rezipiert, sondern kommt in zehn Artikeln (von gut 30) vor, damit nur von Marx übertroffen.95 Wahrscheinlich verdankt die Anthropologie zu einem gewissen Teil ihre Bekanntschaft mit Foucault „Paul Rabinow, [...] perhaps Foucault’s surest medium into mainstream anthropology […].“96 Allerdings nehmen szientometrische Daten dem sofort seine Einzigartigkeit, insofern sich das Phänomen von Foucaults starker Rezeption nicht auf die Anthropologie beschränkt. Denn: „According to the Social Sciences Citation Index, Foucault was in 2004 and the two following years the most quoted thinker to live after World War II, outranking Bourdieu, Giddens, Habermas, Latour, Beck, Derrida, and Deleuze. In the same period, he also outranked those scholars in the Arts & Humanities Citation Index.“97
Boyer kommt in einem kurzen Essay über Foucaults Rolle in der Anthropologie vor allem aus eigener Erfahrung zu dem Schluss „Foucault’s pervasiveness is largely unparalleled in anthropology […]. [...] No other theorist, and certainly no other self-identifying ‚anthropologist,‘ received such common citation.“98 Demnach sind Foucaults Konzepte „constant points of communicative departure and of reference, citational orienters, and anchors, if you will, in the everyday discursive networks of anthropological knowledge-making“99. Der Foucault-Hype wäre jedoch weniger durch die Relevanz von Foucault für die adäquate Repräsentation des anthropologischen Objekts bedingt, sondern spiegele die soziale Struktur der Wissensproduktion, sei also „an index of changes affecting the social organization of knowledge-making. [...] To my mind, the popularity and intuitiveness of biopolitical analytics are effects of the transfor-
93 Vgl. Borofsky (1994: 10) nach Kluckhohn via Geertz. 94 Wobei die Foucault überflügelnden Autoren und Autorinnen auch höchstens mit 12 Texten aufscheinen – außer Harris und Scheper-Hughes, die alle anderen weit abgeschlagen zurücklassen (vgl. die Sammelbibliographie in Borofsky (Hg.) 1994). 95 Siehe Borofsky (Hg.) 1994. 96 Boyer 2003. 97 Raffnsøe; Rosenberg; Beaulieu; Rabinowitz; Turner 2008: 1. 98 Boyer 2003. 99 Boyer 2003.
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mation of our own labor power.“100 Zudem würden Foucaults analytische Konzepte in jede Theorie passen, denn: „Despite Foucault’s cachet as ‚a theorist,‘ I don’t think rigorous conceptualization is the strength of his writing.“101 Diesem Urteil wird noch nachzugehen sein. Sehr anders war allerdings noch kurz nach Foucaults Tod der Vorbehalt von Feuchtwang: „Can anything in Foucault’s writings be used for ethnographic description and anthropological analysis?“102 Egal wie man Foucaults Präsenz bewertet, scheint eine solche Frage aus heutiger Sicht erstaunlich. Zumal Feuchtwang dies zunächst nicht aus inhaltlichen Gründen sagt, sondern seine Bedenken in einem Review zu dem von Fardon herausgegebenen Buch Power and Knowledge darauf stützt, dass von anthropologischer Seite nur Fardon mit Foucault arbeitet. Dies führt er dann allerdings zurück auf Foucaults Texte: „[Foucaults] concepts arise from the problems of knowledge and representation inherent in philosophy and the human sciences. They aggravate those problems to an intolerable point, and the results of that aggravation spur similarly aggravating participations in linked discourses. The whole battery of concepts questions the epistemological guarantees sought by or assumed in human sciences [...]. [...] Foucault’s analyses demonstrate orders of disposition, but not via a universal substratum of rationality or dialectic. The questioning of assumptions is as great as that which ethnographic translations can provide, crossing the great cultural differences. [...] His work might best be described as internal critiques of the discourses in which they participate. [...] But I doubt if Foucault’s power/knowledge can have much to do with cultural difference until there is a settling of accounts with the Order of things.“103
Die damit aufgeworfene Frage nach der Rolle kultureller Differenzen bei Foucault wird ein wichtiger Anker für meine Analysen sein. Für die Kontroverse um Foucault ist von besonderem Interesse, warum Feuchtwang Foucaults Brauchbarkeit speziell für die Anthropologie bezweifelt. Er stellt zunächst fest, dass bei Foucault kaum Agency zu verorten ist. Jedoch liegt nicht hier seine Kritik, sondern er wirft Foucault vor, nicht in sozialen Einheiten zu denken: „equivalent to the final, comprehensive idea of social and cultural life which anthropology and sociology profess, perhaps there is something challengingly deficient in Foucault“ – und zwar fehlt, was Feuchtwang als posi-
100 Boyer 2003. 101 Boyer (2003); Geertz (‚interpretivism‘) z.B. sieht Boyer hingegen schon als Theoretiker. Foucault wird dies nicht zugestanden, weil „Foucault’s analytics never resolve themselves to a contestable theory of originary causes“. 102 Feuchtwang 1987: 195. 103 Feuchtwang 1987: 196.
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tives Gegenstück anführt, etwas wie „a superorganic theory of ideological process“.104 Seltsamerweise ist Foucault aber von anderer Seite in der Anthropologie unter Beschuss geraten, weil sein Diskursbegriff genau dies sei: nämlich ein „return of the superorganic“105. Gleichzeitig ist an den von Inda herausgegebenen Band zu denken, wo Foucault, so heißt es, für alle Artikel den „intellectual point of departure“106 bildet. Und hier zeigt sich Foucaults Ansatz bei der Untersuchung dessen, was die moderne Konstitution des sozialen und biologischen Lebens des Menschen ausmacht, wieder von seiner beweglicheren Seite. Denn das für diesen Band zentrale Konzept der Gouvernementalität setzt keine starre kulturelle Struktur, in der Menschen fraglos agieren, voraus.107 Die Wahrnehmung von Foucault erscheint also in dieser Hinsicht recht kontrovers. Überraschend an der hiermit angeschnittenen Problematisierung des kulturellen Zusammenhangs ist, dass es – soweit ich gesehen habe – in der Anthropologie im Gegensatz zu anderen Sozialwissenschaften bisher keine Diskussion oder intensivere Rezeption des Dispositivbegriffs gibt.108 Eine weiterer, typisch anthropologischer Kritikpunkt, bei dem die Frage nach den Grenzen und der Konsistenz von Foucaults Untersuchungseinheit eine Rolle spielt, resultiert aus seinem relativ unhinterfragten Bezug auf die abendländische, auf ‚unsere‘ Zivilisation. Und so wird in der Anthropologie immer wieder mit Befremden festgestellt, dass Foucaults Augenmerk primär der jeweiligen Definition der Anderen im Inneren eines relativ in sich geschlossen gedachten Westens gilt, den Kolonialismus aber weitestgehend ausblendet.109 Dies nimmt etwa Stoler zum Ausgangspunkt ihrer Arbeit,110 wo sie Foucaults Rassismusanalyse, die in der Anthropologie weitgehend unbeachtet geblieben ist, entsprechend kritisch ausweitet.111 104 Feuchtwang 1987: 196. 105 Sahlins 1999: 56. Zu Sahlins’ zwiespältiger und nicht leicht nachvollziehbarer Bewertung von Foucault siehe auch Sahlins (1996), wo er seine eigene Analyse einerseits ‚Archäologie‘ nennt und – ohne Verweis auf Foucault – von ‚Diskurs‘ und ‚Monument‘ spricht, andererseits aber kritisiert, dass bei Foucault die Macht/die Gesellschaft das Individuum einschränkt und zugleich beklagt, dass nicht gesehen wird, dass die Gesellschaft/die Sprache erst alles ermöglicht. 106 Inda 2005: 1. 107 Escobar (1999) z.B. fasst auch Foucaults Episteme antiessentialistisch auf. 108 Roueff (2001: 240) etwa arbeitet mit diesem Begriff und betont, dass er von Foucault ausgehend in das soziologische Universum übernommen wurde – und eben vereinzelt auch in das spezifisch sozial- und kulturanthropologische. Das Dispositiv wird am Ende des fünften Kapitels noch etwas ausführlicher thematisiert. 109 Vgl. dazu beispielsweise auch Sharma 2006: 25. 110 Vgl. Stoler 1995: z.B. VIII. 111 Foucaults Überlegungen zum Rassismus werden in der von mir untersuchten anthro-
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Tatsächlich ist gegenwärtig zu sehen, dass Foucault in der Anthropologie nicht nur viel zitiert, sondern zudem äußerst breit gestreut eingesetzt wird. Wie auch aus den Enzyklopädien und Wörterbüchern des Fachs zu erfahren ist, spannt sich das weite Feld der mit Foucault diskutierten Themen von Orientalismus, Kolonialismus und Postkolonialismus, Politischer Anthropologie, Gouvernementalität, Rechtsanthropologie, Individualismus, Humanismus, der Rationalitätsdiskussion, über Diskurstheorie, Semiotik, Strukturalismus oder Poststrukturalismus und Postmoderne, zu Architektur und weiter zu Körperkonzeption, Gender, Feministischer Anthropologie bis hin zu Ethnopsychiatrie und Ethnomedizin.112 Ganz zentral ist Foucault in den um Machtfragen kreisenden Artikeln der Nachschlagewerke.113 Dem wäre auch zu entnehmen, dass es vorwiegend die anthropologische Postmoderne in den USA ist, welche sich auf Foucault bezieht und für die Foucault inspirierend ist.114 Im Speziellen mit Verweis auf die Krise der Repräsentation heißt es: „[P]ostmodern ethnography is built from the ‚rubble‘ of the ‚deconstruction‘ of Michel Foucault, Theodor Adorno, Jacques Derrida, and Richard Rorty, among others [...]“.115 Auch Godelier etwa sieht den Postmodernismus in den USA als relativ eklektizistische Mixtur verschiedener französischer Denker, vor allem der Triade Foucault, Derrida, Lyotard.116 Und wenn bei der
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pologischen Literatur kaum wahrgenommen. Jedoch heißt das nicht, dass es gar keine Beschäftigung damit gibt, wie z.B. die Arbeiten von Stoler (1995 und 2002) zeigen. Auch Stoler (1995: z.B. 7, 19) kommt nach ausführlicher Literaturrecherche zu dem Ergebnis, dass in der anthropologischen Rezeption diesbezüglich erstaunliche Aussparungen feststellbar sind. Von nicht-anthropologischer Seite ist insbesondere auf das Buch von Magiros (1995) zu verweisen, wo Foucaults Genealogie des Rassismus auch auf breiter Basis im wissenschaftlichen Kontext verortet wird. Vgl. z.B. Bonte; Izard (Hg.) (1992) oder Barnard; Spencer (Hg.) (1996) sowie Levinson; Ember (Hg.) (1996), Barfield (Hg.) (1997) und Kuper; Kuper (Hg.) (1997). Die von Gordon (1980) im Sammelband Power/Knowledge herausgegebenen Texte von Foucault sind in der Anthropologie also tatsächlich sehr prominent geworden. Immerhin war es aber doch möglich, 1982 in einer bekannten Zeitschrift einen Literaturüberblick zur Anthropologie des Wissens zu verfassen, wo Foucault nicht vorkommt, sehr wohl aber z.B. Chomsky – und das, obwohl es einen größeren Abschnitt gibt, wo ausgeführt wird, dass nun Fragen der Macht im Wissen (z.B. bei Asad) wichtig sind (vgl. Crick 1982). Auch in dem bereits genannten Band mit dem Titel Power and Knowledge (Fardon (Hg.) 1985) spielt Foucault unter den 6 anthropologischen Texten nur bei Fardon selbst eine Rolle (vgl. Fardon 1985a, 1985b); er wird aber in 2 der 3 soziologischen Analysen reflektiert. Vgl. z.B. auch Barnard (2000: 176f.) und ausführlich Petermann (2004: 1010-1029). Poewe 1996: 178. Vgl. Godelier 2000: 301.
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Writing-Culture-Debatte postkoloniale und politökonomische (Selbst-)Kritik der Anthropologie, postmoderne Kritik der Autorschaft, der Identitätslogik und der Ursprungsphilosophie mit der kulturanthropologischen Hermeneutik von Geertz zusammentrafen, ergänzt um Bakhtin und Diskursanalyse117, so wäre es insofern nicht überraschend, dass Foucault dabei eine Rolle spielt, als dies auch Themen seiner Revisionen sind. Zwar kommt Foucault zum Beispiel im zentralen Sammelband Writing Culture118 in 4 von 11 Artikeln vor – im ähnlich zu verortenden Werk Anthropology as Cultural Critique119 hingegen wird er nicht zitiert, obwohl die Thematik den Bezug auf Foucault nahe legen könnte und Fischer an anderer Stelle Foucault sehr wohl nennt. Des Weiteren ist Foucaults Zugehörigkeit etwas zweifelhaft, wenn zum Beispiel Song (mit Hinweis auf Rabinow) Foucault als jemanden vorstellt, der in einer reflexiven Wendung den Textualismus (etwa bei Clifford, Tyler oder Crapanzano) kritisiert – eine Kritik, die den als ‚reflexive Anthropologie‘ bekannten Raum prägt.120 Auch eine systematische Analyse von 8 wichtigen Fachjournalen über zwanzig Jahre bis 2006 beweist, dass Foucault keineswegs ein Autor nur für die Postmoderne ist.121 So wird er im JRAI vergleichsweise häufig zitiert (durchschnittlich in jedem 12., zuletzt circa in jedem 8. Artikel). Noch etwas höher – wenn auch größeren Schwankungen unterworfen – ist die Präsenz in Current Anthropology, wo Foucault insgesamt etwa in jedem 10. Artikel in der Literaturliste aufscheint (ab 1995 oft in jedem 5.). Allerdings ist dies tatsächlich gering im Vergleich mit Cultural Anthropology. Hier ist über die Jahre gerechnet in mindestens jedem 4. Artikel eine explizite Referenz auf Foucault zu finden, mit Spitzenjahrgängen von über 40% und 50%. Andererseits wird Foucault in europäischen Zeitschriften wie L’Homme und der Zeitschrift für Ethnologie nur in 34% der Artikel genannt.
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Vgl. Fuchs 2001: 126f. Vgl. Clifford; Marcus (Hg.) 1986. Vgl. Marcus; Fischer 1986. Vgl. Song 2006: 471. Im Anhang meiner Dissertation (Birkhan 2010b) findet sich eine empirische Untersuchung der Rezeption von Foucault in Form einer Zitationsanalyse der Zeitschriften American Anthropologist, Current Anthropology, Cultural Anthropology, Social Anthropology, The Journal of the Royal Anthropological Institute (respektive Man), Ethnos, L’Homme und der Zeitschrift für Ethnologie für den Zeitraum von 1986 bis inklusive 2006. Mit Hilfe von Graphiken sollte hier die Rolle von Foucault in der Anthropologie besser fasslich gemacht werden.
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Es werden etwa 60 Texte (darunter alle Bücher) von Foucault herangezogen. Am häufigsten wird auf Überwachen und Strafen verwiesen, immerhin etwa halb so oft auf die Ordnung der Dinge. Der Wille zum Wissen liegt dazwischen. Allerdings ergab die Durchsicht der Zeitschriften, dass hier keine ausgedehnte Diskussion um Foucault existiert – eine Reflexion also, die sich im Sinne einer Sekundärliteratur zu Foucault mit seinen Positionierungen auseinander setzt und wo dies, wie in der Philosophie, Thema einer im Fach ausgetragenen Debatte würde.122 Dennoch zeigte sich, dass Foucaults Forschungsergebnisse in vielen Bereichen, zum Teil etwas eklektizistisch eingesetzt, eine maßgebliche Rolle spielen und oft bereits so selbstverständlich sind, dass ein Verweis auf Foucault fehlt. Dies gilt besonders für den Diskursbegriff, der extensiv verwendet, jedoch meist wenig tief greifend ausgelotet wird. Interessant ist vielleicht auch ein kursorischer Vergleich mit anderen Fächern. Angermüller verfolgt die spezifischen Wege und Fluktuationen des Poststrukturalismus mit unterschiedlichen Konjunkturen in den USA und in Europa: So ist demgemäß in den USA ab etwa 1980 und dann mit Spitze Mitte der 1980er Jahre die Poststrukturalismus-Debatte wichtig; in Europa hingegen erst seit Mitte der 1990er Jahre.123 Die Sozial- und Kulturanthropologie wird bei Angermüller nicht genannt. Hier wäre auf Basis meiner Erhebungen zu sagen, dass sich gemessen an der Rezeption von Foucault in der Anthropologie eine solche Zeitverschiebung in der Diskussion poststrukturalistischer Positionen nicht zeigt. Sehr synchron wird Foucault in Europa wie in den USA ab den früheren 1990er Jahren prominent.124 Und offenbar hat die Anthropologie speziell den Faden der Governmentality Studies relativ früh aufgenommen – so zumindest wäre zu schließen, wenn Donzelot und Gordon die Anthropologie, die Geographie und die Postcolonial Studies als Felder nennen, wo Foucaults Gouvernementalitätsbegriff besonders wichtig ist.125 Gebündelt durch einige zentrale Begriffe fungiert Foucault also heute für die Anthropologie als ausgesprochen deutlich wahrgenommener, und zumindest in diesem Sinne fruchtbarer, äußerer Bezugspunkt.
122 Dass es allerdings sehr wohl einzelne Angehörige der anthropologischen Disziplin gibt, die Bücher im Sinne einer Sekundärliteratur zu Foucault schreiben, wurde bereits erwähnt. 123 Angermüller 2007a: 38ff. 124 Vgl. dazu Birkhan 2010b: bes. 378, Graphik 3. 125 Vgl. Donzelot; Gordon 2008: 51f. Bezüglich der Rezeption stellen Donzelot und Gordon (2008: 48) fest, dass in der englischsprachigen Welt das Gouvernementalitäts-Konzept einen Erfolg hat, der den von Foucaults Büchern übertrifft.
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Die hier skizzierte Foucault-Rezeption in der Anthropologie erfordert zumindest für dieses Fach eine gewisse Revision der oben ausführlich zitierten Einschätzung von Honneth, dass auf Foucaults Arbeiten fußende Lernprozesse innerhalb wissenschaftlicher Disziplinen durch die mit dem ‚geradezu ethnologischen Blick‘ in Zusammenhang gebrachte Spezifität und Marginalität seiner Schriften verhindert werden. Zum einen ist in der Anthropologie die von Honneth an diese Defizite gebundene Verlagerung der Diskussion um Foucaults ‚Werk‘ auf das Gebiet des Philosophischen kaum zu beobachten. Nur wenige Texte sind einer solchen Reflexion gewidmet – der Schwerpunkt der Nutzung von Foucault liegt eindeutig in der empirischen Forschung. Und hierbei war Foucaults Perspektive aus Sicht der Anthropologie offenbar nicht zu marginal für eine außerordentlich breite Rezeption seiner Forschungsergebnisse und deren Integration als Ansatzpunkt anthropologischer Untersuchungen. Zudem gehören gegenwärtig nicht nur die Diagnosen, sondern auch die Diagnoseinstrumente, also Foucaults begriffliches Werkzeug, in der Anthropologie zum gängigen Inventar. Foucaults Arbeiten waren somit für die Anthropologie außerordentlich produktiv – ob sie zum Stoff einer positiven Rezeption wurden, die als Lernprozess zu sehen ist und innerdisziplinären Fortschritt brachte, entscheidet sich dann entlang der Grenzen von Schulenstreits. Wieweit Foucaults Texte Kern einer Traditionsbildung sind, ist allerdings nicht so leicht zu beantworten. Bestimmte Forschungsrichtungen sind sicher an seinen Einfluss geknüpft. So hat etwa die Abkehr von der Repressionshypothese eine dramatische Veränderung der Fragestellung in wichtigen Bereichen der Anthropologie gebracht. Forschungsthemen wurden gebündelt in einem neuen, von Foucault abgesteckten Rahmen gefasst, im Moment insbesondere in Studien zur Gouvernementalität. Auch explizit theoretisch-methodische Ansätze, wie besonders die Diskursanalyse und in Zukunft vielleicht die Dispositivanalyse, bilden basale Orientierungspunkte. Und schließlich hat auch ausgehend von einflussreichen Wissenschaftlern, deren Forschung sich wesentlich auf Foucault bezieht – allen voran Rabinow –, eine Art Schulenbildung stattgefunden. Allerdings erscheint Foucaults Arbeit nicht zuletzt aufgrund maßgeblicher Analysen der Sekundärliteratur wie jenen von Honneth oder auch Rabinow vielleicht wirklich als zu wenig konsistent, um eine einzige geschlossene, generelle Theorie daraus zu destillieren. Foucault wurde also eher zum Ausgangspunkt für mehrere Traditionsbildungen. Dabei figurieren zum Beispiel Diskursanalyse und Machtanalyse als einander ablösende Zugänge und es wird im Existenzmodus von Diskurs und produktiver Macht keine gemeinsame Grundlegung gesehen. Zu überlegen, in welchem Ausmaß und auf welcher Ebene sich in Foucaults Arbeiten doch konsistente Grundpositionen durchziehen und gerade hier nicht zu-
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letzt für die Anthropologie eine relevante Dimension liegt, ist somit als eine wichtige Argumentationslinie meiner Untersuchung nennen. Natürlich ist bei der intertextuellen Rekombination Foucaults Ansatz nicht prinzipiell in seiner etwaigen Kohärenz zu bewahren. Zugleich trägt aber die Bezugnahme auf Foucaults Forschungen zu Wahnsinn, Medizin, Disziplinierung, Biomacht, Gouvernementalität, Selbstbezug oder Sexualität sicher Teilmomente seines theoretischmethodischen Zugangs weiter. Angesichts dessen kann es von Interesse sein, zu explizieren, welche Funktion die prominent gewordenen Konzepte haben – und zwar gerade in Zusammenhang mit Foucaults ethnologischem Blick. In Anbetracht der ausgesprochen deutlichen Präsenz von Foucault in der Anthropologie ist desto erstaunlicher, dass de facto kaum reflektiert wird, inwiefern dessen Arbeiten mit einem bestimmten Ethnologiekonzept in Verbindung stehen. Diesbezüglich sei einführend nur nochmals kurz auf die spezifische Verschränkung von Foucaults Arbeit mit der Ethnologie hingewiesen. Für Foucault besitzt der Begriff Ethnologie, mit dem er seine Perspektive bezeichnet hat, eine kritische Konnotation. Dieses Selbstverständnis hat viel mit der bei Foucault grundlegenden Dezentrierung westlicher Universalitätsansprüche zu tun. Seine Analysen sind somit von einem subversiven Impuls getragen, der ihnen ein besonderes Interesse für die Anthropologie verleiht. Inda nennt die Sicht, dass die Moderne selbst ein ethnographisches Objekt ist, eine typisch anthropologische Orientierung – und dies ist auch Foucaults Zugang.126 Auch die von Foucault eingenommene Position eines Außen im Innen wird als ethnologisches Charakteristikum bezeichnet.127 Dennoch unterscheidet nicht nur die relativ durchgängige Beschränkung auf europäisches historisches Material sein Projekt augenfällig von der Anthropologie, sondern Foucaults ethnologische Position kann implizit weite Bereiche der Sozial- und Kulturanthropologie fragwürdig erscheinen lassen.128 In diese Richtung könnte man Hobart verstehen, wenn er sagt, Foucault hätte dem Positivismus in der Anthropologie entgegen etwas mit in Gang gesetzt, was sich dann ‚Critical Anthropology‘ nennt.129
126 Vgl. Inda 2005: 1. 127 So etwa bei Ralf Rehberger (1995) in seiner unveröffentlichten Magisterarbeit zu Foucault, die er mir freundlicherweise hat zukommen lassen. 128 So fordert Jorion (1977: 472f.) eine Ethnologie oder Archäologie der Anthropologie, um der herkömmlichen Wissenschaftsgeschichte zu entkommen. Und in diesem Zusammenhang müsste man die Arbeit von McGrane (1989) sehen, die sich als Archäologie der Anthropologie versteht. 129 Hobart 1984: 5.
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Um Kritik an den eigenen kulturellen Voraussetzungen zu üben, ist Distanz unabdingbar. Wenn Anthropologinnen und Anthropologen oft kulturelle Diversität erforschen, gegenüber dem Westen kritisch für deren grundsätzliche Existenzberechtigung eintreten und solchermaßen Ethnozentrismus entgegnen, so ist Foucaults Blick noch direkter reflexiv auf die Explikation der eigenen Bedingungen gerichtet – und dabei beansprucht er eine ethnologische Distanz, die er der Anthropologie entlehntem Instrumentarium verdankt. Dass gerade die Funktion der Ethnologie als revolutionäre Kraft bei Foucault in der Sozial- und Kulturanthropologie übersehen wird, ist ein entscheidender Anreiz für die gegenständliche Studie. Zugleich kann es für die Philosophie und andere Fächer erhellend sein, wie Foucaults ethnologischer Blick mit einer anthropologisch fundierten Analyse zu betrachten ist.
L EITFADEN
DURCH DAS
B UCH
Der knappe Aufriss von Foucaults Forschungsthemen und -ansätze sowie die Bemerkungen zur Rezeption seiner Texte sollten es erleichtern, die Fragestellungen der vorliegenden Untersuchung einzuordnen. Die Angaben zum theoretisch-methodischen Zugang sollten darüber hinaus das Prozedere der Analyse begründen und die Perspektive, auf die sich die Forschung stützt, einführen. Der Aufbau sieht vor, im ersten Teil vor allem die Grundlage für Foucaults ethnologischen Standort über seine eigenen Distanzierungsschritte nachzuzeichnen. Im zweiten Teil wird diese Ethnologie in ihrer inneren Logik differenziert und zudem in der Kontroverse mit anderen Zugängen konturiert, sodass auch ihre Alternativen und ihre Produktivität aufscheinen. Das Vorgehen operiert also mit verschiedenen Ebenen der Kontextualisierung respektive Differenzierung nach außen wie innen. Die Untersuchung eröffnet die Frage nach einer ethnologischen Repräsentation des gegebenen Denksystems mit Verweisen auf die außerhalb der Wissenschaft stattfindende Verunsicherung der Definitionsmacht des Subjekts. Dies soll verdeutlichen, unter welche Vorzeichen und in welche Kontexte Foucault sich gestellt sieht. Zudem will der erste Teil verständlich machen, was Foucault Anlass zur Kritik gibt und von welchem Denken er sich folglich verabschieden will. Zu diesem Zweck wird vor allem auf zwei Bücher rekurriert: Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge. In beiden Studien geht es um eine Relativierung bestehender Positionen des Anderen und des Gleichen oder des Selben, und sie ergänzen sich in dem einerseits auf den Ausschluss und andererseits auf die Integration, die Identifikation gerichteten Interesse. Diese Thematik ist nicht
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nur als solche für die Theoriebildung, zumal der Sozial- und Kulturanthropologie, relevant, sondern sie spielt auch in Foucaults Bezugnahme auf die Ethnologie eine wichtige Rolle. Dies ist im ersten Kapitel Aufforderung zu einer Skizze der Erkenntnisprozeduren in Wahnsinn und Gesellschaft und führt dann, nach einem kurzen Zwischenkapitel, zur detaillierten Darstellung der epistemologischen Konfigurationen der Ordnung der Dinge. Die hier entworfene ethnologische Perspektive setzt Foucault in seinem ethnographischen Umgang mit historischem Material in einer Weise um, die ihm als fundamentale Kritik gilt. Zu zeigen ist jedoch, dass sich ungeachtet dessen zwischen den beiden Arbeiten ein wesentlicher Umbruch in Foucaults Denken vollzogen hat. Dem ist das kurze zweite Kapitel gewidmet. Grundlegend verändert hat sich nämlich die Wertigkeit der Grenze in der Definition des Objekts. In Wahnsinn und Gesellschaft will Foucault das Vernunftsubjekt durch den Aufweis dessen, was es zum Schweigen bringt, untergraben. Ausgehend von der Thematisierung dieser exklusiven Identitätsbildung und Subjektkonstitution steht der wissenschaftliche Zugang und Bezug zum Anderen zur Debatte. Dieses Schlüsselthema unterliegt danach einem Wandel und wird in der Ordnung der Dinge neu formuliert – und zwar hier dann unter Verweis auf die Ethnologie. Mit der Ordnung der Dinge versucht Foucault, sich von der Moderne loszulösen, indem er die historischen Grenzen derjenigen wissenschaftlichen Ebene bestimmt, auf der sein als Ethnologie definiertes Verfahren angesiedelt sein soll. Die Analyse der Moderne in der Ordnung der Dinge dient jedoch nicht nur als Abstoßungspunkt für Foucaults eigene Position – und ist daher für deren Verständnis unumgänglich –, sondern sie ist darüber hinaus für die weitere Argumentation interessant, weil darin heftige Kritik an den Humanwissenschaften, also auch an verbreiteten Mustern der Sozial- und Kulturanthropologie, geübt wird. Somit bildet das dritte Kapitel mit der Präsentation der Ordnung der Dinge in großem Umfang die Ausgangsbasis für die nachfolgenden Kapitel meiner Untersuchung. Die zentrale Frage wird sein, was der Ethnologie den besonderen Status verleiht, der sie zum theoretisch-methodischen Fundament von Foucaults Projekten macht. Denn Foucault hat diese Standortbestimmung nie mehr grundsätzlich revidiert. Der zweite Teil wendet den Blick dann auf die innere Konsistenz von Foucaults ethnologischer Position und thematisiert somit direkt die Produktivität seiner Außenperspektive. Dabei folgt die Forschung der Logik von Foucaults Diskursanalyse und erarbeitet die Konzeption des Gegenstandes und dessen begriffliche Strukturierung als strategisch gewählte Alternative für die kritische Transformation der Moderne mit einer ethnologischen Äußerungsform.
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Das erste Kapitel des zweiten Teils will Foucaults Gegenwissenschaft über ihr Verhältnis zum Objekt auf die Spur kommen. Hier wird Foucaults Wissenschaftsverständnis nachgegangen, um zu verstehen, warum die Humanwissenschaften seinen Angriffen ausgesetzt sind, er zu den Naturwissenschaften und deren Objektivitätsanspruch hingegen ein weit entspannteres Verhältnis hat. Und es ist zu fragen, inwiefern ein radikaler Relativist oder Konstruktivist letzteren Wahrheit und reine Vernunft zugestehen kann. Vielleicht beziehen sich die häufig dezidiert geäußerten Bekenntnisse zu einer Mehrzahl von existierenden und möglichen Rationalitäten bei Foucault immer nur auf einen bestimmten Bereich von Wissenschaften beziehungsweise von Wissen. Andererseits wird untersucht, wie Foucault gegen die Humanwissenschaften vorgeht und welche Stellung die von ihm propagierten Gegenwissenschaften im Gefüge der wissenschaftlichen Disziplinen ihrerseits bekommen sollen. Die Beschäftigung mit dem Gewicht der Sprache und der Sprachlichkeit für die Konzeption des Gegenstandes in Foucaults ethnologischer Gegenwissenschaft schließt dieses Kapitel ab und leitet zugleich zur Archäologie des Wissens über. Der Fokus des fünften Kapitels richtet sich darauf, wie Foucault sein Begriffsinstrumentarium anlegt, wenn er die Macht der historischen Rationalität der Moderne auch durch eine andere Sprache unterlaufen will. Abgesehen von einigen Verschiebungen, die Foucaults Augenmerk für genealogische Aspekte andeuten, kann die Archäologie des Wissens als eine Explikation der Begrifflichkeit des ethnologischen Außen der Moderne, von dem her schon die Ordnung der Dinge geschrieben wurde und das die Analyse von Renaissance, Klassik und Moderne zugleich hat entstehen lassen, betrachtet werden. Aber nicht nur die Distanzierung von Voraussetzungen der Moderne steht hier zur Diskussion, sondern auch eine kritische Wende von Foucaults Diskursanalyse gegenüber der Sprache in herkömmlichen strukturalistischen Ansätzen. Im diesem Zusammenhang kann schließlich ebenfalls die Überlegung auftauchen, inwiefern Foucault hier über die Arbeiten der Frankfurter Schule hinausgeht. Somit ist die Debatte um die gesellschaftspolitische Dimension von Foucaults Kritik eröffnet – also um das Ergebnis oder den Grund der strategischen Wahl. Das sechste Kapitel widmet sich insbesondere Foucaults ethnologischer Positionierung im Kontext philosophischer Kontroversen. Direkt an die Archäologie des Wissens schließt eine Reflexion der zentralen epistemologischen Denkbewegung in Foucaults Ansatz, die vor allem in der Philosophie oft übergangen wird. Sie bestimmt grundsätzlich den Status kultureller Positivitäten und ihrer Vielfalt bei Foucault. Sie stellt aber auch vor Probleme, welche wiederum die Frage nach kommunikativen Zugängen wie jenem von
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Habermas aufwerfen – als Kritik oder Ergänzung zu Foucault. Daher wird im nächsten Abschnitt Foucault mit Habermas konfrontiert und zwar in Hinblick auf den Stellenwert des Anderen in der Kommunikation respektive im Diskurs. Damit ist zugleich auch ein Bezugspunkt eingeführt, der die Relevanz des ethnologischen Zugangs von Foucault verständlich macht. Um die konstitutiven Aspekte von Foucaults Vorgaben weiter herauszuarbeiten, werden kurz Richtung und Umfang seiner Kritik im Licht des Vorwurfs, er sei ein Jungkonservativer, angedeutet. Daran geknüpft ist die Frage nach Foucaults Anschluss an die Aufklärung und die Bindung der Aktualität seiner Kritik an die Diagnose der Gegenwart. Für den darauf folgenden Schritt legt das die Überlegung nahe, inwieweit Foucaults Perspektive als eine von ethnologischen Vorgaben geprägte Revision der westlichen Moderne zu verstehen ist, und dass daher seine Transformationen gerade hier ihre spezifische Bedeutung haben. Dies mündet in die Argumentation von Foucaults ethnologischer Positionierung im Kreuzfeuer philosophischer Bedenken – womit sich auch klären kann, warum die Debatte um Foucaults theoretisch-methodisches Vorhaben in der Philosophie zu so heftigen Identitätskonflikten führt. Zweifel an der Möglichkeit, mit Foucaults ethnologischem Blick konsistente Kritik und Veränderung zu denken, sind Ausgangspunkt für die genauere Analyse dieser Aspekte seines Gegenentwurfs. Der letzte Abschnitt behandelt dann Fragen nach der ‚Wahrheit‘ von Foucaults kritischer Alternative und der Berechtigung, im Rahmen seines konsequenten Konstruktivismus Kritik zu formulieren. Das abschließende siebente Kapitel thematisiert die ethnologische Verortung von Foucault in Hinblick auf die im Diskurs zum Ausdruck kommende Position der Subjektivität und deren Lokalisierung. Mit dieser in der Sozial- und Kulturanthropologie besonders stark problematisierten Materie widmet sich die Arbeit etwas stärker den anthropologischen Reflexionen zu Foucault. Die ersten beiden Abschnitte sollen die Subversion des Subjekts und seiner Bedeutungsebene diskutieren. Dies bezieht sich auf die Thematik, welche andere Sicht, wenn nicht die subjektive, Foucaults Relativismus gelten lässt. In diesem Zusammenhang werden dann ansatzweise auch die Konsequenzen dieser Umorientierung für eine emanzipatorische Äußerung vom Subjektstatus Ausgeschlossener ausgelotet. Im Anschluss daran wird der bei Foucault zum Tragen kommende Modus der Artikulation herausgearbeitet und auch in Bezug auf aktuelle Konzepte kultureller Kreativität und Identität in der Anthropologie verortet. Die letzte Etappe der Arbeit bildet die Frage nach der Grenze und Abgrenzung kultureller Einheiten, nach ihrer Positivität und ihrer Objektivierung in der wissenschaftlichen Artikulation.
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Damit wäre je nach Standpunkt zu beurteilen, ob die Rolle von Foucault angesichts seiner ethnologischen Positionierung noch ausgedehnter und interessanter sein kann, als es der auch jetzt schon sehr intensive Rekurs auf seine Arbeiten darstellt – oder ob die Wirkung seines Instrumentariums etwa für die Philosophie virulent, für die Spezifikation des Gegenstandes der Sozial- und Kulturanthropologie aber im aktuellen Kontext vielleicht zu konservativ ist.
Distanzierung der Moderne
Foucault ist nicht nur der erste, der das aufklärerische Projekt einer kritischen Ethnologie der eigenen Kultur als solches beim Namen nannte; er ist auch – im Rahmen gegenwärtiger Philosophie – der einzige, der es authentisch fortgesetzt hat. FINK-EITEL 1994: 221
Foucaults Arbeiten lassen sich also unter das Ziel einer Aufklärung stellen, die er mit einem spezifischen Konzept von Ethnologie verbindet. In diesem Sinne ist festzuhalten, dass Foucault zum einen ethnographische Texte verfasst, zum anderen aber seine Ethnologie auch theoretisch und methodologisch definiert hat. Dieser in der Philosophie weit mehr als in der Sozial- und Kulturanthropologie diskutierten ‚kritischen Ethnologie der eigenen Kultur‘ aus anthropologischer Sicht auf die Spur zu kommen, ist also Leitthema der Analyse. Zudem stellt sich die Frage, inwiefern auch anthropologische Positionen von seiner Kritik betroffen sind, da Grundlage für Foucaults eigene Verortung insbesondere die Skepsis gegenüber den Humanwissenschaften mit ihrer spezifischen Sicht des Menschen war. Wichtig für die Einschätzung der ethnologischen Distanzierung von Foucault ist, dass sein neuer Standort nicht reiner Selbstzweck im Sinne abgehobener Theoriebildung sein sollte.1 Auch Foucaults epistemologische Arbeiten können unter dem Gesichtspunkt gelesen werden, dass die ethnologische Außenperspektive selbst kritisch ist und sich der Aufbau seiner Theoriesprache über eine Kritik an der subjektphilosophischen Tradition vollzieht. Problematisiert wird am herrschenden Denkmodell der westlichen Moderne und an dessen Sicht des Menschen insbesondere die Identität des individuell wie kollektiv festgelegten Subjekts. Und er sieht eindeutig, wie er in einem Gespräch 1983 sagt, „dass hinter dem sogenannten Strukturalismus ein bestimmtes Problem stand, im Großen und Ganzen das Problem des Subjekts und der Umarbei1
So hingegen etwa Biebricher (2005: 55) über Foucaults Methodenkritik.
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tung des Subjekts“2. Die Einsicht, dass diese Figur als wesentliche Voraussetzung zu gelten hat und andererseits nicht etwas unhinterfragt Selbstverständliches bleiben soll, verankert Foucault zudem auch besonders in seiner Beschäftigung mit der avantgardistischen surrealistischen Literatur. Hier kommt mit ästhetischen Mitteln zum Ausdruck, wie das Subjekt sich in einem den bewussten Sinn hintergehenden Sprachgeschehen auflösen kann. Zu dieser Literatur (und speziell mit Bezug auf Tel quel) sagt Foucault: „[Die Literatur] konstituiert sich als Netz – als ein Netz, in dem die Wahrheit des Sprechens oder die Abfolge der Geschichte nicht mehr funktionieren können, in dem das einzige Apriori die Sprache ist.“3
So schaffen für Foucault diese Texte durch das ‚Sein der Sprache‘ den Durchbruch zu einer Sprache, in der das Subjekt ausgeschlossen ist – in gewisser Hinsicht ein Vorbild für sein eigenes Vorhaben.4 In diesem Zusammenhang ist auch die Forderung nach einer neuen Stellung von ‚Werk‘ und ‚Autor‘ zu verstehen. Formal lässt sich dies allein schon an seinem Schreibstil, etwa an der durchgängigen und strikten Anonymisierung, die das Subjektzentrum unterhöhlen soll, erkennen.5 Andererseits argumentiert Fink-Eitel im Anschluss an Bataille, dass gerade bei diesen ästhetischen Entwürfen aus der Möglichkeit einer Auflösung des Subjekts und der Konfrontation mit dessen Nichtigkeit eine alle begrenzenden Bindungen überschreitende Selbstermächtigung mit gesteigerter Lebensintensität hervorgeht. Dies stellt eine Figuration dar, die gemäß Lavagno allerdings nicht auf Eigenschaften des Subjekts verzichten kann.6 Durch diesen Prozess der ‚Souveränität‘, wie es bei Bataille heißt, ist der Mensch nämlich, was er ist, allein noch durch sich selbst. Es sei Nietzsches Über-Mensch, der Foucault beeinflusst habe – so wiederum Fink-Eitel.7 2 3 4
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Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 542. Distanz, Aspekt, Ursprung [1963]: 379. Dies wurde vielfach bemerkt: vgl. z.B. Honneth (1989: 128), Kögler (1992: 157, 158) und Fink-Eitel (1994: 207). Zur Rolle der ästhetischen Erfahrung bei Foucault vgl. ausführlich etwa Kögler (1994: 68ff.) oder Lavagno (2003: 228ff.). Und Foucault verweist selbst häufig auf die Relevanz der entsprechenden Literatur, wobei sich die Auseinandersetzung damit auch in mehreren Arbeiten, wie etwa Raymond Roussel [1963], niederschlägt. White (1990: 132-174) zeigt in seiner Untersuchung über den Zusammenhang von Form und Inhalt, wie Foucaults ‚Diskurs über Diskurse‘ seine Wirkung erzielt. Vgl. Lavagno 2003: 232. Vgl. dazu Fink-Eitel 1994: 227.
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„Als Inbegriff menschlicher Selbstermächtigung [Herv. i.O.] ist er natürlich unvereinbar mit der strukturalistischen Entmächtigung des Subjekts. Dies ist die zugespitzteste Formulierung jenes ‚schlecht gelösten Konflikts‘, über den sich Foucault, so weit ich sehen kann, niemals ausdrücklich Rechenschaft ablegte. Sein ganzes Werk steht daher im Zeichen der unbewältigten Wiederkehr dieses Konflikts.“8
Damit ist ein zentraler Punkt angesprochen, der vielleicht eine charakteristische – zumindest auf den ersten Blick bestehende – Zwiespältigkeit der Postmoderne beziehungsweise des Poststrukturalismus überhaupt darstellt. Folgt man FinkEitels Sicht, so zeigt diese Ambivalenz starke Ähnlichkeiten mit der modernen Episteme, wie sie Foucault in der Ordnung der Dinge beschreibt. Und am Ende des Buches befasst sich Foucault tatsächlich hinsichtlich seiner eigenen Position mit dieser Frage – wenn auch vielleicht keine klare Lösung angeboten wird. Möglicherweise unter anderem deshalb, weil sich für Foucault die Problematik eines Umkippens gar nicht mehr stellte.9 „Lange Zeit herrschte in mir ein schlecht gelöster Konflikt zwischen der Leidenschaft für Bataille, Blanchot und andererseits dem Interesse für gewisse positive Studien wie die von Dumézil und Lévi-Strauss. Aber eigentlich haben diese beiden Richtungen [...] in gleicher Weise dazu beigetragen, mich zum Gedanken des Verschwindens des Subjekts zu führen. [...] Mit anderen Worten: die Struktur bzw. die Möglichkeit eines strengen Diskurses über die Struktur führt uns, glaube ich, zu einem negativen Diskurs über das Subjekt, zu einem Diskurs, der dem von Bataille und Blanchot analog ist [nämlich der Erfahrung der Auflösung, des Verschwindens, der Verleugnung des sprechenden und erotischen Subjekts].“10
Zumindest auf wissenschaftlich expliziter Ebene hat sich Foucault sehr konstant zum Verschwinden des modernen Subjekts bekannt, und in seinen Texten dominieren die Stellen, wo er sich als Teil eines Systems, einer Struktur oder eines Kontextes sieht. Trotzdem oder gerade deshalb ist nachzuvollziehen, dass Foucault Blindheit gegenüber der eigenen Verortung vorgeworfen wurde. Diese Frage ist gerade auch in Bezug auf Foucaults Methodologie im Auge zu behalten. Wie im Verlauf der Untersuchung deutlich werden sollte, kann man Foucaults
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Fink-Eitel 1994: 227. An anderer Stelle erkennt Fink-Eitel (1989: 51f.) aber doch, was die Funktion der Sprache betrifft, eine gemeinsame Stoßrichtung von Strukturalismus und surrealistischer Literatur. 9 Auch andere Analysen, wie etwa jene von Kögler (1994: 59), sehen Foucault unentschieden zwischen diesen beiden Polen pendeln, wogegen ich eher ein Ergänzungsverhältnis auf gemeinsamem Boden mit teilweise ähnlichen Auswirkungen betonen möchte. 10 Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 21.
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Position aber möglicherweise ebenso als Resultat einer großen Konsequenz und nicht nur als Widerspruch verstehen. Diese kurze Präambel sollte die wissenschaftlichen Arbeiten von Foucault, welche nun Gegenstand der Analyse sein werden, kontextualisieren. In meinen Augen ist es gerade dieses eigentümlich verschachtelte Verhältnis von Diagnose und Standort des Diagnostikers, das Foucaults Projekt einen besonderen Reiz verleiht. Im Folgenden wird nun zunächst mit Wahnsinn und Gesellschaft näher auf Foucaults subversive Ethnographie eingegangen. Dies dient in zweierlei Hinsicht als Basis für die Explikation der Ordnung der Dinge und die Kapitel des zweiten Teils. Einerseits soll nachvollziehbar werden, warum Foucault die Ablöse der Humanwissenschaften durch eine andere wissenschaftliche Epistemologie wichtig war. Zugleich wird der Ausgangspunkt für jene Neudefinition eingeführt, an die Foucault seine Distanzierung von den Humanwissenschaften bindet. Dabei ist zu bedenken, wie Foucault seine historischen Beschreibungen verstanden wissen will, indem er sagt: „[I]ch spreche zu Ihnen stets in der Eigenschaft eines Historikers, selbst wenn ich versuche, ein Historiker der Gegenwart zu sein.“11 Das heißt, „[d]ie Geschichte braucht [...] nicht die Rolle einer Philosophie der Philosophien zu spielen, oder sich einzubilden, sie sei die Sprache aller Sprachen, wie es im 19. Jahrhundert ein Historizismus wollte, der das kritische Vermögen und die Legislativgewalt der Philosophie auf die Geschichte zu übertragen trachtete. Wenn die Geschichte einen Vorrang besitzt, dann viel eher deshalb, weil sie die Rolle einer internen Ethnologie unserer Kultur und unserer Rationalität spielen kann.“12
11 Die Probleme der Kultur [1972]: 471 12 Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben [1967]: 174
Wahnsinn und Gesellschaft – Die Sprache des Anderen
Seinem Verständnis von historischer Diagnose als Kritik entsprechend wendet sich Foucault in Folie et déraison. Histoire de la folie à l’âge classique 1961 dem in der westlichen Vernunft unterdrückten und ausgeschlossenen Anderen zu und nimmt dies als Grundlage einer umfassenden Infragestellung. Die westliche Welt hat Foucault zufolge den Ausdruck ihrer Positivität durch bestimmte Grenzziehungen erreicht. Gleich zu Beginn von Wahnsinn und Gesellschaft meint Foucault, dass es wichtig wäre, auch die Geschichte anderer Bereiche zu schreiben, in denen sich „die Struktur des Tragischen [...], auf der die Geschichte des Abendlandes aufbaut“, vollzieht1 – nämlich die Geschichte des Traums, der Sexualität und auch des Orients.2 1
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Wahnsinn und Gesellschaft ([1961]: 10); diese Struktur beschreibt Foucault hier weiter mit Verweis auf Nietzsche als Vergessen und Ablehnung der Tragödie durch die Abtrennung des Apollinischen von seinem Anderen, dem Dionysischen. Eine diesem Desiderat entsprechende Geschichte des Orients als Grenze ist dann mit Saids Arbeit zum ‚Orientalismus‘ wichtig geworden (vgl. Said 2003: allgemein und v.a. 23). Wiewohl Said sich für die Konzeption des Orientalism auf Foucault bezieht und ihn damit in den Postcolonial Studies verankert hat und darüberhinaus wesentlich zu Foucaults Einführung in den USA beigetragen hat., hatte Said (ab den späten 1970er Jahren) offenbar ein ambivalentes bis ablehnendes Verhältnis zu Foucault, rückte zuletzt von seiner Kritik aber wieder ab und zeichnete ein differenziertes Bild von Foucault (vgl. dazu Racevskis (2005), der diese Beziehung genauer untersucht und tatsächliche Unterschiede, aber auch ‚Missverständnisse‘ aufzeigt; vgl. Nichols (2010) zu Foucaults Einfluss auf die Postcolonial Studies allgemein und via Said im Speziellen). In Hinblick auf Saids Vorwurf, Foucault sei eurozentristisch, meint Racevskis (2005: 94) mit Verweis auf die zitierte Stelle aus Wahnsinn und Gesellschaft: „For someone whose Eurocentrism was ‚total‘, the insight evident in this passage is rather remarkable: it not only offers a definition of Orientalism – probably before Said thought of it, it suggests the project itself [...].“
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„In der Universalität der abendländischen Ratio gibt es den Trennungsstrich, den der Orient darstellt: der Orient, den man sich als Ursprung denkt, als schwindeligen Punkt, an dem das Heimweh und die Versprechen auf Rückkehr entstehen, der Orient, der der kolonisatorischen Vernunft des Abendlandes angeboten wird, der jedoch unendlich unzugänglich bleibt, denn er bleibt stets die Grenze. Er bleibt Nacht des Beginns, worin das Abendland sich gebildet hat, worin es aber auch eine Trennungslinie gezogen hat. Der Orient ist für das Abendland all das, was es selbst nicht ist, obwohl es im Orient das suchen muß, was seine ursprüngliche Wahrheit darstellt.“3
Bezogen auf eine solche Konzeption der Grenzziehung will Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft einen anderen Standort einnehmen als die herkömmliche Perspektive westlicher Vernunft und Wahrheitsteleologie.4 Er scheint hier aus der Sicht der Anderen oder des Anderen schreiben zu wollen. Die Frage wäre nun, wie sich dieser Blick bestimmen lässt, auf welcher existentiellen Ebene er angesiedelt ist. Fink-Eitel verortet den Blickwinkel von Wahnsinn und Gesellschaft folgendermaßen: „Foucaults Ethnologie der eigenen Kultur verdankt sich dem Standort des ihr immanenten Anderen, der eigenen Wilden [...].“5 Nun seien aber diese Wilden der eigenen Kultur nicht mehr edle Wilde, sondern nur mehr wild.6 Sie sind nämlich nur noch, was die Gesellschaft nicht sein will. In diesem Sinne wolle Foucault schreiben als „ein seiner eigenen Heimat Fremder“7 – so eine der Charakterisierungen der ‚Irren in der Klassik‘. „So wird aliénation [Herv. i.O.] zum Grundbegriff einer Ethnologie, deren Standort sich zugleich innerhalb und außerhalb ihres Gegenstandes, der eigenen Kultur, befindet, weil das ‚Außen‘ Folge ihrer inneren Ordnungsmechanismen, das Fremde Folge ihrer eigenen Entfremdungsleistung ist.“8
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Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 10. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 9. Fink-Eitel 1994: 221. Vgl. Fink-Eitel 1994: 221. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 128. Fink-Eitel 1994: 217. Allerdings sei angemerkt, dass die hier zur Charakterisierung von Foucaults eigener Position eingesetzte Begrifflichkeit (Alienation) bei diesem mehrere distanzierende Mechanismen der Determinierung und ethischen Verurteilung beschreibt und meines Erachtens weder im Kontext der Klassik noch in ihrer Rolle bei der modernen Psychologie ein aktiv subversives Potential enthält (vgl. z.B. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 128, 536 und 550).
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Um Missverständnisse zu vermeiden, sollte präzisiert werden, dass Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft nicht aus Sicht der psychiatrisierten Wilden schreiben wollte – eben weil diese ja ein Produkt und Teil derjenigen als Integrationsstrukturen erscheinenden Ausschlussmechanismen sind, die Foucault hintergehen, außerhalb derer er sich ansiedeln möchte. Daher verabschiedet sich Foucault von der noch 1954 in Psychologie und Geisteskrankheit ausschlaggebenden nicht-objektivierenden Perspektive der Welt des Kranken. 9 Zwar denkt Foucault – wie Kögler betont – von einer sozialkritischen Erkenntnisposition aus, doch werden Pathologien nicht, wie etwa im Marxismus, auf gesellschaftliche Ursachen zurückgeführt, vielmehr ist die Erfahrung der Phänomene als spezifisch pathologisch in kulturellen Konstruktionsprozessen erzeugt.10 Foucault klammert die marxistisch-kritische Dimension zwar nicht ganz aus, wenn er recht kursorisch angibt, dass ökonomische Notwendigkeiten, wie etwa die „demographische Verlagerung, die die Bevölkerung der Kolonien erfordert hat“11 oder die Auflösung der Commons in der Landwirtschaft, die Internierung mehrfach mit schweren wirtschaftlichen Krisen verbanden – was dann auch zur Krise der Internierung selbst führte. Andererseits ist die Praxis der Internierung sowie die Forderung nach sozialer Nützlichkeit der Armen „durch die ökonomischen Bedingungen längst nicht ausreichend definiert“12 – wie Foucault explizit sagt. Foucault spricht schon in Wahnsinn und Gesellschaft von einer Strukturuntersuchung, einer Untersuchung „der Erfahrungsstruktur, die eine Kultur vom Wahnsinn entwickeln kann“13, die alle kulturellen Ebenen umfassen soll.14 Dass der Wahnsinn daher letztlich nicht kritisch auf spezifische (und veränderbare) Verhältnisse zurückgeführt wird, begrenzt auch seinen Konstruktivismus dort, wo eine Grunderfahrung des Wahnsinns als bestehendes Phänomen nicht mehr weiter hinterfragt wird. Dies ist hier aber auch gar nicht das Anlie-
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Gutting (1999: 100) meint, dass Foucault vor Wahnsinn und Gesellschaft sehr stark an Heidegger orientiert war, betont aber weiterhin, dass Foucault eine auf die wirklichen sozialen Faktoren (also Widersprüche) bezogene Geschichte der Geisteskrankheit schreiben wollte. Vgl. dazu z.B. Psychologie und Geisteskrankheit ([1954]: 89f., 93ff.) mit kritischem Bezug auf die Anthropologie (Benedict, Lowie), da diese Krankheit zu sehr nur als Abweichung sehen würden, nicht aber die Funktion, welche die jeweils spezifischen Konzeptionen für eine Gesellschaft haben. Vgl. Kögler 1994: 13. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 415. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 92. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 408. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 13.
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gen, da diese Erfahrungen von Foucault ja für wichtig gehalten werden und positiv attribuiert sind. Eher ist Wahnsinn und Gesellschaft Foucaults Versuch, „sich [...] an die Seite jener seltenen und sonderbaren Denker [zu stellen], die Einblick in das ‚souveräne Geschäft der Unvernunft‘ genommen hatten“15. Denn der Wahnsinn ist einerseits das in Klassik und Moderne durch die Konstituierung der philosophischwissenschaftlichen Vernunft mitproduzierte Schweigen, die Un-Vernunft sowie die positivistische Objektivierung. Zugleich denkt Foucault das Andere in diesem Buch aber als eine zum Schweigen gebrachte ursprüngliche Erfahrung, wie sie im Wahnsinn gemacht werde. In dieser Hinsicht kann man seine Arbeit durchaus wie Fink-Eitel als eine „Kritik innerer Kolonialisierung“16 bezeichnen. Und es sind die Schriften von Autoren wie Hölderlin, Nietzsche, Artaud, Nerval oder Blanchot, die den Zugang zu jener elementaren menschlichen Erfahrungsdimension für Foucault zeitweise wieder öffnen: „In dieser Sprache erscheinen nicht mehr die unsichtbaren Gestalten der Welt, sondern die geheimen Wahrheiten des Menschen. In ein und derselben Bewegung stellt sich der Irre als Erkenntnisobjekt [...] und als Thema des Wiedererkennens dar, indem er umgekehrt jenen einhüllt, der ihn mit allen hinterhältigen Vertrautheiten ihrer gemeinsamen Wahrheit erfaßt. Aber dieses Wiedererkennen wird von der Reflexion im Gegensatz zur lyrischen Erfahrung nicht angenommen.“17
Es wäre der Ort authentischer Erfahrung, der eine tiefere Wahrheit über unsere Existenz verspricht, da er als Einziger sich der herrschenden Rationalität widersetzt,18 den Foucault hier sucht – ein Ort, welcher die totale Infragestellung der abendländischen Kultur ermöglichen könnte. Dies nicht nur, weil dieser Ort durch sein Sprechen der Vernunft ihr notwendiges Anderes nehmen würde, sondern weil das, was er zu sagen hätte, das, was da zum Schweigen gebracht wurde, das rationale Vernunftsubjekt untergraben würde. Im Wahnsinn wird – wie es Kögler19 ausdrückt – angesichts eines nicht kontrollierbaren Seins die menschliche Sinnschöpfung zur tragischen Erfahrung.20 15 Dreyfus; Rabinow 1994: 35. Auch Fink-Eitel (1994: 228) bezeichnet die „Wilden“ im Frühwerk Foucaults als eine Chiffre für das „eigentliche“ Dasein im Sinne Heideggers und betont somit in seiner Analyse ebenfalls diesen Blickwinkel. 16 Fink-Eitel 1994: 222. 17 Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 545. 18 Vgl. Fink-Eitel 1994: 227. 19 Vgl. Kögler 1994: 17f. 20 Wenn bei einer solchen Konzeption des Wahnsinns betont wird, dass diese Erfahrung
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Es ist also in Wahnsinn und Gesellschaft Foucault nicht nur wichtig, wie die Vernunft das zu ihr gehörige Ausgeschlossene und sie Ausschließende bestimmt, sondern es entspricht auch dieser spezifischen Form der Subjektivität, dass es gerade der Wahnsinn ist, der abgetrennt wurde. Der Wahnsinn bekommt hier bei aller historisch-ethnographischen Lokalisierung auch substantiellen Gehalt, der wieder Gehör finden sollte.21 Besonders scharf hat Derrida22 diese Position kritisiert: Foucault will dem Wahnsinn das Wort geben, indem der Wahnsinn, der über sich selbst spricht, das Subjekt des Buches ist. Der Versuch, durch eine Archäologie des Schweigens diese Grunderfahrung wieder zur Sprache kommen zu lassen, den Wahnsinn wieder aus der Entfremdung zurückzuholen, wiederhole subtil den gegen den Wahnsinn vorgenommenen Akt. Denn welche Sprache gehört nicht zur Vernunft im Allgemeinen? Foucaults Schrift wäre genau das, was der Wahnsinn nicht ist: organisierte Sprache, Syntax, Ordnung, ein ‚Werk‘ – auch wenn sich Foucault um eine andere Sprache bemüht, eine Sprache ohne Stütze auf das Absolute einer Vernunft und eines Logos, eine Sprache, die sich nicht nach der Syntax der Verheute tragisch und schmerzlich ist, lässt sich fragen, im Namen welches ‚Wahrheitswillens‘ es erstrebenswert sein soll, das Sein als nicht kontrollierbar zu erfahren – und sich für kritische Distanzierungen nicht etwa mit dem Wissen darum zu begnügen. Es scheint zum Teil so, dass aus Foucaults Sicht das Erleben dieser Erfahrung im Wahnsinn allerdings auch für die Betroffenen kulturspezifisch ist, und insofern wäre das Tragische nicht überall in gleichem Maße tragisch. Daher kann es auch um eine Veränderung dieses Erlebens gehen. Trotzdem ist es unter den gegebenen Bedingungen für die Betroffenen nicht eindeutig von Vorteil, (gegen jede Empathie) das Leiden – wenn auch mit emanzipatorischer Absicht – als „Ideologie des Leidens“ zurückzunehmen, wie es in Cooper; Foucault; de Sade u.a. (1979: 76f.) andeutungsweise geschieht. Dass solch eine konstruktivistische Sicht positive Veränderungsmöglichkeiten bergen kann, ist unbestritten. Allerdings führt dies (wie konsequenterweise bei Szasz) auch zur Überlegung, dass – ist die ‚Ideologie des Leidens‘ und der Krankheit zurückgenommen – es keinen Grund für besondere Fürsorge gibt. Wird Verrücktsein zudem als individuell selbst gewählter Weg behandelt (vgl. z.B. Kempker 1991), welcher einer Anpassung und Preisgabe der eigenen Identität vorgezogen wurde, so lässt sich vorstellen, wie leicht dann jede gesellschaftliche Rücksichtnahme in der ‚Sozialschmarotzer-Debatte‘ zu Kleingeld gemacht werden kann. 21 Hat die Erfahrung der Unkontrollierbarkeit ihren Schrecken gerade im Kontext der westlichen modernen Vernunft, so könnte man überlegen, ob diese Erfahrung im Raum der Rationalität wahnsinnig macht und ob sie andererseits von den Betroffenen im Wahnsinn dann gar nicht mehr gemacht wird. Foucault allerdings relativiert in dieser Hinsicht den Wahnsinn nicht durchgängig. 22 Vgl. die von Foucault und auch der Sekundärliteratur sehr stark reflektierte Analyse in Derrida (1989).
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nunft artikulieren soll. Foucault wolle zwar der polizeilichen Sprache der Vernunft entgehen, frage sich aber zu wenig, „welches die Quelle und der Status der Sprache dieser Archäologie sind, jener Sprache, die von einer Vernunft verstanden werden soll“23. Hier kreuzen sich Derridas Einwände mit Überlegungen von Habermas. Denn dieser kritisiert seinerseits, dass Foucault die Vernunft mittels Vernunft entlarven will.24 Insofern analysiert Derrida ähnlich wie Habermas: „Wenn man ihr [der Irren] Schweigen selbst [Herv. i.O.] aussagen will, ist man bereits zum Feind und auf die Seite der Ordnung übergetreten, selbst wenn man in der Ordnung sich gegen die Ordnung auflehnt und sie in ihrem Ursprung in Frage stellt.“25
Dies zielt allerdings in eine andere Richtung als Habermas’ Bedenken. Denn Derridas Protest gegen Foucaults Versuch, dem Wahnsinn selbst das Wort zu geben, spitzt sich darauf zu, dass auch die Kritik nirgends anders anzusiedeln ist als im Raum der Sprache. Dass die Vernunft im Allgemeinen nicht eine Struktur unter anderen möglichen ist, gründe darin, dass man sich gegen die Vernunft nur verwahren kann, indem man sie anruft, dass es kein trojanisches Pferd gibt, mit dem sie nicht fertig wird: „Das Faktum der Sprache ist zweifellos das Einzige, das letztlich jeder Einklammerung widersteht.“26 Foucault hat diese Kritik sehr ernst genommen27 und er hat jedenfalls nie mehr einen ähnlichen theoretisch-methodischen Versuch unternommen. Andererseits hat er es aber auch abgelehnt, über die Vernunft im Allgemeinen etwas auszusagen, sondern sich immer mit ihrer Differenzierung, der Vielzahl von Rationalitäten beschäftigt. Es finden sich jedoch in Wahnsinn und Gesellschaft selbst in weit überwiegender Zahl Stellen, wo Foucault von der Möglichkeit einer Beschreibung dieser ursprünglichen menschlichen Erfahrung deutlich abrückt. Der Großteil des Werkes behandelt die Zeit nach der Zäsur, durch die mit der Renaissance die tragische Erfahrung des Wahnsinns verschwunden ist.28 Und in diesem Zusammenhang thematisiert Foucault die spezifischen kulturellen Formen, in deren Rahmen sich – letztlich mit dem Wahnsinn als wissenschaftlichem Gegenstand der Psychologie – ein neues Selbstverhältnis gebildet hat. Unter diesem Gesichtspunkt sind 23 24 25 26 27 28
Derrida 1989: 59f. Habermas 1993: 290. Derrida 1989: 60f. Derrida 1989: 62. Vgl. etwa auch Biebricher 2005: 36. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 163.
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die Wahnsinnigen dann nicht primär diejenigen, die die Norm verletzen, sondern der Nachdruck liegt darauf, dass sich in der Normdefinition das Selbstverständnis der Gesellschaft zeigt.29 So zieht sich gemäß Foucaults Diagnose die Bandbreite der Erfahrungen von Wahnsinn als Regellosigkeit über den Gegensatz von Vernunft und Wahnsinn als Unvernunft bis zu dem modernen Verständnis von Wahnsinn als Krankheit, wo der Mensch nicht wie in der Klassik „die [Herv. i.O.] Wahrheit verliert, sondern seine [Herv. i.O.] Wahrheit“30. Bestimmend für die Klassik ist im Gegensatz zur Renaissance die Internierung: „Sie erhielt ihren genauen Sinn in folgender Tatsache: der Wahnsinn hat im Zeitalter der französischen Klassik aufgehört, ein Zeichen einer anderen Welt zu sein, und ist die paradoxe Manifestation des Nicht-Seins geworden.“31 „In sich ist er ein stummes Ding [...].“32 Demgegenüber gibt es in der Moderne Formen der Befreiung: Man lässt den Wahnsinn sprechen, hört ihm zu – und sieht, dass der Wahnsinn ohnehin eine Spielart der Vernunft ist und vorher durch die Einsperrung, die nun als animalisch beurteilt wird, das Animalische produziert wurde; zugleich bilden sich neue Schutzstrukturen, um den Wahnsinn zu distanzieren:33 „Das Fehlen von Zwängen in den Asylen des neunzehnten Jahrhunderts ist keine befreite Unvernunft, sondern seit langem gemeisterter Wahnsinn. Für jene neue Vernunft, die im Asyl herrscht, repräsentiert der Wahnsinn nicht die neue Form des Widerspruchs, sondern eine Art Minderjährigkeit, einen Aspekt seiner selbst, der kein Recht auf Autonomie hat, und der nur als der Welt der Vernunft aufgepfropft leben kann.“34 „Wenn es in jenem Schauspiel etwas gibt, das das vernünftige Individuum betrifft, dann ist es nicht in dem Maße vorhanden, in dem der Wahnsinn für sich den ganzen Menschen in Frage stellen kann, sondern in dem Maße, in dem er etwas zu dem hinzufügen kann, was man über den Menschen weiß. Er darf sich nicht in die Negativität der Existenz als eine ihrer abruptesten Figuren einschreiben, sondern muß fortschreitend in der Positivität der bekannten Dinge Platz finden.“35
In der Moderne also wird der Wahnsinn ‚verständlich‘, wird er zum Teil einer alles durchdringenden Menschlichkeit. Dadurch kommt ihm aber wieder eine Sprachgewalt zu, wie sie ihm in der Klassik versagt war.36 Zudem betont Fou29 30 31 32 33 34 35 36
Vgl. Marti 1988: 16. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 389. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 253. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 544. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 479-481. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 511. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 460. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: z.B. 370, 545.
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cault die Spaltung in den ärztlichen, positivistischen Wahnsinn einerseits und den kritischen, tragischen, poetischen andererseits. Damit zeichnen sich bereits jene Elemente der Moderne ab, auf die Foucault in seiner Kritik setzt. Für den Fortgang meiner Überlegungen beachtenswert ist, dass auch schon deutlich wird, worin Foucaults Vorbehalte gegen die Humanwissenschaften der Moderne fußen. „Was das Doppeldeutige war in einer fundamentalen und konstitutiven Erfahrung [Herv. i.O.] des Wahnsinns [in der unmittelbaren Totalität der poetischen Erfahrung und in der lyrischen Anerkennung des Wahnsinns], wird sich schnell im Netz der theoretischen Konflikte [Herv. i.O.] über die zu gebende Interpretation [Herv. i.O.] der Erscheinungsform des Wahnsinns verlieren.“37
Aber all diese Widersprüche lassen sich – so Foucault – „auf eine verborgene Kohärenz“38 zurück beziehen: eine implizite Anthropologie. „Die menschliche Wahrheit, die der Wahnsinn entdeckt, ist aber der unmittelbare Widerspruch dessen, was die moralische und gesellschaftliche Wahrheit des Menschen ist.“39 Der Wahnsinn ist hier als Alienation in „jenem gigantischsten moralischen Gefangenendasein“40 Objekt, in dem „der Positivismus seine Mythen von wissenschaftlicher Objektivität hat durchsetzen können“41. Man ersieht aus diesen Passagen das Gewicht der Humanwissenschaften bei Foucault, und wie die Kritik daran direkt von Wahnsinn und Gesellschaft auf die Ordnung der Dinge zusteuert. Es ist interessant zu beobachten, inwieweit Foucault seinen Relativismus suspendiert, wenn er die wissenschaftliche Objektivität als Mythos identifiziert. Darüber hinaus führt er seine Analyse am Ende des Buches und besonders im letzten Abschnitt dahin, in der modernen Formation der Geisteskrankheit, zumal mit ihrer spezifischen Arzt-Patient-Beziehung, Riten, Magie und Mythos zu sehen.42 „Was man traditionsgemäß ‚Fortschritt‘ auf dem Wege zum Erwerb eines medizinischen Status des Wahnsinns nennt, ist in der Tat nur durch eine eigenartige Rückkehr möglich gewesen.“43
37 38 39 40 41 42 43
Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 548 und 547. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 548. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 547. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 536. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 533. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 533ff. und auch das letzte Kapitel. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 364.
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„Wenn man die tiefen Strukturen der Objektivität in der Erkenntnis und in der psychiatrischen Praxis im neunzehnten Jahrhundert analysieren wollte, und zwar von Pinel bis hin zu Freud, müßte man genau zeigen, daß jene Objektivität vom Ursprung an eine Verdinglichung magischer Ordnung ist [...].“44
Unabhängig davon, wie solche Einschätzungen zu bewerten sein mögen, zeigt dies, dass Foucault das Paradigma von Fortschritt und Überwindung nicht bedingungslos anerkennt. Tatsächlich durchzieht das ganze Buch der Aufweis, wie ähnliche Praktiken des räumlichen Ausschlusses diskontinuierlich ihre Bedeutung wechselnde Integrationsfunktion haben. Etwa heißt es in Bezug auf die seit der Renaissance leer stehenden Leprosorien: „Die [...] Leprakranken sind fast vergessen, aber die Strukturen bleiben.“45 „Man hat an die alten Exkommunikationsriten, aber in der Welt der Produktion und des Handels, angeknüpft.“46 – so Foucault angesichts des in der Klassik entstehenden Gedankens ‚sozialer Nutzlosigkeit‘. Zwar muss die Entdeckung von Mythos und Magie in modernen Institutionen gemäß Wahnsinn und Gesellschaft nicht unbedingt die Perspektive ausschließen, sich davon nun endlich zu befreien. Aber jedenfalls lässt sich mit Foucaults Analyse in der Geschichte bisher ein auch nur annähernd evolutiv linear gespannter Faden kaum knüpfen. Dennoch sind hier keine wirklich substantiellen Brüche zu sehen. Zugleich hintertreibt Foucault deutlich eine essentialistische Identitätslogik, denn der Wahnsinn verändert sich im Reflex auf die spezifische historische Integration: „Durch einen Rückgriff, der nur seltsam ist, wenn man den Wahnsinn vor den ihn bezeichnenden und betreffenden Praktiken ansetzt, wird seine Situation ihm zur Natur.“47 Damit kristallisiert sich schon hier Foucaults kontextualistisch-konstruktivistische Position heraus, mit der er zeigt, dass es sehr verschiedene Weisen gibt, das Andere zu sein – und nichts berechtigt, die Moderne zu universalisieren. „Für die Ärzte ist es von großem Gewicht und eine wertvolle Hilfe, feststellen zu können, daß es unter der Sonne des Wahnsinns stets Halluzinationen, stets Delirien in den Reden der Unvernunft gegeben hat und daß man dieselben Ängste in allen diesen ruhelosen Herzen finden kann. [...] Für denjenigen, der sich eines Tages über den Sinn der Internierung und die Art, wie sie sich in die Reihe der medizinischen Einrichtungen hat hineinzwängen können, beunruhigen wollte, muß es eine gewisse Stärkung sein, wenn er davon träumen kann, daß auf jeden Fall es Irre waren, die man einschloß [...]. Den Wahnsinnigen [...] 44 45 46 47
Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 533. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 22f. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 91. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 455.
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fehlte fast nur noch die Bezeichnung Geisteskranke [...]. Wenn man eine solche Analyse vornimmt, erwirbt man auf billige Weise ein glückliches Bewußtsein einerseits hinsichtlich der Gerechtigkeit der Geschichte und andererseits hinsichtlich der Ewigkeit der Medizin.“48
All das macht aber deutlich, wie Foucault immer wieder darauf stößt, dass die nun herrschende Erfahrungsstruktur es nicht mehr erlaubt, den Wahnsinn direkt in seiner Wahrheit und ursprünglichen Reinheit zu erfassen. „Die Geschichte des Wahnsinns schreiben, wird also heißen: eine Strukturuntersuchung der historischen Gesamtheit – Vorstellungen, Institutionen, juristische und polizeiliche Maßnahmen, wissenschaftliche Begriffe – zu leisten, die einen Wahnsinn gefangenhält, dessen ungebändigter Zustand in sich selbst nie wiederhergestellt werden kann. Da uns jene unzugängliche, ursprüngliche Reinheit fehlt, muß die Strukturuntersuchung zu jener Entscheidung zurückgreifen, die Vernunft und Wahnsinn gleichzeitig trennt und verbindet.“49
Womöglich hofft Foucault, indem er jene Strukturen aufdeckt, „durch den Rückgriff auf den Punkt Null der Objektivierung des Wahnsinns als Krankheit gewissermaßen hinter den verdinglichenden Schleier moderner Erfahrungsmuster treten zu können“50 – so Kögler. Denn kennt man diese kulturellen Strukturierungen, dann besteht vielleicht die Aussicht, die eigentliche Erfahrung aufblitzen zu sehen – oder aber es geht darum, „die Quelle zu erfassen, von der aus Vernunft und Wahnsinn bestimmt und ausgesagt werden können“, eine Quelle, die jedoch nicht „vor und unter dem Cogito liegt“, wie Derrida über einen Großteil von Foucaults Arbeit positiv vermerkt.51 Demgemäß wäre Foucaults Anspruch zu verstehen: „Es bedurfte auch einer ziemlich neutralen Sprache, die relativ frei von wissenschaftlicher Terminologie, sozialen oder moralischen Optionen war, damit sie so nahe wie möglich an jene primitiv miteinander verketteten Worte herankommen konnte, und damit jene Distanz aufgehoben wurde, durch die sich der moderne Mensch gegen den Wahnsinn absichert.“52
Unter Umständen geht es dabei gar nicht so sehr darum, Erfahrungen außerhalb jeder Vernunft, jeder Sprache zu formulieren oder zu evozieren, sondern auf einer allgemeineren Ebene Ausgeschlossenes wiederzufinden. 48 49 50 51 52
Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 108f. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 13. Kögler 1994: 19. Beides Derrida 1989: 95. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 16.
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„Die Wahrnehmung, die der abendländische Mensch von seiner Zeit und seinem Raum hat, läßt eine Struktur der Ablehnung erscheinen, von der aus man eine Rede denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Sprache, eine Geste denunziert, indem man sagt, sie sei nicht Tat, und eine Gestalt denunziert, indem man sagt, sie habe kein Recht, in der Geschichte Platz zu nehmen.“53
So wäre ebenfalls Foucaults Suche nach einer Erfahrung nachzuvollziehen, die früher auch und gerade innerhalb der Sprache möglich war. „Die tragische und kosmische Erfahrung des Wahnsinns wird durch die exklusiven Privilegien eines kritischen Bewußtseins mit einer Maske versehen. Deshalb kann die klassische Erfahrung und durch sie hindurch die moderne Erfahrung des Wahnsinns nicht als eine vollständige Figur betrachtet werden, die schließlich dadurch zu ihrer positiven Wahrheit gelangte; sie ist eine fragmentarische Figur, die sich mißbräuchlich als erschöpfend gibt. Sie ist ein Ensemble, das durch alles, was ihm fehlt, das heißt durch alles, was es verbirgt, aus dem Gleichgewicht gebracht ist. Unter dem kritischen Bewußtsein des Wahnsinns und seinen philosophischen oder wissenschaftlichen, moralischen oder medizinischen Formen ist noch immer ein taubes tragisches Bewußtsein wach.“54
Foucault reflektiert hier ein Auseinandertreten von Sprache und Bild,55 das er noch heute für wirksam hält. Demnach kann sich Foucault wohl tatsächlich nicht darauf verlassen, mit der Sprache den Wahnsinn aussagen zu können. Zugleich birgt die Lokalisierung dieser Spaltung für ihn aber offenbar das Versprechen, die moderne Sprache über den Wahnsinn und damit die Geisteskrankheit zu beenden und zumindest eine Seinsweise des Wahnsinns zu evozieren, die auf eine Ebene vor dessen restriktiver Definition zurückgreift. Dies stützt sich auch darauf, dass Foucault bei aller Divergenz im untersuchten Zeitraum vier nicht reduzible Bewusstseinsformen vom Wahnsinn ausmacht, die prinzipiell gleichzeitig existieren, wenn auch jeweils in äußerst unterschiedlicher Gewichtung und Form: das kritische, das praktische, das enunziative und das analytische Bewusstsein.56 Daher besteht immer noch die Hoffnung auf anachronistische, im Verborgenen existierende andere Erfahrungen des Wahnsinns.57 Und de facto finden sich im gesamten Text Hinweise auf eine solchermaßen verstandene Befreiung des
53 54 55 56 57
Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 12. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 49. Vgl. auch Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 36. Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 157-169. Vgl. etwa auch Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 61.
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Wahnsinns.58 Es ist in Wahnsinn und Gesellschaft trotz aller Vorbehalte Foucaults Ziel – nachdem er die Abtrennung dieser so wichtigen Erfahrung ‚auf die Höhe der Sprache der Vernunft‘ bringen musste –, durch sein Buch dem Wahnsinn gerecht zu werden. „Ich mußte außerhalb jeder Beziehung zu einer psychiatrischen ‚Wahrheit‘ jene Worte und Texte für sich sprechen lassen, die von unterhalb der Sprache stammen und die nicht dazu geschaffen waren, zu einer Rede zu werden. Vielleicht ist, jedenfalls in meinen Augen, der wichtigste Teil dieser Arbeit der Anteil, den ich den in den Archiven gefundenen Texten überlassen habe. In den übrigen Teilen war es möglich, in einer Art rückhaltloser Relativität zu bleiben [...].“59
Wahnsinn und Gesellschaft ist also von der Hoffnung getragen, dass der Gegenstand der Untersuchung zur Sprache gebracht werden und letztlich für sich sprechen kann. Dem will Foucault methodisch zumindest dadurch Vorschub leisten, dass er es vermeidet, seinen Text unter die Vorzeichen des Autors zu stellen oder an der spezifischen vorgegebenen Realität zu orientieren. Dies erinnert an die oben genannte avantgardistische Literatur, wo die Sprache wie im Wahnsinn gleichsam reine Sprache ist, ohne Zugehörigkeit zu einem Subjekt und ohne Verweis auf ein Referenzobjekt.60
58 Als Hoffnungsträger gilt in Wahnsinn und Gesellschaft diesbezüglich expressis verbis auch die Phänomenologie des Geistes (von Hegel) (vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 70) – wie gesagt sollen Bezüge zur Phänomenologie nicht negiert werden; sie sind jedoch nicht Gegenstand der Untersuchung. Trotzdem ist dieser Hinweis insofern relevant, als Foucaults spätere Distanznahme und sein konsequenterer Rekurs auf den Strukturalismus dazu in Kontrast steht. 59 Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 15. 60 Foucault verweist unter anderem wieder besonders auf Artaud – vgl. dazu Wahnsinn und Gesellschaft ([1961]: 50).
Abschied vom Eigensinn des Anderen
Das vorige Kapitel sollte Foucaults Beschäftigung mit dem Anderen der westlichen Vernunft in Wahnsinn und Gesellschaft analysieren. Wie auch Lavagno feststellt,1 kann man demnach sagen, dass Foucault schon hier auf der Suche nach einer Ethnologie der eigenen Kultur ist. Des Weiteren war herauszuarbeiten, welche unterschiedlichen Gegenstandsebenen in diesem Buch zur Sprache kommen sollen und was als eigentliches Subjekt des Buches erscheinen soll. Die skizzierten methodologischen Schwierigkeiten lassen zwar fraglich erscheinen, ob mit Wahnsinn und Gesellschaft die von Foucault angestrebte Annäherung an ein ‚eigentliches Dasein‘ oder eine ‚ursprüngliche Erfahrung‘ erreicht wird. Wie zu sehen war, siedelt Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft das Andere strategisch aber auf mehreren Ebenen sprachlicher Konkretion an. Und er arbeitet am Aufweis mehrerer Möglichkeiten des Westens, die Grenze zum Anderen zu ziehen und sich darüber zu definieren. In jedem Fall führt Foucaults Bezug auf andere Bewusstseins- und Erfahrungsformen von Wahnsinn als jene der westlichen Moderne zu einer größeren Abstraktion von der gegenwärtigen westlichen Weltsicht sowie Praxis. Teilweise erscheint dadurch die Vernunft als der eigentliche Wahnsinn – und das nicht nur aus der Sicht der Un-Vernunft. Zum Tragen kommt hier eine für die Sozial- und Kulturanthropologie kennzeichnende Vertauschung der Vorzeichen im Hinblick auf das Andere, die Foucault innerhalb der Philosophie in die Nähe der Ethnologie rücken ließ und auch Anlass ist, seine Konzeption entsprechend zu thematisieren. Auf die Rolle des Fremden in seinen Arbeiten hat besonders Fink-Eitel Foucault befragt. Unter dem Titel Die Philosophie und die Wilden2 spitzt er die Analyse
1 2
Lavagno 2003: 229. Fink-Eitel 1994. Fink-Eitels Arbeit folgt vor allem dem Gesichtspunkt, unter dem
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von Foucaults Darstellung des Wahnsinns sowie anderer philosophischer Positionen auf die Frage zu, ob ihnen das Konzept des ‚edlen Wilden‘ oder des ‚bösen Wilden‘ zugrundeliegt. In einer ersten Phase findet Fink-Eitel bei Foucault in den Wahnsinnigen die ‚edlen Wilden‘ oder, sofern nur das kulturelle Konstrukt angesprochen wird, die ‚schlechthin Wilden‘ und dann in Nachfolge von Nietzsche den ‚bösen Wilden‘, „Ausdruck der reinen, unzivilisierten Natur des Menschen“.3 Kann es aber mehr als ein Wortspiel sein, dies als Foucaults Sicht ‚der Wilden‘ zu bezeichnen? Würde man Foucault damit nicht unterstellen, die bisherige Verknüpfung und Projektion zwischen verschiedenen Kategorien der Anderen westlicher Subjektivierung, etwa den Frauen oder Wahnsinnigen und ‚den Wilden‘ fortzuführen und nicht etwa nur solche Assoziationen kritisch aufzuweisen. Zu letzteren hat Foucault durch seine Beschreibung des Wahnsinns in der Moderne ja tatsächlich einen wichtigen Beitrag geleistet. Andererseits findet sich, wie soeben ausgeführt, bei Foucault der Versuch, die jeweils kulturelle Konzeption zu hintergehen und im Wahnsinn zu einer ursprünglichen Erfahrung zu gelangen – aber auch das ist wohl nicht Foucaults Sichtweise ‚der Wilden‘. Es gibt keinerlei Anzeichen dafür, dass Foucault jemals gemeint hat, diese seien näher am Ursprung der Kultur und damit auch näher der Natur, oder ihre Sprache könne außerhalb einer – wenn auch anderen – Rationalität stehen, sodass sich auf dieselbe Weise wie beim Wahnsinn über sie ein Zugang zu einer authentischen und womöglich gleichsam vorkulturellen Erfahrung böte. Allerdings waren solche Figurationen auch später Thema seiner Analysen bestimmter historischer Diskurse.4 In seinem eigenen Denken lässt sich hingegen selbst ein metaphorischer Gebrauch dieser Diktion schwerlich finden. Dies begründet allein schon seine strikte Ablehnung einer entsprechenden Geschichtlichkeit – ein Thema, das noch weiter ausgeführt wird. Aber bereits in Wahnsinn und Gesellschaft ist auffällig, dass Foucault als typisches Charakteristikum der Moderne kritisch vermerkt: „der Wahnsinn war seit dieser Epoche in das zeitliche Schicksal des Menschen eingeschrieben“5, denn „die Kenntnis vom Wahn-
3 4 5
Fremdes (ent-)steht, welche Hauptstrategien sich dabei aufzeigen lassen (vgl. FinkEitel 1994: 56ff.). Dabei geht er wesentlich von den bei Erdheim (1988: 18ff.) beschriebenen vier Möglichkeiten der Sicht des Fremden aus und untersucht besonders die Gründe, welche die einzelnen Philosophen zu verschiedenen Sichtweisen des Fremden drängen. Fink-Eitel 1994: 13. Vgl. die ausführliche Untersuchung in der Vorlesung vom 3. März 1976 ([1976]: 224ff.). Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 386.
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sinn versucht, ihn [...] auf immer präzisere Weise in die Entwicklungsrichtung der Kultur und der Geschichte einzuordnen“6. Auch das ‚reine Sein der Sprache‘ wird Foucault kaum als Gegebenheit ‚der Wilden‘ schlechthin generalisieren wollen – obwohl in dieser Hinsicht die Lage etwas komplexer ist, wie noch zu zeigen bleibt. Wenn auch das, was Foucault mit dem Wahnsinn als ‚ursprüngliches Sein‘ zum Ausdruck bringen wollte, nicht so ohne weiteres dem entspricht, was Foucault an die Position der ‚Wilden‘ knüpft – die in meiner Analyse noch einiges an Explikation verlangt –, ist Wahnsinn und Gesellschaft in gewisser Hinsicht doch die anthropologischste unter Foucaults Arbeiten. Danach vollzieht sich nämlich ein Bruch in der Wahrnehmung des Anderen, wodurch dieses in beiden Formen an Dimension verliert. Foucault verzichtet fortan unmissverständlich auf jeglichen Annäherungsversuch an eine kulturunabhängige Realität, wie es das ‚ursprüngliche Sein‘ des Wahnsinns war. Zwar thematisiert die Geburt der Klinik, ähnlich Wahnsinn und Gesellschaft, immer noch eine fundamentale Erfahrung vor den Gewissheiten, „dort, wo diese Gewißheiten entstehen und sich rechtfertigen“7. Gegenstand ist „die stumme Konfiguration, auf der die Sprache aufruht“8, also ein Bereich, der nicht im engeren Sinne Sprache ist. Dies soll über die Ebene erschlossen werden, wo „die ‚Dinge‘ und die ‚Wörter‘ noch nicht getrennt sind, wo die Weise des Sehens und die Weise des Sagens auf der Ebene der Sprache noch eins sind“9. Was Foucault in der Geburt der Klinik herausarbeitet, ist, wie sich „das Verhältnis des Signifikanten zum Signifikat [...] auf allen Ebenen der medizinischen Erfahrung“10 umgestaltet hat. Aber von einem erkenntnistheoretischen Zugang wie in Wahnsinn und Gesellschaft distanziert er sich ganz klar und charakterisiert das folgendermaßen: „Sehr wahrscheinlich gehören wir einem Zeitalter der Kritik an [...]. Unser Schicksal ist es, daß unser Reflexionsstand uns unwiderruflich von einer ursprünglichen Sprache fernhält.“11 Darüber hinaus ändert sich der wissenschaftliche Zugang zu anderen kulturellen Positivitäten. Und Foucault wendet sich dann in der Ordnung der Dinge überhaupt vom Anderen innerhalb der (eigenen) Kultur ab. 6 7 8 9 10 11
Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 370. Die Geburt der Klinik [1963]: 8. Die Geburt der Klinik [1963]: 9. Die Geburt der Klinik [1963]: 9. Die Geburt der Klinik [1963]: 16. Die Geburt der Klinik [1963]: 13. Vgl. aber in der Vorrede zur Überschreitung ([1963]: 42f.) weiterhin die Hoffnung auf eine ‚leere Sprache‘ etwa in der Literatur.
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Diese Verschiebungen haben zur Folge, dass Foucault sich mit gewissen typisch ethnologischen Problemen, die mit dem Ideal einer Innensicht verknüpft sind, nicht mehr konfrontieren muss. Somit ist aber auf diesem Weg auch die in seiner Methodologie angestrebte Außenperspektive gegenüber der eigenen Kultur nicht möglich. Obwohl sich meines Erachtens zwischen den beiden Arbeiten der wesentlichste Umbruch in Foucaults Denken vollzogen hat, kann als eine gemeinsame Basis von Wahnsinn und Gesellschaft und der Ordnung der Dinge gelten, dass es in beiden Untersuchungen um eine Relativierung bestehender Positionen des Anderen und des Eigenen oder des Gleichen, um Ausschluss und Integration geht. Und die Bücher ergänzen sich in dieser Hinsicht thematisch. „Die Geschichte des Wahnsinns wäre die Geschichte des Anderen [Herv. i.O.], dessen, das für eine Zivilisation gleichzeitig innerhalb und außerhalb steht, also auszuschließen ist (um die innere Gefahr zu bannen), aber indem man es einschließt (um seine Andersartigkeit zu reduzieren). Die Geschichte der Ordnung der Dinge wäre die Geschichte des Gleichen (du Même) [Herv. i.O.], das für eine Zivilisation gleichzeitig dispers und verwandt ist, also durch Markierungen zu unterscheiden und in Identitäten aufzufassen ist.“12
Die Ordnung der Dinge wird somit als eine zu Wahnsinn und Gesellschaft komplementäre Analyse ‚des Gleichen‘ vorgestellt. Und trotz des mehrfachen Abschieds vom Anderen bleibt dieses in der Ordnung der Dinge präsent, weil Foucault hier und in der darauf folgenden Archäologie des Wissens explizit theoretisch und methodisch auf Alternativen zur westlichen Moderne setzt. Man kann, wie Fink-Eitel, die Veränderungen bei Foucault unter einem Prinzip zusammenfassen wollen – etwa jenem der Umkehrung.13 Damit folgt FinkEitel einem Prinzip der Kritik, das Foucault selbst in der Ordnung des Diskurses expliziert hat.14 Auf die Frage, wie Foucault zu seinen neuen Positionen und zu seinem ethnologischen Außen kommt und wie dieses aussieht, antwortet FinkEitel daher, dass Foucault, veranlasst durch die objektiven Lebensverhältnisse, seine Kritiken in Form von Umkehrungen, einem Produkt der unbewussten Geistestätigkeit, leistet.15 Mit Foucault gedacht ist es allerdings nicht ganz unproblematisch, eine Theorie oder Methode so sehr auf ihren gesellschaftlichen sowie insbesondere auch individuellen Grund festzulegen – nämlich die ‚ohnmächtige Negation des Me-
12 13 14 15
Die Ordnung der Dinge [1966]: 27. Vgl. Fink-Eitel 1994: 203-298. Vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 35f., 41f. Vgl. z.B. Fink-Eitel 1994: 338, 339, 340.
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lancholikers‘.16 Problematisch könnte dies im Sinne von Foucault auch sein, weil damit eine neuerliche Betonung von Subjektivität in Gang gesetzt wird und weil dadurch zugleich die Positionierung im wissenschaftsinternen Argumentationszusammenhang oder die aktuelle politische Relevanz hintangestellt werden können. Zum anderen ist fragwürdig, ob dieses Konzept die Veränderungen in Foucaults Denken generell beschreiben kann. Zwar lässt sich offensichtlich jede Veränderung binär auch als Umkehrung lesen, insofern das Vorherige mit negativen Vorzeichen versehen distanziert wird. Aber die Beschreibung von Neuorientierungen wie jenen zwischen Renaissance, Klassik und Moderne lässt doch vielfältigere Modifikationen als bloße Umkehrungen erscheinen – und in den Kontext solcher Differenzierungen stellt Foucault auch seine eigenen Verortungen. Foucaults Betrachtung des historischen Wandels hat Veyne17 anschaulich mit dem Blick durch ein Kaleidoskop verglichen. Dennoch spielt die Umkehrung als Option der Kritik gerade für den Stellenwert der Ethnologie bei Foucault sehr wohl eine bedeutende Rolle. Insofern bleibt Fink-Eitels Verweis auf die Relevanz dieses Mechanismus für eine Untersuchung der ethnologischen Perspektive von Foucaults Kritik ein wichtiger Bezugspunkt.
16 Fink-Eitel (1994) spürt unter anderem sozialen Bedingungen verschiedener Sichtweisen des Fremden nach. Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Melancholie – nicht nur individuell und pathologisch, sondern als ein gesellschaftstheoretisches Konzept verstanden. In diesem Sinn geht Fink-Eitel auch auf die Bedeutung der Melancholie bei Lévi-Strauss (seine eigene und die der Nambikwara) ein. 17 Vgl. Veyne (1981: 42), zitiert bei Habermas (1993: 297).
Die Ordnung der Dinge – Kritik des Gleichen
Der 1966 erschienene Text Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines stellt sich zunächst als eine Dekonstruktionsarbeit dar. Foucault will die Subjektphilosophie konsequent zu Ende denken und den Mythen der anthropologischen Erfahrungsstruktur, die seiner Ansicht nach unsere Episteme wesentlich bestimmen, ihre Evidenz nehmen. Wie schon in Wahnsinn und Gesellschaft erstellt Foucault auch hier seine Ethnographie der Moderne, insbesondere der Humanwissenschaften, mit Hilfe eines Distanzierungseffekts, den er durch Gegenüberstellung und Vergleich von Teilen des gegenwärtigen westlichen, wissenschaftlichen Denkmodells mit anderen Wissensordnungen erreicht. Die Archäologie als Foucaults Methode erweist deren Kontingenz, weil die Wissensordnungen nicht referentiell bewertet werden und sich Umbrüche zudem nicht aus den inhärenten Problemen eines jeweiligen Denkmodells erklären, wie ein Vergleich der modernen Episteme mit der gemäß Foucault viel kohärenteren Episteme der Klassik zeigt. Die Analyse gilt also den ‚tatsächlichen‘ Transformationen, ohne dafür letztlich eine Begründung oder gar eine historische Logik zu liefern. Die Ordnung der Dinge, so der deutsche Titel, ist in Hinblick auf Foucaults ethnologische Positionierung ein besonders aufschlussreicher Text. Dies auch, weil er nicht nur dekonstruiert, sondern in der Analyse verschiedener Epistemen seine eigene theoretisch-methodische Perspektive – die er nun an ein konkret expliziertes Ethnologiekonzept anbindet – begründen will. Und zugleich nutzt er für seine Operationen bereits ebendiesen ethnologischen Zugang. Den zentralen Fokus der folgenden Darstellung bildet demnach Foucaults Bezug auf die Ethnologie im Rahmen seiner Kritik des ‚Gleichen‘. Um das Konzept von Foucaults kritischer Gegenposition nachvollziehen zu können, ist es notwendig, nach Wahnsinn und Gesellschaft die Vorbehalte gegenüber dem modernen Subjekt nun auch auf epistemologischer Ebene zu verfolgen. Allerdings soll nicht die große Kontroverse um das Verschwinden des Subjekts rekapituliert oder diese Neupositionierung in der Vielzahl ihrer Auswirkungen beurteilt wer-
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den. Diese Themen finden sich dann in der Fragestellung des zweiten Teils. Vorerst geht es primär darum, die Logik der unterschiedlichen Epistemen zu präsentieren, um dann erklären zu können, welche Verortung Foucault auf der diachronen Achse für seinen theoretisch-methodischen Ansatz in Abhebung von den Humanwissenschaften im Feld der empirischen Wissenschaften vornimmt. Foucaults Vorhaben in der Ordnung der Dinge ist, die Episteme, als den kulturellen Ordnungsraum freizulegen, dessen unbewusste Gesetzmäßigkeiten die Erkenntnisse strukturieren. Dabei setzt Foucault seine Methode in Kontrast zur Ideengeschichte und bisherigen Wissenschaftsgeschichte, wo „diejenigen [Disziplinen], die die Lebewesen, die Sprachen oder die Ökonomie betreffen – [...] als zu durchtränkt von empirischem Denken, als den Unbestimmtheiten des Zufalls oder der Einfälle, als uralten Überlieferungen und äußeren Einwirkungen zu sehr ausgesetzt betrachtet [werden], als daß ihre Geschichte anders als unregelmäßig sein könnte.“1
Dem hält er seine Ausgangshypothese entgegen: Auch empirisches Wissen besitzt zu einer bestimmten Zeit und in einer bestimmten Kultur Regelmäßigkeiten. Das sei das Ungewöhnliche und Neue seiner Arbeit.2 Es muss aber in diesem Zusammenhang sogleich nochmals betont werden, dass Foucault dem historischen Ablauf keine Notwendigkeit unterstellt und die Episteme auch nicht explizit auf andere Bereiche der Kultur zurückführt oder damit verknüpft. Sondern Foucault hält bloß Gemeinsamkeiten, Isomorpheme zwischen den verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen fest. So erreicht er die Ebene der Episteme. „Die Episteme ist keine Form von Erkenntnis und kein Typ von Rationalität, die, indem sie die verschiedensten Wissenschaften durchdringt, die souveräne Einheit eines Subjekts, eines Geistes oder eines Zeitalters manifestierte; es ist die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wissenschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelmäßigkeiten analysiert.“3
Foucault wollte also nicht, wie in der Wissenschaftsgeschichte (damals) üblich, „die Ergebnisse und Prozesse des wissenschaftlichen Bewußtseins“ beschreiben und auch nicht Postulate der Erkenntnisse, das Unbewusste der Wissenschaft im Sinne des sie von Außen Bestimmenden oder die internen Hindernisse, also eine Geschichte dessen, was sie stört, aufweisen; sondern er wollte „ein positives Un1 2 3
Im 1970 verfassten Vorwort zur deutschen Ausgabe der Ordnung der Dinge ([1966]: 9). Wenn dies damals neu war, so zeigt die Wissenschaftsforschung heute, wie weit sie in die von Foucault gezeichnete Richtung gegangen ist. Archäologie des Wissens [1969]: 273.
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bewußtes [Herv. i.O.] des Wissens“ erstellen, das heißt die unbewussten Regeln, nach denen das Wissen als Beziehungsgefüge aufgebaut ist.4 Die Ebene, auf der sich diese Gesetze finden lassen, nennt Foucault ‚archäologisch‘. Diese Ebene ist nicht die der einzelnen Forschenden als wissender und handelnder Subjekte, sondern die Archäologie hat das konkret in der Wissenschaft Vorausgesetzte herauszuarbeiten. Ganz dezidiert grenzt Foucault sein Unterfangen vom phänomenologischen Weg ab, „der dem beobachtenden Subjekt absolute Priorität einräumt, der einem Handeln eine grundlegende Rolle zuschreibt, der seinen eigenen Standpunkt an den Ursprung aller Historizität stellt – kurz, der zu einem transzendentalen Bewußtsein führt“5. Die Archäologie wissenschaftlicher Diskurse sollte dagegen eine „Theorie diskursiver Praxis“ sein.6 Kögler7 fasst kurz Charakteristika der Episteme zusammen: Epistemische Strukturen sind nie allgemeine Erkenntnisbedingungen, sondern immer konkret kulturspezifisch und werden durch Brüche voneinander getrennt. Sie bilden eine implizite, nicht notwendig bewusste Hintergrundstruktur der (wissenschaftlichen) Symbol- und Sprachbildung. Diese Ordnung organisiert intern8 und hierarchisch mit bestimmten Erkenntnisprinzipien die Aussagen, sodass ihr laut Kögler eine konstitutive Weltbildfunktion zukommt. Foucault hätte sich gegen diese letzte Zuschreibung sicher verwahrt, aber es ist sehr wohl zu argumentieren, dass die Episteme bei Foucault eine solchermaßen umfassende Breite hat, und Foucaults Abgrenzung von diesem – allerdings von jeglichem konstituierenden und identitätsstiftenden Subjekt gereinigten – Begriff in der Ordnung der Dinge nur schwer nachvollziehbar ist. Und in einem Interview äußert er sich entsetzt darüber, dass es eine Geschichte der Philosophie unabhängig etwa von jener der Ideen oder der Einzelwissenschaften geben soll, „Deshalb habe ich versucht – natürlich in einem ein bißchen eigentümlichen Stil –, die Geschichte nun nicht des Denkens allgemein, sondern alles dessen zu schreiben, was in einer Kultur Gedanken enthält, alles dessen, worin es Gedanken gibt, denn Gedanken gibt es in der Philosophie, aber auch in einem Roman, in einer Jurisprudenz, im Recht, selbst in einem Verwaltungssystem, in einem Gefängnis.“9 4 5
6 7 8 9
Die Ordnung der Dinge [1966]: 11. Die Ordnung der Dinge [1966]: 15. Auch etwa Lebrun (1991) hebt hervor, dass Die Ordnung der Dinge als philosophische Kampfschrift gegen die Phänomenologie eine neue Methode in Gang setzen will. Die Ordnung der Dinge [1966]: 15. Vgl. Kögler 1994: 40f. Ergänzend wäre vielleicht hier einzufügen, dass ‚intern‘ hier nicht heißen soll, es gäbe keinen Bezug nach Außen. Die Ordnung der Dinge. Ein Gespräch mit Raymond Bellour [1966]: 156.
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Diese umfassende Bestimmung scheint eigentlich dem für die Anthropologie lange Zeit typischen Kulturbegriff zu entsprechen. Und es ist nicht auf den ersten Blick evident, inwiefern sich diese Auffassung von einem historischen Relativismus humanwissenschaftlicher Prägung unterscheiden soll. In der Archäologie des Wissens betont Foucault dann klarer die Partikularität seiner Untersuchungen und es wird auch deutlicher, wie die konstitutive Rolle der Differenz oder Diskontinuität dem einheitlichen Charakter des Weltbildes widerspricht. Hier ist in jedem Fall einer jener Punkte, denen in Hinsicht auf Foucaults Relevanz für die Anthropologie nachzuspüren wäre. Obwohl die Sozial- und Kulturanthropologie als Humanwissenschaft bei Foucault nicht vorkommt, sondern im Gegenteil am Ende des Buches die Ethnologie in der Hoffnung auf einen neuerlichen Umbruch als Vorbote einer künftigen Episteme positiv als Gegenwissenschaft eingeführt wird, kann es trotzdem relevant sein, die Anthropologie anhand von Foucaults Kritik an der Episteme der Moderne und ihrer Konzeption des Menschen zu überdenken. Und es fragt sich, ob durch Foucaults Kritik die verschiedenen Richtungen der Kultur- und Sozialanthropologie mit ihren Auseinandersetzungen nicht insgesamt in neuem Licht erscheinen. Das umso mehr, als diese Disziplin ja nicht nur eines der humanwissenschaftlichen Gebiete betrifft, sondern sich über alle Bereiche spannt und darüberhinaus zum Teil die empirischen Wissenschaften umfasst. Natürlich muss aber auch hinterfragt werden, ob die von Foucault angestrebte neue Episteme für die Anthropologie wirklich brauchbar und wünschenswert ist, selbst wenn er sich dafür auf die Ethnologie beruft – ein Thema, das besonders im letzten Kapitel angeschnitten wird. Zugleich ermöglicht ein Einblick in die Ordnung der Dinge eine klarere Einschätzung der Stoßrichtung jener archäologischen Begrifflichkeit, wie sie insbesondere mit der Diskursanalyse unter anderem in der Anthropologie so wirksam geworden ist.10 Aber auch die in der anthropologischen Foucault-Rezeption noch prominenteren Machtanalysen, die stärker unter den Vorzeichen einer genealogischen Perspektive stehen, beruhen in vieler Hinsicht auf den Voraussetzungen der Ordnung der Dinge.
10 Allerdings hat der Rekurs auf die Diskursanalyse eher den Charakter einer grundlegenden Orientierung des Forschungsvorhabens, denn den einer Befolgung bestimmter konkreter Methodenschritte. Dies ist sicherlich kein Spezifikum allein der anthropologischen Foucault-Rezeption – wenn auch in anderen Bereichen die Ausarbeitung der Foucault’schen Vorgaben zu einer methodischen Forschungsanleitung intensiver angegangen wurde. Vgl. zu Vielfalt und Vereinheitlichung der an Foucault orientierten Diskursanalysen Allolio-Näcke (2010).
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U NIVERSELLE ÄHNLICHKEIT Die komprimierte Darstellung der Episteme der Renaissance11 soll neben dem Vergnügen, ein von der gegenwärtigen westlichen Wissenschaft respektive modernen Episteme sehr verschiedenes Denken kennen zu lernen, verdeutlichen, wie Foucault mit Diversität umgeht, vor allem wie streng er seinen ontologischen Relativismus verfolgt. Zugleich wird mit dem Bezug auf die Renaissance die methodische Relevanz der Abgrenzung bei Foucault hervorgekehrt. Foucaults archäologische Untersuchung stellt mit Ausgang der Renaissance eine „ungeheure Reorganisation der Kultur“12 fest. Dadurch existieren (im Westen) dann die Zeichen im Raum der Repräsentation. In der Renaissance hingegen mischen sich Zeichen und Dinge. Zeichen und Bezeichnetes sind von derselben Natur, womit zusammenhängt, dass auch Beobachtetes und Berichtetes nicht deutlich unterschieden werden. Die Sprache und die Zeichen sind also nicht willkürlich und keine Gesamtheit (in der die Dinge sich spiegeln), sondern bilden zusammen mit dem Bezeichneten ein Zeichennetz. Und die Renaissance bezieht sich zumindest für die Zeit vor der Bestrafung in Babel und der Sintflut auf eine Sprache, die ein wahres Zeichen der Dinge war, weil sie ihnen ähnelte, und auf eine Schrift, die aus Zeichen der Natur bestand und die Kraft hatte, direkt einzuwirken. „lieber so sag mir doch, woher kompt es, das ein schlang in Schweiz, Algeu oder Schwaben die griechische sprach, osy, osya osy verstehet? [...] auf welchen universiteten haben sie so vil studirt, das sie so sie solche wort hören mit dem schwanz ire oren verstopfen, damit die wort nit von inen gehört werden sollen? dan so balt sie die wort hören, von stunt ligt sie wider ir natur und art still, tut dem menschen weder mit vergift noch stechen keinen schaden. [...] dan so du dise wort auf ein pergament oder papir schreibest zu seiner zeit und legst es auf ein schlangen, so bleibt sie gleicher gestalt, als ob du die wort laut dazu redest.“13
Eine solche, nun aber teilweise verlorene Einheit zwischen Zeichen und Bezeichnetem legt den Gedanke nahe, dass unterhalb des Entzifferten ein Text verläuft, der eins mit der Welt ist. Dies führt zu einer ewigen Anhäufung und Überlagerung von Kommentaren, die diesen ersten Text entziffern wollen.
11 Vgl. in der Ordnung der Dinge [1966]: 46-77. 12 Die Ordnung der Dinge [1966]: 76. 13 Die Ordnung der Dinge ([1966]: 64), von Foucault zitiert aus: Paracelsus: „Archidoxis magicae libri VII“ in: ders.: Sämtliche Werke Bd. 14: 438.
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Dieses Sein der Zeichen trennt den Westen heute radikal von der Renaissance. Nur die Literatur der Moderne bildet, wie schon in Wahnsinn und Gesellschaft, eine Art „‚Gegendiskurs‘“ und geht von der repräsentativen oder Bedeutung schaffenden Funktion der Sprache zurück zu jenem „rohen Sein“.14 Zugleich stellen dieser Gegendiskurs und die ihm entsprechende wissenschaftliche Bewegung der Gegenwissenschaften synchron wie diachron den aktuellen Bruch dar, durch den die subjektorientierten Humanwissenschaften vielleicht beendet werden – so weiterhin die Hoffnung von Foucault. Das beschriebene Verhältnis zwischen Sprache und Dingen ist aber nur eine Oberflächenwirkung der Episteme der Renaissance. Die Ordnung des gesamten epistemischen Raums war in der Renaissance durch das Prinzip der Ähnlichkeit organisiert. Die Ähnlichkeiten sind vielgestaltig: Ähnlichkeit der natürlichen Zwillingshaftigkeit, etwa von Sonne und Auge; oder Ähnlichkeit durch den Ort – die Seele assimiliert sich dem Körper, während dieser von den seelischen Leidenschaften bewegt wird; dann Ähnlichkeit als Analogie, die von einem Punkt aus ein unendliches System von Verwandtschaften herstellen kann – so wiederholt sich das Verhältnis von Sternen zum Himmel zwischen Gras und Erde, Mineralien und Felsen, Sinnesorganen und Gesicht; eine besonders starke Kraft der Ähnlichkeit ist die Sympathie, die beispielsweise die Sonnenblume die Bewegung der Sonne nachvollziehen lässt – gäbe es nicht die Antipathie, so würde diese Kraft alles einander ident machen, zu einer homogenen Masse auf einen Punkt reduzieren. Es existiert keine andere Verbindung als die Ähnlichkeit zwischen den Dingen. Eine Ähnlichkeit verweist auf eine andere Ähnlichkeit und wird von einer Ähnlichkeit anderen Typs bestätigt. Dieselbe Beziehung besteht aber eben auch zwischen Zeichen und Gegenstand. So wird auf dieser Ebene das Wissen als Interpretation von Zeichen begriffen, die sich durch Ähnlichkeit aufeinander beziehen und den Gegenstand bezeichnen, indem sie ihm ähneln. Wie aber kann der Mensch die Ähnlichkeiten erkennen? Dies weiß man wiederum dank einer Analogie. So wie der Mensch durch seine Stimme die Bewegungen seines Verstehens manifestiert, so sprechen nämlich die Gräser – zum Beispiel zum neugierigen Arzt – durch ihre Signatur. Der Eisenhut kündigt seine heilsame Wirkung bei Augenkrankheiten durch die Form seiner Samen an: dunkle Kugeln, teilweise von einer weißen Haut bedeckt. Die Natur trägt also Zeichen, die der Mensch nur zu lesen braucht und die meist auch auf ihn weisen.
14 Die Ordnung der Dinge [1966]: 76.
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Bei all diesen Ähnlichkeiten fällt auf, dass der Mensch und sein Körper als mögliche Hälfte einer Ähnlichkeit sozusagen überdeterminiert sind. Das Wissen der Renaissance ruht allerdings auf „sandigem Boden“, denn die einzig mögliche Verbindungsform zwischen den Bausteinen des Wissens ist die Addition.15 Eine Ähnlichkeit bleibt niemals in sich selbst fest und kann nur durch Akkumulation von Ähnlichkeiten bestätigt werden. Und diese interpretative Erkenntnis von Ähnlichkeiten ist eine unendliche, notwendig unvollendete Aufgabe. Dagegen wird in der Klassik eine vollständige Aufzählung möglich werden, als erschöpfende Bestandsaufnahme, als Kategorisierung oder als Analyse einzelner Punkte einer Serie. Während das Wissen der Renaissance durch Bestätigung immer größere Wahrscheinlichkeit erreichen konnte, gibt es in der Klassik Gewissheit und absolut sichere Erkenntnis. Sieht Foucault hier also doch eine progressive oder probleminduzierte Weiterentwicklung? „Es ist wohl möglich, und auch das wäre noch zu überprüfen, daß eine Wissenschaft aus einer anderen geboren wird, aber nie kann eine Wissenschaft aus dem Fehlen, dem Versagen einer Wissenschaft oder dem Hindernis, auf das die erste trifft, entstehen.“16
Für eine Archäologie des Wissens, die von den herkömmlichen Erklärungen für historische Veränderungen unbefriedigt ist, stellt die Tatsache, „daß eine Kultur mitunter in einigen Jahren aufhört zu denken, wie sie es bis dahin getan hat“17, ein radikales Ereignis dar, das sie vorerst direkt und positiv beschreiben will. Die Frage nach dem Warum, also vor allem der Beziehung des Denkens zu den anderen Bereichen der Kultur zu stellen, sei noch zu früh. Foucault geht es auf der Ebene der Episteme daher nur um die Modifikationen, die das Wissen selbst zeigt. Aber auch hier will die Archäologie nicht Gesetze erkennen und Veränderungen erklären, sondern nur die plötzlichen Transformationen beschreiben. „Allein das Denken, das sich selbst bei der Wurzel seiner Geschichte packte, könnte ohne jeden Zweifel begründen, was in ihm selbst die einsame Wahrheit dieses Ereignisses gewesen ist. Die Archäologie muß das Ereignis gemäß seiner manifesten Dispositionen durchlaufen.“18
15 16 17 18
Die Ordnung der Dinge [1966]: 61. Die Ordnung der Dinge [1966]: 169. Die Ordnung der Dinge [1966]: 83. Die Ordnung der Dinge [1966]: 269f.
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Foucault steht in dieser Hinsicht in der Linie französischer Epistemologen wie Bachelard und Canguilhem und will nicht kausal begründen, weil so das ‚Phänomen des Neuen‘ verwischt würde.19 Der Grund für diese Weigerung ist gemäß Dreyfus und Rabinow die Tatsache, „daß jede Erklärung nur innerhalb eines spezifischen Bezugsrahmens, also innerhalb einer spezifischen episteme, sinnfällig wäre“20. Sicherlich kann Foucault mit seiner Darstellungsweise die für eine Kausalität notwendigen Realitätsunterstellungen vermeiden. Andererseits gehört wohl auch die Darstellung plötzlich auftauchender und grundlegender Umbrüche zu einer bestimmten Episteme und hat hier ihren Sinn – was Foucault auch nicht negiert. Den Rahmen seiner durch explikatorische Abstinenz gewonnenen Offenheit für Vielfalt bilden also die produktiven Vorgaben seiner spezifischen Methode und Theorie. Hingegen erkennt Foucault ja auf synchroner Ebene sehr wohl bestimmte Muster, formale Gesetzmäßigkeiten und, wie man bezüglich der Humanwissenschaften noch sehen wird, auch (kausale) Abhängigkeiten – obwohl er, wie im Vorwort 1970 beschrieben, anfangs gedacht hätte, dass die Veränderungen auch im wissenschaftlichen Diskurs verschieden schnell und variabel verliefen. Auffällig ist einerseits, dass sich in Foucaults archäologischer Perspektive Diachronie und Synchronie ineinander aufzulösen beginnen, jedoch in umgekehrter Richtung als im unilinearen (nicht-biologistischen) Evolutionismus. Dabei ist aber zum anderen bemerkenswert, dass der von Foucault eingebrachte Transformationsbegriff diachron gerade gegenteilig wirkt als in der Anthropologie – und auch so intendiert ist. Während er hier zwischen disparaten Anderen eine grundlegende Verbindung schuf, zersplittert er das historische Subjekt. Diese Sicht- und Herangehensweise war besonders für die Philosophie und Geschichtswissenschaft neu und radikal und ist noch lange nicht ‚bewältigt‘. Und dennoch ist die Figur des Bruchs bei Foucault nicht so trennend und so radikal, wie in weiten Bereichen der historisch-philosophischen Reflexion behauptet. Denn die Charakterisierung der Renaissance im Verhältnis zur Klassik, wie sie Foucault vornimmt, zeigt, dass auch hier einschneidende Veränderungen stattfanden – und er stellt diese auch nicht gegenüber den mit der Moderne verbundenen Transformationen zurück, indem er etwa einen Bruch zwischen Tradition und Moderne in den Vordergrund rücken würde.
19 Vgl. dazu Kögler 1994: 50. 20 Dreyfus; Rabinow 1994: 52.
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D IFFERENTIELLE G LEICHHEIT In der Klassik erregt Ähnlichkeit Misstrauen und gilt als trügerisch, da man beim Vergleich Gleiches findet, wo es gar nicht ist. Wesentlich sind jetzt Identitäten und Unterschiede.21 Wer die Unterschiede nicht kennt, für wen alles ähnlich ist, verfehlt die Realität – wie es Don Quijote ergeht. Damit verschwindet auch die Möglichkeit der Renaissance, im Wahnsinn Wahrheiten zu entdecken. Mit dem Verschwinden der Rolle der Ähnlichkeit ändert sich auch das Verhältnis von Dingen und Zeichen tief greifend. Als wesentlichstes Element der Wissensgrundlage der Klassik sieht Foucault die Repräsentation und damit verknüpft eine neue Zeichentheorie. Die Beziehung des Zeichens zu seinem Inhalt wird in der Klassik nicht in der Ordnung der Dinge selbst gesichert. Der Name der Dinge, ebenso wie die Sprache haben nicht mehr ihre eigene Existenz als „eine der Gestalten der Welt“: „Die Sprache zieht sich aus der Mitte der Wesen zurück, um in ihr Zeitalter der Transparenz und Neutralität einzutreten.“22 Die Zeichen repräsentieren unabhängig von Ähnlichkeit durch Konvention. Es gibt daher keine unbekannten Zeichen, insofern als es sie erst von „dem Augenblick an gibt, in dem die Möglichkeit einer substitutiven Beziehung zwischen zwei bereits bekannten [Herv. i.O.] Elementen erkannt [Herv. i.O.] wird. Das Zeichen wartet nicht schweigsam das Kommen desjenigen ab, der es erkennen kann: es bildet sich stets nur durch einen Akt der Erkenntnis.“23
Im Gegensatz zu Moderne und Renaissance ist die klassische Zeichentheorie (wie etwa in der Logik von Port-Royal) dualistisch. Zwischen Zeichen und Inhalt gibt es kein vermittelndes Element und keine ‚Bedeutung‘ als konstituierenden Akt des Bewusstseins, da die Phänomene nur in der Repräsentation bestehen. Zeichen und Idee sind in der Klassik vollkommen transparent füreinander und durch ihre wechselseitige Repräsentation verbunden. Die Natur des Zeichens besteht darin, die Vorstellung des Repräsentierten hervorzurufen. Der Mensch mit seiner Kraft, sich Repräsentationen zu geben, existiert im achtzehnten Jahrhundert noch nicht – wie Deleuze mit Bezug auf die Ergebnisse der Ordnung der Dinge betont.24 Die Repräsentation kann zwar sich selbst als
21 Zur Klassik vgl. in der Ordnung der Dinge ([1966]: 78-265), zur grundlegenden Transformation gegenüber der Renaissance vgl. in der Ordnung der Dinge ([1966]: v.a. 78-113). 22 Die Ordnung der Dinge [1966]: 89. 23 Die Ordnung der Dinge [1966]: 93. 24 Vgl. Deleuze 1977: 15.
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Repräsentation repräsentieren, aber nicht das repräsentierende Subjekt. Oder mit Dreyfus und Rabinow ausgedrückt: „Der Mensch klärte, aber er schuf nicht; er war keine transzendentale Quelle der Bedeutung.“25 Das impliziert aber umgekehrt, dass sich angesichts der Transparenz der Wörter und der Dinge im klassischen Rationalismus eine hermeneutische Anstrengung erübrigt. Ebenso gibt es auch keine autochthone Bedeutung der Dinge und keinen impliziten wiederherzustellenden Diskurs. Es ist die Sprache, die zum Denken wie das Reflektierte zum Unmittelbaren steht. Wichtig ist weniger die zwischenmenschliche Kommunikationsfunktion, sondern die Repräsentation kommuniziert mit der Reflexion notwendig über die Sprache. Da aber, wie Descartes feststellt, andererseits jede Erkenntnis, die ja Anschauung als ein Akt der Intelligenz und Deduktion ist, letztendlich durch Vergleich erworben ist, stellt sich die Aufgabe, den Vergleich zu beherrschen. Der Vergleich wird normalisiert und aufgelöst in eine Analyse, erstellt in Termini der Differenz und Identität. „Das Wissen [...] muß eine Sprache herstellen, die wohlgestaltet ist, das heißt, daß sie analysierend und kombinierend, wirklich die Sprache des Rechnens (langue des calculs) ist.“26 Ein solches Zeichennetz ermöglicht als Ordnungsraster, das die Welt aufteilt, die Analyse und organisiert zugleich die Dinge, indem es sie benennt. Dieser, wie Foucault sagt, fundamentale Nominalismus spiegelt sich auch in der Sprachkritik und dem Misstrauen der klassischen Erfahrung gegenüber den allgemeinen und abstrakten Wörtern. Es ist der Versuch einer Sprache ohne Ungewissheit. Daher konnte in der Klassik der Wahnsinn die Vernunft auch nicht in Frage stellen, denn er war entweder aussagbar oder leer, weil unaussprechlich. Zeichen und Sprache dienen, indem sie allgemein verständlich und nachvollziehbar sein müssen, dem einen Hauptinteresse, die Anordnung der Welt in Form eines Tableaus als kontinuierliche, geordnete und allgemeine Übersicht aufzuzeigen. Die nach verschiedenen Kategorien klassifizierten Zeichen werden zu Instrumentarien der universalen formalen Wissenschaft und Analysemethode des Maßes und der Ordnung, der Mathesis. „[D]as Fundamentale für die klassische episteme ist weder der Erfolg oder der Fehlschlag des Mechanismus, noch das Recht oder die Unmöglichkeit, die Natur zu mathematisieren, sondern eine Beziehung zur mathesis, die bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts konstant und unverändert bleibt.“27
25 Dreyfus; Rabinow 1994: 45. 26 Die Ordnung der Dinge [1966]: 97. 27 Die Ordnung der Dinge [1966]: 90.
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Dabei müssen durch den Vergleich komplexe ‚natures‘ (allgemeine Repräsentationen, wie sie von der Erfahrung erfasst werden), die mittels eines Zeichensystems in einer Taxonomie festgehalten werden, im Rahmen der Mathesis in einfache ‚natures‘ zerlegt und auf diese zurückführbar sein. So kann man dann mit Sicherheit vom Einfachsten zum Komplexesten voranschreiten. So wird im Gegensatz zum System der Positivitäten in der Moderne das empirische Wissen als Wissensgebiet konstituiert. Während in der Renaissance jedes Wesen eine Markierung trägt und dadurch seine Individualität unabhängig von allen anderen ausdrückt und unabhängig von allen anderen besteht (es werden, wie Foucault anführt, hier z.B. carnivore Vögel; Vögel, die nachts jagen; Vögel, die auf dem Wasser leben, unterschieden), ist es in der Klassik das, was die anderen nicht sind (Wirbeltiere sind nur sinnvoll, indem es auch Wirbellose gibt). „Das heißt, daß jede Bezeichnung durch eine bestimmte Beziehung zu allen anderen möglichen Bezeichnungen geschehen muß. [...] [Ein Wesen] existiert in sich selbst nur an der Grenze dessen, wovon es sich unterscheidet.“28
Die Geschichte eines Lebewesens zu schreiben, bedeutet im sechzehnten Jahrhundert, dieses Wesen in dem gesamten semantischen Raster, der es mit der Welt verbindet, zu sehen. Also seine Elemente und Organe zu beschreiben, seine Etymologie und Synonyme, seine Kräfte, die daraus gewonnenen Medikamente, seine Gewohnheiten und sein Temperament, Sympathie und Antipathie, die mythologischen Werte, seine Wunder und Vorzeichen, die Legenden, in denen es vorkommt, die Wappen, die es tragen, Hieroglyphen und Münzen, welche es abbilden, die beste Art, es zu kochen, seine Fangweisen. Diese ganze auf das Lebewesen bezogene Semantik fällt im siebzehnten Jahrhundert wie nutzlos weg. Der wesentliche Unterschied besteht im Fehlen dieses Wissens. Diese neue Geschichte richtet zum ersten Mal den Blick auf die Dinge selbst, nicht auf Überliefertes, Worte, Texte, Archive, und sie ordnet in klaren Räumen: Herbarien, Naturalienkabinetten und Gärten. Die Naturgeschichte sieht also nicht mehr oder besser, sondern sie hat sich darauf beschränkt, systematisch wenige Dinge zu beobachten. Auch aus der Beobachtung als sinnlicher Erfahrung sind Tastsinn, Geruch und Geschmack weitgehend ausgeschlossen, und sogar die privilegierte Sehkraft filtert alles Grau in Grau. Bestimmte Variablen determinieren die Struktur und spezifizieren jede Beschreibung, sodass jeder
28 Die Ordnung der Dinge [1966]: 188f.
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von dem gleichen Wesen die gleiche Beschreibung machen kann und jeder, von der Beschreibung ausgehend, das ihr entsprechende Wesen erkennen kann. „Zur Errichtung der großen, lückenlosen Übersicht der Arten, Gattungen und Klassen bedurfte es der Tatsache, daß die Naturgeschichte eine Sprache benutzt, kritisiert, klassifiziert und schließlich erneut zusammensetzt [...]. Die Sachen und die Wörter sind sehr streng miteinander verkreuzt. Die Natur gibt sich nur durch den Raster der Benennungen, und sie, die ohne solche Namen stumm und unsichtbar bliebe, schillert von fern hinter ihnen, ist ständig jenseits dieses Rasters gegenwärtig, der sie jedoch ununterbrochen dem Wissen anbietet und nur völlig von Sprache durchdrungen sichtbar macht.“29
Doch dann, Ende des achtzehnten Jahrhunderts hat „Die Repräsentation [...] die Kraft verloren, von ihr selbst ausgehend, in ihrer eigenen Entfaltung und durch das sie reduplizierende Spiel, die Bande zu stiften, die ihre verschiedenen Elemente vereinen können. Keine Zusammensetzung, keine Zerlegung, keine Auflösung in Identitäten und Unterschiede kann mehr die Verbindung der Repräsentationen miteinander rechtfertigen. [...] Die Bedingung dieser Verbindungen ruht künftig außerhalb der Repräsentation [...]. [...] Es wird die Dinge mit ihrem eigenen Bau (organisation), mit ihrer geheimen Aderung (nervures), dem sie gliedernden Raum und der sie hervorbringenden Zeit geben. Und dann wird es die Repräsentation geben, eine rein zeitliche Abfolge, in der sie sich stets stückweise einer Subjektivität, einem Bewußtsein, dem einzelnen Bemühen um Erkenntnis, dem ‚psychologischen‘ Individuum ankündigen, das vom Grunde seiner eigenen Geschichte oder ausgehend von der Tradition, die man ihm überliefert hat, zu wissen versucht. Die Repräsentation ist auf dem Wege, nicht mehr die den Dingen und der Erkenntnis gemeinsame Seinsweise definieren zu können. Das eigentliche Wesen dessen, was repräsentiert wird, wird jetzt aus der Repräsentation selbst herausfallen.“30
Angelpunkt der Ordnung der Dinge ist die Untersuchung der Moderne. Dass die beiden anderen epistemischen Systeme gleichberechtigt in ihrer Realität dargestellt sind, ist Charakteristikum der Methodik einer ‚Ethnologie der eigenen Kultur‘. Daher ist Lavagno, wenn er Parallelen zwischen Foucaults und Habermas’ Diagnosen zieht, zwar in Hinsicht auf einzelne Elemente der Veränderung zwischen Klassik und Moderne zu folgen, nicht aber in Bezug auf die darin zum Ausdruck kommende Great Divide, die sich bei Foucault so nicht darstellt: „Die Übereinstimmung besteht darin, daß für beide ein Ereignis von seismischen Ausmaßen den Beginn der Moderne markiert, nämlich die Erschütterung traditioneller Gewißheiten und das Fragwürdigwerden eines überkommenen Weltbildes. Die Gesellschaftsordnung der Feudalzeit, die uralten religiösen Bindungen, das Wissenssystem des klassischen 29 Die Ordnung der Dinge [1966]: 207. 30 Die Ordnung der Dinge [1966]: 294-296.
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Zeitalters – all diese Säulen vormoderner Lebensverhältnisse und vormodernen Denkens geraten im Laufe des 18. Jahrhunderts ins Wanken.“31
Die Ordnung der Dinge tritt zwar vordergründig als rein deskriptive Analyse auf. Und dennoch geht es nicht um eine Ethnographie als Selbstzweck, sondern um eine ‚Geschichte der Gegenwart‘. Dies zeigt sich weniger in der – ohne begründende Argumentation – jeweils parallelen Verortung der epistemologischen Ebene, da die Episteme in der Ordnung der Dinge sich als ein Element von Foucaults Analyseraster und vielleicht sogar seines Kulturbegriffs erweist. Vielmehr lässt auf die strategische Rolle der Ethnographie bei Foucault schließen, dass es eben die unserem modernen Verständnis vom Menschen vorausgesetzten Positivitäten (Arbeit, Leben, Sprache) sind, deren Transformation in der Klassik festgestellt wird, um davon die Position der Humanwissenschaften als Spezifikum abzuleiten. Denn aus der klassischen Episteme ihrerseits lässt sich die Wahl der Untersuchungsgebiete nicht erklären, da Foucault für diese Zeit ja gerade ein einheitliches Feld der Reflexion ausmacht, das erst durch die Moderne aufgelöst wurde.
E INZUHOLENDE ANDERSHEIT Die Umwälzung Ende des achtzehnten Jahrhunderts führt gemäß Foucault zu der heute noch weithin gültigen Episteme des Westens. Der Bruch ergibt sich vor allem aus zwei epistemischen Ereignissen: aus dem Auftauchen des Menschen als Subjekt und Objekt der Erkenntnis, eines Wesens also, „dessen Natur (die es determiniert, es festhält und seit der Tiefe der Zeiten durchdringt) es wäre, die Natur und infolgedessen sich selbst als natürliches Wesen zu erkennen“32; sowie aus einer grundlegenden Historizität der den Menschen bestimmenden, in ihrer je eigenen Seinsweise bestehenden Positivitäten, die nicht nur eine Abfolge in der Zeit ist, sondern die von der neuen Geschichte auch auf die Modalitäten ihrer Herausbildung hin definiert wird. Diese Moderne, wie sie Foucault sieht,33 ist als Paradigma für eine humanwissenschaftliche Anthropologie und als Differenzierungspunkt für Foucaults ethnologische Gegenwissenschaft nun ausführlicher darzustellen.
31 Lavagno 2003: 35. 32 Die Ordnung der Dinge [1966]: 375. 33 Vgl. die Moderne in der Ordnung der Dinge ([1966]: 266-462).
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Das Verhältnis von Zeit und Raum in der Moderne Den Analysen zum Menschen und seinem Verhältnis zu den Positivitäten Arbeit, Leben und Sprache vorauszuschicken ist eine fundamentale Verschiebung in der Logik der Existenz. „Die Empirizität – es handelt sich ebensowohl um die natürlichen Einzelwesen wie um die Wörter, durch die man sie benennen kann – wird künftig von der Geschichte, und zwar in der ganzen Mächtigkeit ihres Seins, durchdrungen. Die Ordnung der Zeit beginnt.“34
In der Moderne gibt es die Geschichte als empirische Wissenschaft und zugleich wird die Historizität eine fundamentale Seinsweise. Das Werden in der Klassik ist „eine Bahn auf der verborgen im voraus bestehenden Tafel der möglichen Variationen. Der Bruch dieses Raumes hat die Entdeckung einer dem Leben eigenen Historizität gestattet.“35 Die synchrone Ebene der Klassik wird also in verschiedene Bereiche aufgebrochen, die nach jeweils eigenen inneren Gesetzen verlaufen. Sie werden miteinander über eine Analogie der Funktionsweise und interne Beziehungen ihrer Elemente verknüpft, wobei einige gleiches Niveau haben, andere abgesetzte Serien bilden. In der Klassik hingegen gab es eine Chronologie von bruchlosen Gleichzeitigkeiten, die über Identitäten und Unterschiede klassifikatorische Nähe besitzen.36 Die horizontalen und vertikalen Ordnungsmöglichkeiten der Klassik37, wo die Zeit die Lebewesen nur über Veränderungen im ihnen äußeren Raum beeinflusst, werden in der Moderne durch den Evolutionismus ersetzt, wobei die Zeit als Entwicklungsprinzip für die Lebewesen in ihrer inneren Organisation begriffen wird.38 Letztendlich ist der Grund für das Aufbrechen der Synchronie eine Art Umkehr des Verhältnisses von Zeit und Raum. Die Aufteilung der verschiedenen, nach ihrer eigenen inneren Zeit verlaufenden Bereiche (Sprachen, Lebewesen) ist möglich, weil nicht mehr eine kontinuierliche Zeit den Raum begründet, sondern die Moderne auf einer grundlegenden Räumlichkeit beruht, die gestattet, „stets die Zeit zu denken“39. 34 35 36 37 38
Die Ordnung der Dinge [1966]: 357. Die Ordnung der Dinge [1966]: 337. Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 270. Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 137. Foucaults Argumentation ist hier für mich allerdings nicht immer nachvollziehbar, denn um zu zeigen, wie unmöglich es der Klassik war, einen Evolutionismus zu formulieren, führt er Beispiele an (vgl. etwa Die Ordnung der Dinge [1966]: 196f.), die meinem Verständnis nach dem heute in der Biologie vertretenen (darwinistischen) Evolutionismus gleichen. 39 Die Ordnung der Dinge [1966]: 410.
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Die objektiven und fundamentalen Positivitäten Welchen besonderen Status und welches Aussehen haben nun Arbeit, Leben und Sprache im erkenntnistheoretischen Gefüge der modernen Episteme? 40 Im Gegensatz zur Klassik werden die Positivitäten der empirischen Wissenschaften als Fundamentales zu Bedingungen der Erkenntnis und sind zugleich ihr Objekt. Dieses Gewicht spiegelt sich in ihrer neuen Gestalt. In der Biologie wird der Begriff des Lebens entscheidend, und zwar nicht nur als klassifikatorische Grenze wie in der Klassik. Die vorher zur Erstellung der Ordnung gebrauchten Merkmale verlieren teilweise ihre repräsentative Funktion. Auf die Gesamtorganisation bezogen werden sie hierarchisch, entsprechend ihrer funktionalen Wichtigkeit für den lebendigen Körper, verschieden gewertet. Unter diesem auf die Gesamtheit des Organismus gerichteten Blick werden Organe nicht mehr unabhängig voneinander wahrgenommen, sondern einerseits gehören ganz verschiedene Organe, wie etwa Tracheen und Lunge, aufgrund ihrer gleichartigen Funktion zusammen, andererseits werden Organe auf ihre sich gegenseitig bedingende Existenz hin bestimmt. Jede Veränderung hat Folgen im ganzen Körper. Jedoch gibt es starrere und essentiellere Elemente im Inneren verborgen, während andere, oberflächlichere, oft größere Variabilität besitzen. Es können, ähnlich wie in der Renaissance, an der Oberfläche sichtbare Zeichen auf eine verborgene Tiefe weisen oder: „Die Tierarten unterscheiden sich an der Peripherie, sie ähneln sich im Zentrum. Das Unzugängliche verbindet sie, das Offenbare verstreut sie.“41 In der Klassik war die Bildung taxonomischer Einheiten ein Problem linguistischer Zerlegung, um einen allgemeinen und begründeten Namen zu finden. In der Moderne muss man in einer anatomischen Zergliederung das bedeutendere funktionale System isolieren, um eine natürliche Systematik zu finden.42 Die 40 Im Folgenden lege ich das Hauptgewicht auf die Sprache und erwähne als kursorischen Bezugspunkt die Biologie. Der Sprache kommt nach Foucault in der Moderne eine Sonderrolle als Erkenntnisinstrument zu, und in Hinblick auf sein eigenes Projekt sowie die Anthropologie ist der Vergleich mit der Klassik speziell wichtig. Die Biologie ihrerseits ist besonders stark mit der humanwissenschaftlichen Historizität verbunden und ist in der Moderne (noch) die am wenigsten vom Menschen bedingte Positivität, weshalb ihre Festlegungen zu außerordentlich heftigen Auseinandersetzungen mit und in der Anthropologie führten. 41 Die Ordnung der Dinge [1966]: 327. 42 Vgl. Die Ordnung der Dinge ([1966]: 330); und siehe als Beispiel für diesen von Foucault beschriebenen Perspektivenwechsel die Konzeption einer ‚natürlichen Systematik‘ z.B. bei Remane, Storch, Welsch (1986: VII) oder auch Strasburger (1983: 486).
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vergleichende Anatomie erlaubt zwei Arten von Kontinuität. In eine diskontinuierliche, relativ lose Makroserie können alle Arten entsprechend ihrer Komplexität eingeordnet werden. Mikroserien können die Perfektionierung eines bestimmten Organs darstellen. All diese Änderungen haben mit der Transformation des Zeit-Raum-Verhältnisses gegenüber der Klassik zu tun. „Für das Denken des achtzehnten Jahrhunderts sind die chronologischen Folgen nur eine Eigenheit und eine mehr oder weniger undeutliche Offenbarung der Ordnung der Wesen. Seit dem neunzehnten Jahrhundert drücken sie auf mehr oder weniger deutliche Art und bis in ihre Unterbrechung hinein die tief historische Seinsweise der Dinge und der Menschen aus.“43
Eine parallele Annahme bedeutet für die Sprache, dass Veränderungen nicht durch der Sprache Äußerliches, wie es die menschliche Geschichte oder etwa die kleine Gruppe von Gelehrten wäre, bedingt sind. Der Wandel von Sprachen, wie ihn die moderne Sprachwissenschaft beschreibt, soll nun Resultat eines primär der Sprache inhärenten Evolutionsprinzips sein, wogegen es in der Biologie doch auch ein wichtiges, dem Lebendigen äußerliches Prinzip der Geschichte gibt, nämlich das Milieu. Ähnlich dem Merkmal ist die Repräsentationskraft des Wortes nun nicht mehr „konstitutiv für das Wort in seinem Sein selbst“44. Wichtig sind auch hier Abhängigkeitsbeziehungen und Verbindungen der Satzelemente, die teilweise gar keinen repräsentativen, sondern nur grammatikalischen Wert haben. Das Wort bekommt seinen Sinn als Teil der grammatischen Totalität. Während in der Klassik die Sprachen danach unterschieden wurden, wie sie die Repräsentationen analysieren und deren Elemente zusammensetzen (und daher nicht alle gleichwertig waren, da manche Sprachen feinere Repräsentationen und Verbindungen haben), wird dieses Feld der Repräsentation in der Moderne beim Vergleich der Sprachen unwesentlich. Der innere Bau bestimmt eine Scheidung in verschiedene grammatikalische Typen.45 Wortwurzeln sind nun nicht mehr reduplizierende Namen, sondern beziehen sich, ausgehend von Verb und Personalpronomen, wesentlich auf Handlungen.
43 Die Ordnung der Dinge [1966]: 338. 44 Die Ordnung der Dinge [1966]: 342. 45 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 347f.
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„Die Sprache ‚verwurzelt sich‘ nicht bei den wahrgenommenen Dingen, sondern beim aktiven Subjekt. [...] Man spricht, weil man handelt, und nicht, weil man beim Wiedererkennen erkennt.“46
Und die Sprache kommt nun sozusagen von unten, sie ist mit dem Geist des Volkes verbunden und macht den „fundamentalen Willen sichtbar, der ein Volk am Leben erhält und ihm die Kraft gibt, eine nur ihm gehörige Sprache zu sprechen“47. Daher das neue Interesse für die Oraltradition und die politische Bedeutung der Philologie. Sprache wird folglich als Grammatik mit innerem Evolutionsprinzip gesehen, aber auch auf ihren aktiven Ausdruckswert hin untersucht. Gegenüber der klassischen Verbindung von Sprache und Erkenntnis wird die Sprache nun unabhängiges Objekt der Erkenntnis. „Die Sprache war eine Erkenntnis, und die Erkenntnis war mit Fug und Recht ein Diskurs. In Beziehung zu jeder Erkenntnis befand sie sich also in einer fundamentalen Situation: man konnte die Dinge der Welt nur erkennen, wenn man durch sie hindurchging. Nicht weil sie in einer ontologischen Verflechtung (wie in der Renaissance) ein Teil der Welt war, sondern weil sie der erste Entwurf einer Ordnung in den Repräsentationen der Welt war; weil sie die anfängliche, unvermeidliche Weise war, die Repräsentationen zu repräsentieren. In ihr bildete sich jede Allgemeinheit heraus. Die klassische Erkenntnis war zutiefst nominalistisch. Vom neunzehnten Jahrhundert an verschließt sich die Sprache, erhält sie ihr eigene Mächtigkeit, entfaltet sie eine Geschichte, Gesetze und eine Objektivität, die nur ihr gehören. Sie ist ein Erkenntnisgegenstand unter anderen geworden [...]. [...] Die Sprache zu erkennen, heißt nicht mehr, sich der Erkenntnis selbst möglichst stark zu nähern, sondern heißt lediglich, die Methoden des Wissens im allgemeinen auf ein besonderes Gebiet der Objektivität anzuwenden.“48
Dieser Objektstatus der Sprache wird allerdings durch ihre anderen Seiten in mehrfacher Hinsicht kompensiert. Im Gegensatz zur Biologie, wo sich das gesamte Feld der klassischen Naturgeschichte nun um den Begriff des Lebens bündelt, erhält die Sprache durch die moderne Episteme ein vielgesichtiges Aussehen. Foucault sieht zum einen die Philologie durch ihre Zwillingsgestalt, die Literatur, radikal in Frage gestellt. Zum anderen ermöglicht eine solche Sprache die beiden großen und einzigen Analysetechniken der Moderne: die Formalisierung und die Interpretation. Die Sprache ist eben auch Mittel des erkennenden Subjekts, woraus sich der positivistische Versuch, die Sprache zu neutralisieren, sowie der Versuch, eine von der Sprache unabhängige Logik zu erstellen, herleiten. Andererseits ist die Sprache aber „das Apriori dessen, was darin ausgesagt 46 Die Ordnung der Dinge [1966]: 353. 47 Die Ordnung der Dinge [1966]: 354. 48 Die Ordnung der Dinge [1966]: 360f.
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werden kann“49, weshalb wieder Techniken der Exegese gebraucht werden. Ziel ist nicht wie in der Renaissance, eine ursprüngliche Rede zu finden, sondern dem nicht vollständig erfassten Inhalt des Diskurses gerecht zu werden.50 Diese beiden Formen der Analyse prägen das westliche Wissenschafts- und Sprachverständnis. Ihre Trennung und Beziehung zueinander ist bei Foucault ein wesentliches Problem der Moderne. Wenn man in der Moderne von einem solchen Sein der Sprache ausgeht, führt dann nicht, so fragt Foucault, die Exegese als der Versuch, die Sprache „möglichst nahe dem sprechen zu lassen, was ohne sie in ihr gesagt wird“51, zu den reinen Formen der Sprache und nicht zu einem ersten Diskurs? Und setzt umgekehrt die Formalisierung, um jede eventuelle Sprache zu kontrollieren, nicht eine Interpretation voraus? Diese Verschränkung zeigt, wie der „Glaube an den Sinn“ und die „Entdeckung des Signifikanten“ keine wirklichen Wahlmöglichkeiten darstellen, sondern beide Ergebnis einer „kritischen Erhöhung“52 der zugleich objektivierten Sprache sind. Dies bedeutet eine Annäherung an einen Akt reinen Erkennens im Sprechen und zugleich eine Annäherung der Sprache an das Nichterkennbare im Diskurs. Aus diesem Grund ergaben sich in der Moderne ein Formalismus des Denkens sowie die Entdeckung des Unbewussten und die Versuche, beides zu verbinden. Der Versuch „[...] die reinen Formen an den Tag zu bringen, die vor jedem Inhalt sich unserem Unbewußten auferlegen, oder auch die Anstrengung, deren Erfahrungsboden, den Sinn des Seins, den erlebten Horizont all unserer Erkenntnisse in unseren Diskurs eindringen zu lassen. Der Strukturalismus und die Phänomenologie finden hier mit ihrer eigenen Einteilung den allgemeinen Raum, der ihren gemeinsamen Platz [Herv. i.O.] definiert.“53
Es ist interessant, hier festzuhalten, dass der Strukturalismus jedenfalls in dieser Hinsicht von Foucault deutlich in den Bereich der modernen Episteme gestellt wird.
49 Die Ordnung der Dinge [1966]: 362. 50 Diese Analyse von Foucault legt einen Vergleich mit der Intertextualität und Derridas (2004) Kritik am Phonozentrismus nahe. 51 Die Ordnung der Dinge [1966]: 364. 52 Vgl. die drei Wendungen in der Ordnung der Dinge ([1966]: 364). 53 Die Ordnung der Dinge [1966]: 365.
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Der Versuch des Menschen der Moderne, seinen Schatten ans Licht zu bringen Ein zur Verortung der Human- und Sozialwissenschaften besonders aufschlussreicher Teil der Ordnung der Dinge ist die unter dem Titel „Der Mensch und seine Doppel“54 explizierte mehrdeutige und inkohärente Struktur des Menschen in der modernen Episteme. Zunächst geht es um die Lokalisierung des Menschen: Die beschriebene Sicht der Sprache (aber auch der Natur und der Ökonomie) als Objekt der Erkenntnis und dem Menschen Vorausgesetztes zugleich, ist engstens verknüpft mit einer in der Moderne neu auftauchenden Gestalt, mit dem ‚Menschen‘. „Die modernen Themen eines gemäß den Gesetzen einer Ökonomie, Philologie und Biologie lebenden, sprechenden und arbeitenden Individuums, das aber in einer Art innerer Verdrehung und Überlappung durch das Spiel jener Gesetze selbst das Recht erhalten hätte, sie zu erkennen und völlig an den Tag zu bringen, alle jene Themen, die uns vertraut und mit der Existenz der ‚Humanwissenschaften‘ verbunden sind, werden durch das klassische Denken ausgeschlossen.“55
Die Klassik kannte den Menschen in der Naturgeschichte als Art und Gattung wie in der Rassendiskussion, aber es gab kein eigenes Gebiet des Menschen. Die völlig veränderte erkenntnistheoretische Position der Sprache impliziert nämlich, dass die Möglichkeit des Wissens sich nun auf das Sein des Menschen – grundsätzlich sowie historisch-spezifisch – gründet. Daher bezieht Foucault diese moderne Seinsweise des Menschen hinsichtlich ihrer Funktion auf die allgemeine Sprachtheorie der Klassik und will durch Vergleich den Umbruch und damit die neue Situation beleuchten. In der Klassik leistete nämlich die Theorie der Repräsentation mit ihren vier wesentlichen Elementen, der Theorie des Verbs, der Gliederung, der repräsentativen Wurzel und der Kontinuität der Derivation, die Verbindung zwischen den Dingen und den Wörtern. Wenn sich nun in der Moderne die Sprache teilt und auf zwei Ebenen funktioniert, so werden auf der empirischen Ebene die inneren Gesetzmäßigkeiten der Sprache selbst beschrieben: eine jeder Sprache in ihrem autonomen Sein inhärente grammatische Struktur, die Theorie der nach eigenen Gesetzmäßigkeiten ablaufenden Flexionen, die Theorie des Stammes, die Verwandtschaft der Sprachen. Dagegen erfolgt auf der Ebene der Grundlagen die umgekehrte Modifizierung. Wie in der Klassik soll auch hier das Verhältnis des 54 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 367ff. 55 Die Ordnung der Dinge [1966]: 375.
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Menschen zu den Dingen offen gelegt werden, aber die Analyse dieses Verhältnisses wird aus dem Gebiet der sprachlichen Repräsentation herausgenommen und dem dem Menschen Vorausgesetzten zugeordnet. Die klassische Analyse des Diskurses spaltet sich in der Moderne somit in eine Empirie der Grammatik und in eine Analytik der Endlichkeit. Diese Analytik der Endlichkeit bewegt sich in einem Bereich, wo eine ständige Reduplizierung des Positiven im Fundamentalen stattfindet. Die den vier Elementen der klassischen Theorie der Repräsentation parallelen, aber in ihrer Funktion verwandelten vier Ecken der modernen Episteme sind: die Verbindung der Positivitäten mit der Endlichkeit, die Reduplizierung des Empirischen im Transzendentalen, die ständige Beziehung des Cogito zum Ungedachten, der Rückzug und die Wiederkehr des Ursprungs. Die Tiefe des Umbruchs lässt sich an der Philosophie von Kant nachvollziehen.56 Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der Repräsentationen zueinander sucht er nicht mehr auf der Ebene der Repräsentation, wo diese bis an die Grenze der reinen Empfindung, des reinen Eindrucks gelangen, sondern fragt, was dieses Verhältnis und jede Repräsentation überhaupt ermöglicht.57 Das mündet in die Einführung eines transzendentalen Bereichs mit einem Subjekt, das die formalen Bedingungen der Erfahrung in sich trägt und das Verhältnis zwischen Repräsentationen ermöglicht. Es ändern sich also die Voraussetzungen, unter denen Repräsentationen existieren. Das transzendentale Subjekt ist konstitutiv – nicht für die Dinge an sich, sondern für die Synthesen der Erfahrungen, also die Erscheinungen. „Kants ‚Transzendentale Ästhetik‘ setzt bei dem Faktum an, daß wir in der Erfahrung auf Sinneseindrücke angewiesen sind; die intellektuelle Anschauung, die nicht rezeptiv, sondern spontan wäre, bleibt uns versagt. Die Eindrücke, die wir über unsere Sinne empfangen, bieten sich uns aber als ungeordnete Mannigfaltigkeiten dar. Um etwas erkennen zu können, müssen wir sie ordnen: die des äußeren Sinnes in Verhältnissen des Nebeneinander, d.h. im Raum, die des inneren Sinnes in Verhältnissen des Nacheinander, d.h. in der Zeit. Raum und Zeit – Kant nennt sie die reinen Formen der Anschauung – sind demzufolge nicht etwas, das die Dinge von sich aus mitbringen, vielmehr liegt es an der Art und Weise unseres Erkennens, daß wir uns Gegenstände nur im Raum und in der Zeit vorstellen können. Das bedeutet nun aber nichts anderes, als daß der Mensch als Grundlage für eine Ordnung – wenngleich nur der Erscheinungswelt – genommen wird.“58
56 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 298ff. 57 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 298. 58 Lavagno 2003: 113.
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Das implizierte aber eine Spaltung zwischen Sein und Denken, die zum Ausgangspunkt moderner Positionierungen wurde. Und hier findet dann das transzendentale Feld der Moderne seinen Platz in Verbindung mit der Positivität der Wissenschaften vom Leben, der Sprache und der Ökonomie. Es beinhaltet nicht mehr nur die formalen Bedingungen der Erkenntnis, sondern gibt objektive ‚Transzendentalien‘ vor (Foucault nennt darauf beruhende Metaphysiken, die sich auf das Wort Gottes, den Willen, das Leben beziehen und die Kohärenz der Mannigfaltigkeiten in der Empirie durch einen solchen doch nie objektivierbaren Grund vorgegeben sehen), andererseits vermitteln die von Arbeit, Leben und Sprache ausgehenden Transzendentalien die Synthesen a posteriori (im Positivismus, wo der Erfahrung Phänomene gegeben sind, die ihren synthetischen Grund außerhalb der Erkenntnis im Objekt bergen).59 Grund für diese Verlagerungen von Kants Transzendentalem ist, dass eine Erkenntnis, die nicht mehr als Bild der Welt fungiert, ein weiteres Problem nahe legt: nämlich die Frage „nach den Bedingungen eines Verhältnisses zwischen den Repräsentationen auf Seiten des Seins selbst, das sich darin repräsentiert findet.“60 Für Kant sind ‚objektive Transzendentalien‘ undenkbar, denn „Kant ging von der Evidenz aus, daß etwas, das Erfahrung begründen soll, nicht selber empirisch gegeben sein kann“, und – wie Lavagno weiter ausführt – „daß wir folglich a priori niemals etwas über den Gegenstand an sich ausmachen können, sondern nur über die Beschaffenheit des erkennenden Subjekts (und infolgedessen über die Welt der Erscheinungen)“61. Gegenüber der Moderne ist also festzuhalten: „Die Kantische Anthropologie umfaßt die Kritik [...] nicht, sondern ist im Gegenteil von der Kritik abhängig“62 – so beschreibt Hemminger ein für Foucault zentrales Ergebnis seiner frühen Beschäftigung mit Kants Anthropologie aus pragmatischer Sicht. Dass die Kritik in der Moderne ihr Primat vor konkreten empirischen Aussagen über den Menschen verliert, ist sicher, wie auch Hemminger betont, ein Ansatzpunkt, auf den Foucault seine eigene Hinterfragung der Humanwissenschaften stützt.63 59 Vgl. dazu Die Ordnung der Dinge [1966]: 301f. 60 Die Ordnung der Dinge [1966]: 300. 61 Lavagno (2003: 31), der hier Kants Stringenz noch weiter verfolgt und mit Verweis auf Kants Kritik der reinen Vernunft sagt: „Um dieser Logik, die er als zwingend ansah, gerecht zu werden, nahm er sogar Behauptungen in Kauf wie die, daß dem Raum (und der Zeit) keine objektive Realität zukomme.“ 62 Hemminger 2004: 56. 63 Vgl. Hemminger (2004: 58); sie analysiert sehr genau Foucaults Introduction à l’Anthropologie de Kant von 1961 – vor allem auch in ihrer Relevanz für Foucaults
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Der Mensch gewinnt also an Substanz: Die klassische Repräsentation erscheint in der Moderne als ein metaphysisch-methodisches Verfahren, in dem der Mensch sich eigentlich nicht als geschichtlich bedingtes und aktives Wesen betrachtet und in der Analyse der Repräsentation die Frage nach der Berechtigung des repräsentativen Verfahrens nicht vollständig stellt. Das begründet sich nach Foucault so: „Für wen im klassischen Denken die Repräsentation existiert und wer sich selbst in ihr repräsentiert, sich als Bild oder Reflex erkennt, alle überkreuzten Fäden der ‚Repräsentation als Bild‘ verknüpft – der wird sich darin nie selbst präsent finden. Vor dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts existierte der Mensch [Herv. i.O.] nicht.“64 „[Denn] in der Klassik ist der Diskurs die durchsichtige Notwendigkeit, durch die die Repräsentation und die Wesen gehen, wenn die Repräsentation die Wesen in ihrer Wahrheit sichtbar macht. Die Möglichkeit, die Dinge und ihre Ordnung zu erkennen, läuft in der klassischen Erfahrung durch die Souveränität der Wörter: Diese sind genaugenommen weder zu entschlüsselnde Markierungen (wie in der Epoche der Renaissance) noch mehr oder weniger treue und beherrschbare Instrumente (wie in der Zeit des Positivismus). Sie bilden eher den farblosen Raster [...]. Die wesentliche Folge [...] ist, daß die klassische Sprache als gemeinsamer Diskurs [Herv. i.O.] der Repräsentation und der Sachen, als Ort, in dem Natur und menschliche Natur sich überkreuzen, absolut etwas ausschließt, das man als ‚Wissenschaft vom Menschen‘ bezeichnen könnte. Solange diese Sprache in der abendländischen Kultur gesprochen hat, war es nicht möglich, daß die menschliche Existenz für sich selbst in Frage gestellt wurde [...].“65
Hatte Kant dann die Teilung des Positiven und des Fundamentalen gezeigt, werden diese in der Moderne bei der Antwort auf die Frage nach dem Menschen wiederum vermengt. „Daß sich die Repräsentation vorweg vor der äußeren Welt verschließt, bedeutet für das repräsentierende Subjekt, daß es sich in seine eigene Begrenztheit und Endlichkeit einschließt. Statt die Natur widerzuspiegeln, spiegelt es sich selbst. Als endliches, empirisches Subjekt ist es zugleich auch das transzendentale Subjekt, d.h. der unendliche Grund seiner selbst.“66
spätere Epistemologie: so etwa die schon hier formulierte Ablehnung philosophischer Anthropologien, welche Anspruch auf einen natürlichen Zugang zum Fundamentalen erheben, oder solcher Anthropologien, die ihren Blick durch bestimmte anthropologische Überlegungen über den Menschen festlegen. 64 Die Ordnung der Dinge [1966]: 373. 65 Die Ordnung der Dinge [1966]: 376. 66 Fink-Eitel 1989: 42.
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Nun geht es nach Kants Analytik darum, „zu zeigen, auf welchen Grundlagen Repräsentation und die Analyse der Repräsentation möglich und in welchem Ausmaß sie legitim sind“67. Damit beginnt in der Moderne eine Metaphysik, die außerhalb der Repräsentation deren Ursprung erforschen will68 – und die dabei insbesondere Begrenztheit und Grenzen der Repräsentation feststellt. Das führt sie zum Menschen, der nun am Schnittpunkt zwischen Sein und Repräsentation steht.69 Diese Figur wäre folglich eine Reaktion auf die in der Kritik liegende Trennung zwischen Denken und Sein, „eine Trennung, die für die gesamte nachkantische Philosophie zu dem [Herv. i.O.] Problem überhaupt werden sollte“70. Dieser Mensch hat jetzt die Kraft, sich Repräsentationen zu geben. Der Mensch bekommt somit in der Analytik der Endlichkeit eine nicht-eindeutige Position als Subjekt und Objekt, als betrachteter Betrachter, wogegen in der Klassik der Mensch repräsentiert, aber sich als repräsentierendes Wesen nicht anschaut und repräsentiert – wie Foucault mit dem Beispiel der ‚Hoffräulein‘ von Velázquez eindrücklich darstellt. Da die Repräsentation nun nicht mehr Ursprungsort der Wahrheit der Dinge ist, sondern diese in der Moderne vom Menschen und seiner Repräsentation getrennt bestehende Positivitäten mit ihrer eigenen Ordnung sind, kann die Repräsentation als undurchsichtige Wirkung der Dinge im Bewusstsein nur eine äußerliche Beziehung der Dinge zum Menschen sein. Indem der Mensch die genannten Positivitäten erkennt, hat er Zugang zu seinem Sein. Darin sieht er zwar seine Endlichkeit, aber er kann sich doch der Hoffnung hingeben, dass er respektive sein Wissen einmal nicht endlich sein werden.71 Vorher gab es also nur die Repräsentation der Dinge (im Menschen), und diese war eindeutig, weil zwar begrenzt, jedoch nicht darauf hin orientiert, diese Begrenzung zu hintergehen. Die klassische Begrenzung war nicht nach bestimmten sich verändernden inhärenten Gesetzmäßigkeiten gebaut und sie veränderte auch nicht permanent den Menschen und erschien nicht als veränderbar. Der Mensch in der Moderne hingegen versucht immer, zur Ordnung der Dinge vorzustoßen, denn
67 Dreyfus; Rabinow 1994: 53. 68 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 298 und 299. 69 Wo also in der Klassik die Theorie des Verbs das Sein bestätigte, was umgekehrt das Sein der Sprache sicherte, erklärt in der Moderne die Analytik der Endlichkeit, wie sehr das Sein des Menschen durch die ihm äußerlichen Positivitäten bestimmt wird. Diese erscheinen aber zugleich durch dieses endliche Sein in ihrer positiven Wahrheit (vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 382). 70 Hemminger 2004: 60. Sie verfolgt in ihrer Arbeit diesen Punkt in mehreren Kontexten (vgl. z.B. Hemminger 2004: 56-63, 113, 141, 213). 71 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 379.
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nichts beweist, dass das nicht doch einmal gelingen wird. Vielleicht findet er einmal zum Beispiel ein reines Symbolsystem, das die alten Unklarheiten der Sprache beseitigt. Foucault zeigt also, dass die Reflexion über Arbeit, Leben, Sprache in Form einer Analytik der Endlichkeit das Ende der Metaphysik bedeutet. Das ermöglicht einen Positivismus, also „Philosophien, die sich allein die Beobachtung genau dessen zur Aufgabe machen, was einer positiven Erkenntnis gegeben wird.“72 Zugleich ist die Moderne ständig in Versuchung, eine Metaphysik dieser Positivitäten einzuführen. Aber diese Metaphysiken der Positivitäten werden dann, wie Foucault sagt, immer sofort hintergangen, da sie Elemente der Endlichkeit des Menschen sind. „[Zum Beispiel gilt dies für] die Metaphysik einer Sprache, die der Mensch im Bewußtsein seiner eigenen Kultur sich wieder aneignen kann. Infolgedessen wird das moderne Denken sich in seinem Vorgelände in Frage stellen und zeigen, daß die Reflexionen über [...] die Sprache, insoweit sie als Analytik der Endlichkeit gelten, das Ende der Metaphysik offenbaren. Die Philosophie [...] denunziert die Metaphysik [...] der Sprache als kulturelle Episode.“73
Damit wird deutlich, wie in der Moderne Kritik, Positivismus und eine Metaphysik des Objekts zusammengehören. Die Positivitäten als Transzendentalien liegen in der Moderne im Gegensatz zu Kants Transzendentalien zugleich auch auf der Seite des Objekts. Aus diesem Grund nennt Foucault diese Metaphysiken ‚präkritisch‘, obwohl sie zum selben epistemischen Feld gehören wie die Kritik, weil beide von einer Begrenztheit der Repräsentation ausgehen. Die Transzendentalien organisieren das Erkennen oder die Erkenntnisse durch ihr Sein, durch ihre Realität vor jeder Erkenntnis, aber in der Moderne nicht wie bei Kant jede Erkenntnis gleichermaßen a priori, sondern sie organisieren die Synthesen a posteriori. Wesentlich ist also, dass der Mensch in der Moderne durch die Positivitäten begrenzt und bestimmt ist, diese Endlichkeit aber an ihm liegt und seine Existenz in der Moderne ausmacht. „[A]uf noch fundamentalere Weise hat unsere Kultur die Schwelle [...] an dem Tag überschritten, an dem die Endlichkeit in einem unbeendbaren Bezug zu sich selbst gedacht worden ist. Wenn es auf der Ebene der verschiedenen Wissensgebiete zutrifft, daß die Endlichkeit stets vom konkreten Menschen und den empirischen Formen aus, die man für seine Existenz bestimmen kann, bezeichnet wird, ist auf der archäologischen Ebene, die das historische und allgemeine Apriori eines jeden der Wissensgebiete entdeckt, der mo72 Die Ordnung der Dinge [1966]: 302. 73 Die Ordnung der Dinge [1966]: 383.
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derne Mensch – dieser in seiner körperlichen, arbeitenden und sprechenden Existenz bestimmbare Mensch – nur als Gestalt der Endlichkeit möglich. Die moderne Kultur kann den Menschen denken, weil sie das Endliche von ihm selbst ausgehend denkt.“74
Daraus ergibt sich das Ziel, die Endlichkeit zu analysieren. Dies ist der Grund, warum Foucault in der Moderne eine Analytik der Endlichkeit sieht. Was der Mensch bei den Positivitäten feststellt, wiederholt sich gemäß der grundlegenden Wiederholung des Positiven im Fundamentalen in ihm selbst und bedingt, wie er sich selbst sieht. Mit der Untersuchung beispielsweise des Todes alles Lebendigen, sagt der Mensch etwas über sich aus und bestimmt sich selbst.75 In der Moderne formen daher die Positivitäten die Erkenntnis und ihre Grenzen. Diese Grenzen der Erkenntnis ermöglichen aber auch umgekehrt zu wissen, was und wie die Positivitäten sind. Die beschriebene Lokalisierung führt zu Doppeldeutigkeiten des Menschen und seiner Wissenschaft – der inneren Grenze: Der moderne Mensch hat demnach eine Doppelstruktur. Foucault beschreibt in der Ordnung der Dinge dann drei den Menschen verdoppelnde Charakteristika, die der Seinsweise des Menschen und der sich an ihn wendenden Reflexion zugleich eigen sind.76 Es ist wichtig zu bedenken, dass diese von Foucault herausgearbeitete spezifische Bestimmung des modernen Menschen nicht nur festlegt, wie die Humanwissenschaften und in diesem Kontext wohl auch die Sozial- und Kulturanthropologie an ihren Forschungsgegenstand herangehen und ihn definieren, sondern dass auch die Forschenden und damit die Wissenschaft ihrerseits zum selben Bereich gehören. An dieser Stelle betont im Anschluss an Foucault etwa Habermas, wie sehr der „Zwang zur aporetischen Verdoppelung des selbstbezüglichen Subjekts“77 sich beispielsweise in Fichtes Wissenschaftslehre spiegelt und das moderne europäische Denken prägt. Foucault expliziert also einerseits die Objektivierung des Menschen, welche Habermas zur Kritik führt, „daß die Abtötung dialogischer Beziehungen die monologisch in sich gekehrten Subjekte füreinander zu Objekten, und nur zu Objekten macht“78. Aber insbesondere in der Ordnung der Dinge betrachtet es Foucault epistemologisch argumentierend auch kritisch, wenn der Mensch im Gegenstand der Humanwissenschaften als Subjekt aufgefasst wird. 74 75 76 77 78
Die Ordnung der Dinge [1966]: 384. Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 381. Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 396. Habermas 1993: 307. Habermas 1993: 289.
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Der Mensch ist in der Moderne erstens eine empirisch-transzendentale Dublette.79 Die Analyse des Menschen läuft über zwei Stränge. Einerseits werden der Mensch und sein Erkenntnisapparat auf ihre körperlichen Bedingungen hin untersucht, zugleich und anscheinend davon unabhängig wird die Erkenntnis auf ihre historische Situiertheit mit ihren sozialen und ökonomischen Bedingungen zurückbezogen. Beides, die Natur und die Geschichte der menschlichen Erkenntnis, bestimmt die Erkenntnis und kann zugleich empirisches Wissen dieser Erkenntnis sein. Dieses Menschenbild setzt voraus, dass die Erkenntnis Teilungen unterzogen wird, die sich jeweils als kritisch verstehen. Um ihre natürlichen Bedingungen herauszustellen, muss zwischen einer sich verändernden und einer definitiv konstituierten Erkenntnis getrennt werden. Wissenschaftliche Theorien müssen unterschieden werden von der Illusion von Wahrheit, von Ideologien, wodurch die Untersuchung der sozioökonomischen Erkenntnisbedingungen möglich wird. Es muss vor allem aber eine Teilung der Wahrheit geben. Eine Wahrheit des Objekts selbst, das sich durch alle Illusionen hindurch immer deutlicher abzeichnet, und eine Wahrheit des Diskurses, der entweder eine positivistische Analyse ermöglicht, wo die Wahrheit des Objekts diejenige des Diskurses vorschreibt, oder die Wahrheit wird durch den Diskurs konstituiert, was Foucault als den eschatologischen Typ bezeichnet. Obwohl sich diese verschiedenen Positionen widersprechen, sind sie archäologisch nicht voneinander zu trennen. Es gibt daher immer den Versuch, einen Diskurs zu finden, der das Empirische und das Transzendentale nicht zusammenfallen lässt und dennoch beides erfasst, „in dem sich gleichzeitig die Erfahrung des Körpers und die der Kultur verwurzeln“80. Ein solcher Versuch war die Analyse des Erlebten in der Phänomenologie. Durch das Erleben, durch den Körper werden die empirischen Erfahrungsinhalte gewonnen, aber auch ermöglicht und geformt. Wie Foucault sagt, kommunizieren so die Bestimmungen der Natur mit dem Gewicht der Geschichte. Die Analyse des Erlebten stellt Positivismus sowie Eschatologie in Frage, weil sie die Ebene des Transzendentalen wieder betont. Dennoch bleibt die Analyse des Erlebens ein aus den beiden oben angesprochenen Richtungen gemischter Diskurs und daher nicht, wie sie selbst meint, deren Infragestellung. Dagegen macht Foucault nun geltend: Eine wirkliche Infragestellung wäre, grundsätzlich zu hinterfragen, ob der Mensch existiert.
79 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 384-389. Dies entspricht gemäß Foucault der „Gliederung“ in der klassischen Theorie des Diskurses. 80 Die Ordnung der Dinge [1966]: 387.
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Zweitens definiert sich der Mensch der Moderne zugleich über das Cogito und das Ungedachte.81 Auch diese Behauptung ist eigentlich nicht gleichzeitig möglich. Aus dem zugleich empirischen und transzendentalen Charakter des Menschen ist nämlich schon ersichtlich, dass „der Mensch sich nicht in der unsichtbaren und souveränen Transparenz eines Cogito geben“82 kann. In der Moderne existiert immer ein Nichtbekanntes – das allerdings zu seiner Erkenntnis aufruft. Im Gegensatz zum Descartes’schen Cogito (die Entdeckung, dass jedes Denken – auch der Irrtum und die Illusion – gedacht wird und das Ich so bestätigt) setzt sich das moderne Denken in Spannung zum Anderen und kann aus dem Cogito nicht mehr das ‚Ich bin‘ ableiten, da sich in mir und in meinem Denken das Leben, die Arbeit und die Sprache manifestieren, das Denken also sich selbst entgleitet. Die Beziehung zwischen positivem, objektivem Wissen und dem Unbewussten sollte nicht darin gesehen werden, dass die Entdeckung des Unbewussten die Folge und der Preis des wissenschaftlichen Denkens sei – so Foucault. Vielmehr gehören der Mensch und das Ungedachte archäologisch wie Zwillinge zusammen. Es ist das zum Denken gehörende und es als sein Schatten begleitende Andere mit komplementären Namen wie Ansich, Implizites oder Unbewusstes. Das Denken enthält das Ungedachte, in dem das Denken gefangen ist. Die Moderne allerdings versucht unermüdlich, an dieses so nahe und sich doch ständig entziehende Andere heranzukommen. Das Zurückweichen und die Wiederkehr des Ursprungs ist das dritte den Menschen sowie seine Selbstreflexion bestimmende Element.83 Nun ermöglicht nicht mehr der Ursprung Geschichte, sondern in der Moderne zielt die Historizität der Dinge selbst auf einen Ursprung. Versucht der Mensch sich in seinem Ursprung aber zu erkennen, so sieht er immer ihm Vorausgesetztes und vor ihm Bestehendes wie das Leben, die Gesellschaft oder die immer schon entfaltete Sprache. Allerdings gibt es für den Menschen den Ursprung, der gegenwärtig dauernd stattfindet, weil sich ja die Positivitäten immer auch verändern, wenn auch auf dem Hintergrund des Vergangenen. Das Ursprüngliche im Menschen ist (seit Hegel) nicht die Zeit seines Entstehens oder seine ältesten Erfahrungen, also die Zeit des
81 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 389-396. Diese Doppelfigur entspricht der „Bezeichnung“ in der Klassik. 82 Die Ordnung der Dinge [1966]: 389. 83 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966] 396-404. Die Suche nach dem Ursprung kann man mit der Theorie der Derivation vergleichen. In der Klassik fand man den Ursprung, indem man sich möglichst nahe an die Reduplizierung der Repräsentation stellte (vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 396, 397 oder auch 403).
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Gleichen, wie es Foucault nennt, sondern das Ursprüngliche verbindet ihn mit dem, was er nicht ist, was vor ihm da ist und ihn determiniert. Die Unmöglichkeit, das Ursprüngliche zu bestimmen, hat den einen Aspekt, dass der Ursprung der Dinge in einer Zeit vor dem Menschen liegt und immer zurückweicht. Der andere Aspekt ist, dass der Mensch selbst das Wesen ohne Ursprung ist, eben weil er in den verschiedenen Positivitäten wurzelt, sich die Dinge aber zugleich von ihm aus entfalten. In der Moderne wirkt so eine zweifache Sichtweise des Ursprungs, die sich zugleich widerspricht und gegenseitig stört. Die Positivisten reihen den Menschen in die Chronologie der Dinge ein, wobei das Erscheinen der Kultur in den Ablauf der biologischen Entwicklung gereiht wird, umgekehrt wird in eine Chronologie des Menschen die Erfahrung des Menschen mit den Dingen eingeordnet, indem hier die individuelle oder kollektiv-historische Entwicklung des Menschen zu einem bestimmten Punkt das Erscheinen der wahren Dinge erlaubt. Jeweils wird entweder der Ursprung der Dinge dem Menschen untergeordnet oder umgekehrt. Der Ursprung weicht also immer zurück, und da die Moderne gerade dem nachgeht, ergibt sich das Zurückweichen selbst in großer Klarheit. Aber befreit dies, fragt Foucault, nicht gerade den Ursprung, lässt es ihn nicht wiederkehren? Deshalb beschäftigt sich die Moderne ständig mit dem Neubeginn oder dem Untergang davor oder der Vollendung.84 Der Mensch entdeckt, dass er gefangen ist in einer Kraft, die ihn von seinem Ursprung fern hält, ihm denselben aber immer verheißt. Diese Kraft ist aber die seines eigenen Seins. Endlichkeit findet sich auch hier – Endlichkeit ohnedies, weil der Mensch durch die Dinge überragt wird, und darüber hinaus, noch fundamentaler durch die Beziehung des Seins des Menschen zur Zeit. Foucault weist daher Unwägbarkeiten der Moderne auf, denen er mit der Archäologie entgehen will. „Das Wesentliche ist, daß das Denken für sich und in der Mächtigkeit seiner Arbeit gleichzeitig Wissen und Modifizierung dessen, was es weiß, und Reflexion und Transformation der Seinsweise dessen, worüber es reflektiert, ist. Es läßt sofort das in Bewegung geraten, was es berührt: es kann das Ungedachte nicht entdecken [...], ohne es sofort sich selbst anzunähern – oder vielleicht auch: ohne es zu entfernen, ohne daß das Sein des Menschen auf jeden Fall, weil es sich in dieser Entfernung entfaltet, dadurch verändert wird.“85
84 Nietzsche, Heidegger und Hölderlin allerdings betonen nur das Zurückweichen (vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 402). 85 Die Ordnung der Dinge [1966]: 395.
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Die moderne Position des Menschen geht einher mit einem sich neu konstituierenden Diskurs, der den Menschen selbst untersucht: den Humanwissenschaften. Dieser Begriff ist schon mehrfach aufgetaucht und soll nun näher umrissen werden. Wie in Wahnsinn und Gesellschaft oder Überwachen und Strafen werden auch in der Ordnung der Dinge die Humanwissenschaften besonders argwöhnisch betrachtet, allerdings hier nicht aufgrund ihrer Verflechtung mit Institutionen, sondern ausschließlich in Bezug auf ihre innerepistemische Position und ihre demnach notwendig fragwürdige Wissenschaftlichkeit. Foucault entwirft ein Bild des wissenschaftlichen Raumes, um die Humanwissenschaften in sehr spezifischer und auch für die Reflexion der Sozial- und Kulturanthropologie interessanter Weise zu lokalisieren. Das kann die Möglichkeit bieten, die verschiedenen anthropologischen Richtungen durch Foucaults Raster der Wissenschaften zu betrachten und ihre Gewichtsverlagerungen nachzuzeichnen. Von unmittelbarer Virulenz ist aber auch die unter diesem Blick erscheinende Bedingtheit und die daraus folgende Bewertung der Humanwissenschaften als prinzipiell in ihrer Skepsis fruchtlos und darüber hinaus gar nicht wünschenswert. Denn diese Sichtweise unterscheidet sich doch deutlich von einer kritisch gegen die Begrenztheit und Perspektivität (zumal anderer Wissenschaften) gerichteten Anthropologie – sodass auch Foucaults Selbstverortung als Ethnologe insoweit nicht evident scheint. „Es gibt gar keinen Zweifel, daß das historische Auftauchen einer jeden Humanwissenschaft sich anläßlich eines Problems, einer Forderung, eines Hindernisses theoretischer oder praktischer Ordnung vollzogen hat. Sicher bedurfte es der neuen Normen, die die Industriegesellschaft den Individuen auferlegt hat, damit im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts sich langsam die Psychologie als Wissenschaft bildete. Ohne Zweifel hat es auch der Drohungen bedurft, die seit der Französischen Revolution auf dem sozialen Gleichgewicht ruhten, [...] damit eine Reflexion soziologischen Typs erschien. Aber wenn diese Ausführungen wohl erklären können, warum in einem bestimmten Umstand und als Antwort auf eine präzise Frage die Wissenschaften sich artikuliert haben, kann ihre immanente Möglichkeit, die nackte Tatsache, daß zum ersten Mal, seit es menschliche, in Gesellschaft lebende Wesen gibt, der Mensch isoliert oder in der Gruppe zum Gegenstand der Wissenschaft geworden ist, nicht als ein Phänomen der Anschauung [frz. opinion] betrachtet oder behandelt werden: es ist ein Ereignis innerhalb der Ordnung des Wissens [frz. savoir].“86
Die aus diesem Zitat ersichtliche Kohärenz der Episteme und ihre Stellung im kulturellen Gesamtzusammenhang ist ein wichtiges Merkmal der Gegenstands86 Die Ordnung der Dinge [1966]: 414.
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bestimmung in der Ordnung der Dinge. Die Humanwissenschaften bestehen in ihrer Nachbarschaft zu den empirischen Wissenschaften und bilden daher einen Bestandteil gerade der modernen Episteme. Denn die Humanwissenschaften werden nicht einfach dadurch definiert und in ihrer Gestalt bestimmt, dass sie sich dem Menschen zuwenden: „Aus dem guten Grunde, daß nicht der Mensch sie konstituiert und ihnen ein spezifisches Gebiet bietet. Sondern es ist die allgemeine Disposition der episteme, die ihnen Raum gibt, sie hervorruft und einrichtet und ihnen so gestattet, den Menschen als ihr Objekt zu konstituieren.“87 „Die Archäologie hat also ihnen gegenüber zwei Aufgaben: die Weise zu bestimmen, auf die sie sich in der episteme, in der sie verwurzelt sind, anordnen; und auch zu zeigen, worin sich ihre Konfiguration radikal von der der Wissenschaften im strengen Sinne unterscheidet.“88
Im Aufbau der Wissenschaften hält Foucault neben der Philosophie zunächst zwei erkenntnistheoretisch in der Moderne notwendig getrennte Bereiche fest. Die analytischen, apriorischen, rein deduktiven (mathematischen oder nichtmathematischen) Naturwissenschaften müssen unterschieden werden von den empirischen Wissenschaften (Biologie, Ökonomie und Sprache), die auf die Synthese angewiesen sind, weil sich nun im Gegensatz zur Klassik, „die Verbindung der Repräsentationen [...] nicht mehr in der Bewegung ihrer eigenen Zerlegung herstellt“89. Dabei kann sich allerdings jedes der Gebiete mit den beiden anderen überschneiden. Die Humanwissenschaften stellen dagegen keinen davon getrennten unabhängigen Bereich dar, sondern sie sind abgeleitet und greifen nach den Formalisierungen, Modellen oder Seinsbestimmungen der empirischen Wissenschaften. Zugleich maßen sie sich an, diese zu begründen. Durch ihre unklare erkenntnistheoretische Position bringen die Humanwissenschaften die anderen Wissenschaften in Gefahr und Versuchung, in einen Psychologismus, Soziologismus, Historizismus – kurz, Anthropologismus – zu verfallen. Wie sind die Humanwissenschaften in Bezug auf die anderen Dimensionen des Wissenschaftsraums gelagert? Die Mathematik wird klar umrissen auf begrenzte, quantifizierbare Gebiete der Humanwissenschaften angewandt. Das Verhältnis zu den empirischen Wissenschaften ist komplexer, insofern sie sich zugleich mit dem Menschen als ei-
87 Die Ordnung der Dinge [1966]: 437. 88 Die Ordnung der Dinge [1966]: 438. 89 Die Ordnung der Dinge [1966]: 303.
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nem möglichen Objekt positiven Wissens gebildet haben. Diese Existenzweise des Menschen lässt ihn Teil des Lebendigen sein, lässt ihn Symbole bilden, produzieren, organisieren, konsumieren. Gegenstand der Humanwissenschaften ist aber nicht der Mensch in seinem biologischen Funktionieren oder der Bau und die Veränderungen der Sprache, sondern die Humanwissenschaften beleuchten den Raum der menschlichen Verwendungsweise, Sinngebung und Reflexion der Positivitäten, den die empirischen Wissenschaften nicht ins Auge fassen. Die Humanwissenschaften übernehmen Fragestellungen der Philosophie und beanspruchen – obwohl sie von Seiten der Philosophie Vorwürfen bezüglich der Naivität ihrer eigenen Begründung ausgesetzt sind –, sich gegenüber den empirischen Wissenschaften in einer reduplizierenden Position zu befinden, indem sie nach dem fragen, was die empirischen Wissenschaften erst ermöglicht. Zwei Aspekte werden sofort deutlich. Die Humanwissenschaften sehen das menschliche Verhalten als ein immer schon gedeutetes, bedeutendes und untersuchen es nicht in seiner, wie Foucault sich ausdrückt, „größten Transparenz“90. Außerdem wird unter dem Blick der Humanwissenschaften das Wissen der empirischen Wissenschaften zu immer nur einem unter möglichen. Interessant an dieser Position ist, dass sich die Humanwissenschaften dadurch von den anderen Wissenschaften distanzieren können, diese Position aber auch gegenüber sich selbst einnehmen können. So kann es etwa eine Soziologie der Soziologie geben. Die Humanwissenschaften nehmen also einen metaepistemologischen Raum ein. Ihr Ziel ist dabei nicht eigentlich ein bestimmtes Wissen über den Menschen und nicht ein formalisierter Diskurs, sondern sie betreffen die Endlichkeit und Relativität des Menschen. Daher wirken sie auch oft so unbestimmt und ungenau. Das heißt natürlich – und das ist eine Grundüberlegung bei Foucault –, dass alle methodischen Unsicherheiten der Humanwissenschaften sich nicht aus dem Gebiet des Menschen, seiner Komplexität als Gegenstand selbst ergeben, sondern aus ihrer erkenntnistheoretischen Stellung. „Die abendländische Kultur hat unter dem Namen des Menschen ein Wesen konstituiert, das durch ein und dasselbe Spiel von Gründen positives Gebiet des Wissens [Herv. i.O.] sein muß und nicht Gegenstand der Wissenschaft [Herv. i.O.] sein kann.“91
Die Kohärenz und das Verhältnis zum Gegenstand sind zwar bei den Humanwissenschaften ausschließlich durch ihre Positivität im epistemologischen Feld als Ergebnis der Disposition der Episteme und nicht durch ihren Gegenstand bestimmt. Dennoch gehören sie nicht zum Gebiet der Meinungen, sondern sie ge90 Die Ordnung der Dinge [1966]: 425. 91 Die Ordnung der Dinge [1966]: 439.
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hören zusammen mit jenen Wissenschaften, die Objektivität und Systematizität besitzen, zum positiven Gebiet des Wissens (savoir) – dem Gebiet, dessen erkenntnistheoretische Konfiguration (die den Boden seiner Positivität bildet und es daher ermöglicht hat) von der Archäologie enthüllt wird.92 Foucault distanziert sich hier auch vom Ideologiebegriff und etwa der Sicht, Humanwissenschaften einen ideologischen Status als durch Interessen oder Glauben motiviert zu geben. Je nachdem mit welcher der empirischen Wissenschaften sie sich verbinden, teilt Foucault die Humanwissenschaften in drei Felder. Im psychologischen Bereich kann das Lebewesen Mensch in seinen biologischen Funktionen und deren Grenzen repräsentiert werden. Im soziologischen Bereich gibt sich das ökonomische Individuum die Repräsentation einer Gesellschaft als Rahmen für seine Aktivitäten. Ein dritter Bereich, mit der Philologie und Linguistik verknüpft, untersucht die sprachlichen Zeugnisse von Menschen oder Kulturen,93 – was man also heute möglicherweise als Kulturwissenschaften benennen würde. Des Weiteren ist zu bestimmen, welche Form der Positivität (Rationalitätstyp, Organisation durch Begriffe) und welches Verhältnis zur Repräsentation die Humanwissenschaften haben. Bezüglich der Gliederung der Positivitäten hebt Foucault für die Humanwissenschaften zwei Modi heraus:94 Begriffe können, aus den empirischen Wissenschaften entlehnt, als Metaphern fungieren – wie beispielsweise die organizistische Metapher in der Soziologie. Es besteht aber auch die Möglichkeit, über konstituierende Modelle Zusammenhänge von Phänomenen als Wissensobjekte zu bilden, deren Verbindungen zwar in der Empirizität gesichert sind, die aber in den Humanwissenschaften die Rolle von Kategorien spielen, weil sie sich der Erfahrung als schon verbunden darstellen. Auch diese Modelle sind den empirischen Wissenschaften entnommen: die Funktion der Biologie, der Konflikt der Ökonomie und die Bedeutung der Philologie. Assoziiert mit menschlichen Reaktionen werden sie in die Humanwissenschaften eingeführt. So können die Funktionen durch Normen erfüllt werden, die Konflikte werden in Regeln gebunden, an der Projektionsoberfläche der Sprache wird das menschliche Verhalten als Bedeutung in einem kohärenten System gefasst. Gemäß Foucault sind diese drei Begriffspaare für die Humanwissenschaften konstitutiv und organisieren ihr gesamtes Gebiet. 92 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 437ff. 93 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 426. 94 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 427ff.
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Wenn auch jeweils ein Paar dominiert, so lässt sich doch immer ein humanwissenschaftlicher Bereich auch durch die beiden anderen beziehungsweise deren Begrifflichkeiten interpretieren, wodurch sich die Humanwissenschaften vermischen und vervielfältigen. Diese Verwendung mehrerer Modelle ist kein methodisches Problem, sofern sie klar abgegrenzt erfolgt. So ist es möglich, Mythen primär auf ihre Bedeutung und ihr Bezeichnungssystem hin zu untersuchen, sie können dann aber auch in Termini von funktionaler Kohärenz oder von Konflikten und Regeln gefasst werden. Allerdings finden auch die großen Kämpfe der Humanwissenschaften immer unter den Vorzeichen dieser Begrifflichkeiten statt – je nachdem, wie man die jeweils anderen Begriffspaare wertet und in die Analyse miteinbezieht. So würde etwa die Genese im Gegensatz zur Struktur die Funktion betonen, oder die Opposition zwischen Verstehen und Erklären eine Entschlüsselung der Bedeutung vor die Möglichkeit stellen, etwas als Konsequenz eines Konflikts oder auch unter dem Gesichtspunkt seiner Funktion zu betrachten. Man kann aber darüberhinaus, wie Foucault vorschlägt, die Veränderung der Humanwissenschaften insgesamt in Hinsicht auf die jeweilige Dominanz eines empirischen Bereichs lesen. Seit der Romantik waren demnach zuerst die Biologie, dann die Ökonomie und zuletzt die Philologie beziehungsweise Linguistik Leitwissenschaften. Zudem hat sich in diesem Zeitraum auch die Gewichtung von Funktion, Konflikt und Bedeutung zu Norm, Regel und System verschoben. Die Herrschaft der drei ersten Begriffe teilte die so geordneten wissenschaftlichen Objekte immer in einen negativen und einen positiven Pol und bezeichnete somit eine Andersartigkeit. Der Begriff der Funktion zum Beispiel schließt immer auch die Dysfunktion ein, weshalb es zu einer Psychologie der Pathologie oder einer Pathologie der Gesellschaft (Durkheim) kam. Dagegen betonen Norm, Regel und System (prominent etwa bei Goldstein, Mauss, Dumézil) als bevorzugte Perspektiven der Analyse die innere Kohärenz des Untersuchten. „Das Feld der Humanwissenschaften wird vereinheitlicht, indem es pluralisiert wird, weil die Systeme isoliert sind, weil die Regeln geschlossene Gesamtheiten bilden, weil die [...] [Normen] sich in ihre Autonomie stellen: Es hat plötzlich aufgehört, nach einer Dichotomie von Werten gespalten zu sein.“95 „[Daher] ist es nicht mehr möglich gewesen, [...] selbst in Bezug auf von der Geschichte aufgegebene Gesellschaften von ‚primitiven Mentalitäten‘, selbst in Bezug auf absurde Erzählungen oder offensichtlich kohärenzlose Legenden von ‚nichtsbedeutenden Reden‘ zu sprechen.“96
95 Die Ordnung der Dinge [1966]: 432. 96 Die Ordnung der Dinge [1966]: 432.
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Dieser Wechsel von der ersten Begriffstriade zur zweiten hat als weitere Implikation – wie in dem Zitat schon angedeutet – die Verlagerung der Aufmerksamkeit von Entwicklung und Kontinuität zur Diskontinuität. Foucault betont, dass diese Verschiebung die Humanwissenschaften sehr grundlegend spaltet, was auch für eine humanwissenschaftliche Anthropologie gelten kann. Zugleich ist aber offensichtlich, dass der unterschiedliche Zugang zu den Positivitäten (genetisch versus struktural, verstehen versus erklären) nicht noch zu lösende oder in eine Richtung aufzulösende Probleme ausdrückt, sondern dem Wesen der epistemologischen Verortung der Humanwissenschaften entspricht. Die zweite wichtige Frage an die Humanwissenschaften betrifft die Rolle der Repräsentation.97 Foucault sieht die Humanwissenschaften im Gegensatz zu den empirischen Wissenschaften im Bereich und unter dem Gesetz der Repräsentation angesiedelt. Dem widerspricht auch nicht, dass sie sich vor allem mit den jeweils zweiten Hälften der genannten Begriffspaare den Grenzen des Bewusstseins und dem Unbewussten zuwenden. Zudem sind ja auch Funktionen, Konflikte oder Bedeutungen nicht nur vorhanden und wirksam, wenn sie im expliziten Bewusstsein präsent sind. „In der Tat ist die Repräsentation nicht das Bewußtsein, und nichts beweist, daß dieses Hervorbringen von Elementen oder Organisationen, die niemals als solche dem Bewußtsein gegeben werden, die Humanwissenschaften dem Gesetz der Repräsentation entgehen läßt.“98
Daher untersucht Foucault, in welcher Weise die sechs Begriffe, von denen aus der Mensch gedacht wird, als Repräsentation funktionieren. Zum Beispiel „ [...] besteht die Rolle des Begriffs der Bedeutung darin, zu zeigen, wie etwas wie eine Sprache, selbst wenn es sich nicht um einen expliziten Diskurs handelt und selbst wenn sie nicht für ein Bewußtsein entfaltet wird, im allgemeinen der Repräsentation gegeben werden kann. Die Rolle des komplementären Begriffs des Systems ist es, zu zeigen, wie die Bedeutung niemals ursprünglich und zeitgleich mit sich selbst ist, sondern stets sekundär und gewissermaßen im Verhältnis zu einem System abgeleitet, das ihr vorhergeht, wobei dieses System ihren positiven Ursprung bildet und sich allmählich in Fragmenten und Profilen durch sie hindurch gibt.“99
In den Humanwissenschaften können mit dem Begriff der Funktion das Leben, mit dem des Konflikts die ökonomischen Bedürfnisse oder Interessen und mit 97 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 433ff. 98 Die Ordnung der Dinge [1966]: 433. 99 Die Ordnung der Dinge [1966]: 433.
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dem der Bedeutung die Sprache in der Repräsentation analysiert werden. Und zwar erscheint hierin der Mensch als jeweils erste Hälfte seiner Dublettenstruktur, als Empirisches, Cogito und Zurückweichen des Ursprungs. Normen, Regeln sowie das System binden andererseits die Repräsentation von Leben, Arbeit und Sprache an die menschliche Figuration. Daher bestimmen in den Humanwissenschaften die Normen als Transzendentalie die Funktionen, die Regeln als Ungedachtes den Konflikt und das System mit der (versprochenen) Wiederkehr des Ursprungs die Bedeutung. Der Analytik der Endlichkeit entsprechend bildet die andere Seite der Dublette Mensch also eine stets vorausgesetzte Festlegung des Menschen. Auf die Wissenschaft bezogen versprechen die ersten Begriffshälften, in der Repräsentation Unbewusstes oder nicht explizit Bewusstes aufklären und darstellen zu können, während die zweite Hälfte der Begriffspaare hier vorgibt, wie die Grenze und die Endlichkeit der Repräsentation selbst durch ein reflexives Bewusstsein erfasst werden können. Die Humanwissenschaften stellen somit von ihrer metaepistemologischen Position aus den Platz der Ergebnisse der empirischen Wissenschaften, ihren Platz in Bezug auf den Menschen in seiner Endlichkeit und seiner Möglichkeit zu wissen, fest. Wenn man die Seinsweise des Menschen in den empirischen Wissenschaften, die dem Gesetz des Unbewussten entgehen, definiert, was ist dann aber, so fragt Foucault, „die Repräsentation anderes als ein Phänomen empirischer Ordnung, das sich im Menschen ereignet und das man als solches analysieren könnte? Und wenn die Repräsentation sich im Menschen vollzieht, welchen Unterschied gibt es dann zwischen ihr und dem Bewußtsein?“100 Aber für die Humanwissenschaften ist die Repräsentation eben nicht solch ein Gegenstand, sondern sie ist ihr eigenes Fundament. Das bedeutet erstens, dass als einziger Bereich des modernen Wissens die Humanwissenschaften wie das klassische Wissen (aber natürlich nicht als dessen Fortsetzung) notwendig in der Repräsentation ruhen. Daher kann Foucault sagen: „Wenn man das Gebiet des Wissens vom Menschen über seine Grenzen hinaus ausdehnt, dehnt man gleichzeitig die Herrschaft der Repräsentation darüber hinaus aus und stellt sich erneut in eine Philosophie klassischen Typs.“101
Zweitens zeigt sich, dass die Humanwissenschaften in ihrem Gegenstand, der Repräsentation, das behandeln, was sie selbst ermöglicht.
100 Die Ordnung der Dinge [1966]: 435. 101 Die Ordnung der Dinge [1966]: 436.
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„So suchen sie weniger, wie die anderen Wissenschaften, danach, sich zu verallgemeinern oder zu präzisieren, als danach, sich unaufhörlich zu entmystifizieren: von einer unmittelbaren und nicht kontrollierten Evidenz zu weniger transparenten, aber grundlegenderen Formen überzugehen. Dieses quasi transzendentale Vorwärtsgehen gibt sich stets in der Form der Entschleierung. [...] Am Horizont jeder Humanwissenschaft gibt es den Plan, das Bewußtsein des Menschen auf seine realen Bedingungen zurückzuführen, es auf die Inhalte und Formen zurückzubringen, die es haben entstehen lassen und die sich in ihm verbergen. Deshalb ist das Problem des Unbewußten [...] nicht nur ein den Humanwissenschaften immanentes Problem, auf das sie zufällig bei ihrem Vorgehen träfen, sondern es ist ein Problem, das schließlich ihrer Existenz koextensiv ist. Eine transzendentale Überhöhung, die in eine Entschleierung des Nichtbewußten umgekehrt ist, ist konstitutiv für alle Wissenschaften vom Menschen.“102
Und schließlich kommt zu den soeben angeführten Unwägbarkeiten und Ambivalenzen der Humanwissenschaften noch eine weitere Relativierung: der Historizismus. Obwohl auch Foucault selbst unter diesem Vorzeichen gelesen werden kann, lehnt er diese Denkfigur letztlich ab und beansprucht, ihr mit seiner Ethnologie entgehen zu können. Wichtig für die Verortung der Humanwissenschaften in der modernen Episteme ist der Zirkel des Historizismus – die äußere Grenze: Bis jetzt blieb die Geschichte als Wissenschaft im wissenschaftlichen Raum ausgespart, „obwohl sie die erste und gewissermaßen die Mutter aller Wissenschaften vom Menschen und vielleicht ebenso alt ist wie die menschliche Erinnerung“103. Sie hat zu den Humanwissenschaften eine noch grundlegendere Beziehung, als es die bloße Nachbarschaft in einem gemeinsamen Raum wäre. Gerade die Geschichte hat sich – wie oben schon mehrfach angesprochen – in der Moderne grundlegend neu geordnet. Das hat natürlich auch Auswirkungen auf das Verhältnis von Mensch und Geschichte. Noch in der Klassik waren die Menschen und die Welt in ein gemeinsames Werden gebunden, wo jeweils eine Seite sich nach der anderen ordnete. Mit dem Bruch Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hat sich dieser kontinuierliche Raum aufgelöst, indem die Dinge als Positivitäten eine ihnen eigene Historizität erhalten haben. Der Mensch sieht die Natur und ihre Geschichte beispielsweise also nicht mehr mit seinem Sein verknüpft. „Seit dem neunzehnten Jahrhundert tritt eine nackte Form der menschlichen Historizität ans Licht. Die Tatsache, daß der Mensch als solcher dem Ereignis ausgesetzt ist.“104 Und wenn der Mensch versucht, eine eigene Historizität 102 Die Ordnung der Dinge [1966]: 436. 103 Die Ordnung der Dinge [1966]: 439. 104 Die Ordnung der Dinge [1966]: 443.
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wiederzufinden, dann muss er sich doch als sprechendes, arbeitendes und lebendes Wesen sehen und kann höchstens deren Überschneidung darstellen. In dieser Hinsicht hat der Mensch keine eigene Geschichte mehr, sondern ist verflochten mit verschiedenen Geschichten der Positivitäten. Allerdings kann die Geschichte der Positivitäten nur über ihn stattfinden. Die Humanwissenschaften beanspruchen die Geschichte des Menschen als ihren Gegenstand, werden aber durch die Geschichte darauf verwiesen, dass keiner ihrer Inhalte und auch nicht sie selbst einer Veränderung durch die Geschichte entgehen. In den Humanwissenschaften findet, wie oben dargestellt, durch ihre Ambivalenzen und ihre Sicht des Menschen eine Relativierung innerhalb der positiven Erkenntnis statt, insofern der Mensch in den Humanwissenschaften immer das Unbewusste enthüllen will und feststellt, was ihn begrenzt, wobei durch diese Endlichkeit die Positivität entstanden ist. Durch die Geschichte wird die Humanwissenschaft auch noch von außen her begrenzt und pendelt hier in ähnlicher Weise zwischen positiver Erkenntnis und deren zeitlicher Relativierung. „Im modernen Denken stehen sich der Historizismus und die Analytik der Endlichkeit gegenüber. Der Historizismus ist eine Weise, die ständige kritische Beziehung für sich zur Geltung zu bringen, die sich zwischen der Geschichte und den Humanwissenschaften bewegt. Aber er errichtet sie allein auf der Ebene der Positivitäten: die positive Erkenntnis des Menschen wird durch die historische Positivität des Subjekts, das erkennt, begrenzt, so daß der Augenblick der Endlichkeit in dem Spiel einer Relativität aufgelöst wird, der zu entgehen nicht möglich ist und die selbst als ein Absolutes gilt.“105 „Jede Erkenntnis wurzelt in einem Leben, in einer Gesellschaft, einer Sprache, die eine Geschichte haben. Und in dieser Geschichte selbst findet sie [die Erkenntnis] das Element, das ihr gestattet, mit anderen Lebensformen, anderen Gesellschaftstypen und anderen Bedeutungen zu kommunizieren. Deshalb impliziert der Historizismus stets eine bestimmte Philosophie oder zumindest eine bestimmte Methodologie des lebendigen Begreifens (in dem Element der Lebenswelt [Herv. i.O.]), der zwischenmenschlichen Kommunikation (vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Organisationen) und der Hermeneutik (als Wiedererfassen eines zugleich sekundären und primären, das heißt eines mehr verborgenen, aber auch grundlegenderen Sinnes durch den offenbaren Sinn eines Diskurses hindurch).“106
Im Gegensatz zur Analytik der Endlichkeit erscheinen im Historizismus aber nicht die begrenzenden – und zu hintergehenden – Positivitäten, sondern er begnügt sich damit, partielle, von den Positivitäten begrenzte Totalitäten festzustellen und an einer Methodologie, diese adäquat zu verstehen, zu arbeiten. Daher 105 Die Ordnung der Dinge [1966]: 446. 106 Die Ordnung der Dinge [1966]: 446.
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beansprucht die Analytik der Endlichkeit, weiter zu gehen als der Historizismus, wenn sie die Frage nach der Beziehung zwischen Sein und menschlichem Sein stellt und vorhat, „auf dem Grunde aller Positivitäten und vor ihnen die sie ermöglichende Endlichkeit auftauchen zu lassen“107. Die Analytik der Endlichkeit kann die Frage nach der Seite des menschlichen Seins und deren Beziehung zu den Positivitäten betonen, weil die moderne Endlichkeit nicht von außerhalb des Menschen kommt, sondern die Endlichkeit schon bei der Wahrnehmung der den Menschen von außen begrenzenden Positivitäten beginnt, weil der Mensch in seiner Erkenntnis durch eben diese Positivitäten begrenzt ist und zugleich sie durch sein Sein begründet. Indem in der Analytik der Endlichkeit Positivitäten immer auch zu Elementen des Menschen und seines Seins werden, besteht ein Unterschied zwischen Positivitäten und ihrer Grundlage, der zugleich verschwindet. Das bedeutet, dass Unterschied und Identität dasselbe sind. Hier offenbart sich ein komplexes und widersprüchliches Verhältnis zwischen dem Gleichen und dem Anderen in der Moderne. Die moderne Episteme impliziert ein Bewegung vom Anderen zum Gleichen: Foucaults komparative Analyse lässt als Basis all der Unterschiede zwischen Renaissance, Klassik und Moderne den grundlegenden Stellenwert des Anderen in der Moderne erscheinen – auch wenn er dies kaum so explizit betont. Die Analytik der Endlichkeit und die Doppelstruktur des Menschen sowie der Humanwissenschaften zeigen alle, dass in der Moderne das Problem nicht mehr wie in der klassischen Zeichentheorie darin besteht, die kontinuierlich über kaum merkliche Differenzen verlaufenden Repräsentationen in einer Genese des Unterschiedes in ein Tableau definierter Identitäten und Unterscheidungen zu verteilen. In der Moderne nimmt der Mensch von dieser Geschichte des Gleichen Abschied und findet überall das Andere, das er in einer Synthese des Unterschiedlichen zu seinem Gleichen machen muss. Der Moderne geht es also darum, dass das Ferne und Andere zugleich ebenso das Nächste, das Gleiche ist, womit sich Unterschied und Identität angleichen. Diese Enthüllung des Gleichen wird aber durch die Doppelsicht der modernen Episteme verhindert. „Mit Recht sieht Foucault in dieser Disposition des modernen Denkens den archäologischen Ursprung für die Ausbildung einer Dialektik. Im Gegensatz zum klassischen Denken, dem die Vielfalt der Differenzen und begrenzten Identitäten unbedrohlich war, weil sie das Konzept einer homogenen, aber analytischen und zeit-indifferenten Vernunft nicht antastete, muß das moderne Denken seine ‚dissémination‘ dialektisch integrieren [...].“108 107 Die Ordnung der Dinge [1966]: 447. 108 Frank 1984: 194.
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E THNOLOGIE ALS PARADIGMATISCHE
G EGENWISSENSCHAFT
Die Befreiung vom Menschen ist nach Foucault der einzige Ausweg aus all den erkenntnistheoretischen Problemen der modernen Episteme. Die Philosophie befindet sich – so Foucaults Diagnose – durch diese spezifisch moderne Analytik des Menschen in einem ‚anthropologischen Schlaf‘, der die zentralen Möglichkeiten der Philosophie verhindert. Um das Denken aus diesem Schlaf zu holen, ist es notwendig „das anthropologische ‚Viereck‘ bis in seine Grundlagen hin zu zerstören“109. Foucault hofft, dass diese anthropologische Struktur sich heute auflöst, weil – und hier beschreibt er offenbar das Ziel seiner Arbeit – erkannt wird, wie sie ihren eigenen Anfang verschleiert und sich einem veränderten Denken verschließt. Insofern will Foucault ein philosophisches, das heißt zum Teil schweigendes, Lachen all jenen entgegensetzen, „[...] die noch vom Menschen, von seiner Herrschaft oder von seiner Befreiung sprechen wollen, all jenen, die noch fragen nach dem Menschen in seiner Essenz, jenen, die von ihm ausgehen wollen, um zur Wahrheit zu gelangen, jenen umgekehrt, die alle Erkenntnis auf die Wahrheit des Menschen selbst zurückführen, allen, die nicht formalisieren wollen, ohne zu anthropologisieren, die nicht mythologisieren, ohne zu demystifizieren, die nicht denken wollen, ohne sogleich zu denken, daß es der Mensch ist, der denkt, [...].“110
Foucaults Arbeiten und besonders die Ordnung der Dinge bilden offensichtlich die hörbare Seite dieses Lachens. Natürlich stellt sich nun die Frage, wie er sein Ziel erreichen will und seine eigene subversive Tätigkeit im epistemologischen Raum verortet sieht. In gewissem Ausmaß lässt sich dies seinem Konzept von Gegenwissenschaft entnehmen – weiter verdeutlicht es dann die Archäologie des Wissens. Am Ende der Ordnung der Dinge stellt Foucault Anzeichen eines neuerlichen Umbruchs fest und beleuchtet seine Vision einer neuen Episteme ohne den Mensch der Moderne, die sich anzukündigen scheint. Wichtig sind hierbei drei strukturalistisch gewendete Wissenschaften: Ethnologie, Psychoanalyse und Linguistik. Diese Gegenwissenschaften gehören zwar wohl noch zur Moderne, bedeuten aber eine ständige Störquelle dieser Episteme, indem sie von einer erkenntnistheoretisch besonderen Position aus deren Grundlagen hinterfragen. „Zu dritt stellen sie, indem sie es ‚darlegen‘, genau das aufs Spiel, was dem Men109 Die Ordnung der Dinge [1966]: 411. 110 Die Ordnung der Dinge [1966]: 412.
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schen gestattet hat, erkannt zu werden.“111 Foucault entwirft das Bild einer Ethnologie, der seine Archäologie in wesentlichen Punkten entspricht. Ihre Besonderheit ist keinesfalls durch eine größere Wissenschaftlichkeit bedingt, sondern durch ihren besonderen Gegenstand und ihre besondere Stellung und Funktion in der modernen Episteme. Die Positivität der Grenze in Foucaults Ethnologie Aus Foucaults Sicht sind Ethnologie und Psychoanalyse112 epistemologisch eng verknüpft. Beide Wissenschaften gehen wie die übrigen Humanwissenschaften von der Begrenztheit und Determiniertheit des Menschen aus. Sie fragen aber nicht danach, wie man dies immer weiter zurückdrängen oder wie man dennoch wissen kann. Und ihr Gebiet ist laut Foucault auch nicht das, was sich bei einem solchen Prozess langsam enthüllt. Denn sie haben einen anderen Gegenstand: sie machen gerade diese Begrenzungen selbst zu ihrem Thema. Die Ethnologie bezieht sich demnach auf die äußere Begrenzung kultureller Tatsachen. Dies verleiht der Ethnologie einen alle Humanwissenschaften umfassenden Gegenstandsbereich. So untersucht sie, welcher Begrenzung die Humanwissenschaften unterliegen, wenn sie ihre Erkenntnisse und ihren Menschen von außen mit der eigenen Geschichte konfrontieren.113 Ihre subversive Wirkung erlangt sie, indem sie sich die Frage der Historizität stellt. Foucaults Aussagen über die Beziehung der Ethnologie zur Historizität werden in der Sekundärliteratur als Aufforderung an die Ethnologie gelesen, die Humanwissenschaften über deren Historisierung, im Sinne kulturspezifischer Verortung zu relativieren. Dass Foucaults historische Ethnographien dies bewirken können, soll nicht bestritten werden. Dennoch bezieht sich Foucault an dieser Stelle meines Erachtens auf eine weitere Dimension der Ethnologie. Wenn sie nämlich die Humanwissenschaften gerade auch von der Historizität her kritisieren kann, verdankt die Ethnologie dies ihrem eigenen besonderen und distanzierten Verhältnis zur Historizität, insofern die Abfolge von Ereignissen nicht im Vordergrund der Analyse einer Kultur steht.
111 Die Ordnung der Dinge [1966]: 456. 112 Die Psychoanalyse werde ich nur insoweit darstellen, als zum Verständnis des Projekts der Gegenwissenschaften allgemein notwendig ist. 113 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 450.
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„[Dadurch] hebt [sie] den langen ‚chronologischen‘ Diskurs auf, durch den wir versuchen, unsere eigene Kultur innerhalb ihrer selbst zu reflektieren, um synchronische Korrelationen in anderen Kulturformen hervorzuheben.“114
Diese Herangehensweise ist bei der Ethnologie gemäß Foucault zwar auch durch die schwierige Quellenlage begründet, aber er macht deutlich, warum dieser Blick eine bewusste Wahl sein kann, von der sich Foucault grundlegend neue Perspektiven verspricht. Abgesehen davon, was der Strukturalismus für die anthropologische Theoriebildung und Methodik selbst bedeutet, ist es bemerkenswert, wie und wie weit reichend Foucault die Folgen der strukturalistischen Ethnologie einschätzt. Denn nach Foucault bewirkte diese Ethnologie in der westlichen Moderne einen Perspektivenwechsel, wonach (durch die Betonung der Strukturen) andere Kulturen nicht mehr als Stadien betrachtet werden, die in unseren Kulturprozess einzuordnen sind. Zugleich vermeidet Foucaults Konzeption der Ethnologie es aber auch, das Subjektmodell zu übertragen – und zwar, weil damit die Moderne selbst beginnt, eine andere Geschichtlichkeit zu denken, indem sie ihre eigene Historizität auf ihre epistemischen Bedingungen zurückführt. Die Ethnologie anerkenne zwar, dass sie selbst historisch relativ ist, soll aber dennoch nicht in den Aporien des Historizismus gefangen sein. Der Rekurs auf die Rolle der Historizität in Lévi-Strauss’ Arbeiten kann hier einen wichtigen Hinweis liefern, woher die Ethnologie ihre eigentümliche, subversive Position gewinnt – ein Bezugspunkt, bei dem es Foucault explizit um eine Zurückweisung unserer Geschichtlichkeit, eben auch des Historizismus geht.115
114 Die Ordnung der Dinge [1966]: 450f. 115 Es ist vielleicht zu bemerken, dass Foucaults Aussagen zur Ethnologie verhältnismäßig undurchsichtig sind und entgegen seinem sonstigen Duktus auch nicht etwas verschoben mehrfach wiederholt werden. Dies ist möglicherweise mit Grund für eine Reflexion dieser Passagen in der Sekundärliteratur, die der Ethnologie bei Foucault meines Erachtens nicht in vollem Umfang Tribut zollt. Sehr differenziert und ausführlich behandelt Fink-Eitel (1994: 211-214) dies, doch verfolgt auch er offenbar nicht den hier hervorgekehrten Stellenwert der Ethnologie für Foucaults Ansatz. Fink-Eitel (1994: 212) schreibt: „Aus der Perspektive der fremden, archaischen oder ‚primitiven‘ Kultur zeigte sich schließlich die ‚Historizität‘, d.h. die historische Relativität der hochzivilisierten europäischen Kultur als ganzer [Herv. i.O.].“ Er stellt also nicht darauf ab, dass Foucault die Historizität selbst als das benennt, was durch die Ethnologie kritisiert wird. Dies wird klarer, wenn man nochmals darauf verweist, dass Foucault hier nicht an die „verstehende Ethnologie“ denkt (so aber Fink-Eitel 1994: 211f.), sondern an die strukturalistische Ethnologie, die sich ‚nach der Weise reiner Theorie‘ mit allen anderen Kulturen verbinden können soll.
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Die kritische Infragestellung der äußeren Grenzen der Humanwissenschaften ist nur durch eine Außenperspektive möglich. Diese distanzierte Sichtweise – die Foucault als die historische Souveränität des europäischen Denkens bezeichnet – stellt für ihn die erkenntnistheoretische Eigenart der Ethnologie dar. Und diese Distanz nimmt Foucault wohl auch in Anspruch, wenn er, wie es Fink-Eitel darstellt, „reflexiv hinter den authentischen Geltungsbereich der Ethnologie“116 zurücktritt und in einer „Art Ethnologie der Ethnologie“117 ihren archäologischen Grund hervorkehren möchte. Entstanden ist die Ethnologie laut Foucault in einer bestimmten historischen Konstellation, nämlich dem Kolonialismus. Und wenn die Ethnologie sich nun aus diesem Kontext emanzipieren konnte und dieses Verhältnis für ihren Fortbestand nicht mehr notwendig ist, so wurde es doch dem europäischen Denken gerade hierin möglich, sich in einer distanzierten Weise mit jeder Kultur und zwar – was Foucault explizit betont – auch der eigenen „nach der Weise reiner Theorie zu verbinden“118. Die vielleicht paradoxe Vermittlung von historischer Relativität und objektivierender Äquidistanz und die vorerst nur knappe, etwas unbefriedigende Begründung dieser Position bieten prägnante Ansatzpunkte für weitere Überlegungen zu Foucaults Projekt. Weil die Ethnologie nach Foucault die Distanz zum Objekt nicht leugnet, sondern sogar betont, kann sie mit dieser besonderen Beziehung zum Gegenstand die Bewegung, die den Historizismus entstehen lässt, umkehren. Die Ethnologie geht nämlich nicht von einem historisch gegebenen Subjekt aus, auf das sie die (empirischen) Ergebnisse der Humanwissenschaften oder auch ihre eigenen zurückbeziehen müsste und könnte – wie es der Historizismus als äußere Grenze der Humanwissenschaften tut. Sondern die Ethnologie verbindet die jeweiligen spezifischen kulturellen Formen, das heißt, wie sich eine Kultur von anderen abgrenzt und Kohärenzen bildet, mit den Positivitäten (Arbeit, Leben, Sprache). Auf diesem Weg kann die Ethnologie in einer Art Umkehrung des Historizismus aufweisen, welche Geschichtlichkeit in einer Kultur erschienen ist, indem die Historizität auf die Positivitäten einer Kultur zurückgeführt wird. „So zeigt die Ethnologie, wie sich in einer Kultur die Normalisierung der großen biologischen Funktionen, die Regeln, die alle Tausch-, Produktions- und Konsumtionsformen möglich machen oder vorschreiben, und die Systeme bilden, die sich um das oder nach dem Modell der linguistischen Strukturen organisieren. Die Ethnologie schreitet also zu jener Region vor, in der die Humanwissenschaften sich nach dieser Biologie, dieser Öko116 Fink-Eitel 1994: 211. 117 Fink-Eitel 1994: 211. 118 Die Ordnung der Dinge [1966]: 451.
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nomie, dieser Philologie und dieser Linguistik gliedern, von denen man sah, um wieviel sie sie überragten. Deshalb ist das allgemeine Problem jeder Ethnologie genau das der Beziehung (Kontinuitäts- oder Diskontinuitätsbeziehung) zwischen der Natur und der Kultur. Aber bei dieser Frageweise wird das Problem der Geschichte umgekehrt, denn es handelt sich dann um die Bestimmung, und zwar gemäß den benutzten Zeichensystemen, gemäß den vorgeschriebenen Regeln und den funktionalen Normen, die man gewählt und gesetzt hat, welcher Art historischen Werdens die Kultur unterliegt. Es geht um die Erfassung bis zur Wurzel der Art der Geschichtlichkeit, die darin erscheinen kann, und der Gründe, weshalb die Geschichte notwendig kumulativ oder zyklisch, progressiv oder regulatorischen Oszillationen unterworfen, zu spontanen Anpassungen fähig oder Krisen unterworfen ist.“119
Dabei umgeht die Ethnologie natürlich die Innensicht – und zwar vor allem die unserer eigenen Kultur. Das heißt, sie umgeht „die Repräsentationen, die die Menschen in einer Zivilisation von sich selbst, ihrem Leben, ihren Bedürfnissen, von den in ihrer Sprache niedergelegten Bedeutungen haben können. Und sie sieht hinter diesen Repräsentationen die Normen auftauchen, von denen her die Menschen die Funktionen des Lebens erfüllen [...], ebenso wie die Regeln, durch die sie ihre Bedürfnisse verspüren und aufrechterhalten, und die Systeme, auf deren Hintergrund jede Bedeutung ihnen gegeben ist.“120
All diese Bestimmungen der Ethnologie machen nicht nur ihren zentralen Stellenwert als Kritik deutlich, sondern auch, wie sehr Foucaults eigene Arbeit diesem Verständnis von Ethnologie gleicht. Die Psychoanalyse als zweite Gegenwissenschaft verunsichert die Humanwissenschaften zusätzlich von innen durch ihre direkte Beschäftigung mit dem Unbewussten. Sie sucht somit nach jenem spezifischen Unbewussten der Moderne, von dem her die Humanwissenschaften bestehen. Ihr Thema ist, welche inneren Grenzen die Humanwissenschaften und der von ihnen beschriebene Mensch bei der Endlichkeit ihres Erkennens haben. Gegenstand von Ethnologie und Psychoanalyse soll das Unbewusste sein. Aber diese Wissenschaften gehen, wie sich Foucault ausdrückt, nicht rückwärts zum Unbewussten, womit sie im Raum des Repräsentierbaren blieben, sondern sie gehen mit dem Blick auf die Grenzen gewandt, um so die Repräsentation zu überschreiten und zum historischen Apriori des epistemischen Gebiets, das die jeweils spezifische Sicht des Menschen ermöglicht und bestimmt, zu gelangen.121 119 Die Ordnung der Dinge [1966]: 451f. 120 Die Ordnung der Dinge [1966]: 452f. 121 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 448, 452f.
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„Es war also notwendig, daß beide immer Wissenschaften des Unbewußten sind, nicht weil sie im Menschen das erreichen, was unterhalb seines Bewußtseins liegt, sondern weil sie sich dem zuwenden, was außerhalb des Menschen erlaubt, daß man (und zwar in einem positiven Wissen) das weiß, was seinem Bewußtsein gegeben wird oder ihm entgeht.“122
Es sind Gegenwissenschaften, die dem Menschen, wie er die Positivität der Humanwissenschaften bildet, seine Evidenz nehmen. „Keine Humanwissenschaft kann [daher] sicher sein, von ihnen unbehelligt zu bleiben oder völlig unabhängig von dem zu sein, was sie haben entdecken können, noch kann sie sicher sein, nicht von ihnen in der einen oder anderen Weise abhängig zu sein. Aber ihre Entwicklung hat die Besonderheit, daß sie trotz ihrer quasi universellen ‚Tragweite‘ nie einen allgemeinen Begriff des Menschen erreichen.“123
Und das ist sicher einer der wesentlichsten Punkte: diese Ethnologie und Psychoanalyse können und wollen keine Anthropologie erstellen. Im Gegenteil: sie lösen den Menschen auf, wie Foucault mit Berufung auf Lévi-Strauss sagt.124 Ethnologie und Psychoanalyse könnten aber noch darüber hinaus verbunden sein. Ihr Zusammenhang sollte zwar nicht mehr darin gesehen werden, Ergebnisse gegenseitig zu übertragen, weil das Individuum Teil der Gesellschaft ist und die Gesellschaft sich im Individuum spiegelt. Hingegen könnten die beiden Wissenschaften ein gemeinsames Feld haben, in dem die Geschichte der Individuen auf das Unbewusste der Kultur und die Historizität der Kultur auf die Struktur des Unbewussten der Individuen bezogen ist.125 Wenn die Ethnologie sich die unbewussten, eine Kultur charakterisierenden Prozesse als Gegenstand wählen würde – und nicht mehr das Studium der geschichtslosen Gesellschaften –, dann hätte das große Folgen. Foucault schlägt hier vor, die Ethnologie könnte die Historizitätsbeziehung (le rapport d’historicité) im Gegenstandsbereich der Psychoanalyse ansiedeln und würde so ein System des kulturellen Unbewussten mit formalen Strukturen definieren, die die Positivitäten regeln und formen.126 Die Psychoanalyse würde sich gleichermaßen durch die Erkenntnis der formalen Struktur des Unbewussten der Ethnologie an-
122 Die Ordnung der Dinge [1966]: 453. 123 Die Ordnung der Dinge [1966]: 453. 124 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 453. Die Referenz an diesem wichtigen Punkt der Argumentation ist bezeichnend, bedenkt man Foucaults minimale Anbindungen an autoritative Literatur. 125 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 454. 126 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 454.
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gleichen. Damit bestünde der Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Individuum nach Foucault in zwei sich kreuzenden Linien. Die Erfahrung des Individuums konstituiert sich durch eine signifikante Kette, die senkrecht zum formalen System, von dem aus sich die Bedeutungen einer Kultur errichten, steht. Die Struktur der individuellen Erfahrung findet im gesellschaftlichen System Wahlmöglichkeiten und Ausgeschlossenes. Die gesellschaftliche Struktur findet in ihren Wahlpunkten eine Anzahl von möglichen und unmöglichen Individuen – so wie die Sprache zum Beispiel die Wahl zwischen mehreren Wörtern und mehreren Phonemen lässt, alle anderen aber ausschließt. Das Sein der Sprache in Linguistik und Literatur Das formale Modell solch einer von Foucault geforderten Ethnologie und Psychoanalyse könnte daher eine Sprachtheorie sein. Diese Linguistik ist Foucaults dritte Gegenwissenschaft. Und da sie ganz auf die dem Menschen äußerliche Positivität gegründet wäre, könnte sie die Humanwissenschaften am stärksten erschüttern. Der Wunsch nach einer vom Menschen unabhängigen Positivität – in diesem Fall dem Gegenstand der Linguistik – als Vorgabe für ein formales Modell scheint allerdings nicht so radikal neu. Wie Foucault selbst sagt, spielte etwa die Biologie eine ähnliche Rolle. War dies nur eine biologistische Lesart des Menschen, oder war vielleicht auch hier die von Foucault kritisierte Reduplizierung des Menschen aufgelöst – und hatte gerade diese Eindimensionalität heute meist für sehr bedenklich erachtete Implikationen? Sicherlich hat die Sprache respektive die Linguistik bestimmte Besonderheiten; und andererseits könnte die Biologie als formales Modell in einem anderen Kontext wohl eine andere Rolle spielen. Die Frage also, inwieweit im Gegenzug zum humanwissenschaftlichen Menschen eine weniger ambivalente Festlegung wünschenswert ist, wäre in Hinsicht auf die Konsequenzen einer spezifischen linguistischen Vorgabe und die jeweils aktuellen Rahmenbedingungen hin konkretisiert zu betrachten. Foucault jedenfalls argumentiert, dass zwar auch aus den Wissenschaften der beiden anderen Positivitäten, der Biologie und der Ökonomie, Begriffe entlehnt wurden, um die Humanwissenschaften darunter zu vereinigen, dass eine solche Rolle der Linguistik aber weit größere Folgen haben könnte. Die Sprache ist nämlich eine Positivität, die als Fundamentales gelten kann, insofern das Denken in ihr und durch sie hindurch denken kann. In diesem Fall würde es sich nicht bloß um eine linguistische Lesart des Gegenstandes der Humanwissenschaften handeln, sondern die Linguistik gestattet
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„[...] die Inhalte selbst zu strukturieren. [...] [S]ie ist das Prinzip einer ursprünglichen Entschlüsselung. Unter einem mit ihr bewaffneten Blick gelangen die Dinge zur Existenz nur, insoweit sie die Elemente eines Zeichensystems bilden können. Die linguistische Analyse ist mehr eine Perzeption als eine Explikation. Das heißt: sie ist konstitutiv für ihr Objekt.“127
Unter dieser Perspektive taucht die Struktur auf. Daraus ergeben sich dann aber auch Veränderungen auf den anderen epistemologischen Gebieten. Beispielsweise stellt sich, wenn es um die Frage einer Formalisierung in den Humanwissenschaften geht, die Problematik ihrer Beziehung zu den oben angesprochenen formalen, apriorischen Disziplinen wie der Mathematik neu und interessanter, als es nur der Versuch zu quantifizieren war. Zugleich macht dieser Stellenwert der Linguistik die Frage nach dem Sein der Sprache drängend – danach, was die Sprache ist, dass sie strukturiert, was ja nicht von sich aus Diskurs ist. Einerseits wird und soll nach Foucault in Hinsicht auf die Strukturierung der positiven Inhalte die „Frage nach einer allgemeinen Formalisierung des Denkens und der Erkenntnis“ gestellt werden, um „die alte empirische Vernunft durch die Konstituierung formaler Sprachen zu reinigen und eine zweite Kritik der reinen Vernunft von neuen Formen des mathematischen Apriori her auszuüben“128. Aber daneben „hebt eine der Sprache gewidmete Literatur die fundamentalen Formen der Endlichkeit in ihrer empirischen Lebhaftigkeit hervor“129. Hier zeigt sich, wie am äußersten Punkt der Sprache und des Sprechens der Mensch nicht „zum Zentrum seiner selbst gelangt, sondern zur Grenze dessen, was ihn einschließt“130. Man sieht nun im Rückblick auf die Einführung zu Beginn des ersten Teils, wie sich bei Foucault die beiden am Verschwinden des Subjekts arbeitenden Richtungen, nämlich Wissenschaft und Literatur zusammenfügen und verbinden.131 Am Ende seines Textes zu Roussel betont Foucault nochmals die angesprochene Nähe zwischen Literatur und wissenschaftlichen Positionen: 127 128 129 130 131
Die Ordnung der Dinge [1966]: 456. Die Ordnung der Dinge [1966]: 458. Die Ordnung der Dinge [1966]: 458. Die Ordnung der Dinge [1966]: 458. Dies steht im Gegensatz zur Einschätzung von Welsch (1991: 141f.) und im Anschluss daran z.B. auch Lavagno (2003: 238). Welschs Argument ist, dass zwei konträre Sprachoptionen konfudiert werden und dass das Sein der Sprache nur in der Literatur zum Tragen kommt, da „der linguistische Zugriff auf die Sprache als solcher herrscherlich und verfügend ist“ (Welsch 1991: 148). Sofern nicht jede Analyse diese Qualifikation verdient, bleibt offen, warum dies gerade auf den Strukturalismus zutreffen sollte, zumal dieser ja interpretative Analysen, die nicht auf die Materialität
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„[Roussel] hat der literarischen Sprache einen seltsamen Raum eröffnet, den man linguistisch nennen könnte, wenn er nicht gerade dessen umgekehrtes Bild, dessen träumerischer, verzauberter und mythischer Gebrauch wäre.“132
Wenn in der und durch die Linguistik als Modell der Gegenwissenschaften das Sein der Sprache zum Vorschein gebracht wird, so öffnet dies Verbindungen zur Literatur. In der wissenschaftlichen Analyse geht (mit der subjektloslinguistischen Formalisierung) der Referent verloren und die Bedeutung wird zu einem Randphänomen – dagegen erscheint die Struktur (der Sprache und der kulturellen Relationen). Zugleich stellt die Literatur nun auch sich selbst die Frage nach dem Sein der Sprache, und der Signifikant wird von Referent und auch Signifikat gelöst. Aber das meint nach Foucault nicht eine Abschließung der Sprache oder unbedingt etwas ganz Neues, sondern zunächst ist es eine in der Moderne angelegte Bewegung, die die hier postulierte Endlichkeit selbst zum Thema und erfahrbar macht. Dennoch vermutet Foucault das Ende der Moderne – obwohl, wie er sofort bemerkt, dieser Gedanke des Abschlusses und des Neubeginns selbst eine moderne Figur ist –, weil heute durch die neue Rolle der Sprache nicht mehr der Mensch gefestigt werden soll. Selbst wenn die verschiedenen Seinsweisen der Sprache noch nicht aufgehoben sind, so kündigt sich für Foucault ihre (neuerliche) Einheit doch gerade mit diesen beiden Polen an. Die Verabschiedung von der Repräsentation der Klassik, die vielfache Zerstreuung und vielfältige Sicht der Sprache hat ja nicht nur das Erscheinen des Menschen ermöglicht, sondern es bedeutet zugleich ein Wiedererscheinen der Sprache. Dies ist also ein Aspekt der Moderne, auf den Foucault große Hoffnung setzt. Wenn dieses Sein der Sprache sich wieder sammeln würde, so könnte dies den Menschen, wie er heute ist, ins Schwanken bringen. In der Ordnung der Dinge sind es die an das Wiederauftauchen des Seins der Sprache in der Moderne geknüpften strukturalistischen Wissenschaften, denen dieses Potential zugesprochen wird. Vielleicht kann auch eine Form gefunden werden, beides – Mensch und Sprache – gleichzeitig und ohne die Widersprüchlichkeiten der modernen Episteme zu denken. Foucault scheint diese Verbindung zwar nicht unbedingt auszuschließen, aber er stellt fest, dass es dies zumindest in der abendländischen Episder Sprache gerichtet sind, vermeidet. Und kann ein solcher Zugriff nicht auch ein ‚Sein der Sprache‘ aufweisen, wenn er selbst dem Sprachmodell folgt. In jedem Fall aber spricht Foucault für Linguistik und Literatur ohnehin von unterschiedlichen Seinsweisen der Sprache. Ihre Gemeinsamkeit besteht im Kontrast zur Klassik, wo die Sprache kein eigenes Sein hatte. 132 Raymond Roussel [1963]: 191.
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teme noch nie gegeben hat. Wenn es Aufgabe der Moderne war, dem Menschen einen festen Ort zu geben in einer Welt, wo der noch das Descartes’sche Cogito sichernde Gott verschwunden war, so setzt sich nach dieser ‚Tötung‘ der Mensch selbst an einen gefährlichen Platz, von dem er – und auch das findet Foucault bei Nietzsche angekündigt – bald verschwinden könnte. An Stelle Gottes ist also nicht auf den Menschen zu setzen, sondern auf ein ‚man‘, anonymes Denken, Theoretisches ohne Subjekt, ein Gedankensystem (einer Sprache und einer Epoche).133 Die Archäologie betritt „offenbar den Raum, in dem ein Denken ‚wieder möglich‘ sein wird, nämlich ein gänzlich anonymes Denken (wie es das der Mythologie war): ein Denken, das nicht mehr wie das Denken im Werk von Kant als Prädikat einem Subjekt zugehört [...].“134
Wie die ausführliche Explikation des letzten Abschnitts der Ordnung der Dinge hervorkehren sollte, kann Foucaults Selbstdefinition als Ethnologe eine grundlegende Standortbestimmung sein. In einem Interview, das kurz nach Erscheinen der Ordnung der Dinge stattfand, sagt Foucault explizit über seine Arbeit: „Man könnte sie als eine Analyse der Zivilisationstatsachen, die unsere [Herv. i.O.] Kultur charakterisieren, definieren und insofern würde es sich um etwas wie eine Ethnologie [Herv. i.O.] der Kultur, der wir angehören, handeln. Ich versuche tatsächlich, mich außerhalb der Kultur, der wir angehören, zu stellen, um ihre formalen Bedingungen zu analysieren, um gewissermaßen ihre Kritik [Herv. i.O.] zu bewerkstelligen: aber nicht um ihre Werte herabzusetzen, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich entstanden sind. Indem ich die Bedingungen unserer Rationalität analysiere, stelle ich auch unsere Sprache, stelle ich meine Sprache, deren Entstehung ich analysiere, in Frage. Sie arbeiten also an einer Ethnologie unserer Kultur. Oder zumindest an einer Ethnologie unserer Rationalität, unseres Diskurses.“135
Foucault hat somit am Ende der Ordnung der Dinge mit der Beschreibung der Ethnologie als Gegenwissenschaft eine theoretische und methodische Position abgesteckt, die für sein eigenes Projekt paradigmatischen Charakter hat. Ich denke, dass sich hier eine gerade in der Sozial- und Kulturanthropologie nicht genug beachtete Dimension seiner subversiven Methode zeigen kann. Wenn es nun also darum geht, Foucaults neue Gegenposition zu explizieren, so taucht im Anschluss an die Ordnung der Dinge die Frage nach der Produktivität seines ethnologischen Projekts auf. Andererseits weist die Analyse der Ordnung der 133 Vgl. Entretien avec Madeleine Chapsal [1966]: 208. 134 Frank 1984: 245. 135 Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 12.
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Dinge darauf hin, dass die Kultur- und Sozialanthropologie mit ihren verschiedenen Richtungen doch in vielerlei Hinsicht dem von Foucault gezeichneten Bild der Humanwissenschaften entspricht. Es ist sicher möglich, innerhalb der Anthropologie die begrifflichen Verschiebungen und durch wechselnde Leitwissenschaften bedingten Gewichtungen der einzelnen Humanwissenschaften nachzuvollziehen. Dadurch ergibt sich die Situation, dass Foucault unter dem Banner der Ethnologie auch gegen aktuelle Strömungen der Ethnologie respektive Anthropologie zielt, und sie mit der Auflösung des Menschen ‚gegenstandslos‘ macht. Ziel des ersten Teils war insbesondere, vor Augen zu rücken, worin für Foucault die große Bedeutung einer Ethnologie besteht, die er zusammen mit der Psychoanalyse als Gegenwissenschaft im Feld der Humanwissenschaften einführt. Wie ich meine, begründet er die Rolle der Ethnologie mit einer zweifachen Verschiebung des Blicks. Die Humanwissenschaften beziehen ihre Repräsentationen wesentlich auf den Menschen und seine Voraussetzungen. Dieses Denken lässt Foucault in aller Deutlichkeit mit Kant beginnen. Aber im Gegensatz zu Kants Zugang sind diese Voraussetzungen dann nicht ahistorische, formale Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis a priori. Sondern in der modernen Analytik der Endlichkeit, auf der die Humanwissenschaften beruhen, geht es um jeweils spezifische Begrenzungen des Menschen und damit seiner Erkenntnismöglichkeit – Begrenzungen, die als das jeweils Nichterkannte den Blick auf das Empirische in seinem eigenen Sein verstellen, im Ungedachten das Cogito hintergehen und einen stets zurückweichenden Ursprung vorgeben. Zugleich beansprucht der Mensch, wie ihn die Moderne konzipiert, aber das Potential, als Herr seiner selbst die jeweils eigenen Begrenzungen, die ihn ausmachen, zu erkennen und zu übersteigen. Diese Ambivalenz steht im Brennpunkt von Foucaults epistemologischer Kritik an der modernen Episteme. Wenn sich also die Humanwissenschaften in der Psychologie dem Leben, in der Soziologie der Arbeit und in der Philologie der Sprache als historischem Produkt des Menschen zuwenden, so impliziert das nicht nur eine Zirkularität, da diese Positivitäten mit jeweils geschichtlicher Eigendynamik zugleich Voraussetzungen des Menschen und seiner Erkenntnisse sind, sondern es gestattet den Humanwissenschaften auch die Anmaßung, die anderen Wissenschaften zu begründen, und birgt somit die Gefahr, besonders die empirischen Wissenschaften zu anthropologisieren. In diesem Kontext hat der Historizismus die Funktion, historische Totalitäten zu relativieren. Und dennoch schließt sich Foucault nicht diesem Denken an, sondern setzt gerade in Abhebung davon auf die Ethnologie – so meine Argumentation. Die Ethnologie nämlich entgeht in ihrer strukturalistischen Form den
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Zirkelschlüssen der Humanwissenschaften. Zwar ist auch sie von der modernen Analytik der Endlichkeit getragen. Aber sie ist nicht auf das von seinem Ungedachten begrenzte Cogito oder einen zurückweichenden Ursprung oder ein dem Transzendentalen gegenüberstehendes Empirisches hin orientiert. Die Ethnologie befragt hingegen jenen Bereich, in dem sich die Humanwissenschaften im Bezug auf gerade diese und nicht eine andere Biologie, Ökonomie und Philologie artikulieren – womit also Foucaults Arbeit in der Ordnung der Dinge beschrieben ist. Basis ihres Gegenentwurfs ist, dass die Ethnologie, wie Foucault sagt, nicht mit dem Rücken zur Grenze steht und das Ziel verfolgt, diese zurückzudrängen, den Raum der Repräsentation auszudehnen oder etwas Dahinterliegendes zu erreichen, sondern dass sie sich den Grenzziehungen zuwendet. Diese Passagen machen auch deutlich, wie in der Analyse des Gleichen oder Eigenen ein differenzierender, das Eigene distanzierender, objektivierender Selbst-Bezug der Rolle des Anderen epistemologisches Gewicht verleiht. Wenn Foucault nun im Zusammenhang mit der Ethnologie die Historizität wieder ins Spiel bringt, so deutet die Sekundärliteratur dies allgemein dahingehend, dass die Ethnologie angesichts synchroner wie die Geschichte angesichts diachroner Vielfalt relativierend wirkt. Eine genauere Beschäftigung mit der Ethnologie kann allerdings Zweifel aufkommen lassen, ob Foucault hier nur auf ihre der Geschichte vergleichbare und diese ergänzende Funktion rekurrieren wollte. Damit rückt die Perspektive ins Licht, dass der Ethnologie im Gegenteil die Aufgabe zukommt, die Geschichte selbst zu relativieren. Denn in den Relativierungen der Geschichte, wie sie der Historizismus darstellt, beruhen sowohl die Entstehung der Vielfalt als auch die Verständnismöglichkeit verschiedener Epochen auf der ambivalenten Figur des modernen Menschen. Dies macht die Hoffnung plausibel, dass die Ethnologie – wiewohl historisch bedingt – als einzige Wissenschaft heute von Außen ein Gegenmodell zur Geschichtlichkeit der Moderne bieten kann. Insofern beweist sich die Rolle der Ethnologie als Gussform für Foucaults Neuorientierung, von der die Archäologie des Wissens ebenso getragen ist wie alle Arbeiten danach.
Ethnologische Perspektive
Es gibt gewissermaßen ein kaum wahrnehmbares Schachbrettmuster aus schwarzen und weißen Feldern, das die Modalität einer Kultur definiert. Das Muster dieser Felder wollte ich auch auf die Erforschung der Geschichte der Denksysteme anwenden. […] Ich habe also lediglich eine Methode angewendet, die in der Ethnologie bereits bekannt war. WAHNSINN UND GESELLSCHAFT [1970]: 157
Im ersten Teil sollten das Anfangskapitel zu Wahnsinn und Gesellschaft und das darauf folgende Zwischenkapitel die für meine Frage nach Foucaults ethnologischem Blick grundlegende Zäsur in Foucaults Arbeiten vermitteln. Dieser Einschnitt bedeutet einen Abschied von jedem Ansatz, der kulturelle Vielfalt, das Eigene und Andere oder ‚das Fremde‘ für sich genommen und substantiell erfassen will. Das umfangreiche dritte Kapitel zur Ordnung der Dinge beschäftigte sich mit Foucaults groß angelegter Dekonstruktion der modernen Konfigurationen. Damit wird den Humanwissenschaften nun auch diskursintern der Boden entzogen – für ihre sozialkritische Problematisierung bleibt Wahnsinn und Gesellschaft wichtig. Diese Kritik mündet in den herausragenden Stellenwert, welcher der Ethnologie zukommt. Alles Weitere ruht auf der Konstruktion einer dadurch charakterisierten Beziehung zum Anderen. Man kann sagen, dass Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft die westliche Vernunft auf ihre Konstitution durch Ausschluss zurückgeführt hat, während er in der Ordnung der Dinge analysiert, wie sie das Gleiche bestimmt. Mit Hilfe der Episteme von Renaissance und Klassik erarbeitet Foucault hier vor allem eine Kritik des Gleichen. Und dabei zeigt er in der Untersuchung des modernen humanistischen Menschenbildes unter anderem, dass dieses Denkmodell seine Identität auch durch Integration und Angleichung des hier immer vorausgesetzten Anderen aufrechterhält. Im Unterschied zur Moderne geht die in der Ordnung der Dinge ausführlich beschriebene klassische Episteme hingegen vom ‚Gleichen‘ aus. Es geht also darum zu fragen:
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„[U]nter welchen Bedingungen hat das klassische Denken Beziehungen der Ähnlichkeit oder der Äquivalenz zwischen den Dingen reflektieren können, die die Wörter, die Klassifikationen und den Austausch begründen und rechtfertigen? Von welchem historischen Apriori aus ist es möglich gewesen, das große Schachbrett der deutlichen Identitäten zu definieren, das sich auf dem verwirrten, undefinierten, geschichtslosen und gewissermaßen indifferenten Hintergrund der Unterschiede erstellt?“1
Im zweiten Teil wird nun versucht, Foucaults Verortung als Ethnologe unserer Kultur weiter auszuloten. Bisher konnte man seine Position vor allem als Kritik und Distanzierung von der modernen Episteme verstehen. Das wirft die Frage auf, welche Perspektive Foucaults eigener Diskurs beinhaltet. Nach der nun anschließenden Überlegung, wie Foucault seinen Gegenstand positioniert, soll die Archäologie als die mit der Diskursanalyse neben anderen Sozialwissenschaften auch in der Anthropologie prominent gewordene Methode genauer untersucht werden. Dabei ist zu klären, welchen theoretisch-methodischen Zugang Foucaults Begriffe als Ersatz für die ausgehöhlten Humanwissenschaften anbieten. Im darauf folgenden Kapitel wird die ethnologische Verortung von Foucault auf ihre Strategie im Zusammenhang mit der Geltung kultureller Diversität hin ausgelotet. Diese Überlegung ist für die philosophische Diskussion besonders virulent, spielt in der Anthropologie hingegen keine prominente Rolle, sodass hier das Potential, welches der Ethnologie als paradigmatische Kritik der Moderne bei Foucault zukommt, ins Bewusstsein zu rücken wäre. Das letzte Kapitel bespricht dann in Bezug auf die in Foucaults Ethnologie zum Ausdruck kommende Subjektivität Fragen, die auch in der Anthropologie ausführlicher thematisiert werden und kann daher vielleicht der Philosophie eine etwas andere Einschätzung von Foucault bieten. Zugleich sind die Kapitel aber linear so angelegt, dass Foucaults Epistemologie fortschreitend expliziert wird.
1
Die Ordnung der Dinge [1966]: 27.
Widerstand im Gegenstand
In diesem Kapitel soll genauer auf Fragen eingegangen werden, die das Objekt in Foucaults ethnologischer Positionierung gemäß der Ordnung der Dinge und die dabei zum Tragen kommenden Argumentationsfiguren betreffen. Insbesondere ist zu überlegen, wie Foucault den wissenschaftlichen Raum konzipiert, um seine von der Ethnologie inspirierte Archäologie in Bezug auf ihren Gegenstand zu platzieren und ihren spezifischen operativen Wert zu erreichen. Neben der Archäologie des Wissens liefert mit Rückgriff auf die Darstellung des vorigen Kapitels vor allem die Ordnung der Dinge das Material für die Exploration dieses Aspekts im Diskurs von Foucault. Die Ordnung der Dinge verbindet in der Foucault eigenen Weise mehrere Ziele. Zunächst will sie heftige Bewegung in das epistemische Feld bringen. Mit dem historischen Gegenstand zielt Foucaults ‚Geschichte der Gegenwart‘ in einem oft auch in der Sozial- und Kulturanthropologie typischen Verfahren direkt auf die eigenen Bedingungen. Allerdings unterscheidet sich die Ordnung der Dinge von den meisten anderen Texten Foucaults durch die ausschließliche Beschäftigung mit der wissenschaftlich-diskursiven Gegenstandsebene. Und dabei strahlt sie einen ungewöhnlichen Optimismus aus. Die Ordnung der Dinge ist von einem Grundton getragen, der auf eine neue Zeit hoffen lässt. Die Erwartung eines Umbruchs ist hier zudem nicht nur gerechtfertigt, weil Foucault wie in allen seinen Arbeiten zeigt, dass es immer auch andere Aktualisierungen des behandelten Themas gibt. Sondern das besondere Anliegen dieses Textes ist, direkt aufzuweisen, wie inkonsistent die Moderne ist. Außerdem kündigt sich mit der gegenüber Wahnsinn und Gesellschaft neuen Methodik, deren Archäologie, Darstellung und Durchführung Foucault in der Ordnung der Dinge leistet, schon an, dass Foucault nach seiner Dekonstruktionsarbeit in der darauf folgenden Archäologie des Wissens sein eigenes Begriffssystem explizieren wird. Die von ihrer Konstitution her ambivalenten Humanwissenschaften sollen von Foucaults Gegenwissenschaft abgelöst werden. Später kritisiert Foucault in einem Interview seine damalige Begeisterung als
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„eine der schädlichsten Formen, man muss vielleicht sagen, Gewohnheiten des zeitgenössischen Denkens, ich würde vielleicht sagen, des modernen Denkens [...]: die Analyse des gegenwärtigen Moments als Moment […] des Bruchs oder als Moment des Gipfelpunktes […] oder als Moment der wiederkehrenden Morgenröte.“1
Obwohl Foucaults Arbeiten von subversiver Intention getragen sind, könnte vor allem seinen Darstellungen der modernen Macht eine gewisse Ausweglosigkeit anhaften – selbst wenn die Analysen immer Gegenstrategien inkludieren und er dann auch Freiheit als Element der Machtoperation miteinbezieht. Dagegen orientiert sich die Ordnung der Dinge sehr direkt auf das klar bestimmte Ziel hin, den Menschen durch die Gegenwissenschaften „‚kaputt‘ zu machen“2. So weit folgt er also genau Lévi-Strauss’ Vorgabe: „[W]ir meinen, daß das letzte Ziel der Wissenschaften vom Menschen nicht das ist, den Menschen zu konstituieren, sondern das, ihn aufzulösen.“3 Wie auch Faubion betont, steht Foucault insofern „fraglos tief in der Schuld der strukturalistischen Vertreibung des Bewußtseins von der teleologischen Turmspitze, auf der es sowohl in der phänomenologischen wie auch in der materialistischen Tradition so lange verharrt hatte“4. Dass Foucault das Ergebnis der initiierten Unruhe nicht etwas mehr in Schwebe gelassen hat, ruft entsprechend scharf artikulierte Gegenreaktionen hervor. Dies ist auch ein Hinweis darauf, dass die Ordnung der Dinge offensichtlicher als andere Bücher von der Absicht geprägt ist, eine bestimmte neue Position zu stärken. Denn es stellt sich die Frage, ob die Ergebnisse der Ordnung der Dinge wirklich den zum Ende des Buches hin zunehmend lustvollaggressiven Ton gegen die Humanwissenschaften rechtfertigen, zumal ja die von Foucault vergleichsweise positiv dargestellte Renaissance durch ihr unendliches Spiel von Verweisen ebenso kein sicheres Wissen gewinnen konnte. „Mich interessierten [...] genau die Formen von Rationalität, die das menschliche Subjekt auf sich selbst anwandte. [...] Meine Frage ist die folgende: Zu welchem Preis kann das Subjekt die Wahrheit über sich selbst sagen? [...] [Die Ordnung der Dinge] fragte sich: Zu welchem Preis kann man problematisieren und analysieren, was das sprechende Subjekt, das arbeitende Subjekt, das lebende Subjekt ist?“5
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Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 543. Die Ordnung der Dinge [1966]: 454. Lévi-Strauss 1973: 284. Faubion 2008: 85. Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 536f.
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Und dennoch soll im Gegensatz zu den an bestimmten Dispositiven interessierten Büchern – aber vor deren Hintergrund – in der Ordnung der Dinge der Mensch der modernen Episteme argumentativ allein durch den Aufweis der inneren Widersprüchlichkeiten seiner kreisförmig unbeendbaren Selbstreflexionen oder assimilierenden Auflösung des eigenen Anderen vom Podest geholt werden.6
D IE
REINEN
W ISSENSCHAFTEN
SIND UNBERÜHRBAR
„Now Foucault is also deeply suspicious of truth-claims; to him every knowledge, even science, is a tool of the will to power. Epistemes are merely species of the genus power apparatus; [...] Reason is a technology of power; science, an instrument of domination.“7
Nicht jede Wissenschaft bedenkt Foucault allerdings mit gleicher Skepsis. Das führt zu einer für die Sozial- und Kulturanthropologie relevanten Frage: Spielen die Humanwissenschaften und damit zum Teil auch die Sozial- und Kulturanthropologie die Rolle des Prügelknaben? Auffällig – und in der Sekundärliteratur auch immer wieder vermerkt – ist nämlich, dass Foucault mit diesem Buch der Kritik an den Humanwissenschaften ein Arsenal an schlagkräftigen Argumenten zur Verfügung stellen will, jedoch keinen Angriff auf die Wissenschaft insgesamt unternimmt. Wie kann ein so sehr an der sozialen Relevanz von Wissenschaft interessierter Blick die Humanwissenschaften und grundsätzlich jede Episteme vehement relativieren und zugleich mit Hochachtung vor den deduktiven Wissenschaften, aber auch vor bestimmten Naturwissenschaften, zum Beispiel über die Physik (nicht unbedingt ironisch gemeint) schreiben: „In Frankreich zumindest räumt die Wissenschaftsgeschichte der Mathematik, Kosmologie und Physik – edlen Wissenschaften, strengen Wissenschaften, notwendigen Wissenschaften, die alle der Philosophie nahestehen – den ersten Platz ein: in ihrer Geschichte kann man den beinahe ununterbrochenen Ausfluß von Wahrheit und reiner Vernunft beobachten.“8
6 7 8
Welsch (1991) zeigt, wie in der Ordnung der Dinge Präzision und Suggestion wirken. Merquior 1991: 146. Im 1970 verfassten Vorwort zur deutschen Ausgabe der Ordnung der Dinge ([1966]: 9).
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Wenn das soeben angeführte Zitat in Rechnung gestellt wird, warum anerkennt Foucault den Anspruch auf Objektivität und damit offensichtlich die Selbstsicht der Naturwissenschaften und gesteht dies den Humanwissenschaften nicht zu? Misst Foucault in der Ordnung der Dinge mit zweierlei Maß und will die Naturwissenschaften verschonen?9 Allein schon diese Zuordnung der Physik ist erstaunlich.10 Sicher hat sich die Physik – zumindest bis vor kurzem, denn heute denkt man auch an eine mögliche Veränderung der ‚Naturgesetze‘ – ein konstantes und nicht vom Menschen abhängiges Forschungsobjekt gewählt, aber sie selbst in ihrer Positivität und daher ihre Ergebnisse müssten für Foucault doch ebenso relativierbar sein wie die empirischen Wissenschaften und die Humanwissenschaften.11 In diesem Zusammenhang ist auch bedenkenswert, dass Foucault sich nie auf Kuhns Arbeiten bezieht. In der Sekundärliteratur wurden die Parallelen zwischen den Ergebnissen, Begrifflichkeiten und Sichtweisen von Foucault einerseits und Kuhn andererseits mehrfach betont.12 Eine wichtige Gemeinsamkeit zwischen Foucault und Kuhn ist natürlich, dass beide Diskontinuitäten feststellen – und zwar übernimmt Kuhn dies erklärtermaßen von Koyré (womit er sich gegen Duhem wendet).13 In Frankreich sind in dieser Hinsicht schon ab den 1920er Jahren Bachelard und später besonders Canguilhem sehr prominent. Daher rekapituliert Hacking: „So Kuhn was a sensation for us, but rather old hat in France“14. Außerdem waren, wie Hacking weiter betont, dann Foucaults 9 10
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13 14
Zu dieser Einschätzung von Foucault vgl. z.B. in der Ordnung der Dinge ([1966]: 438). Natürlich will ich nicht implizieren, dass Foucault mit dieser Sichtweise allein ist, und vielleicht wirkt hier noch die von Kant her bekannte Trennung (vgl. Höffe 1992: 59f.). Wie Frietsch (2002: 146-148) ausführlich darlegt, ist Foucaults Strukturierung der Wissenschaften und so seine Einordnung der Physik auch für die in Frankreich übliche Gliederung des wissenschaftlichen Feldes, wo die ‚sciences physiques‘, die ‚sciences de la vie‘ und interdisziplinäre Biowissenschaften als Naturwissenschaften (oder Experimentalwissenschaften oder empirische Wissenschaften) zusammengefasst werden, ungewöhnlich. Von einer etwas anderen Seite her argumentierend fordert z.B. auch Lavagno (2003: etwa 119f., 137f.) mehrfach, dass Foucault neben Mensch und Geschichte auch die Natur im epistemologischen Fundament der Moderne hätte problematisieren sollen. Vgl. Honneth (1989: 133) oder Kögler (1994: 41). Eine ausführlichere Gegenüberstellung von Kuhn und Foucault findet sich bei Merquior (1991: 36ff.) und Frietsch (2002: 63f.). Vgl. dazu Hackings (1979: 45) Ausführungen. Hacking 1979: 45. Geradezu umgekehrt sieht offenbar Latour (1999: 114) später dann die Situation, wenn er schreibt, dass es nur dank des so genannten ‚Strong
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Forschungen zur Regelmäßigkeit der ‚immature sciences‘, also der weniger formalen Wissenschaften, für die USA sehr neu, da sich dort Kuhn oder auch Putnam nicht mit diesem ‚unordentlichen Morast‘ beschäftigten.15 Foucault selbst hingegen scheint eine Archäologisierung von (Natur-)Wissenschaften wie der Physik kein drängendes Anliegen zu sein. Obwohl er Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen von 1962 – allerdings offenbar nach Abschluss der Ordnung der Dinge – gelesen hat und lobt,16 spielen Kuhns Resultate auch später keine sichtbare Rolle in seinen Forschungen. Foucault bindet sich vielmehr stets explizit an eine beiden gemeinsame Inspirationsquelle, nämlich Canguilhem. Mit der gerade zitierten Position von Foucault stellen sich eine Reihe weiterer Fragen: Weshalb bemüht ein radikaler Relativist oder Konstruktivist die „reine Vernunft“? Beziehen sich seine häufig dezidiert geäußerten Bekenntnisse zu einer Mehrzahl von existierenden und potentiellen Rationalitäten womöglich immer nur auf einen bestimmten Bereich von Wissenschaften, Wissen und Praktiken? Existiert und gilt diese ‚reine Vernunft‘ nur in den Wissenschaften der westlichen Moderne oder hat sie generelle Status? Zur Beantwortung dieser Fragen soll zunächst das Problem angesprochen werden, was Wissenschaftlichkeit für Foucault bedeutet. Geht es ihm überhaupt um Wissenschaftlichkeit und sind Humanwissenschaften beziehungsweise Kulturwissenschaften möglich, die wissenschaftlich sind? Es ist kaum anzunehmen, dass Foucault seine Kritik nur zufällig bei den Humanwissenschaften begonnen hat, sondern die Naturwissenschaften und die ‚rein deduktiven‘ Wissenschaften können aus Foucaults Sicht gar nicht derselben Kritik unterliegen. Dies hängt mit dem sozialen Stellenwert zusammen, der den Humanwissenschaften nach Foucault zukommt. In Bezug auf die Funktion der Humanwissenschaften (vor allem im engeren Sinn der Geisteswissenschaften) wird – etwas verkürzt – oft unterschieden:17 Sollen sie den durch die Naturwissenschaften erzeugten Sinnbedarf bedienen? Oder sollen sie in der Gesellschaft eine Orientierungsfunktion überProgramme‘ der Edinburgh School möglich war, den Epistemologen in Frankreich zu entkommen und sich der blühenden angloamerikanischen Wissenschaftsgeschichte zu öffnen. Er bezieht sich dabei insbesondere auf Bloors Arbeiten, wonach nun wahres Wissen und falscher Glauben nicht mehr unterschiedlich behandelt würden. Allerdings gilt dies auch bereits für Foucaults Zugang. 15 Vgl. Hacking 1979: 39f. 16 Vgl. Foucault antwortet [1971]: 292f. 17 Nach Felt; Nowotny; Taschwer 1995: 158ff.
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nehmen, indem sie helfen, das naturwissenschaftlich-technische Verfügungswissen rational zu bewältigen? Oder sind sie immer schon wesentlicher Teil des modernen Aufklärungsprozesses und vollziehen sie die Moderne? Foucault würde für die von ihm analysierte Position der Geisteswissenschaften wohl die dritte Frage vehement bejahen.18 Man kann aber auch – soweit durchaus der von Foucault beschriebenen Selbstsicht der Humanwissenschaften folgend – davon ausgehen, dass es eine wichtige Aufgabe der Humanwissenschaften ist, zu den Naturwissenschaften oder empirischen Wissenschaften ein Gegengewicht zu bilden, sie zu verunsichern und außerhalb der wissenschaftlichen Gemeinschaft ihre Wahrheitsansprüche zu hinterfragen. Und dies auch dadurch, dass deren ‚a-soziale‘ Isolation, also ihre Reinheit lokalisiert wird. In diesem Sinne könnte also auch eine Befragung der Naturwissenschaften, eben etwa der Physik, erwartet werden – wie sie ja dann von anderen Forschern und Forscherinnen besonders ab den 1980er Jahren durchgeführt wurde.19 Und tatsächlich sieht Foucault im Gefüge der Wissenschaften auch die kontrollierende Rolle der Humanwissenschaften, doch stellt sich ihm dies als ein gefährlicher Übergriff der Humanwissenschaften auf die Naturwissenschaften und empirischen Wissenschaften dar.20 Eine grundlegend distanzierende Kritik an den empirischen Wissenschaften – sowie vielleicht auch an den ‚strengen Wissenschaften‘ – können die Humanwissenschaften wiederum aufgrund ihrer von den empirischen Wissenschaften abgeleiteten Form und der Fundierung durch eine gemeinsame epistemische Disposition ohnehin nicht leisten. Daher stellt sich die Frage nach anderen Verortungen der Kritik. Warum aber nicht nur Aufweis von dekonstruktiver Ohnmacht, sondern Auflösung der Humanwissenschaften? Die Vehemenz der Opposition ist zum 18 Allerdings würde Foucault nicht von einem (fortschreitenden) Aufklärungsprozess in positivem Sinne sprechen. 19 Zu erinnern wäre unter vielen anderen etwa an Arbeiten von Merchant oder Mayr (vgl. auch Shapin 1998: 202ff.), sowie grundsätzlich in diesem Sinne z.B. auch an Callon, Knorr-Cetina, Latour, Schaffer, Serres, Shapin, Shapiro oder an den von Pickering herausgegebenen Band und an die allerdings primär von der Biologie her mit dieser Kritik befassten Feministinnen Daston, Fox-Keller, Haraway, Harding, Martin, Schiebinger sowie natürlich die stark von Foucault ausgehenden Arbeiten von Rabinow. 20 Diesen Aspekt des wissenschaftlichen Gefüges bei Foucault hat auch Frietsch (2002: 155f.) kritisch hervorgehoben und hierin eine hierarchische Geschlechterkonnotation zwischen weichen, unreinen Humanwissenschaften und unangreifbaren, harten und reinen deduktiven Wissenschaften und Naturwissenschaften gesehen.
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Teil nachvollziehbar, wenn man bedenkt, dass Foucault mit der Ordnung der Dinge von epistemologischer Seite her gesellschaftliche Strukturierungen angreift, deren Problematisierung den Hintergrund seiner Forschungen bildet. Foucault beschreibt in anderen Büchern fragwürdige Institutionen der Moderne als Dispositive, in denen die Humanwissenschaften – Ausdruck einer bestimmten Macht/Wissens-Konstellation –21 wichtig sind. So ist die Geisteskrankheit gemäß Wahnsinn und Gesellschaft direkt mit der Psychologie verknüpft, und so ist die pathologische Anatomie an die Einbeziehung des Todes in die Medizin und dies wiederum an die Erfahrung der Individualität in der modernen Kultur gebunden – wie Foucault nochmals explizit in der Geburt der Klinik betont und hiermit schon auf die Analytik der Endlichkeit in der Ordnung der Dinge deutet.22 Ebenso stellt Foucault für die Disziplinar-, Überwachungs- und Normalisierungsverfahren mehrfach eine Verbindung zu den Humanwissenschaften her. So heißt es in Überwachen und Strafen: „Es soll also der Versuch unternommen werden, die Metamorphosen der Strafmethoden von einer politischen Technologie des Körpers her zu untersuchen, aus der sich vielleicht eine gemeinsame Geschichte der Machtverhältnisse und der Erkenntnisbeziehungen ablesen läßt. So könnte [...] verständlich werden, [...] wie eine spezifische Unterwerfungsmethode zur Geburt des Menschen als Wissensgegenstand für einen ‚wissenschaftlichen‘ Diskurs führen konnte.“23
Und an anderer Stelle sagt Foucault noch dezidierter:
21 Vgl. Überwachen und Strafen [1975]: 394 und z.B. 237. 22 Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 207f. Warum Foucault an dieser Stelle von der Erfahrung der Unvernunft (déraison), aus der alle Psychologien geboren worden seien, spricht, und nicht von Geisteskrankheit oder Wahnsinn (folie), ist eine mir unverständliche Verschiebung gegenüber den Ergebnissen von Wahnsinn und Gesellschaft – außer es ginge ihm hier um eine historisch-genealogische Linie, was aber vom Kontext her nicht evident scheint. 23 Überwachen und Strafen [1975]: 34f. Zudem heißt es im letzten Satz des Buches, dass es „Untersuchungen über die [...] Formierung des Wissens in modernen Gesellschaften als historischer Hintergrund dienen soll“ (Überwachen und Strafen [1975]: 397). In diesem Sinne vgl. auch Überwachen und Strafen ([1975]: 190f.), wo Foucault die Thematik der Disziplin mit dem Tableau, also Strukturmechanismen, die in der Ordnung der Dinge herausgearbeitet wurden, verknüpft und dabei nun differenziert, welche Rolle das Tableau für die unterschiedlichen kulturellen Ebenen spielt; vgl. des Weiteren etwa Überwachen und Strafen ([1975]: 207) zum Zusammenhang zwischen linearer, evolutiver Zeit (in der Ordnung der Dinge ein zentrales Thema) und den Disziplinarverfahren.
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„Die Disziplinen werden [...] einen Diskurs der natürlichen Regel führen, das heißt der Norm. Sie werden ein Gesetzeswerk definieren, welches das Gesetzeswerk nicht des Gesetzes, sondern der Normierung sein wird, und sie werden sich dabei notwendigerweise auf einen theoretischen Horizont beziehen, der nicht das Gebäude des Rechts, sondern das Feld der Humanwissenschaften sein wird [...].“24
Er sieht also, dass die Humanwissenschaften durch die institutionelle Integration ihres Wissens besondere Verantwortung tragen. Die damit verbundenen theoretischen Überlegungen zum Konnex von Wissen und Macht und insbesondere zu den in der Ordnung des Diskurses erarbeiteten Diskursregulationsmechanismen machen Foucaults Motiv für die Auseinandersetzung mit den Humanwissenschaften ganz deutlich. Kögler äußert die Vermutung, dass die Naturwissenschaften durch ihr Objekt weniger problematisch sind, weil sie sich „prinzipiell (und somit auch historisch) von sozialen Machtpraktiken befreien [können], da sie durch ihren Objektbereich ohnehin auf Phänomene gerichtet sind, die ursprünglich nicht dem Bereich sozialer Macht zugehören“, während die Humanwissenschaften als „Wissenschaften anderer Subjekte [...] selbst eine soziale Interaktionsform [darstellen] und somit ein potentielles Machtverhältnis“25. Offensichtlich werden die Humanwissenschaften also wesentlich mit der Formation der Gesellschaft in Zusammenhang gebracht, weshalb sich Foucault von ihrer Veränderung und Kritik so große Auswirkungen erwartet. Grundsätzlich können nämlich Wissenschaften einen sehr unterschiedlichen Stellenwert im gesamten Feld des Wissens und der Praxis haben. Das positiv zu zeigen, ist eine Aufgabe von Foucaults Archäologie. Beispielsweise spielte in der Klassik das wissenschaftliche Wissen über den Wahnsinn respektive die Unvernunft in der Praxis eine geringe Rolle, während dieses Wissen in der Moderne als Entscheidungsinstanz sehr wichtig wurde. Das wäre sicher ein Grund, die Wissenschaften und zumal die hier zum Einsatz kommenden Humanwissenschaften in der Moderne besonders zu hinterfragen, wohingegen dies bei der Klassik zum Teil ins Leere ginge. Daher ist eher zu verstehen, dass Foucault für die Verabschiedung dieses Menschen eintritt, damit eine neue wissenschaftliche Episteme beginnen kann, durch die das ‚menschliche Lebewesen‘ (wie er sich immer wieder ausdrückt) neuerlich anders bestimmt wird. Dies führt weiter zur Überlegung, welches Konzept hinter Foucaults Anerkennung der Naturwissenschaften und empirischen Wissenschaften steht. Es offenbart sich ein zunächst vielleicht unverständlicher Glaube an die ‚Reinheit‘ 24 Vorlesung vom 14. Januar 1976 [1976]: 247f. 25 Kögler 1994: 140.
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und Wissenschaftlichkeit dieser Wissenschaften und zwar in zweifacher, verknüpfter Weise. Wie das Eingangszitat von Foucault schon andeutete, sind sie einerseits rein und unschuldig, da sie gemäß Foucault vom gesellschaftlichen Kontext weitgehend gelöst und daher ihre Ergebnisse unverdächtig sind, solange sie nicht auf den Menschen übertragen werden. Zweitens sind die Naturwissenschaften und deduktiven Wissenschaften rein, da sie zwar epistemologische Bedingung dieses humanwissenschaftlichen Ungetüms Mensch sind, aber selbst ohne Konzept des Menschen (oder jedenfalls nicht mit diesem spezifisch modernen Konzept) operieren. Diesbezüglich sind sie jedoch durch eine Anthropologisierung von den Humanwissenschaften bedroht. Etwas überspitzt gesagt, scheint Foucault also davon auszugehen, dass sich diese Wissenschaften nicht selbst mit dem Menschen beschäftigen und darum mit allen Auswirkungen ihrer Ergebnisse auf die Gesellschaft nichts zu tun haben, weil das zumindest in der modernen Episteme eben in den Bereich der Humanwissenschaften fällt. Ein nächster Schritt wäre, die soeben skizzierte Einschätzung in Foucaults eigener Wissenschaftskonzeption nachzuzeichnen. Es ist anzumerken, dass Foucault in der Ordnung der Dinge sein Verständnis von Wissenschaft – von dem aus er die Unwissenschaftlichkeit der Humanwissenschaften kritisiert – nicht ausführlich expliziert hat, sodass diesbezüglich eher auf die Archäologie des Wissens26 zu rekurrieren ist. Allerdings bindet Foucault hier die unterschiedlichen kulturellen Bereiche wieder stärker zusammen. Foucault stellt sich zwei Probleme: Welche Rolle spielt eine Wissenschaft in ihrem so genannten archäologischen Territorium und wie kommt es zu einem Gebiet der Wissenschaftlichkeit? Die Formation der Aussagen einer diskursiven Praxis wird durch eine Gesamtheit von Beziehungen, Regeln oder Normen charakterisiert. Zu einer solchen diskursiven Formation gehören Wissenschaft, aber auch etwa Literatur oder Politik, also alle Aussagen, die bei dem Wissen eines bestimmten Bereichs eine Rolle spielen. Das archäologische Gebiet einer Wissenschaft kann sich somit durch das ganze Feld des Wissens ziehen, aber die Wissenschaft selbst besteht aus Propositionen, die bestimmten Konstruktionsgesetzen gehorchen. Die Wissenschaft lässt daher Teile des in der diskursiven Praxis Gebildeten beiseite. Die Archäologie einer bestimmten Disziplin folgt bei ihrer Untersuchung der Achse: diskursive Praxis – Wissen – Wissenschaft. Dabei betont Foucault besonders, dass das Subjekt im Bereich des Wissens angesiedelt und 26 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 253ff.
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eine davon abhängige Figur ist und dass es im Gegensatz zu den Unterstellungen der Ideengeschichte daher nie autoritativ als dessen Inhaber auftreten kann. Desgleichen will die Archäologie die Wissenschaften auch keinesfalls auf gelebte Erfahrung zurückführen. Foucault differenziert verschiedene Weisen, wie sich die Aussagen in einer diskursiven Formation anordnen.27 Die Positivität, die Epistemologisierung, Wissenschaftlichkeit und Formalisierung von Aussagen sind die vier von ihm genannten Schwellen, die diskursive Praktiken bestimmen. Die Archäologie soll vor allem analysieren, wie das Verhältnis dieser vier Schwellen zueinander aussieht und wie ihr Verlauf sich gestaltet – ein Verlauf, der aber jedenfalls schwerlich dem evolutiven Prinzip folgt. Hat sich eine diskursive Praxis vereinzelt und ihre Autonomie insofern gewonnen, als ein bestimmtes Aussageformationssystem für sie gilt, so beschreibt dies die ‚Schwelle der Positivität‘ einer diskursiven Formation. Die ‚Schwelle der Epistemologisierung‘ überschreitet eine Gesamtheit an Aussagen, die im Komplex einer diskursiven Formation bestimmte Normen der Kohärenz und Verifikation beansprucht und hinsichtlich des Wissens eine beherrschende Funktion – wie Kritik oder Modellgebung – ausübt. Wenn diese epistemologische Figur der diskursiven Formation bestimmten formalen Kriterien entspricht und die Aussagen nicht nur Formationsregeln auf archäologischer Ebene, sondern bestimmten Konstruktionsgesetzen der Propositionen gehorchen, so zeigt dies die ‚Schwelle der Wissenschaftlichkeit‘ an. Die ‚Schwelle der Formalisierung‘ impliziert, dass ein wissenschaftlicher Diskurs selbst von sich aus das formale Gebäude entfaltet: also die Axiome, die Elemente, die propositionellen Strukturen und die Transformationen. Aus der dargestellten Konzeption von Wissenschaft lässt sich auf Foucaults Bezug zur französischen Epistemologie schließen – ein Punkt, der relativ selten ausführlich analysiert wird. 28 Anders als in Wissenschaftsdefinitionen, wie etwa dem in der Sozialanthropologie diskutierten Ansatz von Gellner29 oder der Idee einer Anthropologie als ‚Science‘, die sich im Gegensatz zu unwissenschaftlichem Wissen der Realität stetig annähern können sollen, wird in dieser Epistemologie Referentialität gerade nicht als Spezifikum ‚reiner‘ Wis-
27 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 265ff. 28 Vgl. dazu bes. Diaz-Bone (2007) mit weiteren Literaturangaben (Diaz-Bone 2001: Abs. 54), sowie Gutting (1999: 52-54) oder auch Lemke (1997: 41f) mit einigen Literaturverweisen. 29 Vgl. Gellner 1993: z.B. 89.
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senschaft gesehen, wohl aber die Eindimensionalität, die geringen sozialen Bindungen. Es spiegelt sich bei Foucault offenbar, wenn auch abgeschwächt, die Vorstellung von Bachelard, dass zwischen Alltagsverständnis und Wissenschaft ein deutlicher epistemologischer Bruch besteht, da letztere durch explizite Begriffe, systematische Modelle und Raster die Erfahrung reorganisiert und damit schöpferisch ist30 – ein Wissenschaftsmodell, das sich ebenfalls bei LéviStrauss finden lässt.31 So meint auch Diaz-Bone, unter anderem mit Berufung auf Bourdieu, dass die Epistemologie Bachelards sowohl Strukturalismus wie Poststrukturalismus die wissenschaftstheoretische Basis bot.32 Und Noiriel betont grundsätzlich, dass es in Frankreich (seit Comte jedenfalls) die Tradition gibt, abstrakte Wissenschaften, die ihr Objekt konstruieren können, über konkrete Wissenschaften – und dazu wurde dann die Geschichte gezählt – zu stellen.33 „Der Bruch [mit dem lebensweltlichen Denken], der bei Husserl noch als Krisis [Herv. i.O.] beschrieben wird, wird von Bachelard nicht nur befürwortet, er wird bei ihm zur Voraussetzung [Herv. i.O.] für wissenschaftliches Denken. [...] Damit tritt in die Wissenschaftsgemeinschaft auch das Bewußtsein von der Konstruktivität der Theorie und der Erfahrung. Die Erfahrung der Phänomene ist nicht nur theoriegeleitet, sondern methodisch organisiert, Phänomene werden ‚realisiert‘.“34
Das führte zum Interesse an wissenschaftlichen Theorien selbst als Objekt der Forschung: nicht um nach der Möglichkeit von Erkenntnis prinzipiell zu suchen, nicht um allgemein gültige logische Strukturen der Wissenschaft oder der logischen Deduktion von Begriffen zu finden, sondern um zu sehen, wie Wissenschaft historisch spezifisch Begriffe in Theorien praktisch verwendet und in Beziehung zueinander setzt.35 30 Vgl. etwa auch Kögler 1994: 29f. Gutting (1999: 52ff.) legt allerdings das Gewicht darauf, dass die Trennung zwischen Wissenschaft und Nicht-Wissenschaft bei Foucault (und Canguilhem) nicht sehr scharf ist. 31 Vgl. z.B. bei Lévi-Strauss (1973: 31ff.) die Definition des wissenschaftlichen Begriffs, hier im Verhältnis zu Bild und Zeichen, sowie die Funktion der Wissenschaft, aus Strukturen Ereignisse zu schaffen. 32 Vgl. Diaz-Bone 2007: Abs. 14. 33 Vgl. Noiriel 1994: 554. 34 Diaz-Bone 2007: Abs. 18. In der Wissenschaft werden Alltagsbegriffe neu besetzt, es wird eine Neo-Sprache gebildet, wo Begriffe in Anführungszeichen, also metaphorisch Teil einer systematischen Wahrnehmungsstruktur (die bei Foucault und Derrida dann Episteme heißt) sind – so Diaz-Bone (2007: Abs. 21). 35 Vgl. Diaz-Bone 2007: Abs. 15.
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„[A]nstatt von einer Welt auszugehen, an der sich alles messen lassen muss [...] [gibt es nach Bachelard] verschiedene ‚Welten‘, die Resultat verschiedener wissenschaftlicher Weltbeschreibungen sind.“36
Daraus konnte auch für die Wissenschaft selbst folgen, dass wissenschaftlicher Fortschritt nicht durch Korrekturen anhand von Empirie zustande kommt, sondern durch Kritik am vorherigen Denksystem, also durch Bruch mit der eigenen Herkunft – ein Bewusstsein von Wissenschaft als ‚Wissenschaft ohne Ahnen‘.37 Gutting kehrt allerdings als wichtigen Unterschied zwischen Foucault und Bachelard heraus, dass Foucault sich gerade den unbewussten Faktoren in der Wissenschaft zuwendet, die bei Bachelard rein negativ als Hindernisse (und Reste früherer Stufen) angesehen werden – und zwar findet Foucault hier die archäologische Ebene, welche den Wissenschaften zugrunde liegt.38 Foucaults Auffassung von Wissenschaftlichkeit kann jedoch noch keine in jeder Hinsicht befriedigende Antwort auf die Frage geben, weshalb er die ‚reinen‘ Wissenschaften derart unverfänglich sieht. Nur eine vollständig formalisierte Wissenschaft wie die Mathematik produziert und entfaltet sich von sich selbst aus. Auf allen anderen von ihm definierten Stufen können die formalen Kriterien oder die Konstruktionsgesetze der Propositionen als Teil einer diskursiven Praxis sehr wohl in Beziehung zur gesamten diskursiven Formation und zu den nicht-diskursiven Praktiken stehen; und vor allem handelt Wissenschaft als eine Form von Praxis ohnehin immer, indem sie produziert oder ausschließt. Foucault betont ja, dass eine Wissenschaft bei oder nach Überschreiten der für sie spezifischen Schwelle nur selektiv Elemente der diskursiven Praxis weiterführt, von der sie sich abhebt.39 Und Foucault sieht die Wissen-
36 Diaz-Bone 2007: Abs. 18. 37 Vgl. Diaz-Bone (2007: Abs. 30 und Abs. 34), mit einem Zitat von Bachelard. Allerdings hat Bachelard ein Fortschrittsdenken (ähnlich den Stadien von Comte), das die Bildung des wissenschaftlichen Geistes auch diachron als Überwindung epistemologischer Hindernisse sieht (und nicht nur synchron gegenüber dem Alltagsdenken) – und zwar: konkrete Stufe, konkret-abstrakte Stufe und abstrakte Stufe. So waren und sind für den ‚gegenwärtigen wissenschaftlichen Geist‘ hinderlich: Metaphoriken der Einheit der Erfahrung, des Animismus, des Substanzdenkens usw. (vgl. dies bei Diaz-Bone 2007: Abs. 28). Dass Foucault kein solches zeitlich gelagertes Fortschrittsdenken hat, betont auch Williams (1999: 66) und bindet dies zurück an Canguilhem, der bereits eine kumulative Bewegung der Wissenschaften (etwa der Psychologie) in Frage stellte. 38 Vgl. Gutting 1999: 220. 39 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 262.
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schaften keineswegs isoliert, sondern es gibt ‚Bedingungen der Existenz‘, die sie von Außen ermöglichen. Andererseits hält er für den innerwissenschaftlichen Zusammenhang fest: „Auf jeden Fall sind die Bedingungen der Wissenschaftlichkeit dem allgemeinen wissenschaftlichen Diskurs immanent und können nur durch ihn definiert werden. Das andere System bezieht sich auf die Möglichkeit einer Wissenschaft im Sinne ihrer historischen Existenz.“40
Foucault warnt vor zwei Fehlern: der ‚epistemologischen Extrapolation‘, die glaubt aus der inneren Logik einer Wissenschaft heraus deren Auftreten und Entfaltung definieren zu können; und der ‚genetischen Extrapolation‘, die (nicht nur den kulturellen Kontext beschreibt, sondern) annimmt, dass die Wissenschaft in ihrer Organisation und ihrer Formalität ausgehend von externen Bedingungen her beschrieben werden könne. Dies heißt „zu verkennen, dass der Ort des Auftretens und der Entwicklung einer Wissenschaft [...] das Feld des Wissens mitsamt der Gesamtheit von Beziehungen, die es durchziehen“41, ist. Gemäß Foucault wäre also eine Wissenschaftsforschung notwendig, die nicht nur Wissenschaftstheorie ist und auch nicht nur Wissenschaft an den sozioökonomischen Kontext bindet. Er bestimmt seinen Gegenstandsbezug folgendermaßen: „Auf dieser Ebene geht es darum, herauszubekommen, nicht, welches die Macht ist, die von außen auf der Wissenschaft lastet, sondern welche Machtwirkungen noch zwischen den wissenschaftlichen Aussagen zirkulieren; welches gewissermaßen ihre innere Machtordnung ist, und wie und warum sie sich in bestimmten Momenten umfassend modifiziert.“42
Interveniert eine Gesellschaft zu direkt in eine ‚Wissenschaft‘, so ist die epistemologische Schwelle eben nicht überschritten. Für die Humanwissenschaften impliziert dies: Entweder haben sie selbst starken Einfluss auf die Gesellschaft und können daher in die Verantwortung genommen werden; oder sie sind derart wenig formalisiert, dass sie gar keine Wissenschaften sind. Die empirischen Wissenschaften und Naturwissenschaften haben sich offenbar in beiderlei Hinsicht emanzipiert. 40 Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 922. 41 Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 924f. 42 Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 190f.
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„Wenn man einer Wissenschaft wie der theoretischen Physik oder der organischen Chemie das Problem ihrer Beziehung zu den politischen und ökonomischen Strukturen der Gesellschaft stellt, stellt man dann nicht ein zu kompliziertes Problem? [...] Wird umgekehrt, wenn man eine Wissensart wie die Psychiatrie nimmt, die Frage nicht viel leichter zu lösen sein, weil das epistemologische Profil der Psychiatrie niedrig ist und weil die psychiatrische Praxis an eine ganze Reihe von Institutionen, unmittelbaren ökonomischen Anforderungen und sozialen Regulierungen von politischer Dringlichkeit gebunden ist?“43
In diesem Zusammenhang könnte man zum einen gegen Foucault kritisch ins Treffen führen wollen, dass eine Relativierung der Unabhängigkeit wissenschaftlicher Tatsachen vom gesamtgesellschaftlichen Kontext auch von den Naturwissenschaften selbst ausging. Eine Reflexion, die den „beinahe ununterbrochenen Ausfluß von Wahrheit“44 stört, wurde keineswegs nur von den Humanwissenschaften auf die Naturwissenschaften übertragen. Im Gegenteil kam ja bekanntlich aus der Physik beispielsweise mit der Heisenbergschen Unschärferelation Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts eine Verunsicherung der Humanwissenschaften mit Objektivitätsanspruch (wie der Soziologie). Dennoch, die Konzentration auf Intervention und Produktivität der Messinstrumentarien bedeutet noch nicht, dass der wissenschaftliche Gegenstand oder die Position und Objektivität der Forschung das typisch moderne Menschenkonzept miteinbeziehen oder beinhalten, sondern könnte geradezu Ausdruck der Konstruktivität von wissenschaftlichen Welten im Sinne Bachelards sein. Und Foucaults Vorbehalt bezieht sich ja konkret darauf, dass eine Wissenschaft gerade durch eine Anthropologisierung in Gefahr gerät. Andererseits lässt sich auch in Zweifel ziehen, ob die Naturwissenschaften respektive empirischen Wissenschaften wirklich unabhängig von den Humanwissenschaften und ihrem Konzept des Menschen existieren könnten. Es wäre zu überlegen, ob diese Wissenschaften die ihnen diesbezüglich zugrunde liegenden Konzepte nur einfach nicht explizieren und daher auch deren Stringenz und Implikationen nicht weiterverfolgen – eine Aufgabe, die andere Bereiche, nämlich vorrangig die Humanwissenschaften, übernehmen. So weist Visker45, um nur ein Beispiel zu nennen, darauf hin, dass etwa in der Ökonomie wichtige Grundbegriffe notwendig auf Annahmen einer Bedürfnispsychologie basieren, und es erst von da ausgehend eine Tendenz zur reinen Ökonomie geben kann. Demnach wäre etwa die Ökonomie von ihrer Grundlage her eher zu den 43 Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 187. 44 Die Ordnung der Dinge [1966]: 9. 45 Vgl. dazu Visker (1991: 57f.) und die gegenteilige Sicht bei Foucault in der Ordnung der Dinge ([1966]: 423).
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Humanwissenschaften zu zählen. Foucaults Trennung und Qualifikation der Wissenschaften bleibt in dieser Hinsicht also doch fragwürdig. Ähnliches ließe sich vielleicht auch für Biologie und Philologie argumentieren. Wenn aber die empirischen Wissenschaften selbst oft basal an ein Menschenkonzept geknüpft sind, das den humanwissenschaftlichen Menschen zumindest in Teilen zur Anwendung bringt, ist bei ihnen der Mensch jedenfalls nicht inexistent wie etwa gemäß Foucault in der klassischen Episteme. Unabhängig davon ist natürlich auch Foucaults Tendenz zu hinterfragen, jeglichen direkten Einfluss naturwissenschaftlicher Ergebnisse auf die Gesellschaft in die Verantwortung der ‚unwissenschaftlichen‘ Humanwissenschaften zu stellen. Diaz-Bone weist auf den Begriff der Phänomenotechnik bei Bachelard hin: Damit lässt sich konzipieren, dass der Konstruktivismus ein soziales Prozedere der Diskursgemeinschaft ist, und dass die Theorien (durch die ihnen entsprechenden Instrumente) realisiert werden, also real-praktische Existenzen bedeuten – und dass daher die Diskursgemeinschaft auch Verantwortung zu tragen hat.46 Immerhin ist die Welt bevölkert durch Produkte der Wissenschaft respektive Technik – sodass diskutiert werden kann, welche Ereignisse sie schaffen und für welche Problemstellungen sie ihre Lösungen entwickeln.47 Diesbezüglich ist etwa an Latours Forschungen zu denken, wenn er argumentiert, dass die Struktur der Naturwissenschaften und jede Anwendung ihrer Ergebnisse eine Anpassung und Umformung des sozialen Kontextes erfordern.48 Und auch bei der Ökonomie liegt die Anwendung oder Auswirkung auf gesellschaftliche Beziehungen – und zwar ohne Umweg über die Humanwissenschaften – so nahe, dass sie in dieser Hinsicht schwerlich freizusprechen ist. Ebenso wurde die Biologie wohl kaum immer nur über die Humanwissenschaft (Psychologie) handlungsrelevant. Umgekehrt wäre zu prüfen, in welchen Fällen Foucault Wissenschaften und besonders Naturwissenschaften vom Einfluss des sozioökonomischen Kontexts gelöst und daher die Schwelle der Wissenschaftlichkeit überschritten sieht. Zunächst ist bei einem immer wieder als ‚postmoderner Relativist‘ titulierten Denker erstaunlich, mit welcher Leichtigkeit und vielleicht Leichtfertigkeit er Verbindlichkeiten abweist, die zeigen, wie die kulturelle, geschichtliche Perspektivität (und so indirekt die sozialen und ökonomischen Bedingungen) sich in wissenschaftlichen, auch naturwissenschaftlichen Ansätzen und
46 Vgl. Diaz-Bone 2007: Abs. 35, 37. 47 Vgl. dazu etwa Lévi-Strauss (1973: 39), der Wissenschaft und Technik in diesem Sinn definitiv soziale Relevanz zuspricht. 48 Vgl. dazu auch Kögler 1994: 143.
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Ergebnissen ausdrückt. Dies sieht etwa auch Kögler, wenn er in diesem Punkt gegen Foucault mit Resultaten von bekannten Wissenschaftlern wie Gould argumentiert, der Messfehler, aber auch Messmethoden auf rassistische Grundannahmen zurückführte; oder wenn er andererseits Hacking nennt, der nachzeichnet, dass die Ablösung des kausalen Denkens durch die Theorie des Zufalls in der Physik sich nach einer Welle staatlicher statistischer Kontrolle vollzog.49 Um einen weiteren Fall herauszugreifen: Auch in meinem eigenen Forschungsfeld, dem Biokapitalismus und Biokolonialismus, lässt sich erkennen, wie gerade ein epistemologischer Bruch, der im Sinne von Bachelard etwa in der Chemie die Empirie zugunsten von Konstruktivität in den Hintergrund rückt, im Konnex mit Rechten auf Geistiges Eigentum direkt und ohne Umweg über die Humanwissenschaften mit der Formation gesellschaftlicher Verhältnisse verbunden ist. Können also, sofern man auf Kohärenz bedacht ist, immer nur entweder die Naturwissenschaften aus einer humanwissenschaftlichen Position oder die Humanwissenschaften aus einer ‚Science‘-Position kritisiert werden? Oder welche Perspektive ist sonst möglich? Interessanterweise erinnern gerade die beiden letztgenannten Zusammenhänge aber deutlich an Untersuchungen von Foucault selbst. Und Foucault spricht etwa in der Archäologie des Wissens explizit, von „‚Wissenschaften‘ wie der Ökonomie oder der Biologie, die so sehr der Polemik ausgesetzt sind, für philosophische oder moralische Optionen so durchlässig sind und in bestimmten Fällen für eine politische Benutzung bereit stehen“50. Und tatsächlich ist es eine mehr oder minder explizit herausgearbeitete Voraussetzung von Foucaults Denken, dass (wissenschaftliche) Begrifflichkeiten, Konzeptionen oder Methoden, dass also Diskurse grundsätzlich Gegenstand eines in der Gesellschaft stattfindenden Kampfes und seiner wechselnden Kräfteverhältnisse sind, und dass in jedem Fall positives Wissen immer anderes, ebenso mögliches, ausschließt. Dementsprechend könnte man auf
49 Vgl. Kögler 1994: 145f. Zu bemerken ist vielleicht, dass diese beiden Beispiele bei Kögler zwei verschiedene Argumente implizieren (worauf dieser allerdings nicht weiter eingeht). Im ersten Fall werden nämlich die Ergebnisse von einer Neutralität abgelenkt, sind demnach falsch. Das wäre eine Anthropologisierung, wo im Hintergrund die Hoffnung mitschwingt, diese (subjektive) Verzerrung aufheben und zu einem objektiveren Blick kommen zu können. Das zweite Beispiel von Hacking hingegen bleibt konstruktivistisch, zeigt also, wie die Vorgaben und Grenzen in einem Bereich etwas in einem anderen produzieren – was aber eben nicht primär als Verzerrung zu lesen ist. 50 Archäologie des Wissens [1969]: 54.
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Basis der Foucault’schen Theorie gegen Foucaults Zurückhaltung in Sachen Kritik an den (Natur-)Wissenschaften argumentieren. Dies tun Wissenschaftsforscher und -forscherinnen, die sich mit seinem Rüstzeug einer solchen Kritik zugewandt haben – so etwa Rouse.51 Dieser hat, wie auch andere, aufgewiesen, in welcher Form theorie-ermöglichende Fertigkeiten durch Sozialisation in Modellbildungen und Sichtweisen erworben werden, und man daher nicht von einer objektiven Beschreibung von Naturtatsachen sprechen kann. Natürlich ließe sich einwenden, dass Foucault ja ohnehin nie einen solchen Anspruch gestellt hat, sondern von einer vollständig formalisierten Wissenschaft träumt. In diese Hinsicht lässt sich Rouse entnehmen, dass die Sozialisation im Labor jedenfalls nicht der Produktion streng systematischer Raster dient, sondern mit der von Foucault beschriebenen Disziplinierung im Sinne eines tacit knowledge52 ein Blick eingeübt wird, der ‚Fehler‘ und Widersprüchlichkeiten und auch Axiome unsichtbar macht.53 Aber nicht nur Aspekte der Machtkonzeptionen von Foucault lassen sich mit den Naturwissenschaften verknüpfen. Man könnte überlegen, ob nicht auch schon Foucaults Außenperspektive das Potential zu einer nicht-anthropologischen archäologischen Analyse und Kritik an den Naturwissenschaften hat. Natürlich dürften die Schwankungen der Wissenschaften keinesfalls auf ein Subjekt im Sinne des Historizismus, sondern, wie Foucault es bei den Humanwissenschaften tut, auf ihr historisches Apriori zurückbezogen werden. Ähnliches verfolgte vielleicht Serres, wenn er erklärt, dass seine Arbeiten über die exakten Wissenschaften mit Foucaults Methode große Übereinstimmungen hätten, da sie zu jener Zeit, als Foucault die Ordnung der Dinge verfasste, viel miteinander diskutierten.54 Foucault hingegen war damals offensichtlich nicht an einer Relativierung der Naturwissenschaften interessiert. Allerdings hat er ein solches Vorhaben in der Ordnung des Diskurses möglicherweise ins Auge gefasst, wenn er davon spricht, die spezifische Wende in der Wissenschaft im Übergang vom sechzehnten zum siebzehnten Jahrhundert in England und dann die Entstehung der modernen Wissenschaften im neunzehnten Jahrhundert analysieren zu wollen.55 Dennoch bleibt die Tatsache, dass Foucault bekanntlich nie in größerem Umfang eine Kritik der Naturwissenschaften durchgeführt 51 Rouse (1987), und vgl. Kögler (1994: 141ff.), der die Ergebnisse von Rouse relativ ausführlich vorstellt und seinerseits z.T. kritisiert. Zur an Foucault orientierten Wissenschaftsforschung siehe auch Kusch (1991). 52 Vgl. Polanyi 1985. 53 Vgl. dazu auch etwa Knorr-Cetinas Arbeiten. 54 Serres 1994. 55 Vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 43.
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hat. Dieser Punkt ist zu betonen, da er womöglich in engstem Zusammenhang mit Foucaults Ziel der Dezentrierung des Subjekts zu Gunsten einer ethnologischen Wissenschaft steht. Bezeichnend für den Stellenwert von Foucault in den so genannten Science Wars ist, dass seine Neutralität gegenüber den Naturwissenschaften und die Verurteilung der Humanwissenschaften wenig thematisiert wird und gerade auch von jenen Foucault-kritischen Stimmen gar nicht berücksichtigt wird, die sich zugleich als Kritik der Postmoderne verstehen und die Sozialwissenschaften auf ein naturwissenschaftliches Niveau heben wollen (zu denken wäre hier vor allem auch an die unter der Eigenbezeichnung ‚Science‘ auftretenden Richtungen und im Besonderen die Soziobiologie).56 Améry vertritt die Einschätzung, dass Lévi-Strauss in den USA nicht so stark rezipiert wird, weil er für die dortige Wissenschaft, zumal die Cultural Anthropology, zu positivistisch ist.57 Dies ließe sich mit meinem Ergebnis kombinieren, wonach Foucault dort zwar deutlich präsent ist – sein spezifisches Wissenschaftsverständnis allerdings de facto kaum wahrgenommen wird. Die modernen Naturwissenschaften sind also bei Foucault vom Spiel der produktiven Determinationen im sozialen Gefüge zum einen prinzipiell nicht in gleichem Maß betroffen wie Humanwissenschaften. Andererseits ergibt sich mit Foucaults Ansatz sehr wohl die Möglichkeit, diese nicht nur zu historisieren, sondern auch ihren produktiven Stellenwert in der Gesellschaft festzuhalten – eine Thematik, die Foucault vielleicht eher aus strategischen Gründen nicht weiter verfolgt. Immerhin bleibt auch ihre Genealogie nicht ganz unhinterfragt. So führte Foucault beispielsweise in Überwachen und Strafen58 und in Interviews die Humanwissenschaften auf die Disziplinierung, das heißt auf „die Prozeduren zur Überwachung und Registrierung der Individuen“59, die Untersuchungsmethode der Naturwissenschaften hingegen auf die Inquisition zurück. Im Gegensatz zu ersteren hätten sich die Naturwissenschaften aber aus diesem historischen Hintergrund lösen können. Dies zeigt wiederum eine für die Sozial- und Kulturanthropologie interessante Parallele, denn ein solches Privileg, sich von einer unrühmlichen genealogischen Herkunft – dem Kolonialismus – befreit zu haben, konzediert Foucault ja auch der Ethnologie.
56 Wie Sokal und Bricmont (1999) zu Foucault stehen, ist nicht klar – er wird jedenfalls nicht als einer jener diskutiert, die ‚eleganten Unsinn‘ schreiben. 57 Améry 1973: 474. 58 Vgl. Überwachen und Strafen [1975]: 288ff. 59 Fragen an Michel Foucault zur Geographie [1976]: 51.
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P REKARISIERUNG
DER
H UMANWISSENSCHAFTEN
Es ist festzuhalten, dass Foucault die empirischen Wissenschaften und noch viel fragloser die Naturwissenschaften von den Humanwissenschaften isoliert, indem er jede Anthropologisierung verwirft. Er will eine Einbeziehung der humanwissenschaftlichen Denkfiguren in diese Wissenschaften möglichst verbannen. Zudem wurde schon deutlich, dass Foucault diesen Wissenschaften auch in der Moderne eine Existenz zugesteht, ganz ohne sich auf das Konzept des Menschen zu stützen. Außerdem erlässt er es ihnen weitgehend, soziale Verantwortung zu übernehmen, da diese primär den Humanwissenschaften zukommt. Zwar stellt er genealogisch Beziehungen der Naturwissenschaften zu sozial fragwürdigen Dispositiven fest, betont aber die Emanzipation dieser Wissenschaften aus solchen Verstrickungen. Um Foucaults Positionierung auf die Spur zu kommen, hat man die Problematik vielleicht auch von der anderen Seite her zu betrachten und nicht nur zu überlegen, ob Foucault wirklich eine in jeder Hinsicht größere Unabhängigkeit der strengen Naturwissenschaften oder unter Umständen der empirischen Wissenschaften verteidigen wollte. Sondern es stellt sich die Frage, wie die Wahl seiner Angriffsfläche mit der Position zusammenhängt, die er selbst einnimmt. Welche Kritik kann und will er mit seiner eigenen wissenschaftlichen Verortung leisten? Foucaults Privilegierung und Anerkennung einer distanzierenden Wissenschaftlichkeit geht aus der Ordnung der Dinge meines Erachtens klar hervor. Zumeist arbeitet die Kritik an den Naturwissenschaften mit typisch humanwissenschaftlichen Argumenten, die in typisch humanwissenschaftliche Zirkel führen – also genau die von Foucault verdammte Anthropologisierung bewirken. Und Foucault will ja gerade zeigen, wie wenig den Humanwissenschaften der metaepistemologische Ort zusteht, den sie sich immer wieder anmaßen. Aus humanwissenschaftlicher Sicht kann man wie Visker beklagen, dass Foucault „die theoretischen Mittel verliert, um diese Selbstgenügsamkeit [der empirischen Wissenschaften, wenn sie nicht anthropologisiert sind und einen solchen Diskurs auch nicht miteinbeziehen] zu problematisieren.“60 Foucault dagegen hat damit eines seiner Ziele erreicht und muss, unter diesem Aspekt betrachtet, die ‚reine Wahrheitsproduktion‘ der deduktiven Wissenschaften und mancher Naturwissenschaften unhinterfragt lassen.
60 Visker 1991: 59.
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In Bezug auf Foucaults Projekt einer Kritik an den Humanwissenschaften, dessen Ergebnisse er in deutlicher Parallele zu seinen eigenen Arbeiten sieht, meint Habermas: „Es ist kein Zufall, daß diese Wissenschaften, allen voran die klinische Psychologie, aber auch Pädagogik, Soziologie, Politologie und Kulturanthropologie, in die Machttechnologie, die in der geschlossenen Anstalt ihren architektonischen Ausdruck findet, gleichsam reibungslos einklinken können. Sie werden in Therapien und Sozialtechniken umgesetzt und bilden so das wirkungsvollste Medium der neuen, die Moderne beherrschenden Disziplinargewalt. [...] [E]s ist der Blick des vernünftigen Subjekts, das alle bloß intuitiven Verbindungen mit seiner Umwelt verloren, alle Brücken intersubjektiver Verständigung abgerissen hat, und dem in seiner monologischen Vereinsamung andere Subjekte nur mehr in der Stellung von Objekten teilnahmsloser Beobachtung zugänglich sind.“61
In den Analysen der institutionellen Verflechtung der Humanwissenschaften leistet Foucault sicher auch Kritik an der instrumentalisierenden Vernunft. Ob er aber in diesen Arbeiten wesentlich nur die eine Seite der Humanwissenschaften im Visier hat und im Abbruch der dialogischen Beziehung die größte Problematik sieht, ist fraglich. Foucaults Ablehnung gilt – was Habermas in anderem Zusammenhang auch sieht und kritisiert – dem Subjekt in seinen vielen untrennbaren Facetten und in der Ordnung der Dinge insbesondere dem Gegenstand dieser Wissenschaften, gerade sofern er als Subjekt gedacht wird. Sein Vorwurf ist ja, dass Bedeutungen und Gedeutetes behandelt werden, dass die Interpretation des ‚Objekts‘ wesentlich ist. Foucault kritisiert somit Humanwissenschaften, die mit Empathie und einem hermeneutischen Zirkel arbeiten, die kommentieren und an die Übersetzbarkeit von unterschiedlichen Positionen glauben. Dazu zählt in seinem Verständnis von Ethnologie diese nicht – obwohl sie diese Ehre sicher kaum ungeteilt verdient. Es ist also auffällig, wie nahe die im letzten Satz des Zitats von Habermas kritisch angeführte Perspektive Foucaults eigener Positionierung kommt. Auch Quadflieg hebt hervor, dass Foucault eine Kritik an der Moderne leistet, die insbesondere „der fehlenden Möglichkeit einer wirklichen Selbstbegründung innerhalb der Aussagefunktion vom ‚Sein des Menschen‘ geschuldet ist“ und „keineswegs, wie andere Kritiker der Moderne glauben, der Übermacht einer technischen oder instrumentellen Vernunft“62 – also etwa die Angriffsrichtung von Habermas, aber auch schon von Horkheimer und Adorno oder auch Heidegger. 61 Habermas 1993: 288. 62 Quadflieg 2006: 115.
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Damit wird allerdings die Frage nach Foucaults eigener Positionierung umso drängender und führt zur Überlegung, wieweit er für sich eine den Naturwissenschaften oder den ‚reinen Wissenschaften‘ ähnliche Wissenschaftlichkeit beansprucht.63 Denn warum sonst machen Widersprüchlichkeiten ihm diese Wissenschaften nicht fragwürdig? Und es könnte auch klären, weshalb Foucault die Wissenschaftlichkeit der deduktiven Wissenschaften und mancher Naturwissenschaften selbst dann anerkennt, wenn diese sich auf eine Fundamentalie wie etwa die Sprache zurückführen ließen. Zum Beispiel könnte Gödels Unvollständigkeitssatz ja die Mathematik in Frage stellen – ein Satz, mit dem zumal Lyotard belegen will, dass alle Wissenschaft notwendig in ihrer Letztbegründung auf die Alltagssprache zurückverwiesen wird.64 Offenbar nimmt Foucault, indem er ihre Selbstsicht akzeptiert, die ‚Meinungen‘ dieser Wissenschaften ernst, was er bei den Humanwissenschaften strikt ablehnt. Insofern wäre zu hinterfragen, ob Foucault wirklich so weit von einer Position entfernt ist, die Lavagno als pragmatische Konzeption der Wissenschaftspraxis beschreibt, wo die Erkenntnis- und Wahrheitsproblematik konventionalistisch aufgefasst werden.65 Unterstellt man Foucault eine ungebrochene Identifikation seines Zugangs mit jenem der Ethnologie, so geht es tatsächlich darum, sich nach der Weise ‚reiner Theorie‘ von einer Außenposition her dem Objekt gegenüber zu verorten. Aus humanwissenschaftlicher Sicht kann Foucault das letztlich nicht begründen. Zu analysieren wäre nun, wie Foucault von seinem das Objekt distanziert betrachtenden Ansatz ausgehend bei seiner Kritik an den Humanwissenschaften verfährt. Denn die Situation ist bei Foucault insofern nicht einfach, als die Relativität in seiner Argumentation andererseits eine zentrale Rolle spielt. Er kann für seinen Blick kaum exklusive Objektivität beanspruchen, wenn verschiedene kulturelle Seinsweisen – etwa die klassische Sprachkonzeption – genauso Realität besitzen wie die moderne oder auch seine eigene Position.
63 Sowohl wissenschaftshistorisch als auch im Rahmen der Sekundärliteratur zu Foucault sehr produktiv hat diese Frage Sarasin (2009) mit Bezug auf die Verwandtschaft zwischen Foucault und Darwin beleuchtet. Vgl. unter anderem besonders Sarasin (2009: 168ff.), wo er sein Argument entwickelt, „inwiefern Foucaults Archäologie des Wissens ‚naturwissenschaftlichen‘ Erkenntnisweisen näher [...] [ist] als geisteswissenschaftlichen“. 64 Vgl. Lyotard: 1993: 125ff. 65 Lavagno (2003: 137) meint nämlich, dass diese Wende im Positivismus Foucault ganz entgangen ist – eine Wende, die jedoch ohnehin die Auflösung des Positivismus markieren würde (vgl. Lavagno 2003: 138).
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Zugleich kann Foucaults Gegenwissenschaft von diesem Relativismus ausgehend jedoch auch die Humanwissenschaften und ihren Menschen relativieren und folglich deren Kritik an den ‚objektiven‘ Wissenschaften und seiner eigenen Verortung übergehen. De facto verwendet seine Außenperspektive den relativistischen Historizismus gleichsam als trojanisches Pferd, um die Moderne, die jede Behauptung relativiert, mit ebendieser Logik zu unterlaufen. Er zeigt dabei, wie diese ein bestimmtes Menschen- und Geschichtskonzept als unveränderliche Realität setzt, zu der sie selbst jeden objektiven Zugang versperrt sieht. Insofern steht Foucault dem partikularisierenden radikalen Relativismus nahe, wo Kritik nur noch innerhalb einer Logik möglich ist. Daher ist es Foucault auch so wichtig zu belegen, dass die Humanwissenschaften ihr eigenes Ziel, sich zu verwissenschaftlichen, nie werden erfüllen können. Während Honneth66 betont, dass Foucault nicht nach der theorieimmanenten Geltungskraft des reflexionsphilosophischen Theoriemodells fragt, wird hier deutlich, dass Foucault sehr wohl mit den eigenen Kriterien der Humanwissenschaften gegen diese argumentiert. Foucault schlägt jedoch noch einen anderen Weg ein, wenn er über seine historische Differenzierungsarbeit eine Außenperspektive einnimmt, die nicht die gesamte inkohärente Struktur des modernen Realitätsanspruchs weiterführt. Dabei versucht er allerdings, den konstruktiven Charakter seiner Arbeiten sichtbar zu lassen, indem er von Realitätsunterstellungen Abstand nimmt und weitgehend mit einem explizit strukturierenden Begriffsinstrumentarium arbeitet, das im Rahmen eines historischen Apriori wirken kann. So hofft er zwar auf das Verschwinden des Menschen und will es fördern, aber trotz oder gerade wegen der heftigen Sprache an diesen Stellen darf man nicht übersehen, dass Foucault von seinem Ansatz her prinzipiell nicht positiv aufweisen kann oder will, dass und inwiefern das Wesen des Menschen in der Moderne verfehlt wurde. Es ist also zu unterstreichen, wie mehrfach zur Verteidigung von Foucault gegen Angriffe, die ihn der Irrationalität bezichtigten, vorgebracht wurde, dass er in der Ordnung der Dinge ja im Gegenteil die Irrationalität der Humanwissenschaften aufzeigt und selbst für mehr Strenge eintritt. Allerdings ist angesichts der Archäologie des Wissens die zu Unrecht beanspruchte Wissenschaftlichkeit letztlich nicht die entscheidende Ebene von Foucaults Kritik, sondern vielmehr bloß eine Möglichkeit, die Humanwissenschaften zu destabilisieren.
66 Honneth 1989: 132.
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„Man sieht schließlich, daß die Analyse der Episteme kein Verfahren ist, um die kritische Frage wieder aufzunehmen (‚wenn etwas wie eine Wissenschaft gegeben ist, mit welchem Recht oder welcher Legitimation ist sie es?‘) [...]. Im Rätsel des wissenschaftlichen Diskurses stellt sie [die Analyse der Episteme] nicht sein Recht, eine Wissenschaft zu sein, sondern die Tatsache, daß er besteht, zur Diskussion.“67
Zunächst operiert Foucaults Kritik also von zwei Seiten aus: Gegen das Diktum, der Mensch bestimme die humanwissenschaftliche Struktur, argumentiert Foucault nicht unähnlich humanwissenschaftlicher Relativität respektive Historisierung. Gegen das Argument, dass sich ja alles von Episteme zu Episteme ändert, und der Mensch und seine Wissenschaften doch zumindest dieselbe Berechtigung hätten wie etwa die Biologie, deren Objekt – das Leben – es ja auch erst in der Moderne gibt, zeigt Foucault, dass mit diesem Menschen die Humanwissenschaften ihren eigenen Kriterien von Wissenschaftlichkeit nicht gerecht werden können. Das zweite Argument hängt mit vom Erfolg des ersten ab, und dieses stützt Foucault mit einem zunächst überraschenden Verdikt. Er will nämlich die Realität des Menschen ganz grundlegend zerstören, indem er behauptet, dass dem Menschen nicht in gleichem Maße ein Referent entspricht wie den empirischen Wissenschaften im Umkehrschluss offenbar doch. Das soll implizieren, dass jeder Versuch, diesen Menschen wirklich wissenschaftlich zu erforschen, scheitern muss. Während die empirischen Wissenschaften reale Objekte, nämlich reale kulturelle Entitäten und Funktionen erforschen, sollen die Humanwissenschaften nun wirklich gegenstands-los sein, wenn sie ausschließliche Nebenwirkung einer bestimmten epistemologischen Konstellation sind und daher von Foucault rein formal charakterisiert werden können.68 Foucault hat also den Menschen nicht nur historisch relativiert, sondern er stellt fest, dass es in der Klassik diesen Bereich oder diese Position nicht einmal in transformierter Weise gab: In der Klassik existierte nicht nur dieser Mensch nicht, sondern überhaupt keine vergleichbare Position. Damit steht der Mensch im Gegensatz zu anderen thematischen Bereichen der Wissenschaft, die für Foucault über die Zeit und unterschiedliche Kultur hinweg offenbar genug Ähnlichkeiten haben, um sie als Basis des differenzierenden Vergleichs vorauszusetzen:69 nämlich die „biologischen Funktionen“ und ihre Normalisie-
67 Archäologie des Wissens [1969]: 274. 68 Vgl. Die Ordnung der Dinge ([1966]: 437); auch z.B. Visker (1991: 54ff.) betont dies. 69 Foucaults Antwort auf das Problem, wie man aus relativistischer Position überhaupt in verschiedenen Kulturen Vergleichbares finden kann, wird dann besonders am Anfang des 6. Kapitels noch Thema.
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rung, die durch Regeln bestimmten „Tausch-, Produktions- und Konsumtionsformen“ und die nach den oder um die „linguistischen Strukturen“ gebildeten Systeme.70 Übernimmt Foucault damit die Realitäts- und Kontinuitätsbehauptungen der empirischen Wissenschaften? Es ist interessant, wie weit Foucault in seinem Bestreben, sich auf keinen nicht-kulturspezifischen Referenten zu beziehen, geht. Die Punkte, an denen Foucault seine charakteristische Differenzierung aussetzt, sind äußerst rar. Hier scheinen Elemente eines zumindest vorläufigen kulturtheoretischen Hintergrundes sichtbar zu werden. Und an dieser zuletzt genannten Stelle in der Ordnung der Dinge spricht Foucault ja über den Gegenstand und die Positionierung der auch für seinen eigenen Zugang wichtigen Ethnologie. Wenn Foucault die drei fundamentalen Bereiche weiterhin anerkennt, dann um die Objektseite des Menschen zu betonen und zugleich die Seite des Menschen als Subjekt auf diese Fundamentalien zurückzuführen. Damit lässt sich auf Basis des Konstruktivismus erweisen, dass die Problematisierung des Menschen mit dem modernen Subjekt als Spezialfall notwendig von den Fundamentalien abgeleitet und ihnen gegenüber sekundär ist und nicht, wie in der Moderne behauptet, umgekehrt – und zwar methodisch, ohne zu ontologisieren. Andererseits ist ausdrücklich festzuhalten, dass Foucault in Teilen Grundlagen bestätigt, die in der Moderne als Arbeit, Leben, Sprache ja die Hohlform für die Humanwissenschaften darstellen. Die Reflexion sozialer Verhältnisse etwa wird weiterhin als insbesondere der Ökonomie nachgeordnet angesehen.71 Die in vielen Fällen für die kulturelle Strukturierung des Seienden maßgebliche Setzung eines vorgeordneten Übernatürlichen bleibt hier völlig unbeachtet. Obwohl Foucault den humanwissenschaftlichen Gesichtspunkt verwirft, bewegt sich die erwartete neue Sicht des menschlichen Lebewesens in gewisser Beziehung doch in westlich-modernen Bahnen. Angesichts der soeben analysierten Konzeption des wissenschaftlichen Feldes können jedoch letztlich Zweifel aufkommen, ob die unterschiedliche Referentialität überhaupt Foucaults Ziel dient. Wenn Foucault argumentieren will, dass die Humanwissenschaften das ausschließliche Produkt der epistemologischen Konstellation der anderen Wissenschaftsbereiche in der Moderne sind, während das vice versa nicht gilt, so führt das zu einem gewissen Paradoxon. Denn damit entlastet er zum einen die Humanwissenschaften wieder von Verantwor70 Die Ordnung der Dinge [1966]: 451f. 71 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 398.
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tung, sodass seine Angriffslust etwas an Motivation verliert. Zum Zweiten legt diese Struktur nahe, dass eine nur die Humanwissenschaften betreffende Veränderung, wie es Foucaults Ethnologie zunächst zu sein scheint, gar keinen wirklich nachhaltigen Einfluss haben kann, weil sich ja der Mensch von den empirischen Wissenschaften her immer wieder bilden würde. Allein schon von dieser Bestimmung aus müsste – auch mit Foucault denkend – Interesse an einer Transformation der empirischen Wissenschaften bestehen. Dies zeigt, wie relevant es ist, dass sich die Gegenwissenschaften auf eine mit der Sprache der Moderne brechende Sprachlichkeit72 stützen. Der nächste Abschnitt erarbeitet genau das als Ankerpunkt der Gegenstandsebene.
D AS G EWICHT
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Um den Stellenwert der Sprache (frz. langage) bei Foucault einzuschätzen, ist nochmals hervorzuheben, dass er in Ablehnung der Humanwissenschaften die Gegenwissenschaften Ethnologie und Psychoanalyse einführt, die als ihren Gegenstand das Differente haben. Sie sollen einen Weg bieten, den kulturellen Bereich zu thematisieren und ihn doch der permanenten Spiegelung, in der er durch das Subjekt als Gegenstand der Selbstanalyse und Selbstentschlüsselung gefangen ist,73 zu entreißen. Foucaults Akzeptanz der empirischen Wissenschaften ist wohl auch darauf zurückzuführen, dass dank der modernen Episteme das ‚Sein der Sprache‘ heute wieder existiert und von hier aus die Linguistik als formales Modell der im Zeichen des Diskurses angetretenen Gegenwissenschaften denkbar wurde. Ein wissenschaftlich distanziertes Verhältnis zu dem nach formalen Kriterien strukturierten Objekt ist schließlich wesentlicher Teil des strukturalistischen Programms. Wie aus der Darstellung der Ordnung der Dinge ersichtlich werden sollte, hat sich Foucault gerade hier besonders mit dem Strukturalismus beschäftigt und in diesem Kontext seine Hoffnung auf eine zukünftige Wissenschaft skizziert. Ursprünglich war der Ordnung der Dinge auch tatsächlich der Untertitel „Eine Archäologie des Strukturalismus“ zugedacht.74
72 Ich verwende den Begriff ‚Sprachlichkeit‘ im Folgenden für Positionierungen von Foucault, will damit aber nicht dessen etwaige Konnotationen im phänomenologischen oder hermeneutischen Kontext implizieren. 73 Vgl. auch Benjowski 1990: 918. 74 Dosse 1996: 476.
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Auffällig ist, dass Foucaults Klassik in vielerlei Hinsicht dem Strukturalismus und seiner eigenen Sichtweise ähnelt. Dies wurde auch in der Sekundärliteratur mehrfach betont und insbesondere von Frank genau herausgearbeitet.75 Ob diese Parallelen mit dem historischen Datenmaterial leicht vereinbar sind, ist hier nicht zu beurteilen. Argumentativ kann Foucault aber so die Moderne als eine kurze Anomalie erscheinen lassen. Habermas vertritt die Ansicht, dass der semiotische Repräsentationalismus der Klassik von Foucault nach dem Modell des Strukturalismus dargestellt wurde. Und er folgert: „Eine strukturalistische Überwindung des anthropozentrischen Denkens hätte dann aber keine Überbietung der Moderne bedeutet, sondern nur die explizite Erneuerung der protostrukturalistischen Wissensform des klassischen Zeitalters.“76
Darum hätte Foucault jedenfalls nach der Ordnung der Dinge seine strukturalistische Position aufgeben müssen – so Habermas. Allerdings hat nach Foucault die Sprache im Strukturalismus auch ein wichtiges Element aus der Moderne beibehalten – eine Materialität, die in gewisser Hinsicht eher der Renaissance nahe kommt.77 Zum anderen scheint der aus diesem Zitat sprechende lineare Fortschrittsgedanke als Handlungsmotiv für Foucault äußerst fragwürdig. Insofern ist es kaum nachvollziehbar, hierin – wie Habermas – einen Grund für Foucaults Distanzierung vom Strukturalismus zu sehen. Foucault kann sich ganz unbekümmert gegenüber jeglichem Druck, die Moderne zu überbieten, an die Nutzung des klassischen Wissens machen. Doch warnt er heftig vor einer naiven Rückkehr zur Klassik, obwohl man durch ihre voll ausgebildete Theorie des Diskurses und der Repräsentation verführt sein könne, das Sein der Sprache in ihr zu denken.
75 Vgl. Frank (1984) und vgl. z.B. Habermas (1993) und danach Kögler (1994). 76 Habermas 1993: 314. 77 Vgl. auch Die Geburt der Klinik ([1963]: 131), wo sich immer wieder zeigt, dass in der Klassik bzw. direkt vor der Moderne eine Struktur bestand, die allerdings „den Status der Sprache im Dunkeln“ lässt. Dass der Strukturalismus (zusammen mit der Phänomenologie) in der Moderne als Kompensation, als Gegenbewegung zur Nivellierung der Sprache seine Entstehung hat, begründet folglich vielmehr Foucaults Bezug darauf und nicht eine Abgrenzung davon. Letztere Perspektive steht allerdings bei Lavagno (2003: 145) im Vordergrund, obwohl er dennoch signifikante Parallelen zwischen Foucaults Archäologie und dem Strukturalismus (vgl. Lavagno 2003: 147) sieht.
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„[Man] muß mit der größten Vorsicht all das bannen, was naive Rückkehr zur klassischen Theorie des Diskurses sein könnte (eine Rückkehr, deren Versuchung, das muß man zugeben, um so größer ist, als wir ziemlich waffenlos sind, um das schillernde, aber abrupte Sein der Sprache zu denken, während die alte Theorie der Repräsentation völlig ausgebildet ist und uns einen Platz bietet, wo dieses Sein sich ansiedeln und in einem reinen Funktionieren sich auflösen kann).“78
Für Foucault ist es faszinierend, an der Klassik zu sehen, wie der Mensch nicht existiert. Ebenso gibt es auch im Strukturalismus und in Foucaults Ansatz kein repräsentierendes Subjekt, das in einem konstituierenden Bewusstseinsakt Bedeutung stiftet und so auch keinen impliziten wiederherzustellenden Diskurs. Das erlaubt eine Transparenz, die eine hermeneutische Anstrengung unnötig macht – ein Gedanke, der Foucault wiederum den Vorwurf erkenntnistheoretischer Naivität einträgt. Wenn, wie Frank hervorhebt,79 Foucault im Unterschied zu anderen Neostrukturalisten nicht gegen ein absolutes Selbstbewusstsein ist, so kann man dies auch als Opposition zur Problematisierung des Selbstbewusstseins verstehen, gegen das Wissen, es nicht zu besitzen und sich dennoch ständig damit zu beschäftigen und darum zu ringen. Das Widerstreben, an eine solche unendlich zirkuläre Struktur gebunden zu sein, macht Foucaults mehrmalige Kritik am Kommentar deutlich: „[Der Kommentar] möchte jenen doppelten Boden des Wortes an die Oberfläche bringen, wo es sich in einer Identität mit sich selbst wiederfindet, die man seiner Wahrheit näher glaubt; [...] In dieser Tätigkeit des Kommentars [...] verbirgt sich eine merkwürdige Haltung zur Sprache: der Kommentar setzt per definitionem einen Überschuß des Signifikats im Verhältnis zum Signifikanten voraus, einen notwendigerweise nicht formulierten Rest des Denkens [...] der dessen Wesen ausmacht [...]. Aber Kommentieren setzt auch voraus, daß dieses Nicht-Gesprochene im Wort schläft und daß man [...] aufgrund einer dem Signifikanten eigenen Überfülle einen Inhalt zum Sprechen bringen kann, der gar nicht explizites Signifikat war. Dieser zweifache Überschuß [...] stellt uns vor eine unendliche Aufgabe, der keine Grenzen gesetzt werden können [...]. Signifikant und Signifikat erhalten so eine substantielle Autonomie [...]. [...] Aber gleichzeitig erfindet er [der Kommentar] zwischen den beiden Seiten ein komplexes Band [...]. [...] Kurz, er beruht auf einer Interpretation der Sprache, die seinen historischen Ursprung ziemlich klar anzeigt: die Exegese, die durch Verbote, Symbole und Bilder, durch den ganzen Apparat der Offenbarung hindurch nach dem Wort Gottes horcht, das immer geheim bleibt, immer jenseits seiner selber.“80
78 Die Ordnung der Dinge [1966]: 408. 79 Vgl. Frank 1984: 191. 80 Die Geburt der Klinik [1963]: 14f.
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Foucault erkennt und schätzt in der Klassik folglich einen Nominalismus, der doch kein Sinn konstituierendes Subjekt braucht. Denn was ist Repräsentation letztlich, wenn es zwischen Repräsentiertem und Repräsentanz keinen Unterschied und kein diese Differenz bedingendes und auch in ihr verortetes Subjekt gibt? Hier trifft er sich mit dem vom Referenten losgelösten Zeichensystem im Strukturalismus und dann auch im Neo- oder Poststrukturalismus. Sprache und Ideen des Geistes oder psychische Vorstellungen fallen zusammen, aber es löst sich nicht die Sprache in den Ideen auf, sondern umgekehrt – was einen subjektlosen produktiven Nominalismus impliziert. Daher müsste Foucault diesbezüglich mit Derrida respektive Saussure meinen, „daß der Geist, ohne die Vermittlung durch die Zeichen, amorph bleibe und also nicht gedacht werden könne als etwas, das in der Ordnung der Zeichen lediglich sich abbildend wiederhole.“81 Die Definition der Zeichen ergibt sich also aus den Beziehungen zwischen den Zeichen als Strukturen, wo ähnlich dem kybernetischen Modell produktive Selbstregulationsprozesse zu Ungunsten subjektiver Steuerung angenommen werden. Demgemäß spricht Foucault etwa von strukturellen Notwendigkeiten82 – und dies bietet auch einen Anknüpfungspunkt für den Hinweis auf seine spätere Nähe zur Systemtheorie.83 Die Beziehung des Zeichens zu seinem Inhalt ist nicht durch die Ordnung der Dinge selbst gesichert, da es keine autochthone Bedeutung der Dinge gibt – oder diese jedenfalls nicht in der Repräsentation zu finden ist. Die Dinge sind jedoch auch nicht ausgeblendet, sondern die von Foucault untersuchten Phänomene bestehen nur in der archäologischen Ebene des Wissens diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken. Dies legt einen Vergleich zu Saussures Cours, den Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft nahe: eine Analyse der Sprache, die ganz ohne Bezug zum Referenten auskommt – und welche die Beziehung zum Referenten nicht einmal explizit thematisiert, den Aufbau ihres Gegenstandes aber darauf auslegt, solch einen Bezug auszuschließen.84
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Frank 1984: 158. Vgl. z.B. Die Geburt der Klinik [1963]: 205. Vgl. v.a. Honneth 1989: Kapitel 6. Vgl. z.B. Saussure (2001: 78), wo das Zeichen in seiner Existenz als Lautbild und Vorstellung erklärt wird, ohne eine Verknüpfung mit einem externen Referenten zu problematisieren. Für diese Einschätzung – und auch alle anderen Überlegungen in Bezug auf Saussure – halte ich mich an Saussures Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, wie sie von Bally und Sechehaye herausgegeben wurden. Die in der Saussure-Forschung diskutierte Thematik, inwieweit dieser Text die ‚authentische‘ Position von Saussure darstellt, wird schon deshalb nicht weiter verfolgt,
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Klassik und Strukturalismus teilen gemäß Foucault einen grundlegenden Nominalismus, wo Sprache und Diskurs Erkenntnis sind und unhintergehbar die Welt rastern, analysieren und verbinden.85 Ganz ähnlich wie für die Klassik schreibt Foucault über die strukturale Linguistik, dass sie als Perzeption konstitutiv für ihr Objekt ist. Foucault will somit beiden auf Kant folgenden Bestimmungen entkommen: das Verhältnis zwischen Sein und Repräsentation soll weder im transzendentalen Subjekt noch im Sein der Dinge begründet sein. Das positiv Gegebene tendiert also, durch das linguistische Modell bedingt, zum Zeichensystem und dessen Elementen zu werden. Jedenfalls ist es nie das Sein der Dinge als Referent. Wenn Foucault feststellt, dass in der Klassik die Dinge nur in Beziehung und Differenz zu anderen bestehen, so kann man dasselbe über Saussures Konzeption des linguistischen und semiologischen Gegenstandes, die er in Gegensatz zu jener der Naturwissenschaften setzt, sagen. Die Linguistik befasst sich demnach nicht mit Gegenständen, die von vornherein gegeben sind und dann erst verknüpft oder mit Sinn ausgestattet oder unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet werden, sondern ihr Gegenstand ist von vornherein ein kulturell strukturierter und besteht nur in der Strukturierung.86 Eine solche Perspektive gilt aber auch für den Strukturalismus respektive Foucaults archäologischen Untersuchungsgegenstand.87 Dies klingt zum Beispiel an, wenn Foucaults Analyse binäre Strukturierungen wie Vernunft und Wahnsinn zutage fördert88 – aber natürlich durchzieht
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weil diese Edition unabhängig von der Frage, wem im Einzelnen die Autorschaft gebührt, einen systematischen Ansatz bietet, der als solcher wirkungsgeschichtlich äußert relevant wurde. Natürlich kann es aber nicht nur mit Blick auf Authentizität, sondern auch für die Diskussion aktueller theoretischer Zugänge fruchtbar sein, wenn aufgrund unterschiedlicher Quellenlagen und/oder Fragestellungen ein anderer, etwa hermeneutischer, Ansatz von Saussure argumentiert wird (vgl. z.B. Frank 1984: 159, sowie bereits Jäger 1975). Marti (1988: 28) führt an, dass etwa Diderot direkt auf die Abhängigkeit der Wissenschaft von der sprachlichen Repräsentation hingewiesen hat. Vgl. dazu Saussure 2001: z.B. 9, 127. Die von Foucault gern genannte Grammatik von Port-Royal (17. Jhdt.) hebt auch Saussure (2001: 97) positiv hervor, insofern sie nämlich im Gegensatz zur späteren modernen Sprachwissenschaft (etwa von Bopp) die Sprache streng synchronisch betrachtet (anderes kritisiert Saussure). Und wie Gasché (1970: 379) bemerkt, hat sich auch Lévi-Strauss offenbar durch diese Grammatik und ihre Begrifflichkeit beeinflussen lassen. In Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault ([1967]: 9) meint Foucault beispielsweise, dass für jede Gesellschaft bestimmte Oppositionen konstitutiv sind.
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die Existenz in Relationen Foucaults gesamte Arbeit grundlegend, wie vor allem die Archäologie des Wissens explizit sagt. Dass Foucault in der Archäologie des Wissens schreibt, man müsse die Sprache in ihrer Verstreuung lesen, widerspricht der hier aufgewiesenen Rolle von Sprachlichkeit nicht (wie hingegen Quadflieg meint)89, sondern deutet im Gegenteil unmittelbar auf die Differenzlogik von Saussure, wonach ja genau dies der Existenzmodus von Sprache und Zeichen ist. Foucault entspricht also in dieser Hinsicht sehr streng Saussure:90 „Alles [...] läuft darauf hinaus, daß es in der Sprache nur Verschiedenheiten gibt. Mehr noch: eine Verschiedenheit setzt im allgemeinen positive Einzelglieder voraus, zwischen denen sie besteht; in der Sprache aber gibt es nur Verschiedenheiten ohne positive Einzelglieder. [...] [D]ie Sprache enthält weder Vorstellungen noch Laute, die gegenüber dem sprachlichen System präexistent wären [...].“91
„[D]ie Sprache ist ein System von bloßen Werten, das von nichts anderem als dem augenblicklichen Zustand seiner Glieder bestimmt wird.“92 Saussure führt in diesem Zusammenhang den Begriff des Wertes ein, weil es sich beim Zeichensystem der Sprache – wie in der Ökonomie – um „ein System von Gleich-
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90
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Bei uns ließen sich alle Gegensätze wie Vernunft und Wahnsinn, Gut und Böse usw. auf das Normale versus das Pathologische reduzieren. Vgl. Quadflieg 2006: 132. Quadflieg zieht die Verbindungslinie zwischen Foucault und Saussure insofern konsequenterweise nicht, weil er Foucault grundsätzlich von Saussure abgerückt sieht – dies entnimmt Quadflieg (2006: 136) dem Text Distanz, Aspekt, Ursprung, denn: „Foucault [verwirft] darin offenbar die von Saussure vorgeschlagene Genese der Bedeutung in einem Zeichensystem, das allein auf dem Verweisungszusammenhang der Zeichen untereinander aufbaut, letztlich also auf deren Differenz [...].“ Foucault will, so von Quadflieg (2006: 137) in Schlagworten zusammengefasst, im Kontrast zum Strukturalismus: Netz und Isomorphie statt System und Differenz. Wie aber die Darstellung des Gegenstandes der Archäologie zeigen soll, sind bei Foucault die Elemente des Netzes in jedem Fall Ergebnis von produktiven Diskontinuitäten – genau wie die Differenzen bei Saussure. Und auch im genannten Text Distanz, Aspekt, Ursprung ([1963]: 375) nennt Foucault den Schnitt als produktives Element für das von ihm Getrennte und zielt mit den Isomorphismen vielleicht eher auf paradigmatische Gleichsetzungen, wie in der Figur des Simulacrums. So sieht etwa auch Bourdieu (1991: 106f.), dass Foucaults symbolischer Strukturalismus konsequent dem Wesentlichen bei Saussure folgt, indem er den Primat der Relationen beibehält. Vgl. auch Rorty 1998: 41f. Saussure 2001: 143. Saussure 2001: 95.
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wertigkeiten zwischen Dingen verschiedener Ordnung“93 handelt, also dem gegenseitigen Verweis von Bezeichnetem und Bezeichnendem, der das Zeichen zum Wert macht. Und während diese „jedes für sich genommen lediglich differentiell und negativ sind, ist ihre Verbindung ein positives Faktum“ – trotzdem bleibt: „[D]ie Sprache ist eine Form und nicht eine Substanz“.94 Denn da in der Ökonomie der Wert (eines Stück Landes z.B.) „abhängig ist von Sachen, hat er trotz allem eine natürliche Grundlage [...]. Dagegen haben wir gesehen, daß in der Sprachwissenschaft natürliche Gegebenheiten nicht vorhanden sind“95 – und dies gilt nicht nur für die Vorstellungen, das Denken, sondern auch für die materielle Seite des Zeichens (Ausdrucksseite). Hier lässt sich auch das finden, was Foucault dann als Positivität bezeichnet. Ausschlaggebend für den Wegfall des Referenten ist gemäß Saussure die Beliebigkeit des Bezugs der beiden Seiten des Zeichens aufeinander.96 Vielleicht liegt hier zunächst der Gedanke nahe: Wenn das Zeichen im Verhältnis zur Vorstellung, zum Bezeichneten beliebig ist, so könnte letzteres ja unabhängig von der Bezeichnung direkt mit einem Referenten verbunden sein. Saussures Gedankengang läuft aber in die Gegenrichtung: Wenn nämlich die Relationen der Vorstellungen solchermaßen schon vor der Verbindung mit den Lauten feststünden, dann könnten die damit zu verbindenden Lautgebilde sich nicht als ein System entfalten, das allein der Logik differentieller Relation folgt.97 „C’est le propre de la langue, comme de tout système [Herv. i.O.] sémiologique, de n’admettre aucune différence entre ce qui distingue une chose et ce qui la constitue [...].“98 „Da also dasjenige, das sich auf etwas bezieht, simultan mit dem, worauf es sich bezieht, entsteht und beide in einer Einheit verbunden 93 94 95 96 97
Saussure 2001: 94. Saussure 2001: 144 und 146. Saussure 2001: 95. Vgl. Saussure 2001: 79f. Gasché erklärt die gegenseitige Artikulation der beiden Seiten des Zeichens nach Saussure: „Die Sprache ist nun die Tätigkeit, aus der, aufgrund einer simultanen Aufteilung der beiden amorphen Massen des Denkens und der Laute, die linguistischen Einheiten hervorgehen“ (Gasché 1970: 314). „Diese Tätigkeit, die die Beziehung zwischen bestimmten Abschnitten der Lautmasse und der Denkmasse bewirkt, wird aber erst möglich durch die radikale [...] Arbitrarität der beiden Bereiche. Nur so kann sie nicht nur die beiden Massen simultan ordnen, sondern auch Einheiten erzeugen, die lediglich differentiell bestimmt sind“ (Gasché 1970: 319). 98 Saussure (1974): Cours de linguistique générale. Notes de F. de Saussure sur la linguistique générale. Édition critique par Rudolf Engler, Tome 2, fasc. 4, zitiert aus Jäger (1975: 52).
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sind, außerhalb derer sie nicht sind – sie einander also nicht äußerlich sind –, läßt sich dieses Verhältnis nur noch schwer als ein repräsentatives verstehen.“99 Insofern würde aber Foucaults Rede „von einer vollkommenen Transparenz des signifiant für das signifié“100 seine Zugehörigkeit und nicht, wie bei Frank, seinen Abstand zum (Neo-)Strukturalismus respektive zu Saussure bezeichnen. Interessant ist, wie Foucault immer miteinbezieht, dass die so herausgearbeiteten erkenntnistheoretischen Strukturen genau dieselbe Stellung wie seine (strukturalistische) Zeichentheorie einnehmen. Positivismus und Deduktion oder Formalisierung – eine nach Foucault typisch moderne Gegenüberstellung – fallen hier sozusagen zusammen. Sein Positivismus rekurriert somit auf ein gezielt angewendetes Begriffssystem, mit dem die Diagnosen erstellt werden. Dabei stellt er in der Archäologie des Wissens schon explizit die diskursive Produktion als soziale Praxis in den Vordergrund. Und von da her ist auch zu sehen, inwiefern Foucault seine eigene Position von der Klassik distanziert. „An den Reflexionen und Analysen über die Zeichen erscheint für mich enttäuschend und naiv, daß man glaubt, sie seien schon immer da gewesen, über die Gestalt der Welt ausgebreitet, oder daß man sie als von den Menschen gebildet annimmt, und daß man niemals die Zeichen selber befragt. Was bedeutet es, daß es Zeichen, Male, Sprache gibt? Man muß die Existenz der Sprache zum Problem machen, sonst fällt man auf das Reflexionsniveau des 18. Jahrhunderts, auf das Niveau des Empirismus zurück.“101
Foucault verfolgt also ein Sein der Sprache, das die Moderne mit der Renaissance verknüpft, sodass er bestimmte Facetten der klassischen Episteme und Zeichentheorie ablehnen kann und muss.102 99 100 101 102
Gasché 1970: 315. Frank 1984: 160. Die Ordnung der Dinge: Ein Gespräch mit Raymond Bellour [1966]: 155. Mit dem ‚Sein der Sprache‘ als dem Anderen verbundene Aspekte der von Foucault benutzten Sprachkonzeption stellt z.B. Rüb (1990: 196) ausführlicher dar. Allerdings distanziert er Foucault dadurch sehr von der Klassik. In eine ähnliche Richtung geht Quadfliegs (2006: 39) Kritik am „fatalen Kurzschluß“ von Frank: „Da Foucaults eigener Ansatz dem Strukturalismus entstamme [...] und er weiterhin im Rahmen seiner Rekonstruktion des klassischen Zeichenbegriffs darauf hinweist, dass die strukturale Linguistik de Saussures die binäre Natur des Zeichens von neuem entdecken wird (Die Ordnung der Dinge [1966]: 102), glaubt Frank eine prinzipielle Sympathie Foucaults für das Repräsentationsmodell des siebzehnten Jahrhundert feststellen zu können. Wenn man überhaupt von einer ‚Sympathie‘ Foucaults für eine der von ihm betrachteten Epochen sprechen kann, dann wohl eher für das ‚Sein der Sprache‘ in der Renaissance.“ Quadflieg (2006: z.B. 123, 125,
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Denn gilt die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant in der Klassik durch Konvention, so ist sie im Strukturalismus für Foucault durch eine Sprache gegeben, die stärker als in der Klassik eine Existenz und Materialität hat. Sie besitzt wie in der Moderne ihre eigene Mächtigkeit – Foucault hält also durchwegs an der Erkenntnis moderner Perspektiven wie jener von Nietzsche fest, dass die Sprache nicht neutral, sondern Handeln, ein gefährlicher Akt ist.103 Sehr klar kommt dies in Foucaults Konzeption von Wissenschaft im Zeichen der produktiven Grenzen der Sprache angesichts seiner Kritik am herkömmlichen Ideologiebegriff zum Tragen.104 Wissenschaft kristallisiert sich demnach in einem Wissensfeld heraus, ersetzt dieses aber nicht grundsätzlich, sondern besteht in jeweils spezifischen Beziehungen dazu – ein Thema der archäologischen Methode. Und an diesem Punkt artikuliert sich auch das „Übergreifen der Ideologie auf den wissenschaftlichen Diskurs und das ideologische Funktionieren der Wissenschaften“105. Wissenschaften sind nicht etwa ideologisch, weil und indem sie Sozioökonomisches widerspiegeln und Ideologie ist nicht eine missbräuchliche Anwendung von Wissenschaft, sondern Wissenschaften konstituieren. Die Frage nach der Ideologie stellt sich also, insofern die Wissenschaft Aspekte des Wissens formiert, selbst eine diskursive Praxis neben anderen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ist. Foucault distanziert sich folglich von anderen Ideologiebegriffen: Wissenschaft und Ideologie sind kein sich ausschließender Gegensatz; Inkonsistenzen in der Wissenschaft können zwar deren ideologisches Funktionieren anzeigen, aber deshalb nicht auf eine andere Ebene verweisen; umgekehrt verringert Strenge und Formalisierung nicht automatisch die Rolle der Ideologie. Sich mit dem ideologischen Funktionieren einer Wissenschaft auseinander zu setzen heißt nicht, sie auf ihre stützenden Grundkonzeptionen zurückzuführen, sondern sie in ihren spezifischen Formationsregeln in Frage zu stellen. Foucault 140) betont also das Sein der Sprache in der Renaissance und dessen Wiederauftauchen in der Moderne (nachdem es untergründig in der Literatur weiterging), das nun als Gegendiskurs aufgegriffen wird. Er blendet damit aber vielleicht zu sehr aus, dass Foucault – wie das Ende der Ordnung der Dinge zeigt – Elemente aller drei Epistemen zusammendenkt. 103 Auch Wrana; Langer (2007: Abs. 5) benennen diese Perspektive, indem sie betonen, dass der linguistic turn bei Foucault zugleich ein pragmatic turn ist. Dass dies wiederum nicht unbedingt als Abkehr von Saussure zu sehen sein muss, zeigen Untersuchungen, die in Anschluss an Saussure etwa die Trennung von performativen und konstativen Äußerungen ablehnen (so etwa Jäger 2009: 217). 104 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 262-265. 105 Archäologie des Wissens [1969]: 263.
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selbst hat den Ideologiebegriff kaum je eingesetzt, um zu vermeiden, dass man an ein Konzept denkt, welches er aus drei Gründen ablehnt: weil es implizit immer im Gegensatz zu etwas steht, das die Wahrheit wäre; weil es sich notwendigerweise auf etwas wie ein Subjekt bezieht; weil die Ideologie gegenüber etwas, das als Basis (ökonomische, materielle Determinante) gilt, in sekundärer Stellung steht.106 Die vorangegangenen Passagen lassen erkennen, warum und inwiefern die Sprache für Foucault eine grundlegende Rolle spielt, und in welch hohem Maß dies strukturalistische Züge trägt – selbst wenn gerade in puncto Sprache auch Ähnlichkeiten mit Heidegger festgehalten wurden.107 Der Bezug auf die Sprache ist folglich ein zentraler Angelpunkt in Foucaults Denken und er wurde in der Archäologie des Wissens Fundament für die Ausarbeitung eines umfassenden theoretisch-methodischen Konzepts mit entsprechender Begrifflichkeit. Ohne genauer darauf einzugehen, möchte ich hier die Frage zumindest aufwerfen, ob Foucault in dieser Hinsicht über die in manchem ähnlichen Arbeiten der Frankfurter Schule hinausgeht. Denn auch die frühe Frankfurter Schule versteht sich als eine selbst historisch bedingte Analyse der aktuellen Situation und versucht, die Muster der uns bestimmenden Denkformen freizulegen. Und Adorno ist in seiner Sprachkritik ebenfalls von einem tiefen Misstrauen gegenüber ‚identifizierendem Denken‘, der ‚signifikativen Sprache‘ und dem allgemeinen Begriff bestimmt. Seinen Texten liegt, wie Wellmer des Weiteren sagt, die Idee zugrunde, „daß Gedanken nur so viel wert sind, wie die sprachliche Form, in der sie sich äußern“108. Zudem ist das Programm der Philosophie in der ‚Negativen Dialektik‘, durch den Begriff über den Begriff hinauszugelangen. Das Anliegen, die Macht der westlichen Rationalität auch durch eine neue Sprache, ein neues Sprachkonzept sowie ein neues Begriffsinstrumentarium zu brechen, ist dann aber – so mein Eindruck – bei Foucault radikaler in Angriff genommen oder hat zumindest mehr an Einfluss gewonnen.109 Allerdings ist dieser Punkt nicht ganz unumstritten. Zwar hebt einerseits Said hervor, dass Foucault sich intensiv mit der Sprache beschäftigt, was in vielen seiner Artikel zum Ausdruck komme. Und Streit beispielsweise stellt 106 Vgl. Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 196f. 107 Insbesondere Dosse (1996: z.B. 77ff.) ist einer jener, die ganz klar die Linguistik und zumal ihre auf Saussure zurückgeführte Perspektive als Modell des Strukturalismus sehen. 108 Wellmer 1990: 137. 109 Eine ansonsten ausführliche Gegenüberstellung der beiden Denkrichtungen findet sich z.B. bei Honneth (1989) oder auch bei Schäfer (1995: Teil III).
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(noch) in Überwachen und Strafen eine Fülle von Verweisen auf die semiologische Analyse fest.110 Andererseits schreibt etwa Lavagno: „[Es] gibt [...] zwei Gründe, Foucaults Vision von einer nachmodernen Episteme auf der Grundlage der Sprache nicht weiter zu verfolgen. Zum einen haben Strukturalismus und Linguistik den Zenit ihrer Bedeutung längst überschritten [...]. Der von Foucault antizipierte Paradigmenwechsel hat nicht stattgefunden. Zum anderen fällt auf, daß Foucault selber in seinen späteren Schriften kaum noch auf den Topos ‚Sprache‘ zurückgekommen ist. [...] Die zwar suggestiven, aber letztlich doch vage bleibenden Andeutungen am Ende der Ordnung der Dinge sind nie ausgeführt worden.“111
Die erste Behauptung von Lavagno, die ähnlich auch Rabinow mehrfach geäußert hat, kann hier nicht diskutiert werden, soll aber zumindest dahingehend differenziert werden, dass womöglich häufig nur die explizite Referenz auf den Strukturalismus beziehungsweise das Sprachparadigma fehlt. Was die damit verknüpfte Frage nach der Verortung der Leitwissenschaft betrifft – die heute (wieder) bei den Naturwissenschaften gesehen wird –, so wäre dies ohne Zweifel eine genauere Untersuchung wert. Zumal hinsichtlich der immer wieder als Kandidat genannten Life-Sciences ließen sich meines Erachtens deutliche Bezüge auf ein (konstruktivistisches) Sprachparadigma feststellen.112 In jedem Fall sollte die Darstellung der Foucault’schen Epistemologie bisher – und auch im Folgenden – die Konzeption der Sprache als Fundament
110 Vgl. Said (1972: 16) und Streit (1995: 374), der für Überwachen und Strafen etwa auf die Seiten 119, 125, 131, 135, 173, 178 verweist und diese Arbeit von 1975 insgesamt als Semiologie bezeichnet. 111 Lavagno 2003: 121. 112 Rabinow (2002: 135, 2004a: 21 und 2004b: 35) seinerseits hält fest, dass sich Foucaults Prophezeiung, die Sprache könnte der Ausgangspunkt radikaler allgemeinerer Transformationen werden, nicht bewahrheitet hat. Es ist hier nicht der Ort, durch mehr als ein paar hingestreute Assoziationen zur Diskussion zu stellen, welcher Stellenwert dem Sprachparadigma im Mainstream der biologischen Wissenschaften gegenwärtig zukommt. Zumindest von Außen besehen ist jedoch auffällig, wie sehr mit Begriffen der Sprachwissenschaft gedacht wird: auch über ‚das Buch des Lebens‘ und den genetischen Code hinausgehend wird die Kommunikation auf allen biologischen Ebenen thematisiert; man hört, dass ‚Leben gleich bedeutend mit Zeichenprozessen ist‘ und sich ‚immer wieder beweist, dass die gesamte Biologie ähnlich wie die menschliche Sprache strukturiert ist‘, dass ‚die Sprache der Zellen grammatisch und semantisch zu entschlüsseln wäre‘; Zoosemiotik und Biosemiotik sind Forschungsfelder, die Proteinlinguistik ein konkreter Forschungsansatz, organische Codes als Gegenstand einer semantischen Biologie eine heiß diskutierte Thematik.
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seines theoretischen und methodischen Zugangs und somit auch der Analyse gesellschaftlich prekärer Institutionen ausweisen. „Neu ist [...], dass die Linguistik den Sozialwissenschaften nun epistemologische Möglichkeiten gibt, die sich von denen, die sie ihnen früher bot, deutlich unterscheiden. Weit besser als das der Linguistik eigene Niveau der Wissenschaftlichkeit erlaubt das wechselseitige Funktionieren von Linguistik und Sozialwissenschaften eine Analyse der aktuellen Situation.“113
Und zur Literatur, auf die er sich bezieht, sagt Foucault: „[Es] handelt sich eher um einen Übergang ins ‚Außen‘: die Sprache entrinnt der Seinsweise des Diskurses, d.h. der Herrschaft der Repräsentation, und das literarische Sprechen entwickelt sich aus sich selbst, indem es ein Netz bildet, worin alle Punkte voneinander abgehoben und in einem Raum, der sie zugleich umfaßt und trennt, einander zugeordnet sind.“114
Angesichts dieser Verortungen von Foucault ist nicht nachvollziehbar, dass laut Welsch am Ende der Ordnung der Dinge nur noch die Literatur unter dem Prädikat ‚Sein der Sprache‘ firmieren soll.115 Obwohl dieser Aspekt sicher wichtig ist, zumal er eine Seite von Foucaults eigenem Schreiben betrifft: denn nicht nur das Objekt, sondern auch die Subjektposition des Autors wird dabei ins Sein der Sprache versetzt. Foucault bricht mit dem Gedanken des Satzes, der vom Subjekt her beginnt, womit das ‚ich spreche‘, ‚ich handle‘ als der wesentliche Faktor, als die entscheidende und einheitlich durchgehende innere Konstante imaginiert werden kann auch für sich selbst.116 Insofern ist aber der doppelte Bezug auf Literatur und Linguistik – gemäß Welsch zu konträre Projekte, um sie am Ende der Ordnung der Dinge als Telos gemeinsam hinzustellen – auch kein Schwanken, das verrät, dass Foucault nicht wusste, was er meint und bloß etwas suggerieren wollte. Dass und wie die strukturalistische Sprachkonzeption mit anderen Interessen von Foucault konvergiert, hat auch Kögler117 anhand eines frühen Beispiels beleuchtet: So ist der Wahnsinn bei Foucault gewissermaßen eine reine Spra-
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Linguistik und Sozialwissenschaften [1969]: 1044. Das Denken des Außen [1966]: 47. Vgl. Welsch 1991: 142. O’Leary (2008: 6) betont in dieser Hinsicht die Relevanz der Literatur – als Grenzerfahrung, die eine Distanzierung von sich selbst erlaubt, ähnlich der Archäologie. 117 Vgl. zur folgenden Überlegung Kögler (1992: 157ff.), und auch Quadflieg (2006: 128).
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che, insofern er eine ‚sinnlose‘ Sprache, eine Un-Sprache ist; Zeichen, die weder einem Subjekt zugehören noch auf ein Objekt verweisen. Dies verbindet ihn mit Strömungen der modernen Literatur, denen es eben um die Enthüllung eines ‚Seins der Sprache‘ geht, indem sie die Sprache selbst – gegenüber ihrer Ankoppelung an ein sich artikulierendes Subjekt oder ihren Verweis auf ein Referenzobjekt – wieder in ihrer reinen Materialität zum Vorschein bringen. In Anschluss an die Ausführungen zu Ethnologie und Psychoanalyse als Gegenwissenschaften macht Foucault den Bezug zur Sprache nochmals deutlich: „So bildet sich das Thema einer reinen Sprachtheorie [théorie pure du langage]“118, welche die allgemeinste Infragestellung der Humanwissenschaften bilden würde. Daher kann Dosse nach Barthes über den Strukturalismus und die Semiologie sagen: „Wer kein Rimbaud, Bataille oder Artaud zu sein vermag, dem gestattet sie, die Herrschaftsmechanismen zu demontieren und damit eine uneinnehmbare, nicht zu vereinnahmende Position der Extraterritorialität zu besetzen, einen Außenstandpunkt, der im Namen der wissenschaftlichen Positivität auftritt. Die Subversion der Sprache vollzieht sich nun durch die Sprache selbst [...].“119
Dies hängt zusammen mit Foucaults Auffassung von aktueller Kritik: „Für Kant war die Möglichkeit einer Kritik und ihre Notwendigkeit an das durch bestimmte wissenschaftliche Inhalte vermittelte Faktum gebunden, daß es Erkenntnis gibt. Heute ist sie – und Nietzsche, der Philologe, ist unser Zeuge – an das Faktum gebunden, daß es Sprache gibt, und daß [darin] [...] ein Sinn Gestalt angenommen hat, der uns überragt [...] aber [...] auf unser Bewußtwerden wartet, um an den Tag zu kommen und das Wort zu ergreifen. Unser geschichtliches Schicksal ist [...] die geduldige Konstruktion von Diskursen über Diskurse, ein Vernehmen dessen, was schon gesagt worden ist.“120 118 Die Ordnung der Dinge [1966]: 455f. 119 Dosse 1996: 306. 120 Die Geburt der Klinik [1963]: 13f. Jäger (1975: 51) betont, dass die Gegenstandsebene bei Saussure der vorwissenschaftliche Regelhorizont ist, der als „Sprachbewußtsein die sprachlichen Identitäts-Urteile kompetenter Sprecher“ und damit die für die Wissenschaft gegenständlichen Elemente bestimmt, und dass zudem die Zeichen über ihren Gebrauch sehr wohl einen Bezug zu einem Außen haben. Diese Verortung steht nicht unbedingt im Gegensatz zur Perspektive des (Post-)Strukturalismus von Foucault, wie sie hier entwickelt wurde (anders hingegen Jägers Einschätzung des (Post-)Strukturalismus). Zu bedenken ist dabei jedoch, dass Saussure in Hinblick auf das ‚Bewusstsein‘ Wendungen wie ‚auf irgendeine Art davon Bewusstsein haben‘ oder ‚signifikativ sein‘ gebraucht – so von Jäger (1975: 52) zitierte Stellen. Insofern drängt es sich aber meines Erachtens nicht unbedingt
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Foucault würde hier als Diskurs über Diskurse im Sein der Sprache auch systematisch relevant weiter tragen, was er – so Quadfliegs Lesart – an den Humanwissenschaften schätzt: nämlich, dass es immer etwa eine Soziologie der Soziologie, eine Psychologie der Psychologie geben kann.121 Zugleich kann Welschs Analyse aber darauf hindeuten, dass das ‚Sein der Sprache‘ womöglich in ähnliche Zirkularitäten führt wie der Mensch. Und dies wäre auch aus Foucaults Sicht wohl problematisch, insofern diese Zirkelschlüsse ja der besonders hervorgehobene Schwachpunkt der Humanwissenschaften sind und ihre Ablehnung rechtfertigen sollten. Die Frage ist also, ob die Sprache Ambivalenzen wie der Mensch aufweist, ob nun die Sprache oder der Diskurs und seine Regelmäßigkeiten zugleich transzendental und empirisch sind, ihre Strukturen unbewusst und in der (wissenschaftlichen) Explikation präsentiert und der Ursprung der Sprache immer schon Differenz und Sprache.122 Wenn man wesentliche Kritiken am Gegenstand der Humanwissenschaften auf das Sein der Sprache übertragen kann, so ist aus epistemologischer Sicht nicht leicht einzusehen, warum sie den Menschen ablösen sollte. Diesen Bedenken hält Lavagno mit Bezug auf Foucaults Archäologie entgegen: „Dadurch daß er [Foucault] die Diskurse in ihrer Faktizität untersucht und von der Frage nach ihren transzendentalen Ermöglichungsbedingungen absieht, gerät er gar nicht erst in Versuchung, ein Positives für ein Fundamentales auszugeben.“123 Allerdings hat es aber doch den Anschein, dass für die diskursive Formation etwa der Humanwissenschaften „die Ebene der Positivität [...], die sie möglich macht und notwendig ihre Form bestimmt“124, nach der Foucault sehr wohl fragt, wiederum Diskurs oder Sprache im weitesten Sinn ist. In jedem Fall aber ist die Sprache von ihrer Verantwortung für den Menschen entbunden: Ist der Mensch verschwunden, kann die Sprache auch nicht mehr seiner Erkenntnis im Weg stehen und sie zugleich ausmachen. Damit verliert sich der ewig unerreichbare Fluchtpunkt, die Sprache in ihrer Materia-
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auf, Saussures Ansatz (wie etwa Jäger 1975: 115) in Richtung auf ein reflexivkreatives Selbstbewusstsein der Sprechenden hin zu lesen (und somit von der nicht unbedingt explizit bewussten Gegenstandsebene (post-)strukturalistischer Ansätze abzuheben). Vgl. Quadflieg (2006: 117, 131) und Die Ordnung der Dinge ([1966]: 425f.). Eine Einschätzung der Archäologie in Hinblick darauf, ob Foucault die kritisierten Ambivalenzen der Moderne umgehen kann, haben mit starker Bezugnahme auf die Phänomenologie Dreyfus und Rabinow (1994: 111ff.; bes. 116-127) durchgeführt. Lavagno 2003: 196. Die Ordnung der Dinge [1966]: 438.
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lität aufzulösen und durchsichtig zu machen. Im Gegenteil ist nun die konstitutive Materialität der Sprache alleiniger Referenzpunkt. Denn nach Saussure genügt sich das differentiell bestimmte Zeichen gerade durch seine Doppelgestalt und kann seine Definition daher nicht durch den Referenten erfahren. Der Preis ist die Entfernung einer nicht-sprachlichen Welt, insofern es für das Universum der Zeichen keinerlei im Raum der Zeichen selbst konzipierbare materielle Verbindlichkeiten gibt. Thema dieses Kapitels war die Frage, wie sich Foucaults ethnologische Positionierung ausgehend von der Ordnung der Dinge in Hinblick auf ihren Gegenstand im wissenschaftlichen Feld einordnen lässt. Die Identifikation der Gegenstandsebene in Foucaults Diskurs ist der erste von vier Schritten zur Charakterisierung seiner Ethnologie als Kritik an der Moderne. Der erste Abschnitt weist auf, wie eigentümlich unkritisch Foucault gegenüber Disziplinen wie der Mathematik, aber auch etwa der Physik ist – eigentümlich sowohl angesichts gegenwärtiger Social Studies of Science wie angesichts Foucaults eigener Relativierung der Episteme. Zur Lösung dieses Rätsels dient die Einschätzung des gesellschaftlichen Stellenwerts der Humanwissenschaften (und somit weiter Teile der Anthropologie). Diese haben gemäß Foucault eine metareflexive, die Naturwissenschaften relativierende Funktion. Allerdings würdigt Foucault ihr subversives Potential nicht, denn sie sind in seinen Augen primär selbst kritisch zu betrachten und kommen daher für die Verankerung von Kritik schwerlich in Frage. Vor allem aber scheint dies nicht sein vordringliches Anliegen. Bei Foucault werden nämlich zumal die modernen Naturwissenschaften, aber auch die empirischen Wissenschaften zu einer sozialen Strukturierung erst durch Übernahme ihrer Ergebnisse in Humanwissenschaften, die mit Institutionen wie Gefängnis, Psychiatrie, Militär oder Schule verbunden sind. Ob die spezifische Strukturierung der Natur beispielsweise notwendig an eine bestimmte sozioökonomische Formation geknüpft ist, was natürlich die Existenz der menschlichen Lebewesen bestimmt und damit indirekt immer etwas über sie aussagt, diese Frage verfolgt Foucault kaum. Die Analyse, wie bei Foucault Wissenschaften definiert und im kulturellen Kontext integriert sind, führt zu dem in der Foucault-Rezeption wenig beachteten Faktum, dass er sehr wohl ‚wertvolle‘ Wissenschaften kennt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie vom Alltagskontext und der gesellschaftlichen Formation isoliert sind – nicht zugunsten der Empirie, sondern formaler Konsistenz. Da sich Foucault mit Wissen auf der Ebene der Positivität (erkennbare Individualisierung, Differenzierung bestimmter diskursiver Praktiken durch bestimmte regelmäßige Aussagefunktionen) und der Epistemologisierung (Veri-
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fikationsnormen, kritische Funktion oder Modellfunktion), also der archäologischen Ebene, befasst – und nicht jener der Wissenschaftlichkeit (Aussagen gehorchen formalen Kriterien als Konstruktionsgesetzen von Propositionen) oder der Formalisierung (Axiome, propositionelle Strukturen, Elemente und Transformationen ergeben sich aus der Wissenschaft selbst) – hat er es mit diskursiven Formationen zu tun, die in sozialen Institutionen und generell im Alltag wirksam sind. Dies bezeugt, dass die modernen Humanwissenschaften von Foucault als durchaus gesellschaftsformierende Kraft gesehen werden – anders als häufig im öffentlichen Diskurs und auch in Ansätzen der Wissenschaftsforschung. Insofern scheinen die Humanwissenschaften sehr potent. Wie der zweite Abschnitt zeigt, sind die Humanwissenschaften für Foucault jedoch gleichzeitig steril, denn sie haben gegenüber den anderen Wissenschaften abgeleiteten Charakter. Dies verbindet er zwar nicht damit, dass die Humanwissenschaften in Bezug auf einen externen Referenten inadäquat wären. Dennoch geht Foucault einen Schritt weiter, indem er ihnen jeden referentiellen Anspruch aberkennt – und dies erstaunlicherweise im Unterschied zu anderen Wissenschaften. Dass speziell die Humanwissenschaften dergestalt gegenstandslos sein sollen, wird nicht näher erklärt. Meines Erachtens lässt es sich im Kontext von Foucaults Epistemologie allenfalls insofern verstehen, als diesen Wissenschaften im Vergleich mit der Klassik und der Renaissance, wie ihn Foucault in der Ordnung der Dinge vorgelegt hat, jede Entsprechung fehlt. Meine Überlegungen führen darüber hinaus zu dem Ergebnis, dass diese Konstellation einen nicht unerheblichen Widerspruch birgt. Die Humanwissenschaften haben laut Foucault einerseits sehr wohl eine Orientierungsfunktion, und zwar offenkundig in eigener Instanz und nicht als bloße Konsequenz der Naturwissenschaften beziehungsweise der empirischen Wissenschaften. Andererseits hängen sie epistemisch von diesen ab und wären eigentlich von jeglicher Verantwortung freizusprechen. Hinzu kommt, dass sich Foucault an der Dekonstruktion von Wissenschaften abarbeitet, die sich gemäß seiner Diagnose von anderer Stelle der Episteme her wieder und wieder bilden müssten. Folglich ergibt sich die Notwendigkeit, nicht bei der Kritik der Humanwissenschaften stehen zu bleiben, sondern die Transformation der Moderne auch von den empirischen Wissenschaften her zu begründen. Hier kommt der Sprache entscheidendes Gewicht zu, so die Argumentation im dritten Abschnitt. Wiewohl dies in der Sekundärliteratur durchaus umstritten ist, erweist sich aus meinem Blickwinkel die Sprache, und somit eine Sprachtheorie bei Foucault als zentraler Angelpunkt seines Diskurses. Der Wegfall des Referenten bietet Foucault einen Gegenstand, der einerseits die Interpreta-
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tion in ihrer Unabschließbarkeit und andererseits die im Konnex mit dem Referenten begründete Harmlosigkeit der wissenschaftlichen Repräsentation und allgemein der diskursiven Praxis zurückzuweisen erlaubt. Der Verweis auf die Sprache als erkenntnistheoretische Basis schafft den Übergang zu Foucaults Entwurf der Forschungsfragen seiner Ethnologie respektive Archäologie. Mit der Archäologie des Wissens hat Foucault dann seine neue begriffsinduzierte Methodik zur Analyse kultureller Tatsachen erstellt.
Archäologie des Wissens – Begriffliche Opposition
„Wir geben zu [sagen Foucaults fingierte Gegner am Ende der Archäologie des Wissens], daß man in Termini von Elementen und Konstruktionsregeln von der Sprache im allgemeinen sprechen kann – jener Sprache von einst und anderswo, die die der Mythen ist [...]. [...] Aber wir bestreiten, daß man, wenn diese Versuche erfolgreich waren, sich autorisiert glauben kann, die Analyse zurückzudrängen, bis zu den Diskursformen, die sie ermöglichen, zurückzugehen und den Ort in Frage zu stellen, von dem aus wir heute sprechen. [...] Auch wenn wir wohl oder übel alle Strukturalismen auszuhalten gezwungen sind, so würden wir dennoch nicht akzeptieren, daß man an jene Geschichte des Denkens rührt, die unsere Geschichte ist. [...] Was wir aber seit jetzt mehr als einem halben Jahrhundert verloren haben, beabsichtigen wir durchaus auf der zweiten Stufe durch die Analyse all dieser Analysen oder wenigstens durch die fundamentale Befragung wieder zu erlangen, die wir ihnen auferlegen. Wir werden sie nach ihrer Herkunft, nach der sie ohne ihr Wissen durchherrschenden Bestimmung, nach der Naivität, die sie gegenüber den sie ermöglichenden Bedingungen blind macht, und der metaphysischen Einfriedung fragen, in der sich ihr rudimentärer Positivismus einschließt. Und sofort wird es endlich unerheblich sein, daß [...] wir alle Diskurse aufgeben müssen, die wir einst auf die Souveränität des Bewußtseins zurückführten. [...] [D]enn die Vernunft, die alle diese neuen ‚Wahrheiten‘ herstellt, überwachen wir ganz besonders. Ihr – und wir sind entschlossen, niemals darauf zu verzichten – werden wir jetzt die Frage nach ihrem Ursprung, nach der ersten Konstitution, dem teleologischen Horizont, der zeitlichen Kontinuität stellen. Dieses Denken, das sich heute als das unsere aktualisiert, werden wir in der historisch-transzendentalen Dominanz aufrechterhalten.“1
Im nun folgenden Kapitel soll es um Foucaults Versuch gehen, auch der ‚auf der zweiten Stufe‘ unternommenen Aneignung der Dekonstruktion etwas entgegenzusetzen. Dieses Ziel hat L’Archéologie du savoir, wie sie 1969 vorgelegt wird. Thema dieser Arbeit ist ein analytischer Blick, der kulturelle Tatsachen auf der Ebene ihrer diskursiven Existenzbedingung erschließt und damit eine möglichst 1
Archäologie des Wissens [1969]: 286-288.
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umfassende Distanzierung von den Voraussetzungen der Moderne gewährleisten will. Diese Methode wird aufgrund ihres epistemologischen Standorts, aber auch aufgrund ihrer damit implizierten Funktion in der philosophischen Literatur und von Foucault selbst als eine Ethnologie der eigenen Kultur bezeichnet. Das lässt sich darauf zurück beziehen, dass Foucault in der Archäologie des Wissens, die ursprünglich als methodologischer Teil der Ordnung der Dinge gedacht war, auf die Operation mit produktiven Grenzziehungen baut, also jene Epistemologie, die zuvor als Denkrichtung der Ethnologie benannt wurde. Auch die damit verbundene Frage der Selbstdiagnose und die Rolle von Außenpositionen verweisen auf die Ethnologie. Zudem führt Foucault eine Auseinandersetzung mit der Historizität weiter, die sich am Vorbild der Ethnologie orientiert. Denn die Ethnologie hat ein besonderes Verhältnis zur Historizität, das es ihr erlaubt, als Gegenwissenschaft die Geschichtlichkeit der westlichen Moderne zu distanzieren und einen Umbruch zu initiieren. Diese Charakteristika wurden gegen Ende des Kapitels über die Ordnung der Dinge bereits ausführlich herausgearbeitet. Die Archäologie des Wissens ist der Erarbeitung von Begriffen gewidmet, welche es ermöglichen sollen, die Strukturierung von Wissen anders als bisher zu konzipieren – also sowohl das Auftauchen von Wissen, seine Existenz und Veränderungen wie auch seinen Bezug zu anderen kulturellen und außerkulturellen Bereichen von den Bedingungen, welche die Moderne hier stellte, zu lösen. Die Entfaltung der Begriffe in Foucaults Diskurs bezieht sich daher auf eine fundamentale epistemologische Ebene, die als konstitutive Praxis zu betrachten ist. Foucault wendet sich in seiner Hinterfragung des modernen Menschen durch methodische Vorgaben bei der Analyse von Diskursen nun insbesondere auch gegen das kollektive Subjekt, wie es im Geschichtskonzept der Moderne besteht – einem Konzept, das vom Anderen ausgehend auf Vereinheitlichung und Totalisierung gerichtet ist. Diese Bewegung, das Andere einzuholen, beruht auf der anthropologischen Doppelstruktur, dem Kernstück von Foucaults Kritik der Moderne in der Ordnung der Dinge. „Aus der historischen Analyse den Diskurs des Kontinuierlichen und aus dem menschlichen Bewusstsein das ursprüngliche Subjekt jeden Wissens und jeder Praxis machen zu wollen, sind die beiden Seiten ein und desselben Denksystems. Die Zeit wird hierbei in Begriffen der Totalisierung verstanden und die Revolution stellt nie etwas anderes dar als eine Bewusstwerdung.“2
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Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 892.
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Damit all dies gilt, muss man „die Augen hartnäckig vor der Tatsache verschließen, dass die Geschichte für die Souveränität des Bewusstseins vielleicht kein besser geschützter und weniger gefährlicher Raum ist als die Mythen“3. Alle nachhegelschen Differenzierungen des Geschichtsbegriffs fasst Foucault im „Diskurs des Kontinuierlichen“4 zusammen. „Die kontinuierliche Geschichte ist das unerläßliche Korrelat für die Stifterfunktion des Subjekts“, deshalb scheuen sich viele, diese Geschichte aufzulösen und „das Andere in der Zeit unseres eigenen Denkens zu denken“ – so Foucault.5 „The master narratives that currently guide much ethnography all have Enlightenment roots, and all have been called into serious question. Foucault’s searing critique of Western humanism and its hidden epistemologies has made it difficult to retain much faith in the idea of progress in its many old and new manifestations.“6
Eine bestimmende Operation bei Foucault ist daher der Akt der Fragmentierung. Man solle anerkennen, dass die Frage der Diskontinuität sich überall stellt, und die falschen Oppositionen zwischen Werden und System oder Geschichte und Struktur aufgeben.7 Damit soll der Blick der Forschenden ein archäologischethnologischer werden, der Unterschiede wahrnimmt. Denn: „Man darf sich darin [...] nicht täuschen: was man so stark beweint, ist nicht das Verschwinden der Geschichte, sondern das Verwischen jener Form von Geschichte, die insgeheim, aber völlig, auf die synthetische Aktivität des Subjekts bezogen war; was man beweint, ist jenes Werden, das der Souveränität des Bewußtseins einen sicheren, weniger exponierten Schutz als die Mythen, die Verwandtschaftssysteme, die Sprachen, die Sexualität oder das Verlangen liefern sollte.“8
Foucaults Argument zeigt hier eine deutliche Engführung zu Lévi-Strauss. Auch dieser kritisiert die Arbeit der Geschichtswissenschaft mit einer totalisierenden Kontinuität des Ich und bezichtigt sie eines transzendentalen Humanismus, der auf der Ebene des Wir eine Illusion der Freiheit erhalten will, nachdem das Ich an Konsistenz verloren hat.9 3 4 5 6 7 8 9
Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 892. Honneth (1989: 134) umreißt nach dieser kritischen Vorbemerkung einige dieser Differenzierungen kurz. Archäologie des Wissens [1969]: 23. Appadurai 1996: 52. Vgl. Archäologie des Wissens [1969] 24f. Archäologie des Wissens [1969]: 26. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 302 und 295.
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Kernpunkt der Programmatik in der Archäologie des Wissens ist also weiterhin, das Subjekt in seinen unterschiedlichen Ausdrucksformen methodisch zu zerschlagen. Demnach ist offensichtlich, dass unser Subjekt als Produkt eines Subjektivierungsvorgangs selbstverständlich „nur eine der gegebenen Möglichkeiten der Organisation des Bewusstseins seiner selbst“ ist10 – die allerdings, wie in der Ordnung der Dinge gezeigt, den Fluchtpunkt der Moderne bildet. „Wenn [Herv. i.O.] es ein Thema gegeben hat, das dem Denken der Neuzeit Profil und Zusammenhalt gegeben hat, so war es die Rolle, die in ihr dieser eine und zentrale Gedanke des Subjekts [Herv. i.O.] gespielt hat.“11
Foucault anerkennt, dass es schon mehrfache Versuche der Dezentrierung des Subjekts und seiner Korrelate, philosophischer Anthropologie und Humanismus gab. Aber entgegen all diesen Bewegungen von Marx, von Nietzsche oder von den strukturalistischen Gegenwissenschaften Psychoanalyse, Linguistik und Ethnologie wurde immer versucht, dennoch zu anthropologisieren, „sich seiner selbst bis hin zur Tiefe seiner Bedingungen zu bemächtigen“12. Foucault stellt seine eigene Epistemologie somit in einen Kontext von Diskursen, die schon lange vor ihm begonnen hätten. So eröffnet die Archäologie des Wissens mit einer Hommage an die École des Annales, die den historischen Blick archäologisch auf Ablagerungsschichten gerichtet und die lineare Analyse in verschiedene asynchrone Bereiche – manche schnell vergänglich, manche von räumlich und zeitlich übergreifender Dauer – aufgebrochen habe.13 10 11 12 13
Die Rückkehr der Moral [1984]: 144. Frank 1984: 248. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 24. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 9f. Auch an anderen Stellen, z.B. in Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault ([1967]: 13), stellt sich Foucault in die Nähe der École des Annales mit Historikern wie Braudel, Furet, Richet, Le Roy Ladurie. Foucault begrüßt deren Abkehr von einer evolutiven, linearen Bewusstseinsgeschichte. Braudel schlug schon 1958 mit der longue durée vor, große Blöcke als einheitlich und ‚stationär‘ betrachtet auf ihre (Tiefen-)Struktur hin zu untersuchen. Damit sollte die Geschichtswissenschaft von einer idiographischen zu einer nomothetischen Disziplin gewandelt werden (Dosse 1997: 281). Mit den drei Zeitlichkeiten – strukturell, konjunkturell und ereignishaft – trifft Braudel der Vorwurf an den Strukturalismus, das Ereignis aus der Wissenschaft zu entfernen, nicht gleichermaßen – auch wenn Foucault diesen Vorgang oberflächlich betrachtet als eines der Merkmale der neuen Geschichte sieht (vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 13). Ein wichtiger Unterschied zu Foucault wäre allerdings, dass die École des Annales die historische Dialektik bewahrte (so zumindest laut Dosse 1997: 126) und – ab 1969 vermehrt – an Untersuchungen der Mentalitäten arbeitete (Dosse 1997: 279). Ab 1971 sieht sie sich
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Für die Geschichte des Denkens wiederum nennt Foucault Autoren wie Canguilhem und Bachelard als wegweisend, da sie anstatt fragloser Synthesen Phänomene des Bruchs hervorkehren.14 Den eigenen Bruch mit der bisherigen Wissenschaft stellt Foucault auch unter die Vorzeichen von Althusser, insofern dieser die Loslösung von der spezifischen Historizität, über die eine Wissenschaft bestimmt ist, als radikalste Skansion anspricht.15 Dass der Historiker Foucault sich als Ethnologe bezeichnet, ist für die Geschichtswissenschaft dann nicht so aufregend, wenn gesagt werden kann: „Historiker sind Anthropologen des Vergangenen“16 – eine Verknüpfung allerdings, die nicht immer so getroffen wurde und auch heute sicher nicht ganz unstrittig ist.17 Zu bemerken ist, dass Foucault kaum neue Realitätsbehauptungen aufstellt, dass er also nicht etwa die moderne Geschichtlichkeit für unrichtig hält, sondern primär ihre Existenz auf einer distanzierteren Ebene, die nach den Bedingungen gerade dieser Praxis fragt, analysieren will. Dies kann allerdings bedeuten, sie zugleich auch zu beenden. Vor allem aber will er sie differenzieren. Statt nämlich die Veränderung als lebendige Kraft, die ihr eigenes Prinzip ist, anzunehmen, sollen die verschiedenen Transformationen kultureller Entitäten von den speziellen angefangen bis hin zu den umfassendsten untersucht werden.18 Das theologische und ästhetische Schöpfungsmodell, das psychologische Modell des Bewusstwerdens, das biologische Evolutionsmodell erklären folglich nicht, sondern sind als Teil des Formationssystems zu analysieren. Ebenso verfährt Foucault mit der Kontinuität: auch das Gleiche, Wiederholte, Ununterbrochene wird aktiv und regelmäßig gebildet.19 Die Archäologie des Wissens bringt bald nach der Ordnung der Dinge die erste und in diesem Umfang einzige explizite Methodenreflexion in der Forschungen von Foucault. Diese Methode will die den vorausgegangenen Büchern zugrunde liegenden Intentionen und Konzepte herauskristallisieren und in einen konse-
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als Strukturalismus für Historiker und versteht Foucault als einen der ihren. LéviStrauss wiederum anerkannte (cf. Dosse 1997: 281), dass die École des Annales ethnographische Essays schreibe. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 10f. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 12. Baberowski 2005: 22. Auch Baberowski (2005: 188f.) differenziert an anderer Stelle die beiden Wissenschaften deutlich. Noiriel (1994) beschreibt die Schwierigkeiten bei und für Foucault, die Philosophie und die Geschichte interdisziplinär zu behandeln – nach einer Begeisterung von beiden Seiten zeigte sich, dass es doch zu viele Differenzen gibt. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 245f. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 248.
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quenten Zusammenhang bringen, während sie auf dem Boden ruht, der in früheren Untersuchungen mit ihr in weniger systematisierter Weise entdeckt und entwickelt wurde. Foucault nennt Voraussetzungen für die Archäologie, die offenkundig direkt auf die Programmatik der Ordnung der Dinge zurückverweisen und nochmals deutlich machen, inwiefern Foucault seine Kritik gerade mit einer Analyse der Humanwissenschaften verknüpft. „Wie kann man schließlich sicher sein, daß man sich nicht von all diesen wenig reflektierten Einheiten oder Synthesen einfangen läßt, die sich auf das sprechende Individuum, auf das Subjekt des Diskurses, auf den Autor des Textes, kurz auf all diese anthropologischen Kategorien beziehen? Außer vielleicht, indem man die Gesamtheit der Aussagen, durch die hindurch diese Kategorien sich konstituiert haben, – die Gesamtheit der Aussagen, die das Subjekt der Diskurse (ihr eigenes Subjekt) zum ‚Objekt‘ gewählt haben und seine Entfaltung als Feld von Erkenntnissen in Angriff genommen haben, betrachtet?“20
Durch die hiermit erreichte Distanzierung und Verschiebung des Blicks sind Foucaults Dekonstruktionen zugleich immer Neukonstruktion. Foucault lässt sich auch hier nicht direkt auf das ontologisierende Wahr/Falsch-Spiel innerhalb der Subjektphilosophie ein, sondern für seine Ethnologie findet er sich an einem neu entstehenden, sich immer weiter entfernenden Ort. Dies verlangt von Foucaults Ethnologie, wie Fink-Eitel feststellt: „Die Exterritorialität ihres Standorts und ihres Blicks, die ihren Gegenstand zum fremden Kontinent distanziert, muß sich auch und vor allem in ihrer formal-methodologischen Verfassung widerspiegeln, die in keiner Weise von derjenigen ihres Gegenstandsbereiches beeinflußt sein darf, nämlich von der seit Descartes und insbesondere seit Kant reflexionstheoretisch verfaßten Philosophie transzendentaler Subjektivität.“21
Durch die in der Archäologie des Wissens präsentierte neue Theoriesprache kann Foucault – falls es ihm gelingt, ein neues Begriffsinstrumentarium zur Verfügung zu stellen, das Analysen ohne Rückgriff auf den Menschen der Moderne erlaubt – der europäischen Denktradition der Moderne distanziert gegenüberstehen und so eine Ethnologie der eigenen Kultur durchführen.22 Mit der Archäologie des Wissens will Foucault nicht primär nur andere Diskurse auf ihre archäologischen Bedingungen zurückführen, sondern in einer für die Archäologie typischen Bewegung gerade auch den eigenen Standort bestimmen: „[S]tatt die anderen zum Schweigen zu bringen, indem man vorgibt, daß 20 Archäologie des Wissens [1969]: 46. 21 Fink-Eitel 1994: 229. 22 Vgl. Honneth 1989: 130.
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ihre Worte nichtig sind“, will der Archäologe versuchen, „jenen weißen Raum zu definieren, von dem aus [...] [er spricht] und der langsam Form in einem Diskurs annimmt“; „Es ist die Definition eines besonderen Standortes durch die Äußerlichkeiten seiner Nachbarschaften.“23 Den Begriff ‚Archäologie‘ hat Foucault, wie er sagt, von Kant entlehnt: Dieser hätte damit eine Geschichte dessen bezeichnet, was eine bestimmte Form des Denkens notwendig gemacht hat.24 Ein solcher Rückgriff könnte vielleicht auch nahe legen, dass und warum Foucault seine Archäologie ‚Kritik‘ nennt.25 Im Folgenden sollen die konstruktiven Begriffe und methodologischen Konzepte ausführlicher dargestellt werden. Zuvor wäre allerdings noch kurz darauf einzugehen, ob Foucaults Begrifflichkeit trotz aller Anleihen bei der Ethnologie ihren Gegenstand so eng definiert, dass für anderes, nicht-westliches Wissen wenig Spielraum bleibt. Obwohl Foucaults Methode auf die Geschichte hin ausgelegt ist, kann sie, da sie von der Ethnologie ausgeht, grundsätzlich leicht auf deren Gegenstand rückbezogen werden. Die Archäologie könnte der Sozial- und Kulturanthropologie also ein konsequent aufgebautes Begriffsinstrumentarium zur Untersuchung unterschiedlicher Diskurse (in Verbindung mit nicht-diskursiven Praktiken) zur Verfügung stellen. Andererseits operieren Foucaults Begriffe auf einem bestimmten Niveau, das ihre Brauchbarkeit für die Anthropologie auf den ersten Blick einschränkt. Wie Foucault ausführt, setzen die verschiedenen Typen der Wissenschaftsgeschichte oder – vielleicht in Hinblick auf meine Frage klarer formuliert – der Wissensgeschichte bei verschiedenen Schwellen, auf welchen diskursive Prakti23 Archäologie des Wissens [1969]: 30. Es wird hier deutlich, dass Foucault die Vorgaben seines Ansatzes sehr wohl auch auf die eigene Positionierung bezieht – und dies nicht erst eine Errungenschaft der Genealogie ist, wie Biebricher (2005: 127) sagt. 24 Vgl. Die Monstrositäten der Kritik [1971]: 270. Diesen Rekurs auf Kant hat Hemminger (2004) hervorgekehrt. Kant zielt auf eine philosophische Geschichte, die rational ist, d.h. die die Dinge nach ihrer Notwendigkeit darstellt – also die Explikation verschiedener logisch möglicher, philosophischer Positionen; diese nennt er philosophische Archäologie (vgl. Hemminger 2004: 142f.). Wenn Améry (1973: 470) sich daran stößt, „[d]aß der Begriff ‚Archäologie‘ einen allgemein akzeptierten Sinn hat [...]“ und Foucault vorwirft: „[Diese] Sprachüblichkeit schiert ihn nicht weiter“; „Er gibt dem Wort eine neue Bedeutung“ – so müsste diese Kritik folglich eher Kant gelten. Der Begriff ‚Archäologie‘ zur Bezeichnung einer bestimmten Forschungsperspektive wurde aber auch etwa von Freud oder Benjamin verwendet (so Ebeling 2008: 220). 25 Vgl. z.B. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 41f.
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ken operieren beziehungsweise diskursive Formationen zu Tage treten können, an: jener der Positivität einer diskursiven Praxis, der Epistemologisierung, der Wissenschaftlichkeit und der Formalisierung von Aussagen. Foucault sieht für seine Archäologie der diskursiven Praxis einen Blickwinkel vor, der zeigt, „gemäß welchen Regelmäßigkeiten und dank welcher Modifizierungen“26 der „Scheidepunkt zwischen den durch ihre Positivität bestimmten diskursiven Formationen und den epistemologischen Figuren, die nicht alle unbedingt Wissenschaften sind“27, auftaucht. Die Epistemologisierung (und gegebenenfalls Wissenschaftlichkeit und Formalisierung) soll daraufhin befragt werden, wie sie ihre Möglichkeit und ihre Auswirkung in einer diskursiven Formation und den Modifizierungen von deren Positivität gefunden hat. Dies ist ein Niveau, von dem aus man unter anderem Wissenschaften untersuchen kann, wo aber Wissenschaftlichkeit eben nicht als Norm dient (womit sich Foucault etwa von Bachelards oder Canguilhems Wissenschaftsgeschichte abhebt). Die Episteme als Gegenstand der archäologischen Analyse definiert Foucault nun folgendermaßen: Sie ist nicht ein Rationalitätstyp oder eine Form von Erkenntnis, welche die verschiedenen Bereiche durchdringt und so die Einheit eines Zeitalters manifestiert. Sondern: „Unter Episteme versteht man in der Tat die Gesamtheit der Beziehungen, die in einer gegebenen Zeit die diskursiven Praktiken vereinigen können, durch die die epistemologischen Figuren, Wissenschaften und vielleicht formalisierten Systeme ermöglicht werden; den Modus, nach dem in jeder dieser diskursiven Formationen die Übergänge zur Epistemologisierung, zur Wissenschaftlichkeit und zur Formalisierung stattfinden und sich vollziehen; die Aufteilung jener Schwellen, die zusammenfallen, einander untergeordnet oder zeitlich verschoben sein können; die lateralen Verhältnisse, die zwischen epistemologischen Figuren oder Wissenschaften bestehen, insoweit sie zu benachbarten, aber distinkten diskursiven Praktiken gehören.“28
Für die Sozial- und Kulturanthropologie wirft diese Verortung die Frage auf, ob in jeder Gesellschaft eine archäologische Untersuchung möglich ist. Einerseits ist Wissenschaftlichkeit – wie immer definiert – offenbar nicht Voraussetzung. Das archäologische Gebiet (einer bestimmten Wissensformation) kann auch 26 Archäologie des Wissens [1969]: 272. 27 Archäologie des Wissens [1969]: 271. 28 Archäologie des Wissens [1969]: 272f. Gutting, der die Archäologie stark auf die französische Tradition der Epistemologie zurückbezieht, sieht es als interessante Weiterentwicklung gegenüber der herkömmlichen Wissenschaftsforschung und auch Canguilhem im Speziellen, dass Foucault in der Episteme mehrere Wissenschaftsbereiche zusammendenkt (vgl. Gutting 1999: 135, 219).
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durch literarische oder philosophische Texte, politische Entscheidungen oder Institutionen gehen.29 Andererseits wendet sich die Archäologie dem Verhältnis zwischen der Positivität diskursiver Praktiken und ihrer Epistemologisierung zu. Falls aber keine Gesamtheit von Aussagen die Schwelle der Epistemologisierung erreicht hat, wäre dann die Archäologie gegenstandslos? Foucault selbst stellt sich gegen Ende der Archäologie des Wissens unter dem Titel „Andere Archäologien“ eine ähnliche Frage – nicht weil es zu einem Thema keine Wissenschaft oder epistemologische Figur gibt, sondern weil man unabhängig davon die spezifische Analyseform ausgehend vom archäologischen Gebiet in eine andere Richtung (als dem der Episteme) lenken kann. Demnach wäre die diskursive Praxis ebenfalls in Verhaltensformen und Repräsentationen etwa der Sexualität zu eruieren. Darzustellen wären auch hier die Aspekte des Diskurses, nämlich die Gesamtheit von Gegenständen, über die man sprechen kann, das Feld der Äußerungen, die verwendeten Begriffe und die Wahlmöglichkeiten in der Kohärenz der Verhaltensformen und Vorschriftssysteme.30 Foucault nennt dies eine Untersuchung der Sexualität in Richtung Ethik. Auch die Malerei beispielsweise „wird von der Positivität eines Wissens völlig durchlaufen“31. Ebenso lässt sich das politische Wissen archäologisch erforschen, indem man die diskursive Praxis hervorkehrt, die das politische Verhalten durchzieht. „Was die Archäologie zu beschreiben versucht, ist [...] der [...] Bereich des Wissens [Herv. i.O.; frz. savoir]. Wenn sie sich darüberhinaus mit dem Wissen in seinem Verhältnis zu den epistemologischen Figuren und den Wissenschaften befaßt, kann sie ebenso gut das Wissen in einer anderen Richtung befragen und es in einem anderen Bündel von Beziehungen beschreiben.“32
Wie diese Vorwegnahmen späterer Fragestellungen von Foucault zeigen, ist sein Zugang, der Wissen auf dem Niveau diskursiver Praxis erforscht, jedenfalls prinzipiell für die Anthropologie geeignet. In der Ordnung der Dinge aber auch etwa in Titel und Arbeiten wird allerdings der Bereich der ‚Meinungen‘ von der archäologischen Analyse offenbar ausgeschlossen.33 Dies könnte ein Grund dafür sein, warum in der Literatur zur Diskursanalyse etwa Klatsch-Gespräche als sprachliche Handlungsweisen nicht
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Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 261. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 275. Archäologie des Wissens [1969]: 277. Archäologie des Wissens [1969]: 278. Vgl. Die Ordnung der Dinge ([1966]: 437f.), Titel und Arbeiten ([1969]: 1071) und dazu auch Eribon (1993: 306f.).
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zu den diskursiven Praktiken zählen und es als Desiderat der diskurstheoretischen Methodologie gesehen wird, das ‚Sprechen der Leute‘ einzubeziehen.34 Folglich würde eine erkenntnistheoretische Konfiguration, wie sie die Archäologie ja freilegen soll, laut Foucault zwar den Boden der Positivität von Wissenschaft und positivem Wissen bilden, aber nicht den von Meinungen – die nicht zum erkenntnistheoretischen Raster einer Kultur gehören, die gemäß der Diktion von Dreyfus und Rabinow35 also keine seriösen Sprechakte sind. Nun stellt sich die Frage, wie man zwischen Meinungen und positivem Wissen trennen und die Foucault’schen Kriterien anwenden soll (etwa Systematizität und Autonomie, Verifikations- und Kohärenznormen, eine beherrschende Funktion als Modell oder Kritik, Konstruktionsgesetze). Klar ist, dass eine Analyse, die auf Regelmäßigkeiten gerichtet ist, dann nicht zum Einsatz kommen kann, wenn keine Regelmäßigkeiten existieren respektive sie keine findet. Das könnte heißen, dass ‚Meinungen‘ nicht von vornherein bestimmbar und demnach auszuschließen sind, sondern sich als ‚Meinungen‘ erst im Zuge der Analyse erweisen. Offenbar ist die auch in der Sekundärliteratur vertretene Auffassung die, dass eine geringe Regelmäßigkeit auf der Ebene der Aussagen mit der unmittelbaren Bindung an die nicht-diskursive Praxis zu tun hat. Solche ‚Meinungen‘ bekämen ihre Funktion als ‚regelmäßige‘, und somit archäologisch analysierbare, Aussage also vielleicht dann, wenn die nicht-diskursive Praxis in die Forschung miteinbezogen wird. Genau das wird dann mit der Dispositivanalyse, die am Ende dieses Kapitels Thema ist, von Foucault expliziter in Angriff genommen. Eine zweite, die Identifikation von ‚Meinungen‘ betreffende Frage lautet: Wenn es darüber in einer Gesellschaft keine oder unterschiedliche Ansichten gibt, gilt dann oder ohnehin immer, das Urteil des archäologischen Außenstandpunktes? In der Archäologie des Wissens soll es für die Epistemologisierung genügen, dass eine Gesamtheit von Aussagen „vorgibt (selbst ohne es zu erreichen), Verifikations- und Kohärenznormen zur Geltung zu bringen“.36 Auch in der Ordnung der Dinge nimmt Foucault in dieser Hinsicht die emische Sicht wichtig.37 Zugleich entsteht aber hier der Eindruck, dass Foucault zur Bestimmung des für die Archäologie relevanten Wissens implizit auf eine bestimmte soziale Definitionsmacht hinsichtlich ‚seriöser Sprechakte‘ rekurriert, die zum Beispiel in einer spezifischen Institutionalisierung von Wissen besteht. Denn wie kann sonst etwa die Magia naturalis einmal zur abendländischen Episteme gehö34 Vgl. zu Ersterem etwa Keller (2007: Abs. 44), zu Zweiterem Waldschmidt; Klein; Tamayo Korte; Dalman-Eken (2007: Abs. 8). 35 Vgl. Dreyfus und Rabinow 1994. 36 Archäologie des Wissens [1969]: 266. 37 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 437.
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ren und dann, nach dem siebzehnten Jahrhundert, aus dem erkenntnistheoretischen Raster ins Gebiet des Glaubens oder der Meinungen zu stellen sein – obwohl sie sich bei vielen großer Wertschätzung erfreut und sich, wie Foucault sagt, wissenschaftlich gibt? Die Archäologie des Wissens fasst vielleicht das Gebiet des archäologisch analysierbaren Wissens weiter als die Ordnung der Dinge. Zu diesen Punkten sind Foucaults Ausführungen in meinen Augen allerdings insgesamt etwas unklar. Möglicherweise haben sich ihm auch deshalb dann systematischere Überlegungen zu Macht und Wissen aufgedrängt. Es scheint aber jedenfalls vor allem darauf anzukommen, dass sich Regelmäßigkeiten feststellen lassen – also eine Minimalbedingung, die auch für den Gegenstand der Anthropologie kaum in Zweifel stehen dürfte. Die Analysemethode kann sich auf wissenschaftliches Wissen ebenso beziehen wie auf das Wissen Indigener, sofern diesem ein wissenschaftlicher Charakter nicht zugesprochen wird, denn „es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis“38. Obwohl Foucault also selbst oft wissenschaftliche Disziplinen oder solche, die „das Statut und die Rolle von Wissenschaft“39 annehmen, ins Zentrum stellt, umfasst die diskursive Formation ein weites Gebiet nicht-wissenschaftlichen Wissens. Bezüglich diskursiver Formationen sagt Foucault in einem kleineren Text über die Archäologie dann klarer: „Zu ihrer Charakterisierung ist die Unterscheidung zwischen dem Wissenschaftlichen und dem Nichtwissenschaftlichen ungeeignet [...].“40 Wissenschaft und nicht-wissenschaftliches Wissen befinden sich in Foucaults Diskursanalyse gewissermaßen auf Augenhöhe. Damit ist natürlich noch nicht gesagt, ob die Anwendung der Diskursanalyse, zumal in der Anthropologie, auch notwendig oder in jeder Hinsicht wünschenswert erscheint. Einerseits steht Foucault immer noch deutlich für einen Angriff auf das Subjekt, der auch weiterhin für Widerspruch und Irritation sorgt. Etliche der methodologischen Perspektiven und Begriffe, die Foucault fordert, sind allerdings ohne deutlichen Rückverweis auf Foucault längst weit gestreut in den gegenwärtigen Debatten zu finden.
38 Archäologie des Wissens [1969]: 260. 39 Archäologie des Wissens [1969]: 271. 40 Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 920.
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AUFTRENNEN
UND V ERSTRICKEN NACH ARCHÄOLOGISCHEM M USTER
Die im Namen der Diskursanalyse entwickelten Konzepte sollen gemäß Foucault also eine Dynamik induzieren, welche die westliche Theoriebildung subversiv unterwandert, indem sie das archäologische Gebiet des Wissens in den Blick bekommt. Wichtig unter den Analyseinstrumentarien sind Begrifflichkeiten wie Diskontinuität, Schwelle, Einschnitt, Bruch, Multiplizität, Dispersion, Monumente versus Dokumente, archäologische Ebene, Aussageereignisse versus Sätze oder Propositionen, Wiederholbarkeit von Aussagen, Aussagefunktion, Aussagesysteme wie Serien und Tableaus, Spezifikation der Streuung, Äußerlichkeit, Regelmäßigkeiten, Diskurs, diskursive und nicht-diskursive Praxis, diskursive Formationen, Formationssystem, Episteme, Archiv, historisches Apriori, Emergenz, Transformation, Bedingungen der Existenz, der Formation oder des Erscheinens. Fragen hingegen, die darauf gerichtet sind, welche notwendige Folge und Kontinuität und welche einheitliche Bedeutung sich für disparate Elemente ausmachen lassen, werden im Zusammenhang mit der Selbstermächtigung des Subjekts verworfen. Mit Foucaults neuen Konzepten soll also dem Subjekt, sofern es als Grund und Ziel von Kontinuität und Veränderungen angesehen und ein Sinndiskurs auf dieses Subjekt bezogen wird, der Kampf angesagt werden. Diese Zurückweisung beinhaltet auch die Auflösung von Entwicklungs- und Kohärenzbewegungen, wo ein sich latent vollziehender sinngebender Diskurs zugrunde liegt und die auf systematische sozioökonomische Integration oder Dominanz einer universellen existentiellen Logik zielen können – zumal wenn bestimmte Gesellschaftsmodelle konkret Verwirklichung verlangen. So kann etwa auch der Marxismus unter Foucaults Kritik fallen. „Man muß nämlich einsehen, daß in solchen Bereichen wie der Linguistik, der Ethnologie, der Religionsgeschichte und der Soziologie die im 19. Jahrhundert gebildeten Begriffe, die man als dialektisch bezeichnen kann, zum großen Teil aufgegeben worden sind. Nun stellte für manche die Geschichte als Disziplin den letzten Zufluchtsort des Dialektischen dar [...] [E]ntgegen aller Wahrscheinlichkeit hat sich so bei vielen Intellektuellen eine Geschichtskonzeption erhalten, die nach dem Muster einer Erzählung als einer großen Abfolge von Ereignissen organisiert war [...]. Die Individuen sind gefangen innerhalb dieser Totalität, die über sie hinausgeht und sich über sie hinwegsetzt, deren unbewußte Urheber sie aber vielleicht gleichzeitig sind. [...] [D]ie Weigerung, Geschichte in dieser Weise zu fassen, war ein Angriff auf die große Sache der Revolution.“41
41 Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben ([1967]: 157f.); allerdings lassen sich für Foucault erkenntnistheoretische Veränderungen der Geschichtsauffassung,
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Foucault sieht seine Arbeit somit als „[e]in Unterfangen, durch das versucht wird, das Maß der Veränderungen festzuhalten, die sich im allgemeinen auf dem Gebiet der Geschichte vollziehen; durch das die Methoden, die Grenzen, die der Ideengeschichte eigenen Themen in Frage gestellt werden und versucht wird, darin die letzten anthropologischen Zwänge aufzulösen. Ein Unterfangen, das im Gegenzug erscheinen lassen will, wie diese Zwänge sich haben bilden können.“42
Foucault will nicht mehr unhinterfragt vom immer schon gegebenen Sinn ausgehen (wie etwa Husserl), sondern nun stellt sich das Problem der formalen Bedingungen des Erscheinens und der Unterbrechung und Veränderung von Sinn.43 Um den treibenden Gedanken eines gleichsam geheimen Diskurses, der unter den diversen Diskursen verborgen liegt und kohärente Sinnprozesse vorgibt, zu hintergehen, bestimmt Foucault als Gegenstand der Untersuchung und als Brille der Wahrnehmung Diskontinuität.44 Diskontinuität war in der herkömmlichen Geschichte das Gegebene, weil man eben einen von der eigenen Gesellschaft verschiedenen Gegenstand untersuchte, und zugleich war sie das Undenkbare und zu Verbannende. Heute, bei Foucault, soll sie überlegte Operation sein und Ergebnis, da man das Interesse auf die Grenzen und Umbrüche richtet, auf den „Augenblick der Regellosigkeit einer kreisförmigen Kausalität“45. Sie soll auch nicht mehr ein graues Rauschen zwischen zwei positiven Figuren sein, sondern die Diskontinuität spezifiziert diese. Foucault nimmt explizit Bezug auf den paradoxen Doppelcharakter seines Begriffs Diskontinuität, der Gegenstand und zugleich Instrument der Untersuchung ist – also ein operationeller Begriff, der den Gegenstand determiniert.46 Und Diskontinuität ist außerdem der Begriff, welcher Bedingung ist, um überhaupt von der Geschichte als Gegenstand sprechen zu können.
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die sein Thema sind, auch auf Marx zurückführen (vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 22). Archäologie des Wissens [1969]: 27. Vgl. Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 8f. Ein Beispiel, wie schwierig es ist, Foucault in Lichte seiner expliziten Selbstbeschreibungen festzulegen, sei genannt: In der Vorlesung vom 7. Januar 1976 ([1976]: 222) charakterisiert Foucault seinen Ansatz als „Theorie der Diskontinuität“. Im Gespräch mit Michel Foucault ([1976]: 189) sagt Foucault zu einer Beschreibung in einem Lexikon: „‚Foucault: Philosoph, der seine Theorie der Geschichte auf die Diskontinuität gründet.‘ Das haut mich um.“ Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 18. Wie Waldenfels (1987: 559) betont, steht die ‚dispersion‘ bei Foucault und ‚dissémination‘ bei Derrida im Gegensatz zur Tradition der Sammlung, die den Menschen eben dieser Bewegung entreißen sollte. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 18.
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Möglicherweise will man Foucault kontern, dass ja auch die kritisierte Geschichtsschreibung Brüche kennt, wenn sie mit Zäsuren und Epochen arbeitet. Und auch die Chance, über solche Schnitte im geschichtlichen Raum auf Neuansätze zu bauen, ist dabei gegeben. Wo wäre das Irritierende und Besondere der Archäologie? Dagegen meint Foucault, dass aber gerade auf der von ihm behandelten Ebene des Wissens das Identitätsstreben ungebrochen ist. Und das unterscheidet die Archäologie laut Foucault tief greifend von der Ideengeschichte. Denn auch diese untersucht nicht nur die wissenschaftlichen Disziplinen, sondern fragt nach dem anonymen Wissen und den Meinungen. Ihre Themen sind aber primär Genese, Kontinuität, Totalisierung: Sie untersucht die Einflüsse und die Übergänge zwischen nicht-wissenschaftlichen, zum Beispiel politischen Diskursen und der Wissenschaft; ebenso zieht sie geschichtliche Linearitäten zwischen verschiedenen Diskursen.47 Im Gegensatz zu anderen Gebieten der Geschichte, wie etwa der Bevölkerungsentwicklung und wirtschaftlichen Bereichen, wo von der neuen Geschichte die longue durée entdeckt wurde, führt die archäologische Methode in der Geschichte des Denkens zu einer Auflösung der Identitäten – eine Sichtweise, die natürlich für die Anthropologie von größter Bedeutung ist.48 Diese beiden Transformationen sind allerdings nicht jeweils Umkehrungen, sondern beziehen sich auf dieselbe Verunsicherung: „die Infragestellung des Dokuments [Herv. i.O.]“49 – nämlich des Dokuments als Mittel der Rekonstruktion, als Sprache einer Stimme, die in ihrem eigentlichen Sinn wieder zu Gehör gebracht werden soll.50 In der Archäologie hingegen darf der Diskurs nicht, möglichst transparent gemacht, Zeichen für etwas anderes sein, sondern hat „in seinem ihm eigenen Volumen als Monument [Herv. i.O.]“51 zu gelten. Das archäologische Verfahren soll zudem die Diskurse in ihrer jeweiligen Spezifität umreißen, also sie auch nicht zurückbeziehen auf ihre Vergangenheit und ihr Werden, auf ihren Ursprung. Des Weiteren ist auch die Vereinbarkeit von individueller Kreation und
47 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 196f. 48 Auf Ansätze zu neuen Kulturkonzepten, die in diesem Sinne formuliert wurden, wird unten im 6. und 7. Kapitel noch eingegangen. 49 Archäologie des Wissens [1969]: 14. In Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie ([1968]: 888f.), klärt Foucault nochmals, dass der neuen Geschichtsschreibung wie seiner Archäologie die Idee der Diskontinuität gemeinsam ist. 50 Verweise auf Derridas Arbeit zum Phonozentrismus bleiben aus; mit dem Konzept der Spur arbeitet allerdings auch Foucault hier mehrfach. 51 Archäologie des Wissens [1969]: 198. In Antwort auf eine Frage ([1968]: 871) gibt Foucault an, den Begriff von Canguilhem zu haben.
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sozialer Determination keine primäre Frage für die Archäologie: „Sie will nicht den rätselhaften Punkt wiederfinden, wo das Individuelle und das Soziale sich eins ins andere umkehren.“52 Und schließlich will die Archäologie keinesfalls versuchen, „sich selbst in der uneindeutigen Bescheidenheit einer Lektüre auszulöschen“, um „das zu wiederholen, was gesagt worden ist“, „was von den Menschen in dem Augenblick, da sie den Diskurs vortrugen, hat gedacht, gewollt [...] verspürt [...] werden können“, also den Kern zu erreichen, „wo der Gedanke noch am nächsten bei sich bleibt“.53 Foucault distanziert sich von der Ideengeschichte zunächst also besonders in diesen vier Dimensionen. „[Die Archäologie] ist nicht mehr und nicht weniger als eine erneute Schreibung; das heißt in der aufrecht erhaltenen Form der Äußerlichkeit eine regulierte Transformation dessen, was bereits geschrieben worden ist.“54
Von sehr aktuellem Interesse ist ein weiterer Aspekt, in dem die Archäologie sich dezidiert gegen Vorgaben der Moderne wendet – Vorgaben, deren Problematik auch in Diskussionen um Subjekt und Objekt in der Anthropologie immer wieder auftaucht. Von der Archäologie verabschiedet wird nämlich auch die für die Ideengeschichte bei der Suche nach dem Ursprung zentrale Trennung zwischen Altem und Neuem. Die Ideengeschichte hebt aus dem Kontext der Totalisierung das Originale hervor. Sie unterscheidet somit seltene, neue Errungenschaften, wertvolle, lebhafte Schöpfungen, die womöglich im Fortschritt sich der Wahrheit nähern und andererseits massive, traditionelle, träge, auf vergessene Solidaritäten zu beziehende, anonyme Diskurse.55 Die Archäologie stellt sich dagegen weder die Frage der Präzession noch die der Ähnlichkeit, sondern betrachtet die Aussagen auf der Ebene ihrer Regelmäßigkeiten, wo „eine Entdeckung nicht weniger regelmäßig [ist,] als der Text, der sie wiederholt und verbreitet“56. 52 53 54 55
Archäologie des Wissens [1969]: 199. Archäologie des Wissens [1969]: 199f. Archäologie des Wissens [1969]: 200. Dies sind respektive waren auch wichtige Charakteristika zur Abgrenzung des westlichen Wissens von indigenem Wissen. Sie wurden in der Anthropologie im Zuge einer heißen Debatte um die ‚Invention of Primitive Society‘ in den letzten Jahrzehnten größtenteils ad acta gelegt, kommen nun jedoch zum Teil wieder zum Einsatz – und zwar insbesondere auch unter Bezugnahme auf die Definition indigenen Wissens von Seiten Indigener selbst. Ein Beispiel, wo dies in direktem Zusammenhang mit ökonomischen Bedingungen den Brennpunkt heftiger Konflikte bildet, ist die Auseinandersetzung um Rechte auf geistiges Eigentum (das globalisierte westliche Immaterialgüterrecht versus Versuche, Indigenous Intellectual Property Rights zu etablieren). 56 Archäologie des Wissens [1969]: 206.
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„Das Feld der Aussagen ist nicht eine Menge von bewegungslosen Flächen, skandiert von fruchtbaren Momenten; es ist ein Gebiet, das durch und durch aktiv ist. [...] Bei einer solchen Beschreibung kann man einen Wesensunterschied zwischen schöpferischen Aussagen [...] und nachahmenden Aussagen [...] nicht zugeben.“57
So soll zugleich auch die vereinheitlichende Konzeption der Tradition, soll deren Totalisierungstendenz als spezifische Praxis distanziert werden. Somit werden vom schneidenden Blick des Archäologen die alten Einheiten ‚Autor‘ und ‚Werk‘ systematisch aufgelöst, da die Rede nicht vom autonomen Subjekt in Gang gesetzt und der Diskurs auch nicht mehr um eine Autorität gruppiert wird. Denn wenn die Frage des autoritativen Ursprungs sich nicht stellt, und es unwichtig ist, wer den Anfang gesetzt hat, zeigt sich, dass konkrete Aussageregelmäßigkeiten existieren und Wiederholungen stattfinden, die Positivitäten bilden. Der frühere Gegensatz zwischen Geschichte, die den Bereich des unaufhörlichen Wandels beschrieb, und Humanwissenschaften, die den synchronischen, entwicklungslosen Bereich untersuchen, wird verwischt, indem der Wandel Gegenstand strukturaler Analysen wird und statt der universalen Kausalitätsbeziehung mehr und andere Beziehungs- oder Verknüpfungsformen eingeführt werden. Diese ergeben die Konstituierung von Serien aus Elementen, die dann auch lange Perioden ergeben können und Serien von Serien, also Tableaus – eine zentrale Figur der Archäologie, die in der Vervielfältigung der Geschichtstypen einem Bewusstsein widerspricht, das erwirbt, fortschreitet und sich erinnert.58 In einem Interview konkretisiert Foucault seine neue Sichtweise und sein Vorgehen: Jede Schicht von Ereignissen verlangt nach einer eigenen Periodisierung und somit hebt jede Periodisierung eine bestimmte Schicht von Ereignissen hervor. „Auf diese Weise kommt man zur komplexen Methodologie der Diskontinuität.“59 Die archäologische Geschichtswissenschaft vermeidet dadurch einen globalen Anspruch und die Voraussetzungen, auf denen er ruht. Durch die Spezifikation der Streuung entgeht sie aber auch der Auflösung in Richtung einer Pluralität unabhängiger Geschichten. 57 Archäologie des Wissens [1969]: 207, 206f. Dies ist eine Perspektive, welche in der gegenwärtigen Wissensökonomie äußert virulent ist. Denn damit wird die Figur des Autors grundsätzlich in Frage gestellt – und folglich auch die daran geknüpften Ansprüche auf geistiges Eigentum. Möglicherweise bekommen im Gegenzug aber auch Überlegungen mehr Gewicht, ob ausschließlich die moderne (kollektive wie individuelle) Autorschaft anerkennenswert ist, oder ob und wie auch andere Formen der Wissensproduktion so zu schützen sind, dass sie mit der Wissensproduktion der Moderne konkurrieren können. 58 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 17. 59 Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben [1967]: 158.
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Aus diesem neu zu konzipierenden Gegenstandsbereich ergeben sich die teilweise neuen methodologischen Probleme, deren Klärung die Aufgabe der Archäologie des Wissens ist. Welche Art von kohärenten Korpora will man konstituieren und wie deren Teilmengen abgrenzen? Durch welche Beziehungen werden Einheiten abgesteckt? Welches Auswahlprinzip wendet man an? Wie definiert sich Vorgangsweise und Niveau der Analyse?60 Hier setzt die Archäologie neben der prinzipiellen Rolle der Diskontinuität ihre Begriffe Archiv, Aussage und diskursive Formation ein. Das analytische Vorgehen in der Archäologie wurde mit dem zweistufigen Modell im Sinne der strukturalistischen Tätigkeit in Verbindung gebracht – so zum Beispiel von Honneth.61 Demnach soll das Forschungsmaterial in kleinste Elemente zerlegt werden, um dann die sie bestimmenden Formationsregeln zu untersuchen und über die neuen Ordnungsgruppen die unbewusst wirksamen Strukturen zu rekonstruieren. „So verwandeln sich für den Ethnologen unmittelbar gelebte, jedoch ihm selber fremde Bedeutungen in einen wissenschaftlichen Gegenstand, dessen wirkliche Regelmäßigkeiten er nun ‚von außen‘ aufzudecken vermag. Sein letztliches Ziel ist das Anlegen eines ‚Archivs‘. Darunter versteht Foucault [...] die für eine bestimmte Epoche spezifische Gesamtheit der Bedingungen für die Formation von Diskursen.“62
Es wird noch zu überlegen sein, inwiefern die Bedeutungen fremd sind und wie Foucault die Wirklichkeit seiner Ergebnisse versteht. Zunächst bleibt hier festzuhalten, dass Foucaults Ziel bei dieser Bewegung vor allem ist, ihm selber nicht fremde Bedeutungen zu objektivieren. Allerdings erklärt Foucault nun in der Archäologie des Wissens explizit, das Archiv der Kultur, in der man steht, nicht direkt erstellen zu können. Sondern am besten lasse sich das Archiv einer möglichst fremden Kultur explizieren. Aber der Bezug zur ‚eigenen‘ Kultur besteht doch, indem ein solches Archiv als das, was von außen begrenzt, als die umgebende Andersartigkeit zu bestimmen ist.63 „In diesem Sinne gilt sie [die Beschreibung des Archivs] für unsere Diagnose.“64 Sie soll zeigen, was außerhalb einer diskursiven Praxis steht und den Abstand betonen. Denn letztlich will Foucaults reflexive Außenperspektive „das erschei-
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Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 20f. Vgl. Honneth 1989: 145. Fink-Eitel 1994: 232. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 189. Archäologie des Wissens [1969]: 190.
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nen lassen, was das möglich machte, was [man selbst] [...] sagte“65. Foucault thematisiert hier also – deutlicher noch als in der Ordnung der Dinge – die Produktivität des kulturellen Außen. Das Archiv seinerseits ist eine Praxis, insofern es Diskurse differenziert und formiert und ihre Dauer durch Transformation spezifiziert. Nicht die Gesetze des Denkens, die Menschen oder die Dinge selbst bestimmen die Aussagen, sondern das Archiv soll als Gesetz dessen, was gesagt werden kann, das Spiel der Beziehungen bezeichnen, die die diskursive Ebene – auch in Hinblick auf die nicht-diskursiven Praktiken – charakterisieren. Ziel der Archäologie ist es, die darin auftauchenden diskursiven Formationen zu beschreiben. Daher sind aber Diskurse nicht ausschließlich Bezeichnungssysteme. Zwar bestehen sie aus Zeichen, aber sie sind nicht eine Gesamtheit, die nur auf Inhalte verweist oder auf Dinge zu beziehen ist. Als Praxis sind sie irreduzibel auf bloß sprachlichen Ausdruck, da sie nicht „Verstrickung eines Lexikons und einer Erfahrung“ oder dünne „Reibefläche einer Wirklichkeit und einer Sprache“ sind, sondern die Diskurse bilden systematisch die Gegenstände, von denen sie sprechen.66 Von diesen Voraussetzungen ausgehend bietet Foucaults Methodologie ein konsequent gegliedertes Begriffsinstrumentarium zur Untersuchung der Wissensproduktion als sozialer Praxis. Kleinstes Element der Archäologie ist die Aussage. Statt der subjektbezogenen Sätze als Zeugnisse in den Dokumenten der modernen Geschichtlichkeit konstituieren in der Archäologie anonyme Aussagen und Aussagefamilien ohne Bezug auf Wahrheits- und Bedeutungsanspruch Monumente.67 In Foucaults Methode werden also Aussagen gegen Proposition, Satz und Sprechakt ausgespielt. Deren Existenz wird nicht negiert, mit der Aussage aber versucht, neben dem grammatischen und dem logischen eine neues Niveau, auf dem Formulierungen auf ihre Existenzmodalität als Aussage hin untersucht werden können, einzuführen.68 Die logische Proposition bezieht nicht den Kontext mit ein, der zum Bei-
65 Archäologie des Wissens [1969]: 166. 66 Archäologie des Wissens [1969]: 74, vgl. auch 82. 67 Zum Stellenwert der Aussage in den Konzepten Monument und Block vgl. auch Deleuze (1992a: 10ff.). 68 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 115-127. Laut Dosse (1997: 288-302) wollte Foucault mit der Archäologie des Wissens insbesondere gegen die analytische Sprachphilosophie angehen, indem er die Wahrheits- und die Bedeutungsansprüche der Sprechakte ausklammert. Angermüller (2007b: 59f.) betont wiederum, dass Foucaults Distanzierung von der Sprechakttheorie in der Archäologie des Wissens nicht so konsequent ist, wie diejenige von „Logikern“ und „Grammatikern“. Auch biogra-
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spiel eine gleiche Proposition zu zwei verschiedenen Aussagen machen kann. Und es gibt Aussagen ohne propositionelle Struktur. Der Satz in der Grammatik deckt sich zwar weitgehender mit der Aussage, schließt aber im Gegensatz zur Aussage etwa eine klassifikatorische Tabelle, eine Gleichung oder eine Graphik nicht mit ein. Am deutlichsten mit der Aussage zu verbinden wäre der Sprechakt. Er meint nicht den materiellen Akt des Schreibens oder Sprechens und ebenso nicht die Absicht des Individuums oder das Resultat des Aktes, sondern das Auftauchen der durch die Formulierung bewirkten Operation.69 Dennoch decken sich Aussage und Sprechakt nicht, wenn zum Beispiel ein Sprechakt mehrere Aussagen umfasst. Mit der Aussage und dem Niveau ihrer Analyse ist gemäß Foucault eine basalere Ebene angesprochen, insofern die Aussage „von allen anderen Analysen der Sprache angenommen wird, ohne daß sie sie je ans Licht bringen müßten“70. Die Aussageebene findet sich in den Analysen des Satzes und der Proposition immer neutralisiert, als eine indifferente Substanz, die unerlässlich für die Analyse ist, darin aber nicht erscheint – und auf die auch die Ergebnisse der Analyse selbst gestützt sind. Diese Matrix – wie man vielleicht sagen könnte – will die Archäologie sichtbar machen. Die Aussage besitzt Materialität. Zwar ist sie an Sprache und Zeichen gebunden und ihre Existenz ist nicht dieselbe wie die der „Wahrnehmung gegebenen“71 materiellen Gegenstände. Sie ist aber nicht wie die Sprache eine Abstraktion und sie ist nicht eine Struktur als Beziehungsgefüge von variierbaren Elementen. Aber wie kann Foucault sicher sein, dass die Monumente sprechen? In der Sekundärliteratur hat besonders große Bedenken und Zweifel die Tatsache hervorgerufen, dass Foucault, wie Dreyfus und Rabinow betonen, die Bedeutung ausklammert – und nicht nur, wie die Phänomenologie, Wahrheitsansprüche.72 Auch Honneth kritisiert, dass man eine Aussage doch als eine symbolische Äußerung
69 70 71 72
phische Notizen von Foucault zeigen, dass er sich mit Wittgenstein und vor allem der analytischen Philosophie auseinander gesetzt hat und sich positiv äußert, denn sie behandeln Aussagen nicht linguistisch, sondern in ihrer Funktionsweise (vgl. Defert; Ewald 2001: 44f.). Explizit ist die Archäologie des Wissens ([1969]: z.B. 290) jedenfalls eine Schrift gegen Hermeneutik und Phänomenologie – wiewohl Dreyfus und Rabinow (1994: 69ff.) dennoch deutlich eine Verbindung zu letzterer ziehen. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 121. Archäologie des Wissens [1969]: 162. Archäologie des Wissens [1969]: 125. Vgl. Dreyfus; Rabinow 1994: 73ff.
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definieren müsste, der eine Bedeutungsabsicht unterstellt ist, denn ohne Bedeutungsabsicht ist eine Aussage von einer beliebigen Zeichenkombination ununterscheidbar.73 Wenn Foucault nun den Gegenstand in seiner größten Transparenz und Neutralität sehen will, so scheint er vorauszusetzen, dass nicht Sinnlosigkeit oder Chaos ausbricht, wenn das sinn- oder bedeutungsgebende Subjekt und mit ihm die großen bisherigen Ordnungsdiskurse abtreten. Für die Aussage ist eine reguläre sprachliche Konstellation nicht notwendig (Zeichen ohne Syntax wie die Zahlenreihe in der Statistik können Aussagen sein), sie existiert aber auch nicht in jeder beliebigen Zeichenfolge, die verwirklicht wurde. Es ist also doch sehr auffällig, dass die Archäologie eine in sich gegliederte, Regularitäten entsprechende Welt darstellt, die offenbar auch durch kulturelle Grenzen bestimmt wird. Das erklärt sich, wenn man wieder darauf zurückkommt, dass Foucaults Formationsregularitäten vom Strukturalismus beeinflusst sind. Dementsprechend sagt Foucault, er habe aufgehört, an den Sinn zu glauben und sich somit von Sartre distanziert, als Lévi-Strauss und Lacan zeigten, dass der Sinn eine Art Oberflächenwirkung des Systems ist, das vor uns da ist und uns im Tiefsten durchdringt.74 Daher kommt Foucault zu der Annahme einer Aussagekraft der Monumente, unabhängig vom Sinn, den die bedeutungsgebenden Subjekte darin sehen.75 In Anbetracht solcher Empirizitäten kann der Mensch durchaus verschwinden und Foucault als „glücklicher Positivist“76 die Szene betreten. 73 Vgl. Honneth 1989: 152f. 74 Vgl. Entretien avec Madeleine Chapsal [1966]. Noch 1972 meint Foucault, es sei interessant, dass man in letzter Zeit gerade in den Bereichen, die vollkommen dem Bewusstsein unterworfen zu sein schienen, etwa der Sprache, die Existenz formeller Beziehungen, die man auch Strukturen nennen kann, und deren sich das Subjekt nicht wirklich bewusst ist, entdeckte. Nun könnte man diesen Bereich dem Freud’schen Unbewussten zurechnen. Viele Psychoanalytiker fragen sich aber, ob nicht auch das Freud’sche Unbewusste durch dieses System formaler Beziehungen strukturiert ist. Dieses strukturale Unbewusste ist sicher nicht individuell, aber es ist auch kein kollektives Unbewusstes wie bei Jung, wo es eine Sammlung von Archetypen, die jedem zur Verfügung stehen, ist (vgl. Die Probleme der Kultur [1972]: 467f.). 75 Dies erinnert konkret an Lévi-Strauss, wo natürlich ebenfalls die Analyse nicht auf die subjektive Bedeutung zielt – zumal er tatsächlich Unbelebtes in seine ZeichenTheorie miteinbeziehen will und in der Informationstheorie mit der Wahrnehmung, dass die Natur Information ist, einen Punkt sieht, an dem sich Naturwissenschaften und Anthropologie kreuzen, wo also über den Umweg der Physik ein allgemeiner Zugang zur Welt der Kommunikation gefunden wird (vgl. Lévi-Strauss 1973: 307310). 76 Archäologie des Wissens [1969]: 182. Veyne (1992) hat diese positivistische Seite bei Foucault besonders herausgearbeitet und anerkennend bewertet.
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Der hier sichtbare Anspruch von Foucault, kulturelle Formationen als Ethnologe von Außen zu erfassen, birgt neben methodologischen Fragen auch den Aspekt, sie durch ein nicht-einfühlendes Lesen von der modernen Subjektposition zu distanzieren. Es scheint also, dass dieses Prozedere des Lesens und Entzifferns nicht auf wechselseitiges Reden und Zuhören ausgerichtet ist. Foucault betrachtet Material, das sich eben gut in archäologischen und geologischen Begriffen wie Schichten, Formationen, Brüchen und Ablagerungen fassen lässt. Möglicherweise wird damit von Foucault die Distanz zum Anderen weitergetragen, die Lévi-Strauss nach eigenem Empfinden letztlich zu überwinden nicht glückte. Diese im Strukturalismus verankerte Distanz zum Objekt gewinnt allerdings im Bezug auf die historische Identität eine neue, weniger ambivalente Rolle. Zum anderen wird aber hier auch für die Anthropologie das Prozedere der methodischen Operation zur Auflösung moderner Identifikationen deutlich. An Foucaults Perspektive sind also aus anthropologischer Sicht besonders das Vorhaben und die konkreten Schritte, jede aneignende Vereinnahmung unmöglich zu machen, interessant. Denn dies ist das Ziel, wenn die Archäologie nicht mehr Dokumente auf ihre verschlüsselten subjektiven Intentionen hin deutet, diese aber auch nicht als untätige Materie aktiv interpretiert, um durch sie hindurch das kollektive Gedächtnis aufzufrischen. Damit lösen sich für die Kontinuität verantwortliche Konzepte auf:77 die Tradition, die es unternimmt, die Streuung der Geschichte als Gleiches zu denken und die Kreativität im Ursprung zu suchen; der Begriff des Einflusses als sehr unbestimmte Kausalität, der Phänomene der Ähnlichkeit oder Wiederholung verbinden soll; die Operation mit Evolution und Entwicklung als organisatorischem Prinzip, das verstreute Ereignisse unter dem Paradigma der Kraft des Lebens bindet; Mentalität und Geist, die mit einer Souveränität kollektiven Bewusstseins verschiedenste Phänomene einer Epoche zusammenfassen; die synthetische Kraft von Disziplinen und Institutionen, die feststehende Individualitäten bilden; das Werk als Einheit, die auf einen Autor zurückzuführen ist, und nicht als Knoten in einem Netz verschiedenster Bezüge; die immer weitere Rückführbarkeit und immer weitere Interpretierbarkeit, die ein sich entziehendes Vorhandensein des Diskurses in seiner Abwesenheit ansprechen. Ist diese integrative Perspektive abgelegt, ist der Blick offen, Differenzen zu sehen, und es erscheint „ein ganzes Gebiet befreit“, das „durch die Gesamtheit aller effektiven Aussagen (énoncés) [...] konstituiert“ wird.78 77 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 33-40. 78 Archäologie des Wissens [1969]: 41.
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Die Archäologie soll insofern das Aussagenmaterial in seiner – wie Foucault sagt – Neutralität behandeln, indem nach Auflösung der alten Kategorien der Gegenstandsbereich in seiner Positivität erscheinen kann.79 In Bezug auf die Vorgaben der Moderne wäre es tatsächlich so, wie Honneth Foucaults Ansatz expliziert, nämlich „dass sich nach Abzug aller verstellenden Erkenntnismittel der ins Auge gefasste Gegenstandsbereich gewissermaßen unbearbeitet zeigt“, dass Foucault der „an sich existierenden symbolischen Realität“ gerecht werden will80 – jedoch unter dem Vorbehalt, dass Foucault dies als Ergebnis einer konstitutiven Begriffsarbeit sieht. Heute sollen also Dokumente als Monumente in ihrer Materialität wahrgenommen werden, damit eine „reine Beschreibung der diskursiven Ereignisse [Herv. i.O.]“81 in ihrer irreduziblen „Emergenz“82 möglich wird. ‚Zuhören‘ könnte man demzufolge sogar als einen Schlüsselbegriff bei Foucault bezeichnen – allerdings nicht dem von der Moderne übertragenen subjektiven (emischen) Eigen-Sinn. Man könnte nun fragen, worin eine Aussage besteht, nachdem der bisherige Kontext aufgelöst ist. Denn, wenn Foucault tatsächlich eine Zerlegung nach strukturalistischem Modell vornimmt – er selbst sagt dies in der Archäologie des Wissens allerdings nicht –, dann stellen Aussagen jedenfalls nicht für sich stehende selbstexplikative kleinste Einheiten dar. Und sie decken sich nicht mit bisherigen Fundamentaleinheiten, sondern sind erst in der archäologischen Analyse auftauchende Elemente. Ihren Sinn bekommen sie also aufgrund der Regelmäßigkeiten, durch die sie in bestimmten Relationen stehen und die sichtbar werden, sobald die modernen Voraussetzungen distanziert sind. Und hier ist, wie Streit bemerkt hat,83 eine Anbindung an Saussure sehr deutlich, wenn Foucault an entscheidenden Stellen in der Archäologie des Wissens von ‚Wert‘ spricht: „[Die Diskursanalyse] ist also in einem gewissen Sinn das Wägen des ‚Wertes‘ der Aussagen. Dieser Wert wird nicht durch ihre Wahrheit definiert, wird nicht durch die Präsenz eines geheimen Inhalts geschätzt, sondern charakterisiert ihren Platz [...].“84 79 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 41. Auch Husserl etwa will eine ursprüngliche Neutralität gewinnen, indem er zunächst geläufige Begriffe außer Kraft setzt; allerdings lehnt Foucault im Gegensatz dazu jede Rückführung auf ein reines Bewusstsein oder Erfahrung ab (vgl. Waldenfels 1987: 527, 531, 558). 80 Honneth 1989: 147. 81 Archäologie des Wissens [1969]: 41. 82 Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 898. 83 Vgl. Streit 1995: 368. 84 Archäologie des Wissens [1969]: 175. Foucault denkt dann jedoch nicht in linguisti-
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Gemäß Foucaults Archäologie ist die Aussage also nicht in sich selbst als Einheit zu sehen, sondern als eine Funktion, als „eine Existenzfunktion, die den Zeichen eigen ist und von der ausgehend man dann durch die Analyse oder die Anschauung entscheiden kann, ob sie einen ‚Sinn ergeben‘ oder nicht, gemäß welcher Regel sie aufeinanderfolgen und nebeneinanderstehen, wovon sie ein Zeichen sind und welche Art von Akt sich durch ihre (mündliche oder schriftliche) Formulierung bewirkt findet.“85
Foucault nennt vier Merkmale respektive Bedingungen der Aussagefunktion: Nicht die Ursache für eine Zeichenfolge, also etwa das Eingreifen eines Subjekts macht diese zu einer Aussage, sondern eine Beziehung zwischen Aussage und Geäußertem: herkömmlicherweise als die Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat, Namen und Bezeichnetem, als Beziehung eines Satzes zu einem Sinn oder einer Proposition zu einem Referenten gesehen. Foucault will seine Gegenstandsebene allerdings davon abheben.86 Der Sinn eines Namens wird durch seine Anwendungsregeln definiert (was er bezeichnen kann und wie er syntaktisch korrekt verwendet wird). Die Aussage hingegen ist – wenn auch die Wörter gleich sind – in der Wiederholung nicht unbedingt dieselbe. Und hat eine Proposition keinen Referenten, so kann eine gleiche Aussage sehr wohl ein Korrelat haben und es gerade dadurch erlauben festzustellen, dass die Proposition keinen Referenten hat. Und das Verhältnis eines Satzes zu seinem Sinn kann nur qualifiziert werden, wenn die maßgebliche Aussagerelation vorher bestimmt ist. Dies setzt den Satz aber immer in ein System von Beziehungen – insofern bezieht er sich als Aussage auf etwas, auch wenn er nicht signifikant ist. Von Wahrheitswert und Sinnverhältnissen ist die Aussage also zu lösen. Wie dies wiederum zeigt, ist die Aussage „eine Relation, die implizit vom Satz oder der Proposition angenommen zu werden scheint und die als vor ihnen bestehend erscheint“87. Die Aussage hat ein Referential, das die Existenzregeln der Gegenstände bildet, welche dann dem Satz seinen Sinn, der Proposition ihren Wahrheitswert geben. Die erste Funktion der Aussage stellt diese in Beziehung zu einem Objektfeld. Und dieser Bezug – ihr Referential – ist nicht aus Dingen, Realitäten oder Wesen konstituiert, sondern ist ein Differenzierungsprinzip.
scher, sondern ökonomischer Metaphorik weiter – was allerdings auch an Saussure (2001: 94f.) erinnert. 85 Archäologie des Wissens [1969]: 126. 86 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 128-133. 87 Archäologie des Wissens [1969]: 132.
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Zweitens unterhält eine Aussage eine bestimmte Beziehung mit dem Subjekt.88 Sie verweist auf kein Cogito, auf kein transzendentales Subjekt, auf keinen Zeitgeist. Der Autor, nach dem Kausalitätsprinzip als produktive Instanz gedacht, wird in der Archäologie in eine Vielzahl unterschiedlicher Positionen aufgelöst – es ist nicht von ein und demselben Autorprinzip die Rede je nachdem, ob es sich etwa um einen Roman oder eine mathematische Formel handelt (wenn letztere dem Individuum, das spricht, gegenüber indifferent ist). Es gibt in den Aussagen einerseits Plätze, die von verschiedenen Individuen eingenommen werden können. Zugleich ist es eine der Aussagefunktionen, eine Menge möglicher subjektiver Positionen zu bestimmen – und es ist Aufgabe der Analyse zu spezifizieren, wie die jeweilige Subjektposition ist. Das Subjekt des Satzes ist nicht bedeutungslos, es ist aber nicht Ursache, sondern jeweils spezifisches Ergebnis der Aussagefunktion. Drittens besteht die Aussage immer in Koexistenz. 89 Denn im Gegensatz zu Satz und Proposition existiert sie nicht in ihrem Bezug auf einen äußeren Referenten oder nach logischen Gesichtspunkten für sich genommen, sondern eine Aussage existiert nur in Bezug auf einen Nebenraum anderer sprachlicher Performanzen. Nicht die Situation der Artikulation ist hier gemeint, sondern diese dritte Aussagefunktion bezieht sich auf die Spezifikation der existentiellen Grenzen – Grenzen, die dann den Kontext bilden. Die Aussage koexistiert, indem sie Element von etwas ist, sich einschreibt, sich auf etwas bezieht und andere Aussagen aktualisiert, wieder andere Aussagen später ermöglicht und einen bestimmten Status hat. Die Aussage ist also kein signifikatives Atom. Eine vierte Existenzmodalität der Aussage ist ihre materielle Existenz.90 Auch diese spezifiziert die Aussage. Die Aussage kann sich wiederholen, hat eine wiederholbare Materialität, selbst wenn im Gegensatz dazu die Äußerung als Akt ein einmaliges Ereignis ist. Trotz der Äußerungsunterschiede steht die Aussage in einem Feld der Stabilisierung (einem Kontext), der ihre Identität in der Wiederholung ausmacht (oder aber gleich lautenden Aussagen die Äquivalenz nimmt). Sie ist nicht etwas für sich Stehendes ein für alle Mal Gesagtes, keine ideale Form, aber auch nicht ein bloß einmalig in Zeit und Raum erschienenes Ereignis. Sie ist ein „Objekt [...] unter all denen [...], die die Menschen produzieren, handhaben, benutzen, transformieren, tauschen, kombinieren, zerlegen und wieder zusammensetzen, eventuell zerstören“91.
88 89 90 91
Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 134-139. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 139-145. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 145-153. Archäologie des Wissens [1969]: 153.
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Mit einer solchen Konzeption soll nicht nur der Referent verabschiedet und das Signifikat ganz auf den Signifikanten bezogen werden, sondern es soll auch der Signifikant, wie Foucault sagt, in Schwebe gehalten werden, „um die Tatsache erscheinen zu lassen, daß hier wie dort im Verhältnis mit möglichen Objektund Subjektbereichen, im Verhältnis mit anderen Formulierungen und eventuellen Wiederverwendungen Sprache [Herv. i.O.] vorliegt“92. Bei den Aussagen jedoch bleibt die Analyse des diskursiven Feldes nicht stehen, sondern sie wendet sich auch explizit an die Existenzbedingungen und Grenzen der Aussagen und will mit der Darstellung ihrer Beziehung untereinander zu neuen Einheiten kommen. Diese diskursiven Mengen sollten nicht arbiträr sein, sondern methodisch aufgrund von Entscheidungen mit definierten Bedingungen erstellt werden – somit aber nicht als natürliche, unmittelbare oder universelle Einheiten auftreten. Gegenstand der Forschung sind die Koexistenz, die Abfolge, das wechselseitige Funktionieren, die reziproke Determination, ihre unabhängige oder korrelative Transformation – also die Beziehung.93 Eine Menge sprachlicher Performanzen, die auf der Ebene der Aussagen gemäß einem Aussagesystem verbunden sind, nennt Foucault diskursive Formation: diese konstituiert sich über systematisch gebildete Gegenstände und Begriffe, bestimmte Äußerungsmodalitäten und theoretische Wahl. Vielleicht ist es wichtig, mit Foucault hier explizit zu sagen, was dies ausschließt: nämlich dass diese Aussagegruppen nicht auf der Ebene der Sätze durch grammatische Verbindungen (syntaktisch oder semantisch), nicht auf der Ebene der Propositionen durch logische Verbindungen (formal oder begrifflich) und nicht auf der Ebene der Formulierungen durch psychologische Verbindungen (durch ein Vorhaben, durch Mentalität oder Bewusstsein) gebildet werden.94 Wie aber gruppieren sich die Aussagen in einer diskursiven Formation?95 Das diskursstiftende Subjekt ist dezentriert. Auch ein objektives Problem, das als Referenzpunkt die zu einem Diskurs gehörigen Aussagen bestimmt, lässt sich nicht finden; die vielfältigen Positionen diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken sind nicht bloß verschiedene Perspektiven, sondern konstituieren ihren Gegenstand. Eine diskursive Formation wird aber auch nicht durch einen bestimmten 92 Archäologie des Wissens [1969]: 162. Dieses Zitat formuliert direkt, was im vorigen Kapitel Gegenstand der Analyse war, nämlich die grundlegende Bedeutung der Sprache für die Archäologie. 93 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 45. 94 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 168. 95 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 48-56.
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Aussagetyp abgegrenzt. Ebenso können Begriffe keinen Fixpunkt bieten, um den die Diskurse kreisen, da sie selbst sich ständig wandeln. Und letztlich kann sogar ein Thema nicht als verbindliche Einheit gelten, denn dieselben Konzepte können ganz unterschiedliche Themen strukturieren, während unterschiedliche Analyserichtungen ein Thema mit gemeinsamen Grundbegriffen ganz anders formieren können.96 Angesichts all dieser Diskontinuitäten schlägt Foucault auch hier einen offensiv darauf gestützten Weg vor: nicht nach Einheiten suchen, sondern die Streuung zum Gegenstand machen. Und unter Streuung versteht er die Beziehung der Aussagen (und dann Gruppen von Aussagen) zueinander sowie auch zu Ereignissen der technischen, politischen, sozialen, ökonomischen Ordnung.97 All das sind Elemente, die in das Formationssystem eingehen.98 Das Formationssystem ist die in der diskursiven Praxis entstehende Regelmäßigkeit in diesen Beziehungen.99 „Es schreibt das vor, was in einer diskursiven Praxis in Beziehung gesetzt werden mußte“100, damit diese sich auf dieses oder jenes Objekt bezieht, eine bestimmte Äußerungsmodalität hat, bestimmte und nicht andere Begriffe benutzt und Strategien wählt. Der Diskurs besteht aus einer Anzahl an Aussagen, „für die man eine Menge von Existenzbedingungen definieren kann“101, also „die einem gleichen Formationssystem zugehören“102. Der Diskurs ist dem Formationssystem aber nicht nachgeordnet, sondern das Formationssystem ruht im Diskurs selbst.103 Und über diese Systeme, diese regelmäßigen Beziehungen sagt Foucault: „Man kann sie als ‚prädiskursive‘ qualifizieren, unter der Bedingung jedoch, daß man zugibt, daß dieses Prädiskursive noch zum Diskursiven gehört [...]. [...] Man bleibt in der Dimension des Diskurses.“104
Foucault formuliert vier Aspekte der diskursiven Formation in Abhebung von ihren bisher gültigen Denotationen: Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe, theoretische Wahl. Bei der Analyse der diskursiven Formation finden somit die 96 Vgl. Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 905-915. 97 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 57f., 45. 98 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 245. 99 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 106. 100 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 108. 101 Archäologie des Wissens [1969]: 170. 102 Archäologie des Wissens [1969]: 156. 103 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 108. 104 Archäologie des Wissens [1969]: 112.
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vier Aussagefunktionen ihre Entsprechungen.105 Der Funktion der Aussage, über die Differenzierung die Beziehung zu einem Objektfeld auszudrücken, entspricht die Formation der Gegenstände des Diskurses. Die Vorgabe der verschiedenen Subjektpositionen ist auf der Ebene des Diskurses mit den spezifischen Äußerungsmodalitäten zu assoziieren. Die bestimmende Rolle der Koexistenz korrespondiert mit der Formation der Begriffe des Diskurses. Die Materialität der Aussagen, die sie systematisch als Objekte des Verlangens, der Aneignung, der interessierten Nutzung erweist, ist mit der strategischen Wahl in der diskursiven Formation zu verbinden. Diese Aspekte oder Ebenen sind zwar immer vorhanden, allerdings sind Relevanz und Reichhaltigkeit in unterschiedlichen Diskursen verschieden gewichtet. Foucault lokalisiert also erstens die Entstehung von Diskursgegenständen in einer solchen Formation: Der Gegenstand des Diskurses ist nicht nur Wort oder Sache. Es gibt bestimmte Ebenen oder auch soziale Bereiche, wo Gegenstände des Diskurses gebildet werden (Instanzen des Auftauchens); dann gibt es bestimmte über Grenzsetzung operierende Instanzen der Produktion (Instanzen der Abgrenzung); und eine innere Differenzierung und Spezifikation eines Gegenstandes auf Basis bestimmter Konzepte (Instanzen der Spezifizierung).106 Die zwischen diesen Instanzen existierende Gesamtheit von Beziehungen ist Teil dessen, was den Diskurs in seiner Praxis ausmacht und ist insofern produktiv für den Diskurs und dessen Gegenstände. Sie lassen sich aber umgekehrt aus ihm nicht herauslesen, zeigen sich also nicht in seiner inneren Konstitution. Diese diskursiven Beziehungen folgen auch nicht in jedem spezifischen Fall dem generellen Muster der primären Beziehungen etwa zwischen sozialen Institutionen und wissenschaftlichen Ergebnissen; sie folgen aber auch nicht dem, was Foucault die sekundären Beziehungen nennt, nämlich den im Diskurs selbst formulierten, den reflexiven Beziehungen.107 Zweitens ist die Äußerung ihrerseits entsprechend bestimmten Modalitäten reguliert und produziert: Sie ist weder auf eine reine Erkenntnis noch ein psychologisches Subjekt zu beziehen. Sondern die Aussagen haben ihr Gewicht als Äußerung von Personen mit spezifischem Status, sind an bestimmte Institutionen gebunden, haben dadurch Geltung, werden dort gebildet oder gesammelt. Es sind epistemologische Positionen für das Subjekt eines Diskurses festzustellen, die die Wissensproduktion bestimmen. Ein konkreter Diskurs artikuliert sich über das Zusammenwirken der Äußerungsmodalitäten, deren spezifisches Bezie105 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 169. 106 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 61-64. 107 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 67-70.
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hungssystem er als Praxis herstellt – ist selbst aber niemals ein Phänomen des Ausdrucks, das etwas außerhalb seiner selbst zum Ausdruck bringt.108 Die Begriffe als rekurrente Elemente, die in einem Diskurs auftauchen und mit denen dieser arbeitet, sind ebenfalls durch ihre wechselseitigen Konturierungen, somit durch Beziehungen definiert und sind daher weder auf die Struktur der Idealität noch den Gang der Ideen zu beziehen. Bei größeren Einheiten wie einer Disziplin sind sie nicht streng deduktiv konzipiert zu erschließen. Sie sollen aber auch nicht als für sich stehende, verstreute Elemente betrachtet werden, sondern in der Organisation des Aussagefeldes ihre Relevanz erhalten.109 Zu beschreiben ist die Abfolge in ihrer jeweiligen Charakteristik (Foucault nennt unter vielem anderen etwa sukzessive Implikation oder fortschreitende Spezifizierung) sowie Abhängigkeitstypen (etwa Hypothese – Verifizierung, Behauptung – Kritik) oder rhetorische Schemata der Kombination. Darüberhinaus sind aber auch Formen der Koexistenz zu beschreiben: das Feld der Präsenz bilden synchron bestehende anerkannte Aussagen desselben Diskurses, welche in einer Vielfalt von Beziehungen untereinander stehen können (als Kommentar, als Interpretation, als Überprüfung usw.), das Feld der Begleitumstände bilden aus anderen Gebieten stammende relevante Aussagen (etwa als analoge Bestätigung, als Prämissen, als Modell), das Erinnerungsgebiet betrifft verworfene frühere Aussagen und deren spezifische Distanzierungsform, die Element der Formation des jeweils gegenwärtigen Diskurses ist. Drittens können Prozeduren der Intervention festgestellt werden. Damit sind zum Beispiel Techniken der Neuschreibung und Neuordnung, der Transkription, der Transferierung der Gliederungen von einem Gebiet in ein anderes gemeint. Die Betrachtung der begrifflichen Formation besteht nicht darin, eine Bestandsaufnahme der Begriffe zu erstellen und auch nicht in der begrifflichen Architektur einzelner Texte, sondern das spezifische Zusammenspiel der genannten Organisationsmodi des Aussagefeldes soll über die Existenz der Begriffe Auskunft geben. Die Analyse hält sich also im Raum von deren Bildung. Die diskursiven Formationsregeln umfassen viertens die theoretische Wahl, von Foucault Strategie genannt. Auch die theoretische Wahl darf man nicht wie bisher als fundamentales Vorhaben sehen und auch nicht als vom wahren Diskurs abfallende Meinungen verstehen. Foucault sieht demgegenüber als Programm für die Analyse der theoretischen Wahl drei Forschungslinien vor.110 Zum einen sind die Bruchpunkte eines Diskurses zu bestimmen: als Punkte der 108 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 80, 82. 109 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 83-93. 110 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 94-103.
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Inkompatibilität, wenn Widersprüchliches im Diskurs existiert, aber nicht innerhalb derselben Aussagenfolge; als Äquivalenzpunkte, wenn inkompatible Elemente gleichwertig bestehen und eine Alternative darstellen; als Aufhängungspunkte einer Systematisierung, wenn von solchen inkompatiblen, äquivalenten Elementen ausgehend Serien von Gegenständen, Äußerungsformen, Begriffen gebildet werden. Des Weiteren sind die Entscheidungsinstanzen zu eruieren, die bewirken, was (in einer diskursiven Formation) aus der in einem Diskurs von seinem Formationssystem der Gegenstände, Äußerungsformen und Begriffe her möglichen Vielfalt realisiert wird. Angesprochen ist hiermit die Ökonomie der diskursiven Konstellation, das heißt die Frage, in welcher Beziehung die verschiedenen Diskurse zueinander stehen: Sie können füreinander formales System oder konkretes Modell sein, ein Verhältnis der Analogie, Komplementarität sowie Opposition oder reziproken Abgrenzung haben. Es geht hier also um eine äußere Kontextualisierung des Diskurses, die eine wichtige Konsequenz für dessen diachrone Produktivität hat. Denn Foucault führt fort: „Daher rührt die Tatsache, daß eine gegebene diskursive Formation, die wiederaufgenommen, in einer neuen Konstellation angeordnet und interpretiert wird, neue Möglichkeiten erscheinen lassen kann [...].“111 Letztlich bringt Foucault aber die theoretische Wahl mit einer anderen Instanz in Verbindung – und zwar den nicht-diskursiven Praktiken. Und diese Instanz bildet das System und die Prozesse der Aneignung, die einen Diskurs positionieren. Der Diskurs hat hier eine bestimmte Funktion auszuüben. Die Tatsache, dass ein Diskurs angeeignet, mehr oder weniger allgemein respektive für bestimmte Gruppen reserviert sein kann, verweist auch darauf, dass er ein Ort des Verlangens ist. Wichtig für die Diskursanalyse ist, dass diese Bestimmungen bildende Elemente im Diskurs selbst sind und nicht einem reinen, neutralen, zeitlosen Diskurs aufgesetzt. „Eine diskursive Formation wird individualisiert werden, wenn man das Formationssystem der verschiedenen sich darin entfaltenden Strategien definieren kann [...]. [...] Der [...] Diskurs [...] definiert sich durch eine bestimmte konstante Weise, wie einem Diskurs innerliche Möglichkeiten der Systematisierung mit anderen Diskursen, die ihm äußerlich sind, und ein ganzes nicht-diskursives Feld von Praktiken, von Aneignungen, von Interessen und Bedürfnissen in Beziehung gesetzt werden können.“112
111 Archäologie des Wissens [1969]: 99. 112 Archäologie des Wissens [1969]: 101.
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Die soeben skizzierten vier Aspekte des Formationssystems wirken zusammen, indem eines dem anderen Beschränkungen auferlegt und so produktiv wirksam wird. Dabei ist die Persistenz von Aussagen (die Bewahrung und ihre Modalitäten) zu beachten, ist die Form ihrer Additivität (die Bildung spezifischer Gruppen) und ihre Rekurrenz (also das Bezugsfeld, auf das sie sich beziehen und das sie zugleich modifiziert), sind also die Formen ihrer ‚Häufung‘ (im Gegensatz zur Frage nach dem Ursprung) herauszuarbeiten. Foucault kann daher fordern, „daß man den Diskurs nicht mehr auf den ursprünglichen Boden einer Erfahrung, noch auf die Apriori-Instanz einer Kenntnis bezieht; sondern daß man ihn in sich selbst nach seinen Formationsregeln befragt“113. Die diskursive Formation ist für die Aussagen keine Bedingung der Möglichkeit, sondern ein Gesetz der Koexistenz, und die Aussagen sind keine austauschbaren Elemente, sondern durch ihre Existenzbedingungen charakterisierte Gesamtheiten – so Foucaults Klarstellung, in der man wohl eine Abgrenzung von Kant und vielleicht auch von Saussure sehen kann.114 Durch eine derartige Analyse der Regeln, nach denen Gegenstandsgruppen, Äußerungsmengen, Begriffsbündel und Serien theoretischer Wahlmöglichkeiten sich bilden, erscheint eine diskursive Formation in ihrer Positivität als Wissen.115 Die Archäologie versteht unter Wissen (savoir) das, „wovon man in einer diskursiven Praxis sprechen kann“116. 113 Archäologie des Wissens [1969]: 115. 114 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 170. Foucault distanziert sich hier offenbar von den ‚Bedingungen der Möglichkeit‘, wie sie Kant in der Kritik der reinen Vernunft konzipiert. Dennoch verwendet er den Ausdruck ‚condition de possibilité‘ (deutsch als Möglichkeitsbedingung übersetzt) weiterhin und nennt die Erforschung der äußeren Möglichkeitsbedingung des Diskurses als Gegenstück zum Blick auf die Bedeutung als verborgenen, inneren Kern in der Moderne (vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 37). In der Archäologie des Wissens jedoch spricht er für seine Perspektive von Bedingungen der Existenz, des Erscheinens, der Emergenz und der Formation. 115 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 258f. Agamben (2008: 11-14) argumentiert, dass Foucault den Begriff der Positivität möglicherweise von Hegel hat, vermittelt über Hyppolite. Inhaltlich lassen sich insofern Parallelen ziehen, als sich auch bei Hegel die Positivität – im gegenständlichen Fall jene der christlichen Religion – auf eine historisch spezifische Gegebenheit bezieht. Allerdings steht sie hier als den Individuen von außen Auferlegtes im Gegensatz zur natürlichen Religion als „ein unmittelbares und allgemeines Verhältnis der menschlichen Vernunft mit der Gottheit“, so Agamben (2008: 12) über diese andere Seite bei Hegel. Und damit wird auch klar, wo die Grenzen des Bezugs von Foucault auf Hegel sind: Denn eine solche andere Seite und eine damit mögliche Dialektik ist bei Foucault sicher undenkbar. Zugleich sind Foucaults Positivitäten aber auch den Individuen nicht von außen auferlegt. 116 Archäologie des Wissens [1969]: 259.
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Die „Gesamtheit der Regeln, die eine diskursive Praxis charakterisieren“, ist wiederum dann, „was man ein historisches Apriori [Herv. i.O.] nennen könnte“.117 Dieses Apriori ist Realitätsbedingung für Aussagen, also nicht die Legitimation einer Aussage, sondern die Bedingung ihres Auftauchens gemäß der spezifischen Form, die die Aussagefunktionen in einem Diskurs haben – also den Ausübungsbedingungen der Aussagefunktion. Daher Quadfliegs Warnung: „Der Begriff ‚historisches Apriori‘ darf allerdings nicht als Indiz dafür genommen werden, dass Foucault im Grunde Transzendentalphilosophie betreibe, nur eben historisch gewendet. Im Gegensatz zum transzendentalen beschreibt das historische ‚Apriori‘ ausschließlich die Existenzbedingungen einer Menge von vorgefundenen Aussagen – und nicht ihre reine Möglichkeitsbedingung, unabhängig davon, ob sie tatsächlich geäußert wurden.“118
Es ist somit eine empirische Figur und insofern historisch, als es die Veränderung (und die Art der Veränderung, den Geschichtstyp) der tatsächlich getätigten Aussagen reflektieren muss. Dieses historische Apriori kann gegebenenfalls auch die Form eines wie bisher konzipierten formalen Apriori haben. Die Kombination mehrerer Diskurse lässt die jeweilige interdiskursive Konfiguration erkennen.119 Dabei geht es darum, das Gesetz ihrer Kommunikation, ihre Interpositivität auf der Ebene ihrer Formationsregeln zu beschreiben: Archäologische Isomorphismen zeigen, wie aus analogen Regeln der jeweiligen Diskurse unterschiedliche diskursive Elemente gebildet werden; das archäologische Modell definiert, inwieweit diese Regeln in den verschiedenen Diskursen gleich angewandt und kombiniert werden; die archäologische Isotopie wiederum gibt an, ob unterschiedliche Begriffe im Vergleich ihres jeweiligen diskursiven Kontexts analoge Positionen einnehmen; während die archäologische Verlagerung beschreibt, wie derselbe Begriff unterschiedliche Wertigkeit in verschiedenen Diskursen haben kann; die archäologische Korrelation zeigt schließlich, wie zwischen den Diskursen Subordinations- oder Komplementari117 Archäologie des Wissens [1969]: 185, 184. Wie von Anfang an betont wurde, kann man Foucault nicht nur an den Strukturalismus binden. So setzt etwa Waldenfels (1987: 517) Foucaults historisches Apriori in Verbindung mit der in der Phänomenologie bestehenden Idee eines konkreten Apriori. Er weist darauf hin, wie Foucault einige Wendungen und Begriffe von Merleau-Ponty entlehnt und teilweise verwandelt (vgl. z.B. Waldenfels 1987: 523, 558). 118 Quadflieg (2006: 31); ähnlich versteht dies auch z.B. Flynn (2005: 129). Dreyfus und Rabinow (1994: 77-83) thematisieren diesen wichtigen Punkt ausführlich. 119 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 226.
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tätsbeziehungen bestehen.120 Einflüsse, Austausch, die Übermittlung von Informationen hingegen sind nicht Thema der archäologischen Untersuchung. Das Archiv wiederum ist der Grund für das System der Diskursivität und der damit möglichen und unmöglichen Aussagen.121 Es bedingt die Zäsuren und stabilisiert die Aussagen und ihre Systematik als System ihrer Aussagbarkeit und als System ihres (gemeinsamen) Funktionierens. Es ist aber nicht nur das System der Formation, sondern auch der Transformation der Aussagen. Offenbar ist hiermit für Foucault die basalste und zugleich auch umfassendste Regularität erreicht, die sich trotz aller inneren Differenzierungen selbst nur mehr gegenüber einer anderen Kultur hervorkehren lässt. Denn wie Foucault sagt, ist es „uns nicht möglich, unser eigenes Archiv zu beschreiben, da wir innerhalb seiner Regeln sprechen, da es dem, was wir sagen können – und sich selbst als dem Gegenstand unseres Diskurses – seine Erscheinungsweisen [...] gibt“122. „Die Beschreibung des Archivs [...] beginnt mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren; [...] sie nimmt uns unsere Kontinuitäten [...] und da, wo das anthropologische Denken nach dem Sein des Menschen oder seiner Subjektivität fragt, läßt sie das Andere und das Außen aufbrechen. Die so verstandene Diagnose [...] stellt fest, daß wir Unterschiede sind, daß unsere Vernunft der Unterschied der Diskurse, unsere Geschichte der Unterschied der Zeiten, unser Ich der Unterschied der Masken ist.“123
Dieser von Foucault der Ethnologie entnommene Existenzmodus bildet im Konzept der Diskontinuität den zentralen Ansatzpunkt des Begriffsinstrumentariums der Archäologie, also der Diskursanalyse. Und Foucault sieht darin die Möglichkeit, eine existentielle Ebene anzusprechen, auf der die verschiedenen kulturspezifischen Voraussetzungen als Positivitäten produktiver Regelmäßigkeiten zu finden sind.
120 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 229f. 121 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 187ff. Siehe für eine weitere Charakterisierung auch Antwort auf eine Frage ([1968]: 869f.). 122 Archäologie des Wissens [1969]: 189. 123 Archäologie des Wissens [1969]: 189f.
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D IE S PRACHE
DER
ARCHÄOLOGIE
POLITISIERT
In den folgenden beiden Abschnitten will ich Foucaults Konzeption der Diskursivität in zweierlei Weise genauer verorten. Zum einen wäre die soeben knapp skizzierte archäologische Methodologie vielleicht um einige Überlegungen zur Konsistenz der Diskurse besonders in Hinblick auf die nicht-diskursive Praxis zu ergänzen. Zuvor soll aber noch näher auf den Bezug der archäologischen Strukturierung zum Sprachmodell eingegangen werden. Schon das letzte Zitat des vorigen Abschnitts legt nahe, dass Foucaults Archäologie immer wieder an eine Sprachkonzeption wie jene von Saussure erinnert, der Foucault konzediert, von der Moderne Abstand genommen zu haben. Andererseits lässt sich damit schwer Foucaults Rede von Ereignishaftigkeit und Knappheit der Aussagen in Einklang bringen. Hier scheint es bei Foucault eine Ambivalenz zu geben. Honneth stellt fest, dass der Diskurs in der Archäologie des Wissens und noch deutlicher dann in der Ordnung des Diskurses etwas schon vor dem Zugriff und Zuschnitt durch Herrschaftsinteressen Bestehendes wäre.124 Zugleich und im Widerspruch dazu sei der Diskurs aber Ausdruck einer solchermaßen gelenkten Operation, und die Aussage als entsprechend spezifische Aktualisierung ein knappes nützliches Gut.125 Diese Bedenken können sich zum Beispiel auf folgenden Passus aus der Ordnung des Diskurses beziehen: „Ich setze voraus, daß in jeder Gesellschaft die Produktion des Diskurses zugleich kontrolliert, selektiert, organisiert und kanalisiert wird – und zwar durch gewisse Prozeduren, deren Aufgabe es ist, die Kräfte und die Gefahren des Diskurses zu bändigen, sein unberechenbar Ereignishaftes zu bannen, seine schwere und bedrohliche Materialität zu umgehen.“126
Die Regulation des Diskurses ist wiederum der Diskurs respektive seine Regelmäßigkeiten. „Die Positivitäten, die festzustellen ich versucht habe, dürfen nicht als eine Menge von Determinationen begriffen werden, die sich von außen dem Denken der Individuen auferlegen oder es von innen und im vorhinein bewohnen. Sie bilden eher die Gesamtheit der 124 Vgl. Honneth 1989: 163f. Dies veranlasst Honneth, die Ereignishaftigkeit der Aussage als ein im Poststrukturalismus überhaupt wichtiges, an eine sprachtheoretisch gelesene Lebensphilosophie erinnerndes Motiv zu identifizieren. 125 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 175. 126 Die Ordnung des Diskurses [1971]: 7.
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Bedingungen, nach denen sich eine Praxis vollzieht, nach denen diese Praxis teilweise oder völlig neuen Aussagen Raum gibt, nach denen sie schließlich modifiziert werden kann.“127
Daher die Kritik von Frank: „Will die Archäologie sich als eine Wissenschaft (im strengen Sinne) von den Diskursen beweisen, so muß sie Diskurse als Ordnungen [Herv. i.O.] beschreiben; gewiß: als Ordnungen besonderer Art. Aber man kann den Begriff einer Ordnung modifizieren, solange man will: die (hermeneutische, aber auch von Derrida und Lacan unterschriebene) Idee der Unvorhersehbarkeit der Sinneffekte [...] ist mit dem Gedanken der Ordnung nicht versöhnbar. Gerade dies aber – scheint mir – versucht Foucault.“128
Hinzu kommt Habermas’ kritische Überlegung zum Stellenwert der Explikation diskursiver Regelmäßigkeiten: „Als fundamental gelten die archäologisch zugänglichen Regeln, die die jeweilige Diskurspraxis ermöglichen. Diese Regeln können aber einen Diskurs nur in den Bedingungen seiner Möglichkeit verständlich machen; sie reichen nicht hin, um die Diskurspraxis in ihrem tatsächlichen Funktionieren zu erklären. Es gibt ja keine Regeln, die ihre eigene Anwendung regeln könnten. Ein regelgeleiteter Diskurs kann nicht selbst den Kontext regeln, in den er eingelassen ist.“129
Grundsätzlich ist darauf zu hinzuweisen, dass das Auftauchen des Ereignisses im Strukturalismus als Durchbrechung der jeweiligen Regelmäßigkeiten von Außen nicht ungewöhnlich ist. Allerdings hat offenbar auch das Auftauchen von Aussagen gegenüber der archäologischen Regelmäßigkeit etwas Ereignishaftes. Interessanterweise ist auch bei Saussure die Sprache ohne hemmenden Einfluss (wie stabile politische Verhältnisse, Schulbildung, Schrift), im „Zustand der Freiheit“130, in ständiger Veränderung durch das Auftauchen von Neuem. Und dabei gilt: „die lautliche Entwicklung geht blind vor sich“131 – gebe es nicht zugleich Gegenmechanismen innerhalb der Sprache selbst, würde sich die Sprache auflösen. 127 Archäologie des Wissens [1969]: 297. Interessant ist hier mit Agamben zu bedenken, wie sich Foucault von Hegel abgrenzt. Denn bei diesem geht es laut Agamben (2008: 12) im Begriff der Positivität sehr wohl um kulturspezifische Praktiken, Vorschriften, Glaubenssätze, die „den Individuen von außen auferlegt sind“. 128 Frank 1984: 230. 129 Habermas (1993: 315); dazu auch Biebricher (2005: 50). 130 Saussure 2001: 180. 131 Saussure 2001: 182.
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Etwas weiter lassen sich die in der Sekundärliteratur spürbaren Unklarheiten vielleicht enträtseln, indem man die Verortung von Foucaults archäologischer diskursiver Ebene im Feld der Sprache hervorkehrt. Das Gebiet der Archäologie sind die Regularitäten der Aussagen. Folglich würde ein Zusammenhang, wie ihn Streit sieht, plausibel scheinen, wonach Foucault die Trennung Langue/Parole aufnimmt: Foucaults Einheiten, die Aussagen (énoncés), folgen den Formationsregeln des historischen Apriori – entsprechend Saussure, wo sich die Paroles nach dem Code der Langue richten.132 Und Streit setzt des Weiteren die Episteme bei Foucault mit der Langue bei Saussure gleich.133 Allerdings hat sich Foucault in dieser Hinsicht explizit vom Strukturalismus abgegrenzt, indem er betont, dass ihn nicht die Codes interessieren, sondern das Existenzgesetz der verwirklichten Äußerungen.134 Es gibt „die Formation und Transformation des ‚Gesagten‘, der choses dites [Herv. i.O.] [...]. Es ist diese Geschichte dieses Gesagten, die ich in Angriff genommen habe.“135 Wie in der Linguistik die Sprache, sind auch Foucaults Gegenstand Formationsregeln. Von den Aussagen ausgehend fragt aber die Sprachanalyse – so Foucault –, nach welchen (bestimmten) Regeln unendlich viele Aussagen konstruiert werden können, während die Archäologie fragt, wieso eine bestimmte Aussage und keine andere erschienen ist.136 Ihr Thema ist also die endliche Menge der tatsächlich formulierten linguistischen Sequenzen.137
132 Vgl. Streit 1995: 365. 133 Vgl. Streit 1995: 373. Eventuell wäre auch die Parallele zwischen Langue und Archiv zu ziehen. Dies könnte vor allem dann stringent sein, wenn sich das Archiv als „Gesetz dessen, was gesagt werden kann“, nicht nur auf das tatsächlich Gesagte, sondern auch auf das ungesagte Sagbare bezieht (Archäologie des Wissens [1969]: 187). Der explikative Kontext, in dem die Definition bei Foucault steht, scheint diese Auffassung des Archivs aber eher nicht nahe zu legen. 134 Antwort auf eine Frage [1968]: 869. Gegenüber der Ordnung der Dinge ([1966]: z.B. 438) ist nun die Archäologie als Wissenschaft von den Regelmäßigkeiten der Paroles deutlicher bestimmt. Streits (1995) Parallelisierung von Episteme und Langue bietet sich also eher für diese Arbeit von Foucault an. Dreyfus und Rabinow (1994: 80ff.) sehen diese Wendung bei Foucault als grundsätzliche und definitive Abkehr vom Strukturalismus. Man kann diesen Perspektivenwechsel aber vielleicht auch als Differenzierung und Ergänzung der bisherigen strukturalistischen Perspektive beurteilen – und mit Rückverweis auf Saussure zuordnen. 135 Antwort auf eine Frage [1968]: 875. 136 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 42. 137 Dies impliziert Foucaults Positivismus: Wenn diese Selbstbezeichnung wirklich keinen tieferen Sinn hat, so bringt sie zumindest – wie Lavagno (2003: 138) zugesteht – zum Ausdruck, inwiefern sich Foucault von der Hermeneutik unterscheidet, wenn er
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Man könnte daher sagen, dass Foucault die Diskursivität als neuen Aspekt in der Dualität Langue/Parole einführen möchte. Er bewerkstelligt dies, indem er die Ebene freilegt, welche zwischen dem (sprachlichen) Regelsystem als Möglichkeitsbedingung für Aktualisierungen und der tatsächlichen Aktualisierung als kulturspezifische respektive historisch spezifische Regelmäßigkeit der Aktualisierung auftritt. „[Die Konzeptionen des Diskurses in der Archäologie des Wissens] waren nicht dazu bestimmt, Begriffe und Methoden nach außerhalb des Gebietes der Sprache zu übertragen, in dem sie erprobt worden waren. Wenn ich von Diskurs gesprochen habe, ging es nicht darum zu zeigen, daß sich die Mechanismen oder Prozesse der Sprache darin unberührt weiter erhielten; sondern vielmehr darum, in der Dichte der sprachlichen Performanzen die Verschiedenheit der möglichen Ebenen der Analyse erscheinen zu lassen; und zu zeigen, daß man neben den Methoden linguistischer Strukturierung [...] eine spezifische Beschreibung der Aussagen, ihrer Bildung und der dem Diskurs eigenen Regelmäßigkeiten herstellen konnte.“138
Foucault stellt also ein Prinzip der Knappheit gegenüber der Sprache fest, das den Diskurs als Modus kultureller Spezifizität ausmacht. Und diese Verknappung setzt an den vielfacheren Parole-Möglichkeiten der Sprache an. In Bezug auf die Ebene des Diskurses stellt dieses Potential der Sprache zur Bildung immer neuer, unvorhersehbarer Paroles das Ereignishafte (in einem dem Diskurs insofern quasi als Außen vorgegebenen Bereich) dar. In Hinblick auf diese Ereignishaftigkeit denkt Foucault also sehr wohl auch in den Kategorien von Ausschluss und Produktion durch selektive Integration. Und daher betont er die ‚Seltenheit‘ von Aussagen. Das heißt, die Archäologie definiert die diskursive Formation „als Prinzip der Leere im Feld der Sprache“ und „untersucht die Aussagen an der Grenze, die sie vom Nicht-Gesagten trennt, in der Instanz, die sie beim Ausschluß all der anderen auftauchen läßt“, wobei es sich aber im Gegensatz zu früher nicht darum handelt, „die sie umgebende Stummheit sprechen zu lassen oder all das wiederzufinden, was in und neben ihnen geschwiegen hatte oder zum Schweigen gebracht worden war“.139
sich mit der „Faktizität von Diskursen zufriedengibt“ und nicht „einen verborgenen Sinn“ sucht. 138 Archäologie des Wissens [1969]: 284f. 139 Archäologie des Wissens [1969]: 173.
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Die Mechanik des Diskurses ist somit weniger eine Repression als eine Produktion,140 bei der die Systematik der Lücken und Schnitte Gegenstand der Analyse ist. Dies impliziert, dass die Aussage als knappes Gut Gegenstand eines politischen Kampfes ist. Entsprechend stellt auch Hacking fest, dass sich die Gewichtung von Repression zu Produktion in Foucaults Arbeiten zum Wissen vollzog und nicht in den Machtanalysen.141 Andererseits ist diese Regelmäßigkeit, ist die diskursive Ebene, nicht so ganz anders als die Sprache, ist nicht eine Umkehrung der Produktivität der Sprache, wie es Foucaults Darstellung der Sprache als Basis einer uneingeschränkten Produktion von Aussagen und des Diskurses als beschränkendem Prinzip anzudeuten scheint. Sondern dies ist meines Erachtens eine Frage des Bezugspunktes. Angesichts des ständigen ‚blinden‘, man könnte sagen ‚ereignishaften‘ Auftauchens von sprachlicher Veränderung, sind ja auch hier Mechanismen der Einschränkung und Regulation sowie entsprechender Neuschöpfungen produktives Element.142 Und schließlich ist die jeweilige Sprache insgesamt ein Prinzip der Knappheit, das im Ausschluss aller anderen Langues und somit aller nicht ihren Regeln entsprechenden Paroles besteht – obwohl sie sich selbst nur aus den Paroles ableiten lässt. Ebenso wie die Sprache hat auch der Diskurs als Regelmäßigkeit zwei Aspekte: Er drückt sich einerseits in den je spezifischen Aktualisierungen als Vorgabe aus, zugleich sind es diese Aktualisierungen, die ihn ausmachen. Insofern wiederholt sich in ihm die Zirkularität des linguistischen Gegenstandes.143 Es wäre zu überlegen, ob sich Foucaults Perspektive gegenüber Saussure auch noch in einer anderen Weise verschoben lesen lässt: Wenn sich Signifikat und Signifikant gegenseitig strukturieren, so hat Saussure sich eher der Seite des Signifikanten gewidmet, während Foucault die Strukturierung des Signifikats 140 Canguilhem erklärt dazu: Man könnte denken, zwischen Foucault und den amerikanischen Kulturalisten bestünde eine gewisse Ähnlichkeit; allerdings ist die ‚kulturelle Persönlichkeit‘ die einer Kultur eigentümliche „Konstante für die Integration des Einzelnen ins soziale Gefüge“ (Canguilhem 1988: 37); hingegen: „Der Begriff der episteme meint so etwas wie einen Mutterboden, auf dem nur bestimmte Organisationsformen des Diskurses gedeihen können, wobei deren Vergleichung mit anderen Formen nichts von einem Werturteil hat“ (Canguilhem 1988: 38f.). 141 Vgl. Hacking 1998: 30. 142 Vgl. Saussure 2001: 182f. Parallelen zum Evolutionismus von Darwin sind hier deutlich greifbar. Zu einer sehr weit reichenden Untersuchung dieses Verhältnisses vgl. Sarasin (2009). 143 Dies relativiert auch Quadfliegs (2006: 31) Warnung, nicht Foucaults Arbeit als ins Historische gewendete Transzendentalphilosophie zu verstehen.
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spezifisch in den Blick rückt – von den Paroles ausgehend die Zeichen von der Ordnung ihrer Inhaltsseite her betrachtet. Allerdings passt dies nicht zur Bezugnahme auf den Signifikanten und der Verabschiedung des Signifikats, wie sie bei Foucault zuweilen ins Spiel kommen. Sofern aber andererseits beide Seiten des Zeichens zusammenfallen, spielt diese Diktion vielleicht keine Rolle mehr. Es geht Foucault jedenfalls im Gegensatz zu allen möglichen Paroles einer Sprache um die kulturspezifisch aktualisierten – und so gesehen um den Inhalt. Daher ist Lavagno nur bedingt zuzustimmen, wenn er über Foucaults Rekonstruktion des diskursiven Regelwerks sagt: „Sein Interesse für die Regeln erklärt wiederum sein relatives Desinteresse für die Inhalte [...].“144 Foucault wirft vielmehr eine andere Perspektive auf die Existenz von Inhalten auf einer Ebene, wo Inhalte als Regelwerk zu sehen sind. Denn in der archäologischen Rekonstruktion respektive vielmehr archäologischen Dekonstruktion muss vom Inhalt, als Resultat der Regelungen verstanden, auf ebendiese geschlossen werden. Dieses archäologische Gebiet hält Foucault am Ende der Archäologie des Wissens für das eigentlich Neue seiner Arbeit.145 „Der Diskurs ist durch die Differenz zwischen dem konstituiert, was man in einer Epoche korrekt (gemäß den Regeln der Grammatik und der Logik) sagen konnte, und dem, was tatsächlich gesagt wurde. Das diskursive Feld ist, zu einem bestimmten Zeitpunkt, das Gesetz dieser Differenz.“146 144 Lavagno 2003: 92. 145 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 296. 146 Antwort auf eine Frage [1968]: 874. Weiterführend könnte vielleicht ein Vergleich mit Bourdieus Konzept des Habitus fruchtbar sein. Denn Bourdieu hat in seiner Theorie der Praxis (1979) den Habitus als die vermittelnde Instanz zwischen Struktur (Langue) und Handeln (Parole) eingeführt – vgl. dies bei Angermüller (2007b: 57). Ein anderer Konnex, der auf Isomorphismen und vielleicht sogar direkte Zusammenhänge im wissenschaftlichen Feld verweist, soll hier nicht unerwähnt bleiben. Wie auch von Foucault selbst angesprochen, lassen sich nämlich in vielerlei Hinsicht Ähnlichkeiten zwischen dem (Post-)Strukturalismus respektive der Linguistik und den gegenwärtigen Lebenswissenschaften, der Genetik und auch gewissen Aspekten der Evolutionstheorie sehen (vgl. z.B. Linguistik und Sozialwissenschaften ([1969]: 1048); und zum letzten Punkt etwa Sarasin 2009). Dies kann hier nicht näher ausgeführt werden, aber als Schlagworte seien Differentialität, Kontext und Zufall sowie die konstruktivistische Wende genannt. Und nicht zuletzt wurde beiden wissenschaftlichen Zugängen Determinismus vorgeworfen. Interessant im gegenständlichen Zusammenhang ist, dass auch die offenkundigste Parallele, das heißt die Dichotomie Genotyp versus Phänotyp einerseits und Langue versus Parole andererseits, ähnliche Differenzierungen durchmacht. Sowohl die Epigenetik wie auch die archäologische Ebene von Foucault zielen darauf, die Praxis der Exprimation oder Aktualisierung in den Blick zu bekommen und wesentliche kreative Momente nun hier zu verorten.
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Das ist in der Tat eine Ebene, die von Saussure ausgespart wird. Damit hat Foucault die Sprache als Diskurs politisiert, hat sie also theoretisch-methodisch mit Interessen, Kräfteverhältnissen, Macht verbunden. Abgesehen davon, dass Foucault mit dem Diskurs eine andere Ebene der Sprachlichkeit hervorkehrt, politisiert er also auch die Sprache in ihrer inneren Systematik. Denn Macht ist ein auf allen kulturellen Ebenen vorhandenes Kräfteverhältnis, das „sich ausübt“, das „in actu existiert“ – ebenso wie die Freiheit, gedacht als Differenz in der Wiederholung.147 Während Saussure Operationen der Macht zwar sehr wohl als äußeres Ereignis gegenüber der Sprache nennt – zum Beispiel die Verdrängung einer Sprache im Kolonialismus – und auch ganz grundsätzlich die Bedeutung „äußerer Bezirke der Sprachwissenschaft“148 wie Geschichte, Politik oder Bildungsinstitutionen als Gegenstand einer äußeren Sprachwissenschaft anerkennt, und wiewohl die Sprache gemäß Saussure nur als soziales Phänomen existieren kann, stehen die Zeichen selbst nicht explizit unter dem Gesichtspunkt etwa eines Kampfes um die Syntagmen und ihre paradigmatischen Assoziationen.149 Wenn das Zeichensystem Sprache im Großen und Ganzen kein Feld sozialer Auseinandersetzungen ist, so liegt dies laut Saussure in der Arbitrarität begründet. Dass „etwas nur dann der Diskussion unterstellt werden kann, wenn es auf einer vernünftigen Norm beruht“, bewahrt „die Sprache vor jedem Bestreben, das auf eine Umgestaltung ausgeht“150. Andererseits macht gerade dies die Spra147 Vorlesung vom 7. Januar 1976 ([1976]: 226) und vgl. zur Freiheit Raum, Wissen und Macht ([1982]: 330). 148 Saussure 2001: 24ff. 149 Dies bezieht sich wiederum auf die Grundfragen der allgemeinen Sprachwissenschaft, wie sie Bally und Sechehaye ediert haben. Jäger (2009: 222ff.) argumentiert – unter anderem gestützt auf neuere Quellen –, dass auch Saussures Zeichenidee durchaus eine Gebrauchsdimension hat. Denn bei der Zeichenprozessierung ist der Laut nie unabhängig vom Sinn zu sehen – und nur im Gebrauch, der „diskursiven Verwendung in der sozialen Semiose“ bekommt das Zeichen seine Identität (Jäger 2009: 224f. und 227). Angesichts der soeben dargestellten Positionierung von Foucault rückt Jäger damit Saussure jedoch eigentlich nicht vom (Post-)Strukturalismus ab, sondern kehrt im Gegenteil noch weiter gehende Isomorphismen hervor, die sowohl Foucaults als auch Saussures Aktualität für einen nun in der Sprachwissenschaft offenbar an Impetus gewinnenden performative turn nahe legen. Als bemerkenswerte, wenn auch vielleicht rein sprachliche Koinzidenz sei noch erwähnt, dass Saussure die Paroles auch Diskurs nennt (vgl. Jäger 2009: 222). 150 Saussure 2001: 85. Ob Saussures Einschätzung unbedingt beizupflichten ist, kann hier nicht diskutiert werden, soll aber mit Hinweis auf Konflikte nicht nur um die Vorherrschaft zwischen Sprachen und den Stellenwert von Fremdwörtern, sondern auch etwa um die Grammatik einer Sprache beispielsweise im Kontext von Emanzipationsbewegungen, zumindest in Zweifel gezogen sein. Allerdings sagt Saussure an
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che aber flexibel, lässt die Beziehung zwischen Signifikat und Signifikant ständig verrücken und erlaubt die „Freiheit der Wahl“151 – wenn auch nicht die des Einzelnen. Demgegenüber ist es die von Saussure genannte „Einschränkung der Beliebigkeit des Zeichens“152 in der tatsächlichen Verwirklichung von Sprache über die Paroles, was Foucault in seiner Regelmäßigkeit als sozial relevante Ebene der Sprache in Form von diskursiver Praxis zu seinem Thema macht. Damit ist impliziert, dass er nicht Wissens- und Machtpraktiken getrennt und sekundär letztere auf erstere bezogen betrachtet – wie dies hingegen in der Sekundärliteratur häufig aufgefasst zu werden scheint.153 Selbst wenn vielleicht nicht jede Machtpraxis Wissenspraxis wäre – was hier im Moment nicht geklärt wird –, sind Wissenspraktiken immer auch Machtpraktiken.154 Diese Hinwendung zur Regelmäßigkeit der performativen Praxis kann somit als eine Wissenschaft von der Parole und eine Ergänzung der vom Modell der Langue ausgehenden strukturalistischen Richtungen gesehen werden. Die Formationsregeln haben ihren Platz im Diskurs selbst, „sie auferlegen sich folglich gemäß einer Art uniformer Anonymität allen Individuen, die in diesem diskursiven Feld sprechen“155. Die Aussagen in ihrer ‚Äußerlichkeit‘ zu betrachten, heißt also, dass sie nicht von einem Cogito ausgehend und auch nicht als Übersetzung von anderen, inneren Vorgängen (des Denkens, des Unbewussten z.B.) aufzufassen sind, sondern dass die Aussagen als solche Gegenstand der Empirie werden – auch wenn die gliedernden Regularitäten Ziel der Analyse sind. In der Archäologie handelt es sich darum, „dieses Draußen wieder zu finden, in dem sich [...] die Aussageereignisse verteilen“156. „‚Egal, wer spricht‘, doch was er sagt, sagt
151 152 153 154
155 156
anderer Stelle (2001: 180) selbst, dass die Grammatik stärker als die Sprachlaute von äußeren sozialen Umwälzungen beeinflusst ist. Saussure 2001: 87. Saussure 2001: 158. Vgl. z.B. Bührmann; Schneider 2007: Abs. 4. Vgl. z.B. Gespräch über die Macht [1978]: 595. Allerdings kann etwa das wissenschaftliche Wissen, wie Foucault hervorkehrt, sehr unterschiedlichen Stellenwert im Verhältnis zur nicht-diskursiven Praxis haben. Insofern ist der Bezug zwischen bestimmten Wissensformen und bestimmten Machtformen jeweils Thema der Analyse von Foucault (vgl. Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 551f.). Wissen ist also nicht schlechthin Macht. Zu drei Typen der Verschränkung von Macht und Wissen, die Foucault mit Messung, Ermittlung und Prüfung assoziiert, vgl. Lemke (1997: 96f.). Archäologie des Wissens [1969]: 92. Archäologie des Wissens [1969]: 177.
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er nicht von irgendwo aus. Er ist notwendig in das Spiel einer Äußerlichkeit eingefangen.“157 Damit bleibt die zentrale Vorgabe für die Archäologie der durch die Ordnung der Dinge unter dem Titel ‚Ethnologie‘ etablierte Blick auf die Produktivität der Grenze und die hieran geknüpfte Hintergehung jeglicher vorausgesetzter Identitätslogik.
D IE
ARCHÄOLOGISCHE
T EXTUR
Foucaults Methode wendet sich dezidiert an das wirklich Ausgesagte, das sich etwa in einem Textkorpus versammelt findet, das Inschriften und Verträge umfasst, das sich in exemplarischen Institutionen wie Schule und Krankenhaus formuliert. Er konzipiert somit etwas, das ein in der Sprachwissenschaft als „Wissenschaft von der parole“158 thematisiertes Desiderat erfüllt und dem Diskurs eine eigene Materialität zuerkennt. Die Produktivität liegt hier im Prinzip der Verknappung des Möglichen, das für die stets Machtverhältnisse darstellende Regelmäßigkeit ereignishaft bedrohlich ist. Diese Verknappung ist aber nicht zu verstehen als Repression von vorausgesetzten, davon unabhängig bestehenden Inhalten. Eine Vervielfachung des Sinns in der Interpretation als Reaktion auf eine solche Aussagenarmut ist nicht Ziel der Archäologie. Ebenso wenig geht es um das dabei mitschwingende Konzept der Innerlichkeit auf Basis der Trennung zwischen Innen und Außen. Denn hierbei würde eine begründende Subjektivität unterstellt, die gemäß archäologischer Analyse erst Ergebnis der Aussagen respektive des Diskurses ist. Motivation für die Betonung der Materialität des Diskurses ist also, die diskursive Praxis in ihrer eigenen Realität zu sehen und nicht auf andere Ontologien (wie etwa die Absichten des Sprechers) zurückzuführen.159 Entsprechend wertet es etwa auch Lavagno als Foucaults Leistung, dass er mit dem Diskurs als „choses dites“ ein neues Feld (durch Ausblendung anderer Perspektiven) entdeckt oder freigelegt hat:
157 Archäologie des Wissens ([1969]: 178) und vgl. auch Die Ordnung des Diskurses ([1971]: 36f.). 158 Vgl. Ernst (2001: 331), der sogar schreibt, dass „sich die Linguistik [...] damit begnügte, die[se] [Wissenschaft von der Parole] [...] in regelmäßigen Abständen nur einzufordern“. 159 Vgl. Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 893f.
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„Der Diskurs ist nun endgültig kein Zeichen mehr für etwas diesseits oder jenseits von ihm, sondern es wird möglich, ‚ihn in seiner Konsistenz zu erhalten, ihn in der ihm eigenen Komplexität hervortreten zu lassen‘.“160
Das verlangt nach einer Klärung der Beziehung zum nicht-diskursiven Bereich. Auch die Archäologie des Wissens bezieht sich, ähnlich wie die Ordnung der Dinge, überwiegend auf sprachliche Aussagen beziehungsweise diskursive Praktiken.161 Allerdings zeichnet sich eine wieder verstärkte Integration anderer kultureller Ebenen in die archäologische Forschung ab. Theoretisch-methodisch lassen sich hierfür zumindest zwei Ansatzpunkte nennen: Zum einen wird der Verknüpfung mit nicht-diskursiven Praktiken durch die Anwendung des Praxisbegriffs auf den Diskurs Vorschub geleistet. Dass er im Formationssystem die Diskurspraxis in den Rahmen sozialer Praktiken stellt, geschieht laut Foucault entgegen Lévi-Strauss (und mit Dumézil).162 Zum anderen deutet sich an, dass die synchronen Kohärenzen sich nun auch für einen Blick auf genealogische Zusammenhänge, also die Frage nach der Herkunft der Elemente aus verschiedenen Bereichen der Praxis, öffnen müssen. Foucault will gegenüber der Ordnung der Dinge die Isolation der Episteme aufheben, wenn einzelne Disziplinen zusammen mit Praktiken, die weit über das Gebiet mit Wissenschaftsanspruch hinausgehen, betrachtet werden.163 Auch zur Beantwortung der Frage, wie die Ebene des Diskurses in die Kultur integriert ist, distanziert sich Foucault von herkömmlichen Ansätzen. Um die in der Ordnung der Dinge ausgeklammerten Beziehungen zu nicht-diskursiven Bereichen erscheinen zu lassen,164 fragt die Archäologie nicht, was einen Diskurs motivieren kann oder sich in ihm ausdrückt, sondern sie versucht, die spezifischen Artikulationsformen eines Diskurses zu definieren, indem sie untersucht, wie seine Formationsregeln mit nicht-diskursiven Systemen verbunden sind.
160 Lavagno (2003: 142) mit Zitat aus der Archäologie des Wissens ([1969]: 72). 161 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 271. 162 Vgl. Die Wahrheit und die juristischen Formen ([1974]: 781) und siehe auch Eribon (1998: 248) sowie z.B. Faubion (2008: 90f.). Die Idee einer diskursiven Praxis kann sich allerdings auch von anderen Herkunftspunkten ableiten lassen. So bezieht sich etwa die Positionierungstheorie in dieser Hinsicht auf Bakhtin, Benveniste und Wittgenstein – obwohl sie eine Reihe anderer Aspekte Foucault verdankt, wie Tirado; Gálvez (2007: Abs. 21) erklären. 163 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 254f. Sehr genau und verständlich hat sich Foucault (unter dem Namen Maurice Florence) diesbezüglich in Michel Foucault 1926- ([1984]: 318) positioniert. 164 Vgl. dazu auch Ruoff 2007: 96.
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Die beiden Bereiche sollen sich nicht gegenseitig widerspiegeln, symbolisieren und so eine gemeinsame Form ausdrücken, denn diese Art der Beziehung wäre zu unmittelbar. Bei der kausalen Analyse wiederum stellt der Einfluss auf das sprechende Subjekt dieses zwischen das viel direktere Feld der Beziehungen, wie sie in der Archäologie auftauchen. Daher sind diese Phänomene erst zu untersuchen, „wenn die Positivitäten dort, wo sie erscheinen, und die Regeln, nach denen diese Positivitäten gebildet worden sind, definiert worden sind“165. Es ergibt sich dabei also keine unidirektionale kausale Beziehung zwischen diskursiver und nicht-diskursiver Praxis. Sondern Foucault zieht beide Bereiche zusammen. Er führt als Beispiel an: „Es handelt sich also nicht darum zu zeigen, wie die politische Praxis einer gegebenen Gesellschaft die medizinischen Begriffe und die theoretische Struktur der Pathologie konstituiert oder modifiziert hat; sondern darum, wie der medizinische Diskurs als Praxis, der sich an ein bestimmtes Feld von Gegenständen wendet, der sich in den Händen einer gewissen Zahl von statutarisch bezeichneten Individuen befindet, der schließlich bestimmte Funktionen in der Gesellschaft zu erfüllen hat, sich über Praktiken artikuliert, die ihm äußerlich und selbst nicht diskursiver Natur sind.“166
Gemäß dieser besonders interessanten Wendung in Foucaults Denken ist also ein Diskurs eine Praxis, die sich auch über nicht-diskursive Praktiken artikulieren kann.167 „[Die Archäologie hat nicht das Ziel,] eine kausale Kette wiederzufinden, [...] die gestattete, eine Entdeckung und ein Ereignis oder einen Begriff und eine gesellschaftliche Struktur in Beziehung zu setzen. Wenn sie aber andererseits eine solche kausale Analyse in der Schwebe hält, wenn sie den notwendigen Eingriff durch das sprechende Subjekt vermeiden will, dann nicht um die souveräne und einsame Unabhängigkeit des Diskurses zu sichern; sondern um den Existenz- und Funktionsbereich einer diskursiven Praxis zu entdecken [...] [,] jenes ganze Gebiet der Institutionen, ökonomischen Prozesse und gesellschaftlichen Beziehungen zu entdecken, über die sich eine diskursive Formation artikulieren kann [...].“168
Diese Passagen können die Feststellung von Dreyfus und Rabinow plausibel machen, dass Foucault hier noch durch seine Nähe zum Strukturalismus an der Priorität der Diskurse festhält.169 Der Diskurs beinhalte zwar auch nicht165 166 167 168 169
Archäologie des Wissens [1969]: 233. Archäologie des Wissens [1969]: 234. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 231ff. Archäologie des Wissens [1969]: 235. Dreyfus; Rabinow 1994: 92.
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diskursive Praktiken, wie zum Beispiel institutionelle Regelungen, aber diese würden selber wiederum „durch weiter gefaßte Diskursbeziehungen ermöglicht“170. Ähnlich sieht Bublitz besonders in der Archäologie die Beziehung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken: „Dabei werden soziale Ordnungsmuster und Distinktionsprozesse von Foucault zurückgeführt auf Diskursordnungen und die ihr immanenten Regeln.“171 Man könnte demzufolge vielleicht auch sagen, dass eine diskursive Formation um zu existieren und zu funktionieren nicht-diskursive Bereiche braucht. Andererseits wurde Foucaults Archäologie des Wissens als Antwort auf Einwände der zweiten Althusserianergeneration, die an der Praxis interessiert war und daher den Strukturalismus kritisierte, verstanden. Bezüglich der Transformationen in der Medizin schreibt Foucault zum Beispiel: „[W]as diese große Veränderung in der Ökonomie der Begriffe, der Analysen und der Beweise determiniert hat, ist ein ganzes Bündel von Beziehungen zwischen der Hospitalisierung, der Internierung, den Bedingungen und Prozeduren des gesellschaftlichen Ausschlusses, den Regeln der Jurisprudenz, den Normen der industriellen Arbeit und der bürgerlichen Moral, kurz eine Gesamtheit, die für diese diskursive Praxis die Formation ihrer Aussagen charakterisiert [...].“172
Mit der Einführung der diskursiven Praktiken hätte Foucault somit eine Annäherung an den Marxismus vollzogen und einen Weg versucht, der zwischen Strukturalismus und historischem Materialismus verläuft. Gemäß Dosse nähert sich Foucault dabei durch Einbettung der diskursiven in nicht-diskursive Praktiken einem Materialismus an.173 Und Honneth stellt fest: „Der Diskursbegriff Foucaults ergibt sich nicht aus den immanenten Regeln der Sprachverwendung, sondern aus einem objektiven Sozialzusammenhang, in dem die Sprachverwendung eine einzige Funktion erfüllt: nämlich die der Erfassung und Kontrolle von natürlichen oder sozialen Prozessen. So betrachtet, ordnen sich einzelne Aussagen zu einer Aussagengruppe nach Maßgabe der gemeinsamen Leistung, die sie zur ‚Beherrschung‘ irgendeines Gegenstandes erbringen; die Ordnung des Diskurses wird durch soziale Regeln gestiftet.“174
170 Dreyfus; Rabinow 1994: 93. 171 Bublitz (2001: 36) – hingegen untersucht gemäß Bublitz (2001: 31f.) die Genealogie, welchen Machtverhältnissen sich die Etablierung von Wahrheitsdiskursen (wie etwa die Wissenschaft) verdankt. 172 Archäologie des Wissens [1969]: 254. 173 Vgl. Dosse 1997: 300f. 174 Honneth 1989: 160.
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Eine solche Kausalität lässt sich meines Erachtens der Archäologie des Wissens jedoch kaum entnehmen und man kann Soziales oder Materielles und den Diskurs auf dieser Ebene nicht hintereinander aber auch schwerlich getrennt nebeneinander ordnen. Zudem wird in einer Lesart wie bei Dosse und Honneth der produktive Aspekt der Regulationen möglicherweise vernachlässigt. Ab Mitte der 1970er Jahre konzipiert Foucault den gegenständlichen Zusammenhang expliziter im Begriff des Dispositivs.175 Dispositiv meint eine Gesamtheit, die alle kulturellen Ebenen umfasst: also etwa Diskurse, Institutionen, Architektur, rechtliche Reglements. Ähnlich wie bereits für das Formationssystem gilt auch hier: Das Netz der Beziehungen zwischen diesen Elementen macht das Dispositiv aus.176 Wenn Foucault die Episteme charakterisiert als „die gesamten Bezüge, die in einer bestimmten Epoche zwischen den verschiedenen Bereichen der Wissenschaft bestanden haben“177, so weitet das Dispositiv diesen Blickwinkel auf alle kulturellen Ebenen aus und betont zudem stärker den strategischen Gehalt der relationalen Anordnungen. Jäger rekonstruiert die Stellung von Diskursivem und Nicht-Diskursivem hier folgendermaßen: „Foucault war nach seinen archäologischen Bemühungen, die Entwicklung des Wissens ganz materialistisch zu rekonstruieren, zu der Überzeugung gekommen, daß nicht die Rede/der Text/der Diskurs allein die Welt bewegt, und er erfand [Herv. i.O.] das Dispositiv, um damit seine historische und aktuelle Wirklichkeit angemessener deuten zu können. Und bei dieser von ihm vorgenommenen Bestimmung von Dispositiv stellt sich die Frage
175 In den Sozialwissenschaften (und Kulturwissenschaften) beschäftigen sich zurzeit einige Arbeiten mit der Formulierung und Operationalisierung einer Dispositivforschung. Bührmann und Schneider (2007 und 2008) haben die Dispositivforschung als umfassenden Forschungsansatz ausformuliert. Hier findet sich auch eine ausführliche Besprechung der Literaturlage. Siehe zu weiteren Angaben auch Keller (2007: Abs. 42), sowie Wrana; Langer (2007: Abs. 4). Zum Dispositiv vgl. kompakt etwa auch Ruoff (2007: 101f.) und Revel (2002: 24f.) sowie Agamben (2008). Von Interesse ist vielleicht auch ein Hinweis auf Parallelen zwischen dem Dispositiv und anderen Begriffen wie dem Agencement bei Deleuze und Guattari (2001) sowie etwa der Assemblage z.B. bei Rabinow (2004b: 58), welche dieser auf den Begriff der ‚Maschine‘ bei Deleuze rückbezieht und als nicht ganz verfestigtes Dispositiv charakterisiert. Zur Überschneidung wie auch Divergenz der Begriffe Apparat (apparatus, appareil) und Dispositiv (dispositive, dispositif) siehe Bussolini (2010). Er plädiert für eine Verwendung des Begriffs ‚dispositive‘ auch im Englischen, da die in diesem Sprachraum gängige Übersetzung des Foucault’schen Dispositivbegriffs als ‚apparatus‘ wichtige Eigenheiten verwischt. 176 Vgl. Das Spiel des Michel Foucault [1977]: 392. 177 Die Probleme der Kultur [1972]: 463.
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nach dem Verhältnis von Diskurs und Dispositiv oder auch von Diskurs und Wirklichkeit ganz intensiv. Foucault sieht hier eindeutig ein Nebeneinander [Herv. i.O.] von Diskurs und Wirklichkeit bzw. Gegenständen; diese sind Elemente des Dispositivs, welches das Netz ist, das zwischen diesen Elementen aufgehängt ist bzw. sie verbindet.“178
Die Elemente respektive Gegenstände oder Wirklichkeiten wären dabei unabhängig vom Diskurs vorhanden. Das Netz des Dispositivs verbinde und versammle sie, auf einen Notstand (urgence) reagierend, im Nachhinein. Darauf gemünzt sagt Jäger: „Sichtbar wird hier: Foucault geht von einem Dualismus [Herv. i.O.] zwischen Diskurs und Wirklichkeit aus. Foucault übersieht hierbei, daß die Diskurse und die Welt der Gegenständlichkeiten bzw. Wirklichkeiten substantiell miteinander vermittelt sind und nicht unabhängig voneinander existieren.“179
Jäger bezieht sich für seine Argumentation auf Das Spiel des Michel Foucault. Allerdings führt gerade diese Diskussion über den nicht-diskursiven Bereich, wie beispielsweise Institutionen, letztlich zu folgendem Schluss: Die Bedenken lauten: „[D]iese neuen Gesamtheiten, die eben gegliederte Elemente zusammenfassen [...] bleiben insofern signifikante Gesamtheiten. Ich sehe nicht so recht, worin du auf Nicht-Diskursives stoßen könntest“ – worauf Foucault antwortet: „Wenn du so willst, doch für meine Sache mit dem Dispositiv ist es nicht so sehr wichtig, ob es heißt: Dies da ist diskursiv, dies da ist es nicht.“180 Diese Definitionsschwierigkeiten bringt Kammlers Feststellung zum Ausdruck, dass es in der Archäologie des Wissens unklar wird, worin sich diskursive und nicht-diskursive Praktiken überhaupt unterscheiden.181 Auch Wrana und Langer sehen bei Foucault die Vermittlung von Diskursivem und NichtDiskursivem bereits in den Gegenständen so eng, dass eine vorgängige analytische Unterscheidung problematisch erscheint.182 Insofern hat schon die Diskurstheorie – und nicht erst die Genealogie – keinen autonom sprachlichen Diskursbegriff. Ebenso meint Flynn:
178 179 180 181 182
Jäger 2001: 75. Jäger 2001: 76. Das Spiel des Michel Foucault [1977]: 395f. Kammler 1986: 160, 166ff. Vgl. Wrana; Langer 2007: Abs. 4. Der Diskurs wäre bei Foucault als „Grenze zwischen dem Sprachlichen und dem Nicht-Sprachlichen“ zu sehen – so Wrana; Langer (2007: Abs. 4). Und „Mit dem Vorschlag, das Diskursive als Grenze des NichtDiskursiven zu verstehen, ist nur die Unentscheidbarkeit festgehalten.“ (Wrana; Langer 2007: Abs. 11).
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„Of course, this distinction is imperfect; the discursive, though distinct, can scarcely be separated from the nondiscursive [...]. Foucault never resolved the question of their precise interrelation [...].“183
Dieselbe Diagnose von anderer Seite betrachtend kritisieren Laclau und Mouffe, dass Foucault „eine inkonsistente Unterscheidung zwischen diskursiven und nicht-diskursiven Praxen beibehalten“ hätte – was sie korrigieren wollen.184 Angesichts dieser Kontroversen ist Foucaults Position nur schwer verständlich. In dem Abschnitt am Ende der Archäologie des Wissens, wo Foucault überlegt, dass man auch andere Gebiete als die Wissenschaft archäologisch erforschen kann, sagt er zu einer entsprechenden Untersuchung des politischen Verhaltens einer Gesellschaft: „Dieses Wissen würde man [...] in der Richtung der Verhaltensformen, [...] der Konflikte, [...] der Taktiken analysieren. Man würde so ein politisches Wissen erscheinen lassen, das zu keiner zweiten Theoretisierung der Praxis gehört und das auch keine Anwendung der Theorie ist.“185
Das Wissen (frz. savoir) auf archäologischer Ebene schreibt sich also von Anfang an in das Feld der verschiedenen Praktiken ein.186 Dies erinnert an Begriffskonzeptionen des Ideellen in der Ethnologie, wie konkret jene von Godelier, der schreibt: „Das Ideelle ist das Denken in all seinen Funktionen, wie es in allen Tätigkeiten des Menschen gegenwärtig und wirksam ist“, „das Denken geht für uns selbstverständlich weit über das Bewußtsein (und die Sprache) hinaus“.187 Solche Vorbehalte, die Bereiche klar zu trennen und Kausalitäten zu sehen, machen es für einen von der strukturalen Ethnologie bei Foucault ausgehenden Blick jedoch nicht leicht erkennbar, wo hier der Unterschied zu sich artikulierenden Strukturen anzusetzen wäre. Interessant ist der Vergleich mit Lévi183 Flynn 2005: 24. 184 Laclau; Mouffe 2000: 143. 185 Archäologie des Wissens ([1969]: 277); so soll der Ort einer politischen Theorie und Praxis erfasst werden, ohne dazu ein individuelles oder kollektives Bewusstsein durchlaufen zu müssen. 186 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 277. 187 Godelier 1990: 157 und 174. Vgl. auch Godelier (2011: 364, 365), dass eine Beziehung zwischen Menschen nicht bloß als soziales Verhältnis, sondern immer auch als imaginär und symbolisch vermittelt zu sehen ist und die sehr ähnliche Aussage von Foucault, dass die in den zwischenmenschlichen Beziehungen so wichtige Sache, die das Denken darstellt, nicht bloßer Wind gegenüber der Realitätsinstanz des Sozialen sein sollte (zitiert bei Veyne 2010: 119).
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Strauss’ Ausführungen im Wilden Denken. Dieser bekennt sich mehrfach ausdrücklich dazu, dass nicht ideologische Wandlungen soziale erzeugen, sondern umgekehrt zum Beispiel Auffassungen von den Beziehungen zwischen Natur und Kultur von sozialen Beziehungen und deren Veränderungen abhängen.188 Weiter heißt es: „Ohne den unbestreitbaren Primat der Basis, der Infrastrukturen in Frage stellen zu wollen, glauben wir, daß zwischen Praxis und Praktiken immer ein Vermittler eingeschaltet ist, der das Begriffsschema darstellt, durch dessen Wirken eine Materie und eine Form, die beide jeder unabhängigen Existenz ermangeln, sich zu Strukturen ausbilden [...].“189
Und im Zusammenhang mit Durkheims Thesen vom sozialen Ursprung des logischen Denkens sagt Lévi-Strauss dann: „Obwohl zwischen der sozialen Struktur und dem System der Kategorien zweifellos eine dialektische Beziehung besteht, ist das letztere dennoch weder Folge noch Resultat der ersteren: beide bringen zum Preis mühevoller wechselseitiger Anpassungen, bestimmte historische und lokale Modalitäten der Beziehungen zwischen Mensch und Welt zum Ausdruck, die ihr gemeinsames Substrat bilden.“190
Vor diesem Hintergrund lässt sich Foucaults Diagnostik in der Archäologie des Wissens in eine Richtung orientieren, die durch einen deutlicher formulierten Passus aus einem Gespräch zur Ordnung der Dinge gestützt wird: „Dieser Forschungsstil hat für mich den folgenden Vorteil: Er gestattet es, jegliche Fragen der zeitlichen Priorität der Theorie im Verhältnis zur Praxis und umgekehrt zu vermeiden. Tatsächlich behandle ich die Praktiken, die Institutionen und die Theorien auf der gleichen Ebene und entsprechend ihren Isomorphismen, und ich suche das gemeinsame Wissen, das sie möglich gemacht hat, die konstitutive historische Schicht des Wissens.“191
Unwägbarkeiten in Foucaults Positionierung wären demnach unter anderem vielleicht auf eine Vermeidung des Begriffs der Struktur (deren Aktualisierungsregelmäßigkeiten die Ebene der Archäologie bildete) zurückzuführen.192 Natürlich 188 189 190 191 192
Vgl. Lévi-Strauss 1973: 139. Lévi-Strauss 1973: 154. Lévi-Strauss 1973: 248. Die Ordnung der Dinge: Ein Gespräch mit Raymond Bellour [1966]: 150. Das Widerstreben, kausale Prioritäten zu setzen, zeigt sich allerdings schon in Wahnsinn und Gesellschaft ([1961]: z.B. 254) – ein Buch, das nicht Foucaults strukturalistischer Phase zugerechnet wird: „Verwurzelt die Internierung ihre Praktiken in dieser tiefen Intuition [des Wahnsinns als leere Negativität der Vernunft]?“, oder: „Wurde
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ist mit Verweis auf die Ergebnisse des vorigen Abschnitts bezüglich der Struktur einschränkend Foucaults Verschiebung des Blicks von den unendlichen Möglichkeiten der Langue zu den verwirklichten Regularitäten zu vermerken. Ungeachtet dessen ist auch die Definition des Bereichs, in dem die Struktur etwa gemäß Deleuze193 angesiedelt ist und den er das Symbolische nennt, von Foucaults Analyseebene kaum zu unterscheiden. Es lässt sich nämlich nicht nur im Ideellen oder Materiellen fassen, sondern das Symbolische ist als neuer Bereich derjenige, wovon ausgehend sich die beiden anderen konstituieren. „Selbst die Strukturen der Linguistik können nicht als symbolische Elemente oder als letzte signifiants gelten: eben in dem Maße, als die anderen Strukturen sich nicht damit zufriedengeben, von der Linguistik entlehnte Methoden durch Analogieverfahren anzuwenden, sondern ihrerseits wirkliche Sprachen, und seien sie auch nicht verbal, finden, welche immer ihre signifiants, ihre symbolischen Elemente und differentiellen Verhältnisse mit sich bringen.“194
Bei Foucault wäre ein solcher Bereich beschrieben als anonyme Formationsregeln, die als Feld von Beziehungen bestehen. Er sagt: „Die strukturale Linguistik zielt [...] auf systematische Gesamtheiten von Beziehungen zwischen Elementen. An diesen Beziehungen ist nun eines bemerkenswert: Sie sind an sich [...] unabhängig von den Elementen [...] und insofern sind sie ohne irgendeine Metapher verallgemeinerbar, und können je nach Fall auf jede andere Sache übertragen werden, und dies nicht nur auf Elemente linguistischer Natur. [...] All das ist ein ungeheuer
der Wahnsinn letzten Endes als Nicht-Sein herausgeschält, weil er unter der Wirkung der Internierung tatsächlich aus dem Blickkreis der Klassik verschwunden war? Die Beantwortung dieser Fragen verweist weiter in eine vollkommene Zirkularität. Es ist wahrscheinlich nutzlos, sich im stets von vorne beginnenden Zyklus jener Fragenform zu verlieren. Besser läßt man die Gesellschaft zur Zeit der französischen Klassik in ihrer allgemeinen Struktur die Erfahrung formulieren, die sie mit dem Wahnsinn gemacht hat, und die mit den gleichen Bedeutungen in identischer Ordnung ihrer inneren Logik hier und dort in der Ordnung der Spekulation und der Ordnung der Institution [...], überall, wo ein zeichentragendes Element für uns den Wert von Sprache annehmen kann, sich andeutet.“ Dennoch ist feststellbar, dass Foucault in Wahnsinn und Gesellschaft auch unsystematisch heterogene Vermittlungsinstanzen als reale Kausalitäten benennt – so Streits (1995: 372) Kritik unter Bezug auf Ferry, Luc; Renaut, Alain (1987): Antihumanistisches Denken. Gegen die französischen Meisterphilosophen. 193 Vgl. Deleuze 1992b. 194 Deleuze 1992b: 52.
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großes Feld empirischer Urbarmachung, wozu sämtliche Forscher im Bereich der Humanwissenschaften aufgerufen sind.“195 „Die Linguistik hat es endlich ermöglicht, nicht nur die Sprache, sondern auch die Diskurse zu analysieren [...].“196
Quadflieg sieht die in der Ordnung der Dinge begonnene „Selbstfundierung im Rahmen einer reinen Sprachtheorie“ in der Archäologie des Wissens nicht weitergeführt.197 Foucault hätte die Wahl gehabt, sich entweder mit der Sprachphilosophie auseinander zu setzen (das hieße mit Wittgenstein und der USamerikanischen Sprechakttheorie) oder seinen Sprachbegriff beizubehalten, ihn aber dann von dem Anspruch zu entlasten, Ursprung einer neuen Philosophie zu sein – und das hätte Foucault gemacht, so Bürger, auf den sich Quadflieg in seiner Argumentation beruft.198 Wenn an dieser Stelle auch dahingestellt sei, ob Foucault seine Positionierung mit der Archäologie des Wissens als Ursprung einer neuen Philosophie sehen wollte und es ihm überhaupt um Selbstfundierung ging – die Sprache hat ihren Stellenwert gemäß der hier vorgenommenen Analyse jedenfalls nicht eingebüßt. Aus diesem Grund ist es vielleicht nicht zu weit gegriffen, die Archäologie des Wissens als Semiologie zu verstehen, die eng Saussures Vorgaben folgt. Die alle kulturellen Ebenen umfassende Zuständigkeit der Archäologie könnte als Ausarbeitung der Forderung von Saussure gelten, die Semiologie nicht auf den Bereich der Linguistik zu beschränken, sondern als umfassende Kultur-Wissenschaft auszubauen, die auf einer allgemeineren Ebene als jener der Sprache das gesamte der Zeichenstruktur zugehörige Gebiet zum Gegenstand hat. Insofern würde Foucault sehr genau der Forderung von Saussure entsprechen, eine neue Wissenschaft, für die Saussure den Namen Semeologie respektive dann Semiologie gefunden hat, zu erstellen: 195 Linguistik und Sozialwissenschaften [1969]: 1045. 196 Linguistik und Sozialwissenschaften [1969]: 1050. Foucault beschreibt hier genau Saussures Semiologie und betont noch, dass dies keine Metapher ist, wie es hingegen die Arbeit mit biologischen Konzepten etwa der Evolution sehr wohl wäre (vgl. zu letzterem Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 346). Und mit der Nennung des Diskurses darf man annehmen, dass er sich unter das Dach dieses Zugangs stellt. Dennoch sagt er in der dem Vortrag folgenden Diskussion: „Ich werden Ihnen als Erstes etwas anvertrauen, das in Paris noch nicht bekannt zu sein scheint, dass ich nämlich kein Strukturalist bin“ (Linguistik und Sozialwissenschaften [1969]: 1063). Jedenfalls zeigen sich aber deutliche Parallelen zu Saussure. 197 Quadflieg 2006: 132. 198 Vgl. Quadflieg 2006: 132.
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„Da sie noch nicht existiert, kann man nicht sagen, was sie sein wird. Aber sie hat Anspruch darauf, zu bestehen; ihre Stellung ist von vornherein bestimmt. Die Sprachwissenschaft ist nur ein Teil dieser allgemeinen Wissenschaft, die Gesetze, welche die Semeologie entdecken wird, werden auf die Sprachwissenschaft anwendbar sein, und diese letztere wird auf diese Weise zu einem ganz bestimmten Gebiet in der Gesamtheit der menschlichen Verhältnisse gehören.“199
Zur Charakterisierung des Ansatzes, wie ihn Foucault ausformuliert hat, könnte man darüberhinaus auf die Langage bei Saussure zurückverweisen. Neben Langue und Parole ist die Langage, bei Saussure als ‚menschliche Rede‘ übersetzt, die auf einer entsprechenden Fähigkeit des Menschen zur Sprachbildung beruhende (kulturelle) Artikulation oder Gliederung grundsätzlich. Als sozial geteilte (kontingente und konventionelle) Artikulation bildet sie die Äußerung und menschliche Verständigung.200 Die menschliche Rede artikuliert oder strukturiert, wie der Diskurs bei Foucault, die verschiedenen kulturellen Ebenen – wenn so Saussures Definition zu verstehen ist, dass die Langage „vielförmig und ungleichartig“, „in sich verschiedenartig ist“.201 Und die „menschlichen Rede“, Langage – „da man nicht weiß, wie ihre Einheit abzuleiten sei“ – „läßt sich keiner Kategorie der menschlichen Verhältnisse einordnen“.202 Einen Ansatzpunkt für ihre Erfassung findet man nach Saussure aber, indem man die Sprache als ein Prinzip der Klassifikation, das die Einheit der Langage ausmacht,203 „als die Norm aller andern Äußerungen der menschlichen Rede gelten“204 lässt. An diese Definitionen von Saussure lassen sich die soeben skizzierten Konzeptionen von Foucault also unmittelbar anschließen.205 Ein solcher Zugang erfasst die nicht-diskursiven Bereiche nicht in jeder ihrer möglichen Dimensionen, sondern erfasst sie nur insoweit, als sie zwar nichtdiskursiv, aber doch auf der archäologischen Ebene des ‚Wissens‘ artikuliert 199 200 201 202 203 204 205
Saussure 2001: 19. Vgl. Saussure 2001: 12f. Saussure 2001: 11, 17. Saussure 2001: 11. Saussure 2001: 13. Saussure 2001: 11. Hier ist darauf hinzuweisen, dass Foucault z.B. in der Ordnung der Dinge ‚langue’ für konkrete (jeweilige) Sprachen verwendet, im allgemeineren Sinn aber durchwegs mit dem Begriff ‚langage’ operiert. In der deutschen Übersetzung ist dem in keiner Weise Rechnung getragen. ‚Langage’ wird hier überwiegend als ‚Sprache’ wiedergegeben, manchmal aber auch als ‚Gebärdensprache’ (vgl. z.B. Die Ordnung der Dinge [1966]: 149). Dass Foucault die Begriffe ‚langue’, ‚langage’ sowie ‚parole’ benutzt, muss aber natürlich für sich genommen noch keinen Rückbezug auf Saussure darstellen.
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sind.206 Die Archäologie bleibt insofern immer im Raum der Sprachlichkeit – andere Realitäten sieht sie nicht. Dahingehend lässt sich auch lesen, dass Foucault in der Archäologie des Wissens primäre Beziehungen (zwischen Institutionen, Techniken, Gesellschaftsformen, welche unabhängig vom Diskurs beschrieben werden könnten, diesen und seine Gegenstände allerdings nicht vorgeben) unterscheidet von sekundären Beziehungen (die Reflexion hinsichtlich der Kausalbeziehungen zwischen den kulturellen Ebenen innerhalb des Diskurses selbst); von beiden Ebenen zu trennen sind die diskursiven Beziehungen als Gegenstand der Archäologie: der Diskurs als Praxis mit den Beziehungen, die dem Diskurs seine Gegenstände (die nicht dem Diskurs präexistent sind) ermöglichen.207 Wie Saussure sagt: „Man kann nicht einmal sagen, daß der Gegenstand früher vorhanden sei als der Gesichtspunkt, aus dem man ihn betrachtet; vielmehr ist es der Gesichtspunkt, der das Objekt erschafft [...].“208
Folglich wäre bei Foucault eine Perspektive zu finden, die Laclau und Mouffe als ihre Revision gegenüber Foucault sehen: „Nicht die Existenz von Gegenständen außerhalb unseres Denkens wird bestritten, sondern die ganz andere Behauptung, daß sie sich außerhalb jeder diskursiven Bedingung des Auftauchens als Gegenstände konstituieren könnten.“209
Denn: Jedes Objekt ist als Objekt des Diskurses konstituiert – das hat aber nichts zu tun mit dem Gegensatz zwischen Realismus und Idealismus – so Laclau und Mouffe.210 Ganz wie also bereits Foucault betonen sie, dass der Diskurs nicht ‚geistigen Charakter‘ hat, sondern sie wollen den ‚materiellen Charakter‘ jeder 206 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 456. 207 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 68-70. 208 Saussure 2001: 9. Neben dieser viel zitierten Stelle aus den Grundlagen der allgemeinen Sprachwissenschaft finden sich etwa bei Jäger (1975: 45ff.) unter dem Titel ‚Gesichtspunkt-Gegenstand-Theorem‘ noch eine Reihe ähnlicher Aussagen von Saussure – werden allerdings in Abhebung von einem etwas anders gelagerten Strukturalismus-Konzept im Kontext eines hermeneutisch-dialektischen Zugangs betrachtet. Foucault seinerseits folgt diesem Prinzip nicht nur in den Arbeiten, die als ‚seine strukturalistische Phase‘ gelten. Erinnert sei nochmals an Wahnsinn und Gesellschaft ([1961]: 455), wo Foucault sagt, dass dem Wahnsinn seine Situation zur Natur wird – was nur dann seltsam ist, „wenn man den Wahnsinn vor den ihn bezeichnenden und betreffenden Praktiken ansetzt“. 209 Laclau; Mouffe 2000: 144f. 210 Vgl. Laclau; Mouffe 2000: 144.
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diskursiven Struktur hervorheben.211 Hinzuzufügen wäre, dass allerdings die Archäologie insofern ‚äußere Ereignisse‘ berücksichtigt, als sie aufzeigt, in welcher Art die Diskurse dafür empfänglich sind, dadurch mobilisiert werden.212 Im solcherart semiologisch gefassten Dispositiv ergibt sich eine Infragestellung bisher auf die Kultur angewandter Unterteilungen zu Gunsten anderer Forschungsgegenstände – ähnlich etwa der vom Anthropologen Godelier vorgeschlagenen Umorientierung, Basis und Überbau nicht als Institutionen zu sehen, sondern als Funktionen in sozialen Verhältnissen, in Institutionen.213 Die Hinwendung zu Verbindlichkeiten, wie sie dann im Dispositiv expliziert erscheinen, manifestiert sich auch in Foucaults Konzeption einer allgemeinen Geschichte und seiner Betonung der Genealogie. Dies bildet den zweiten Anhaltspunkt für die Integration diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken in der Archäologie des Wissens. Das Aufbrechen der modernen Historizität als eines der Hauptinteressen von Foucault legt eine Konzentration auf synchrone Zusammenhänge wie im Strukturalismus aber ebenfalls im oben beschriebenen zeitlosen Ordnungsschema der Klassik nahe. Diesen Modellen vergleichbar will Foucault den geschichtlichen Prozess, der mehr oder weniger verdeckt an einem roten Faden entlanggeht, durch einen Blick auf die Radikalität und Ereignishaftigkeit der in Bezug auf die Diachronie letztlich kontingenten Brüche ersetzen. Das Problem der Historizität selbst sowie die in der Ordnung der Dinge unter direktem Bezug auf LéviStrauss angenommene neue Sicht verweisen auf die strukturalistische Ethnologie. Jedoch hält Foucault dem Strukturalismus nun vor, die wissenschaftlichen Daten seiner Konstruktion von Strukturen als apriorisch, einheitlich integriert, geschlossen und zeitlos-statisch zu unterwerfen. Hier entdeckt Foucault noch den transzendentalen Narzissmus der traditionellen Geschichtstheorie. Foucaults Interesse verlagert sich zu einer Hinterfragung der starren horizontalen Zusammenhänge, sodass das Verhältnis von Synchronie und Diachronie in einem charakteristischen Schwebezustand gehalten wird. Mit Bezug auf die Zeitlichkeit der diskursiven Formation schreibt Foucault: „Eine diskursive Formation spielt also nicht die Rolle einer Figur, die die Zeit anhält [...]. Sie ist nicht zeitlose Form, sondern Entsprechungsschema zwischen mehreren zeitlichen Serien.“214 211 212 213 214
Vgl. Laclau; Mouffe 2000: 145. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 238. Vgl. Godelier (1990: 134ff.) oder Godelier (1978) und Godelier (2011). Archäologie des Wissens [1969]: 109.
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Damit werden seine früheren Einheitlichkeiten durch eine Vielzahl von Regularitäten brüchig und zugleich neue Verbindungen möglich.215 „[Gebiet der Archäologie] wäre die eigenartige Ebene, auf der die Geschichte begrenzte Diskurstypen verursachen kann, die ihren eigenen Typ von Historizität haben, und mit einer Menge verschiedener Historizitäten in Beziehung stehen.“216
Dass die Beziehungen zwischen den Positivitäten unterschiedlich sein können, erst erstellt werden müssen und nicht vorausgesetzt sind, kann konsequenterweise dazu führen, dass die Zeitlichkeit der einzelnen diskursiven Formationen Thema wird. Brüche in der Diachronie sind nicht notwendig umfassend, sondern können regional sein und sind in ihren transformativen Qualitäten zu spezifizieren. Die Regionalisierung determinierender horizontaler Zusammenhänge der diskursiven Ebene durch die Integration nicht-diskursiver Praktiken erleichtert somit, dass unterschiedliche diskursive Formationen respektive Dispositive nun eine gewisse Eigendynamik haben können. Demnach ist zu betonen, dass Foucaults ‚Strukturen‘ prinzipiell immer in der Mehrzahl auftreten – auch innerhalb einer Gesellschaft. Epistemologisch fundiert ist das durch den im vorigen Abschnitt aufgewiesenen Blickwechsel. Mit der Abkehr von der Frage nach der Struktur als Basis einer beliebigen Anzahl von Paroles verschwindet auch die Ausrichtung der Forschung, unterschiedliche kulturelle Bereiche (oder sogar Kulturen) als Aktualisierungen einer gemeinsam zugrunde liegenden Struktur aufzufassen. Diese Perspektive spiegelt sich in Foucaults Forderung, die globale Geschichte durch die allgemeine Geschichte abzulösen. Foucault unterscheidet seine Idee einer allgemeinen Geschichte von der globalen Geschichte einerseits, setzt sie aber auch einer pluralen Geschichtsschreibung entgegen. Während die globale Geschichte zusammenhaltende Phasen annimmt, wo alle diskursiven und nicht-diskursiven Phänomene dieselbe Geschichtlichkeit besitzen und einem System homogener Beziehungen wie gegenseitige Symbolisierung, Analogie, Ausdruck eines zentralen Kerns unterliegen, gruppiert um ein Prinzip oder eine Form,217 betont die allgemeine Geschichte durch den Aufweis verschiedener unterschiedlich langer, getrennt oder in Beziehung zueinander bestehender Serien nun auch in dieser Hinsicht die Brüchigkeit. Foucault gibt an, bestimmte Berei215 Vgl. Von den Martern zu den Zellen ([1975]: 887) wo Foucault das Vorrecht des Signifikanten und seiner Ketten aufgeben und durch „die Taktiken mit ihren Dispositiven“ ersetzen will; sowie z.B. auch die Vorlesung vom 14. Januar 1976. 216 Archäologie des Wissens [1969]: 235. 217 Antwort auf eine Frage [1968]: 876.
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che bewusst und methodisch auszuschließen.218 Er will keine Weltanschauung erstellen, die sich jeweils in allen Diskursen findet – so seine Klarstellung gegenüber dem eventuell durch die Episteme in der Ordnung der Dinge vermittelten Eindruck. Aber eine Pluralität voneinander unabhängiger Geschichten soll dennoch vermieden werden.219 Mit beiden Distanzierungen wendet sich die allgemeine Geschichte gegen den sowohl in der globalen Geschichte als auch pluralen Geschichtssicht implizierten Vorrang einer Eigenexistenz und Eigendynamik. Denn die verschiedenen Bereiche lassen sich durch eine gewisse Zahl beschreibbarer Relationen charakterisieren und abgrenzen und mit anderen Diskurstypen in Beziehung setzen, wodurch man ihre interdiskursive Konfiguration erkennen kann.220 Thema ist dabei die „Individualisierung [Herv. i.O.] der Diskurse“, denn, so sagt Foucault: „Ich bin aber Pluralist“221. Hier ist im Sinne eines Ausblicks in aller Kürze die Frage anzuschließen, ob Foucault mit dem Konzept der skizzierten allgemeinen Geschichte die Analyse historischer Verbindlichkeiten in den Vordergrund rückt und die Archäologie ihre Herrschaft an die Genealogie abtritt. Zunächst ist zu bemerken, dass Foucault in der Ordnung des Diskurses die Genealogie als methodisches Komplement und nicht Ersatz der Archäologie einführt. Auch etwa in Nietzsche, die Genealogie, die Historie222 oder in Was ist Kritik223 spricht Foucault von zwei Aspekten seiner Forschungsmethode, die prinzipiell in Kombination zu sehen sind: Die eine Analyserichtung wäre die der Archäologie, auch als Kritik bezeichnet, und dann in Nietzsche, die Genealogie, die Historie unter dem Begriff ‚Entstehung‘ definiert als die jeweils momentan bildenden Kräfteverhältnisse; Die andere Fragerichtung bezieht sich auf die ‚Herkunft‘ der archäologischen Gegenstände, also die Genealogie ihrer Elemente aus anderen Kontexten. Foucault hatte in den meisten seiner Arbeiten beide Seiten im Auge. Während in der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens die Genealogie im Hintergrund steht, ist das Verhältnis – wenn auch jeweils anders konzipiert – in den übrigen Analysen ausgewogener. Und nie verschwindet jener Aspekt von Foucaults Blickwinkel, der mit der Archäologie als De-Essentialisierung durch die Existenz im differen-
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Auffällig ist hier sicher das häufige Fehlen des religiösen Bereichs. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 1. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 226. Antwort auf eine Frage [1968]: 860. Vgl. Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971]: 171ff. Foucault fasst in Was ist Kritik? [1990] beide Aspekte unter dem Begriff Kritik zusammen.
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tiellen Zusammenhang der synchronen Ebene zu verstehen ist – er wird sogar in den letzten beiden Bänden von Sexualität und Wahrheit wieder stärker betont.224 Was die häufig unter die Vorzeichen der Genealogie gestellten Machtanalysen betrifft, sei darauf verwiesen, dass mit dem Diskurs als produktiver Regelmäßigkeit, die konstitutiv über Grenzen operiert, der Blick auf Machtfragen nahe liegt und in der Archäologie des Wissens tatsächlich angesprochen ist.225 Diese ‚Politisierung‘ hängt mit der Verlagerung des Blicks weg von der Sprache als Eröffnung unendlicher Möglichkeiten hin zur Erforschung der tatsächlichen Aktualisierung zusammen; zugleich ergibt sie sich aber auch aus der Einbindung aller kulturellen Ebenen in die archäologische Zuständigkeit. In diesem Zusammenhang hat der für die ‚genealogische Phase‘ wichtige Begriff des Dispositivs vielleicht eine gewisse Klärung gebracht. Agamben verfolgt das Dispositiv genealogisch in mehrere Richtungen und deutet an, dass es bei Foucault ab Mitte der 1970er Jahre Ersatz für die ‚Positivität‘ ist.226 Foucault allerdings verwendet den Begriff der Positivität weiterhin und spricht damit meines Erachtens die Existenzebene seiner Gegenstände an, indem er das Hauptgewicht darauf legt, dass es allein um die Existenz kultureller Tatsachen geht. Der Begriff des Dispositivs hingegen thematisiert zum einen den Bereich der Positivität – nämlich als alle kulturellen Ebenen umfassende Regularität. Zum anderen bezieht er sich unmittelbar auf die Relationalität als Existenzmodus der Positivität. Daher kann man, wie Agamben, für das Dispositiv festhalten, dass es etwas bezeichnet, „in dem und durch das ein reines Regierungshandeln ohne jegliche Begründung im Sein realisiert wird“227. Wobei Regierung produktiv und nicht repressiv zu verstehen ist. Umgekehrt wurde deutlich, dass Foucaults (diskursive) Positivitäten nach demselben Modus existieren, wie ihn das Dispositiv charakterisiert.228 Es geht bei der Konzeption des Dispositivs also nicht bloß um die zusätzliche Betrachtung nicht-diskursiver Praktiken – wie immer diese in der wissenschaftlichen Repräsentation aufzufassen sind. Ebenso wenig bezieht sich das Dispositiv primär auf die gegenseitige Beeinflussung von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Das Dispositiv besagt vielmehr, dass die beiden Be224 Vgl. auch Streit (1995: 375), der betont, dass Foucault nach dem Willen zum Wissen zu seiner ‚alten‘ Methode zurückkehrt. Owen (2003) wiederum zeigt, wie sich die Genealogie epistemologisch verorten lässt und zumindest in dieser Hinsicht keinen Bruch mit der Archäologie darstellt. 225 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 175. 226 Vgl. Agamben 2008: 11. 227 Agamben 2008: 23. 228 Vgl. auch Birkhan 2010a: Abs. 69.
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reiche ihren Wert im Verhältnis zum jeweils anderen Bereich bekommen. Gegenüber der Ordnung der Dinge wird damit explizit hervorgekehrt, dass Diskurse respektive die diskursive Ebene systematisch angesichts der nicht-diskursiven Praxis zu bestimmen sind.229 Einen wesentlichen Bruch stellt dieser unter dem Titel ‚Dispositiv‘ nun ausformulierte Gedanke allerdings bei Foucault nicht dar. Denn ein Ergebnis der Untersuchungen in Wahnsinn und Gesellschaft war ja, dass Wissenschaft sozial verschieden integriert sein kann, dass die Unvernunft in der Klassik nicht direkt mit bestimmten Institutionen verbunden war, die Geisteskrankheit (als Thema der Psychologie) jedoch sehr wohl. Und auch theoretisch-methodisch ist diese Integration des Diskurses bereits in der Archäologie des Wissens ausgedrückt. So bezieht sich nämlich die „Formation der Strategien“ auf die Funktion der wirklich getroffenen theoretischen Wahl eines Diskurses in einem Feld nicht-diskursiver Praktiken.230 Ebenso bedeutet der Begriff der Problematisierung keine grundsätzlichere Wende.231 Die Problematisierung lässt sich in Hinblick auf ihre Formen archäologisch analysieren, ihre Ausbildung von den Praktiken her genealogisch.232 An anderer Stelle wird die Verwandtschaft mit der Archäologie noch deutlicher, wenn Foucault erklärt: Problematisierung meint nicht, dass allein der Diskurs etwas erschafft, aber auch nicht, dass er etwas repräsentiert, sondern: „Die Gesamtheit der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken läßt etwas in das Spiel des Wahren und des Falschen eintreten und konstituiert es als Objekt für das Denken [...].“233
229 Vgl. auch Birkhan 2010a: Abs. 69. Wahrscheinlich ist es angesichts der mit dem Dispositiv-Konzept verbundenen Fokussierung auf Machtfragen auch begründet, wie Bussolini (2010: 92) zu sagen:„Foucault is at his most Nietzschean“. Dies soll aber die oben herausgearbeitete Verbindung mit der relationalen Logik des Strukturalismus und der Sprachkonzeption von Saussure nicht ausschließen. 230 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 94-102, bes. 99. Hier sei noch kurz bemerkt, dass die Dispositivanalyse nicht nur konzeptuell strukturalistische Züge trägt, sondern mit ihrer berühmten Differenzierung zwischen Allianz- und Sexualitätsdispositiv im Willen zum Wissen auch was die inhaltliche Orientierung betrifft sehr deutlich Bezüge zu Lévi-Strauss’ Blick auf gesellschaftliche Formationen in den Elementaren Strukturen der Verwandtschaft (1981) nahe legt. Damit soll nicht gesagt sein, dass Foucault mit Lévi-Strauss durchwegs übereinstimmt. Man kann vielmehr von einer kritischen Weiterarbeit sprechen – eine Thematik, die eine tiefere Untersuchung wert ist, hier aber nicht verfolgt werden kann. 231 Dies entspricht allerdings nicht Rabinow (2004b: 56f.), der die Problematisierung als eigenen Gegenstandsbereich und eigene Methode sieht. 232 Vgl. Gebrauch der Lüste und Techniken des Selbst [1983]: 667. 233 Die Sorge um die Wahrheit [1984]: 826.
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Eine Sicht wie die folgende von Saussure gilt für Foucaults Diskursebene daher nicht uneingeschränkt. Saussure sagt: „Nach unserer Ansicht ist das Studium der äußeren sprachlichen Erscheinungen sehr fruchtbar. Aber es ist falsch, zu behaupten, daß man ohne sie den inneren Organismus einer Sprache nicht kennen könne.“234
Bei Foucault hingegen sind diese ‚äußeren sprachlichen Erscheinungen‘ prinzipiell ein Teil seines Forschungsgebiets. Die Systematizität – nun auf alle kulturellen Ebenen bezogen – bleibt also bei Foucault durchgängig wichtig und wird nicht etwa der Genealogie geopfert, auch wenn im Unterschied zur archäologischen Fragerichtung Foucault das Dispositiv genealogisch sehr wohl als Antwort auf eine Dringlichkeit (urgence) sieht.235 Die damit aufgeworfene Frage nach der durch die Herkunft bestimmten Konsistenz wird im Zusammenhang mit Foucaults Konzeption von Veränderung im letzten Abschnitt des nächsten Kapitels genauer analysiert. An die soeben beschriebene Schwierigkeit, die Archäologie auf bestimmte Arbeiten von Foucault zu begrenzen, schließt eine zweite. Will man die Diskursformation (als regelmäßige Aussagenrelationen) und die Machtformation (als regelmäßige soziale Relationen) trennen, so muss man nicht nur ins Kalkül ziehen, dass Sprache, also Wissen (savoir) auf archäologischer Ebene notwendig strategisch und daher machtgeladen ist, sondern man ist auch damit konfrontiert, dass die produktive Macht wie Sprache funktioniert.236 So ist die Vereinzelung als Modus der Produktion des modernen Subjekts gemäß Foucault eines der wesentlichen Momente der Disziplinierung, das heißt der Operation bestimmter Machtformen.237 234 Saussure 2001: 26. 235 Vgl. z.B. auch Münker; Roesler 2000: 99. 236 Vgl. dazu etwa Was ist Kritik? [1978]: 33. Die von Sarasin (2009) gezeigte Ähnlichkeit des produktiven Prinzips bei Foucault und Darwin muss jedoch meines Erachtens nicht Foucaults völlige Abkehr von der Semiotik respektive der Beschäftigung mit Zeichensystemen implizieren (vgl. hingegen Sarasin 2009: 110f.). Denn es scheint gerade auch von Sarasins Ergebnissen aus gesehen interessant, Darwins Differenz- und Selektionskonzepte mit jenen von Saussure (und daran anschließend Foucault) zu vergleichen – dies würde auch hier Gemeinsamkeiten gegenüber der modernen Subjektphilosophie ins Licht rücken, die vielleicht überraschen. Besonders anregend ist in diesem Zusammenhang die Elaboration der Rolle von Zeichenprozessen in Darwins Theorie bei Sarasin (2009: z.B. kompakt 422f.). 237 Vgl. dies im Rahmen der Diskussion um Subjekt und Macht bei Stäheli (2000: 51)
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Zwar thematisiert Foucault erst nach der Ordnung des Diskurses produktive Machtformen explizit, aber dabei sind deutliche Anklänge an die Epistemologie der Archäologie des Wissens zu bemerken.238 Nicht nur die Rede von der Vereinzelung, auch Foucaults Erklärung zur Omnipräsenz dieser Macht wird solcherart verständlich: „Nicht weil sie alles umfaßt, sondern weil sie von überall kommt, ist die Macht überall.“239 Die grundlegende Signifikanz der Sprache verschwindet also in den Machtanalysen der ‚genealogischen Phase‘ nicht.240 Dies wird besonders deutlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie Foucault sein Machtkonzept 1976 darstellt: „Man sollte die Macht nicht ausgehend von den ursprünglichen Bezugsgliedern der Beziehung, sondern ausgehend von der Beziehung selbst untersuchen, insofern sie es ist, die die Elemente festlegt, auf die sie sich erstreckt [...].“241
Die Einführung dieser spezifischen Machtkonzeption durch Foucault, die zum Beispiel in der Sozial- und Kulturanthropologie so ungeheuer einflussreich geworden ist, kann man folglich epistemologisch mit Rekurs auf den Existenzmodus der Sprache, wie er prominent von Saussure formuliert wurde, einordnen. Und angesichts der Engführung zwischen Ethnologie und Archäologie bei Foucault lässt sich durchaus sagen, dass Foucault die Ethnologie im Rahmen seiner Diskurstheorie der 60er Jahre explizit thematisiert hat, während es sie in den 70er Jahren eher zur Anwendung bringt.242
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mit Beispielen. Stäheli (2000: 53) weist auch darauf hin, dass es Foucault in mehrfacher Hinsicht um die Zerstreuung von Einheit Gewährleistendem geht: „Genauso wie für Foucault der Kopf des Königs rollen muss, um eine Analyse von dezentralen und weitverzweigten Machtverhältnissen zu ermöglichen, muss es auch um den ‚Tod des Autors‘ als Einheitsgarant des Wissens gehen.“ Dies verschiebt den Blickwinkel gegenüber der überwiegend vertretenen Lesart. So rückt nicht nur etwa Lemke (1997: 33), sondern zeitweise auch Foucault selbst die Hinwendung zur Produktivität der Macht als zwischen der Ordnung des Diskurses und Überwachen und Strafen stattfindenden Perspektivenwechsel in den Vordergrund (vgl. Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere [1973]: 104f.). Der Wille zum Wissen [1976]: 114. Diese kapillarische Machtform bringt es natürlich mit sich, dass es nicht den einen großen Ort der Weigerung gibt. Siehe auch Birkhan 2010a: Abs. 70. Man muss die Gesellschaft verteidigen [1976]: 166. Damit folge ich einer Einschätzung, die Foucaults Macht und Ethik mit dessen ethnologischem Zugang verknüpft – solchermaßen formuliert von Ralf Rehberger (1995: 7) in seiner (unveröffentlichten) Magisterarbeit (siehe auch Einführung Fußnote 127).
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Dieses Kapitel sollte der begrifflichen Strukturierung des Diskurses von Foucault Rechnung tragen. Einleitend wurde zunächst skizziert, wie sich Foucault damit im Feld wissenschaftlicher Kontroversen vor allem gegenüber der Ideengeschichte verortet. Es geht um den theoretisch-methodologischen Zugang einer Wissensgeschichte, deren Begriffe es ermöglichen sollen, die Existenz von Wissen – also sein Auftauchen, seine Regelmäßigkeit, seine Veränderungen und seinen Konnex mit anderen kulturellen Bereichen – von den Bedingungen, welche die Moderne hier stellte, zu lösen. Da Foucault mit der Ebene diskursiver Praxis sowohl wissenschaftliche also auch außerwissenschaftliche Regelmäßigkeiten anspricht, ist sein Ansatz besonders für eine Disziplin wie die Anthropologie interessant, wo diese Unterscheidung häufig zur Diskussion steht. Im ersten Abschnitt wurde das in der Archäologie des Wissens ausgearbeitete Begriffsinstrumentarium präsentiert. Foucault wollte mit dieser Methodenreflexion den früheren Büchern zum Teil unsystematisch zugrunde liegende Konzeptionen herauskristallisieren. Durch meine Analyse erweist sich, dass dieses Vorhaben von Revisionen der Moderne, die der Ethnologie in der Ordnung der Dinge entsprechen, getragen ist. Zentraler Ausgangspunkt bei Foucault ist der Begriff der Diskontinuität. Dadurch stützt sich seine Methode weiterhin auf die Produktivität des auf die Grenze gerichteten Blicks. Dies erlaubt es, der für die westliche Moderne charakteristischen Synthese zu entgehen. Und so löst die Archäologie ein, was Foucault als wichtigstes subversives Potential der Ethnologie benannte, nämlich die Distanzierung der Kontinuität des historischen Subjekts der Moderne. Foucault eröffnet damit die Infragestellung der Auffassung von Sätzen beziehungsweise Diskursen, die wesentlich auf ein Aussagesubjekt verweisen und einen Referenten haben. Das Subjekt wird eine Möglichkeit der Äußerungsmodalität, der Referent eine Möglichkeit des Referentials. Die Begriffe zeigen sich als Strukturierungsinstrumente und nicht als Repräsentationen des subjektiven oder objektiven Raumes. Deshalb ist ihre paradigmatische theoretische Wahl auch als Faktor im nicht-diskursiven Kontext zu sehen. Der Blick auf die Aussagefunktion soll stets von den herkömmlichen Konzeptionen Abstand gewinnen und eine Ebene freilegen, wo diese gebildet werden – daher die Rede von einem historischen Apriori. Die Regularitäten von Aussagen und Diskursen sowie interdiskursive Konfigurationen fassen den Bereich des Wissens als Positivitäten und Interpositivitäten ins Auge – mit dem Ziel, sich letztlich von den eigenen Voraussetzungen über den Vergleich zu distanzieren. Tragender Gedanke ist also die Definition unterschiedlicher Standorte, und zwar insbesondere auch des eigenen, durch die Äußerlichkeiten, den äußeren Rahmen der Nachbarschaften.
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In Hinblick auf die deutlichen Bezüge zum Strukturalismus auch in den Arbeiten nach der Ordnung der Dinge kann nicht unbedingt unterschrieben werden, dass „von einer [...] Sympathie in der Archäologie des Wissens keine Rede mehr sein kann“243. Im Gegenteil: Wie schon das Eingangszitat des Kapitels zum Ausdruck bringt, ist es Aufgabe von Foucaults Archäologie, nichts der Kritik des Strukturalismus vorzuenthalten – allerdings gilt dies auch für den strukturalen Diskurs selbst. Er soll nicht den blinden Fleck bilden, der erlauben würde, das Werden des Strukturalismus nun der Subjektivität und Transzendenz zu übergeben, nach seinem Ursprung, dem teleologischen Horizont, der zeitlichen Kontinuität zu fragen. Die Archäologie soll es möglich machen, auch den strukturalen Diskurs selbst zu regionalisieren, und zwar mittels eines vom Strukturalismus ausgehenden Ansatzes.244 Distanziert sich Foucault also vom Strukturalismus? Natürlich setzt er in der Archäologie des Wissens auf eine reflexive Distanz. Angesichts der Ergebnisse dieses Kapitels ist aber eher davon zu sprechen, dass Foucault den Strukturalismus umorientiert und erweitert. Der zweite Abschnitt kehrt dementsprechend hervor, wie Foucault mit Blick auf die Paroles in Richtung einer Ökonomie der Kapitalisierung diskursiver Produktion und infolgedessen ihrer Politisierung arbeitet. Für die Formation von Aussagen zu Diskursen, also die Etablierung von Regelmäßigkeiten im Existenzmodus der Diskontinuität, ist entscheidend, dass Aussagen beschränkt und selektioniert werden, also die Seltenheit von Aussagen und dass sich umgekehrt diese wenigen Aussagen wiederholen, ähnliche Aussagen sich häufen, sich akkumulieren. Ihr Wert ergibt sich dabei über die Stellung im differentiellen Kontext. Foucault macht die Logik, welche zwischen all den zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Langue245 und dem tatsächlichen Sprechen, den Paroles, operiert, zum Thema und identifiziert sie als Objekt der Archäologie. In der Archäologie geht es um das Ergebnis der Strukturierung gemäß der „Sprache, die ihrer Wesenheit nach sozial und unabhängig vom Individuum ist“246, aber auch um den Vorgang der Äußerung selbst, das heißt die Art und Weise, wie jeweils die individuellen Paroles formiert werden. In gewisser Hinsicht könnte man hier noch die Dichotomie von Saussure vermuten, wonach die Erforschung der menschlichen Rede zwei Teile in sich begreift: die Sprache, sozial und unabhängig vom Individuum, und das Sprechen als individuellen Teil
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Biebricher 2005: 40. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 286ff. Vgl. Saussure 2001: 198. Vgl. Saussure 2001: 22.
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der menschlichen Rede.247 Andererseits liegt aber gerade in dieser Gegenüberstellung von Saussure der Punkt, an dem Foucault mit seiner archäologischen Ebene interveniert. Diese Ebene kommt schon deshalb bei Saussure gar nicht vor, weil er das Sprechen (Parole) aus der Sprachwissenschaft (der Langue gewidmet) ausklammern will. Und er übergeht diese Ebene sogar direkt: „Ein Wort, das ich improvisiere, [...] besteht in der Sprache schon als Möglichkeit; [...] seine Verwirklichung im Sprechen ist im Vergleich zu der Möglichkeit, es zu bilden, eine bedeutungslose Tatsache.“248 Dahinter steht, dass Saussure die individuelle Kreativität im Sprechen gegenüber den produktiven Vorgaben der Sprache zurückstellt. Er exkludiert damit aber auch andere soziale Regelmäßigkeiten, die in den Paroles zu finden wären. Saussure sagt: „[B]eim Sprechen [ist] nichts kollektiv“249. Foucault hingegen will Regularitäten des Sprechens erarbeiten. Daher führt meine Analyse zu der Feststellung, dass Foucault in Ergänzung zum strukturalistischen Bezug auf die Langue eine Wissenschaft von der Parole entwirft. Wenn der Diskurs nun in der Regelmäßigkeit der Formation der Aussagen besteht, schließt dies nicht aus, dass sich die Regulation der Paroles und der Stellenwert der Paroles erst über den Kontext nicht-diskursiver Praktiken umfassend bestimmen lassen. Diesen Umstand hat Foucault dann im Begriff des Dispositivs explizit angesprochen. Wie der dritte Abschnitt demonstriert, siedelt Foucault tatsächlich die archäologische Gegenstandsebene nicht nur im diskursiven Bereich des gesprochenen oder geschriebenen Wortes an, sondern auch im Bereich der sozialen Praxis. Es geht Foucault, wie man mit Rückgriff auf Saussure konkretisieren könnte, insofern um die Strukturierungen der Langage, als er den paradigmatischen Vorrang der Sprache für die Analyse anerkennt, aber seine Forschungen in den (semiologischen) Bereich der relationalen Verhältnisse auf allen kulturellen Ebenen und zwischen diesen Ebenen stellt. Die Kritik an der modernen Historizität und der Begriff der Diskontinuität als zentrale Angelpunkte der Archäologie des Wissens beweisen Foucaults Bindung an die Ethnologie, wie er sie in der Ordnung der Dinge entworfen hat. Zugleich nennt Foucault am Ende der Ordnung der Dinge die Linguistik, respektive Sprachtheorie als Basis einer neuen, von der Moderne emanzipierten Wissenschaft. Und meine Überlegungen im letzten Abschnitt des vorigen, vierten
247 Vgl. Saussure 2001: 22. 248 Saussure 2001: 198. 249 Saussure 2001: 23.
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Kapitels zeigen die logische Notwendigkeit des Rekurses auf die Sprachtheorie bei Foucault. Angesichts dessen wird die theoretisch-methodische Ausarbeitung des ethnologischen Blicks von Foucault in der Archäologie des Wissens besonders unter Bezugnahme auf die Linguistik nachvollziehbar – eine Linguistik, mit der Foucaults Ansatz einerseits tief gehende Gemeinsamkeiten hat, der gegenüber sich aber zugleich der innovative Stellenwert von Foucaults Zugang präzisieren lässt. Es wäre somit zu argumentieren, dass Foucault eine Semiologie sehr eng entlang Saussures Richtschnur erstellt hat und sich dies nicht zuletzt im Begriff des Dispositivs ausdrückt, dass aber andererseits ein Perspektivenwechsel von der Sprache als Grund unendlicher Möglichkeiten zu ihrer restriktiven Funktion in der Verwirklichung vorgenommen wurde. Dies bedeutet, den diskursiven wie nicht-diskursiven Bereich als Praxis zu verstehen, und es impliziert Machtbeziehungen. In diesem Zusammenhang ist zudem zu beobachten, dass Foucault seine spezifische Machtanalyse in markanter Engführung zu den aufgewiesenen Prinzipien diskursiver Formation formuliert. Im Verlauf der Untersuchung wurde wiederholt die Frage angesprochen, inwiefern Foucault den hier präsentierten Zugang in späteren Texten beibehalten hat. Und dabei bildet die ethnologische Verortung des Blicks als produktive Grenzziehung gegenüber der Moderne eine grundlegende Orientierung in Foucaults kritischem Vorhaben, das – wie er am Ende seines Lebens in der Einleitung zum Gebrauch der Lüste formuliert –, darin besteht zu erkunden, was im eigenen Denken verändert werden kann. Im Folgenden werden strategische Aspekte dieser kritischen Positionierung von Foucault im Kontext der Moderne ausgelotet. In direktem Anschluss an die Analyse der theoretisch-methodischen Konzeption der Begrifflichkeiten setzt das nächste Kapitel mit einer expliziteren Darstellung der basalen Denkoperation in Foucaults wissenschaftlichen Texten ein, denn dies ist Ausgangspunkt sowohl seiner Kritik als auch wichtiger Kritiken an seinen Arbeiten.
Strategie der ethnologischen Veränderung
Nachdem der erste Teil den Schritt der Distanzierung nachgezeichnet hat, mit dem sich Foucault von Unterstellungen der Moderne, die zum Teil noch Wahnsinn und Gesellschaft prägten, lösen wollte und im Zuge dessen seine Arbeit mit einer Ethnologie verband, die dann in der Ordnung der Dinge durch Explikation ihrer Abstoßungsfläche herauskristallisiert wurde, ist der zweite Teil der Exploration dessen gewidmet, was Foucault der Moderne als Kritik entgegensetzt. Hier beschäftigte sich die Analyse zunächst mit der Formation des Gegenstandes im Diskurs von Foucault. Anschließend stand das Begriffsinstrumentarium der diskursiven Praxis zur Diskussion. Jetzt sollen diese Definitionen einer paradigmatischen Gegenwissenschaft ihren operativen Wert im Kontext der Moderne beweisen. Das heißt, es wird nun im sechsten Kapitel darum gehen, die Wirkungen der Ethnologie gemäß Foucaults Ansatz auszuloten und somit der strategischen Wahl dieses Diskurses auf die Spur zu kommen. Die Thematik lautet dabei weiterhin: das Andere und das Gleiche, Vielfalt und Identität. Und die Frage ist, in welcher Form kulturelle Diversität gedacht wird, welchen Stellenwert sie in der Kritik hat, wo sie auftaucht und wo sie verschwindet und wie sie sich kritisch verändert. Die philosophische Sekundärliteratur formuliert in Bezug auf Foucaults Einsatz der Ethnologie ihre Bedenken, ihre Verwunderung und auch Bewunderung immer wieder davon ausgehend, dass diese Methode für die Erforschung fremder, unbekannter Gesellschaften entwickelt worden sei – und dass sie infolgedessen nur artifiziell auf die Analyse einer Gesellschaft anwendbar wäre, die die eigene ist. Denn die Aufgabe der Ethnologie sei es prinzipiell, „die ihr fremde Kultur einer archaischen Zivilisation zu untersuchen [...], [...] die Unterschiede in den kulturspezifischen Wirklichkeitsauffassungen [zu] überbrücken“1. Wie die vorliegende Arbeit zeigen soll, wird bei einer solchen Einschätzung allerdings 1
Honneth 1989: 125, vgl. auch 124.
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der Kern von Foucaults Methode, die Logik der Herangehens- und Vorgangsweise seiner Denkbewegung übergangen. Dem sind die nächsten Überlegungen gewidmet. In den darauf folgenden sechs Abschnitten wird dann eingehender zu analysieren sein, inwiefern Foucaults Blick gerade auf die Moderne gerichtet – wenn sie Definition des ‚Eigenen‘ ist – sein Betätigungsfeld findet.
E PISTEMOLOGIE
DER
D IVERSIFIKATION
Mit der zentralen Rolle der Diskontinuität in der Archäologie des Wissens wurde deutlich, dass Vielfältigkeit und Vervielfältigung die Grundlage für Foucaults Arbeiten ist. Dieser Blickwinkel ergibt sich aus einer in der Ordnung der Dinge spürbaren Ablehnung der für die Moderne typischen aneignenden Integration des Anderen, aus der Dekonstruktion der Geschichte oder der Dezentrierung von Macht und Widerstand sowie der Differenzierung wesentlicher Identitäten, also der Auflösung des Subjekts und dessen Regionalisierung angesichts möglicher Technologien des Selbst. Und hierbei bezieht sich Foucault auf die Ethnologie (und die Psychoanalyse) denn: „In keinem Augenblick zielen sie darauf ab, das einzukreisen, was es an [...] Irreduziblem an ihm [dem Menschen] geben könnte, was überall, wo er der Erfahrung gegeben ist, an einförmig Gültigem vorhanden ist.“2
Seine Multiplizität stellt nicht die in der Philosophie – und im Übrigen auch der Sozial- und Kulturanthropologie – oft zentrale Frage nach der Einheit des Vielen, sondern bezieht sich prinzipiell auf Diversität. Eine ständige Erforschung des Anderen, der Grenzen spezifischer kultureller Formationen ist auch in Foucaults Kritik tief verankert. Es geht in seinen gesellschaftspolitischen Diagnosen häufig um Grenzziehungen, die Teile der Gesellschaft wie etwa im Fall des Wahnsinns oder des Orients aus- und einschließen, aber Foucault denkt natürlich auch an diachrone Abgrenzungen von Kulturen beziehungsweise Zivilisationen. Im Unterfangen von Foucault, die Kultur in ihren Differenzen wahrzunehmen, sie aber auch immer für Veränderungen offen zu halten, spielen die über den Vergleich generierten Unterschiede folglich eine wichtige Rolle. Dies wirft sogleich eine methodische Frage für seine Kritik auf. Denn um die kulturspezifische Position eines Bereichs feststellen und dann vergleichen zu können, müsste
2
Die Ordnung der Dinge [1966]: 453.
STRATEGIE DER ETHNOLOGISCHEN V ERÄNDERUNG | 231
seine Ethnologie vielleicht zunächst vergleichbare Einheiten identifizieren.3 An die radikale Konsequenz der Archäologie erinnernd, formuliert Quadflieg diese Problematik: „Gewissermaßen stellt Foucault damit [mit der Archäologie] die gesamte ideengeschichtliche Betrachtungsweise auf den Kopf: Untersucht wird nicht mehr der historische Wandel, dem die Vorstellungen über eine gleichbleibende Welt unterworfen sind, sondern in welcher Weise eine diskursive Anordnung von Aussagen eine bestimmte Erfahrung von Welt vorschreibt. Für den Archäologen bedeutet das: Er kann vorläufig gar nicht wissen, auf welches Objekt sich eine Aussage bezieht, weil die Erfahrung der Objektivität je nach epistemologischem Feld variiert. [...] Insofern steht die Archäologie einem noch völlig unbestimmten Feld von Aussagen gegenüber [...]. Wie aber läßt sich ohne Rückgriff auf einen bereits vorausgesetzten Gegenstandsbereich die Bedeutung von solchen verstreuten Aussagen feststellen?“4
Quadflieg sieht eine (mit dem Spätwerk Wittgensteins, wie er schreibt, vergleichbare) Lösung darin, die Bedeutung eines Wortes zu bestimmen, „indem man die Regeln seiner tatsächlichen Anwendung beschreibt“5. Obwohl dies sicherlich ein wichtiger Aspekt des theoretisch-methodischen Zugangs bei Foucault ist, klärt es noch nicht die Frage, worauf sich die Analyse zunächst stützt beziehungsweise bezieht, um überhaupt ansetzen zu können. Alle herkömmlichen Identifikationskriterien versagen. Foucaults Archäologie ist dezidiert dagegen gerichtet, Kohäsionsprinzipien zu suchen, und er verwirft Mechanismen der Kohärenz, die zeigen, „daß die unmittelbar sichtbaren Widersprüche nichts weiter als ein Schillern der Oberfläche sind“6. Die Geschichte soll ja bei Foucault nicht kontinuierliche Entfaltung eines kollektiven Subjekts sein. Um aber Transformationen zu beschreiben, muss man zumindest für Teilbereiche wissen, zwischen welchen Elementen sie stattgefunden haben sollen. Nicht nur ein gemeinsamer Referent, auch ein den Auffassungen zugrunde liegender allgemeiner Begriff kann nicht als Basis des Vergleichs herangezogen werden, da Foucault ja diese Ebenen grundsätzlich ausklammert. Biebricher macht hier eine konzeptionell basale Schwachstelle in Foucaults Argumentation aus:
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Dieses Problem wird in der Archäologie des Wissens mehrfach kurz angesprochen (vgl. u.a. Archäologie des Wissens [1969]: 45, 49ff. bes. 57 und 213ff.). Quadflieg 2006: 23. Quadflieg 2006: 23. Archäologie des Wissens [1969]: 215.
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„Die fehlende Beachtung der Selbst-Referentialität jener Prämissen [der radikalen Historisierung von Erkenntnis] führt dann [...] dazu, dass Foucault entgegen seiner kontextualistischen Ansichten scheinbar problemlos in fremde episteme und Diskurse eintaucht und sogar mit der Diskursanalyse überzeitliche Wahrheitsansprüche erhebt, ohne die Eingebundenheit des eigenen Standpunktes in episteme und Diskurse mit in Betracht zu ziehen.“7
Ähnlich fasst auch Frietsch Foucaults Zugang zum Anderen auf und zieht daraus den Schluss: „Die Empathie, die er dabei praktiziert, um sich in einen Zustand der Simultaneität mit dem untersuchten Zeitraum zu versetzen, zeigt an, daß ‚erkennen‘ nicht mehr zwangsläufig ‚unterscheiden‘ heißt.“8
Schäfer wiederum spricht davon, dass Foucaults methodisches Prinzip sei, „statt von Universalitäten und Identitäten zunächst von Partikularitäten und Differenzen auszugehen“9. Ebenso stellt Lemke Foucault einleitend als jemanden vor, „für den die Feststellung von Brüchen immer nur der Ausgangspunkt von Untersuchungen und nicht ihr Endpunkt war“10. Diese Einschätzungen sind in mehrfacher Hinsicht Gabelungspunkt für eine an zentralen Prämissen des Strukturalismus orientierte Sichtweise. Demnach lässt sich nämlich Foucaults Vorgangsweise prinzipiell folgendermaßen explizieren: Vom Gleichen ausgehend arbeitet er daran, sich zu entfernen. Hier zeigt sich wiederum ein fundamentaler Unterschied zu Kant und dem von ihm angesetzten Apriori, wenn für Kants Kritik gesagt werden kann: „Denn das, was der Mensch per Sinneseindruck empfängt, ist vollkommen ungeordnet und wird erst im Akt der Synthesis durch die apriorischen Strukturen, die die Kritik offenlegt, erkennbar. Deshalb ist jegliche Art von Erkenntnis, d.h. auch die erfahrungswissenschaftliche – einschließlich der Anthropologie –, an die Kritik gebunden.“11
Damit kommt die Rolle der Sprachlichkeit bei Foucault ein weiteres Mal zum Zug: statt ‚Synthesis‘ ist bei Foucault ‚Differenzierung‘, ‚Analyse‘ zu setzen. Kants Frage nach der „Einheit des Mannigfaltigen“12 ist ein zentrales Moment der von Foucault kritisierten Einholung des Anderen ins Eigene. Man könnte
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Biebricher 2005: 57. Frietsch 2002: 128. Schäfer etwa 1995: 59. Lemke 1997: 29. Hemminger (2004: 60) über die Kritik bei Kant. So bei Hemminger (2004: 81) explizit genannt.
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folglich für die Archäologie als Kritik formulieren, dass sie eine Differenzierung von Kants Kritik mittels Strukturalismus ist. Dieser grundlegende Differenzierungsvorgang ist eine der wichtigsten Distanzierungen von der Moderne. Er trennt Foucault indessen auch von einem Teil der Postmoderne, etwa in der Sozial- und Kulturanthropologie, sowie von dialogisch ausgerichteten Ansätzen, wie zum Beispiel jenen in der interkulturellen Philosophie – somit also von Forschungsrichtungen, in denen Foucault eine gewisse Rolle spielt.13 Foucaults Operation ist direkt gegen die Voraussetzung des Subjekts gerichtet. Und er verwendet sie auch in den Machtanalysen als durchaus gesellschaftsrelevantes Prinzip, das er als exaktes Gegenteil von Hobbes’ Ansatz und der juridischen Souveränitätsmacht bezeichnet. Diese bringen das Problem zum Ausdruck, „wie ausgehend von der Vielfalt der Individuen und der Willen sich ein einziger Wille und ein einziger Körper bilden kann, doch belebt durch eine Seele, welche die Souveränität wäre.“14 Der Leviathan ist „die Zusammenballung einer gewissen Anzahl getrennter Individualitäten“15. Dem hält Foucault als seine Perspektive entgegen: „Man darf also meines Erachtens nicht das Individuum als eine Art Elementarkern, Uratom, vielfältige und stumme Materie begreifen, worauf alsdann die Macht angewendet bzw. wogegen die Macht zum Schlag ausholen würde [...]. In Wirklichkeit ist das, was bewirkt, dass ein Körper, dass Gesten, Diskurse und Begierden als Individuen identifiziert [...] werden, genau eine der ersten Wirkungen der Macht [...].“16 „[Daher ist zu untersuchen, wie sich] die Subjekte konstituiert haben; es gilt, die materielle Instanz der Unterwerfung als Konstitution der Subjekte zu erfassen.“17
Das für Foucaults Arbeiten ausschlaggebende Prozedere des Vergleichs wird konsequent von dieser Umkehr des Erkenntnisgangs bestimmt: „Der archäologische Vergleich hat keine vereinheitlichende, sondern eine vervielfachende Wirkung.“18 Diese Denkbewegung – explizit ausgearbeitet in den epistemologischen Schriften – bildet eine von Foucault nie revidierte Voraussetzung seiner Ergebnisgenerierung. Bereits in Wahnsinn und Gesellschaft wurde ein entsprechender Gedanke wichtig, denn hier betont Foucault, dass nicht primär ein Phänomen selbst sich 13 14 15 16 17 18
Vgl. z.B. Kimmerle (Hg.) 1996. Vorlesung vom 14. Januar 1976 [1976]: 237. Vorlesung vom 14. Januar 1976 [1976]: 237. Vorlesung vom 14. Januar 1976 [1976]: 238. Vorlesung vom 14. Januar 1976 [1976]: 237. Archäologie des Wissens [1969]: 228.
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verändert, als vielmehr sein Kontext, dass etwas (der Wahnsinn als Krankheit) „auf einem anderen Hintergrund perzipier[t]“19 wird. Genauso beschreibt Foucault zuletzt im Gebrauch der Lüste die Differenzierung von zunächst ident oder ähnlich Scheinendem durch Kontextualisierung.20 Auch die als Aufgabe seiner Philosophie bezeichnete kritische Diagnose charakterisiert er als eine Form der Erkenntnis, die Unterschiede abgrenzt und bestimmt.21 Und für die Genealogie gilt, wie Foucault in Nietzsche, die Genealogie, die Historie angibt: „Die Historie wird in dem Maße ‚wirklich‘ sein, wie sie das Diskontinuierliche in unser Sein einführt“; die ‚wirkliche Historie‘ soll „Streuung und Unterschiede [entfalten]“.22 Dieser Erkenntnisgang leitet ebenfalls Foucaults ‚Geschichte der Gegenwart‘, wo er von einem Problem, wie es sich heute stellt, ausgeht und dann dessen Genealogie erarbeitet.23 So meint Foucault: „Ohne Zweifel habe ich ausgehend von der aktuellen Existenz eines als Psychopathologie bezeichneten Diskurses [...] die Untersuchung der Geschichte des Wahnsinns begonnen [...].“24 Castel sieht in einem solchen Prozedere unter anderem die Gefahr des Ethnozentrismus, da der Blick von eigenen Interessen bestimmt sei.25 Dies gilt zwar a prima vista, jedoch zielt Foucaults Heuristik darauf, diese Beschränktheit im Laufe der Forschung durch Vervielfältigung zu relativieren – wie seine Warnung, eine Realität nicht zurückzuprojizieren, schon impliziert.26 In der Archäologie des Wissens heißt es: „Bei einer ersten Annäherung muß man eine provisorische Zerteilung in Kauf nehmen: Ein anfängliches Gebiet, das bei der Analyse umgestoßen und, wenn nötig, neu organisiert wird.“27
Foucault geht zum Beispiel von der Positivität des Menschen der Moderne aus, sucht ihn in der Klassik und findet stattdessen, sozusagen an dessen Stelle, die Repräsentation. Das Problem scheint gelöst, da es Foucault darum geht, die Differenz herauszuarbeiten. Denn Widersprüche „sind Gegenstände, die um ihrer
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Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 100. Vgl. Der Gebrauch der Lüste [1984]: 31. Vgl. Die Probleme der Kultur [1972]: 461f. Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971]: 180, 182. Vgl. auch Castel 1994: 238. Über die Archäologie der Wissenschaften. Antwort auf den Cercle d’épistémologie [1968]: 917. 25 Vgl. Castel 1994: 239ff. 26 Vgl. Der Gebrauch der Lüste [1984]: 9 sowie z.B. 212. 27 Archäologie des Wissens [1969]: 45f.
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selbst willen beschrieben werden müssen, ohne dass man untersucht, von welchem Gesichtspunkt aus sie sich auflösen können“28. Aber was heißt ‚an dessen Stelle‘? Wie weiß Foucault, an welcher Stelle er in der Klassik seine Entfaltung der Unterschiede verorten muss? Hier zeigt sich nun, dass Foucault das Problem für die Differenzierung eines Aspekts löst, indem er im Grundsätzlicheren noch Gleiches voraussetzt. So geht er etwa in der Ordnung der Dinge auf bestimmte Funktionen zurück. Die oben als Foucaults kulturtheoretischer Hintergrund angesprochenen „biologischen Funktionen“ und ihre Normalisierung, die durch Regeln bestimmten „Tausch-, Produktions- und Konsumtionsformen“ und die nach den oder um die „linguistischen Strukturen“ gebildeten Systeme29 können dann natürlich sehr verschieden formiert sein – Abzweigungen der Alternativen, die den Gegenstand der Archäologie bilden. Obwohl sich an diesen Funktionen, wie ich oben argumentiert habe, Foucaults momentane Realitätsunterstellungen zeigen, ist anzunehmen, dass auch sie immer nur Vergleichsbasis sind, bis Foucault ihr Fehlen feststellt und dann von einer anderen – vorläufig noch ‚globalen‘ – Identität ausgehend das Spiel der Differenzierung auch hier fortsetzt. In der Anthropologie lässt dies an die Argumentation von Strathern denken, wo das Globale das noch Undifferenzierte ist oder sein sollte, das angesichts der differenzierenden Lokalisierung immer zurückweicht.30 Aufgrund solcher Parallelen ist umso mehr nachzuvollziehen, dass Foucault 1970 erklärt: „Ich habe also lediglich eine Methode angewendet, die in der Ethnologie bereits bekannt war.“31 Die Archäologie des Wissens beschreibt den Vorgang der Differenzierung auf verschiedenen Ebenen: im Auftreten der Aussage selbst, dann die Differenzierungen innerhalb der Diskurse (durch die Formation von Gegenständen, Äußerungsmodalitäten, Begriffen, strategischer Wahl), Ableitungen innerhalb der Positivität und Differenzierungen auf der Ebene der diskursiven Formation – die zentrale Thematik der Archäologie.32 Aber auch die Widersprüche selbst diffe-
28 Archäologie des Wissens [1969]: 216. Als ein direktes Ergebnis dieses Prozesses wäre folglich Die Geburt der Klinik zu beschreiben. Denn was zunächst wie ein Nachwort zu Wahnsinn und Gesellschaft aussieht, ergibt sich, wenn ausgehend vom Wahnsinn in seiner modernen Erfahrung als Geisteskrankheit festgestellt wird, dass in der Klassik diese Kongruenz nicht zu sehen ist, und daher Wahnsinn einerseits und die Medizin andererseits zu spezifizieren sind. 29 Die Ordnung der Dinge [1966]: 451f. 30 Vgl. Strathern 1996. 31 So Foucault in dem Vortrag mit dem Titel Wahnsinn und Gesellschaft ([1970]: 157). 32 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 243f.
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renziert Foucault: äußere Widersprüche stellen zwischen diskursiven Formationen eine Beziehung her; abgeleitete terminale Widersprüche in den Verästelungen des Diskurses, die das Aussagesystem selbst nicht tangieren; während den Gegenstand der Archäologie vor allem die inneren Widersprüche, die immanenten Gegensätze einer diskursiven Formation ausmachen.33 Sie können innerhalb des Diskurses die verschiedenen Ebenen betreffen: es kann Nichtübereinstimmungen auf der Ebene der Gegenstände geben, Divergenzen der Aussagemodalitäten, Inkompatibilitäten der Begriffe sowie Ausschlüsse im Feld der theoretischen Wahl.34 Auch die Funktion der Gegensätze, also die Rolle, die sie spielen, kann unterschiedlich sein: Sie können eine Dynamik additioneller Entwicklung implizieren, eine Neuorganisation bewirken oder eine kritische Funktion haben, die Existenz und Akzeptabilität des Diskurses aufs Spiel setzt.35 Exemplarisch lässt sich dieser grundlegende Aspekt der Ethnologie von Foucault nochmals mit Bezug auf einen Vortrag von 1970 nachzeichnen.36 Foucault knüpft seine Methode wiederum explizit an die (strukturale) Ethnologie und nennt Lévi-Strauss, um ihn und sich von anderen Zugängen – wie etwa Durkheim – abzuheben. Und auch hier ist es die Art des Funktionierens der Grenze, auf die sich Foucault bezieht. Die unterschiedlichen Zugangsweisen bezeichnet er als Interesse für die positiven Phänomene, für die positive Struktur der Gesellschaft einerseits und als Analyse der negativen Struktur andererseits. Durkheims Frage wäre gewesen: Welches Wertesystem beanspruchte Geltung, sodass etwa der Inzest abgelehnt wurde. Die Frage der strukturalen Ethnologie, unter deren Dach sich Foucault stellt, ist hier: Wie verläuft die Grenzziehung zwischen positiven Werten und Inzest. Wie man aus dieser Explikation schließen kann, liegt der Unterschied und der Grund für Foucaults Distanzierung vom Interesse für die ‚positive Struktur der Gesellschaft‘ darin, dass dabei das Ausgeschlossene angesichts der positiven Werte einer Gesellschaft – selbst wenn diese an sich kontingent und kritisierbar sind – nicht kontingent ist, sondern auf Basis seines Seins ausgeschlossen wird. Der Ausschluss bezieht sich also auf eine substantielle, ahistorisch, überkulturell bestehende Entität. Dies entspricht in Foucaults eigenem Forschungsgebiet der Frage, wie mit den Wahnsinnigen oder Kranken jeweils kulturell verfahren wird – ob beispielsweise der Schamanismus zeigt, wie Wahnsinnige in einer Gesellschaft mit anderen Werten integriert, situiert sein können. Wenn auch in Wahnsinn und Gesellschaft Foucaults eigene Positi-
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Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 218ff. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 220f. Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 221f. Vgl. den Vortrag Wahnsinn und Gesellschaft [1978]: 609-611 (gehalten 1970).
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on noch nicht ganz geklärt war, dann verabschiedet er jedenfalls spätestens mit der Ordnung der Dinge und der Rolle, welche hier die Ethnologie spielt, diese Denkrichtung definitiv. Er sagt dazu in der Archäologie des Wissens: „[Es handelt] sich nicht darum, den Diskurs zu interpretieren, um durch ihn hindurch eine Geschichte des Referenten zu zeichnen. In dem gewählten Beispiel will man nicht wissen, wer zu jener Zeit wahnsinnig gewesen ist, worin sein Wahnsinn bestand, oder ob seine Verwirrungen wohl dieselben waren, die uns heute bekannt sind. Man fragt sich nicht, ob die Zauberer verkannte und verfolgte Wahnsinnige waren, oder ob zu einem anderen Zeitpunkt eine mystische oder ästhetische Erfahrung nicht zu unrecht verarztet wurde.“37
Nun stützt Foucault sich auf ein Denken, das durchgängig relativiert und jede Existenz in ihrer Differenzierung erfasst: ein Ansatz, den er – ob zu recht oder zu unrecht – der Ethnologie zuspricht. Seine eigene Methode sieht er als Übertragung oder vielleicht auch Ausarbeitung dieses Ansatzes für das Gebiet der Geistesgeschichte respektive der Denksysteme, wie Foucault später formuliert. Der Gedanke, durch Differenzierung Positivität zu erreichen, verbindet also Foucaults Strukturalismus mit der Klassik und, wie angesichts der zentralen Rolle der Linguistik deutlich wurde, mit Saussure. Dabei geht aber das Allgemeine, das Gemeinsame nicht verloren, denn erst ausgehend von Gleichheit wird die immer wieder neue produktive Differenzierung und Feststellung von verschiedenen Alteritäten möglich. Allerdings ist prinzipiell vorgesehen, dass bei jedem Erkenntnisschritt ein Allgemeines sich als spezifisch erweisen kann (und zugleich ein neues, wieder der Kritik durch Spezifikation offenes Allgemeines gesetzt wird). Dieser an der Differenz und Zerstreuung interessierte Blick vermittelt dann die Geschichte in einer Mannigfaltigkeit, die die beabsichtigte Relativierung und Denaturalisierung bewirken kann. Denn damit sind Foucaults Differenzen und Positivitäten nicht ‚wesentlich‘, sondern sowohl in der ethnologischen Gegenwissenschaft, wie auch als grundsätzlicher kultureller Prozess stets konstituiert und zu konstituieren. Immer nur vorläufige Einheiten zerfallen unter diesem Blick in kontingente und auf der Ebene ihrer Differenzen notwendig inkommensurable Bruchstücke. Welche Implikationen aber hat die aufgewiesene Heterogenität für die Beziehung zwischen solchermaßen unterschiedenen kulturellen Einheiten? Welchen Stellenwert können die so gezogenen Grenzen haben? Im Folgenden sollen einige wichtige Konsequenzen herausgearbeitet werden – auch wenn Tragweite und Auswirkungen der oben dargestellten, immer noch revolutionären Denkbewegung damit sicher nicht umfassend ausgelotet sind. 37 Archäologie des Wissens [1969]: 71.
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D ER S TELLENWERT
DER
ANDEREN
BEI
H ABERMAS
Aus Foucaults Schriften ergibt sich, wie besonders der vorige Abschnitt nahe legt, eine grundsätzliche Betonung der Differenz und der Fragmentierung. Die Darstellung des Fortgangs der eigenen Kultur wird so zum partikularisierenden Kulturvergleich mit dem Ziel, für den eigenen Blick Veränderungen zu ermöglichen. Obwohl Foucaults Sicht prinzipiell in jede Richtung offen ist und auch auffordert, Isomorpheme oder die Verbindungen in Serien zu thematisieren, ist die dezentrierende und aufbrechende Seite Basis seiner Methode. Die zur Auflösung des früheren synthetischen Verfahrens und Identitätsstrebens eingeführten Begriffe wie Brüchigkeit, Mannigfaltigkeit, Multiplizität und Vielschichtigkeit, allen voran der Diskontinuitätsbegriff selbst, beinhalten neben dem Anreiz, Unterschiede und Heterogenität aufzuweisen, die Frage, wie damit produktiv umzugehen ist. Als kulturtheoretische Problematik könnte dies in Richtung einer primär auf Alterität fokussierten Verhärtung von Positionen führen.38 Foucault sieht Diversität, arbeitet aber nicht an Modellen der Interaktion, wie sie die Notwendigkeit eines interkulturellen Polylogs möglicherweise fordert.39 Ist die Bewegung vom Gleichen zum Anderen tatsächlich ein bestimmender Vorgang für Foucaults Arbeiten, kann dies den Eindruck in der Sekundärliteratur erklären, dass es mit Foucault denkend schwer ist, im Bereich der Intersubjektivität ein Konzept für die notwendigen oder wünschenswerten Kompromissbildungen zu entwickeln. Und in diesem Zusammenhang ist zu bemerken, dass sich eine solche Kritik nicht primär nur auf die ‚strukturale Phase‘ bei Foucault bezieht. Gerade seiner Ethik der Selbstsorge wurde der Vorwurf gemacht, dass sie zu sehr auf das einzelne Selbst bezogen ist, dass Dialog oder zumindest Konsens 38 White (1973: 53) nennt Foucault einen dispersen Strukturalisten. Im Gegensatz zu anderen wollen diese nicht Unterschiede in eine allgemeine humanitas integrieren, sondern behaupten irreduzible Heterogenität. 39 Vgl. dazu auch die detaillierte Aufgliederung dieses Desiderats bei Wimmer (1988: 145-161) sowie das breit ausgearbeitete Konzept des Polylogs (Wimmer 1997). Dieses Konzept und die philosophische Einbettung stehen hier natürlich nicht genauer zur Diskussion – angemerkt sei nur, dass die pluripolare Orientierung, der sich das Vorhaben verpflichtet, als Ziel der Philosophie grundsätzlich sieht, „zu verbindlichen, allgemeingültigen Urteilen zu gelangen“ (Wimmer 1997: 35). Denn der Entwurf einer „Philosophie im Vergleich der Kulturen“ geht davon aus, dass „‚Philosophie‘ als Projekt dann nicht mehr stattfindet, wenn [...] [kulturelle] Unterschiede als einander ausschließend, als inkompatibel [...] hingenommen würden“ (Wimmer 1997: 7).
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hier keinen zentralen Stellenwert hat, dass grundsätzlich die Intersubjektivität und die darin liegende Möglichkeit einer Dezentrierung des Subjekts ausgeblendet werden.40 Ähnlich sagt McNay: „Although Foucault’s idea of an aesthetics of existence is informed by a respect for difference, without showing how a strategy of self-transformation relates to a politics of solidarity, it runs the risk of lapsing into an atomized politics of introversion.“41
Liegt hier ein Defizit von Foucault vor, so kann dies die Überlegung nach sich ziehen, inwieweit eine explizit an dieser Problematik arbeitende Position, wie sie der intersubjektiv ausgerichtete Ansatz von Habermas bietet, zu ergänzen oder, insbesondere bei Unvereinbarkeit, sogar zu bevorzugen wäre. Daher auch die Idee von McNay: „With this in mind, I compare Foucault’s aesthetics of existence with Habermas’ notion of communicative action, which proposes a way of understanding how the identity and actions of an individual are always mediated through interaction with others. Such a notion of interaction provides the potential basis for a politics which combines a respect for difference with an idea of solidarity and collective political aims.“42
Entsprechend meint Biebricher mit Hinweis auf einen Vorschlag von Kögler: „Daher liegt es nicht allzu fern, dem Ethiker Foucault den Moralphilosophen Habermas in einer ethisch-moralischen Arbeitsteilung an die Seite stellen zu wollen.“43 Auch etwa McCarthy spricht davon, nicht zwischen Foucault (der Genealogie) und der klassischen kritischen Theorie zu wählen, sondern sie zu vereinen, und hält dies für möglich.44 Es ist also kein unbekanntes Muster, Defizite bei Foucault durch den Zugang von Habermas abzufedern zu wollen. Und im vorigen Kapitel wurde mit Foucaults immer weiter differenzierender Forschungsperspektive ein meines Erachtens noch tiefer liegender Grund für eine Gegenüberstellung von Foucault und Habermas ersichtlich – mit Hoffnung auf Habermas’ synthetischeren Ansatz.
40 Vgl. z.B. Dörfler (2001: 63) und die Kritik von Waldenfels (1987: 533), dass der Bereich der Intersubjektivität in der Diskursanalyse fehlt. 41 McNay 1992: 157f. 42 McNay 1992: 157. 43 Biebricher 2005: 229. 44 Vgl. McCarthy 1990: 463f.
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Die folgende Bezugnahme auf Habermas, vor allem auf seinen Ansatz in der Theorie des kommunikativen Handelns,45 soll komparativ im Unterschied zu Foucault den Stellenwert des Anderen, den Wert kultureller Differenz in der jeweiligen Theorie, speziell was die Konzeption des kommunikativen Zusammenhangs betrifft, eruieren. Wie die recht umfassende Sekundärliteratur46 zum Verhältnis dieser beiden Intellektuellen zeigt, stehen sie in einem Spannungsverhältnis, das zugleich aus einer gewissen Nähe resultiert.47 Und es scheinen sich die Positionen etwas angenähert zu haben – so jedenfalls das hier immer wieder mitzubedenkende Untersuchungsergebnis von Biebricher.48 45 Neben dem Rekurs auf die Theorie des kommunikativen Handelns ist die Positionierung von Habermas generell auch informiert durch die Darstellungen zu seinem Werk von Gröbl-Steinbach (1992: 362-396), Honneth (2000: 186-192) und Hetzel (2001: 249-266). 46 Habermas selbst hat sich ausführlich – vor allem kritisch, aber auch würdigend – mit Foucault auseinander gesetzt (vgl. v.a. Habermas 1993). Einblicke in die Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher Ebene im engeren Sinn, aber auch die Beziehung auf persönlicher Ebene gibt Eribon (1998: 287-308). Eine umfassende Untersuchung zum Verhältnis von Foucault und Habermas leistet Biebricher (2005); eine auf die Kritik der Moderne und vor allem epistemologische Positionierungen konzentrierte Analyse bietet Lavagno (2003); Aladjem (1995) wiederum hat Foucault und Habermas in Hinblick auf die jeweils unterschiedliche Rolle von Wahrheit verglichen. Auch McNay (1992) thematisiert ausführlicher Vor- und Nachteile von Foucault gegenüber Habermas. Für eine recht extensive Aufzählung von Gemeinsamkeiten der Frankfurter Schule allgemein mit Foucault siehe McCarthy (1990: bes. 437-441) und weiterführend z.B. Schäfer (1995). Natürlich wären hier auch Arbeiten etwa von Honneth (1989, 1990) und Kögler (1992) zu nennen. Zum Stand der Literatur zur ‚Foucault-Habermas-Debatte‘ siehe auch Biebricher (2005: 13-18), der als Motivation seiner eigenen Forschung zum Verhältnis von Foucault und Habermas feststellt, dass es dennoch nicht ausreichend Arbeiten gibt, die diese beiden Autoren dann tatsächlich im Einzelnen vergleichen. Eine Sammlung an Sekundärliteratur aber auch Primärtexten zur Foucault-Habermas-Debatte bietet Kelly (Hg.) (1994). 47 Foucaults Kritik hat für Ansätze im Umfeld der kritischen Theorie offenbar immer wieder den Stellenwert einer produktiven Provokation. Biebricher (2005: 15) kontrastiert dies kompakt mit den weniger Foucault-kritischen Positionen der so genannten Tübinger Schule. 48 Auf die Arbeit von Biebricher (2005) wird im Folgenden häufiger verwiesen, zumal sein Vorhaben auch darauf zielt, produktive Kombinationsmöglichkeiten herauszuarbeiten. Biebricher (2005: 121) hält bis zu einem gewissen Grad eine Ergänzung zwischen Foucaults anti-normativistischem „Handlungswissen“ und Habermas’ „Legitimationswissen“ für möglich – vor allem da Habermas in späteren Phasen seiner Denkentwicklung strategischem Handeln in der sozialen Praxis weniger ablehnend gegenüberstünde.
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Beide verstehen ihre Arbeit als Kritik an der Subjektphilosophie oder auch Bewusstseinsphilosophie der Moderne und lehnen das cartesianische, rational den Objekten gegenüberstehende Subjekt ab, das repräsentiert und dadurch meistert.49 Bei Foucault führt dies zum Ende des Subjekts, bei der Frankfurter Schule hingegen zum Versuch, Subjektivität und Autonomie mit Gesellschaft zu verbinden. Beide beziehen die Kritik etwa an Zweckrationalität oder Kosten-NutzenMaximierung nicht nur auf Naturwissenschaften oder die so genannten empirischen Wissenschaften, sondern insbesondere auch auf philosophische Paradigmen. Und beide verorten sich in einem Gegendiskurs.50 Habermas sieht in der Moderne immer einen Gegendiskurs mitlaufen, in dessen Tradition er sich stellt.51 Foucault wiederum bezieht seine Subversion ebenfalls auf eine mit der Aufklärung verbundene Aufgabe der Kritik zurück. Man kann sogar sagen, für beide gilt, dass Aufklärung auf einer ‚therapeutischen Selbstkritik‘ beruht.52 Dabei vollziehen beide eine Abkehr von der klassischen Ideologiekritik.53 Beide beschäftigt ein Linguistic Turn. So veranschlagen sie einen Handlungscharakter von Sprache, und Habermas wie Foucault analysieren Macht und Diskurs. Bei beiden ist Vernunft ‚unrein‘, also eingebettet in die jeweilige Kultur und Gesellschaft, praxisgebunden.54 Allerdings wird damit unterschiedlich weitergedacht: Während Foucault dies produktiv miteinbezieht, will die Frankfurter Schule dies vermeiden und während Foucault kontext-übersteigende Wahrheitsansprüche aufgibt, arbeitet die Frankfurter Schule daran, Kontextualismus mit Universalismus zu vereinen.55 Bei Habermas ist dann Wahrheit das Ergebnis von kritikfähigem Konsens oder sie ist der Konsens eines idealerweise herrschaftsfreien Diskurses. Dies impliziert eine Berücksichtigung von Machtverhältnissen. Und es könnte bedeuten, dass Machtverhältnisse produktiv ‚verzerren‘. Die dabei anzunehmende Konsequenz, dass die vom Konsens verschiedene und gegebenenfalls inkommensurable Meinung, Weltsicht oder Werthaltung in Verbindung mit der jeweiligen Praxis an Machtverhältnisse gebunden ist, wäre Foucaults Position zum 49 Vgl. McCarthy (1990: 438) und ebenso Biebricher (2005: 365). 50 Vgl. zu Habermas’ Position diesbezüglich ausführlich Lavagno (2003: 63ff., 197ff. und 38ff. zur Diagnose des kritikwürdigen Hauptdiskurses). 51 Vgl. Lavagno 2003: 39. 52 Faubion (1988: 370) entnimmt dies bei Habermas der Theorie des kommunikativen Handelns. Für Foucault wird weiter unten noch darauf zurückzukommen sein. 53 Vgl. Biebricher 2005: 365. 54 Vgl. McCarthy 1990: 437. 55 Vgl. McCarthy 1990: 441.
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Verwechseln ähnlich. Im Gegensatz zu Foucault sieht Habermas hier jedoch grundsätzlich die Möglichkeit zu einem Konsens, welcher sich, wenn Realitätszwänge suspendiert sind, im handlungsentlasteten Kommunikationsbereich nach Auflösung der Herrschaft ergeben sollte. Das hieße also, dass Habermas ein Mehr oder Weniger an Macht ansetzt, die dem als Ideal, als kontrafaktische Antizipation vorstellbaren machtfreien Diskurs mehr oder weniger das Wort lassen könnte.56 Gerade aus Sicht der Sozial- und Kulturanthropologie wichtig ist dabei die diskursethische Vorgabe von Habermas, dass eine Norm nur Geltung beanspruchen darf, wenn alle davon möglicherweise Betroffenen „als Teilnehmer eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (bzw. erzielen würden), dass diese Norm gilt“ – und „jedes sprach- und handlungsfähige Subjekt darf an Diskursen teilnehmen“.57 Zudem ist weiteren Überlegungen im Kontext anthropologischer Perspektiven folgende Positionsbestimmung vorauszuschicken: „Habermas vertritt einen starken Universalismus. Er will einen moralischen Standpunkt herausarbeiten, der sich nicht nur auf alle Europäer oder alle Angehörigen westlicher Industrienationen bezieht, sondern darüber hinaus kulturübergreifend Geltung beanspruchen kann.“58 56 Dazu und zur Konzeption der Macht bei Habermas grundsätzlich siehe ausführlich Biebricher (2005: z.B. 110ff.) und auch Dörfler (2001: 56-58). 57 Habermas (1983): „Diskursethik – Notizen zu einem Begründungsprogramm“, in: ders.: Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln zitiert nach Biebricher (2005: 156 und 183). 58 Biebricher 2005: 178. Der vorliegenden Thematisierung in gewissem Ausmaß ähnlich behandelt auch Biebricher (2005: 178-183) die Frage ‚Universalismus oder verkappter Eurozentrismus‘. Er bespricht den von Habermas aufgegriffenen genetischen Strukturalismus von Piaget und kritisiert insbesondere dessen mangelnde empirische Stützung. In diesem Zusammenhang wird von Biebricher die Charakterisierung unterschiedlicher Rationalitäten angerissen und dabei bemerkt, „dass Habermas’ Darstellung ungewöhnlich tendenziös ausfällt“ (Biebricher 2005: 179). Besonderes Augenmerk legt Biebricher auf die – seines Erachtens überschätzte – Rolle von Kohlbergs moralischer Entwicklungspsychologie für Habermas (vgl. Biebricher 2005: 180-182). Sie fundiere vor allem die Motivation unterschiedlicher Akteure, in Argumentationen einzutreten und Ergebnisse angemessen umzusetzen. Eine empirische Überprüfung dieser universalen Entwicklungslogik sei bisher kaum ansatzweise gelungenes Desiderat. Des Weiteren führt eine Hinterfragung der in Habermas’ Argumentation relevanten Figur des performativen Widerspruchs Biebricher unter Verweis auf Wellmer zu den Bedenken, dass bisher nicht klar sei, was bei Habermas tatsächlich die unhintergehbaren Präsuppositionen des Argumentierens sind (vgl.
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Das führt natürlich zur Frage an Habermas, wie es in der – wiewohl im Verlauf seiner Arbeit offenbar immer weniger konkretistisch verstandenen59 – idealen Sprechsituation zu einem Konsens kommen würde, wenn nicht durch Referenz oder universelle menschliche Rationalität. Bloße soziale Übereinkunft, wäre anzunehmen, kann nicht genügen, denn dann funktioniert dieses Konsensmodell zwischen Positionen verschiedener Kulturen nicht. Also rekurriert Habermas letztlich auf eine universelle Sicht der Welt, die gleichsam vor jeder differenzierenden Kultur anzusetzen wäre und nicht selbst ein Teil davon ist. Und diese Vernunft wäre – ohne Stütze auf Referenz – auch nicht bloß auf einer Metaebene etwa das Sprachvermögen selbst oder „die intuitiv beherrschten Grundsätze der formalen Logik“60, sondern sie würde für jede zunächst konfliktgeladene inhaltliche Frage eine konsensuale inhaltliche Antwort durch den zwanglosen Zwang des besseren Arguments ermöglichen. Daher gilt: „In epistemologischer Hinsicht bedeutet dies: Wahrheit ergibt sich emanativ aus sich selbst, wenn die Bedingungen für Wahrheit geschaffen sind (‚herrschaftsfreier Diskurs‘).“61 Solange dieser Konsens aus von allen anerkannten Wahrheiten (auch wenn nicht im referentiellen Sinne gemeint) über das Sein bestehen soll, müsste es also Begriffe ohne implizite paradigmatische Wertungen geben oder letztere müssten ebenfalls dem Konsens unterliegen. In einer idealen Sprechsituation sollte es möglich sein, dass auch Normen und Werte die rational motivierte Zustimmung aller Betroffenen finden können. Ein vielleicht kulturelle Differenzen und ihre Tiefe gering schätzendes Modell? Allerdings geht es bei der Argumentation von Habermas’ Position sehr wesentlich um den Stellenwert kultureller Vielfalt. Interessant ist, dass Habermas tatsächlich ähnlich Foucault die Explikation des modernen Weltverständnisses über eine anthropologische Abgrenzung vollzieht – und sich dabei besonders auf Ergebnisse von Lévi-Strauss und Godelier beruft.62 So erreicht er eine selbstrefle-
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Biebricher 2005: 182f.). Biebricher diagnostiziert also bei Habermas ganz eindeutig Eurozentrismus. Auch Dörfler geht auf entsprechende Fragen ein, und er sieht wiederum Kohlberg bei Habermas als besonders wichtige Orientierung in Bezug auf moralische Entwicklung überhaupt (vgl. z.B. Dörfler 2001: 73). Mein spezielles Anliegen demgegenüber ist, das Funktionieren von Habermas’ Konsens-Ansatz im Gegensatz zur Differenzlogik bei Foucault auf die Rolle, die dem Anderen und den Anderen darin zukommt, zu untersuchen. Vgl. so Biebricher 2005: z.B. 9. Habermas 1995: 90. So die kompakte Formulierung von Dörfler (2001: 67). Vgl. Habermas 1995: 75.
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xive Distanz, die es erlauben soll, die Geltungsansprüche in der Moderne zu lokalisieren. An dieser Stelle kann die Befürchtung auftauchen, dass Wissenssysteme, die andere Arten der Wahrheitsfindung oder des Konsensus als die rationale kritische Argumentation kennen, kaum Geltungsansprüche stellen können – selbst wenn die Beteiligten sich in einer ebenso zwanglosen Kommunikation wähnen. Und dieser Ausschluss sollte offenbar nicht den Bedingungen der Diskursethik widersprechen. Tatsächlich rechtfertigen sich solche Verhältnisse bei Habermas damit, dass mythische „Weltbildstrukturen keine Handlungsorientierungen erlauben, die nach heute üblichen Maßstäben rational genannt werden dürfen“.63 Die Definitionsmacht der heute üblichen Maßstäbe liegt in der Vorgabe des herrschaftsfreien Konsenses der modernen westlichen Rationalität. Als Begründung für diesen Vorrang des okzidentalen Weltverständnisses gilt, dass der Mythos ontogenetisch und auch evolutionär einer früheren Stufe der Entwicklung des Menschen entspricht,64 wo die Einstellung zur Welt nicht angemessen differenziert und das Weltbild als solches nicht kritisch reflektiert wird.65 Durch den unentwickelten Stand der Produktivkräfte von der Grunderfahrung eines schutzlosen Ausgeliefertseins an die Kontingenzen einer nicht beherrschbaren Umwelt geprägt, versuchen archaische Gesellschaften demnach, in Mythos und Magie diese Kontingenzen zumindest imaginär einzudämmen, wegzuinterpretieren.66 Die westliche Moderne hingegen sollte die Kontingenzen offenbar faktisch eindämmen.67 Dazu ist sie im Stande, weil sie im Kontrast zum mythischen Denken eine Differenzierung zwischen den Objektbereichen Natur und Kultur vorgenommen hat – auch das sagt Habermas noch unter den Vorzeichen von Lévi-Strauss.68 Habermas’ Referenz auf Lévi-Strauss ist hier allerdings differenzierend hinzuzufügen, dass Lévi-Strauss den großen praktischen Erfolg des Wilden Denkens betont.69 Zudem bezeichnet er es als Irrtum, dass Mythen
63 64 65 66 67
Habermas 1995: 79. Vgl. Habermas 1995: 103ff. Vgl. Habermas 1995: 85. Vgl. Habermas 1995: 77f. Dass diese für den Hegemonialanspruch des Westens typische Denkfigur nicht nur für interkulturelle Beziehungen problematisch ist, sondern selbstverständlich auch als Einschätzung westlicher Lebensbedingungen, zeigen Analysen, die im Ergebnis zu ganz anderen Charakterisierungen westlicher Gesellschaft gelangen, etwa zu der als ‚Risikogesellschaft‘ (wie Beck 1986). 68 Vgl. Habermas 1995: 80. 69 Vgl. Lévi-Strauss 1973: z.B. 27.
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Naturerscheinungen erklären, „während sie doch viel eher das sind, mittels dessen [Herv. i.O.] die Mythen Realitäten zu erklären suchen, die selbst nicht natürlicher [...] Ordnung sind“70. Lévi-Strauss bietet in Hinblick auf die Naturbeherrschung allein schon deshalb keine so eindeutige Position, weil er den Mythos primär auf seine soziale Funktion hin befragt, also als Mechanismus, die Gesellschaft durch die (objektiven) Gegebenheiten der Natur zu denken und zu strukturieren. Und in jedem Fall lässt sich Lévi-Strauss entnehmen, dass die analysierten Mythen oder ‚Indigenentheorien‘ eine Unterscheidung von Natur und Kultur kennen und auch reflektieren können, also ein Bewusstsein kultureller Transformationen von Natur zeigen. Habermas sagt demgegenüber dennoch: „Wir legen in dem Maße die richtigen begrifflichen Schnitte zwischen kausale Zusammenhänge der Natur und normative Ordnungen der Gesellschaft“71, wie uns, id est der modernen Vernunft, der Unterschied zwischen Beobachtung sowie Manipulation einerseits und dem Verhalten mit Bezug auf Handlungsnormen andererseits bewusst wird – wohingegen die Magie im mythischen Weltbild durch eine „Konfusion von Natur und Kultur die Bedeutung einer Reifikation des Weltbildes“72 habe. Weltbilder sind zwar einerseits wie Portraits verschiedene Blickwinkel, die nicht wahr oder falsch sein können. Sie arbeiten aber andererseits notwendig mit einem Wahrheitsbezug, auf den hin sie „unter dem Gesichtspunkt kognitiver Angemessenheit“73 verglichen werden können. Und sie ermöglichen einzelne wahrheitsfähige Äußerungen. Jedoch ist für Habermas „die Ermöglichung wahrer Aussagen und wirksamer Techniken“74 nicht als solches Kriterium, sie zeige aber, wie weit die für eine rationale Kritisierbarkeit der Geltungsansprüche notwendige Reflexivität in den jeweiligen Weltbildern fortgeschritten ist. In Hinsicht auf einen möglichst kontextunabhängigen Maßstab für die Rationalität von Weltbildern bezieht sich Habermas auf Poppers offene versus geschlossene Mentalitäten.75 Denn Weltbilder sind konstitutiv für Verständigungsprozesse.76 Und nur bestimmte Verständigungsprozesse kommen für die ideale Sprechsituation in Frage.
70 71 72 73 74 75 76
Lévi-Strauss 1973: 114. Habermas 1995: 80. Habermas 1995: 82. Habermas 1995: 93. Habermas 1995: 94. Vgl. Habermas 1995: 96ff. Vgl. Habermas 1995: 100.
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„In Verständigungsprozessen gehen wir heute von denjenigen formalen Gemeinsamkeitsunterstellungen [Herv. i.O.] aus, die notwendig sind, damit wir auf etwas in der einen objektiven, für alle Beobachter identischen bzw. auf etwas in unserer intersubjektiv geteilten sozialen Welt Bezug nehmen können.“77
Man findet bei Habermas hier also mit referentiellem Wahrheitsanspruch ausgestattete Argumentationsfiguren, wie sie Foucault aufs peinlichste vermeidet und die genau das ausdrücken, was er als Herrschaft der Vernunft kritisieren will. Basis dieser Unverträglichkeit des modernen Denkens bei Habermas mit dem Denken von Foucault ist eine – wie Habermas über das mythische Denken – sagt „mangelhafte Differenzierung zwischen Sprache und Welt [Herv. i.O.], also zwischen dem Kommunikationsmedium Sprache und dem, worüber [Herv. i.O.] in einer sprachlichen Kommunikation eine Verständigung erreicht werden kann. [...] [Dies] belegen die systematischen Verwechslungen zwischen internen Sinnund externen Sachzusammenhängen [...], weil interne und externe Beziehungen konzeptuell noch integriert sind“78. Für Habermas gilt: Wenn das sprachlich konstituierte Weltbild nicht gegenüber der externen Welt als Weltdeutung erkannt werden kann, sondern mit der Weltordnung selbst identifiziert wird, hat dies mangelnde Kritikfähigkeit zur Folge – und selbiges trifft auf das mythische Denken zu.79 Gegenüber Habermas’ Schlussfolgerung zu betonen wäre, dass sehr wohl ein ständiger, auch nach bestimmten Rationalitäten ablaufender, Diskussionsprozess vorstellbar ist, eine Differenzierung in der Wiederholung etwa bezüglich der Signifikanz der Mythen, selbst wenn diese grundsätzlich die Weltordnung darstellen sollten. Die unaufhörliche Rekontextualisierung symbolischer Assoziationen zwischen Natur und Sozialstruktur kann zweifellos Formen der Kritik implizieren. Ob das Weltbild als solches explizit kritisiert beziehungsweise distanziert wird, ist damit freilich noch nicht gesagt. In der Moderne soll ja eine spezifische Kritik möglich sein, weil sie eine Grenze zwischen Weltbild und objektiver Welt gezogen hat und dadurch den Freiraum gewinnt, Alternativen wahrzunehmen. Diesbezüglich bleibt jedoch zu bedenken, dass in anderen und für andere Gesellschaften Alternativen grundsätzlich immer präsent sind, selbst wenn es an einer von Innen her begründeten Infragestellung mangeln sollte. Wie die Anthropologie und zumal die strukturale Ethnologie dezidiert argumentiert, geschieht die 77 Habermas 1995: 82. 78 Habermas 1995: 81. 79 Vgl. Habermas 1995: 107f.
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Formierung von Gesellschaften immer im Kontext des alternativen Außen. Dies bedeutet auf jeden Fall eine umfassende Infragestellung. Und diese Alternativen sind auch im Denken und als Möglichkeit der Veränderung und Kritik präsent. So führt etwa Godelier aus: „Aber durch das Denken und im Denken enthält eine historisch bestimmte gesellschaftliche Wirklichkeit auch andere Gesellschaften, andere gesellschaftliche Verhältnisse als imaginierte Möglichkeiten, die gewünscht oder abgelehnt werden. Auch wenn es innerhalb einer Gesellschaft nur ein einziges Verwandtschaftssystem gibt, nur eine einzige Organisationsform der Produktion, [...] existieren dieses System und diese Organisation nie wirklich alleine. Sie existieren [...] immer gleichzeitig mit [...] anderen möglichen und bekannten Systemen [...].“80
Ein solches Mögliches ist hierbei zudem grundsätzlich wirkmächtig gedacht, also durchaus real, da diese Alternativen „keineswegs träge im Denken ruhen, sondern es ständig ‚bearbeiten‘ und damit [...] wirksam sind“81. Hinzu kommt: „Es sei auch daran erinnert, daß es in zahlreichen Gesellschaften nicht nur eine, sondern mehrere gesellschaftliche Formen der Produktion gibt, nicht nur eines, sondern mehrere Verwandtschaftssysteme [...].“82
Darüber hinaus ist aber nicht nur die Schlussfolgerung, sondern auch der Gedanke in Habermas’ Prämisse, dass mythische Weltbilder kein Bewusstsein ihres kulturellen Status haben, keineswegs unbestreitbare Tatsache. Wie Lévi-Strauss zum einen sagt, ist das von ihm beschriebene Wilde Denken sich deutlicher als die westliche Wissenschaft bewusst, dass es Alternativen gibt – andere Kombinationsmöglichkeiten und Verwendungsmöglichkeiten der Elemente, die im Wilden Denken stets als Potential präsent sind.83 „[D]as mythische Denken ist nicht nur der Gefangene von Ereignissen und Erfahrungen, die es unablässig ordnet und neuordnet, um in ihnen einen Sinn zu entdecken; es ist auch befreiend: durch den Protest, den es gegen den Un-Sinn erhebt, mit dem die Wissenschaft zunächst resignierend einen Kompromiß schloß.“84
Im Gegensatz zum Denken in Begriffen der modernen Wissenschaft, weiß das Wilde Denken nach Lévi-Strauss zum anderen gerade durch dieses Prozedere 80 81 82 83 84
Godelier 1990: 175. Godelier 1990: 176. Godelier 1990: 177. Vgl. z.B. Lévi-Strauss 1973: 38. Lévi-Strauss 1973: 35f.
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aber selbstreflexiv sehr wohl, dass es immer schon mit vorausgehend kulturell Kontextualisiertem zu tun hat und die Neuordnung der Elemente wiederum kulturelle Signifikanz hat. Es muss also hier ebenfalls Mechanismen geben, wie nicht nur mit Dissens, sondern auch mit existentieller Relativität kommunikativ umzugehen ist. Und warum sollte dann Kritik und Veränderung weniger leicht möglich sein und nicht bestimmten Rationalitäten folgen, die eine Vielzahl von Optionen auszuhandeln erlauben? Oder soll man annehmen, dass in solchen Fällen grundsätzlich nur Brachialgewalt spricht? Ohne hier näher auf die anthropologische Friedensund Konfliktforschung eingehen zu wollen, lässt das breite Spektrum zwischen der Analyse von ‚Fierce People‘ und ‚Societies at Peace‘ in jedem Fall die Feststellung zu: Gewalt ist in indigenen Gesellschaften sicher nicht generell ausgeprägter als in den gemäß Habermas vollständig evolutiv differenzierten westlichen Sozietäten. Fast eine Ironie scheint die als unerfüllbare Utopie für die moderne Gesellschaft vorgetragene Forderung: „Eigentlich wäre nur ein unendlicher Diskurs, in dem kontinuierlich Konsense erneuert werden, den hohen Ansprüchen einer universalistischen Ethik angemessen“85. Ironisch wirkt dies, weil just so immer wieder das Prozedere der Meinungsbildung in von Habermas disqualifizierten ‚archaischen‘ Gemeinschaften beschrieben wurde. Aber noch ein weiteres Defizit verhindert für Habermas die Reflexion der kulturellen Kontingenz über das Außen bei ‚archaischen‘ Gesellschaften: eine mangelnde Fähigkeit, andere Standpunkte überhaupt zu verstehen. Dies betrifft also nach den Verständigungsprozessen einen weiteren Aspekt, für den Weltbilder konstitutiv sind, nämlich die Vergesellschaftung. Erst die im Laufe der ontogenetischen Entwicklung ebenso wie im Übergang vom Mythos zum modernen Weltverständnis ausgeprägte Differenzierung sollte nämlich die „Dezentrierung eines egozentrisch geprägten Weltverständnisses“86 bringen und ist Bedingung für einen reflexiven Begriff von Welt. Erst dadurch bilde sich eine Innenwelt heraus, entstehe Subjektivität und damit die Vorstellung von der subjektiven Welt eines Anderen, aus dessen Perspektive Ego sich die Welt vorstellen kann und vice versa. Die für moderne, offene Gesellschaften typischen formalen Weltkonzepte erlaubten es ihrerseits dann, gemeinsam die Perspektive eines Dritten oder Unbeteiligten einzunehmen.87
85 Biebricher 2005: 185. 86 Habermas 1995: 106. 87 Vgl. Habermas 1995: 106f.
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Natürlich widerspricht eine solche Entwicklungspsychologie in ihrem Bezug auf nicht-westliche Gesellschaften den Erfahrungen in der anthropologischen Forschung. Wie immer Andere es anders machen – dass es auch ihnen möglich ist, die Perspektive eines jeweils Anderen einzunehmen, ist eine in der Anthropologie empirisch begründete Tatsache. Selbstredend gibt es aber auch theoretisch ausgefeilte Ansätze zu der für nicht-westliche Gesellschaften ausgesprochen wichtigen Thematik einer Existenz unterschiedlicher subjektiver Welten, des Perspektivenwechsels bis hin zur Transformation in den Anderen. Zu denken wäre etwa an die prominente Diskussion, welche bezeichnenderweise unter dem Titel ‚Perspektivismus‘ geführt wird. Der Perspektivismus wird hierbei in gewissem Ausmaß als Alternative zu der gegenwärtig insbesondere im Westen dominierenden Rationalität formuliert. Ich beziehe mich für diese Konzeption hier primär auf Arbeiten von Viveiros de Castro.88 Im so genannten westlichen Naturalismus impliziert Wissen eine fortschreitende Objektivierung und De-Subjektivierung, auch ein menschliches Subjekt ist demnach ein unvollständig analysiertes Objekt. Vom umgekehrten kosmologischen Blickwinkel her gilt das Objekt als ein unvollständig erkanntes Subjekt oder als Teil davon, und der heuristische Vorgang ist darauf ausgerichtet, die zunächst verborgene Intentionalität zu erkennen und Dinge nicht isoliert zu betrachten, sondern ihren Verweis auf ein Subjekt zu erfassen, Vorkommnisse und Gegebenes in ihrer kontextspezifischen Relevanz zu sehen. Während der westliche Naturalismus abduktiv-hypothetisch im Unsichtbaren, also der Interiorität von menschlichen und nicht-menschlichen Lebewesen Distinktionen annimmt, werden im Perspektivismus physische Distinktionen wahrgenommen, aber bezüglich des Unsichtbaren keine Unterschiede vorausgesetzt.89 Diese Kontinuität im Bereich der Interiorität erlaubt, überall Subjektivitäten zu sehen und sich auf dieser Ebene auszutauschen, das heißt, den Platz des Anderen einzunehmen und mit dessen Augen zu sehen – daher Perspektivismus. Der Gedanke ist aber nicht, dass verschiedene Wesen unterschiedliche Arten haben zu sehen,
88 Vgl. Viveiros de Castro 2004, 2005, 2009. In diesem Zusammenhang werden auch etwa Århem, Bird-David, Fausto, Hallowell, Hornborg, Lima oder Pedersen genannt. Direkte Bezugspunkte sind die Arbeiten insbesondere von Descola und dann Latour sowie epistemologisch des Weiteren Ansätze des Antirepräsentationalismus und Relationismus zum Beispiel bei Strathern und Wagner. 89 Vgl. dazu viel weiter ausgreifend bei Viveiros de Castro (2004: 475f.) etwa die Konsequenz: Im westlichen Naturalismus ist die Gefahr des Solipsismus, im Anderen keinen Menschen zu erkennen. Im umgekehrten Fall wäre die Gefahr, im Anderen, auch im nicht-menschlichen Lebewesen, auf den zweiten Blick doch den Menschen zu erkennen, verbunden mit der Angst vor Kannibalismus.
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sondern sie sehen auf die gleiche Weise, aber von verschiedenen Standpunkten aus. Und zur Bestimmung der Standpunkte dient unter anderem der Körper. Zugleich sind diese Körper jedoch gegenüber der einheitlichen Subjektivität arbiträr – daher die Rede etwa von Tierkörpern oder menschlicher Physiognomie als unterschiedlichen ‚Umhängen‘.90 Damit verbunden ist auch eine ganze Reihe von Techniken der körperlichen Formation und Transformation, welche die Variabilität des Körpers und zugleich seinen performativen Stellenwert zeigen. Eine solche Differenzierung zwischen „zur Revision freigegebenen Inhalten“91, nämlich dem Materiellen, und identitätsverbürgendem Wissen macht es aber nicht plausibel, die Trennung Moderne/Mythos, wie Habermas, an die Achse offenes/geschlossenes Weltbild zu binden. Insbesondere wird unklar, warum das hier als Perspektivismus vorgestellte Weltverständnis nicht in höchstem Maße jener Anforderung gerecht werden sollte, der gemäß Habermas allein ‚wir‘ entsprechen: „Das Konzept der subjektiven Welt gestattet uns, nicht nur die eigene Innenwelt, sondern auch die subjektiven Welten der Anderen von der Außenwelt abzuheben. Ego kann überlegen, wie sich bestimmte Tatsachen (das, was er für einen existierenden Sachverhalt in der objektiven Welt hält), oder bestimmte normative Erwartungen (das, was er für einen legitimen Bestand der gemeinsamen sozialen Welt hält) aus der Perspektive einer Anderen, d. h. als Bestandteil von dessen subjektiver Welt darstellen; er kann sich weiterhin überlegen, daß Alter seinerseits überlegt, wie sich das, was er für existierende Sachverhalte und geltende Normen hält, in der Perspektive von Ego, d. h. als Bestandteil von Egos subjektiver Welt darstellt.“92
Eine Charakterisierung des Animismus lautet bei Descola folgendermaßen: „[M]ême dans les collectifs animiques où l’on n’affirme pas à la lettre que les animaux qui se voient comme des humains appréhendent les humains comme des non-humains, il existe de nombreuses indications que l’identité se définit d’abord au moyen du point de vue sur soi qu’adoptent les membres d’autres collectifs, placés de ce fait dans une position d’observateurs extérieurs – les morts, les Blancs, le gibier, les esprits, voire l’ethnologue [...].“93
Aufgrund ihrer Einheit auf geistiger Ebene erlaubt es der animistische Perspektivismus also sogar prinzipiell allen Lebewesen, den Standpunkt der anderen ein90 Vgl. z.B. Howell 1996. 91 So Habermas (1995: 100) zu der die Moderne auszeichnenden Differenzierung oder Dezentrierung des Weltverständnisses. 92 Habermas 1995: 106. 93 Descola 2005: 352.
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zunehmen – besonders darauf spezialisiert sind allerdings die Schamanen. Es handelt sich hierbei folglich nicht um egozentrischen ‚primitiven Narzissmus‘. Ganz im Gegenteil sieht sich jede menschliche (wie auch jede andere) Gemeinschaft sowie letztlich jeder einzelne über vielfältige Außenperspektiven distanziert. Aus Habermas’ Sicht erfüllen jedoch einzig die phylo- wie ontogenetisch angesetzten Differenzierungen der Moderne die Voraussetzung, den Inhalten der Diskurse in der Kommunikation Geltung zu verschaffen. Und sie tendieren darüber hinaus dazu, Garant eines rational motivierten Einverständnisses in Bereichen zu sein, die vor dem Hintergrund der gemeinsamen Lebenswelt problematisch sind. Denn trotz aller Katastrophen und Unwägbarkeiten der Moderne heißt es: „Je weiter das Weltbild, das den kulturellen Wissensvorrat bereitstellt, dezentriert ist, [...] um so häufiger dürfen wir rationale Handlungsorientierungen erwarten.“94 Wäre dies allerdings eine rein formale Voraussetzung bei Habermas, so könnten sehr wohl auch Mythen Basis rationaler Handlungsorientierungen sein. Mythen kennen, thematisieren und reflektieren durchaus Formen der Differenzierung zwischen Menschen und Nicht-Menschen. Wie Viveiros de Castro95 erläutert, sprechen die Mythen nicht selten von einer Zeit der Undifferenziertheit – ähnlich, so könnte man mit Bezug auf Habermas sagen, wie offenbar der westliche Mythos besagt, dass seine mythische Vergangenheit eine Zeit der Undifferenziertheit zwischen Mensch und Natur war. Es geht in den Mythen dann darum, wie diese Undifferenziertheit beendet wurde und wie Mensch und NichtMensch sich trennten. Anders als im Evolutionismus trennt sich in den indianischen Mythen weniger der Mensch von der Natur, sondern er führt tendenziell eher den früheren Zustand fort, entfernt haben sich die Tiere. Während die Menschen im Evolutionismus im Grunde noch Natur sind, und die Natur in sich mit der Kultur konfligiert, sind im Animismus die Tiere im Inneren (Seele, Geist) noch Menschen. Eine solche Ontologie könnte sich aber sehr wohl mit jenen Dezentrierungen des Weltbildes messen, welche bei Habermas die Überlegenheit der Moderne so unabweisbar machen. Wahrscheinlich wäre es darüber hinaus möglich, Habermas’ Definitionen der Anderen, die regelmäßig ein Weniger und ein Noch-Nicht enthalten, mit einer Vielzahl an Gegenargumenten aus der anthropologischen Forschung zu kontern. 94 Habermas 1995: 107f. 95 Vgl. Viveiros de Castro 2004.
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Um nur an die Fragwürdigkeit der zuvor auf die Subjektbildung bezogenen Essentialisierung des ‚Archaischen‘ als onto- und phylogenetisch weniger entwickelte Stufe zu erinnern: Es gibt sicherlich auch viel komplexere und differenziertere Personenkonzepte als jenes der Moderne. Sollen daran orientierte Diskursgemeinschaften andere Meinungsäußerungen nach dem Muster der westlichen Moderne überhaupt für Wert befinden, in ihre Kommunikation ernsthaft einbezogen zu werden, oder sollten sie dies – Habermas entsprechend – prinzipiell ablehnen? Und müssten nicht in jedem Fall deren Konzeptionen oberster Maßstab für dialogische Ethik und Kritikfähigkeit – auch für die westliche Moderne – sein? Man braucht für solche Perspektiven aber ohnehin nicht unbedingt anthropologische Daten zu bemühen, denn auch Foucaults Ethnologie belegt ja, wie unterschiedlich Individualisierung formiert sein kann – und nicht notwendig allein „Habermas’ Modell kohärenter Ich-Identität“ Gültigkeit zukommen muss, zumal wenn dieses laut Dörfler „eher zu einer zwanghaften Form durchgehaltener Identität“96 führt. Habermas’ Weltbild verunsichern jedoch auch weiter vorangetriebene Differenzierungen oder Dezentrierungen offenbar nicht. Und er erkennt keinerlei Qualitäten im mythischen Denken, die es von der westlichen Moderne zwar unterschieden, es aber in Hinblick auf die Teilnahme am kommunikativen Handeln als gleichwertig erweisen. Selbst wenn Habermas dem mythischen Denken eine Form adäquater Subjektivitätsbildung und Etablierung von Innen- wie Außenkritik nicht zugesteht, bestünde in Anlehnung an die Überlegung von Biebricher, inwieweit Habermas’ Ansatz elitär oder antielitär ausgerichtet ist,97 eventuell noch Hoffnung auf eine Integration der Anderen mittels der bei Habermas vorgesehenen kontrafaktischen Unterstellung, dass immerhin die Diskursethik so weit als möglich befolgt wurde. So wäre zumindest in den vielen Fällen, wo ein Konsens unter Einhaltung 96 Dörfler 2001: 87. Hier wäre vielleicht auch Butlers (1991: 211) Gedanke einzubeziehen: „Das Hegelsche Modell der Selbst-Anerkennung, das von Marx, Lukács und einer Reihe zeitgenössischer Befreiungsdiskurse übernommen wurde, setzt eine potentielle Übereinstimmung zwischen dem ‚Ich‘ voraus, das seiner Welt, einschließlich der Sprache, wie einem Objekt gegenübertritt, und jenem ‚Ich‘, das sich selbst als Objekt in dieser Welt findet. Diese Subjekt/Objekt-Dichotomie, die hier zur Tradition der westlichen Epistemologie gehört, bedingt indes gerade die Problematik der Identität, die sie zu lösen versucht.“ Und sie sagt weiter: „Daß dieser epistemologische Ausgangspunkt keineswegs unumgänglich ist, bestätigen die mundanen Verfahren der Umgangssprache, die die Subjekt/Objekt-Dichotomie – wie in der Anthropologie dokumentiert – als fremdartige, kontingente, ja sogar gewaltsame und zwanghafte philosophische Konstrukte ansehen.“ 97 Vgl. Biebricher 2005: 245-249.
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der geforderten formalen diskursethischen Bedingungen gefunden wurde, auch der daraus hervorgegangene Inhalt ernst zu nehmen. Interessanterweise setzt Habermas die kontrafaktische Unterstellung aber gerade umgekehrt ein, wie Biebricher zu entnehmen ist. Denn: „Interpretiert man die Diskursregeln als idealisierende Unterstellungen, die faktisch nie gegeben sind, wie Habermas dies an vielen Stellen offensichtlich tut, dann können die inhaltlichen Konsense des Diskurses immer wieder von außen aufgrund ihres notwendig defizitären formalen Zustandekommens als ‚irrational‘ kritisiert werden.“98
Angesichts dieser de facto immer gegebenen Kritikmöglichkeit werden nun doch inhaltliche Qualifikationen ausschlaggebend. Und dies impliziert letztlich: Selbst wenn erkennbar logisch und konsistent argumentiert wird, führt dies noch nicht zur Akzeptanz der kommunikativen Handlung. Weil, so Habermas unter Bezugnahme auf Evans-Pritchard, Konsistenz und logische Argumentation nicht alles ist – es muss letztlich doch auch eine wissenschaftliche Begrifflichkeit gefunden werden. Und hierfür wäre auf Prüfmethoden des Weltbezuges zurückzugreifen, „deren universale Gültigkeit erst zu Bewusstsein kommen konnte, nachdem sie im Rahmen unserer Kultur wissenschaftlich hochstilisiert worden sind“99. In Hinblick auf die methodischen Forderungen aber, denen empirische Erkenntnisse über und technische Eingriffe in die Natur genügen müssen, wäre „das mythische Denken dem modernen offensichtlich unterlegen“100. Inwieweit es dann tatsächlich die Methodik sein kann, von der her man die eine Wissenschaft – nämlich jene vom Konkreten, wie Lévi-Strauss sie nennt – gegenüber der anderen, der westlichen, abwertet, muss allerdings wiederum in Frage gestellt werden. Denn auch erstere beobachtet, experimentiert, klassifiziert und spekuliert und ihre Ergebnisse sind weder zufällig noch von willkürlichem Aberglauben getrieben.101 Schließlich ist auch noch nicht endgültig präjudiziert, ob andere Gesellschaften durchgängig einen weniger objektiven Zugang zur Natur haben. So gilt für Godelier als einem jener Anthropologen, auf die sich Habermas beruft, auch nach und trotz aller Transmutation des Mythos:
98 Biebricher 2005: 248. 99 Habermas 1995: 90. 100 Habermas (1995: 89); und er argumentiert weiter, dass zwar logische Konsistenz für die westliche Moderne wie auch mythische Weltbilder gleichermaßen gelten kann, dass aber der Anthropologe deshalb nicht relativistisch dabei stehen bleiben müsse. 101 Vgl. Lévi-Strauss 1973: 254, 310.
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„Wir haben schon darauf aufmerksam gemacht, daß in den Mythen zahlreiche Elemente von objektiver Kenntnis der Fauna, der Flora, der Umwelt, der Astronomie und der Techniken vorhanden sind, die den positiven Inhalt der Beziehungen zwischen den primitiven Menschen und der Natur ausdrücken.“102
Selbst dieser „Inhalt der sinnlichen Kenntnis“103, wo das Wilde Denken zuverlässig ist, kann jedoch nicht als relevant in ein kommunikatives Handeln eingebracht werden, wenn dieses Denken nach Habermas insgesamt nicht für die Kommunikation qualifiziert ist. Da sich Habermas104 für die Konzeption archaischer Gesellschaften unter anderem auf Gellner stützt, sollte nicht unerwähnt bleiben, dass dieser nicht dichotom oder linear die Zunahme eines objektiven Weltbezugs feststellt, sondern in einem dreiteiligen Schema den ‚primitiven Vorstellungssystemen‘ eine größere, wenn auch (im Vergleich dann zur westlichen Wissenschaft) uneinheitliche, Referentialität zuspricht als den historisch-evolutionär darauf folgenden ‚vereinheitlichten doktrinären Systemen‘.105 Was Gellner hier für die ‚vereinheitlichten doktrinären Systeme‘ beschreibt, ähnelt aber in gewisser Beziehung dem, was nach Lévi-Strauss gerade die westliche Wissenschaft definiert: nämlich ein sehr stark deduktives Denken. Denn deren ‚Begriff‘ im Unterschied zum ‚Zeichen‘ des Wilden Denkens will „in Bezug auf die Wirklichkeit vollkommen transparent sein“106. Die Begrifflichkeit schafft sich aber „allein deshalb, weil sie sich stets begründet, [...] in Form von Ereignissen ihre Mittel und Ergebnisse“107. Dies verweist darauf, „daß es nämlich zwei verschiedene Arten wissenschaftlichen Denkens gibt, die beide Funktion nicht etwa ungleicher Stadien der Entwicklung des menschlichen Geistes, sondern zweier strategischer Ebenen sind, auf denen die Natur mittels wissenschaftlicher Erkenntnis angegangen werden kann, wobei grob gesagt, die eine der Sphäre der Wahrnehmung und der Einbildungskraft angepaßt, die andere von ihr losgelöst wäre; wie wenn die notwendigen Beziehungen, die den Gegenstand jeder Wissenschaft bilden [...], auf zwei verschiedenen Wegen erreicht werden könnten [...].“108
102 103 104 105 106 107 108
Godelier 1973: 314. Godelier 1973: 323. Habermas 1995: 99ff. Vgl. Gellner 1993: 89ff. Lévi-Strauss 1973: 33. Lévi-Strauss 1973: 35. Lévi-Strauss 1973: 27.
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Die Mythen wenden laut Lévi-Strauss’ Wildem Denken der Wirklichkeit nicht den Rücken zu, sondern sie sind auf andere Ergebnisse begrenzt als die exakten Naturwissenschaften lange Zeit – Ergebnisse, die erst langsam wieder ins Gesichtsfeld der Wissenschaften zurückkehren, hinsichtlich derer die Mythen also fortschrittlicher waren –, wobei sich die Naturwissenschaften heute dem wieder annähern.109 Entgegen Habermas liest sich Lévi-Strauss’ Standpunkt daher doch sehr anders: Demnach fassen die ‚Primitiven‘ ihre Welt nicht nur kohärent, sondern diese Art und Weise des Weltzugang wäre auch gerade diejenige, welche sich angesichts des Objekts (wie es die Physik heute sieht) aufdrängt.110 Zwar warnt Lévi-Strauss vor einer Vermischung der beiden Arten des Denkens; andererseits meint er, dass die Entwicklung sowohl der Human- wie der Naturwissenschaften die Tendenz zeigt, „in der Bildersprache eine grundlegende Verfahrensweise des Denkens zu erkennen, die dieses an die Wirklichkeit heranführt und nicht, wie man glaubte, es von ihr trennt“111. Godelier wiederum geht davon aus, dass das später im Mythos verarbeitete Wissen zunächst in der menschlichen Erfahrung als ‚objektives Element‘, als „das objektive Material der natürlichen und gesellschaftlichen Ordnung“112 präsent ist. „Das wilde Denken eignet sich dieses [objektive] Material spontan an und führt es mit sich, um mit seiner Hilfe die Kluft zu überbrücken, die es zwischen Natur und Kultur und allgemeiner zwischen allen Ebenen der menschlichen und natürlichen Realität auffüllen will.“113
Wiewohl dies im Ergebnis (und auch in der geringeren Kontrolle über die Natur als Motivation) mit Habermas’ Auffassung in Einklang wäre, ist der erkenntnistheoretische Unterschied doch groß, wenn man voraussetzt, dass dem Wilden Denken Erkenntnisgegenstände (genau wie dem wissenschaftlichen Geist) objektiv gegeben sind. Dann geht es nämlich nicht mehr darum, eine ursprüngliche, naturnähere Vermischung von Natur und Kultur durch die Moderne zu überwinden.114 Aber noch aus einem anderen Grund ist es für Habermas nicht ganz un109 110 111 112 113 114
Vgl. Lévi-Strauss 1973: 29, 23, 35. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 308. Lévi-Strauss 2008: 39. Godelier 1973: 305. Godelier 1973: 313. Natürlich könnte man meinen, dass einer Aufrechterhaltung der Kluft zwischen Natur und Kultur deshalb der Vorzug gebührt, weil dies den objektiven Gegebenheiten besser entspricht, also referentiell gedacht richtiger ist und allein deshalb Monopolansprüche stellen kann. Auf die basale Frage, welche epistemologische Rechtfertigung
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problematisch, sich in der Frage der geringeren Naturbeherrschung auf Godelier zu stützen. Denn dass die Kontrolle über die Natur gering ist (und dies Motivation für den Mythos ist), zeigt sich ja nur unter Voraussetzung der ‚echteren‘ Naturkontrolle in der Moderne angesichts der Aufrechterhaltung der primären ‚richtigen‘ Trennung – damit also dem Fehlen eines bestimmten kulturellen Schritts, nämlich der falschen sinnlichen Äquivalenz des Analogiedenkens. Zugleich ist die Kontrolle laut Godelier jedoch durch einen anderen kulturellen Schritt gelungen, nämlich das mathematische Äquivalenzdenken. Als solches versteht Godelier nämlich die wissenschaftliche Revolution der Griechen durch die Geometrie, wo das Denken entdeckt hat, „daß die Natur jenseits ihrer sichtbaren Gestalt auf den notwendigen Beziehungen einer mathematischen Ordnung aufgebaut ist“115. Konsequenterweise garantiert aber nichts, dass ein in dieser kulturellen Logik stehendes Denken sich hinsichtlich der Naturbeherrschung nicht ebenso täuscht wie dasjenige, welches die Naturbeherrschung mittels Analogiedenken angeht. Weder die Tatsache, dass das mythische Denken laut den von Habermas zitierten Autoren sehr wohl auch einen objektiven Zugang zur Natur (zumal als materielle Physis) hat, noch der ebenfalls bei diesen Autoren angelegte Zweifel am überkulturellen Objektivitätsanspruchs der Moderne, spielen bei Habermas eine Rolle.116 Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass „die mutmaßliche Rationalität unseres Weltverständnisses nicht nur die partikularen Züge einer durch Wissenschaft geprägten Kultur widerspiegelt, sondern zu Recht einen Anspruch auf Universalität erhebt“117. Foucaults Blick weist demgegenüber genau in die gegenteilige Richtung. Er möchte die Voraussetzungen solcher Wahrheitsspiele der Macht aufdecken und in ihrer Willkür erfahrbar werden lassen. Allerdings macht es auch für Habermas gerade die Überlegenheit einer aufgeklärten, offenen Geder modernen Trennung von sozialem Bereich und Naturbereich zukommt, wird hier jedoch nicht weiter eingegangen, da Habermas dies ja weniger als Realitätsgebot denn als diskursethisches Kriterium einbringt. Im sechsten Abschnitt dieses Kapitels finden sich dann Überlegungen zu dieser Frage im Zusammenhang mit dem Status von Foucaults Kritik. 115 Godelier 1973: 325. 116 Wenn hier von anthropologischer Seite vor allem mit Lévi-Strauss und Godelier argumentiert wurde, so primär deshalb, weil Habermas selbst seine Argumentation darauf stützt. Interessanterweise bezieht sich Habermas damit aber auf Autoren, deren Positionen sich in ein gewisses Naheverhältnis zu Foucault stellen lassen. Dies soll jedoch nicht implizieren, dass deren Perspektiven in der Anthropologie in jeder Hinsicht unbestritten wären. 117 Habermas 1995: 85.
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sellschaft aus, dass sie nie Kritik ohne Selbstkritik übt.118 Damit ist die Auseinandersetzung eröffnet, wieweit die Selbstsicht der Moderne angesichts ihrer eigenen Vorgaben haltbar ist. Foucaults Projekt kann in gewisser Weise als Vervollständigung gelesen werden, die Habermas’ Forderungen auf unsere Gesellschaft anwendet und etwa an den Inkonsistenzen der modernen Episteme erkennen lässt, dass diese so rational gar nicht ist. Die vorliegende Untersuchung zeigte bereits, dass die Prüfung auf Konsistenz – etwa von Foucault, was die Konsistenz der Humanwissenschaften betrifft – sich hier nicht ‚von sich aus‘ entwickelte, sondern auch über den Bezug auf eine ethnologische Außenperspektive an die Moderne herangetragen werden musste – ähnlich wie es Habermas119 für andere Gesellschaften, wie zum Beispiel die Zande, beschreibt. Und während Habermas davon ausgeht, dass sich in der Moderne die wissenschaftliche Rationalität, also die kognitivinstrumentelle Fragestellung von der moralisch-praktischen und expressiven getrennt hat,120 wies Foucault zumindest für die Humanwissenschaften darauf hin, inwiefern diese drei Bereiche verknüpft sind. Dies bringt zwar vielleicht die von Habermas gezogene Great Divide in bestimmten Bereichen ins Wanken, könnte aber womöglich für die Humanwissenschaften nur ein selbstkritisches Noch-Nicht bedeuten und verunsichert so nicht die für die Kritikfähigkeit der Moderne ausschlaggebende Gewissheit, die lautet: „Wissenschaftliche Rationalität gehört zu einem Komplex kognitivinstrumenteller Rationalität, der gewiß über den Kontext einzelner Kulturen hinaus Gültigkeit beanspruchen kann.“121 Zugleich argumentiert Habermas in seiner evolutionstheoretischen Fundierung, dass sich die Überwindung bestehender Stufen durch Entwertungsschübe vollzieht, die alle Bereiche des Denkens (also das objektivierende Denken, die praktisch-moralische Einsicht und die ästhetisch-praktische Ausdrucksfähigkeit) betreffen und jeweils neue Strukturen der Begründung einführen.122 Insofern wäre aber der Anspruch überkultureller Gültigkeit des objektivierenden Denkens doch nicht grundsätzlich über den Kontext einzelner Kulturen hinaus plausibel, sondern würde nur von der Stufe der Moderne aus beansprucht. Systematisch begriffen könnte diese Kritik zur Forderung an Habermas und allgemein die Moderne führen, nicht das zu tun, was dem mythischen Denken vorgeworfen
118 119 120 121 122
Vgl. Habermas 1995: 88. Vgl. Habermas 1995: 94f. Vgl. Habermas 1995: u.a. 99. Habermas 1995: 101. Vgl. Habermas 1995: 104f.
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wird,123 nämlich zu reifizieren. Konsequenterweise wären vielmehr die eigenen referentiellen Bezüge als Konfusion von Natur und Kultur zu hinterfragen und hätte sich die Moderne einer umfassenden kulturellen Bestimmung zu stellen. Wie zweifelhaft die von Habermas angenommene Trennung der objektiven und der sozialen Welt, also der Wissensbereiche Natur und Kultur – und damit die zwischen der Moderne und ‚archaischem Denken‘ – ist, zeigen allein schon der Evolutionismus und aus einer weiter gefassten anthropologischen Perspektive die Parallelen zwischen einem populären Evolutionismus und bestimmten Konzeptionen des Totemismus oder Animismus. Totemismus wie Evolutionismus arbeiten mit einer Homologie, die Differenzen zwischen Menschen mit Unterschieden in der Natur respektive umgekehrt gleichsetzt und bei der es weniger auf diese homologen Beziehungen an sich ankommt als auf die differentiellen Abstände, die dadurch zwischen den Menschen etabliert werden.124 Allerdings ordnet der Evolutionismus in für die Moderne typischer Weise die Unterschiede zusätzlich entlang einer Zeitachse. Durch diesen für die spezifische Metaphorik der beiden Bereiche zwar wesentlichen Zeitaspekt wird die Assoziation zwischen den unterschiedlichen Entitäten der Natur mit einzelnen sozialen Gruppen tendenziell nicht derart konkretisiert wie im Totemismus. Zugleich operiert der Evolutionismus dadurch nicht nur mit der paradigmatischen Verbindung zwischen Natur und Kultur, sondern stellt Menschen zusammen mit allen anderen Lebewesen in ein Beziehungsfeld des Nebeneinander, das dem Animismus ähnelt.125 Jedoch anders als der Animismus gewährleistet der Evolutionismus in syntagmatischer Hinsicht die Integration über die physische Kontinuität, während sie im Animismus auf der Ebene des Bewusstseins, der Subjektivität liegt – wie die kurze Skizze der aktuellen Beschreibung des Animismus im Perspektivismus schon andeutete.126
123 Vgl. Habermas 1995: 81f. 124 Vgl. zum so genannten Totemismus auch Lévi-Strauss (1973: 137ff. oder etwa 92). Nur nebenbei sei hier angemerkt, dass natürlich mit Lévi-Strauss die Forschung zum Totemismus nicht zu Ende ist. Descola (2006) etwa betont wieder stärker die ontologische Seite, die in der (aus der Zeit vor ihrer Aktualisierung stammenden) Wesensverwandtschaft zwischen bestimmten Menschen und bestimmten nicht-menschlichen Entitäten liegt. 125 Vgl. die Analyse von Descola (1996). 126 Ich habe hier eine frühere Perspektive von Descola (1996) mit seinen neueren Forschungen, die den Animismus differenzierter betrachten, kombiniert (vgl. z.B. Descola 2005, 2006).
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De facto wird ein Großteil der basaleren Konzeptionen in der NaturWissenschaft sich auf andere Bereiche in der Gesellschaft beziehen lassen. Wie bewertet man also, ob fälschlich ein Verhaltensmodell von der Gesellschaft auf die Natur (z.B. survival of the fittest) oder umgekehrt, wohl auch fälschlich, eines aus der Natur auf den Menschen (Soziobiologie als moderne Figuration des Mythos) übertragen wurde, oder ob es tatsächlich in beiden Bereichen unabhängig voneinander objektiv gleiche Verhältnisse gibt. Auch in der Moderne finden sich also in der Bestimmung von Natur und Kultur beziehungsweise Gesellschaft ständige und zum Teil in ihrer Systematik erkennbare Verflechtungen. Ähnlich funktioniert natürlich auch die Gleichsetzung von Onto- und Phylogenese und deren Projektion auf synchrone Differenzen. Und es zeigt sich, dass Foucault nicht umsonst die Rolle der Historizität und somit der zeitlichen Anordnung als ein Definiens herausgestellt hat, das die Distinktion der Moderne erlaubt. Andererseits tritt zu Tage, inwiefern eine umfassende kulturelle Bestimmung der Moderne unter Umständen auch deren EntDifferenzierung ergeben und in pessimistischer oder optimistischer Lesart Ähnlichkeiten mit dem Wilden Denken aufweisen kann. Mit Rückgriff auf die Diskussion um verschiedene Formen der Differenzierung und Identifikation von Menschen und Nicht-Menschen ist vielleicht nochmals außer Zweifel zu stellen, dass auch andere Rationalitäten – hier jene, die als Animismus in der Anthropologie neu aufgerollt wird – durchaus nicht beliebig Natur und Kultur vermischen. So hat etwa Descola in diesem Fundamentalbereich mehrere Ontologien konkret spezifiziert.127 Er versucht zum einen, die vorgegebene Natur/Kultur-Trennung der Moderne zu durchbrechen, indem er analysiert, wie unterschiedliche Modi der Identifikation die Beziehung zwischen Menschen und Nicht-Menschen gestalten. Zum Zweiten durchbricht er auch die Dichotomie zwischen Moderne und ihrem Anderen, indem er die Form der Beziehungen entlang von zwei sich überlagernden Achsen der Differenz, nämlich Interiorität und Materialität oder Physis variiert und somit zu vier Formen kommt: Totemismus, Naturalismus, Animismus und Analogismus. Bezüglich der Physis, also dem Materiellen sehen Totemismus und Naturalismus Kontinuitäten zwischen Menschen und Nicht-Menschen, während Animismus und Analogismus hier Differenzen oder Ähnlichkeiten aber keine Kontinuität oder Identität wahrnehmen. Was andererseits die Interiorität, also die Intentionalität und Subjektivität, die Reflexion, die Kommunikation, das Gedächtnis betrifft, so sehen Totemismus und Animismus Kontinuitäten, Naturalismus und Analogismus hingegen Diskontinuitäten zwischen Menschen und Nicht-Menschen. 127 Vgl. zur Darstellung der vier Identifikationsmodi Descola (2006).
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Es ist also denkbar, dass Natur und Kultur nicht überall in der spezifischen Weise getrennt sind, wie sie Habermas für die Moderne vertritt. Dies muss jedoch nicht primär mangelnde Differenzierung heißen. Wie angedeutet wurde, können Identität und Differenzierung anders gelagert sein, wobei die skizzierte soziale Kontinuität – einen Schritt weiter gedacht – sich im Gegenteil auch als Ausdruck eines Bemühens um Integration verstehen ließe.128 In der Anthropologie zumindest dreht sich die Diskussion gegenwärtig tatsächlich insbesondere darum, wie man von der modernen Natur/Kultur-Dichotomie als Voraussetzung im eigenen Denken loskommen kann (ohne auf Biologismen zurückzugreifen). Insofern ist dieses Projekt dem Vorhaben von Habermas, die moderne Dichotomie als Realitätsunterstellung zu universalisieren, diametral entgegengesetzt. In diesem Zusammenhang wäre eventuell zu überlegen, ob nicht eine bestimmte Integration von Natur und Kultur ein gemeinsames rational-strategisches Handlungsfeld eröffnen könnte, das durchaus von Habermas inspiriert sein kann. „[L]’animisme fait aussi preuve d’un universalisme décidé lorsqu’il refuse de cantonner la subjectivation aux seuls humains: toute entité pourvue d’une âme accède à la dignité de sujet et peut mener une vie sociale aussi riche de significations que celle prêtée à Homo sapiens.“129
Die idealerweise herrschaftsfreie Kommunikationsgemeinschaft würde demnach eine im sozialen Zusammenhang integrierte Natur umfassen.130 Auch für deren Aussagen hätte dann zu gelten: „Wenn eine Aussage wahr ist, verdient sie, gleichviel in welcher Sprache sie formuliert ist, universale Zustimmung“131. Selbst wenn ein solcher Weg gegenwärtig für den Westen als globales Paradigma kaum vorstellbar scheint – einer der Versuche, die Moderne in dieser Hinsicht zu revidieren, wäre vielleicht den Arbeiten von Latour zu entnehmen.132 Die knappe Skizze des aktuell diskutierten Perspektivismus macht jedenfalls deutlich, dass in dieser Ontologie die Handlungsmacht (Agency) auch im Sinne des erkenntnistheoretischen Konstruktivismus keineswegs nur beim Menschen 128 Der Mythos kann folglich auch als Strategie gelesen werden, die sehr wohl getrennt aufgefassten Bereiche von Natur und Kultur zu vermitteln – so etwa ein weiteres Ergebnis von Lévi-Strauss (1973: 151). 129 Descola 2005: 391. 130 Wie solch ein umfassender Kommunikationszusammenhang bei den von Habermas aus der Kommunikation Ausgeschlossenen vorstellbar ist, beschreibt z.B. Howell (1996). 131 Habermas 1995: 93. 132 vgl. z.B. Latour 1998: v.a. 189ff.
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liegt. Und da angesichts dieses Grundverständnisses das Kontinuierliche zwischen Mensch und Nicht-Mensch nicht die Physis ist, sondern die Subjektivität mit Intentionalität, Selbst-Bewusstsein, Selbst-Reflexivität, besteht die Möglichkeit, dass die Beziehung zu Nicht-Menschen sozial ist. Denn der Perspektivismus gilt im hier skizzierten (südamerikanischen) Animismus auch für andere Lebewesen, die sich daher wie die Menschen ihrem Gegenüber als Subjekte erleben. „And so it is that what some call ‚nature‘ can well be the ‚culture‘ of others. This is then a lesson from which anthropologists might well learn.“133 Ich habe hier mit dem Perspektivismus als Gegenposition zu Habermas einen Ansatz gewählt, der nicht nur mit Foucaults Sicht einiges gemeinsam hat, sondern von dem Habermas’ Gewährsmann Lévi-Strauss gesagt hat, dass er damit vollkommen übereinstimmt. Diese Ontologie steht im Zusammenhang meiner Untersuchung wie die Moderne als eine spezifische Logik zur Diskussion, die nicht in ihrem referentiellen Wert, sondern ihrer Konsistenz gegenüber der Moderne betrachtet wird. Damit ist natürlich bloß eine der möglichen und in der Anthropologie debattierten Variationen zum Thema Subjektivierung und Objektivierung etwas detaillierter angesprochen. Allerdings betrifft diese Differenzierung ein fundamentales epistemologisches Niveau und daher verfolgen manche Analysen ähnlich Foucault den Gedanken, einer solch anderen Ontologie für die kritische Infragestellung der Moderne relevanten Status zuzuerkennen.134 Hingegen ist gemäß Habermas die Konzeption von Mythos, Magie und entsprechender Gesellschaftsordnungen bloß als Negativum der Moderne zu denken und kann kaum eine andere Existenzberechtigung haben, als deren Positivität auszusagen. Diese Überlegungen zeigen, dass Habermas’ Ansatz als Ausgleich eines bei Foucault eventuell zu verzeichnenden Defizits, als eine Theorie des Aushandelns so unterschiedlicher Standpunkte, wie sie Foucault in der Geschichte des Westens gefunden hat, kaum in Betracht kommt. Als Vorgabe bei Habermas gilt grundsätzlich: „Für das tendenziell Unüberschaubare läßt sich wissenschaftlich das eine [Herv. i.O.] Prinzip, die Universalie finden, mittels derer man theoretisch das Viele in einer höheren, allgemeineren Ordnung aufzuheben bzw. zu klassifizieren versucht.“135
Ist an sich eine solche Operation – universalpragmatisch, kontexttranszendierend auf ein, wenn auch aus dem Konkreten a posteriori abgeleitetes, vorläufig gültiges, also ein ‚abgeschwächtes Apriori‘ gerichtet – schon in Gefahr, über Unter133 Viveiros de Castro 2005: 43. 134 Vgl. dazu Viveiros de Castro (v.a. 2009) und etwa auch Latour (2009). 135 Dörfler (2001: 57), der hier Habermas explizit in die Nähe zu Hegel rückt.
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schiede hinwegzugehen,136 so lässt dies zunächst noch nicht erkennen, inwieweit systematische Asymmetrien in diesem Identifikationsschritt eine Rolle spielen. Erst die genauere Analyse der Differenzierungen, auf denen Habermas’ Ansatz beruht, kann aufweisen, dass hier die Synthese die Antithese nicht umfassen, sondern bloß die These wiederholen darf. Eine Antwort auf die Frage, ob und wie in Habermas’ Theorie des kommunikativen Handelns eine Verständigung zwischen der aufgeklärten Moderne und den Anderen, der ‚archaischen Tradition‘, zustande kommen kann, ist aufgrund dieser Analyse einfach: überhaupt nicht. Die Anderen können und sollen gemäß Habermas auch gar nicht am Verständigungsprozess teilnehmen. Da zu rational argumentierender Kritik und Selbstkritik nur die Moderne fähig sei, kann diese Überlegenheit keinesfalls durch Kritik der Anderen ins Wanken geraten, sind deren Positionen keinesfalls Grund zur Selbstkritik der Moderne. Die Moderne wäre also ein Weltbild, das seinerseits nicht umfassend kritisierbar ist, weil es selbst spezifische Arten der Kritik, inklusive Selbstkritik, etabliert hat. Somit darf die Moderne auf einer Metaebene als Weltbild nicht gegenüber Alteritäten subjektiv werden, darf sich selbst nicht durch Distanzierung vom eigenen objektiven Weltbezug als bloß normativ-sprachliche Ordnung erkennen. Dadurch nämlich würde sich beweisen, wie die Moderne Natur und Kultur vermischt hat. Und es könnte sich zeigen, dass es ihr nicht gelungen ist, ihre Existenz durch Subjektivierung mit der Fähigkeit, alternative Perspektiven einzunehmen, zu bestimmen. Die Verortung des Anderen im phylo- und ontogenetischen Selbstbezug ist allerdings eine sehr spezifische Form, das Andere nicht zu sehen, keine Differenzierung zwischen Ego und Alter zu machen. Auf der Metaebene muss die Moderne offenbar eine geschlossene, an die Realität ihres Weltzugangs gebundene Figur bleiben. Die Anwendung ihrer eigenen Modi der Kritik auf sich selbst würde sonst die Great Divide aufheben, würde die Moderne als eine spezifische Transformation ‚archaischer‘ Gesellschaft zeigen, würde sie als Objekt einer generalisierten Anthropologie erweisen. Möglicherweise sind Adorno und Horkheimer etwas kritischer und selbstkritischer als Habermas, was die Distinktion von Aufklärung und Mythos anbelangt:
136 Vgl. Dörfler (2001: 64f. und 57) zu dieser Zielvorgabe im Ansatz von Habermas, was – wie Dörfler berichtet – Lyotard davon als Terror sprechen lässt.
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„Wie die Mythen schon Aufklärung vollziehen, so verstrickt Aufklärung mit jedem ihrer Schritte tiefer sich in Mythologie. Allen Stoff empfängt sie von den Mythen, um sie zu zerstören, und als Richtende gerät sie in den mythischen Bann.“137
Allerdings bemerkt Schäfer, dass Horkheimer und Adorno gegenüber den von ihnen Kritisierten selbst eine „potentiell totalitäre Haltung [Herv. i.O.]“138 einnehmen. Auch Schäfer, der Foucault für eine Kritik der ‚Dialektik der Aufklärung‘ und der Frankfurter Schule insgesamt fruchtbar machen will, kommt zu dem Schluss: „Als konstitutiv für beide Denkweisen wird vor allem ihr antitotalitärer Impetus angesehen. Aus der Perspektive der Macht- und Diskursanalyse Foucaults relativiert sich diese Ähnlichkeit jedoch erheblich und läßt gerade auch in diesem Punkt eine fundamentale Gegnerschaft [Herv. i.O.] zwischen beiden Denksystemen zutage treten.“139
Entsprechend meiner Untersuchung ist insbesondere die Unverträglichkeit einer an Vielfalt interessierten Perspektive mit einem Konsensmodell, wie es Habermas konzipiert, evident. Denn Bedingung, überhaupt zum Bereich des Verständigungsprozesses zugelassen zu sein, ist, dass die Alterität schon aufgegeben wurde. Andere können gar keine Subjekte sein, solange sie nicht die uns bestimmenden Differenzierungen vollzogen haben – und nur dem modernen Subjekt Gleiche finden im Diskurs Gehör. Konsequenzen der Vorgabe von Habermas, dass jedes sprach- und handlungsfähige, also ‚mündige‘ Subjekt an der entscheidenden Kommunikation teilnehmen darf – aber eben auch nur dieses –, diskutiert Biebricher zum Beispiel in Hinblick auf geistig Behinderte oder Kinder.140 Die Tatsache, dass Indigene gemäß Habermas’ Ansatz de facto unmündig sind, wird hingegen nicht angesprochen. Obwohl – wie Biebricher hervorkehrt – Habermas’ Vorhaben als prozeduralistischer Zugang derart zu verstehen ist, dass nicht auf inhaltlich-substantielle Grundnormen Anspruch erhoben, sondern im Sinne einer (bloß) formalistischen Ethik daran gearbeitet werden soll, Bedingungen, die eine unparteiliche Lösung ermöglichen, zu identifizieren141, sind die Vorgaben derart gestaltet, dass bei fundamentalen inhaltlichen Festlegungen eine Vielfalt kultureller Positionen ausgeschlossen wird. Dies muss allerdings noch nicht heißen, dass Habermas’ 137 138 139 140 141
Horkheimer; Adorno 1992: 18. Schäfer (1995: 197), der dabei weiter auf Schnädelbach verweist. Schäfer 1995: 196f. Vgl. Biebricher 2005: 183f. Vgl. Biebricher (2005: 158) zu dieser Spezifikation der Konzeptionen von Habermas.
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Kommunikations- und Verständigungsprogrammatik nicht innerhalb der spezifischen kulturellen Strukturierung der Moderne funktionieren kann – und zwar gerade, wenn ein kritisches Außen keine Rolle spielen darf. Denn globalisiert sich die Moderne nach der Vorstellung von Habermas und kennt kein gegenwärtiges Außen mehr, so sind für die Differenzen im Inneren der Moderne die hier eingebaute Kritikfähigkeit ebenso wie die diskursethischen Prämissen besonders wichtig. Dass Konsens im Prinzip immer und in allen Bereichen möglich und Ziel ist, könnte vielleicht aber dazu führen, systematisch zu wenig Augenmerk auf die Frage zu legen, wie man mit vorderhand noch bestehenden Uneinigkeiten umgeht. Zudem bergen diese Voraussetzungen eine gewisse Gefahr für Habermas’ konzeptuelles Fundament insgesamt: Wenn die Konsensmöglichkeit ein Verschwinden des Anderen bedeutet, wie ist dann noch das von Habermas beschriebene, in der Internalisierung des Blicks des Anderen bestehende, SelbstBewusstsein erreichbar? Die Relevanz, die Habermas diesem Subjektivierungsvorgang für die Konstitution der Moderne zuschreibt, könnte umgekehrt in seinem Gedankengebäude die Möglichkeit, aber auch die Notwendigkeit von Konsens zur Diskussion stellen. Insofern wäre die Universalisierung zugleich eine Selbstauflösung der Moderne – oder braucht der Subjektivierungsvorgang kein kommunikationsfähiges, präsentes Gegenüber und für die Herausbildung des aufgeklärt modernen Ich genügt auch ein historisch-fiktives mythisches Anderes? Sind hingegen die modernen Realitäten (wieder) relativiert, so ist auch eine an die Subjektivierung geknüpfte Bewegung gegenseitigen Verstehens nicht mehr so zentral. Ein Erfassen des jeweils anderen (Zeichen-)Systems ist bei Foucault, nachdem der den Blick verstellende Mensch sich auflöst, ohnehin unproblematisch. Mehr ist andererseits nicht möglich, da Foucaults Archäologie aufgrund ihrer grundsätzlich differenzierenden Bewegung die Argumentation einer Gemeinsamkeit stiftenden Vereinigung von Unterschiedenem nicht verfolgt. Daher ist auch eine in der Rationalität kritisierbarer Geltungsansprüche zu suchende Basis gemeinsamer Kommunikation und damit der Ansatz außersprachlicher Objektwelten gar nicht notwendig. Man könnte also Foucault eine Denkbewegung vorwerfen, die nicht zeigt, wie Differenzen aufgehoben werden können. Andererseits geht diese Epistemologie von einer ständig vorhandenen Kommunikation und Auseinandersetzung aller Positionen auf gleicher Augenhöhe aus. Hingegen ist bei Habermas ein grundsätzlicher Bruch der Kommunikation festzustellen, wo die Anderen weder intern noch in der Beziehung zur aufgeklärten Moderne zu ernst zu nehmender Kommunikation fähig sind.
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Um hier ein letztes Mal Habermas’ Position vor dem Hintergrund der anthropologischen Charakteristika, auf die er sich beruft, zu beleuchten, ließe sich seine Abgrenzung der Moderne gegenüber Anderen mit dem Konzept der Kaste, wie es Lévi-Strauss beschreibt, vergleichen. Denn im Gegensatz zur Exogamie, wo ein differentielles System Verschiedenartigkeit und Einheitlichkeit zugleich vermittelt, bestehen im Kastensystem die Gruppen endogam für sich; die Identität jeder Gruppe – tendenziell substantialisiert und naturalisiert – steht im Vordergrund (verschiedene Berufsgruppen oder eben soziale Entitäten wie archaische Gemeinschaften versus moderne Gesellschaft).142 Und in diesem Zusammenhang lässt sich auch Lévi-Strauss’ eigene Position im Unterschied zu Habermas beleuchten. Asch hat die Rolle und den Konnex von Kommunikation und Differenz bei Lévi-Strauss folgendermaßen expliziert: Gemäß Inzesttabu kann das Selbst nicht ein Selbst heiraten: „Therefore, Self is obliged to find an Other to marry. In so doing, Self joins Other in a common project – intermarriage. However, in order to avoid the restrictions imposed by the incest taboo, each party must ensure that the distinctiveness and autonomy of the Other is maintained. The result is not less than the establishment of society [...].“143
Das hat zur Konsequenz: „Thus, humans could never have lived in a state of nature as posited by Social Contract theorists, nor could any society exist that was ‚so low on the scale of social organization‘ as to be ‚incommensurate‘ with any other [...]. Following Lévi-Strauss’s treatise one is led to conclude that, to the contrary, there is no unbridgeable gulf between societies.“144
Damit ist einer Etablierung der Kommunikationsgemeinschaft nach Innen durch Abbruch der Kommunikation nach Außen als grundlegendem und durchgängigem Prinzip jedenfalls widersprochen. Foucaults Rationalitätskritik ist also grundsätzlich anders angelegt als jene von Habermas und sie geht in ihrer Hinterfragung unserer Kultur theoretisch viel weiter. Habermas kritisiert eine Spaltung der Vernunft in der Moderne. Er warnt vor einem Ungleichgewicht, wo die instrumentelle über die moralische Vernunft 142 Vgl. Lévi-Strauss 1973: 147f., 173ff. 143 Asch 2005: 429. 144 Asch (2005: 434); folglich liest Asch die Elementaren Strukturen der Verwandtschaft von Lévi-Strauss (1981) als eine innovative Alternative, die innerhalb der Aufklärungstradition eine grundlegende Herausforderung an die konventionelle Aufklärungsperspektive – inklusive Rousseau – darstellt.
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in zu vielen Bereichen die Oberhand gewonnen hat. Diese Asymmetrie wäre (wieder) zu beheben – und hier spricht Habermas anderen Kulturen tatsächlich eine gewisse Vorbildfunktion zu.145 Foucault hingegen zeigt nicht nur den Missbrauch der modernen Vernunft – was noch die Hoffnung bergen könnte, nur diese Auswüchse seien zu bekämpfen. Sondern insbesondere in der Ordnung der Dinge hinterfragt er auch ihre positive Seite. Er glaubt nicht an eine negative Entwicklung oder Spaltung der Vernunft, sondern stellt fest, „daß sich das Versprechen der Aufklärung, durch Ausübung der Vernunft die Freiheit zu gewinnen, [...] in eine Herrschaft ebendieser Vernunft verkehrt hat, die immer mehr den Platz der Freiheit usurpiert“.146 Solche Zweifel findet Foucault auch bei Vertretern der Frankfurter Schule wie Horkheimer. Aber natürlich zielt Foucault nicht auf eine Befreiung des Menschen zu seinem eigentlichen Wesen147, sondern er will die moderne Vernunft, die den Status der einen und einzigen bekommen hat, als eine mögliche unter mehreren aufzeigen und kann so auf eine grundlegendere Veränderung – als unter anderem Habermas – hoffen können.148 „[D]essen ganzes Unternehmen beweist, daß man, wenn auch die Subjektivität der Geschichte-für-mich der Objektivität der Geschichte-für-uns Platz machen kann, doch nur dann das Ich in ein Uns zu verkehren vermag, wenn man dieses Uns verurteilt, nur ein Ich in der zweiten Potenz zu sein, das selbst gegenüber anderen Uns hermetisch abgeschlossen ist. Der Preis, der damit für die Illusion gezahlt wird, die (in einem solchen System) unauflösbare Antinomie zwischen dem Ich und dem Anderen überwunden zu haben, besteht in der Zuweisung der metaphysischen Funktion des Anderen an die Papua durch das historische Bewußtsein.“149
Diese von Lévi-Strauss an Sartre gerichtete Kritik beschreibt erstaunlich genau die Mittel der Inklusion und Exklusion, also letztlich die Etablierung einer einzig gültigen Vernunft, auf die ebenso Habermas setzt. Und dessen Entwurf belegt, wie substantiell hierbei auch heute noch die geschichtliche Identitätslogik ist – und wie aktuell daher Foucaults Revision. Wiewohl ich mich auf das besonders in der Philosophie gern gespielte Mythos/Logos-Spiel zum Teil eingelassen habe, soll dennoch die Frage nicht ganz übergangen werden, ob es in sowie auch zwischen anderen Gesellschaften vielleicht ebenso erkennbare Unterschiede auf der diskursiven Ebene gibt wie in der 145 Vgl. Habermas 1995: 102. 146 Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 81. 147 Foucault kritisiert, dass die Frankfurter Schule einen relativ traditionellen Subjektbegriff vertritt (vgl. Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 83). 148 Vgl. Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 533f. 149 Lévi-Strauss: 1973: 297.
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Moderne etwa das Nebeneinander von Wissenschaft und Religion. Nun ist es zwar möglich, dass weniger festgeschriebene, weniger doktrinäre religiöse Systeme viel mehr Raum für Veränderungen lassen – sei es aufgrund sozialen Wandels oder auch empirischer Erkenntnisse – und Religion und Wissenschaft eher ineinander verschränkt bestehen können. Möglicherweise ist es aber im Sinne eines offenen Weltverständnisses, wie es ja Habermas fordert, grundsätzlich angebracht, in anderen Gesellschaften mit der Existenz mehrerer differenzierbarer Wissenssysteme, die unterschiedlichen Rationalitäten folgen, zu rechnen. Damit wäre zu verhindern, dass eine Great Divide jedem mündigen Menschen unausweichlich und alternativlos die Moderne vorgibt. In dieser Hinsicht existieren allerdings – speziell von anthropologischer Seite – auch Kritiken an Lévi-Strauss’ Arbeiten, insbesondere dem Wilden Denken. Sicherlich findet sich bei LéviStrauss eine universalistische Argumentation. Zugleich hat er mit dem Wilden Denken einen Gegenpol zur modernen Wissenschaft entworfen. Anders als bei Habermas impliziert diese Dichotomie nicht die Vorgabe, die westliche Wissenschaft auszudehnen – also die universelle Gültigkeit von etwas zu argumentieren, das eben nicht universell ist. Denn die bei Lévi-Strauss angesprochene universelle Ebene der Einheit des Menschen ist eine, die vor jeder kulturellen Differenzierung liegen soll. Westliche Wissenschaft wie Wildes Denken lassen sich also gleichermaßen darin ansiedeln. Zudem stellt sich dieses Begriffspaar nicht uneingeschränkt als Great Divide dar. Lévi-Strauss erarbeitet nämlich nicht nur dessen Opposition, sondern bricht diese durch einen Vergleich mit der Kunst. Gegenüber der Kunst haben das Wilde Denken und die moderne Wissenschaft einiges gemeinsam und sind somit beide als Wissenschaften zu betrachten, andererseits steht die Kunst auch zwischen moderner Wissenschaft und Wildem Denken, trennt diese also vermittelnd.150 Außerdem differenziert Lévi-Strauss die Naturwissenschaft dann in Richtung einer Entwicklung, die sie dem Wilden Denken annähert. Es bleibt also nicht zuletzt von der Begründung her überraschend, wie Habermas seine Great Divide argumentiert. Man kann festhalten, dass gewisse Fragestellungen bei Foucault kaum auftauchen können. Beispielsweise vermeidet er Untersuchungen, die sich aus einer bipolaren Sicht ergeben – ‚unsere‘ Vernunft, einzigartig und zugleich ohne Gewalt universalisierbar, versus eine davon unabhängige, wie auch immer definierte, andere Rationalität. Dies wäre ein Denken gemäß der Logik etwa der Ideengeschichte, wonach Unterschiede entweder nur oberflächlich letztlich durch Prinzipien der Kohärenz aufzuheben sind – oder andernfalls unüberbrückbar und 150 Vgl. Lévi-Strauss 1973: 41.
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eventuell unaussprechlich groß, zwar Anlass des Diskurses, aber selbst nicht in die Kommunikation einzubeziehen sind.151 Und wie die vorangegangene Analyse zeigt, steht Habermas diesbezüglich durchaus in dieser Tradition steht. 152 Foucault hingegen sieht keinen Mangel oder Kollaps der Vernunft, sondern vielfältige Transformationen rationaler Formen, die zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Gesellschaften und in verschiedenen Bereichen dominieren. In seinen früheren Arbeiten hätte Foucault wohl die horizontale Einheitlichkeit stärker betont, aber das Zentrale bleibt bei ihm, dass nicht ‚die Vernunft‘ – vom Westen auf seinem einzigartigen Sonderweg ans Licht gebracht – auf dem Spiel steht.153 Konsequenterweise wehrt sich Foucault dagegen, entweder für Vernunft sein zu müssen oder der Irrationalität anheim zu fallen. Und besonders aufschlussreich ist vielleicht, dass er diese Position nicht nur theoretisch vertreten hat, sondern detailliert verschiedene andere Arten der Vernunft, des Verhältnisses zwischen Dingen und Wörtern, Formen der Wahrheitsproduktion in bisher relativ vertraut geglaubten Gesellschaften historisch distanziert erarbeitet hat.154 Die gegenwärtige Debatte um die Great Divide in der Sozial- und Kulturanthropologie beweist, dass Foucault auch eine für dieses Fach relevante Perspektive bietet – ihr großes kritisches Potential zeigt seine Strategie aber speziell im Kontext gewichtiger philosophischer Grundpositionen. Foucaults Arbeit mit der Ethnologie als methodologischem Vorbild leistet deren Vervollständigung, indem er sie auf die moderne Gesellschaft ausdehnt. Mit seiner Heterologie155 kann er dabei dennoch Differenzen als Grundinteresse beibehalten und so im Gegensatz zu einer an Universalien interessierten Anthropologie operieren.
151 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 215f. 152 Wollte man von epistemologischen Positionen einen direkten Bezug zur gesellschaftspolitischen Praxis herstellen, so ließe sich vielleicht annehmen, dass bei Orientierung am Habermas’schen Ansatz Vielfalt wenig Spielraum gegeben wird, ihrer Vernichtung kaum etwas im Wege steht, andererseits aber eine vereinheitlichte Existenz von Gleichen denkbar ist. Hingegen wird vom Foucault’schen Ansatz her die beständige Existenz von Vielfalt leichter denkbar sein, aber nichts sagt, dass diese Vielfalt nicht radikal hierarchisch gegliedert sein kann – obwohl die Pluralität der Positionen vielleicht dementgegen in Richtung einer gewissen Relativierung weist. 153 Vgl. Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 542f. 154 In diesem Zusammenhang ist einleuchtend, dass es für Foucault nahe lag, häufig mehrere (drei) und nicht nur zwei Problematisierungen zu explizieren. Außerdem kann dadurch auch die bei zwei differierenden Positionen offen gelassene Frage nach einer Entwicklungsrichtung eindeutiger beantwortet werden – in seinem Fall negativ. 155 Serres bezeichnet Foucaults „Ethnologie des europäischen Wissens“ als Heterologie – siehe: Serres, Michel (1968: 193, 198): La Communication. Paris: Les Éditions de Minuit; zitiert nach Merquior (1991: 55).
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D ER U MFANG
VON
F OUCAULTS R EVISIONEN
Gemäß Habermas’ Fundierung der Theorie des kommunikativen Handelns sind andere kulturelle Strukturierungen als jene der westlichen Moderne wohl kritikwürdig, aber nicht kritikfähig – das ergibt sich aus der Analyse im vorigen Abschnitt. Begründet wird dies von Habermas damit, dass ein unzureichend ausdifferenziertes Weltbild die Weltdeutung soziozentrisch nicht von der objektiven Welt und egozentrisch die eigene subjektive Welt nicht von jener der Anderen unterscheidet und daher keine entsprechend rationale Selbstkritik kennt – und nur eine solche würde auch eine nach Außen gerichtete Kritik rechtfertigen. Interessanterweise impliziert dies, dass die Beurteilung, ob die westliche Moderne selbst ihren Kriterien gerecht wird, nur der westlichen Moderne zusteht. Auch die Entscheidung, ob diese Kriterien zu Recht bestehen und ob nach diesen Kriterien Andere zu Recht ausgeschlossen werden, kann somit nur nach modernem Maßstab getroffen werden. Daher taucht die Problematik auf, inwieweit eine solchermaßen konzipierte Moderne nicht doch ein geschlossenes Weltbild darstellt. Dazu stützt sie sich auf mit Geltungsanspruch ausgestattete Realitätsunterstellungen, die folglich auch von Innen her nicht kritisierbar sind. Residuen in modernen Gesellschaften, die diesem Ansatz westlicher Moderne nicht entsprechen, gehören nicht zur Moderne und haben selbstredend ebenfalls kein Mitspracherecht. Eine solche Logik der Moderne kann die Suche nach entsprechend ausformulierten Alternativen motivieren. Dies zumal wenn, wie Wimmer feststellt, zumindest die Hauptströmungen der akademischen Philosophie immer noch mit missionarischer Arroganz die nicht-europäische Philosophie – und wohl auch das nicht-europäische Denken allgemein – disqualifizieren. Um dem entgegenzutreten ist „die Etablierung neuer Diskurse von nöten, in denen grundsätzlich von der Vermutung latenter Inkompetenz Abschied genommen wird“156. Mit diesem Interesse wird Foucaults ethnologischer Blick in den nächsten Abschnitten verortet. Als orientierender Hintergrund dafür folgt nun unmittelbar eine skeptische Gliederung der kritischen Strategien von Foucault, wie sie in der Sekundärliteratur vor allem in Anschluss an Habermas formuliert wurde. Ein Rekurs auf Fraser157 soll die Einschätzung von Foucaults kritischem Impetus einleiten, denn Fraser hat hierfür einige Grundlinien systematisch herausgearbeitet. Zugleich ist es interessant, dies als wichtigen Einsatzpunkt der Kontroverse um das skeptische Urteil von Habermas zu bedenken. Fraser bezieht sich näm156 Wimmer 1988: 161 und oben 160. 157 Vgl. Fraser (1994: 56-85) zur meiner Rekapitulation ihrer Argumentation.
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lich primär auf Habermas’ Vorwurf, Foucault sei ein antimoderner Jungkonservativer. Diese sehr einflussreiche Charakterisierung meint, dass Foucault nicht nur die Kluft zwischen modernen Normen und den tatsächlichen Verhältnissen kritisch offen legt, sondern die Moderne insgesamt ablehne. Ironischerweise müsse sich Foucault dabei aber doch auf bestimmte – und zwar moderne – Kategorien und Werte wie Rationalität, Freiheit, Wahrheit, Kritikmöglichkeit berufen. Habermas’ Haupteinwände fallen in drei Bereiche:158 er kritisiert auf methodologisch-theoretischer Ebene Foucaults Funktionalismus, Historizismus, Präsentismus, Relativismus und Kryptonormativismus; des Weiteren kritisiert er Foucaults empirische Beschreibungen der Macht/Wissens-Beziehungen; dies führt schließlich zur politischen Kritik, dass Foucaults Positionen zu Indifferenz und Konservativismus verleiten. Fraser untersucht Foucaults Ansatz und dessen verschiedene Lesarten in der Sekundärliteratur auf das Problem hin, was Foucault mit seinen Angriffen auf die Moderne eigentlich treffen wollte. Nachdem sie die Frage gestellt hat, ob Foucault denn die gesamte Moderne zurückweise und zurückweisen müsse, wenn er den Humanismus kritisiert,159 differenziert sie drei mögliche Ebenen der Ablehnung: die konzeptuell-philosophische, die strategische und die normative. Nach der ersten Lesart160 verwirft Foucault nicht unbedingt von vornherein die Werte und Lebensformen der Moderne. Er vervollständige Heideggers Versuch, Subjekt und Objekt nicht wie in der modernen Philosophie für ahistorische Fundamente zu halten. Mit seiner Episteme und später dem Macht/Wissen-Regime hätte Foucault weiter an der Explikation dieses Hintergrundes gearbeitet, um so die heutigen Objekte und Praktiken zu denaturalisieren und für Änderungen zu öffnen. Zudem zeige Foucault den Zusammenhang zwischen dem Menschen der Moderne und der normalisierenden Machtform. Das humanistische politische Projekt will diese Problematik lösen, indem es versucht, wie Fraser ausführt, „den Subjektpol über den Objektpol triumphieren zu lassen, Autonomie zu gewinnen durch die Meisterung des Anderen in der Geschichte, in der Gesellschaft, in sich selbst, die Substanz zum Subjekt zu machen“161. Foucault will demnach nicht Freiheit und Vernunft abschaffen, sondern diese widersprüchliche Figur einer unterworfenen Souveränität, die in der Praxis zu Herrschaft führt. Das Inte158 Vgl. dies solcherart kurz zusammengefasst bei Isenberg (1991: 1388). 159 Diese Frage ist sehr berechtigt, da Foucault ja nie Wissenschaften wie Physik oder Mathematik angreift und auch das Sein der Sprache aus der Moderne in gewisser Weise weiterführt. Allerdings sind seine holistischen Tendenzen zu berücksichtigen. 160 Besonders von Hoy (z.B. 1998) vertreten. 161 Fraser 1994: 63.
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ressante und Neue an Foucault wäre dabei nicht der implizite normative Gehalt seiner Sozialkritik, sondern dass er auf eine klassisch-moderne philosophische Abstützung verzichtet. Er leistet eine Kulturkritik, die frei ist von einem Fortschrittsbegriff (auch von einem kritischen marxistischen oder einem teilweise von der kritischen Theorie vertretenen), frei von Hegelianischer Teleologie und einem Subjekt der Geschichte. Im Namen dieser Lesart sagt Fraser: „Foucault hat gezeigt, daß man keinen Humanismus braucht, um Gefängnisse, Sozialwissenschaften, Pseudoprogramme zur sexuellen Befreiung und so weiter zu kritisieren, und daß der Humanismus in der kritischen sozialen und historischen Literatur nicht das letzte Wort ist [...].“162
Und sie meint, dass bei einem so gedeuteten Ansatz von Foucault der substantielle kritische Kern des Humanismus jedoch erhalten bliebe. Wie in meiner Analyse bereits deutlich wurde, operiert Foucault tatsächlich auf dieser ersten Ebene der Kritik. Ob er damit gerade an den kritischen Kern des Humanismus anschließt oder ob seine Art der Kritik genealogisch auch andere Assoziationen nahe legt, ist noch zu diskutieren. Auch der bei der zweiten Lesart implizierte Gedanke, dass Positionierung, Art und Inhalte der Kritik mit dem jeweiligen Kontext der Argumentation und mit dem Gegenstand der Kritik zusammenhängen, ist bei Foucault zu finden und leitet seine theoretisch-methodische Perspektive und besonders deutlich seine Analyse der verschiedenen Machtformen. Dass Foucault allerdings den Humanismus abgesehen von philosophischen Gründen auch aus strategischen Erwägungen ablehnt, weil der Humanismus zwar eine wirksame Kritik an vormodernen Herrschaftsformen sei, aber keine emanzipatorische Wirkkraft gegen eine moderne Macht hat, die sich wesentlich auf Humanwissenschaften und Subjektphilosophie stützt, dieser Überlegung von Fraser ist vielleicht nur mit gewissen Vorbehalten zuzustimmen. Zumindest sollte damit nicht unhinterfragt vorausgesetzt werden, Foucault arbeite mit den Kategorien Moderne/Vormoderne, werte diese entsprechend und hätte zudem gerade die humanistisch-moderne Kritik als Mittel der Wahl gegen vormoderne Herrschaft beurteilt. Dennoch ist nicht ausgeschlossen, sondern im Gegenteil zu unterstreichen, dass Foucaults Distanzierung vom Humanismus einer strategischen Logik folgt. Andererseits lässt sich ein Anlass für diese Strategie vielleicht nur in Zusammenhang mit der dritten Motivation sehen, denn weder die epistemologische Situation noch die Ohnmacht des Humanismus erklären eine radikale Ablehnung desselben. 162 Fraser 1994: 65.
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Insofern wäre doch anzunehmen, dass Foucault humanistische Ideale ebenfalls aus normativen Gründen ablehnt163 – und dass ihre Verwirklichung deshalb gar nicht wünschenswert ist (auch nicht in dialogischer Rekonzeptualisierung). Und gegen diese Perspektive wären Habermas’ Bedenken eigentlich gerichtet. Nach dieser dritten Lesart behauptet Foucault, „selbst eine vollkommen verwirklichte, autonome Subjektivität würde eine Form der normalisierenden, disziplinierenden Herrschaft sein“164. Wie Fraser erklärt, beruft sich diese Interpretation eher auf Foucaults spätere Arbeiten (v.a. Der Wille zum Wissen und einige Vorlesungen) und sieht sie als Genealogie der Konstitution des hermeneutischen, vermeintlich freien und quasi-noumenalen Subjekts (des kommunikativen Handelns). Womit diese Texte für die Subjektseite des Menschen das leisten, was Überwachen und Strafen für die Objektseite war. Nun zeige Foucault, wie gerade der emanzipatorische Wille, die eigenen Wünsche, Lüste oder das Begehren hermeneutisch zu entziffern und zu befreien, den Versuch darstellt, durch die Beherrschung des Anderen selbst frei zu werden. In einer total panoptisierten Disziplinargesellschaft ist die normalisierende Macht so präsent, dass die Normen nicht von außen auferlegt sind. Auf diese Weise wären die humanistischen Ideale die eigentlichen Ziele der Macht. Durch die Aneignung des Anderen als Eigenes sind die Mitglieder dieser Gesellschaft autonom, womit die ideale Sprechsituation gegeben wäre. Fraser fragt, was man gegen eine solche Gesellschaft einzuwenden hätte. Eine besonders für die Anthropologie relevante Antwort darauf hat das vorhergehende Kapitel mit dem Vergleich zwischen Habermas und Foucault herauskristallisiert. Das Andere ist nämlich nicht bloß ein Teil des individuellen Eigenen, der nach seiner Aneignung nicht mehr störend interveniert. Sondern wie die Fundierung des Eigenen als kulturelle Strukturierung der modernen Gesellschaft bei Habermas zeigt, sind die Anderen durchaus als real existierende Menschen zu verstehen. Und ebendiese sind gemäß Habermas’ dialogischer Reformulierung der Moderne von der Mitsprache auszuschließen, solange sie nicht ihre Alterität aufgeben und in die Moderne eintreten. Angesichts der Verankerung dieser Logik in der Moderne scheint Skepsis angebracht, ob dagegen mit Argumenten des Humanismus etwas auszurichten ist. Entweder kann die Moderne ihren eigenen Ansprüchen von Freiheit, Kritikmöglichkeit und letztlich Rationalität nicht gerecht werden. Oder sie wird ihnen in einer Weise gerecht, die diese Freiheit, Kritikmöglichkeit und Rationalität als partikular erweist, weil sie aus anderer Sicht Implikationen hat, die mit deren 163 So lesen es etwa auch Dreyfus; Rabinow (1994). 164 Fraser 1994: 75.
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Begriff von Freiheit, Kritikmöglichkeit und Rationalität nicht vereinbar sind. In jedem Fall ist die Suche nach einer Rationalität und einem Wahrheitsbegriff gefordert, wo Freiheit und Kritikmöglichkeit anders konzipiert sind. Eine solche Diagnose verlangt von Foucault, sich unter das Zeichen eines anderen Denkens zu stellen, wenn er an der Moderne Kritik üben will. Bei seiner Kritik verlässt sich Foucault jedoch nicht primär auf normative Vorgaben. Wie Habermas festgestellt hat, operiert Foucault aber zumindest insoweit mit Werten, die von der Moderne beansprucht werden, als es darum geht zu zeigen, dass die Moderne sich hinsichtlich der Verwirklichung ihrer Ideale täuscht. Diese Thematik wurde auf epistemologischem Gebiet bereits oben für die Kritik an den Humanwissenschaften in der Ordnung der Dinge expliziert. In den anderen historischen Arbeiten liegt der Schwerpunkt im Bereich sozialer Institutionen. Wenn man mutmaßt, dass diese Kritiken umgekehrt auf Foucaults eigene Position schließen lassen und diese daher laut Fraser „praktisch genommen in einem unbestimmten Sinn ‚humanistisch‘“165 sei, so ist ein Hauptmerkmal des ‚Philosophen mit der Maske‘ wohl die Weigerung, sich diesbezüglich festzulegen und festlegen zu lassen. Da Foucault explizit keine allgemein gültigen Normen vorschlägt und es von seiner Position aus auch nicht kann, muss er darauf hoffen, dass seine Kritik funktioniert, indem die Gegenwart sich noch in der Beschreibung des neunzehnten Jahrhunderts wiedererkennt und zudem diese Zustandsdiagnose auch tatsächlich negativ erfährt und sich davon distanzieren will. Ziel der weiteren Überlegungen zu Foucaults ‚Ethnologie der eigenen Kultur‘ ist zu zeigen, dass seine kritische Perspektive mit der Dekonstruktion zugleich einen bestimmten Standpunkt vertritt – und zwar nicht unbedingt einen einfach unreflektiert weitergetragenen Humanismus. In einem ersten Schritt geht es nun um wichtige Bezugspunkte für Foucaults ethnologische Positionierung, die auch als genealogische Anbindungen seiner Kritik gelten können.
D IE AKTUALITÄT
DER
K RITIK
Foucaults Arbeiten ist zu entnehmen, dass das humanistisch-moderne Subjekt mit der Aneignung des ständig zurückgedrängten Anderen verknüpft ist. Dieser systematische Zusammenhang taucht schon in seinen frühen Untersuchungen auf. Die Ablehnung der Moderne aus normativen Gründen stützt sich daher keineswegs nur auf die späteren Schriften, sondern insbesondere in konzeptueller Hinsicht auf die hier besprochenen Texte zum Anderen und zum Gleichen, 165 Fraser 1994: 64.
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Wahnsinn und Gesellschaft und Die Ordnung der Dinge. Im Zuge der begrifflichen Entfaltung seiner eigenen, an die Ethnologie gebundenen Position wurde bereits mit der Archäologie des Wissens evident, dass Foucault die Geltung einer Vielfalt kultureller Rationalitäten ansetzt. Und wie die beiden vorigen Abschnitte andeuten, sind Kategorien und Werte wie Rationalität, Wahrheit, Kritikmöglichkeit und Freiheit nicht singuläre Konzepte allein der Moderne. Solche, im Unterschied etwa zu Habermas, radikalen Distanzierungen von der Moderne machen es umso überraschender, dass sich Foucault mit seiner Kritik – anders als die Skepsis gegenüber seiner Position annehmen ließe – selbst in die Linie derer stellt, welche auf die Frage „Was ist Aufklärung?“ eine Antwort suchen. Auch Foucault expliziert sein Verständnis von Aufklärung und Kritik in Bezug auf Kants Überlegungen.166 Dem späten Text von Foucault mit dem Titel Was ist Aufklärung? kann man neben Brüchen sehr gut die Kontinuität seiner Position entnehmen.167 Obwohl nach der Zerschlagung des Subjekts nun die Suche nach einer neuen Selbstbeziehung in den Vordergrund tritt und die Möglichkeit einer umfassenden Außenperspektive gegenüber den eigenen Voraussetzungen partikularisiert erscheint, bleibt die Arbeit an Distanz und kultureller Vielfalt typisch. In diesem Sinne sieht Foucault von Kant neben der so genannten Analytik der Wahrheit eine Ontologie der Aktualität ausgehen, deren Vertreter von Hegel, Nietzsche und Weber zu Horkheimer und Adorno reichen, und zu der er seine eigenen Texte zählt.168 Das Schwergewicht liegt demnach bei Kants Text darauf, dass etwas (der Zustand der selbstverschuldeten Unmündigkeit) geendet hat und auch handelnd zu beenden ist – Thema ist hier laut Foucault nicht eigentlich ein Zukunftsent166 Foucaults Verhältnis zu Kant und dessen Aufklärung wurde mehrfach beleuchtet. Sehr umfassend geschieht dies in der Arbeit von Hemminger (2004); einige zentrale Verbindungen zwischen Foucault und Kant zieht z.B. Benjowski (1990: 915); auch etwa Flynn (1989) untersucht Bezüge von Foucault auf die Aufklärung und kontrastiert dies mit Habermas. Dennoch bleibt zu vermerken, dass Foucault immer wieder als Antiaufklärer betrachtet bzw. jedenfalls seine Verbindung mit der Aufklärung ausgeblendet wird (so auch die Einschätzung der Sekundärliteratur bei Moss 2004: 32f.). 167 Vgl. Was ist Aufklärung? [1984]. Direkt zu diesem Text von Foucault siehe auch Macherey (1991: 177ff.). 168 Vgl. Habermas (1998: 104), der zwar die von Foucault getroffenen Differenzierungen anführt, doch überwiegt für ihn die Verwunderung über Foucaults Zuordnung. Biebricher (2005: 109-124) hat sehr detailliert – allerdings ohne Bezug auf den strukturalistischen Ansatz – Foucault und Habermas hinsichtlich ihrer Auffassung von Kritik konfrontiert.
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wurf oder die Einordnung in ein großes Weltgeschehen. Kant geht es mit der Aufklärung um ein neues Verhältnis zwischen Wille, Autorität und dem Gebrauch von Vernunft für die ‚Menschheit‘. ‚Gehorchen‘ gemäß der Stellung als Gesellschaftsteil soll Voraussetzung des freien Gebrauchs der Vernunft um der Vernunft willen als Mitglied der Menschheit sein, was wiederum Gehorsam garantiert – allerdings letztlich dann nur einem politischen System, das mit der universalen Vernunft kongruent ist. Das Interessante für Foucault ist, dass Kant hier die Aktualität für seine Kritik und Geschichtssicht zeigt. „[E]s scheint mir das erste Mal zu sein, daß ein Philosoph so eng und von innen die Bedeutung seines Werkes hinsichtlich der Erkenntnis mit einer Reflexion der Geschichte und einer besonderen Analyse des einzigartigen Moments verbindet, in dem er und wegen dem er schreibt. Die Reflexion auf das ‚Heute‘ als Differenz in der Geschichte und als Motiv für eine bestimmte philosophische Aufgabe scheint mir das Neuartige dieses Textes zu sein.“169
Dies wäre eine Charakterisierung der Moderne als Haltung, als eine spezielle Form der Beziehung zur Aktualität – und nicht als Zeitabschnitt mit bestimmten Eigenschaften. Denn gegen deren Festlegung verwehrt sich die Aufklärung gemäß Kant.170 Diese Haltung verlangt höchste Aufmerksamkeit dem Wirklichen gegenüber mit der Anstrengung, es sich anders vorzustellen und zu transformieren. Diese Haltung will nicht sich, also den Menschen zu seinem eigenen Sein befreien, sondern sie bewegt ihn, „sich der Aufgabe der Ausarbeitung seiner selbst zu stellen.“171 Mit der Aufklärung kann uns – so Foucault – daher diese Haltung als Ethos verbinden. Zunächst müsse man aber der (vor allem in der gegenwärtigen deutschsprachigen Philosophie, wie er sagt, gepflegten) Erpressung entgegentreten, für oder gegen den Rationalismus (der Aufklärung) zu sein.172 Für Kant hat die Kritik der reinen Vernunft die Aufgabe, wie Hemminger schreibt, „die Vernunft endlich in einen ‚beharrlichen Zustand‘ [...] zu setzen“173.
169 170 171 172
Was ist Aufklärung? [1984]: 41. Vgl. Kant 1978: 13f. Was ist Aufklärung? [1984]: 45. Wie Foucault betont, ist die Aufklärung nicht ident mit dem Humanismus, da sie regional verortet ist und soziale und politische Aspekte, ein bestimmtes Wissen, Praktiken und technologische Veränderungen beinhaltet. Dagegen sei Humanismus, kritisiert Foucault, ein sehr und zu elastischer Begriff, weil ebenso christliche wie nationalsozialistische oder stalinistische Werte sich darunter versammelt haben, die sich immer auf von anderen Gebieten (Politik, Religion) entlehnte Vorstellungen vom Menschen stützten (vgl. Was ist Aufklärung? [1984]: 46f.). 173 Hemminger 2004: 84.
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„[D.]i. gemäß Kant ein Zustand, in welchem die Grenzen [Herv. i.O.] ihres Leistungsvermögens klar definiert sind. Insofern ist das gesamte Unternehmen der Kritik zutiefst mit der Aufklärung verbunden. Denn ein beharrlicher Zustand der Vernunft wird im Zeitalter der Aufklärung unerläßlich, proklamiert die Aufklärung die Vernunft doch als einzig verbindliches Richtmaß überhaupt und erklärt sie zudem für autonom.“ 174
Hier trennt sich Foucaults Bezug auf Grenzen schon klar von der Sicht Kants und er folgt daher dem Universalismus der Aufklärung nicht weiter, sondern kommt zu den in der Archäologie des Wissens eingeführten Begriffen wie historisches Apriori oder Archiv. Dennoch ist es interessant, dass sich die Rolle der Grenze bei Foucault in gewissem Ausmaß auch auf dem Hintergrund von Kant sehen lässt.175 Zunächst wäre zu bedenken, dass bei Kant der Begriff der Grenze im Gegensatz zur Schranke ein Außen impliziert. Eingeschränkt ist die Erkenntnis, während die Vernunft zum Bedingten ein Unbedingtes zu finden bestrebt ist. Die daraus folgenden metaphysischen oder transzendentalen Ideen weisen für Kant immer wieder die Grenzen der Vernunft auf: Diese Grenzen sind wichtig, sonst würde für die Vernunft die Erfahrungserkenntnis unbegrenzt ausgedehnt (gedacht) als reine Immanenz des Empirismus oder Materialismus; zugleich lehren sie, nicht über die Grenze der Erfahrung (etwa auf die Dinge an sich) hinausgehen zu wollen. Hemminger hält nun für Foucault fest, dass bei ihm die Grenze für die Differenz, das Andere, das nicht auf das Selbe zurückzuführen ist, steht. Dies wäre wie bei Kant ein Außen, das das Innen begrenzt und somit konstitutiv ist, was Hemminger wohl impliziert. Mit Blick auf Verbindungslinien zwischen Foucault und Kant lassen sich daher Foucaults Ansatzpunkte solchermaßen verorten: „Die Kritik, das Primat des Denkens, die Reflexion von Grenzen, all das ist für die Philosophie Kants zentral. Wenn Foucault hieran anknüpft, zeigt dies, wie stark ihn die Auseinandersetzung mit Kant geprägt hat und in welch großem Maße er bei seiner Kritik der modernen Subjektphilosophie auf den Schöpfer des transzendentalen Subjekts zurückgreift. Daß es dabei schließlich zu gewaltigen Transformationen kommt, ist unbestritten. Doch bleibt die bemerkenswerte Tatsache, daß Kant diese Kritik inspirieren konnte und daß es die Kantische Philosophie ist, anhand derer Foucault auf das zentrale Problem der modernen Subjektphilosophie aufmerksam zu machen vermag: die Trennung von Denken und Sein und den Versuch, diese Trennung zu überwinden – was, wie Foucault zeigt zu einer Liquidation der Kritik führt.“176
174 Hemminger 2004: 84. 175 Vgl. zum folgenden Gedankengang Hemminger (2004: 160ff.). 176 Hemminger 2004: 63.
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Für die angesprochenen Transformationen hingegen kann es fruchtbar sein, sich auf den Strukturalismus oder Saussures Semiologie zu beziehen. Kritik ist auch bei Foucault „Kritik der Vernunft als Reflexion der Grenzen“177 und bezieht sich ebenso wie bei Kant auf die nach bestimmten Regelmäßigkeiten verlaufende Erzeugung des Erkenntnisgegenstandes. Das Apriori allerdings ist historisch – und für diesen Gedanken kulturspezifischer produktiver Grenzen (die doch nicht dem Historizismus gleichen) greift Foucault explizit auf den ethnologischen Strukturalismus zurück. Die Frage ist nicht mehr wie bei Kant, welche Grenzen der Erkenntnis gesetzt sind, keine Suche nach formalen Strukturen mit universaler Geltung. Foucault löst sich also von dem an die Aufklärung gebundenen Strang, den er ‚Analytik der Wahrheit‘ nennt. Dagegen soll das von ihm vertretene Ethos nicht allgemeine Programme vorschlagen, sondern experimentell sein und durch Analyse der verschiedenen konkreten Denk- und Erlebensvoraussetzungen und den Bezug zur Aktualität zeigen, wo und wie spezifische Transformationen wünschenswert und möglich sind.178 Der relevante Gesichtspunkt ist laut Foucault dabei nicht, was an der Aufklärung gut oder schlecht ist, sondern man muss sich als teilweise von ihr determiniert sehen und sich fragen, was heute nicht mehr notwendig ist. Insofern ist der Antinormativismus für Foucault gerade eine Lektion Kants, also der Aufklärung.179 Diese situative Formulierung der Kritik soll mit einer Analyse arbeiten, die es erlaubt, die Schwerpunkte der momentanen Problematisierungen in ihrer Positivität genealogisch herauszuschälen – Foucaults ‚Geschichte der Gegenwart‘. „Ich frage mich, ob man nicht eine der großen Rollen des philosophischen Denkens eben von der Kant’schen Frage ‚Was ist Aufklärung?‘ her dadurch charakterisieren könnte, dass man sagt, es sei die Aufgabe der Philosophie zu sagen, was heute ist [...]. [...] [D]iese Funktion der Diagnose [...] besteht [...] nicht darin, einfach nur das zu charakterisieren, was wir sind, sondern, indem man den Bruchlinien von heute folgt, dahin zu gelangen, dass man erfasst, worin das, was ist, und wie das, was ist, nicht mehr das sein könnte, was ist. [...] Und deshalb hat diese Bezeichnung und diese Beschreibung des Wirklichen niemals den Wert einer Vorschrift in der Form ‚Weil dieses ist, wird jenes sein‘; deshalb auch scheint mir der Rückgriff auf die Geschichte [...] in dem Maße seinen Sinn zu ge-
177 Hemminger 2004: 132. 178 Vgl. dazu auch Kögler 1994: 3. Ophir (2001) ist zu entnehmen, dass Foucaults Kritik damit stark im Gegensatz zur analytischen Philosophie in den USA steht, wo die Gegenwartsdiagnose offenbar kaum eine Rolle spielt, sondern die Legitimation von (bestimmtem) Denken im Vordergrund ist. 179 Zu einer detaillierten Aufarbeitung dieses Aspekts vgl. Hemminger (2004: v.a. 173211).
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winnen, wie die Geschichte zur Funktion hat, zu zeigen, dass das, was ist, nicht immer gewesen ist [...].“180
Und diese hier auf Kant bezogene Form der Kritik verortet Foucault seinerseits nun im Strukturalismus. Er unterscheidet zwei Formen des Strukturalismus: Zum einen versteht er ihn als Methode in verschiedensten Bereichen, die eher Ensembles von Elementen in ihrem (zeitweiligen) Equilibrium studiert als ihre geschichtlichen Prozesse. „Dieser Strukturalismus hat seine Brauchbarkeit zumindest insoweit bewiesen, als er die Entstehung neuer, bis dahin unbekannter Gegenstände wissenschaftlichen Forschens (zum Beispiel die Sprache) [...] ermöglicht hat [...].“181
Andererseits gibt es auch einen generalisierten Strukturalismus – eine Aktivität, mit deren Hilfe reine Theoretiker sich bemühen, aktuelle Beziehungen zwischen verschiedenen Elementen der Kultur, zum Beispiel verschiedenen Wissenschaften und Praktiken zu definieren. Und es ist die darin liegende Vorstellung von Kritik als Diagnose mit Gegenwartsbezug, an der Foucault durchgehend festhält:„Der Philosoph will heute in der Tat nicht mehr sagen, was ewig existiert. Er hat die sehr viel schwierigere und flüchtigere Aufgabe, zu sagen, was geschieht.“182 Und diese auf die Probleme der Gegenwart gerichtete Epistemologie der Diagnose beschreibt Foucault auch 1972 folgendermaßen: „Unter diagnostischer Erkenntnis verstehe ich allgemein eine Form der Erkenntnis, die die Unterschiede abgrenzt und bestimmt.“183 Wie Faubion sagt: Selbst wenn Foucault möglicherweise die Hoffnung auf die (beinahe) Wissenschaftlichkeit der Ethnologie und Psychoanalyse nicht behält – „So fährt Foucault fort, den Strukturalismus, wenn auch nicht mehr ausschließlich, in seinen spezifischen Artikulationen in der Ethnologie und Psychoanalyse dann doch mit mehrfachen Wandlungen des allgemeinen Denkens zu assoziieren, die er ohne Zögern bejaht.“184 180 Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 544f. 181 Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was ‚heute‘ ist [1967]: 745. 182 Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was ‚heute‘ ist [1967]: 745. Auch Eribon (1993: 260f.) verweist auf die in diesem Text getroffene Positionierung des Philosophen und Intellektuellen, um Foucaults Nähe zum Strukturalismus zu belegen. 183 Die Probleme der Kultur [1972]: 461f. Allerdings sagt Foucault in diesem Gespräch explizit, dass er kein Strukturalist ist (vgl. Die Probleme der Kultur [1972]: 466). 184 Faubion 2008: 84.
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Zentral für das hier vertretene Wissenschaftsverständnis der Arbeit von Foucault ist, wie zum Beispiel Flynn formuliert, „that his ‚critique‘ is no mere theoretical enterprise (pace Walzer, Rorty and Habermas, who are scandalized by the gap between Foucault’s ‚conservative‘ theory and his ‚liberal‘ practice)“185. Zunächst sieht Foucault selbst kurz nach der Ordnung der Dinge den Strukturalismus noch als eine Bewegung, die sehr wohl mit bestimmten politischen Richtungen besonders starke Synergien hat. „Mir scheint, dass es zwischen Strukturalismus und Marxismus sogar nicht den Hauch einer Unvereinbarkeit geben kann, da sie nicht auf der gleichen Ebene liegen. Ein Strukturalist mag Marxist sein oder nicht, er wird es stets zumindest ein wenig sein, sofern er sich die Diagnose unserer Lebensbedingungen zur Aufgabe macht. Ein Marxist mag Strukturalist sein oder nicht, er wird es stets zumindest ein wenig sein, sofern er über ein strenges Werkzeug zur Lösung der von ihm aufgeworfenen Probleme verfügen möchte.“186
Später erleichtert der Strukturalismus für Foucault interessanterweise eine Loslösung vom Marxismus, die eine rationale wissenschaftliche Forschung erlaubt, welche dem Gehorsam gegenüber dem marxistischen Dogma entkommt, ohne dabei politisch rechts gerichtet zu sein.187 Sogar hier ist also noch die große Hoffnung auf den Strukturalismus als politische Aktivität spürbar, die Foucault in einem frühen Interview sagen ließ: „Der Strukturalismus ist in meinen Augen darum keine ausschließlich theoretische Schreibtischarbeit für Intellektuelle; er kann und muß mit einer Praxis verbunden werden.“188
Der Strukturalismus als ‚French Criticism‘189 hat bei Foucault diese Funktion also nie ganz verloren.
185 Flynn 1989: 188. 186 Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was ‚heute‘ ist [1967]: 747f. Marx sei im Bereich der politischen Ökonomie ganz im neunzehnten Jahrhundert verhaftet, aber erkenntnistheoretisch – so präzisiert Foucault nun sein Urteil aus der Ordnung der Dinge – hätte er mit einem neuen politischen Bewusstsein und einer neuen Gesellschaftstheorie sehr wohl einen neuen Bereich eröffnet (vgl. Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben [1967]: 159). Zur Frage nach der politischen Zuordnung des Strukturalismus und Foucaults Einschätzung in dieser Hinsicht siehe ausführlicher auch Eribon (1993: 258ff.). 187 Vgl. Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 66f. 188 Interview mit Yngve Lindung [1968]: 836.
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„Die strukturalistische Tätigkeit verweist auf das Funktionale, auf die Untersuchung der Bedingungen des Denkbaren, dessen, was Bedeutung allererst möglich macht, und nicht den einzelnen Inhalt. Bedeutung ist eine Kulturtatsache, die zur Naturalisierung neigt, und genau dieser Prozeß ist von der Semiologie aufzuschlüsseln. Mit seiner Absicht, die sogenannte natürliche, scheinbar unverrückbare Bedeutung ins Wanken zu bringen, zeigt dieses Programm eine radikal kritische Funktion gegenüber der herrschenden gesellschaftlichen Ideologie an.“190
Ähnlich charakterisiert Foucault seine Arbeit als Aufspüren des kontingenten Netzwerks, aus dem hervorgeht, was als ein Sein und eine Notwendigkeit dargestellt wird, und als Aufweis, dass dieses eine Geschichte hat. Dadurch werden diese Formen der Rationalität aber nicht als irrational angesehen, sondern es bedeutet, dass sie Ergebnis der Praxis sind. Wenn man weiß, wie die Dinge gemacht wurden, so Foucault, dann sind sie auch wieder aufzulösen („to be unmade“).191 Eine solche Dekonstruktion und Denaturalisierung kann die über interessierte Praktiken formulierten Regularitäten lockern, erweist sie als partikular und öffnet den Blick für Alternativen. Diese Operation veranlasst Fink-Eitel, einer kritischen Ethnologie, die den Raum der Freiheit möglicher Transformation in jeder Deskription beachtet, den Status einer Philosophie zuzubilligen.192 Kritik ist folglich bei Foucault im Kantischen Sinn, jedoch mit Rekurs auf die strukturalistische Ethnologie historisiert gebraucht: Die Untersuchung der Grenzen jeweils bestehender Rationalität. Wie in der Moderne sind die Grenzen kulturspezifisch und nicht festgelegt. Entscheidender Antrieb ist aber nicht, die Grenzen immer weiter zurückzudrängen – und den Raum des Eigenen immer stärker zu erweitern –, oder die Grenzen zu übersteigen, das Dahinterliegende zu erreichen – und sich anzueignen. Die Grenze stellt die Erkenntnis also nicht vor die Aufgabe, sich ihrer zu entledigen und sie aufzuheben, sondern die Grenze ist grundlegend das, was die Positivitäten und ihre Erkenntnis ausmacht. Zugleich liegt in diesen Grenzen aber eben auch das Versprechen der Möglichkeit zur Veränderung. Ein Zitat aus Foucaults Introduction à L’Anthropologie de Kant lässt eine doch erstaunliche Kontinuität in seinem Bezug auf Kants Kritik und deren ethnologische Wendung aufscheinen. So sagt Foucault schon 1961:
189 So die Zusammenfassung des Strukturalismus in der angelsächsischen Welt (vgl. Dosse 1996: 559). 190 Dosse 1996: 304. 191 Vgl. Structuralism and Post-Structuralism [1983]: 206. 192 Fink-Eitel 1994: 204.
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„Wäre es nicht möglich, sich eine Kritik vorzustellen, die sowohl vom Menschen als auch vom Unendlichen befreien würde, und die zeigen würde, daß die Endlichkeit nicht das Ende ist, sondern jener Zeitknoten, bei dem das Ende der Anfang ist?“193
Die Befreiung vom modernen Menschen und die produktive Rolle der Endlichkeit sind wichtige Ankerpunkte für die nun folgende Darstellung der strategischen Verortung von Foucaults kritischer Perspektive.
K ONTRAPUNKT
ZUR I DENTITÄT DER
M ODERNE
Nachdem zu Beginn dieses Kapitels die pluralisierende Denkbewegung von Foucault herausgearbeitet wurde, hat der zweite Abschnitt mit der Frage nach der Integration des Anderen bei Habermas begonnen, Foucaults Sichtweise durch ein konkretes Beispiel zu konturieren. Dem folgte die Überlegung, auf welcher Ebene Foucault bei der Formulierung seiner Kritik operiert – und zwar insbesondere in Hinblick auf normative oder kryptonormative Stellungnahmen. Der vorige Abschnitt machte dann Foucaults Bezug zur Aufklärung zum Thema und ergab, dass seine Kritik sich nicht auf die Voraussetzung bloß einer einzigen Vernunft festlegen lässt, sondern die Aufklärung mit der Aktualität des Standpunktes angesichts der Diagnose der Gegenwart verknüpft. Und dies kann bedeuten, nicht die Rationalität der Moderne, sondern andere Rationalitäten zu vertreten. Der Argumentation einer solchen Alternative bei Foucault sollen sich die nächsten Abschnitte zuwenden. Zum Stellenwert von Foucaults kritischen Transformationen ist zu bedenken, dass er selbst sich dezidiert davon abgrenzt, inhaltlich bestimmte Vorgaben zu erstellen. In einer Diskussion über Antipsychiatrie fragt eine Teilnehmerin: „Wir sind im Stadium der Kritik. Gibt es ein Stadium der Vorschläge?“ Darauf antwortet Foucault: „Ich bin der Auffassung, daß man nicht vorzuschlagen hat. In dem Augenblick, wo man ‚Vorschläge macht‘, schlägt man ein Vokabular vor, eine Ideologie, die nur Herrschaftswirkungen haben können. Was man anbieten muß, sind Instrumente und Werkzeuge, die man für nützlich hält. Indem man Gruppen bildet, eben um zu versuchen, solche Analysen
193 Dieses Zitat ist der Arbeit von Hemminger (2004: 59) entnommen. Sie bespricht und kontextualisiert das Typoskript von Foucault ausführlich – an dieser Stelle kehrt sie vor allem die Nähe zu einem anderen wichtigen Bezugspunkt für Foucault heraus, nämlich Nietzsche.
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zu machen, solche Kämpfe zu führen, wobei man diese oder andere Instrumente verwendet: Auf diese Weise eröffnen sich Möglichkeiten. Wenn aber der Intellektuelle sich anschickt, erneut die Rolle zu spielen, die er hundertfünfzig Jahre lang gespielt hat – nämlich die des Propheten angesichts dessen, was ‚sein muß‘, was ‚geschehen muß‘ –, dann wird man diese Herrschaftswirkungen fortsetzen und andere Ideologien hervorbringen, die nach dem gleichen Schema funktionieren. Nur im Kampf selbst und mit seiner Hilfe vermögen sich positive Bedingungen abzuzeichnen. [...] sonst entsteht eine positive Philosophie.“194
Bis zum Schluss in den Büchern über die Selbstverhältnisse wollte Foucault der Versuchung widerstehen, seine Leserschaft zu bevormunden, sodass es zu der vielleicht paradoxen Ethik ohne normative Vorgaben kam. Diese Askese wird in der Philosophie sehr deutlich wahrgenommen. Sie führt – etwa bei Frank195 – zu der kritischen Frage, worauf sich Foucault beruft, wenn er zum Kampf gegen die im produktiven Ausschluss sich manifestierende Macht aufruft. Um überhaupt etwas als kritikwürdig zu betrachten, braucht man (kontra-faktische) Werte. Und diese Werte müssten im Dienst einer, wenn auch anderen, Ordnung stehen. Gemäß Frank greift aber Foucault die Ordnung schlechthin an, engagiert sich also für Nicht-Ordnung. Somit werden die Angriffsziele beliebig und austauschbar, weshalb diese Position dann letztendlich staatserhaltend wirke. Wenn auch nicht auf die systemerhaltende Wirkung bezogen, so doch von derselben Problematik der Orientierungslosigkeit inspiriert, lautet die Kritik von Schäfer wiederum, dass Ziel und Ergebnis bei Foucault Veränderung ist, die um ihrer selbst willen angestrebt wird.196 Dies ist meines Erachtens bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Gegenüber Frank kann allerdings vielleicht argumentiert werden, dass Machtbeziehungen und Herrschaft immer noch ganz wesentlich über Naturalisierung, über die Installation von Selbstverständlichkeit und evolutionärer Linearität, über Wahrheitspolitiken funktionieren. Und sofern es mit Foucaults strategischer Kritik wirklich gelingen sollte, dies dekonstruktiv zu unterlaufen, dann ist das zumindest gegen jeweils bestehende Machtverhältnisse – egal ob sie sich im Staat oder anders ausdrücken – gerichtet und öffnet den Raum für die Durchsetzung alternativer Verhältnisse. Selbst wenn Foucault normative Vorgaben für die Neukonstruktion nicht ausformuliert, so bietet er jedoch sehr wohl explizit eine neue wissenschaftliche Begrifflichkeit sowie eine spezifische Gegenstands- und Äußerungsperspektive. Und dies steht ja nicht nur für Foucault, sondern unter anderen auch für Haber194 Einsperrung, Psychiatrie, Gefängnis [1977]: 77. 195 Frank 1984: 237. 196 Vgl. Schäfer 1995: 55.
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mas oft – und zumal in der Moderne – in engem Zusammenhang mit sozialen Institutionen und politischen Positionen. Allerdings wird der kritische Impakt von Foucaults epistemologischen Arbeiten in der Sekundärliteratur überwiegend folgendermaßen gewertet: „Mit der Ordnung der Dinge und schließlich der Archäologie des Wissens setzt sich dieser Trend der Entpolitisierung der Wissenschaftskritik kontinuierlich fort. Gesellschaftliche Forderungen lassen sich aus diesen beiden Werken kaum noch ableiten, die Archäologie reduziert sich beinahe kantianisch auf eine ausschließlich erkenntnistheoretische Analyse der Humanwissenschaften, von der die Frage gesellschaftlicher Emanzipation völlig abgekoppelt ist.“197
Diese häufig198 vertretene Sicht bildet auch mit dem Verweis auf Kant eine interessante Ausgangslage für die nun anschließenden Analysen. Im Gegensatz zur zitierten Passage ist an das Ergebnis der vorliegenden Untersuchung zu erinnern, dass nach der Arbeit am ephemeren Charakter des Menschen in der Moderne die Archäologie des Wissens eine dezidierte Politisierung des linguistic turn darstellt. Der Vergleich zwischen Foucault und Habermas ergab dann, dass Foucault mit der Archäologie nicht nur ein neues, kreatives Instrumentarium geboten hat, sondern auch, inwiefern sich dies in Hinblick auf den Status kultureller Differenzen konkret auswirkt. Demgemäß meint Foucault: „Die Vorstellung, man würde sich von der Politik abwenden, wenn man, wie wir es jetzt tun, sich einer ausschließlich theoretischen und spekulativen Tätigkeit verschreibt, ich glaube, daß diese Vorstellung gänzlich falsch ist. [...] [M]an [wird] sich jetzt bewußt [...], daß politisches Handeln in jeglicher Form ganz eng mit einer strengen theoretischen Reflektion zusammenhängt.“199
Veränderungsstrategien sind demnach also auch in der diskursiven Praxis zu verankern und hier soll Foucaults formative Sprache ihre konstitutive Kraft entfalten – und von Foucault im Gegensatz zur Moderne strategisch positiv Bewertetes erscheinen lassen. Einen kurzen Abriss der Literatur, die sich mit der Frage beschäftigt, ob Foucaults Kritik daran arbeitet, einen Gegendiskurs zur Geltung zu bringen, bietet 197 Biebricher 2005: 59. 198 So beurteilt auch Biebricher (2005: 59) den Stand der Literatur. Diese Einschätzung wird allerdings relativiert, wenn auf Foucaults Theoriebildung zurückgreifende kritische Blickwinkel wie etwa jener der Cultural Studies in Rechnung gestellt werden. 199 Strukturalismus und Geschichte [1968]: 183.
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Liebmann Schaub. Sie selbst befragt Foucault auf seine Verankerung im Buddhismus und erkennt einige wichtige Gemeinsamkeiten.200 Racevskis sieht bei Foucault eine Vision befreiter Menschlichkeit oder „an ancient and familiar archetype of man“; Bertherat findet ein Gegenbild bei Foucault, das eine ‚Wiederkunft der Götter‘, ‚die Rekonstruktion eines gemeinsamen Mythos‘ sei; Burgelin wiederum hebt an Foucaults Darstellung der Renaissance die Beschäftigung mit Magie, Gnostizismus oder der Kabbala hervor; und Frank bemerkt im Antisubjektivismus bei Foucault eine Verwandtschaft zur Romantik; auch Megill betont bei Foucault ein anti-westliches Krisendenken, wobei aber Hauptproblem dieser Kritik von Foucault sei: „his inability to specify what we have outside it“ – möglicherweise der Orient, doch wäre dieser bei Foucault besonders abstrakt und leer.201 Sehr eindeutig und durchgängig ist Verortung von Foucaults Bezug auf das Andere also nicht. Vielleicht hängt das mit einer Ambivalenz zusammen, die Keesing folgendermaßen umreißt: „Poststructuralist thought, in its concern with texts as pervasive fictions (e.g. Derrida, Foucault, écriture feminine [Herv. i.O.]), has been caught in [...] contradictions. Critically examining the takens-for-granted of Western thought, poststructuralism has undermined the old dualisms – civilized vs. primitive, Occident vs. Orient – on which anthropology’s exoticizations have implicitly rested. Yet at the same time, poststructuralist thought, too, urgently needs radical alterity, to show that our takens-for-granted represent European cultural constructions.“202
Auf dieses vielleicht paradoxe Verhältnis von Bezugnahme auf Alterität einerseits und Auflösung der großen Differenzen andererseits soll Foucault nun befragt werden. Die Alterität in dem von Keesing angeführten unterminierenden Sinn spielt bei Foucault eine eminent wichtige subversive Rolle – eine Rolle, die auch für die Sozial- und Kulturanthropologie nicht bedeutungslos ist, wie etwa Schiffauer betont: „Ich selbst tendiere zu der Auffassung, daß wir weiter ethnologische Geschichten erzählen sollten – und zwar deshalb, weil ich die radikale Kritik am Eigenen vermissen würde, die nur durch das Aufscheinen des Anderen möglich ist. Die Konstruktion der Differenz 200 Vgl. Liebmann Schaub (1989); darauf wird unten im Zusammenhang mit der Rolle des ‚Außen‘ bei Foucault nochmals kurz eingegangen. 201 Alles Liebmann Schaub 1989: 306. 202 Keesing 1994: 302.
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scheint mir das einzige Mittel zu sein, der Hegemonie des europäisch-amerikanischen Denkens (das nun nicht mehr auf diese Kontinente beschränkt ist) etwas entgegenzusetzen. Nur wenn wir an der Bestimmung einer Differenzwissenschaft festhalten, bleibt die Kulturanthropologie eine, um mit Foucault zu sprechen, ‚Gegenwissenschaft‘.“203
Wie erfolgreich Foucaults Gegenwissenschaft als Relativierung durch Differenzierung arbeitet, lässt sich auch einer Analyse von Quadflieg entnehmen.204 Dieser vertritt den, wie er sagt, ungewohnten und daher gewagten Befund, dass die Kapitel zum Menschen der Moderne und zu den Humanwissenschaften in der Ordnung der Dinge nur ein Supplement sind: denn die Darstellung der Transformation, welche den klassischen Begriffsraum zur Moderne hin veränderte, ist mit der Analyse der empirischen Wissenschaften (zu Arbeit, Leben, Sprache) abgeschlossen. Der Mensch wird dann im letzten Moment mit einem künstlichen Theatertrick eingeführt, so Foucault. Dieser von Quadflieg nachgezeichnete Supplementcharakter bringt allein schon formal den prekären Status des Menschen zum Ausdruck. Allerdings müsste dieses Supplement zugleich Ausgangspunkt der Analyse sein, wenn Foucault gemäß dem oben angesprochenen Erkenntnisprozess vom eigenen Standpunkt ausgehend seine Position mehr und mehr differenziert. Und dabei beweist sich methodisch die Effizienz von Foucaults Ansatz, da nur der Kontrast zu anderen Epistemen augenfällig macht, dass dort der Mensch fehlt. Am Endpunkt der Differenzierung stellen sich diese Systeme aber nicht als defizitär dar, sondern lassen umgekehrt den Menschen grundsätzlich entbehrlich und vielleicht überflüssig erscheinen – die Selbstreflexion bei Foucault.205 Zum anderen zeigen jedoch gerade Foucaults Diagnosen, besonders Wahnsinn und Gesellschaft, drastisch, wie sehr die Differenz ein aggressiv der Selbstkonstitution dienendes Konstrukt sein kann – und sie ist als solches zum Beispiel im Feminismus oder durch die Arbeiten von Said und dann etwa die Postcolonial Studies auch ausführlich problematisiert worden. Diese Kritik trug wesentlich zur Auflösung der von Keesing angesprochenen Dualismen der Great Divide bei. Auch gemäß Keesing ist zwar die Andersheit wichtig, aber in ihrer radikalen
203 Schiffauer 1997: 170f. 204 Vgl. Quadflieg 2006: 48ff. 205 Entsprechend warnt Saussure davor, die Elemente der größeren Differenzierung zu substantialisieren und anderen Differenzierungen zu unterstellen: „[D]as Urgermanische hat keine eigene Form für das Futur; wenn man sagt, es gäbe dieses durch das Präsens wieder, dann drückt man sich ungenau aus; denn der Wert eines Präsens ist im Urgermanischen ein anderer“ (Saussure 2001: 139).
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Form, wie zum Beispiel bei Lévi-Strauss’ kalten Gesellschaften, sei die Alterität eine anthropologische Erfindung.206 Nun bildet aber die Rolle der Differenz bei Foucault die Basis für seinen Bezug auf die strukturalistische Ethnologie. Und dabei ist nicht nur die pluralisierende und dadurch eventuell relativierende Rolle wie im Historismus ausschlaggebend. Sondern Differenz und Differenzierung sollen ganz grundsätzlich einen Ausweg aus dem modernen Umgang mit dem Anderen bieten. Die Ethnologie hat ja eine Sonderstellung unter den Humanwissenschaften, sofern sie einen vom Eigenen in Differenz zu sehenden Gegenstand thematisieren sollte und daher das von Foucault gewünschte besondere Verhältnis zum Objekt einnehmen kann, das darin besteht, nicht unser Subjekt bei den Anderen zu finden, nicht die Anderen unserem historischen Identitätsdiskurs einzuverleiben oder die Wahrnehmung des Anderen sofort als subjektiv wieder nur auf die westliche Moderne zu beziehen. Durch ihre Außenperspektive wird die Ethnologie also nicht in Richtung des modernen Identitätsdiskurses gedrängt. In der Ordnung der Dinge sieht Foucault sehr genau, dass diese Position Teil eines hegemonialen Verhältnisses war und die Funktion hatte, die Anderen als Un-Menschen auf Distanz zu halten, indem sie von der narzisstisch immer wieder auf sich bezogenen Bewegung des Subjekts ausgeschlossen waren. Aus diesem Kontext konnte sich die Ethnologie jedoch laut Foucault lösen207 – und er arbeitet selbst weiter an ihrer Emanzipation, indem er ihren Blick auf die eigene Gesellschaft wendet. Das heißt, Foucault hebt nicht die Differenz und Hierarchie zwischen den Kolonisierenden und den Anderen auf, indem alle den Subjektstatus erhalten. Denn dies würde bedeuten, die Differenz durch Angleichung zu überbrücken – und das hegemoniale Subjekt bestünde wesentlich weiter. Zudem wäre die Möglichkeit verspielt, noch gegenüber der westlichen Moderne Alternativen zu sehen. Foucault geht genau den umgekehrten Weg, was interessante Implikationen hat. Er behält also die Position ‚der Anderen‘208 bei, um ‚uns‘ zu verändern und beabsichtigt dabei wohl mehr als nur eine Verfremdung. Wenn Foucault den ethnologischen Strukturalismus umkehrt, wenn er die moderne Gesellschaft und Geschichte aus dessen Blickwinkel betrachtet, verwendet er ihn entgegen Lévi-Strauss als allgemeine Methode (auch für ‚heiße‘ Gesell206 Vgl. Keesing 1994: 30.1 207 Eine ähnliche Emanzipation gesteht Foucault – wie schon dargestellt – auch der Psychoanalyse oder den Naturwissenschaften zu. 208 Diesbezüglich hält Fink-Eitel (1994: 225) fest, dass Die Ordnung der Dinge aus der Perspektive des Anderen geschrieben sei – des Anderen, in Beziehung auf das hin sich die epistemische Ordnung überhaupt als Ordnung des Gleichen verstehen kann.
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schaften). Tatsächlich lehnt es Lévi-Strauss ab, Foucaults Arbeiten, die ‚geschichtliche Gesellschaften‘ mit Archiven untersuchen, dem Strukturalismus zuzurechnen. Dass Foucault dabei wie ein Strukturalist vorgeht, findet Lévi-Strauss unangebracht, weil er selbst diese Methode für die Untersuchung von geschichtslosen Gesellschaften entwickelt hat – also solchen, die sich im Gegensatz zur Moderne nicht gegenüber der Geschichte definieren.209 Lévi-Strauss nimmt dabei nicht nur an, dass diese ‚kalten‘ Gesellschaften eine andere Historizität repräsentieren, obwohl dies im Vordergrund steht. Er bezieht sich darüberhinaus auf den tatsächlichen diachronen Verlauf, da er bestimmte soziale (Gleichgewichts-)Mechanismen feststellt, die eine Veränderung verhindern. „[Wenn auch unbestreitbar ist], daß jede Gesellschaft in der Geschichte steht und daß sie sich wandelt [...] verkennt man leicht, daß die menschlichen Gesellschaften ganz verschieden auf diese allgemeine Bedingung reagieren: einige nehmen sie wohl oder übel an und vergrößern durch das Bewußtsein, das sie von ihr erlangen, ihre Folgen [...]; andere (die wir aus diesem Grund primitiv nennen) wollen nichts von ihr wissen und versuchen, mit einer Geschicklichkeit, die wir unterschätzen, Zustände ihrer Entwicklung, die sie für ‚primär‘ halten, so dauerhaft wie möglich zu gestalten.“210
Foucault dagegen will nicht zugestehen, dass seine ohne historisches Subjekt arbeitende Methode und Theorie – wie immer er selbst deren Nähe zum Strukturalismus jeweils beurteilt – für die eigene Repräsentation nicht relevant sei, da man eben von der Geschichte in unserer Gesellschaft nicht absehen könne. Denn er denkt die wissenschaftliche Methode und Theorie nicht von einer schon bestehenden Kenntnis des Objekts aus. Für Foucaults Zugang sind Lévi-Strauss’ Ergebnisse daher nicht vor allem deshalb interessant, weil gezeigt wird, dass die ‚kalten‘ Gesellschaften eine andere Historizität haben, sondern weil darin ein Instrumentarium für eine andere Geschichtlichkeit zu finden ist. Er betont daher – nicht in Widerspruch zu Lévi-Strauss, aber doch mit anderer Gewichtung: „Die Kulturen ohne Geschichte [Herv. i.O.] sind natürlich nicht solche, in denen es kein Geschehen, keine Entwicklung, keine Revolution gegeben hätte, sondern solche, in denen die Diskurse sich nicht in geschichtlicher Weise miteinander verbinden; sie lagern sich nacheinander ab, sie verdrängen einander, sie werden vergessen, sie verwandeln sich. In
209 Vgl. Lévi-Strauss (1980a: 225ff. und 1980b: 253f.); zudem – so weitere Bedenken von Lévi-Strauss – eigne sich der Strukturalismus nur für sehr kleine Gesellschaften und sei aufgrund der Anzahl der Variablen nicht auf große Gedankensysteme und Sozialsysteme anwendbar oder nur für ganz bestimmte abgegrenzte Gebiete, in denen er dann nur eine Methode unter anderen sein könne. 210 Lévi-Strauss 1973: 271.
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einer Kultur wie der unseren tritt dagegen jeder Diskurs auf einem historischen Hintergrund auf; die Geschichte ist das Element, in dem jegliches Geschehen entsteht, überlebt und untergeht.“211
Foucault bezieht sich dabei auf Lévi-Strauss’ referentielle Aussagen bezüglich des diachronen Verlaufs ebenso wenig wie auf jene der Moderne. Oder anders gesagt: Er anerkennt sie als Teil des Geschichtsdiskurses, will sich selbst aber dessen entäußern und so seine Kritik leisten. „Genau besehen, geht es hier nicht darum, die Zeit zu leugnen. Es geht vielmehr um eine bestimmte Art der Behandlung dessen, was man Zeit oder Geschichte nennt. [...] Wir leben im Zeitalter der Gleichzeitigkeit, des Aneinanderreihens, des Nahen und Fernen, des Nebeneinander und des Zerstreuten.“212
Ziel ist, dem ‚Mythos der Thermodynamik‘ des neunzehnten Jahrhunderts entgegen, hier und jetzt im Westen das zu erreichen, was Lévi-Strauss für die Gesellschaften verschiedener pazifischer Inseln vorgibt: „Nichts weist darauf hin, daß das eine zeitlich vor dem anderen liegt: sie verhalten sich nicht zueinander wie ursprüngliche Form zu abgeleiteter Form, sondern vielmehr so, wie man es zwischen umgekehrt symmetrischen Formen beobachten kann, so als ob jedes System eine Transformation der gleichen Gruppe darstellte.“213
Wenn also Foucault sagt, er will verstehen, in welcher Weise wir zu Gefangenen unserer eigenen Geschichte geworden sind, dann kann dies sicherlich implizieren, dass es darum geht, wie Schäfer meint, „[g]egenwärtige Denk- und Lebensformen als singulär, begrenzend und historisch bedingt darzustellen“214 – Foucaults Kritik kann aber auch direkt auf die moderne Geschichtlichkeit zielen. Und dass seine Arbeit gegen diese Identifikationsfigur der Moderne gerichtet ist und demgegenüber auf eine andere Historizität setzt, entspricht der hier verfolgten Lesart. In diesem Zusammenhang wird Foucault vorgeworfen, seinen methodischen Ansatz zu ontologisieren. Honneth schreibt sogar: „[Indem sich Foucault einen sinnverstehenden Zugang zur gesellschaftlichen Realität versagt,] versetzt Foucault seine Gesellschaftstheorie in die eigenartige Lage einer Ethnolo-
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Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben [1967]: 173. Von anderen Räumen [1967]: 931. Lévi-Strauss 1973: 97. Schäfer 1995: 31.
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gie, der nicht bloß die Bedeutungszusammenhänge einer vorgefundenen Sozialwelt zunächst fremd sind, sondern die darüber hinaus davon überzeugt scheint, daß die fremde Sozialwelt ein intentional aufgebauter Lebenszusammenhang schon gar nicht mehr ist; an die Stelle des Versuchs, die vertraute eigene Kultur artifiziell zu verfremden, indem die ihr innewohnenden Grundüberzeugungen und Rationalitätskonzepte methodisch eingeklammert werden, tritt der Versuch, die eigene Kultur als ein tatsächlich intentionsfreies, anonym geregeltes Sozialgeschehen zu erfassen. [...] Das Projekt einer Ethnologie der eigenen Kultur hat stillschweigend die Gestalt einer semiologischen Ontologie angenommen [...]. So erläutern ontologische Aussagen über die Verfassung der sprachlichen Realität schließlich den Gegenstandsbereich, der ursprünglich nur so betrachtet werden sollte, als ob [Herv. i.O.] er unabhängig von den ihm eigenen Sinnverweisen in den Blick treten könnte. [...] [I]n dem Netz dieses grundlegenden Mißverständnisses hat Foucault sich verfangen [...].“215
Man sieht, wie hier an Teilen der von Foucault dekonstruierten ontologischen Vorstellungen zum menschlichen Subjekt festgehalten wird und sich nur von dieser Position aus eine Diskrepanz zwischen Foucaults zunächst angesetztem Ziel und seinen tatsächlichen Ergebnissen zeigt.216 Radikale Revolutionen in der Wissenschaft und im Denken allgemein bedeuten sicherlich oft, bestimmte Fragen nicht mehr zu stellen. Das wäre in diesem Fall der von Foucault versuchte Weg. Ihm geht es demnach um die in einem solchen ‚Als ob‘ enthaltenen Realitätsbehauptungen und Ontologisierungen, deren Fragestellung er beendet. Meines Erachtens liegt Foucaults Perspektive kein Missverständnis zugrunde, sondern eine gezielte Strategie, wenn man daran denkt, dass die Aufgabe der Ethnologie der eigenen Kultur von Foucault eine subversive und produktive Kritik mit dem Ziel, die Moderne zu unterbrechen, ist. Die Möglichkeit, im modernen Kontext sinnvollerweise mit strukturalistischem Blick zu arbeiten, basiert auf der oben aufgewiesenen Grundoperation von Foucaults Erkenntnisgang. Im Gegensatz zur ontologischen Wir-AndereTrennung der Moderne denkt Foucault ja von einer grundsätzlichen Gleichheit aus und installiert sie damit zugleich. Ein solches Denken in seinen vielfältigen Auswirkungen plausibel der Moderne gegenüberzustellen, ist durch die Auseinandersetzung mit der Klassik in der Ordnung der Dinge und dann mit der theoretisch-methodischen Begriffsbildung der Archäologie des Wissens geschehen. 215 Honneth 1989: 167. 216 Ganz ähnlich wie Honneths (1989: 167) Kritik lauten auch Bedenken, die Diaz-Bone (2007: Abs. 7) äußert: Eine solche Epistemologie „kann [...] das Wie [Herv. i.O.] ihrer eigenen Konstruktion kaum selbst reflektieren und damit nicht unterscheiden, was die zu untersuchenden Diskurse sind und wie die ‚Diskursanalyse‘ der zu untersuchenden Diskurse an deren Konstruktion beteiligt ist“. Allerdings stellt er Foucault nicht unter diese Vorzeichen.
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Vom Gleichen ausgehend sind die tief greifenden kulturellen Verschiedenheiten der Moderne aufgelöst, und die Suche nach Gemeinsamkeit muss nicht Gegenstand der wissenschaftlichen Arbeit werden. Ein mit diesem Ansatz verfolgtes alternatives Menschenbild kann folglich ohne weiteres auch im Westen gelten. Für die Sozial- und Kulturanthropologie ist es besonders interessant, sich nochmals zu vergegenwärtigen, wie dieser andere Mensch aussieht. Nach Foucaults Kritik sollen unsere Diskurse statt vom Bewusstsein „von einer dunklen Gesamtheit anonymer Regeln her“ bestimmt sein, statt Freiheit und Genie sollen „die Grenzen und die Notwendigkeiten einer Praxis erscheinen“, statt als Metamorphosen des Lebens und als intentionale Kontinuität des Gelebten soll die „Geschichte der Diskurse als ein Bündel von Transformationen“ behandelt werden, „all diese jetzt wieder zum Schweigen gelangten Texte, [sind] zu zerlegen, zu analysieren, zu kombinieren, zu rekombinieren, ohne dass sich darin jemals das verklärte Gesicht des Sprechers abzeichnete“.217 Das neue Gesicht des Menschen bei Foucault trägt somit deutlich die Züge der ‚Anderen‘ aus der Ethnologie oder Sozial- und Kulturanthropologie, sofern diese hier keinen Subjektstatus haben oder hatten. Auf solche Weise entspricht Foucaults Vorgehen der Forderung von Wolf, „[...] die Demarkationslinien zwischen den verschiedenen humanwissenschaftlichen Disziplinen zu überschreiten und die Grenzen zwischen westlicher und nicht-westlicher Geschichte aufzuheben.“218
Diese ethnologische Wende von Foucault hat – wenn auch die Verbindung mit anderen kulturellen Rationalitäten nicht explizit hergestellt wurde – vor allem in der Philosophie heftige Reaktionen hervorgerufen. So sagt Dosse ganz direkt: „Der Postmodernismus instauriert ein Verhältnis zur Geschichte, das dem des Senilen vergleichbar ist, der – für immer von jeder Möglichkeit eines Zukunftsentwurfs abgeschnitten – nur noch seine Erinnerungen sammeln kann.“219
Frank wiederum sieht die Rettung des neuzeitlichen Humanismus, der die Würde des Menschen an den Gebrauch seiner Freiheit bindet, vor dem Totalitarismus der Regelsysteme und sozialen Codes als eine Frage der Moral, da das Verschwinden des Subjekts „un-moralisch“ sei, insofern es sich dabei nicht um eine 217 Zitate aus Archäologie des Wissens [1969]: 299f. 218 Wolf 1991: 10. 219 Dosse 1996: 515.
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durchaus berechtigte Diagnose handelt, sondern weil dabei „das, was ist, zum Maßstab dessen, was sein soll“220 erhoben wird. „Daß das, wofür die Philosophie sich engagiert ein Nicht-Seiendes ist, darin bestand noch stets ihre Würde: denn es ist immer das gewesen, was (noch) nicht ist, im Vorblick worauf das, was ist, einen Sinn und einen Seinsgrund erwarb.“221
Zwar soll bei Foucault das Seiende seinen Seinsgrund keinesfalls in Hinblick auf Zukünftiges erwerben, aber dass ihm der Vorwurf gelten soll, es an Engagement für ein Nicht-Seiendes, für ein Anders-Sein fehlen zu lassen, kann erstaunen – wiewohl man Foucault vielleicht nachsagen könnte, dass er zu einfach das Nicht-Seiende in ein Seiendes zu verwandeln glaubte. Wenn Lévi-Strauss meint, die Geschichte könnte sicherlich wieder verschwinden, aber das kann man nicht ‚bewerkstelligen‘, sondern nur sich dabei zusehen, wie man Geschichte intensiv erlebt und sich bewusst sein, dass für spätere Jahrhunderte diese Geschichte ein Mythos sein wird,222 so widerspricht Foucaults Arbeit dem im Optimismus, dass die Zeit einer solchen Verschiebung jetzt gekommen ist. Dass Foucaults analytischer Blick einen Wunsch ausdrücken könnte und Neues in Gang setzen will, scheint besonders in der philosophischen Sekundärliteratur weitgehend undenkbar zu sein, weshalb man mit Foucault fragen könnte: „Welche Angst läßt Sie in Begriffen von Bewußtsein antworten, wenn man mit Ihnen über eine Praxis, über ihre Bedingungen, ihre Regeln und ihre historischen Transformationen spricht?“223
Eine Antwort auf diese Frage von Foucault an seinen fiktiven Kritiker am Ende der Archäologie des Wissens könnte also sein, dass es die Identität mit den Anderen ist, die so überaus deutliche Abwehr verlangt. Denn sonst fände man sich plötzlich in wichtigen Aspekten auf der Position derer, über deren Ausschluss man sich konstituiert hatte.
220 221 222 223
Frank 1984: 17. Frank 1984: 17. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 294. Archäologie des Wissens [1969]: 299.
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D ER V ORGANG
KRITISCHER
T RANSFORMATION
Der vorangegangene Abschnitt lässt erkennen, woran sich die Ablöse der Moderne bei Foucault orientiert und dass er diesen Schritt nicht zuletzt durch Einsetzen eines bestimmten Blicks erreichen will. Hierbei decken sich inhaltliche epistemologische Aussagen und die Art der Analyse weitgehend. Unter dem kritischen Blick von Foucault zeigt sich die westliche Gesellschaft nun nicht mehr über das autoritative Subjekt mit einer Identitätsgeschichte in fortschreitend unumkehrbarer Zeitachse definiert. Hingegen findet sich in Foucaults Ethnologie die in der anthropologischen Disziplin zum Teil vertretene, zum Teil aber auch kritisierte Sicht einer anderen Geschichtlichkeit – beispielsweise den Korallenriffen vergleichbar, mit unkontrollierten, unintendierten Ablagerungen,224 radikalen Zusammenbrüchen und Neuanfängen oder wiederholbaren Zyklen. Auf den unter anderem von Sartre formulierten Vorwurf der ‚Ablehnung der Geschichte‘ antwortet Foucault, dass er den „philosophischen Mythos der Geschichte“225 treffen wollte, die Geschichte im Allgemeinen aber könne man nicht ablehnen oder töten. Was im Verlauf der Untersuchung an Aspekten der ethnologischen Verortung von Foucault aufgetaucht ist, das sollte sich nun zu einer positiven Philosophie unter den Vorzeichen der Ethnologie verdichten. Denn Foucaults Arbeiten zerschlagen nicht nur moderne Vorgaben, sie stellen auch eine Alternative dar. Wie oben deutlich wurde, hat dieser Zukunftsentwurf allerdings insbesondere in der philosophischen Sekundärliteratur in mancher Hinsicht durchaus negative Resonanz erfahren. Selbstredend wird Foucaults Transformation des Menschen und der Historizität von Seiten der Philosophie an anderer Stelle mit weniger drastischer Metaphorik bedacht, als es der Vergleich mit ‚Senilen‘ und ihrem mangelnden Erinnerungsvermögen und Zukunftsentwurf ist. Aber letztlich erscheint der Abschied von der Moderne häufig zumindest insofern negativ, als darin ein Ausdruck von Hoffnungslosigkeit gesehen wird.226 Man könnte mit Friedman meinen, dass derartige ‚postmoderne‘ Theorien immer in einem geschwächten Zentrum auftreten,227 das, wie es demnach im Westen gegenwärtig der Fall ist, seine einheitsstiftende Kraft verliert. Während nach dem ersten Weltkrieg eine pessimistische,
224 225 226 227
Vgl. z.B. Keesing 1994: 301. Vgl. die Passagen aus einem Interview von 1968 bei Eribon (1993: 256). Dies kommt etwa bei Dosse (1996: 303ff.) deutlich zum Ausdruck. Friedman 1994: 246.
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wenn auch noch unilineare Sicht vorherrschte, setzt sich nun an Stelle des historischen ein ‚ethnologisches‘ Bewusstsein durch – und dies ist offenbar nicht zu begrüßen. Dosse spricht in diesem Zusammenhang von einer Negierung der Historizität, worin er offenbar nicht einen konstruktivistischen Gegenentwurf, sondern eine mangelnde Anerkennung der Realität im (Post-)Strukturalismus sieht.228 So wird für Dosse der Mensch in der Postmoderne zum Objekt einer Geschichte, die ihn überragt.229 Die dem zugrundeliegende Dekonstruktion des Humanismus, zu der Foucault wesentlich beigetragen hat, ließ die Provinzialität des westlichen Denkens und die Irreduzibilität anderen Denkens darauf erscheinen.230 Mit dieser, wie Dosse meint, völlig neuen Idee von der Gleichheit der Völker dezentriert sich die Wahrnehmung der Menschheit.231 Der Fortschritt wird plural und uneinheitlich, die verschiedenen Kulturen werden im Strukturalismus Ausdruck von Variationsmöglichkeiten und alle Menschen sind ohne Hierarchie gleich viel Mensch und Kultur. Dosse sieht die Geschichte nun in einer Gegenwart mit einem zu endloser Wiederholung berufenen Gleichgewicht232 – und diese neue Sichtweise scheint von einem tiefen Pessimismus geprägt. Dagegen findet etwa Geertz in Foucaults Geschichtsauffassung keinen Stillstand, sondern „a dystopian functionalism“233. Obwohl Foucaults Genealogie als Gegenmittel zur teleologischen Geschichtsschreibung gilt, tendiere sie nämlich dazu, die herkömmliche Geschichtssicht nur umzukehren, indem sie eine zunehmende Unfreiheit konstatiere. Im Gegensatz zur Utopie verleite Foucaults Geschichte aber – hier stimmt Geertz mit Dosse überein – zu Fatalismus und Quietismus. Und daher lautet auch etwa Sartres Schlussfolgerung: „Man will kein Überschreiten [im Strukturalismus] oder zumindest kein Überschreiten durch den Menschen. Wir kommen zurück zum Positivismus. Nur ist dies kein Positivismus der Tatsachen mehr, es ist ein Positivismus der Zeichen. Es gibt Totalitäten, strukturierte Gesamtheiten, die sich durch den Menschen hindurch konstituieren und die zu entschlüsseln die einzige Aufgabe des Menschen ist.“234
Wahrscheinlich ist es möglich, wie immer wieder die Kritik lautet, von einer strukturalistischen Position her eine politisch passive und vielleicht – wenn sie 228 229 230 231 232 233 234
Vgl. Dosse 1996: 308. Vgl. Dosse 1996: 512. Vgl. Dosse 1996: 505. Vgl. Dosse 1996: 510. Vgl. Dosse 1996: 504. In Hoy 1998: 11. Sartre 1969: 216. Das Verhältnis zwischen Sartre und Foucault thematisiert etwa Eribon (1993) ausführlich.
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sich noch so nennen lässt – konservative oder neokonservative Überzeugung zu begründen. Zugleich bleibt die Angst, einer ‚kalten‘, im Gleichgewicht stehenden Gesellschaft zu entsprechen, aber schwer nachvollziehbar. Außer der gegenwärtige neoliberale Backlash sozioökonomischer Verhältnisse gilt als ein solcher Stillstand. Jedoch wird gerade dessen Existenzberechtigung von verheißungsvollen Fortschrittsmythen und dem Diktum der Selbst-Verantwortung des freien Subjekts getragen. Der Gedanke an nicht beeinflussbare Gesetzmäßigkeit ist wenn, dann wohl in jedem Fall fragwürdig – egal, ob damit ein unbefriedigender Zustand zementiert oder negative Veränderungen, wie etwa verschärfte Lebensbedingungen, begründet werden. Für die genannte Kritik an Strukturalismus oder Postmoderne ist aber häufig charakteristisch, dass bei der Rede von einer ‚unaufhörlichen Leere‘ der Gedanke an ‚Stillstand‘ per se – und nicht bloß einen Stillstand im momentanen kritikwürdigen Zustand – zu erschrecken scheint. Das Leben soll allem Anschein nach prinzipiell nur durch die Hoffnung auf Fortschritt und Entwicklung sinnerfüllt und lebenswert sein. Das ist unter Umständen aber eine gefährliche, weil in der Gegenwart häufig Opfer fordernde Idee. Insofern ist es verständlich, wenn Dumm meint: „[T]he post-modern arts cannot be characterized as conservative in thrust, once assumptions different than those offered by defenders of modernity such as Habermas are replaced with less utopian and, hence, less intensely dangerous, assumptions [...].“235
Und natürlich gibt es auch die Bewertung, dass Foucault gerade in Hinblick auf determinierende Vorgaben eine subversive Rolle spielen kann. So schreibt Hemminger: „Zur Zielscheibe der kritischen Geschichte des Denkens wird bei Foucault demnach all das, was uns zu Spielbällen von Gesetzmäßigkeiten und Regeln, Praktiken des Regierens und Normen des Selbstbezugs macht, die Unmündigkeit produzieren und festschreiben [...].“236
235 Dumm 1988: 223. 236 Hemminger 2004: 216. Gegenwärtig scheint eine solche Beurteilung (wieder) auf dem Vormarsch, sodass man den Eindruck bekommen kann, dass sich hier seit einiger Zeit ein umgekehrt proportionaler Zusammenhang mit der Nähe, die zwischen Foucault und dem Strukturalismus gesehen wird, abzeichnet. Hemminger ist, was den Strukturalismus betrifft, insofern unvoreingenommen, als sie ihn in Foucaults Arbeiten offenbar kaum wahrnimmt, sondern zum Teil dieselben Denkfiguren auf Foucaults Auseinandersetzung mit Kant bezieht – und so mit einem neuen Blickwinkel
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Mit Bezug auf die soeben angedeuteten negativen Einschätzungen des Veränderungspotentials von Foucaults Ansätzen wäre also zunächst nochmals hervorzuheben, dass für Foucault gerade die Auflösung der Naturalisierung des bestehenden Subjekts, wie sie besonders in seinen epistemologischen Schriften vorangetrieben wird, nicht nur gesellschaftspolitisch subversiv ist, sondern selbst schon eine positive Opposition darstellt. Denn offensichtlich ruft bei ihm gerade die Perpetuierung des konstitutiven Subjekts Pessimismus über das ewig Gleiche hervor, wenn er seine präsumtiven Kritiker fragt: „Welche Vorstellung haben Sie von der Veränderung und sagen wir von der Revolution [...], wenn Sie sie [...] mit der ganzen Thematik verbinden, die der Geschichte die universelle Präsenz des Logos garantiert? Welche Möglichkeit geben Sie ihr, wenn Sie sie nach dynamischen biologischen, evolutionstheoretischen Metaphern analysieren, in die man gewöhnlich das schwierige und spezifische Problem der historischen Veränderung auflöst?“237
Wie also kann kritische Veränderung in Gang kommen, nachdem der Mensch sich in Strukturen, die ihn bedingen, verflüchtigt hat? Denn ist nicht eines der Grundprobleme der Überschreitung, wie Sartre in seiner Antwort auf Foucaults Absage an Sartre238 behauptet, dass in dem Moment, wo sich ein Mensch bemüht, über die gegebene Situation hinauszugehen, ein Subjekt oder Subjektivität existiert? Tatsächlich ist es ein wichtiger Aspekt der Vorgehensweise und Beschreibungen von Foucault, nach der Zerschlagung des handlungsmächtigen Subjekts andere Wege der Neuorientierung offen zu halten. Daher wäre zu diskutieren, wie nicht nur Kritik, sondern auch das Prozedere der Neustrukturierung mit Foucaults ethnologischem Blick zu denken ist. Dies soll nun Gegenstand der Analyse sein, denn immer noch schwebt über Foucault ein Damoklesschwert: „[T]he late Foucault was condemned to unwittingly obey the law he had stated long before in The Order of Things, which made each épistémè the unsurpassable limit of those it rules, even – and perhaps necessarily most strongly – when they seek to break free from it.“239
auf Foucault auch Einschätzungen, die mit einer bestimmten Lesart des Strukturalismus einhergehen, vermeidet. 237 Archäologie des Wissens [1969]: 298f. Dies verweist auch auf den Vorwurf von (linken) Poststrukturalisten an ‚left conservatives‘, dass diese politische Sichtweisen als endgültig, definitiv (und letztlich ahistorisch) begründbar ansehen – also konservativ seien (vgl. dazu Moss 2004: 33). 238 Beides in Schiwy 1969. 239 Han 2002: 196.
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Diese Befürchtung ist nun insofern zu relativieren, als Foucault tatsächlich einen Motor der Veränderung, eine destabilisierende Instanz sozusagen, ansetzt. Hier kommt bei Foucault nämlich ‚das Außen‘ ins Spiel. Dieser Aspekt ist immer präsent – meist unausgesprochen, manchmal direkt benannt. Veränderungen sind nicht primär Ausdruck einer Eigendynamik und müssen nicht von Innen kommen, sondern entstehen auch aufgrund einer Verunsicherung der Ordnung durch das Außen. Die Frage ist, welchen Status dieses Außen bei Foucault hat. Interessanterweise stützt er sich diesbezüglich nicht nur auf kulturelle Vielfalt, da auch diese ja als ein strukturelles Gefüge gelten kann. Allerdings lässt sich allein schon in Hinblick auf das hierin liegende Veränderungspotential mit Flynn der Standpunkt vertreten: „A thinker whose critique focuses on transgressing limits in order to test their effectiveness and reveal their contingency could scarcely be labeled a ‚conservative‘.“240 Foucault baut aber darüberhinaus auf die Wirkung eines außerhalb des Kulturell-Sprachlichen anzusetzenden Außen, das die kulturelle Differenzierung weitertreibt. Jedoch hebt dieses Außen in keinem Fall den ‚Tod Gottes‘ auf. Im Gegenteil, wie Ruhstorfer sagt, fehlt ein solches einziges, umfassendes Außen, sodass keine Grenze im Ganzen mehr da ist, von der her ‚endlich die Wahrheit sichtbar werden würde‘: „Die Lauterkeit dieses an-archischen Denkens besteht darin, sich der faktischen Wahrheitslosigkeit der zeitgenössischen Welt und der gegenwärtigen Sprache zu stellen – in aller Radikalität. Die Leere, welche der Tod Gottes hinterlassen hat, wird als solche ausgehalten und gerade nicht wie in der ideologisierten Moderne eigenmächtig substituiert. Das bleibende Verdienst Foucaults ist es, gegen die totalitären Versuche [...], den Willen Gottes als Bestimmung durch den Willen des Menschen zu ersetzen, Widerstand zu leisten.“241
Insofern ist es richtig zu sagen: „[D]ie Welt verliert ihr Außen, und die maßgebliche Grenze verläuft nun durch das Innere der Welt selbst.“242
240 Flynn 1989: 197. Vgl. Vorrede zur Überschreitung [1963], wo Foucault unter anderem die Dialektik anklagt, den Widerspruch und die Totalität an die Stelle der Infragestellung des Seins und der Grenze gesetzt zu haben. 241 Ruhstorfer (2007: 93), der sich dabei auf Das Denken des Außen [1966] von Foucault bezieht. 242 Ruhstorfer 2007: 92.
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Und dennoch gibt es jeweils ein oder mehrere Außen bei Foucault.243 Die Funktion dieses Außen wandert in seinen Arbeiten vom Wahnsinn, dem Sein der Sprache zu den Körpern und Lüsten.244 Auch Biebricher weist – im Zusammenhang mit Foucaults Kritik an der Repressionshypothese – auf diese eigentümlichen Außenbereiche hin: „Immer wieder tauchen meist beiläufig dei ex machina bei Foucault auf, die das Scheitern seines Versuchs, ohne Repressionshypothese zu arbeiten, dokumentieren.“245 Ebenso fragt sich McWhorter, ob es bei Foucault nicht doch einen Körper gibt, der befreit werden kann und bezieht sich hierbei auf die ‚Körper und Lüste‘, denn immerhin sagt Foucault, dass der Körper in jeder Gesellschaft im Griff strikter Mächte war, die Restriktionen, Verbote oder Pflichten auferlegten.246 Solche Stellen – und fast wortgleiche Aussagen über den Diskurs – 247 könnten also darauf hinweisen, dass es Unterdrücktes und zu Befreiendes gibt und dieses das Außen ist. Eine ähnliche Problematik hat auch Butler in ihrer ausführlichen Reflexion letztlich festgestellt. Sie ist eine der Wenigen, die auch in etwas jüngerer Zeit noch eine Verbindung zwischen Foucault und Lévi-Strauss sehen respektive für diskussionswürdig halten: „The materiality of ‚bodies‘ for Lévi-Strauss constitutes ‚nature‘ or ‚the raw‘, whereas the prohibitions that repress sexuality and create social organization are ‚culture‘ and the ‚cooked‘. Whereas Foucault appears to criticize precisely those binary oppositions encoded by structuralism as the universal tensions of anthropology, he appears to reengage those oppositions in his own descriptions of how historical meanings come into being. That history is ‚inscribed‘ or ‚imprinted‘ onto a body that is not history, suggests not only that the body constitutes the material surface preconditional to history, but that the deregu-
243 Zum Außen siehe auch Revel 2002: 19f. Waldenfels (1991: 289ff.) differenziert mehrere Außen bei Foucault, die er in etwas andere Richtung, als hier Thema ist, diskutiert. Stäheli (2000: 65f.) hingegen sieht Foucault als jene Ausnahme im Strukturalismus, wo die Identitätskonzeption nicht auf ein konstitutives Außen gerichtet ist. Im Sinne der hier mit Ruhstorfer argumentierten Distanzierung von Absolutheiten wäre dies zu unterstreichen. In anderer Hinsicht jedoch spielt das Außen und spielen spezifische Außen bei Foucault sehr wohl eine destabilisierende wie auch konstitutive Rolle – wie im Weiteren zu sehen sein wird. 244 Der Wahnsinn und das ‚Sein der Sprache‘ wurden oben schon genannt, wobei zu ergänzen ist, dass Foucault bei letzterem nicht auf eine Erfahrung des Unbewussten auf psychischer Ebene rekurriert (vgl. Meister 1990: 253). Für „die Körper und die Lüste“ vgl. z.B. Der Wille zum Wissen ([1976]: 187). 245 Biebricher 2005: 140. Vergleichbare Bedenken wurden bereits im Kapitel zur Archäologie in Zusammenhang mit der Ereignishaftigkeit der Aussagen angesprochen. 246 Vgl. McWhorter 1989: 608. 247 Vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 7.
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lation and subversion of given regimes of power are effected by the body’s resistance against the working of history itself.“248
Andererseits sagt McWhorter aber: „[…] Foucault is not claiming that body, a natural object, stands somehow in opposition to that which culture would impose upon it. In Foucault’s discourse, the term ‚body‘ then, is not to be situated within the dichotomy nature/culture.“249
Butler hingegen fährt fort: „Indeed, the distinction not only operates as an uncritically accepted and implicitly formulated premise of his argument, but it ends up undermining the central point that his argument concerning the constructed status of bodies was supposed to prove.“250
Demgegenüber unterminiere sie selbst dann in ihrem Ansatz eine „Betrachtung des Körpers als stumme, der Kultur vorgängige, auf die Bezeichnung wartende Figur [...] um in die Sprache und Kultur einzutreten“251. Damit kritisiert sie den Strukturalismus und insoweit auch Foucault. Denn wenn man Natur immer nur innerhalb von Kultur denkt, also den Dualismus Natur/Kultur aufgibt (Natur und auch Frau immer schon ‚gekocht‘ ist), so heißt dies: „die wichtigste Unterscheidung der strukturalistischen Anthropologie bricht zusammen“252. Somit gibt sie zugleich ein Außen auf, wie es Foucault dennoch immer wieder einführt. In Hinblick auf Foucaults Konzeption ist zunächst vielleicht noch einmal zu betonen, dass er mit der Rede von ‚den Körpern und den Lüsten‘ nicht einen Rekurs auf „das Leben und den Menschen als Lebewesen“253 meint, wo die Verwirklichung von dessen Wesen und Anlagen oder die Befriedigung der Bedürfnisse eingefordert würden. Dies waren und sind gemäß Foucault zwar gegen die Macht respektive bestimmte Machtverhältnisse gewendete Kämpfe, aber sie berufen sich gerade auf das, „was durch diese Macht in Amt und Würden eingesetzt wird“254. Es sind legitime Kämpfe um Machtverschiebungen innerhalb der Logik der Biomacht – deren Grenzen überschreiten sie aber nicht. Die von Foucaults Außen kommende Beweglichkeit soll hingegen weiter gehen. Da seine 248 249 250 251 252 253 254
Butler 1989: 606f. McWhorter 1989: 609. Butler 1989: 607. Butler 1991: 216. Butler 1991: 67. Der Wille zum Wissen [1976]: 172. Der Wille zum Wissen [1976]: 172.
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Kritik nicht Teil dieses Machtzirkels sein will, kann sie sich dabei nicht auf den Körper als natürlichen Referenten berufen. Der Körper ist in diesem Sinne eine nicht weiter definierbare Widerspenstigkeit, kein aussagbares Objekt. Während in Wahnsinn und Gesellschaft das Außen wieder ‚zur Sprache‘ kommen soll, enthält sich Foucault später jedes Versuchs, das Außen in der Repräsentation zum Ausdruck zu bringen.255 Er dekonstruiert dies sogar, indem er unterschiedliche Möglichkeiten der Differenzierung von Körper und Sprache erarbeitet. Das Vorhaben, den Körper rein kulturell zu denken, verlangt aber meines Erachtens – im Gegensatz zu Butlers Argumentation – nicht unbedingt, die erste konstitutive Scheidung zwischen Natur und Kultur aufzugeben. Denn man kann den mit dieser Trennung verbundenen Einsatz von Kultur bei Lévi-Strauss gerade so verstehen, dass (durch diese ‚künstliche Schöpfung der Natur‘) Natur definitiv immer nur kulturell zu denken ist.256 Und hierbei beweist die universelle Vielfalt der Naturkonzeptionen die Universalität von Kultur als ermöglicht durch Distanzierung des natürlichen Universellen, also der Existenz außerhalb spezifischer Regeln und Zeichen. Foucault gibt dem Außen und seiner kulturellen Differenzierung insofern denselben Stellenwert, den bei Lévi-Strauss die Sprache und das Inzesttabu haben.257 Somit wäre das Außen ein schon bei Lévi-Strauss
255 Streit (1995: 378) führt die ‚Körper und Lüste‘ als Außen an, zieht dann allerdings eine direkte Parallele zu Wahnsinn und Gesellschaft. Fragen nach einer mit der Innen-Außen-Problematik verknüpften Überschreitung bei Foucault behandelt auch die Arbeit von Gehring (1994). 256 Descola (2008: 235f.) kommt bei seiner Untersuchung der ‚zwei Naturen bei LéviStrauss‘ allerdings zu folgendem Schluss: „Der Gegensatz, der zu Beginn der Elementaren Strukturen zwischen Natur und Kultur aufgebaut wurde, war also nichts als eine philosophische Fiktion, eine experimentierende Denkfigur ohne ontologische Folgen, die jedoch von vielen Kritikern, selbst den scharfsinnigsten unter ihnen, wortwörtlich genommen wurde.“ Und Descola (2008: 236) stützt diesen Schluss des Weiteren mit einem Zitat von Lévi-Strauss, wo dieser das ganz klar machen würde und wollte: die Opposition von Natur und Kultur sei nämlich – so Lévi-Strauss – keine ursprüngliche Gegebenheit und auch kein objektiver Aspekt der Weltordnung, sondern eine künstliche Schöpfung der Kultur. Gerade diese Erklärung von LéviStrauss bestätigt meines Erachtens aber die Lesart, dass diese Trennung konstitutiv für Kultur ist. Und auf Basis der Trennung Natur/Kultur kann es dann erst in der Kultur eine und jedwede Konzeption von Natur geben. 257 Dies wird in der Vorrede zur Überschreitung ([1963]: 28f.) z.B. direkt greifbar, wenn Foucault die Sexualität als einzige Möglichkeit der Grenzziehung sieht, da sie als der einzige absolut universelle Inhalt des Verbotes in Erscheinung tritt. Möglicherweise hat Foucault allerdings seine späteren Arbeiten mit einem Konzept produktiver Macht als Kritik an der Ethnologie verstanden. Darauf deuten einzelne Aussagen hin, welche die von Foucault distanzierte Perspektive einer über Verbot und Gesetz arbei-
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aktiver deus ex machina. Ohne einen solchen Schritt der Natur/Kultur-Trennung wäre es geradezu unmöglich, den ‚Körper als kulturelle Tatsache‘ zum Gegenstand des Diskurses zu machen – und zugleich die Beliebigkeit der kulturellen Konstruktion in der ungreifbaren Präsenz des Außerdiskursiven (Außerhistorischen, Außerkulturellen) mitzudenken. So aber kann der nicht-sprachliche und nicht-repräsentierte Raum – die Natur, wie auch das ‚Sein der Sprache‘ selbst – als ein Außen gelten, das ereignishaft gegenüber dem Kulturellen ist und dieses ständig in Frage stellt. Interessanterweise lässt sich die Idee des Außen auch in einem anderen Kontext verorten. Liebmann Schaub überlegt, dass Foucault vielleicht auf ein Konzept des Buddhismus rekurrieren wollte und stellt in Hinblick auf das verunsichernde Außen fest: „Yet Foucault, along with Barthes and Derrida, insists on the fundamental emptiness of the ‚other‘.“258 Demnach arbeitet Foucault mit einer ‚nonpositive affirmation‘: „[T]he ‚other‘ can remain empty, open, unthinkable, and unspeakable while providing the ground for a critique of its counterpart. The concept of an empty presence permits application of a radically subversive methodology without the need for working out an anthropological theory or an ethics.“259 „In contrast to Western logic, this dialectical style does not culminate in any conclusions about the being of things. It neither proves nor wishes to prove anything but, rather, demonstrates the ultimate elusiveness of proof.“260
Das in der Sprache nicht hintergehbare ‚Sein der Sprache‘ hat Foucault nicht nur mehrfach als subversive Instanz eingeführt, sondern in gewisser Hinsicht rechnet er für seine eigenen Arbeiten mit einem solchen Verunsicherungsmechanismus. So wäre zu verstehen, wenn er auf den sinn-hintergehenden Wert von Erfahrung hofft. Foucaults Erfahrungs-Bücher sollen im Gegensatz zu Wahrheits- oder Beweis-Büchern die Lesenden über die Erfahrung von Differenz und Anderssein, Unsinn, Kontingenz oder auch der Materialität von Sprache immer wieder aus dem historischen Apriori hinauskatapultieren.261 Und auch Foucault selbst
258 259 260 261
tenden Macht an die Ethnologie binden – vgl. Mächte und Strategien ([1977]: 544) und Die Maschen der Macht ([1981]: 225f.). Allerdings hat Foucault selbst in der Ordnung der Dinge die Ethnologie nicht als Ansatz bestimmt, der mit einem Verbots-Denken im Sinne der Repressionslogik oder der juridischen Souveränitätsmacht in Einklang steht. Liebmann Schaub 1989: 309. Liebmann Schaub 1989: 309. Liebmann Schaub 1989: 311. Vgl. Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 34.
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macht, wie er angibt, während des Schreibens eine Erfahrung der Distanzierung von seinen ersten Annahmen durch, was sich in den Titeln seiner Bücher, die er immer von Anfang an unverändert beibehalte, spiegle.262 „Die Idee einer Grenzerfahrung, die das Subjekt von sich selbst losreißt – genau das war es, was bei meiner Lektüre Nietzsches, Batailles, Blanchots für mich wichtig war, und genau diese Idee hat mich dazu gebracht, meine Bücher – wie langweilig, wie gelehrt sie auch sein mögen – stets als unmittelbare Erfahrungen zu verstehen, die darauf zielen, mich von mir selbst loszureißen, mich daran zu hindern, derselbe zu sein.“263
Insofern lässt sich sagen, dass diese Öffnungen bei Foucault durch Bereiche entstehen, die nicht vollständig dem historischen Apriori unterzuordnen sind, die zumindest für das gegenwärtige Apriori ein produktives Außen bilden sollen. Die Definition und Etablierung diskursiver wie nicht-diskursiver Praktiken hat sich also mit ständig von ‚Außen‘ bedingten Turbulenzen auseinander zu setzen. Allein deshalb sind die kulturellen Regelmäßigkeiten prinzipiell nicht abgeschlossen erstarrt. Zudem fehlt aber bei Foucault auch die für den Strukturalismus oder Poststrukturalismus typische Leerstelle nicht.264 Konkret erarbeitet er sie mit dem Verschwinden des Menschen, das einen Raum darstellt, „in dem es schließlich möglich ist, zu denken“.265 Die kulturelle Strukturierung ist aber natürlich auch aufgrund der immer erkennbar vorhandenen oder zumindest notwendigerweise denkbaren Alternativen jederzeit in Frage zu stellen. Insofern ist anzunehmen, dass die Kräfteverhältnisse immer im Fluss sind. Die Operation einer (produktiven) Sanktionsmacht ist also nicht nur zu verstehen aufgrund ‚unserer‘ Freiheit, Sätze zu negieren, also zu ihnen so oder so Stellung zu nehmen.266 Sondern Foucault versucht, auch hier konsequent zu bleiben und die Dynamik nicht primär in den Menschen zu legen.
262 Aber selbstverständlich geht es Foucault nicht darum, persönliche Erfahrungen ins Wissen zu übertragen, sondern er ist in eine kollektive Praxis eingebunden (vgl. Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 32). 263 Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 27. Die Bedeutung von Erfahrung oder im Speziellen Grenzerfahrung hebt besonders Fink-Eitel (1994: 205f. oder 253) hervor. Meister wiederum betont die Rolle der Literatur als Praxis der Übertretung, da darin das Sprechen sich so weit als möglich von sich selbst entfernen kann: „Die Tatsache, daß die Literatur der bedeutenden Rede entgegensteht, ist ihre einzig verführende Kraft“ (Meister 1990: 241). 264 Vgl. Deleuze 1992b: 58. 265 Die Ordnung der Dinge [1966]: 412. 266 Vgl. so scheint es aber bei Fink-Eitel (1994: 277).
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Damit ist allerdings nicht gesagt, dass Foucault gar keinen Freiheitsbegriff kennt – im Gegenteil, auch hier sieht er mehrere Formen. Außerdem konzipiert auch er selbst Macht (zumindest zeitweise) explizit unter Einschluss von ‚Freiheit‘. Machtbeziehungen sind demnach laut Foucault definiert durch eine „Form von Handeln, die nicht direkt und unmittelbar auf andere, sondern auf deren Handeln einwirkt“267. „Der ‚Andere‘ (auf den Macht ausgeübt wird) muss durchgängig und bis ans Ende als handelndes Subjekt [oder: als Subjekt des Handelns] anerkannt werden. Und vor den Machtbeziehungen muss sich ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen.“268
Regieren im Sinne von Führung (conduite) meint, das mögliche Handlungsfeld anderer zu strukturieren: „Macht kann nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden, insofern sie ‚frei‘ sind – und damit seien hier individuelle oder kollektive Subjekte gemeint, die jeweils über mehrere Verhaltens-, Reaktions- oder Handlungsmöglichkeiten verfügen. Wo die Bedingungen des Handelns vollständig determiniert sind, kann es keine Machtbeziehungen geben.“269
Hingegen: „Gewaltbeziehungen wirken auf Körper und Dinge ein.“270 Und in Herrschaftszuständen sind die Machtbeziehungen nicht mehr veränderlich und erlauben den Mitspielern keine Strategien mehr.271 Bei Foucault kommt es also zu einer Verschiebung der Definition: Was oft als Machtausübung bezeichnet wird, fällt bei ihm unter ‚Herrschaft‘. Macht andererseits wird mit Rückbezug auf die oben explizierte Politisierung der Semiologie von Saussure beziehungsweise des Strukturalismus von Lévi-Strauss zu einer Perspektive der kulturellen 267 Subjekt und Macht [1982]: 285. 268 Subjekt und Macht [1982]: 285. Der Einschub von mir verweist auf die Version des Textes, wie sie in Dreyfus; Rabinow (1994) abgedruckt ist. 269 Subjekt und Macht [1982]: 287. Mit dem Begriff der Regierung kann Foucault Subjektivität und Widerstand (besser als vorher) integrieren – so Lemke (1997: 35). Und tatsächlich betrachtet Foucault Freiheit erst relativ spät differenziert und dieses Interesse steht sicher in Zusammenhang mit der Machtform, die er für den Liberalismus spezifiziert – der Gouvernementalität. Donzelot und Gordon (2008: 51f.) umreißen Gouvernementalität als Bezeichnung der Leitung des Verhaltens („Conduct of Conduct“) über die Distanz und im Gegensatz zur Disziplin nicht direkt. Was natürlich keineswegs ausschließt, dass es auch hier zu einer Normalisierung kommt (zum Begriff der Normalisierung vgl. Link 2004). 270 Subjekt und Macht [1982]: 285. 271 Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit [1984]: 878.
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Strukturierung – sowohl in diskursiven wie auch nicht-diskursiven Praktiken. An dieser Stelle bliebe zu fragen, ob es auch Beziehungen gibt, die auf das Handeln anderer einwirken, aber keine Machtbeziehung sind, und was hierfür das Kriterium wäre. Konsens ist jedenfalls expressis verbis kein solches Kriterium. Denn: „Gewalt und Konsens sind Mittel oder Wirkungen, nicht aber Prinzipien oder Wesen der Machtausübung.“272 Daher fällt die philosophische Annahme, dass frei zu handeln bedeutet, vernunftgemäß zu handeln – oder auch, gemäß seiner ‚wirklichen‘ Interessen zu handeln (so aber laut Laidlaw die anthropologische Konzeption von Agency).273 Ebenso wenig plausibel wird damit die Idee, dass Freiheit nur in Absenz von jedweden Einschränkungen oder Verhältnissen der Macht möglich ist. Freiheit ist selbst ein Aspekt der kulturellen Machtformation. Machtbeziehungen „bilden [...] keine zusätzliche Struktur oberhalb der ‚Gesellschaft‘“; es kann „keine Gesellschaft ohne Machtbeziehungen geben“, was aber nicht bedeutet, „dass die bestehenden Machtbeziehungen notwendig sind“.274 Freiheit in Bezug auf Befreiung, wonach Freiheit sich mit der Aufhebung von Beschränkungen ergibt, steht folglich nicht im Hintergrund von Foucaults Konzeption. Allerdings gibt es Praktiken, sich von etwas Konkretem zu befreien (etwa von der Sklaverei).275 Die US-amerikanische Sekundärliteratur arbeitet sich insbesondere an der Problematik ab, dass in das Leben der Menschen nicht eingegriffen werden soll, aber doch eingegriffen werden muss. Dies ist eine Frage mit einem Telos, wie sie sich den Diskussionen in Europa seltener stellt. Denn ein Leben ohne Eingriffe wäre ein a-soziales und somit a-kulturelles Leben und als solches für den Menschen nicht denkbar.276 Der Gedanke von Foucault, dass Autonomie nichts 272 Subjekt und Macht [1982]: 285. 273 Vgl. Laidlaw 2002: 323. Laidlaw (2002: 322) betont, dass Freiheit gemäß Foucault in vielfältiger Weise ausgeübt wird – und dass sie daher ein Gegenstand der ethnographischen Untersuchung wäre. Verschiedene Techniken des Selbst zeigen folglich verschiedene Formen ethischer Freiheit (so Laidlaw 2002: 324). Ähnlich vielfältig sieht auch Schürmann (1985: 544) Freiheit. 274 Subjekt und Macht [1982]: 289. Nochmals, vielleicht klarer, sagt Foucault in Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit ([1984]: 890): „Was ich sagen will ist, dass in den menschlichen Beziehungen, was sie auch immer sein mögen, ob es nun darum geht, sprachlich zu kommunizieren [...], oder ob es sich um Liebesbeziehungen, um institutionelle oder ökonomische Beziehungen handelt, die Macht stets präsent ist [...]“. 275 Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit [1984]: 876f. 276 Wie Eickelpasch und Rademacher (2004: 20) sagen: „Individualisierung [Herv. i.O.] meint also nicht die Befreiung des Menschen von den Fesseln der Gesellschaft, sondern eine bestimmte [...] Form der Vergesellschaftung [Herv. i.O.].“ Darüberhinaus
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Primäres ist, das verletzt oder verloren wird, ist daher eher im USamerikanischen Kontext revolutionär. „Die Befreiung eröffnet ein Feld für neue Machtbeziehungen, die es durch Praktiken der Freiheit zu kontrollieren gilt.“277 Bisher wurde überlegt, welchen Aspekten in Foucaults Ansatz die Rolle zukommt, kulturelle Regelmäßigkeiten immer wieder in Frage zu stellen und in Bewegung zu halten. Ein damit noch nicht zur Genüge geklärter Punkt wäre, wie Veränderungen nun konkret vor sich gehen. Hier ist Foucaults ethnologische Positionierung besonders gefordert, da Figuren des modernen Identitätsdiskurses, wie das autoritative Subjekt, der evolutionäre Fortschritt oder auch die Dialektik, denen die Moderne diese Aufgabe überlassen hat, nicht mehr tragfähig sind. Einen deutlichen Fingerzeig zur Lösung dieses Desiderats bietet das folgende Zitat mit der zunächst vielleicht erstaunlichen Aussage, dass historische Tatsachen immer aktualisiert werden könnten: „Ich will keine vorgefasste Meinung verbreiten, was die Form der kommenden Kultur sein wird. Verstehen Sie richtig: Alles ist zumindest als virtuelles Objekt innerhalb einer gegebenen Kultur vorhanden, zumindest alles, was bereits einmal Gestalt angenommen hat. Das Problem der Objekte, die in der Kultur niemals Gestalt angenommen haben, ist ein anderes Problem. Aber es gehört zum Funktionieren des Gedächtnisses und der Kultur, jedes beliebige der Objekte, die einmal Gestalt angenommen haben, reaktualisieren zu können; die Wiederholung ist stets möglich, die Wiederholung nebst Anwendung, Umgestaltung.“278
Dies deutet an, wie Foucault die Praxis der Transformation für die Zukunft primär denkt: als Differenzierung in der Wiederholung. Daher kann für die Innensicht durchaus Butlers Beschreibung gelten: „In bestimmter Hinsicht steht jede Bezeichnung im Horizont des Wiederholungszwangs; daher ist die ‚Handlungsmöglichkeit‘ in der Möglichkeit anzusiedeln, diese Wiederholung zu variieren. Wenn die Regeln, die die Bezeichnung anleiten, nicht nur einschränkend wirken, sondern die Behauptung alternativer Gebiete kultureller Intelligibilität ermöglichen, d.h. neue Möglichkeiten [...] eröffnen, die den starren Codes [...] widersprechen, ist eine Subversion der Identität innerhalb [Herv. i.O.] der Verfahren repetitiver Bezeichnung möglich.“279 scheint es aus europäischer Perspektive etwas kurzsichtig, dass weitestgehend nur Eingriffe (interference) des Staates zur Diskussion stehen. Dessen Zurücknahme impliziert aber natürlich, dass andere gesellschaftliche Institutionen schlagend werden. 277 Die Ethik der Sorge um sich als Praxis der Freiheit [1984]: 878. 278 Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 554f. 279 Butler 1991: 213.
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Die oben skizzierten Möglichkeiten zur Dynamik erlauben im differentiellen Zusammenhang eine Veränderung, die als ständige Verschiebung von Elementen, respektive deren ständige Rekontextualisierung zu denken wäre. Und hierbei kommt der oben bereits erwähnten Leerstelle die wesentliche Funktion zu, Verschiebungen Raum zu bieten und so der Beweglichkeit des Systems zu dienen. Folglich ist aber die Veränderung nicht unbedingt in einem Rekurs fortwährender Umkehr gefangen – selbst wenn dies bei Foucault ein wichtiges Prinzip der Kritik ist. Aber auch in seinen eigenen Texten nutzt Foucault, wie Aladjem feststellt, nicht allein die Strategie, bloß den negativen Pol der Aufklärung respektive des Westens aufzuwerten, etwa Wahnsinn gegenüber geistiger Normalität, das Private gegenüber Öffentlichem, Weibliches gegenüber Männlichem, Körper gegenüber Geist, Emotion gegenüber Vernunft oder Natur gegenüber Kultur, weil man damit immer noch innerhalb der Logik dieser Macht bliebe.280 Zwar ist die Gegenwissenschaft insgesamt ein Gegenentwurf zur Moderne, der in vieler Hinsicht vom kritischen Gedanken der Umkehr geprägt ist. Dieser von Fink-Eitel281 als Foucaults modus operandi schlechthin betrachtete Mechanismus zeigt sich in epistemologischen Grundpositionen der Archäologie wie insbesondere dem so produktiven Begriff der Diskontinuität. Dennoch werden auch wichtige Elemente der Moderne respektive Renaissance übernommen, allem voran wohl das ‚Sein der Sprache‘. In gewissem Sinne folgt Foucault einer Denkfigur, die sich mit Ruhstorfer gesprochen als Dialektik ohne Synthesis darstellt.282 Foucault setzt aber bei der Verabschiedung des Überwindungsgestus entgegen der Linearität antithetischen Vorantreibens außerdem noch auf Pluralität und Brechung der Zeitachse. Als „rupture and recuperation“ charakterisiert Stoler die bei Foucault tonangebende Denkfigur, wenn dieser aufspürt, wie Elemente (z.B. im Falle des Rassismus) in neuem Kontext weitergetragen oder wieder aufgenommen und reinskribiert werden.283 Zugleich negiert Foucault historische Prozesse nicht generell. Die archäologische Analyse ortet also sehr wohl auch ‚zeitliche Vektoren der Ableitung‘284 als Bedingung der Emergenz. Und natürlich kennt sie auch die Repräsentation der unilinearen Entfaltung. Allerdings ist dies für die Archäologie nur eine von mehreren Alternativen – und ist nicht ihre Wahl. Foucault 280 281 282 283
Vgl. Aladjem 1991: 278. Vgl. dazu Fink-Eitel 1994. Vgl. Ruhstorfer 2007: 80. Vgl. Stoler 1995: z.B. XI, 61, 200, 89. Stoler (1995: 95) z.B. betont, wie ein bestimmter (vorhandener) Rassismus dann unter den Bedingungen bourgeoiser Hegemonie zum Rassismus der westlichen Moderne wird. 284 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 239f.
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hebt somit nicht nur die Notwendigkeit der Synthese auf, sondern hintergeht auch das dialektisch binäre Voranschreiten, sobald mit Durchsetzung des Anderen der Moderne in einem auf den ersten Blick dialektisch scheinenden Schritt diese Great Divide beendet ist. Besonders klar formuliert Foucault den als Alternative zur modernen Geschichtlichkeit eingeführten Duktus der Veränderung im Zusammenhang mit der Bildung eines Dispositivs.285 Er bestimmt das Dispositiv als ein Netzwerk, das in Reaktion auf einen Notstand, eine Dringlichkeit (urgence), verschiedene Elemente als Versatzstücke sammelt und integriert – wo also vorgefundene Gesamtheiten auseinander genommen und neu zusammengesetzt werden.286 Hier wäre zudem eine, wenn auch von der Archäologie des Wissens abweichende, Charakterisierung des Archivs bei Foucault in Erinnerung zu rufen: nämlich als „all die in einer Kultur gesagten Dinge, die aufbewahrt, als wertvoll erachtet, wiederverwendet, wiederholt und verändert worden sind“287. Damit wird deutlich, dass sich Foucault auf das Konzept des Bastelns stützt, um der deterministischen Fortschrittslogik in der Wissenschaft zu entkommen.288 Denn wie in dem von Lévi-Strauss beschriebenen Wilden Denken haben die einzelnen Elemente nach der Dekontextualisierung nicht mehr denselben Wert wie vorher,289 aber sie sind nicht ohne Genealogie. Sie haben – was Foucault immer wieder herausstreicht – eine Herkunft und nicht einen Ursprung, der sie definitiv an nur eine historische Entstehungssituation für nur einen Zweck bindet. So können in diesem Veränderungsprozess alte Zwecke zu Mitteln für neue Zwecke werden.290 Das verweist auf Foucaults epistemologischen Ansatz, wonach Wissenschaft und ihre Begrifflichkeiten, wonach Wahrheit selbst ‚von dieser Welt‘ sind,291 also praxisgebundene Instrumente sind, die Gebrauchsspuren aufweisen. All das bedingt genau das Gegenteil von dem, was Améry fürchtet, wenn er sagt: „Die Ungeschichtlichkeit führt notwendigerweise zu einem starren Einbahn-Denken.“292 Denn Foucault argumentiert:
285 286 287 288
289 290 291 292
Vgl. Das Spiel des Michel Foucault [1977]: 392f. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 48. Die Geburt einer Welt [1969]: 1000. Auch Stoler bezeichnet mit Hinweis auf Lévi-Strauss’ Konzept Foucault als einen Bastler (vgl. Stoler 1995: XI). Sie setzt ihre Analyse dann allerdings nicht dahingehend fort, dass dies ein Aspekt ist, mit dem Foucault seine Kritik am historischen Subjekt der Moderne ausbuchstabiert. Vgl. z.B. Lévi-Strauss 1973: 50. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 34. Vgl. Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 210. Améry 1973: 474.
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„Indem man die Geschichte als eine Unterart des Lebens metaphorisierte, garantierte man, dass die menschlichen Gesellschaften nicht für eine Revolution geeignet sind. Ich glaube, dass der Strukturalismus und die [serielle] Geschichte es erlauben, diese große biologische Mythologie der Geschichte und der Dauer aufzugeben. Der Strukturalismus [...] und die [serielle] Geschichte [...] ermöglichen sowohl das Erscheinen von Diskontinuitäten [...] als auch das Erscheinen von geregelten und zusammenhängenden Transformationen.“293 „Die Geschichte stellt sich damit nicht als eine große Kontinuität unter einer scheinbaren Diskontinuität, sondern als eine Verflechtung sich überlagernder Diskontinuitäten dar.“294
Die von Foucault nachgezeichnete Historizität befreit sich daher von teleologischen Vorgaben und gewinnt eine Vielfalt an Zukunftsoptionen.295 Foucault konkretisiert, welche Perspektive er für eine fortschrittliche Politik vorsieht: Statt Notwendigkeit und Determination oder aber freier Initiative will er die historischen Bedingungen und die spezifischen Regeln der jeweiligen Praktiken erkennen, und es gilt, die konkreten Transformationsmöglichkeiten im Spiel der Abhängigkeiten sowie die spezifische Relevanz, die Subjekte haben können, zu eruieren.296 Eine solche Lokalisierung jeweils kontextuell bestimmter Handlungsmaximen kann auch kaum mehr an einem universellen Wahrheitsmaßstab festhalten. Daran schließt die Frage, welchen Wahrheitswert diese Position und ihre Diagnosen beanspruchen.
V ERNUNFT
UND
W AHRHEIT
IN DER
Z ENTRIFUGE
Mit Bezug auf die im dritten Abschnitt dieses Kapitels angesprochene Gliederung der verschiedenen Richtungen von Kritik zeigt die Analyse bisher schon, dass Foucaults Ethnologie der eigenen Kultur ihre Kritik mit konzeptuellphilosophischen Mitteln leistet, deren Aktualität sich aus der Gegenwartsdiagnose ergibt, die daher strategisch sind und unter den gegebenen Bedingungen einen normativen Gehalt haben, der insbesondere in einem anderen Stellenwert von Vielfalt in Zeit und Raum liegt, als diese in der Moderne hatte. Zuletzt wurde die Thematik aufgeworfen, wie im Rahmen der von Foucault in Angriff genommenen Transformation – nämlich die Moderne zu dem anthro293 Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 347. 294 Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 344. 295 Vgl. z.B. auch Rabinow (2002: 139), der im Zusammenhang mit dem Begriff der Problematisierung die darin vorgesehene Mehrzahl an Handlungsmöglichkeiten betont. 296 Vgl. Antwort auf eine Frage [1968]: 884.
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pologischen Normalfall geschichtsloser Gesellschaften zählen zu können – die Operation der Kritik von Foucault gedacht ist. Denn wenn ein inneres vitalistisches Entwicklungsprinzip als Selbstzweck fehlt, könnte vielleicht das System so verfestigt oder im Gleichgewicht sein, dass eine kritische Bewegung gar nicht entstehen kann. Der vorige Abschnitt erörterte folglich die Dynamik dieser neuen Historizität und die Mechanismen, welche bei der Entstehung von Neuem am Werk sind. Im Folgenden wird die Frage nach dem Status der Wahrheit in dieser Konzeption von Beweglichkeit und Diversität kultureller Positivitäten gestellt. Foucaults Ansatz beinhaltet, primär an dem zu arbeiten, was in der Philosophie auch unter dem Begriff ‚negative Freiheit‘ firmiert – eine Freiheit, die nicht Freiheit zu etwas, sondern Freiheit von bestimmten, unhinterfragten Festlegungen ist.297 Und hierbei macht die Tatsache, dass Foucault nicht konservativ ist und daher keine Angst vor Umbrüchen und Neuorganisationen hat, sondern von Optimismus getragen grundsätzlich darauf hofft, seine Weigerung, als Intellektueller eindeutige und umfassende Zielvorgaben im wissenschaftlichen Diskurs abzustecken, plausibel. Während diese Zurückhaltung von seiner Seite selbst schon einen gesellschaftspolitischen Akt darstellen soll, rechnet er andererseits bei der kritischen Funktion seiner Erfahrungs-Bücher sehr wohl damit, dass diese in einem jeweils gegebenen ethisch-moralischen Kontext – nämlich dem der Moderne – ihre Wirkung tun. Denn wie oben gezeigt wurde ist in Foucaults Konstruktivismus die Freiheit nicht total, sofern die Genealogie der Elemente in Betracht gezogen wird. Daher kann Foucault mit seinen Rekombinationen zugleich noch auf den Kontext der Moderne zählen und durch die Veränderung in der Rekontextualisierung diesen kritisch distanzieren. In dieser Hinsicht sind Referenzrahmen seiner an die Aktualität gebundenen Kritik tatsächlich, wie von Habermas und ähnlich etwa Aladjem gesehen, moderne Werte – auch wenn, Hookes Einwand folgend, diese Werte nicht alle nur in der Moderne zu finden sind, so etwa die Reziprozität.298 Das Problem gemäß Foucault ist nämlich, dass man mit einem großen und womöglich dogmatisch festgelegten Gegenentwurf der Logik des bestehenden Systems nicht grundlegend genug entkommen kann.299 297 Vgl. Moss (2004: 38), der diesbezüglich etwa auch auf Bernauer, Mahon und Rajchman verweist. 298 Vgl. Aladjem (1991: 287); Hooke (1987: 39). 299 Zugleich ist zu bedenken, dass Foucaults Vorstellung von Aufklärung entsprechend auch die Art des Widerstandes immer an die aktuelle Situation gebunden ist – es also nicht auszuschließen wäre, dass Foucault selbst die Strategie der Vielfältigkeit in anderem Zusammenhang aufgeben würde.
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„Es versteht sich, daß manche über die gegenwärtige Leere weinen und sich ein bißchen Monarchie in der Ordnung der Ideen wünschen. Aber wer einmal in seinem Leben einen neuen Ton, eine neue Sehweise, eine andere Handlungsweise gefunden hat, der wird, glaube ich, niemals das Bedürfnis verspüren, darüber zu klagen, daß die Welt ein Irrtum ist, die Geschichte von Nichtexistenzen erfüllt, und daß die andern endlich schweigen sollen, damit man nicht mehr das Geklingel ihrer Mißbilligung hört.“300
Der Wunsch, jeglichen Alleinanspruch zu hintergehen, ist ein wichtiger Ausgangspunkt für die Auflösung des modernen Identitätsdenkens. Und es wurde deutlich, dass diese Offenheit und Pluralität mit Foucaults Perspektive einer ethnologischen Transformation verknüpft ist, dass Foucault also einen Ansatz vorlegt, der eine De-Essentialisierung erlauben soll. In diesem Sinne meint etwa auch Carter, dass Foucault viel dazu beigetragen hat, zu sehen, wie Diskurse zeitlich und räumlich relativ in Praktiken oder Technologien eingebettet sind und das Produkt spezieller, historisch kontingenter Wahrheitsregime darstellen. „These regimes of truth and their associated moral technologies possess the capacity to make individuals subjects. Indeed their power rests precisely in their ability to determine identities within specific, historically contingent knowledges, so that the more we reveal our identities, ‚tell the truth‘ about who we are, within such knowledges, the deeper our attachment to them becomes. [...] We thus become implicated, says Foucault, in an ethics of authenticity, an ethics based on notions of who we really [Herv. i.O.] are.“301
Bei Foucault ist hingegen immer die Kritik angelegt, anders zu sein, als man ist. Daher sagt Carter lobend und kritisch zugleich: „Insofar as racism profoundly denies this capacity, it is a legitimate site of resistance and opposition for Foucault. It is inaccurate, therefore, to claim that Foucault does not offer grounds for a politics of resistance. However, this resistance must itself be a discursive social production, not one based upon, or derived from, what things are [Herv. i.O.] [...]. Thus, the Foucauldian stance remains frustratingly abstract in its failure to specify how and on what basis this resistance is to take place.“302
Diese in der Philosophie häufig beanstandete Konstellation kann zur Überlegung führen, welchen Status Foucaults eigene Analysen haben und wie sie sich in seinem Denken über Wahrheit ansiedeln lassen.303 Tatsächlich wird als Problem seines Ansatzes genannt, dass: 300 301 302 303
Der Philosoph mit der Maske [1984]: 39f. Carter 1997: 143. Carter 1997: 144. Foucault hat im letzten Interview vor seinem Tod drei Hauptthemen in seinen Bü-
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„The anti-essentialist thrust of these notions is blunted, though, by Foucault’s idealist insistence that all identities – and this must also include non-racialised ones – are merely products of regimes of truth.“304
Insofern unterminiert ein Verzicht auf Wahrheit die Kraft der Argumentation. Zugleich ist jedoch zu bedenken, wie Foucault die Wirkung seiner Operation veranschlagt. Demgemäß sagt Brieler: „Die historische Kritik muß [...] den Verhältnissen eine doppelte Illusion nehmen: die ihrer Natürlichkeit und die ihrer Selbstverständlichkeit. Daraus folgt: Kritik ist unmöglich ohne den genealogischen Blick, der aufklärt, wie die Dinge kontingent und umkämpft entstanden sind.“305
Hinzuzufügen wäre, dass diese Kontextualisierung aber nur dann konsequent als Kritik gelten kann, wenn zugleich grundsätzlich die Möglichkeit verneint oder zumindest ausgeblendet wird, letztlich einen adäquaten Zustand erreichen zu können. Denn Kontingenz und Kampf allein können ja auch der schwierigen Aufdeckung eines ‚falschen‘ Bewusstseins geschuldet sein – so etwa in vielen antirassistischen oder feministischen Emanzipationskämpfen. Damit die Relativierung in der von Brieler angesprochenen Weise funktioniert, müsste Foucault also auch das gegenwärtig dominante Wahrheitskonzept grundsätzlich in Frage stellen. Und dass er dies will, macht Foucault klar: „Die Wissenschaft, der Zwang des Wahren, die Verpflichtung zur Wahrheit, die ritualisierten Vorgehensweisen, um sie hervorzubringen, durchziehen uneingeschränkt seit Jahrtausenden die gesamte abendländische Gesellschaft und haben jetzt einen so universalisierten Charakter angenommen, dass sie zum allgemeinen Gesetz jeglicher Zivilisation werden.“306 „Das Wichtige ist meines Erachtens, dass die Wahrheit weder außerhalb der Macht noch ohne Macht ist (sie ist einem Mythos zum Trotz [...] nicht das Vorrecht derer, die sich frei machen konnten). Die Wahrheit ist von dieser Welt; sie wird in ihr dank vielfältiger Zwänge hervorgebracht. Und sie hat in ihr geregelte Machtwirkungen inne. Jede Gesellschaft hat ihre Wahrheitsordnung, ihre allgemeine Politik der Wahrheit: das heißt Diskursarten, die sie annimmt und als wahr fungieren läßt; die Mechanismen und die Instanzen, die es gestatten, zwischen wahren und falschen Aussagen zu unterscheiden; die Art und Weise, wie man die einen und die anderen sanktioniert; die Techniken und die Verchern festgestellt: Wahrheit, Macht und Individuum bzw. individuelles Verhalten. Man sieht daraus, wie wichtig ihm damals die Frage der Wahrheit auch in seinen früheren Arbeiten schien (vgl. Die Rückkehr der Moral [1984]). 304 Carter 1997: 143. 305 Brieler 2001: 187. 306 Fragen an Michel Foucault zur Geographie [1976]: 42.
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fahren, die wegen des Erreichens der Wahrheit aufgewertet werden: die rechtliche Stellung derjenigen, denen es zu sagen obliegt, was als wahr fungiert.“307
Wenn Foucault nun angibt, nicht Wahrheit von Macht emanzipieren zu wollen, so sieht Merquior Foucaults Definition, seine Arbeit sei „a matter [...] of detaching the power of truth“308 von den Formen der Hegemonie (kulturell, ökonomisch, sozial), in denen sie heute operiert, als Andeutung, dass Wahrheit sich doch befreien könne – und zwar zumal bezogen auf seine, also Foucaults eigene Positionen. Denn, so Merquior: „[u]ltimately, then, Foucault dared not to include his own theory into what he says of the intellectuals’ thought: that all is fight, nothing light, in their endeavours.“309 Foucault erhebe für sich selbst also sehr wohl Wahrheitsansprüche. Dieser Widerspruch sei für Foucault so unlösbar, dass er sich ihm nichteinmal gestellt hätte. Dementgegen zeigen für meine Argumentationslinie gerade die genannten Formulierungen310 recht gut, wie mit Foucaults Wahrheitskonzeption diese Problematik verblasst. „Es gibt einen Kampf ‚für die Wahrheit‘, zumindest aber einen Kampf ‚im Umfeld der Wahrheit‘ – wobei ich nochmals anmerken muß, ich verstehe unter Wahrheit nicht ‚ein Ensemble von wahren Dingen, die es herauszufinden oder akzeptabel zu machen gilt‘, sondern ein ‚Ensemble von Regeln, nach denen man das Wahre vom Falschen scheidet und das Wahre mit spezifischen Machteffekten belegt‘. Ferner ist noch anzumerken, daß es sich nicht um einen Kampf ‚zugunsten‘ der Wahrheit handelt, sondern um einen Kampf um den Status der Wahrheit und um die politisch-ökonomische Rolle, die sie spielt.“311
Foucault will folglich ein anderes Funktionieren von Wahrheit ermöglichen, sodass Wahrheit nicht mehr, wie in der Ordnung des Diskurses beschrieben, als eine Praxis der Diskursbeschränkung mit für die Gegenwart spezifischen hegemonialen Formen verknüpft ist. Es lässt sich daher sagen, dass Foucault seinem Ziel gemäß an der Öffnung dieser Beschränkungen gearbeitet hat, um Wahrheit mit anderen Gültigkeitskri-
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Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 210f. Merquior 1991: 146f. Merquior 1991: 147. Neben vielen anderen Aussagen von Foucault stützen dies auch die von Merquior (1991: 156f.) zitierten Stellen (vgl. Truth and Power [1977]: 133 oder Wahrheit und Macht [1977]: 54) und vor allem natürlich Die Ordnung des Diskurses ([1971]: 1015), wo Foucault den Willen zur Wahrheit als eine von drei Prozeduren der Ausschließung von Aussagen definiert. 311 Der so genannte Linksintellektuelle [1977]: 67.
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terien anzusiedeln und so deren Wirkung anders zu entfalten. An dieser Stelle wäre auch auf Nietzsches Wahrheitsvorstellung zu verweisen, wonach Wahrheit als Übereinstimmung von Gedanke und Wirklichkeit selbst erst ein Institut, ein Eingesetztes der Sprache und daher von keinem sprachunabhängigen Kriterium kontrollierbar ist.312 Mit einer solchen Position kann Foucault der Gefahr entgehen, die Gutting unter dem Begriff ‚genetic fallacy‘ beschreibt, nämlich dass die Pluralität von Wissen gemäß unterschiedlichen kulturspezifischen Wahrheitsregeln an sich nicht beweist, dass ein bestimmtes Wissen – etwa die moderne Wissenschaft – nicht doch objektiv ist.313 Festzuhalten ist also, dass Foucault selbst, wie man den Ontologisierungsvorwürfen entgegenhalten kann, keinen Wahrheitsanspruch im ausschließenden Sinn des Begriffs verfolgt. Mit Bezug darauf problematisiert Fink-Eitel314 grundsätzlich die Argumentation von Foucault: Wenn für Foucault Wahrheit und Falschheit nichts als Produkte einer Machtwirkung sind, muss dies natürlich auch auf seine eigenen Aussagen315 zutreffen, und diese könnten auch falsch sein, womit Wahrheit eben möglicherweise doch kein Produkt der Macht wäre. Um Foucault gerecht zu werden, muss man allerdings bedenken, dass eine Aussage nicht im referentiellen absoluten Sinn mehr wahr, sondern konstituierend ist, und daher in diesem Sinn auch nicht falsch sein kann – auch seine eigene nicht. Die von Fink-Eitel angeführten Differenzierungen zwischen den inhaltlichen Bedingungen der Entstehung, der Funktion und der Geltung von behauptenden Sprechakten und der formalen Struktur und weiter zwischen deren behauptendem Anspruch und dem Inhalt der Behauptung – wobei das, was behauptet wird genau dann wahr ist, wenn tatsächlich auch der Fall ist, was die Aussage behauptet –, diese Differenzierungen lösen sich angesichts der situativ, kontextuell aufgefassten Existenz einer Aussage in Foucaults Epistemologie also weitgehend auf.316 312 313 314 315
Vgl. Frank 1984: 170. Vgl. Gutting 1999: 106. Fink-Eitel 1994: 276f. Genauer müsste man formulieren, dass bei Foucault nicht primär, was innerhalb einer Rationalität als wahr oder falsch gilt, sondern primär die eine Rationalität strukturierenden Mechanismen Produkt von Kräfteverhältnissen, also Machtwirkung sind oder jedenfalls kulturspezifische Positionen einnehmen. 316 Nach Fink-Eitel (1994: 277) meint Politik der Wahrheit also: Die von der Macht produzierten Wahrheitsansprüche sollen fraglos hingenommen werden, wie auch immer es um ihren tatsächlichen Wahrheitsgehalt bestellt sein mag – und Fink-Eitel verweist auf Der Wille zum Wissen ([1976]: 71f.). Der hier von Fink-Eitel weitergetragene Wahrheitsbegriff wird meiner Ansicht nach der Foucault’schen Position auch deshalb nicht gerecht, weil dabei der vor allem produktive Charakter der in Kräfteverhältnissen bestehenden Regularitäten nicht genug beachtet wird. Allerdings unterscheidet
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Man kann bei Foucault allerdings immer wieder ‚Präsuppositionen‘ seiner Arbeiten feststellen, also Voraussetzungen, die sein Denken verständlich machen, und auf die sich Foucault faktisch festgelegt hat – und das wirft auch für Schäfer folgende Frage auf: „Bedeutet dies, daß man sie auch als Wahrheit beanspruchende Aussagen betrachten muß und daß Foucault sein Denken deshalb gegenüber konkurrierenden Ansätzen zu privilegieren hat, wie es von seinen Kritikern ja immer wieder behauptet wurde?“317
Schäfer verneint das. Eine Form wahrhaft menschlichen Daseins oder eines eigentlichen Seins des Menschen behauptet Foucault nicht.318 Aber auch, dass es eine solche Daseinsform nicht geben kann, unterstellt Foucault nicht. Es handelt sich eher darum, deren Relevanz zu hinterfragen. Denn: Foucault zeigt nicht nur die Daseinsformen in ihrer Vielfalt und – von seinen Präsuppositionen aus in ihrer Relativität –, sondern er geht eben den Schritt weiter, auch die Wahrheitsformen in ihrer Vielfalt und Systematik darzustellen und verständlich zu machen, wie sie ihre Wahrheiten nach verschiedenen Verfahren produzieren. Diese Stellung zur Frage der Wahrheit spiegelt die Konstruktion von Foucaults eigenen Arbeiten. Foucault bemüht sich daher, den dabei unumgänglichen eigenen methodologisch-ontologischen Festlegungen einen im Prinzip immer vorläufigen Status zu geben. Somit ist es in meinen Augen richtig, dass Foucaults Diagnosen Stringenz immer nur in einem regionalen Wahrheitsspiel beanspruchen können – dies hingegen sehr wohl, denn Foucault gibt ja mit seiner Diskursanalyse nicht jedwede Existenz von Regelmäßigkeiten preis. Dabei ist nicht auszuschließen, dass die eine oder andere Form der Wahrheitsproduktion absolute Wahrheiten erstellt. Aber da sie dies wie alle anderen in einer Praxis gemäß bestimmten kulturellen Regelmäßigkeiten tut, ist dieser Realitätsbezug irrelevant. Als Gegenstand der Beurteilung und Auseinandersetzung, welchem Wahrheitsspiel der Vorzug zu geben ist, bleiben allein die verschiedenen diskursiven Regelmäßigkeiten und ihre Integration mit nicht-diskursiven Praktiken.
Foucault in der Ordnung des Diskurses ([1971]: 24f.) zwischen ‚wahr‘ und ‚im Wahren sein‘ und findet auch konkrete Beispiele für beides. Diese Stelle widerspricht meiner Lesart. Eine ähnlich gelagerte Aussage macht Foucault in der Archäologie des Wissens ([1969]: 69), wo zwischen wirklichen Abhängigkeiten und explizit reflexiven und zudem den diskursiven unterschieden wird. In diesem Fall ist die Gegenstands- und Erkenntnisebene jedoch expressis verbis nicht die des ‚Wirklichen‘. 317 Schäfer 1995: 59. 318 Vgl. Schäfer 1995: 60.
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Tatsächlich bezieht Foucault sich dezidiert in das Spiel um die Machtwirkung von Wahrheit ein, wenn er sagt: „Ich glaube zu sehr an die Wahrheit, um nicht anzunehmen, daß es verschiedene Wahrheiten und verschiedene Weisen gibt, sie auszusprechen“319. Eine solche Verortung kann allerdings Bedenken auftauchen lassen, welche Bedeutung Foucault für seine Arbeit überhaupt beanspruchen kann: „Freilich [ist an Foucault auch in der Archäologie des Wissens] die Frage zu richten, ob die Archäologie gleichsam eine ‚wahre‘ Theorie der Abfolge von Diskursen sein will oder ob sie nur einen neuen, abermals relativen Diskurs an die Stelle des jüngstverflossenen (nämlich des ‚modernen‘) Diskurses setzt. Diese Frage gilt natürlich analog für die Hermeneutik und den Historismus (als Wissensform betrachtet) und stürzt uns schon wieder in die Ungewißheit, ob der Bruch zwischen Archäologie und dem angeblich traditionellen historischen Fragen methodisch-theoretisch tatsächlich radikal und total ist.“320
Diese Frage ist äußerst berechtigt, denn – wie mehrfach betont – ist es Foucaults erstes Ziel, bestehende Naturalisierungen aufzulösen. Und in der Ordnung der Dinge stellt Foucault nicht nur die moderne Epistemologie durch seine eigene Zeichentheorie in Frage, sondern in Form einer Selbstrelativierung weist dieses Buch auch umgekehrt die Historizität der archäologischen Kategorien auf, da ohne Rekurs auf referentielle Vorgaben die Vielfalt der möglichen epistemischen Strukturen sich auf einer Ebene gegenüberstehen.321 Dadurch werden sein theoretisch-methodischer Zugang und folglich die damit erstellten Diagnosen relativiert. Also ein weiterer relativer Diskurs? Wenn Foucault im Unterschied etwa zur oben explizierten Perspektive von Habermas kein Mehr oder Weniger der Macht beurteilt, verliert er Kritikfähigkeit, indem er die Möglichkeit aufgibt, bestimmte Wissensinhalte im Vergleich zu anderen zum Beispiel als Ideologie und falsches Bewusstsein anzuprangern oder in ihrer Aktualität für die Gegenwart herabzustufen. Daher kann Foucault auch kaum Veränderungen mit der Zielvorgabe größerer Machtfreiheit einfordern, sondern immer nur ein Spannungsfeld widersprüchlicher Positionen von Macht und Gegenmacht kartographieren. Andererseits gewinnt er die Möglichkeit, frei von solchen Bindungen Kritik einzusetzen. Denn ohne derartige Machtwirkungen der ‚Wahrheit‘ gibt es keinen der Kritik entzogenen Grund für die Aktuali319 Eine Ästhetik der Existenz [1984]: 139. 320 Frank 1984: 217. 321 Foucault unterstützt diese gleichsam horizontale Anordnung beispielsweise, indem er im (ethnographischen) Präsens spricht, was die Gleichwertigkeit anderer, vergangener Realitäten betont.
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sierung einer bestimmten und den Ausschluss anderer diskursiver Tatsachen und auch keinen Maßstab für die richtige Repräsentation. Eine an Foucaults Argumentation orientierte Sicht kommt über das Faktum nicht hinaus, dass jede diskursive Praxis immer andere mögliche Diskurse ausschließt – was die universelle Vernunft mit der Perspektive konfrontiert, dass Sprechen auch Handeln ist, und es keine neutrale, uninteressierte Praxis gibt. Selbst wenn Foucault die Existenz einer solchen Vernunft nicht für unmöglich erklären könnte, ist seine Forschung schwerlich darauf ausgerichtet. Wie die Archäologie des Wissens ergab, machen seine Theoreme den Zugang zu einem solchen universellen Bereich undenkbar. Im Gegenteil ist es doch gerade diese selektive Praxis auf Basis der Differenzierung, worin jede Rationalität mit der Strukturierung ihrer Inhalte, worin die Positivität menschlicher Kultur besteht. Im Gegensatz zu anderen Relativismen kann Foucault durch seinen darauf ausgerichteten Positivismus sogar dem Vorwurf entgehen, den Relativismus für absolut oder wahr anzusetzen. Denn als fundamentaler Selbstwiderspruch der Postmoderne oder des Postmodernismus wird immer wieder aufgedeckt, dass als Wahrheit gilt, dass es keine Wahrheit gibt.322 Vielleicht kann man dieses Problem mit der Unterscheidung zwischen Relativismus und Konstruktivismus klären. Während der Relativismus als Relativität gegenüber der Wahrheit sich in die Diskrepanz verstrickt, dass er auf eben diese Behauptung Wahrheitsanspruch erheben und sie absolut setzen muss, ist es für den Konstruktivismus unproblematisch, auch seine eigene Position als eine Konstruktion wie alle anderen zu sehen: Foucault bestimmt eine Wissenschaft als Praxis, die in einer reziproken Genese das Subjekt der Wissenschaft und das Objekt der Erkenntnis konstituiert – mit dem spezifischen Wahrheitseffekt, dass es hier keine singuläre Wahrheit gibt. Schäfer versteht Foucaults Subjektivität als eine ‚anarchische‘ oder mit Rorty eine ‚ironische‘ – eine nämlich, die davon ausgeht, dass die eigenen Überzeugungen und Bedürfnisse kontingent sind.323 Das zeugt aber, wie auch Schäfer meint, nicht notwendig von theoretischer Schwäche oder Inkonsistenz:
322 Vgl. z.B. Goebel; Suárez Müller 2007: 15. Im Sinne einer Weiterführung der Auseinandersetzung zwischen Foucault und Habermas wäre hier eine Analyse entsprechender Konsistenzfragen bei Habermas zu nennen. Biebricher (2005: 174) schreibt: „Allerdings lässt sich die Diskussionslage dahingehend zusammenfassen, dass Habermas, vor die Wahl zwischen der Scylla einer Letztbegründung moralischer Normen und der Charybdis einer infalliblen Setzung [Herv. i.O.] des fallibilistischen Prinzips gestellt, sich für die letztgenannte Option entscheiden würde.“ 323 Vgl. Schäfer 1995: 54.
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„Foucaults Kritikprojekt unterliegt also genau deshalb nicht der behaupteten Aporie radikaler Vernunftkritik, weil es die von ihren Kritikern behauptete Art [Herv. i.O.] der Selbstbezüglichkeit nicht besitzt, also nicht die Vernunft mittels der Vernunft kritisiert.“324
Das Interesse ist folglich darauf gerichtet, welche Serie kollektiver rationaler Erfahrungen und angebbarer Regeln dabei feststellbar sind.325 Innerhalb desselben Konstrukts, innerhalb derselben Rationalität denkend müssten andere Positionen erst beweisen, dass sie nicht konstruiert respektive konstruierend sind. Treten diese Positionen den Beweis nicht an und stellen sie sich außerhalb dieser Rationalität, so kann ihre Verortung (die vielleicht beansprucht, nicht-konstruktivistisch, sondern referentiell und neutral zu sein) vom Konstruktivismus sogar als eine ebenso mögliche Konstruktion anerkannt werden. Dies deutet wieder auf die tolerante Haltung gegenüber Naturwissenschaften und empirischen Wissenschaften. Der Konstruktivismus kann solchen Absolutheitsansprüchen nicht auf gleicher inhaltlicher Ebene kontern, sondern hier nur mit der Konsequenz seines Aufweisens von konstruktiven Restriktionen argumentieren – und die liegen darin, den Alleinanspruch von Wahrheit auf kulturell spezifische Regelmäßigkeiten zurückverweisen zu können und andererseits innere Widersprüche hervorzukehren. Foucaults Relativismus, eigentlich Konstruktivismus, funktioniert folglich nicht nur durch den Aufweis von Vielfalt oder gar der Tatsache, dass bisher die Wahrheit nicht erreicht wurde. Sondern er unternimmt auch den Schritt zu argumentieren, warum Wahrheit ein zu hinterfragendes Konzept ist und was man dem entgegenstellen kann. Seine Arbeit wäre somit als Versuch zu lesen, ohne referentielle Wahrheit und Berufung auf die eine Vernunft zu argumentieren. Die eigene Welterkenntnis ist eine soziale Positivität – was impliziert, dass Tatsachen einen sozialen Wert haben. Denn als Zeichen lassen sie zu und fordern, dass die Wirklichkeit in bestimmtem Maße vom Menschen geprägt ist.326 Insofern ist diese Epistemologie mit einem Denken zu verbinden, das logisch ist, „wenn es sich auf die Erkenntnis einer Welt richtet, der es zugleich physische und semantische Eigenschaften zuerkennt“327, einem Denken, das prinzipiell immer schon fabrizierte Denkobjekte voraussetzt: „Das wilde Denken trennt nicht den Augenblick der Beobachtung von dem der Interpretation [...].“328 Ein 324 325 326 327 328
Schäfer 1995: 128. Vgl. Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 47f. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 33. Lévi-Strauss’ (1973: 308) Charakterisierung des Wilden Denkens. Lévi-Strauss 1973: 257.
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neutraler referentieller Realitätsbezug ist damit nicht zu beanspruchen. So verzichtet Foucault auf die uneingeschränkte Alleinzuständigkeit seiner Termini im Gegensatz zum modernen Begriffskonzept. Er erreicht aber ein Mehr an Kritikfähigkeit, da der jeweilige Kontext stets mitreflektiert wird. Im Zusammenhang mit der Frage nach Wahrheit hat Foucault 1980 zu dieser in seiner gesamten Arbeit spürbaren Position explizit Stellung bezogen. „Das Problem der Wahrheit dessen, was ich sage, ist für mich ein sehr schwieriges, ja sogar das zentrale Problem. Auf diese Frage habe ich bisher niemals geantwortet. Gleichzeitig benutze ich jedoch ganz klassische Methoden [...]. [...] Insoweit kann alles, was ich in meinen Büchern sage, verifiziert oder widerlegt werden [...]. [...] Trotzdem sagen die Leute, die mich lesen, und besonders diejenigen, die von meiner Arbeit etwas halten oft lächelnd: ‚Im Grunde weißt du genau, daß alles, was du sagst, nur Fiktion ist.‘ Ich antworte stets: ‚Natürlich; daß es etwas anderes wäre, davon kann gar keine Rede sein.‘ [...] [D]as Wesentliche [liegt] nicht in der Serie solcher wahren oder historisch verifizierbaren Feststellungen, sondern eher in der Erfahrung, die das Buch zu machen gestattet. Nun ist diese Erfahrung jedoch weder wahr noch falsch. Eine Erfahrung ist immer eine Fiktion, etwas Selbstfabriziertes, das es vorher nicht gab und das es dann plötzlich gibt. Darin liegt das schwierige Verhältnis zur Wahrheit, die Weise, in der sie in eine Erfahrung eingeschlossen ist, die mit ihr nicht verbunden ist und sie bis zu einem gewissen Punkt zerstört. So kann dieses Spiel zwischen Wahrheit und Fiktion [...] deutlich sichtbar machen, was uns – manchmal völlig unbewußt – mit unserer Modernität verbindet, und sie uns gleichzeitig verändert erscheinen lassen.“329
Dieses Zitat macht zum einen nochmals besonders deutlich, dass Foucaults Arbeit die Aufgabe hat, die Bindung an ‚unsere‘ Modernität aufzuweisen und sie durch Objektivierung zu distanzieren. Darüber hinaus wird erkennbar, auf welchem Weg Foucault die Wirkung seiner Arbeit vorsieht. In seinen Schriften finden sich zudem viele Hinweise, dass er für seine Texte selbst ‚Wahrheitswirkungen‘ erwartet, da „Sprechen etwas tun heißt“330. Insofern hält er an Godeliers Hoffnung fest, wenn dieser meint, eine Illusion seiner Generation sei die Idee gewesen, „daß die Werkzeuge des Denkens auch die Waffen der Kritik sein könnten, so daß das Denken der Wirklichkeit und deren Veränderung in derselben geschichtlichen Bewegung zusammenträfen.“331
329 Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 28, 30, 31. Den Stellenwert der Fiktion bei Foucault thematisiert z.B. auch Bellour (1991). 330 Archäologie des Wissens [1969]: 298. 331 Godelier gemäß Dosse (1997: 477).
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Foucault zeigt nämlich nicht nur für andere Diskurse, dass die Wörter verführen, dass sie an die Natürlichkeit der Dinge glauben lassen. Auch seine eigenen Worte sollen und können als nicht vom Referenten vorgegebener Diskurs wirksam werden. Aus dieser epistemologischen Sicht wird die Warnung vor der Gefahr, die Begriffsinstrumente zu ontologisieren, sie für wirklicher als ‚die Wirklichkeit‘ zu halten, hinfällig, da ‚die Wirklichkeit‘ nicht außerhalb der Begriffe gedacht wird. Eine im Ontologisierungsvorwurf implizit vorausgesetzte ontologische Dimension gibt es dann gar nicht mehr, wodurch methodologischtheoretische und ontologische Argumentation zusammenfallen. Der Vorwurf gegen den Strukturalismus, die Struktur werde als Modell vom Erkenntnisinstrument zum Erkenntnisgegenstand, trifft also bei Foucault meinen Analysen nach ein explizit so angesetztes Verhältnis, das mit der Materialität von Sprache begründet wurde. Neben der Phänomenologie sieht Foucault in der Ordnung der Dinge den Strukturalismus als Versuch, Wahrheit und Methode, die in der Moderne durch die Trennung von Interpretation und Formalisierung auseinander fallen, zu verbinden. Dabei gilt Foucaults Sympathie sicher dem Strukturalismus, denn: „Ist ein Subjekt phänomenologischer, übergeschichtlicher Art fähig, der Geschichtlichkeit der Vernunft gerecht zu werden? Genau darin war die Lektüre von Nietzsche für mich der Bruch: Es gibt eine Geschichte des Subjekts, ebenso wie es eine Geschichte der Vernunft gibt, und von dieser Geschichte der Vernunft darf man nicht die Entfaltung bis hin zu einem grundlegenden und ersten Akt des rationalistischen Subjekts verlangen.“332
Unter diesen Auspizien arbeitet Foucault mit seinem ethnologischen Blick daran, dass in der westlichen Moderne eine neue Historizität und damit verbunden ein neues Subjektverständnis beginnen können. Letzteres wird ein wichtiges Thema im nächsten Kapitel, das sich der Frage zuwendet, wie sich unterschiedliche kulturelle Positionen artikulieren. Im sechsten Kapitel erwies sich die Strategie von Foucaults ethnologischer Wende insbesondere im Kontext philosophischer Kontroversen. Basal ist, dass das Erkenntnisprozedere von der Einheit zur Feststellung konkreter kultureller Vielfalt führt. Gerade dieser Grundgedanke wird zumindest in der deutsch- und englischsprachigen Sekundärliteratur häufig nicht reflektiert, geschweige denn in seinen Konsequenzen ausgelotet. Diese im ersten Abschnitt explizierte Epistemologie fußt in dem zuvor ausführlich thematisierten ethnologischen Blick auf die Grenze mit der Diskontinuität als tragendem Begriff. Da332 Strukturalismus und Poststrukturalismus [1983]: 528.
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rüberhinaus tritt nun der prozessuale Charakter von Foucaults komparativer Ethnologie in den Vordergrund. Dass sich die Vergleichsgegenstände nicht durch einen gemeinsamen Referenten oder einen den Auffassungen zugrunde liegenden allgemeinen Begriff ergeben (da Foucault ja diese Ebenen ausklammert), könnte zur Frage führen, wie Foucault von vornherein weiß – noch ohne die jeweils anderen geschichtlichen oder kulturellen Zusammenhänge zu kennen –, zwischen welchen Elementen zu vergleichen ist. Diese Problematik taucht jedoch gar nicht auf, da Foucault sehr wohl vom eigenen Vorverständnis ausgehend, also gewissermaßen ethnozentrisch, in der Differenzierung voranschreitet. Das Ziel ist dabei aber, durch die Explikation des jeweiligen Kontexts zugleich die eigenen wie andere Verortungen und damit kulturelle Tatsachen herauszuarbeiten – eine Dezentrierung des Blicks also. Es wird deutlich, dass Foucault das Problem für die Differenzierung eines Aspekts löst, indem er im Grundsätzlicheren noch Gleiches voraussetzt. Jedoch sind die Unterschiede deshalb nicht prinzipiell auf Peripheres begrenzt, sondern jede Gemeinsamkeit ist immer nur vorläufige, im Erkenntnisgang zunächst aber notwendige Voraussetzung. Und hier ist auch ein wichtiger Punkt der Divergenz mit Kant festzustellen. Denn Kants Frage nach der Einheit, nach der Synthese des Mannigfaltigen ist ein Ausdruck der Einholung des Anderen ins Eigene, die ja Foucaults Kritik an der Moderne herausfordert. Wenn nun Foucault die Perspektive der Ethnologie respektive Archäologie als Kritik definiert, so kann man zu dem Schluss kommen, dass diese Kritik eine Differenzierung von Kants Kritik mittels Strukturalismus darstellt. Hat folglich Foucaults Arbeit zur Aufgabe, Widersprüche und Vielfalt um ihrer selbst willen zu beschreiben und nicht unter dem Gesichtspunkt ihrer Auflösung, so lässt sich fragen, ob er damit zu wenig Gewicht auf Interaktion, Gemeinsamkeiten und integrative Prozesse legt. Unter diesen Vorzeichen wurde im zweiten Abschnitt des sechsten Kapitels Foucaults Diskurs den Grundzügen der Theorie des kommunikativen Handelns von Habermas gegenübergestellt. Habermas’ Ansatz beruht ähnlich jenem von Foucault auf einer fundamentalen Distanzierungsbewegung. Anders und radikaler als bei Foucault handelt es sich hierbei um eine umfassende binäre Differenzierung. Und im Gegensatz zu der in der Philosophie gängigen Zurückweisung des Mythos formuliert Habermas diese nicht abstrakt oder in historischer Perspektive, sondern die diskursive Ethik, der Entwurf einer kontrafaktisch machtfreien Kommunikationsgemeinschaft stützt sich auf den Ausschluss gegenwärtig existierender Anderer, wie sie in der Anthropologie konkret beschrieben sind. Grund dafür ist, dass gemäß Habermas deren Rationalitäten durch phylo- wie ontogenetisch unvollständige Ausdifferenzierung (Emanzipation des Einzelnen vom Anderen und des Kultu-
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rellen von der Natur) nicht zu Selbstreflexivität und somit zu Kritik befähigen und folglich Wahrheit als Ergebnis von kritikfähigem Konsens nicht erreichen. Durch die Auseinandersetzung mit Habermas wird in meine Studie ein Beispiel für die Identitätsdefinition der Moderne eingeführt, wie sie Gegenstand von Foucaults Skepsis ist. Die Arbeit kann so ins Licht rücken, welchen emanzipatorischen Wert Foucaults Perspektive der Vielfalt innerhalb eines umfassenden Kommunikationszusammenhangs im Vergleich mit einer definitiven Festlegung in die Kommunikation nicht einzubeziehender Anderer hat. Während Foucaults kulturelle Positionierungen für die Kritik von Außen offen sind, argumentiert Habermas entgegen eigenen Vorgaben in einem geschlossenen System, das von Außen letztlich nicht kritisiert werden kann, da er präskriptiv als Bedingung für Kritikfähigkeit die Annahme moderner Identität setzt. Somit ist es aber gerade im Rahmen dieser Reformulierung der Moderne auch nicht möglich, sich den Anderen empathisch zuzuwenden und über die Internalisierung des anderen Blicks Selbst-Bewusstsein zu erreichen. Die folgenden Abschnitte des Kapitels stellten sich die Aufgabe herauszuarbeiten, wie bei Foucault die strategische Rolle des Anderen in der Kritik funktioniert. Eingeleitet wird dies vom zentralen Einwand der Sekundärliteratur, dass Foucaults Kritik an der Moderne zu Indifferenz und Konservativismus verleitet. Einen orientierenden Anknüpfungspunkt für meine Überlegungen bildet des Weiteren die Frage, inwieweit Foucault die Moderne primär aus konzeptuellen, strategischen oder normativen Gründen kritisiert. Beides verweist auf die in der Sekundärliteratur überwiegend vertretene Ansicht, Foucault hätte zwar mit seiner Kritik Wichtiges geleistet, er habe aber dem nichts Positives entgegengesetzt, das Orientierung bieten kann, und es sei nicht klar, von welcher anderen als der modernen Position aus er seine Kritik formuliert. Das führte im vierten Abschnitt des Kapitels zur Diskussion, inwieweit Foucault seine Kritik an Kant anschließt. Kant will die Grenzen der menschlichen Vernunft schlechthin definieren – universelle formale Strukturen. Auch Foucault bezieht sich auf die Regelmäßigkeit der Grenzen der Erkenntnis, aber als historisches Apriori. Allerdings bindet gemäß Foucault auch Kant die Formulierung seiner Kritik an den historischen Moment, in dem er schreibt. Und hier findet Foucault eine Ontologie der Aktualität als Haltung der Kritik gegenüber dem jeweils Gegebenen – ein Ethos, dem er sich verpflichtet. Damit verknüpft ist die Thematik der Überschreitung der Grenzen. Das ist nach Foucault nicht als Aufhebung der Grenzen, als Befreiung des Menschen hin zu einem eigentlichen Sein zu verstehen, sondern als Veränderung und Ausarbeitung seiner selbst. Für die
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hierbei notwendige Selbst-Distanzierung rekurriert Foucault, wie sich immer wieder zeigt, auf den Strukturalismus. Ausgehend von der zuvor aufgeworfenen Frage, ob Foucault eine Überschreitung nur prinzipiell und abstrakt fordert oder sich für seine Arbeit dabei an konkreten Maximen orientiert, wies der nächste Abschnitt ins Zentrum von Foucaults ethnologischer Positionierung. Hier lautet mein Argument, dass Foucault die moderne Gesellschaft gerade in eine Richtung transformieren will, die von Habermas zur Selbstkonstitution ausgeschlossen wurde. Foucault verfolgt nicht bloß das Ziel, die Anderen an der Kommunikation zu beteiligen. Denn aus seinen Forschungen geht hervor, dass dies im Rahmen der Moderne gar nicht möglich ist. Eine idealere Kommunikationsgemeinschaft ist daher nur unter der Voraussetzung einer Verallgemeinerung der Rationalität der Anderen zu erreichen. Wie die Reflexion in der Sekundärliteratur zeigt, ist diese Wendung des Denkens bei Foucault im philosophischen Kontext kaum nachzuvollziehen. Zur Beurteilung der Frage, inwieweit Foucaults ethnologische Rationalität gegebenenfalls die Moderne transformieren und ersetzen könnte, war dann noch genauer zu überlegen, in welcher Form diese Rationalität ihre Kritik leistet. Den Ergebnissen des sechsten Abschnitts zufolge stützt sich Foucault nicht allein darauf, dass seine Positionierung notgedrungen kritisch ist, sofern sie einen Differenzierungspunkt der Moderne darstellt und diese von da her immer wieder verunsichern kann. Sondern darüberhinaus ist wichtig, was die Auseinandersetzung mit Habermas und Foucaults eigener Rekurs auf die Kant’sche Aufklärung bereits andeuteten: nämlich die Optionen der kritischen Veränderung, die dieses Denken selbst beinhaltet. Wie ich ausführlich darstelle, bezieht sich Foucault dabei auf Mechanismen, die sich wiederum unmittelbar mit Lévi-Strauss’ Wildem Denken assoziieren lassen. In diesem Zusammenhang spielen bei Foucault die Rolle des Außen, die Differenz in der Wiederholung, der konzeptuelle Spielraum für Freiheit, das Archiv als Schatz an Versatzstücken, die Rekombination angesichts einer gesellschaftlichen Dringlichkeit und die Herkunft im Gegensatz zum Ursprung eine formative Rolle. Die Bedenken in Hinblick auf Plausibilität und Konsistenz der Argumentation von Foucault verlangten dann im letzten Abschnitt des Kapitels eine Begründung und Klärung des Realitätswerts von Foucaults Perspektive. Auf dem Prüfstand steht, ob seine Sicht von Gesellschaft und zumal der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft plausibel sein kann und mit welchen Wahrheitsvorstellungen er selbst arbeitet. Grundsätzlich kann die historische oder ethnologische Relativierung mittels Aufweis von Vielfalt nur funktionieren, sofern zugleich Wahr-
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heit respektive universelle und fixe Wahrheitsmaßstäbe suspendiert werden. Ein solches Denken erhält seine Logik, wenn es auf eine Welt bezogen ist, die physische und zugleich semantische Eigenschaften hat, die also fabrizierte Denkobjekte voraussetzt. Foucaults Konstruktivismus vermeidet hier den Widerspruch des Relativismus, welcher Relativität gegenüber der Wahrheit behauptet und diese Behauptung als wahr ansetzen muss.
Blickwechsel in der Äußerung von Alternativen
Das siebente und letzte Kapitel beschäftigt sich damit, welche Äußerungsmodalität Foucaults Diskurs prägt. Wie man der vorliegenden Untersuchung insgesamt entnehmen kann, ist die Infragestellung der Subjektposition das primäre Anliegen der archäologischen Revisionen. Im darum kreisenden Eckpunkt der Diskursanalyse geht es nun also um die Instanz der Äußerung und die Art der inhaltlichen Artikulation. Und hierfür ergeben sich aus dem Verlauf meiner Analyse bereits weitgehende Voraussetzungen, da die Epistemologie der produktiven Grenze mit der entsprechenden Begrifflichkeit zugleich Objektkonstitution und Subjektposition revidiert. Ein wichtiger Ausgangspunkt der Diskussion im vorigen Kapitel zu Thema der strategischen Wahl in Foucaults ethnologischem Blick war, dass die vorherrschende Lesart in der Sekundärliteratur zu dem Ergebnis kommt: „[Foucault] kann auf der Ebene des Faktischen, auf der er argumentiert, [...] Punkte benennen, wo Veränderung möglich war und ist [...]. Die Frage, was kommen soll, sprengt aber seinen historisch-kritischen Ansatz eindeutig.“1
Demgegenüber sollte meine Analyse zeigen, inwiefern die Einschätzung, Foucault biete keinerlei Zukunftsperspektive, zu kurz gegriffen ist. Denn dabei wird ausgeblendet, dass schon eine über die Rekombination arbeitende Ver-Änderung der Moderne mehr ist als bloß Relativierung und Denaturalisierung. Foucaults Ansatz einer kritischen Ethnologie der eigenen Kultur sagt auf theoretischmethodologischer Ebene nicht nur, was an Neuem kommen kann und soll, sondern ist der Versuch, dieses auch einzusetzen. Wer spricht also in Foucaults Ethnologie? 1
Hemminger 2004: 193.
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Mit Bedacht auf den anthropologischen Blickwinkel meiner Arbeit beziehe ich die Äußerungsmodalität wesentlich auf kulturelle Vielfalt. Da dieses Themenfeld in der Philosophie weniger elaboriert ist, rekurriert die Analyse etwas stärker auf anthropologische Literatur. Gesellschaftspolitisch wie auch grundsätzlich epistemologisch betrachtet ist die Geltung der Selbstsicht in der Repräsentation und der Stellenwert unterschiedlicher Selbstsichten eine für die Einschätzung von Foucault in der Anthropologie eine besonders wichtige und vielleicht strittige Materie. Daran schließt die Frage nach einer Subjektposition der ‚Anderen‘. Diese im Zusammenhang mit Foucaults Arbeit besonders von feministischer Seite intensiv debattierte Problematik impliziert die Überlegung, wie sich gemäß Foucaults Kritik Emanzipationsbewegungen äußern können oder sollen. Angesichts der Dekonstruktion des modernen Subjekts zeichnet sich dann Foucaults Standpunkt, was die Artikulation kultureller Veränderung und Kreativität sowie Identität betrifft, besonders deutlich vor dem Hintergrund gegenwärtig in der Sozial- und Kulturanthropologie diskutierter Konzepte ab. Von zentralem Interesse in Zusammenhang mit der Kontroverse um die Artikulationsinstanz ist schließlich die Überlegung, wie in Foucaults Diskurs kulturelle Einheiten konzipiert sind und welche Existenz die Ontologie kultureller Differenzen dem Anderen und dem Eigenen auf wissenschaftlicher Ebene verleiht.
D ER ENUNZIATIVE G EHALT VON P ERZEPTION UND E XPLIKATION Für Foucaults ethnologische Verortung ist es unabdingbar, explizit zu thematisieren, welche Aussagekraft der Selbstrepräsentation unterschiedlicher kultureller Gruppen respektive einer emischen Sicht zukommt. Grundsätzlich beinhaltet die Kritik an der Subjektphilosophie natürlich eine Distanzierung der subjektiven Bedeutung – auch derjenigen eines kollektiven Subjekts. Wie der Bezug auf die Archäologie, die Transformation von Dokumenten in Monumente schon andeutete, ist Foucaults Ethnologie keine verstehende Anthropologie. Daher stellt sich die Frage, ob die Anderen, bei Foucault also etwa die Wahnsinnigen, die Kranken, die Delinquenten, kein Artikulationsrecht bei der Definition ihrer eigenen Position haben, sondern allein eine ethnologische Außensicht maßgeblich sein soll – und das, obwohl Foucault die Machtwirkungen wissenschaftlicher Disziplinen deutlich sieht.
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Zunächst ist zu bemerken, dass Foucault sich auf wissenschaftlicher Ebene mit dem Problem der Vermittlung einer Innen- und Außensicht nicht konfrontiert hat. Dennoch muss er eine explizite Selbstsicht annehmen, da er die in seinem Diskurs zum Ausdruck kommenden unbewussten relationalen Regelmäßigkeiten davon abhebt. Eine solche bewusste emische Sicht verschwindet also nicht total, sondern soll hintergangen werden – „kopflose Phänomenologien des Verstehens“2 sind nicht sein Ziel. Über den Inhalt seiner Diagnosen, nämlich die konstitutiven Beziehungen, schreibt Foucault: „Gewiß, diese Beziehungen wären niemals in den in Frage stehenden Aussagen formuliert worden (in Unterschied z.B. zu jenen expliziten Beziehungen, die durch den Diskurs selbst gesetzt und gesagt werden [...])“3. Oder es heißt zum Diskurs, er sei sonderbar, „stützt er sich doch weder auf das gegenwärtige Bewußtsein [...] noch auf die Wiederholung dessen, was [...] [die Menschen zu einem Thema] ehemals zu sagen hatten“4. Einen Vergleich mit der Frankfurter Schule bietet McCarthy: Für beide Denkrichtungen ist die Selbstsicht der in der Praxis Involvierten nicht das letzte Wort, aber die Frankfurter Schule nimmt dies als Ausgangspunkt und versucht, die Selbstsicht in den Prozess des kritischen Abstandes einzubinden, „whereas the genealogist resolutely displaces the participant’s perspective with an externalist perspective in which validity claims of participants are not engaged but bracketed“5. Für eine anthropologische Orientierung ist vielleicht nochmals zu unterstreichen, dass nicht nur in der ‚eigenen‘ Gesellschaft die bewusste Selbstsicht distanziert werden soll – was etwa die Aufdeckung von Ideologien verlangen könnte. Sondern auch die Explikation der Anderen soll sich nicht in einer einfühlenden Wieder-Holung äußern. Foucault versucht folglich auch hier keine Innensicht im Sinne eines ‚Going native‘. Der Verzicht, Andere solchermaßen auf gleiche Ebene mit der westlichen Moderne zu stellen, erscheint angesichts des historischen Gegenstandes bei Foucault weniger problematisch als in der Anthropologie. Denn selbst gesetzt den Fall, dass auch die Anthropologie in Foucaultscher Orientierung primär an der Offenheit und Hinterfragung der westlichen Kultur arbeiten will, hat die Ausklammerung des expliziten Sinns natürlich einen ganz anderen Stellenwert, wenn die sich darin artikulierenden Personen gegenwärtig am Diskurs teilnehmen oder teilnehmen könnten. Daher birgt Fou2
3 4 5
Die Geburt der Klinik [1963]: 12. Wieweit Foucault phänomenologischen Ansätzen in jeder Hinsicht gerecht wird, sei dahin gestellt. Stenger (2009: 74) etwa sieht „mit etwas anders gelagerter Frageintention“ doch Ähnlichkeiten. Archäologie des Wissens [1969]: 45. Die Geburt der Klinik [1963]: 13. McCarthy 1990: 441f.
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caults Zugang gerade für die Anthropologie die Gefahr, solange die von ihm vorangetriebene Auflösung des Subjekts nicht durchgängig gegriffen hat, die Grenze fortzuführen, über die sich die Moderne und ihre Wissenschaft im Gegensatz zu anderen kulturellen Strukturierungen konstituiert. Allerdings ist das Motiv für Foucault, keinesfalls weiterhin in Richtung Moderne zu gehen. Und einen möglichen Ausweg findet er just im Einsatz der, gemäß seiner Diktion, ethnologischen Gegenwissenschaft. Wenn Foucault den Eurozentrismus und die Verortung der Anderen in der Moderne in Frage stellen will, so vermeidet er jedenfalls den in der Anthropologie häufig beschrittenen Weg, sie durch hermeneutische Anstrengung nachempfindbar zu machen. Auch eine Interpretation, die nach der Intention fragt, oder die nach dem fragt, was Formulierungen verbergen, was dennoch in ihnen gesagt wird, obwohl sie es nicht aussprechen, ist keinesfalls Sache der Archäologie.6 Insofern ist es also nicht uneingeschränkt nachvollziehbar, dass Fink-Eitel sagt: „Foucaults aus der Perspektive solcher Minderheiten verfaßter Ethnologie der eigenen Kultur entspricht die politische Entschiedenheit, mit der er stets Partei ergriff [...].“7 Foucaults Arbeit hat sicher eine emanzipative Wirkung, die sich mit seinem politischen Engagement trifft – aber im genannten anthropologisch üblichen Sinn aus dem Blickwinkel der Minderheiten, der Ausgeschlossenen schreibt er nicht. Andererseits ist in Richtung von Fink-Eitels Einschätzung zu argumentieren, dass Foucault seine Texte nicht kontextfrei, sondern in Kräfteverhältnisse involviert sieht, und insofern auch sein Blick perspektivisch engagiert ist. „Doch von dem Moment an, da man eine Geschichte schreiben möchte, die einen Sinn, eine Verwendbarkeit, eine politische Wirksamkeit hat, kann man das korrekterweise nur unter der Bedingung machen, dass man auf die eine oder andere Weise mit den Kämpfen in Verbindung steht, die in diesem Bereich ablaufen.“8
Er hat sich hierbei auch explizit den Gestus des universalen Intellektuellen verboten, der von einer abgehobenen Position aus spricht. Sondern er wollte, als spezifischer Intellektueller in konkrete Kämpfe eingebunden, sein Spezialwissen fruchtbar machen.9 Foucault sagt: „Nun ist aber diese Position des Schiedsrichters, des Richters oder des universellen Zeugen eine Rolle, der ich mich uneinge6 7 8 9
Vgl. z.B. Archäologie des Wissens [1969]: 159. Fink-Eitel 1994: 223. Fragen an Michel Foucault zur Geographie [1976]: 39. Vgl. Gespräch mit Michel Foucault [1976]: 205.
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schränkt verweigere [...].“10 Während Foucault einen spezifisch positionierten Blickwinkel vertritt, will er zugleich jeden Rückgriff auf Rechtfertigungen vermeiden. „Ich glaube, es ist notwendig, daß man sich in Bezug auf die Menschheit mit einer Position abfindet, die der Position entspricht, welche man gegen Ende des 18. Jahrhunderts in bezug auf die anderen Lebewesen angenommen hat, als man sich darüber einigte, daß die Lebewesen nicht für jemanden [Herv. i.O.] – weder für sich selbst, noch für den Menschen, noch für Gott – funktionieren, sondern daß sie einfach existieren. [...] Wir aber drehen die Dinge um. Wir sagen: weil wir einen Zweck haben, müssen wir unser Funktionieren kontrollieren. In Wirklichkeit können nur auf Grund dieser Kontrollmöglichkeit all die Ideologien, Philosophien, Metaphysiken, Religionen entstehen. [...] Die Möglichkeit der Kontrolle führt zur Idee des Zwecks. Tatsächlich hat die Menschheit keine Zwecke. Sie funktioniert, sie kontrolliert ihr Funktionieren und bringt ständig Rechtfertigungen für diese Kontrolle hervor. Wir müssen uns damit abfinden, daß es nur Rechtfertigungen sind. Der Humanismus ist eine von ihnen, die letzte.“11
Davon ausgehend lassen sich bei Foucault sehr wohl allgemeine Aussagen über eine ‚bessere Gesellschaft‘ finden – obgleich er, wie oben gezeigt, gegen die Übertragung der empirischen Wissenschaften auf die Gesellschaft ist und dies an der Wirkungsweise der Humanwissenschaften kritisiert. In der Angst vor einem technokratischen Humanismus, der glaubt, das Glück definieren und herbeiführen zu können, und dabei ständig Zielvorgaben auf Kosten bestimmter Personenkreise macht, expliziert er seine eigene Vorstellung vom Funktionieren der Gesellschaft ohne auf ein Ziel gerichtet zu sein, folgendermaßen: „Ich glaube, daß sich das Optimum des gesellschaftlichen Funktionierens definieren läßt, und zwar aufgrund einer bestimmten Beziehung zwischen dem Bevölkerungswachstum, dem Konsum, der individuellen Freiheit, der Möglichkeit von Freude für einen jeden, und ohne die Berufung auf die Idee des Menschen: ein Optimum des Funktionierens kann intern definiert werden, ohne daß gesagt wird, ‚für wen‘ es so besser ist.“12
Die Auswahl und Bewertung dieser Kriterien impliziert meines Erachtens allerdings doch recht konkrete Vorstellungen von dem solchermaßen ‚verwalteten‘ Lebewesen und seinem gesellschaftlichen Funktionieren. Auch wäre es gerade für einen Pluralisten wie Foucault erstaunlich, wenn die Konkretion dieses Optimums ohne Rücksicht auf die jeweiligen, zumal kulturspezifischen Vorstellungen möglich sein sollte. In jedem Fall aber bleibt das Faktum, dass in der archäo10 Fragen an Michel Foucault zur Geographie [1976]: 40. 11 Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 25f. 12 Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 24.
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logischen Arbeit die Konfrontation mit subjektiven Geltungsansprüchen keine Rolle spielen soll. Insofern dies als Preis der Selbstobjektivierung jedoch in einer ‚Geschichte der Gegenwart‘ anders zu bewerten ist als in der gegenwärtigen Anthropologie, lässt sich nur schwer beurteilen, welchen wissenschaftlichen Standpunkt Foucault hinsichtlich aktueller, synchroner Differenzen vertreten hätte. Es ist allerdings festzustellen, dass Foucault in Bezug auf die heute Ausgeschlossenen gewisse Bedenken gegenüber einer explanativ-definitorischen Haltung von Intellektuellen hatte. Und im Gegensatz zu seinen wissenschaftlichen Arbeiten wollte er als politischer Aktivist sehr wohl den disqualifizierten Stimmen derjenigen Gehör verschaffen, deren spezifisch negative Position er in seinen Büchern kontingent werden ließ. Ein Beispiel hierfür sind die Aktivitäten der Groupe d’information sur les prisons. Die GIP bestand Anfang der 1970er Jahre und wurde von Foucault mitbegründet.13 Brich14 hat die Ziele und strategischen Konzepte der GIP ausführlich untersucht. Demnach fasste die GIP die Existenz der Insassen im Rahmen von Foucaults Machtverständnis auf, und eines ihrer Ziele war, eine Rebellion zu ermöglichen. Vor allem sollten die Betroffenen sich äußern können. Allerdings hat Foucault diesbezüglich offenbar verschieden gewichtete Zugänge vertreten: zuerst den, dass die Insassen durch die GIP direkt sprechen können, dann in einem späteren Interview jenen, dass die Intellektuellen grundsätzlich die Aufgabe hätte, anderen den Raum zur Selbst-Äußerung zu öffnen und dann mit den Intellektuellen auf gleicher Augenhöhe ein verwobener Diskurs entstehen soll.15 Die GIP war jedenfalls gegen die von Foucault besonders hervorgehobene Entwürdigung gewandt, die darin liegt, für andere zu sprechen und andere für sich sprechen lassen zu müssen – und dafür wurde sie in der Literatur vielfach gelobt.16 Aufgrund ihrer Analyse zum Zustandekommen der Aussagen zeigt Brich hingegen, wie in der GIP ein dialogischer Prozess zwischen den Intellektuellen und den Insassen stattfand, der die Statements der Insassen erst produzierte: Man könne daher nicht davon ausgehen, es mit einem authentischen Ausdruck der Position der Gefangenen zu tun zu haben. Foucault betonte aber dennoch, wie wichtig es für die Gefangenen und die Öffentlichkeit sei zu wissen, dass die Gefangenen selbst das Wort führen: „Foucault’s analysis of the significance of the 13 Vgl. dazu z.B. die Zeittafel mit Angaben zu Foucaults Aktivitäten in den Jahren 1971/1972 von Defert und Ewald (2001: 56-65). 14 Vgl. Brich 2008: 38ff. 15 Vgl. Brich 2008: 36. 16 Siehe die Literaturangaben bei Brich (2008: 26f.).
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prisoner’s testimonies lays particular emphasis on first-person enunciation and communication, rather than on contents.“17 Und in diesem Zusammenhang weist Brich auch darauf hin, dass die Aussagen der Gefangenen als Erfahrungen verstanden werden sollten, während den Intellektuellen die unpersönliche Analyse, die analytische Kritik zukam – eine Reproduktion gängiger Rollenmuster, die allerdings in Hinblick auf die Erwartungen der Öffentlichkeit effizient war.18 Um die Gefangenen sich artikulieren zu lassen, wurden geheim Fragebögen beantwortet und die Gefangenen angeregt, Berichte zu schreiben.19 In Bezug darauf kritisiert Brich: „In order to answer some the GIP’s questions, they had to turn inwards and watch their own thoughts and behaviour so as to isolate those conditions and factors which they found most intolerable, and hence most urgently wished to bring to public attention. It could therefore be argued that the GIP constituted prisoners as self-monitoring subjects through a process similar to that through which the Panopticon shapes its inmates’ subjectivity. Answering the questionnaire also placed prisoners in the inferior position of those subjected to question-answer examinations in institutional settings, such as suspects in police interrogations and defendants in court, where this procedure contributes to marking individuals out as criminal subjects.“20
In Anbetracht einer solchen Reinstallation des Subjekts wäre für Foucault die Darstellung einer expliziten emischen Sicht in wissenschaftlichen Arbeiten möglicherweise grundsätzlich immer nur eine weitere hierarchiegebundene Verein17 Brich 2008: 35. 18 Vgl. dazu Brich 2008: 35f. 19 Die Insassen wurden schriftlich (auf Französisch) über Fragebögen, also mit thematischen Vorgaben, angesprochen, sich zu äußern (auch wenn die Fragebögen, deren Verbreitung illegal war, oft bei Besuchen heimlich vorgelesen wurden und die Antworten mündlich erfolgten) – von 1000 Fragebögen wurden 50 beantwortet: „The total of the GIP’s informants thus represented only a tiny fraction of the prison population, favouring French-speaking, literate and relatively politicised and articulate respondents, which may not be deemed representative of the whole of the prison population“ (Brich 2008: 31; sie fügt hinzu, dass dies auch anders schwer möglich war – trotzdem zeigt es die Einseitigkeiten). Und auch diese Äußerungen wurden z.B. nicht umfassend, sondern gefiltert publiziert – Brich (2008: 30) spricht von einer: „remarkably biased selection put forward for publication“. Darüberhinaus ist aber zu bedenken: „The institutional stamp carried by the questionnaire format in turn grants scientific authority to the investigative procedure“ (Brich 2008: 32), obwohl die GIP darauf bestand, dass es sich um keine soziologische Analyse handelt; andererseits wurden die Gefangenen auch aufgefordert, selbst Berichte zu verfassen (die GIP erhielt dann 20). 20 Brich 2008: 46.
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nahmung. Denn dabei werden Voraussetzungen der Moderne – die Verortung des Sinns und der Bedeutung beim individuellen oder kollektiven Subjekt – undifferenziert übertragen, die Foucaults Epistemologie gerade erschüttern sollte. In diesem Sinne hat Spivak auch das unter dem Titel Die Intellektuellen und die Macht erschienene Gespräch zwischen Foucault und Deleuze kritisiert.21 Ihrer Einschätzung nach wird hier nicht genug problematisiert, inwiefern ‚die Subalternen‘ (das Proletariat in diesem Fall) von Intellektuellen repräsentiert werden. Als Gefahr sieht sie, dass dabei vom Subjekt und Bewusstsein Subalterner als homogener Gruppe ausgegangen wird.22 Und es würde auf die Artikulation des Subjekts vertraut, anstatt sich der Verantwortung der Repräsentation zu stellen. Dass diese Bedenken nicht ganz von der Hand zu weisen sind, darauf deutet auch die genannte Untersuchung zur GIP. Lautet also die Frage, wer bei Foucault spricht, so zeichnen sich je nach Kontext zweierlei Zugänge ab. Die wissenschaftliche Analyse scheut sich nicht, über die Eigenwahrnehmung des historischen Subjekts hinweggehend konstitutive Regelmäßigkeiten zu explizieren, während in gegenwärtigen Auseinandersetzungen der Selbstsicht von Betroffenen größtes Gewicht zukommt. Die Schlaglichter auf Foucaults Verständnis der Rolle von Intellektuellen weisen auf ein charakteristisches Zusammenspiel zwischen wissenschaftlichen Arbeiten und politischem Engagement. Die historischen Diagnosen richten ihr Interesse an den gegenwärtigen Kämpfen aus und bilden ein Spezialwissen, das Foucault in diese Kämpfe einbringen will. Für die Kämpfe bestimmend soll jedoch die Perspektive der Ausgeschlossenen sein, und es ist Aufgabe der Intellektuellen, ihnen das Wort zu geben. Das wissenschaftliche Instrumentarium – um das es in meiner Untersuchung ja primär geht – erlaubt hingegen diese Form der Selbst-Äußerung des bewussten subjektiven Sinns in Foucaults Diskurs nicht. Eine (postmoderne) Anthropologie, die zwar die Repräsentation hinterfragt, der es dabei aber darum geht, wie in der Ethnographie die subjektive Lebenswelt Anderer vermittelt werden kann, dürfte somit kaum auf Foucaults Ansatz bauen.23 Zumal wenn schon an Geertz 21 Vgl. Die Intellektuellen und die Macht [1972]. 22 Vgl. Spivak 2008: 74f. So wie ich Spivak mit Hilfe von Castro Varela und Dhawan (2005: 70) verstehe, scheint sie selbst aber unter ‚zero work‘ dann eine Gruppe zu vereinheitlichen und dabei (unkritisch) den Kapitalismus respektive die Lohnarbeit als Weg der Befreiung (von der Sprachlosigkeit) zu reproduzieren. 23 Wenn in der Postmoderne Heteroglossie, Polysemie, Dialog, Polylog, also eine mehrstimmige Ethnographie gefordert wird (vgl. Petermann 2004: 1025ff.), so mit dem Ziel, die Anderen sprechen zu lassen. Wie auch Veyne (2010: 22) betont, vertritt
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kritisiert wird, er habe nur einen Moment lang die Möglichkeit eröffnet, die Anderen als Subjekte mit Selbstauslegung anzuerkennen, führe dann aber doch einen ethnographischen Monolog, wo das Interpretationsprivileg des Ethnologen gewahrt bleibt, indem er auf einen objektiven sozialen Sinngehalt im Gegensatz zur Intention des Autors abzielt (also entgegen einer subjektivistischen oder mentalistisch-kognitivistischen Sicht).24 Interessanterweise kann dennoch in gewissem Sinne für Foucault gelten, was häufig eine anders gepolte Skepsis gegenüber Geertz ausmacht, nämlich, dass er jeden Rückgriff auf Begriffe außerhalb der jeweiligen Kultur vermeide und ganz die emische Perspektive einzunehmen versuche.25 Grund dafür ist, dass mit dem Verzicht auf einen Referenten der zumindest implizit qualifizierende Maßstab wegfällt und es durch den Bezug auf die Sprachlichkeit grundsätzlich nicht mehr möglich ist, Kultur durch ihre Distanzierung von einem unabhängig davon bestehenden außersprachlichen respektive außerkulturellen Sein zu immaterialisieren. Insofern Foucault dabei die Vorgaben der Moderne möglichst distanziert, gewinnen andere kulturelle Realitäten an Gewicht. Und es entsteht ein Bild, das den Realitätswert dieser anderen konstitutiven Beziehungen in der Regel vorbehaltlos anerkennt – auch wenn Foucault über die explizit reflektierten Inhalte hinaus deren Regularitäten feststellt. Bleibt also Foucault bei der Wiedergabe bewusster emischer Formulierungen nicht stehen, sondern will im Gegensatz dazu kulturelle Unterschiede ‚von Außen‘ produktiv erschließen, so ist einzukalkulieren, auf welche Ebene sich die ‚Äußerlichkeit‘ bezieht. Denn wie in den vorigen beiden Kapiteln zu Begrifflichkeit und Strategie zu erkennen war, verwendet Foucault anders als etwa Soziobiologie, Evolutionismus oder Kulturökologie und Funktionalismus ein Instrumentarium und eine Rationalität, deren Allgemeingültigkeitsanspruch darin liegt, dass es möglich ist, andere kulturelle Strukturierungen zu repräsentieren und sie dabei nicht den ‚großen Erzählungen‘ der Moderne einzuordnen, da das archäologische Denken es erlauben soll, die Struktur eines anderen Symbolsystems darzustellen, indem der dafür konstitutive Differenzierungsprozess sich stets wiederholen kann. Und dennoch stehen die unterschiedlichen kulturellen Artikulationen nicht in jeder Hinsicht gleichermaßen fundiert nebeneinander. Denn Foucaults Blick ist na-
Foucault in diesem Sinne nicht den linguistic turn in seiner interpretatorischen Ausrichtung. 24 Vgl. Fuchs; Berg (1993: 59) oder auch Crapanzano (1998: 185). 25 Vgl. z.B. Gaillard 2004: 338.
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türlich nicht passiv und unbeteiligt. Dies bezieht sich nun weniger auf die zuvor angesprochene Perspektivität im Sinne der an bestimmten sozialen Bruchlinien interessierten Geschichte der Gegenwart. Vielmehr geht es um die Produktivität seines Instrumentariums. Das für Foucaults Diagnosen ausschlaggebende Prinzip differentieller Existenz kann nämlich als Artikulationsprinzip anderen Epistemologien zwar gegenübergestellt werden – es kann aber insofern nicht relativiert werden, als es diese Gegenüberstellung selbst ermöglicht. Dieser Mechanismus bezieht sich logischerweise primär auf den Begriff des Diskurses selbst. Wie Foucault in der Ordnung des Diskurses sagt, setzt er für jede Gesellschaft voraus, dass die Produktion des Diskurses durch gewisse Prozeduren zugleich kontrolliert, selektiert und kanalisiert wird.26 Die Prozeduren können variieren, aber jedenfalls bleibt die Tatsache, dass Foucault den Diskurs als Gegenstand seiner Methode global ansetzt – also eine methodische Universalie, die undifferenziert als Globales, in dem die unterschiedlichen diskursiven Gegenstände zu finden sind, gilt. Diesbezüglich bemerkt Vasilache: „Den Diskurs um die orientalisch-asiatische ars erotica behandelt Foucault wie jede andere diskursive Formation, ohne auch nur ansatzweise auf die Möglichkeit kultureller Unterschiede [bezüglich der Existenz von Diskursen als solchen] einzugehen.“27
Andererseits hat Foucault sich ausführlich der Darstellung von Sprachkonzeptionen gewidmet, die keineswegs mit dem Diskurskonzept übereinstimmen. Das heißt, als Sprache kann Foucaults Methode zwar andere Sprachen darstellen, die Logik des Darstellungsinstruments widerspricht diesen aber zugleich. Wie bereits im letzten Abschnitt des vorigen Kapitels betont, ist Foucaults Konzeption nicht als Festlegung von Wahrheit zu verstehen, sondern in ihrer konstruktiven Relevanz. Trotzdem bleibt in Hinblick auf die Frage nach der Lokalisierung der Äußerungsinstanz festzuhalten, dass der expressis verbis artikulierten emischen Sichtweise nicht nur implizite, unbewusst produktive Regularitäten zur Seite gestellt werden, sondern dass zudem die Konstruktivität von Foucaults eigenen Begriffen in der Artikulation kultureller Positivitäten immer wieder eine dominante Rolle spielt. Dies führt an einigen Stellen in Foucaults Texten zu eigentümlichen Ambivalenzen. Besonders zweideutig ist in dieser Hinsicht Der Wille zum Wissen. Einerseits differenziert Foucault hier verschiedene Formen der Macht. Aber er spricht auch davon, wie ‚die Macht‘ zu untersuchen ist – wobei es so aussieht, dass dies eine generelle Machtanalyse darstellen soll und nicht nur auf die Mo26 Vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 7 27 Vasilache 2003: 116
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derne gemünzt ist.28 Ebenso ambivalent ist beispielsweise auch die Argumentation in der Vorlesung vom 7. Januar 1976, wo es eine überhistorische Tatsachenfeststellung zu sein scheint, dass die Macht nicht primär Unterdrückung ist, sondern kriegerische Konfrontation der Kräfte; dann jedoch wird dieses Konzept als Clausewitz-Hypothese gegenüber der Reich-Hypothese (Unterdrückungshypothese) nicht nur als konträre historische Sichtweise, sondern auch Realität vorgestellt.29 Wiewohl Foucaults ethnologischer Blick durch die stete Dekonstruktion von (naturalisierten) Voraussetzungen der gleichberechtigten Existenz einer Vielfalt von kulturellen Positivitäten Vorschub leistet, kommt bei der Äußerung von Aspekten, welche seinen Instrumentarien entgegengesetzt sind, die wissenschaftlichen Definitionsmacht zumindest insofern zum Tragen, als sich die Form (und deren inhaltliche Vorgaben) und die artikulierten Inhalte (mit ihren jeweiligen Formen) widersprechen. Und hierbei handelt es sich auch nicht bloß um noch undifferenzierte Hintergrundannahmen, vergleichbar den oben herausgearbeiteten Begriffen der biologischen Funktionen sowie des menschlichen Lebewesens oder der Tausch-, Produktions- und Konsumtionsformen und der linguistischen Strukturen, die als kulturelle Positivitäten jederzeit für weitere Differenzierungen offen sind. Deutlich zugunsten des wissenschaftlichen Instrumentariums entschieden findet sich dieser Antagonismus an bestimmten Stellen in der Geburt der Klinik. Im Unterschied zu seiner sonstigen Toleranz widerspricht Foucault der Selbstsicht der Medizin in der Moderne direkt und rekurriert dieser gegenüber in einer ungewöhnlichen Festlegung sogar auf eine historische Wahrheit30 – weshalb man die Medizingeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, wie Foucault sie hier darstellt, fast als Ideologie bezeichnen wollte. Dass Foucault gerade in diesem Zusammenhang von seinem Relativismus Abstand nimmt, könnte an der Fragestellung liegen, um die es dabei geht – nämlich die Geschichte. Umgekehrt könnte die Thematik seiner späten Arbeiten mit einer gewissen Zurückhaltung im Bezug auf die Vorgaben seiner Theorie und Methode einhergehen. Zwar thematisiert er, wie in der Antike und Kaiserzeit Individualitäten problematisiert wurden, und bezieht die Formierung dieser Figurationen auf den Kontext der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken. Sollen diese Ethiken der Selbstformation ihre Plausibilität als Relativierung des modernen Subjekts behalten, so kann Foucault seine theoretisch-methodisch fundierten Schläge ge28 Vgl. Der Wille zum Wissen [1976]: 110 und 113-123. 29 Vgl. Vorlesung vom 7. Januar 1976 [1976]: 228. 30 Vgl. Die Geburt der Klinik [1963]: 72, 168 und 138.
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gen die Subjektposition nur mehr schwer in der zuvor geübten, radikalen Form führen. Tatsächlich zeigen die beiden letzten Bücher eine untypische Abstinenz. Die bisherigen Verortungen des wissenschaftlichen Blicks sind verwischt. Es taucht aber auch keine neue Theorie oder Methode auf – der sonst deutliche Anspruch auf deren operative Funktion fehlt weitgehend.31 Woran neben den oberflächlichen Verweisen auf Archäologie und Genealogie aber doch ganz klar festgehalten wird, das sind Perspektiven des wissenschaftlichen Ansatzes, die das historische Subjekt zerschlagen. Dies bezieht sich vor allem auf die hier ein weiteres Mal betonte Wendung gegen den (zumal teleologischen oder evolutiven) Fortschritt. Allerdings ist das historische Subjekt auch nicht Gegenstand von Foucaults Analyse griechischer und römischer Konzeptionen. Dominiert Foucaults Diskurs also die Sicht derer, die er repräsentiert? In meiner Untersuchung geht es bei dieser Frage zunächst um Foucaults wissenschaftlichen Diskurs mit historischem Gegenstand. Wie in diesem Abschnitt verdeutlicht wurde, ist Foucaults ethnologischer Blick dabei nicht auf die Wieder-Holung der bewussten Selbstsicht, sondern dieser gegenüber von Außen auf die Ebene konstitutiver Beziehungen gerichtet. Im Rahmen seiner politischen Aktivitäten war es Foucault andererseits ein Anliegen, den Ausgeschlossenen direkt Gehör zu verschaffen und keine abgehoben urteilende Instanz zu bilden. Dies wurde oben kurz angerissen und dabei vor allem auf Foucaults Verknüpfung aktueller politischer Kämpfe mit historischen Diagnosen hingewiesen. Denn letztere bieten nicht eine indifferente Sicht, die den historischen Gegenstand gemäß seinem Eigensinn als solchen rekonstruiert, sondern sie orientieren sich als Geschichte der Gegenwart an den aktuellen Konfliktlinien und sind ihrerseits Teil der Kämpfe. Damit die Diagnosen aber die von Foucault angesetzte Funktion erfüllen können, müssen sie Differenzen zur Moderne enthalten. Deshalb ist in Foucaults wissenschaftlichem Diskurs die Position der Anderen notwendigerweise sehr deutlich präsent und soll nicht nach modernem Muster aufgelöst werden. Insofern findet sich hier in bestimmter Weise sehr wohl eine emische Perspektive. Die gleichberechtigte Äußerung verschiedener kultureller Realitäten in ihrem Gewicht als kulturelle Praxis ist wiederum durch die Konzeption des Gegenstandes in seiner 31 Dass zudem die bei Foucault sonst so treffsicher geschliffene, so vielgestaltige und produktive Sprache in den letzten beiden Büchern nichts sagender wird, dass Redundanzen sich häufen – all das könnte natürlich auch einer raschen Publikation noch knapp vor Foucaults Tod geschuldet sein. Selbst wenn also die hier zu argumentieren versuchte Interferenz zwischen Thema und wissenschaftlichem Ansatz letzterem seine Prominenz nahm, ist nicht gesagt, dass Theorie, Methode und Sprache so blass geblieben wären, hätte Foucault etwas mehr Zeit gehabt.
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Sprachlichkeit begründet. Die theoretisch-methodischen Arbeiten bieten also das Instrumentarium für diese Distanzierung von der Moderne. Und wie in meiner Untersuchung deutlich werden sollte, fußt dies auf einem Zugang, nämlich dem ethnologischen, der nicht darauf ausgerichtet ist, dass sich die Moderne darin widerspiegelt. Noch einen Schritt weiter gedacht, besteht ein zentraler Aspekt des strategischen Bezugs auf die Ethnologie in der Übernahme des Blicks ‚der Anderen‘ als gemeinsamen Prinzips der Artikulation – wobei allerdings durch Foucaults Texte in ‚unserer‘ Kultur zur bewussten Selbstsicht wird, was für ‚die Anderen‘ zum überwiegenderen Teil als nicht explizit formulierte Strukturen festgehalten wurde. Ein strategischer Rollenwechsel, wie ihn Foucault vorsieht könnte aber vielleicht auch umgekehrt bei ‚den Anderen‘ funktionieren. Dies spiegelt sich natürlich insbesondere darin, welches Verhältnis zwischen der Subjektposition und den Anderen angesetzt wird. Und es führt zur Thematik des nächsten Abschnitts, auf welche diskursiven Äußerungsmodalitäten sich Emanzipationsbewegungen angesichts von Foucaults Problematisierung des modernen Subjekts stützen könnten.
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OHNE
S UBJEKT
Im Unterschied zu Habermas, wo den Anderen eine ernst zu nehmende Äußerungen in der Kommunikation gar nicht zusteht, weil und solange sie aufgrund mangelnder Differenzierung ihrer Kultur eben keine Subjekte sind, stellt sich bei Foucault somit die Frage, ob er andere Subjekte ernst nimmt – sprich, ob er ‚die Anderen‘ mit Subjektstatus noch ernst nähme. Der Ausschluss des Subjekts als Vorgabe bei Foucault ist auch – oder vielleicht gerade – für eine im Kontext der postmodernen Selbstreflexion stehende Anthropologie nicht so ohne weiteres zu übernehmen. Speziell durch die postmoderne Krise der Repräsentation ergab sich eher umgekehrt die Problematik, wie die Objekte der Ethnographie in der Wissenschaft zu Subjekten mit eigener Stimme werden können.32 Zu denken wäre etwa an den Vorschlag von Fuchs und Berg, die postmoderne Ethnologie oder Anthropologie als Vordenkerin der philosophischen Postmoderne zu betrachten – eine postmoderne Anthropologie aber, welche die Anderen als Subjekte wahrnehmen soll.33 Dies wird zum Beispiel auch bei Fabian deutlich, der sich an der Ungleichzeitigkeit abarbeitet – also in dieser Hinsicht ein Foucault verwandtes Anliegen hat –, dem aber als Ziel 32 Vgl. etwa Crapanzano (1998) oder Petermann (2004). 33 Vgl. Fuchs; Berg 1993: 76.
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ein Dialog mit den Anderen vorschwebt, und der dies im Gegensatz zu Habermas auch für möglich und der Mühe Wert erachtet.34 Angesichts dessen es also nicht unbedingt nachvollziehbar, wenn von Autorinnen und Autoren der Postmoderne gerne mit Foucault argumentiert wird.35 Daher gilt es zu hinterfragen, ob Foucault zufolge die Fragmentierung und Dezentrierung des Subjekts überall Ziel sein soll und was dies für Gruppen, die demgegenüber als Nicht-Subjekte definiert wurden, bedeutet. Foucaults Forderungen, das Subjekt zu verabschieden, sind zunächst nur an die westliche Gesellschaft gerichtet – wohl, weil er seinen Analysen gemäß annimmt, dass die subjektphilosophische Figuration nur deren regionale Erscheinung ist. Foucault erfasst in der Ordnung der Dinge explizit nur die wissenschaftliche Ebene – eine Ebene, die seit langem von ‚großen weißen Männern‘ beansprucht wird. Auch der dispositive Zusammenhang, wie er Überwachen und Strafen und insbesondere dem Willen zum Wissen zu entnehmen ist, zeigt klar die Verknüpfung von Mann und Subjekt. Der von Foucault kritisierte Mensch existiert zunächst als männliches Subjekt, und die sich ewig spiegelnde Subjektsicht meint den Narzissmus des Mannes – insofern ist auch die Destruktion des Subjekts eine vorwiegend mit dem Mann beschäftigte Arbeit, die „Mann-Sein und Mensch-Sein auf neue Weise wiederum identisch werden läßt“36. Sind daher Frauen von Foucaults Kritik nicht betroffen und werden sie von seinem Blick nicht erfasst? Es ist auf jeden Fall zu bemerken, dass es bei Foucault deutliche Absenzen der Anderen gibt. Denn weder die Genderdimension noch das Verhältnis des Westens zu den Kolonisierten bekommen in Foucaults Analyse der konstitutiven Differenzen einen prominenten Stellenwert. Die mangelnde Einbeziehung des Kolonialismus wurde zumindest in der Philosophie meines Wissens nicht sehr deutlich wahrgenommen oder problematisiert. Hingegen wurde das Fehlen ‚der Frau‘ insbesondere von Feministinnen und Feministen kritisch vermerkt und in einer recht umfangreichen Literatur diskutiert.37 Wie Frietsch herauskehrt, sind 34 Vgl. Fabian (1983); und siehe zu Kritiken an der Fortschreibung von Ungleichzeitigkeit bei Habermas, die meine Analysen bestätigen, Fuchs; Berg (1993: 76). 35 Vgl. z.B. Barnard (2000: 176f.) oder Petermann (2004: 1010-1029) sowie meine Zitationsanalyse (Birkhan 2010b). 36 Frietsch 2002: 13. 37 Einen Überblick dazu findet man bei Raab (1998: 60-62). Des Weiteren bietet sie eine Synopsis zum poststrukturalistischen Feminismus und seinen wichtigen Bezügen auf Foucault. Was dabei allerdings kaum thematisiert wird, ist die Frage, inwieweit speziell Foucaults Methodologie für feministische Anliegen interessant und/oder problematisch ist (vgl. Raab 1998: 63-67).
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hierbei gerade die epistemologischen Schriften jedoch verhältnismäßig wenig durchleuchtet worden.38 Die anschließenden Überlegungen gehen daher primär anhand der Genderfrage entlang, lassen sich aber mutatis mutandis auf andere Nicht-Subjekte der Moderne, wie etwa die Kolonisierten, umlegen. Tatsächlich findet man bei Foucault kein ‚weibliches Subjekt‘. Er kann diese Figur auch deshalb nicht feststellen, sofern im archäologischen Aussagemonument ebenso wie im Dokument der Ideengeschichte der Mensch nur in der Einzahl vorkommt und nur ein oder kein Geschlecht hat.39 Es lässt sich kritisieren, dass der positivistische Zugang von Foucault somit einen Anspruch der Frauen auf die Subjektposition übergeht und diese Ausblendung für ihn kaum fassbar ist, da er keinen Referenten kennt, demgegenüber der Alleinanspruch des Mannes auf die Subjektposition als falsches Bewusstsein zu entlarven wäre. Und Foucault lehnt den herkömmlichen Ideologiebegriff wiederum unter anderem deshalb ab, weil dabei ein Subjekt nach modernem Modell vorausgesetzt wird, „das mit einem Bewußtsein ausgestattet ist, welches die Macht sich unterwerfen will“40. „Die Archäologie schmiegt sich dem Tisch an, den sie zu beschreiben sucht. Wenn sich auf der Ebene der Analyse also keine Spuren von Geschlechtlichkeit finden, so stellt dies die Behauptung dar, daß sich das Wissen der beschriebenen Kultur konstituiert, ohne daß Geschlechtlichkeit dabei relevant wäre.“41
Folglich kann Foucault seiner Methodologie gemäß eigentlich nur durch Vergleich die negative Position aufweisen – wenn von der Konzeption Frau in der Moderne ausgehend deren Verschiebung explizit Gegenstand der Untersuchung wird, und dann in einem anderen ‚Archiv‘ Frauen eine sichtbar andere Position haben.
38 Vgl. Frietsch (2002: 12), die dies zum Ausgangspunkt ihrer eigenen Arbeit nimmt. 39 Raab (1998: 58) bemerkt, dass die Formulierung der Disziplinarmacht bei Foucault sich auf Institutionen bezieht, wo die Frau großteils überhaupt ausgeschlossen ist. Insofern fehlen auch die für Frauen relevanten Machtmechanismen bei Foucault, da man nicht annehmen kann, dass allein der Ausschluss für Frauen produktiv ist, sondern sie auch von zusätzlichen spezifischen Machttechniken in anderen sozialen Institutionen formiert werden. Ganz ähnlich ist auch die Kritik von Deveaux (1994: 224), dass Foucault die speziellen Erfahrungen mit Macht, die Frauen haben, nicht berücksichtigt. 40 Macht und Körper ([1975]: 108); vgl. die scharfe Kritik von Sangren (1995) daran. 41 Frietsch 2002: 74.
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Allerdings hat Foucault selbst dem Stellenwert der Geschlechterdifferenz in seinen Diagnosen kultureller Strukturierungen zunächst keinen wichtigen systematischen Platz eingeräumt – wobei Foucault für seine Kritik am Subjekt prinzipiell durchaus die Rolle des im Zuge der Subjektivierung notwendigen Anderen sichtbar macht. Zudem stellen die Archäologie des Wissens und besonders die Ordnung des Diskurses ja auch methodisch explizit die Frage, wer spricht, welches Wissen vom herrschenden Diskurs ausgeschlossen wird. Mit Augenmerk auf die Genderfrage zeigt sich aber, dass Foucault selbst die gesellschaftliche Ausblendung durch die Wahl seiner Primärquellen und dann durch die Art seiner Analyse derselben offenbar noch verstärkt hat. Dies ist ein Ergebnis der zum Teil ebenfalls auf historische Quellen gestützten Forschung von Frietsch.42 Foucaults Vernachlässigung einer in den Primärquellen demnach sehr wohl vorhandenen Präsenz des Weiblichen führt zu dem Vorwurf: „Die Archäologie Foucaults arbeitet dadurch mit an einer Ent-Genealogisierung oder Ent-Tradierung des Weiblichen.“43 Allerdings kann der in Frietschs Kritik besonders angesprochenen Ordnung der Dinge zugute gehalten werden, dass diese Arbeit explizit eine Untersuchung des Gleichen sein soll (wenn auch das Andere in Form der Gegenwissenschaft präsent ist),44 während das Andere Gegenstand vor allem von Wahnsinn und Gesellschaft, aber natürlich auch späterer Schriften, ist. Dass Foucault die Bedeutung der Geschlechterdifferenz nicht grundsätzlich übersehen hat, wird deutlich, wenn er – so der Hinweis von Frietsch – bereits in seiner Introduction à l’Anthropologie de Kant reflektiert, inwieweit der Geschlechterdiskurs sich bei der Konzeption des Pragmatischen in Kants Anthropologie auswirkt.45 Im Willen zum Wissen spielt dann die Hysterisierung der Frauen eine gewisse Rolle, und Foucault hatte sogar ein eigenes Buch zu diesem Themenkomplex respektive zur Gynäkologie geplant.46 Es lässt sich festhalten, dass Foucault wiederholt auf die soziale Geschlechterkonstruktion Bezug genommen hat, eine tragendere Rolle kommt ihr indessen erst in den beiden letzten Bänden von Sexualität und Wahrheit zu. Hier kehrt Foucault sehr klar heraus, inwieweit der ‚Gebrauch der Lüste‘ und die ‚Sorge um sich‘ in der Antike und der Kaiser42 Frietsch 2002. 43 Frietsch 2002: 11. 44 Grundsätzlich teilt auch Frietsch mit einigen Differenzierungen die Einsicht, dass in den historischen Quellen in der Tat ein männliches Bewusstsein sich artikuliert (vgl. z.B. Frietsch 2002: 61f.). 45 Vgl. Frietsch 2002: 14. 46 Vgl. Nein zum König Sex [1977]: 343. Foucault kündigt hier an, zur Gynäkologie, wo der Körper der Frau zur medizinischen Sache schlechthin wurde, eine Untersuchung verfassen zu wollen.
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zeit ein Programm für den freien Mann waren respektive ihn konstituierten. Auch die prekäre Stellung der Knaben wird in diesem hierarchischen, asymmetrischen Gefüge herausgearbeitet – und zwar besonders in ihrem Konnex mit der Position der Frau. Freilich bleibt die Tatsache, dass die Problematisierung der binären Geschlechterdifferenz zwischen Frau und Mann auch hier womöglich nicht das eigentliche Interessenszentrum bildet. Diese Bemerkungen sollten kurz umreißen, inwiefern neben anderen Aspekten seiner Geschichte der Gegenwart auch die Genderdimension bei Foucault keine ganz unwichtige Rolle spielt. Jedoch steht bei der Geschlechterdifferenz als Forschungsgegenstand die jeweilige Position für die Frau etwas im Hintergrund. Zu bemerken ist auch, dass Foucaults Vorgaben nicht die Entdeckung eines ausgeschlossenen oder ausgeblendeten ‚weiblichen Subjekts‘ fördern. Zugleich gibt es aber für Foucault selbstverständlich keinen Grund, warum gerade Männer Subjekte sein sollten. Es könnte eventuell die Skepsis auftauchen, ob die früheren Naturalisierungen als Subjekt und Nicht-Subjekt nun in Foucaults sozialen Zeichensystemen und Diskursen zu (natürlichen) Signifikanten und Signifikaten werden. Das wäre eine Festlegung, die möglicherweise bei Lacan zu suchen wäre und die in der Anthropologie auch Lévi-Strauss’ Frauentauschkonzept oder etwa Ortner vorgeworfen wurde.47 Hingegen sind bei Foucault solche Bindungen angesichts des auf seine Sprachlichkeit hin gelesenen Körpers sowie des radikalen Abbruchs der Beziehung zum Referenten ausgeschlossen. Jede Positivität kann und soll sich in der Differenzierung als kulturelle Tatsache erweisen. Ganz leer ausgegangen ist somit der Feminismus und jedes gegen Essentialismus gerichtete Denken nicht.48 Immerhin hat Foucault die Wendung weg von 47 Vgl. Ortner (1993); auch andere Texte in dem von Rippl 1993 herausgegebenen Band behandeln das hier kurz angeschnittene Thema. Lacan (vgl. Widmer 1990: 28ff.) und Ortner kämpfen zwar einerseits gegen Naturalisierungen, gehen aber doch in ihren Überlegungen letztlich auf die frühkindliche Mutter-Kind-Beziehung zurück, wo bestimmte Mann/Frau Positionen, wenn nicht determiniert, so doch nahe gelegt und stabilisiert werden. Zu einer Kritik an Lacan, vor allem in Hinblick auf die mit seinem Konzept verbundene Übertragung ontogenetischer Charakteristika auf die soziopolitische Ebene, siehe Gingrich (2004: 10). Diese Fragen in Verbindung mit Foucault diskutiert z.B. auch Sawicki (1991: 49ff.). 48 Butler (1997: 43f.) meint zwar: „Es ist offenbar sehr wichtig, ein Machtmodell abzulehnen, das Rassismus, Homosexuellenfeindlichkeit und Frauenhaß als parallele oder analoge Beziehungen ansetzt. Die Behauptung, diese seien abstrakt oder strukturell gleichwertig, verfehlt nicht nur die jeweils besondere Geschichte ihrer Konstruktion und Herausbildung, sondern schiebt auch die wichtige Arbeit auf, zu durchdenken, auf welche Weise diese Vektoren der Macht einander zu dem Zweck ihrer eigenen
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Sex (Geschlecht) und weg von der Dichotomie zwischen Sex (Geschlecht) und Gender hin allein zu Gender nahe gelegt. „Aber ich sagte mir: Sollte nicht im Grunde das Geschlecht, das eine Instanz zu sein scheint [...], nicht im Gegenteil etwas sein, das durch das Sexualitätsdispositiv produziert worden wäre?“49 „Das ist kein falscher Schein, das ist Fabriziertes.“50
Diese theoretisch-methodische Umorientierung hat im Feminismus – am prominentesten vielleicht bei Butler51 – auch tatsächlich eine konsequente Fortsetzung gefunden. Angesichts dieser Diagnose werden also Verfahren wichtig, die sich effektiv gegen das männliche Subjekt wehren, ohne selbst eine Subjektposition zu beanspruchen. Und eben das ist, wie ich zu bedenken geben wollte, Foucaults Vorhaben. „Um wo anzukommen? Bei einer wirklichen Desexualisierung, [...] bei einer Verschiebung im Verhältnis zur sexuellen Zentrierung des Problems, um Formen von Kultur, Diskurs und Sprache einzufordern, die nicht mehr diese Art von Zuweisung und Festnagelung auf ihrem Geschlecht sind, die sie gewissermaßen politisch hatten akzeptieren müssen, um sich verständlich zu machen. Das, was es an Kreativem und Interessantem in den Frauenbewegungen gibt, ist genau da.“52
Einer Transformation der Moderne, die deutlich Anleihen bei alternativen Verortungen der Anderen und damit bis zu einem gewissen Grad auch jener der Frauen macht, kann man daher nicht leicht vorwerfen: „Foucault hat den ‚homme‘ durch den ‚homme‘ ersetzt“53 – im Gegenteil könnte man hier eher die ‚femme‘ einsetzen, weil sich Foucault in seinem Diskurs nicht auf die moderne Subjektposition stützt. Frietsch hingegen meint an dieser Stelle, dass bei Foucault der Abschied von der Universalisierung des Partikularen, also der männlichen Posi-
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Artikulation brauchen und einsetzen.“ Obwohl dieser Vorbehalt natürlich plausibel und sehr relevant ist, sollte dies nicht den Blick darauf verstellen, dass gerade die genannten Diskriminierungen ganz wesentlich mit einer gemeinsamen Logik operieren – und zwar dem Biologismus. Daher ist die antiessentialistische Wende unter anderem für diese drei Felder von Bedeutung. Das Spiel des Michel Foucault [1977]: 409. Das Spiel des Michel Foucault [1977]: 412. Vgl. Butler z.B. (1991: allgemein und etwa 37ff.) oder (1997: z.B. 59ff.). Das Spiel des Michel Foucault [1977]: 420. Frietsch 2002: 13.
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tion, wieder mit einer Ausschlussbewegung, nämlich der des jeweils Weiblichen, einhergeht. Zudem wäre der Platz der Frau als Standort des Sprechenden dann doch nur leer, verschoben, verrückt – so Frietsch.54 Wie die Exploration der ethnologischen Perspektive von Foucault aber meines Erachtens zeigt, ist speziell aus den epistemologischen Schriften, also vor allem der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens, zu ersehen, dass dieser Ort sehr wohl eine vom historischen Subjekt befreite konkrete Alternative darstellt, die ihrerseits einiges an Offenheit und Vielfältigkeit erlaubt. Bestimmte Aspekte in Foucaults Epistemologie sollten also sicherlich dazu auffordern, Ausschlüsse auch aus feministischer Perspektive auf Basis des Foucaultschem Instrumentariums zu untersuchen.55 An dieser Stelle ist vielleicht noch einmal einen Schritt zurücktretend zu unterstreichen, dass Foucault in seinen Büchern vordergründig und explizit nur die gesellschaftlichen Bruchlinien in der westlichen Welt problematisiert. Und in der Ordnung der Dinge zeigt er sogar ausschließlich die erkenntnistheoretischen Widersprüchlichkeiten des modernen Subjektverständnisses. Er betrachtet also kaum direkt die Signifikanz der explizierten Logiken für den außereuropäischen Kontext und vice versa – wie es von einem Ethnologen jedoch zu erwarten wäre. Insofern könnten sich Foucaults Binnenkritik und die ethnologische Kritik an den verschiedenen Operationen des Kolonialismus ergänzen, wodurch nochmals die Beziehung zwischen inneren und äußeren Feind- oder Fremdbildern thematisiert würde. Außerdem könnten aber sicher in den von Foucault ausgesparten Bereichen viele seiner Ergebnisse und Instrumentarien – ähnlich wie es im Feminismus geschehen ist – direkt relevant werden. Für Gruppen, die sich zu Emanzipationskämpfen gezwungen sehen, kann es allerdings leichter und daher eventuell auch effektiver sein, die ‚Herrschenden‘ bei ihren eigenen Proklamationen zu fassen als in einem anonymen, nicht von einem konstituierenden Subjekt abhängigen Kräftefeld ohne humanistische, subjektzentrierte Argumente zu agieren. In diese Richtung geht etwa Benhabibs Argumentation, wenn sie die Frage nahe legt: Feminismus oder Postmoderne?56 Sie untersucht postmoderne Positionen auf ihre Auswirkungen für die Stellung von 54 Vgl. Frietsch 2002: 15. 55 So auch Bührmanns (2001: 123f.) Urteil dazu, welche Rolle die Genderfrage bei Foucault spielt – und dem könne man in zweierlei Hinsicht nachgehen: gegenstandsorientiert – dann ist die Genderfrage nicht eines der prominentesten Themen; in einer „methodologisch-methodisch interessierten Perspektive“ hingegen ist Foucaults Arbeit weitaus gehaltvoller. 56 Vgl. Benhabib 1995: 221ff.
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Frauen und kommt zu dem Schluss, dass die postmodernen Dekonstruktionen des Menschen, der Geschichte und der Metaphysik nicht in ihrer radikalen Form,57 durchaus jedoch in einer schwachen Version die Position des schwachen Geschlechts der Moderne stärken könnten. Denn natürlich bieten die Dezentrierungen der ‚großen Erzählungen‘ Öffnungen, den zuvor damit und darin ausgeschlossenen sozialen Gruppen (Frauen oder auch Kolonisierten) nun Präsenz zu verleihen. Andererseits folgt auch sie der häufig geäußerten Kritik, dass mit dem Tod des Subjekts gezieltes Handeln und Veränderung überhaupt sowie auch die Verantwortung dafür nicht mehr begründbar sind.58 Wie soll sich angesichts der skizzierten Situation bei Foucault der Emanzipationsakt von Frauen und anderen Nicht-Subjekten der Moderne im Widerstand gegen die Alleinherrschaft der exklusiven Subjektposition nun äußern? Gerade Foucaults epistemologisches Fundament, also die Mechanik der produktiven Abgrenzungen, lässt in umgekehrter Richtung zum Ausschluss die Frage auftauchen, inwiefern die Dekonstruktion des Subjekts kontextabhängig zu bewerten ist – so die grundlegende Erwägung für die Artikulation der Subjektposition insbesondere in der Anthropologie als Wissenschaft kultureller Unterschiede. Und diese Frage stellt sich anders als etwa bei Habermas, welcher Kritik und Wahrheit nicht in einer Weise grundsätzlich kontextgebunden sieht wie Foucault. Denn bei Foucault haben kulturelle Positionen und deren Kritik ihre Signifikanz primär im jeweils aktuellen Zusammenhang. Dies gilt natürlich auch für den Impetus seiner eigenen De- und Neukonstruktionen. Daher wäre immer neu zu hinterfragen, wie man Foucaults Ansatz gegenwärtig verstehen kann und welcher strategische Stellenwert ihm zukommt. Ist es eine subversive Umkehr entsprechend Foucaults Kritik, wenn innerhalb der westlichen Gesellschaft Gruppen, welche vom Subjektstatus ausge57 Denn mit einer Auslöschung der Geschichte wäre auch die Geschichte der „Kämpfe jener ‚Verlierer‘ und ‚Opfer‘ der Geschichte“ verloren (Benhabib 1995: 244). Die radikale Ablehnung jeder Metaphysik wiederum würde nur mehr lokale und situierte Kritik zulassen – Positionen, die entweder gar keinen Verallgemeinerungsanspruch haben, oder aber von den lokalen Kulturen, Gesellschaften und Traditionen, in deren Rahmen die Kritik formuliert und gültig ist, als „monolithischen, eindeutigen, homogenen Bedeutungsfelder[n]“ ausgehen müssten (Benhabib 1995: 251). Zwar sei ein „Ende der Philosophie als Metadiskurs der Legitimation“ angebracht; damit kontextübergreifend Kritik möglich bleibt, plädiert Benhabib aber doch für einen interaktiven Universalismus, beschrieben als „Praxis situierter Kritik für eine weltweite Gemeinschaft, die sich nicht scheut, ‚die engen Grenzen ihrer Heimat‘ hinter sich zu lassen“ (1995: 254). 58 Vgl. Benhabib 1995: 237ff.
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schlossen sind oder wenn Gesellschaften, deren Geschichte unter den Vorzeichen des westlichen Kolonialismus stand, nun mit der Figur des (historischen) kollektiven oder individuellen Subjekts agieren? In diesem Sinne ist es eigentlich konsequent, entbehrt aber nicht einer gewissen Ironie, dass, wie etwa Crapanzano59 hervorhebt, in Verkehrung der bisherigen Situation ‚Life-Histories‘ in der Anthropologie häufiger wurden, während im (wissenschaftlichen) Diskurs des Westens das Subjekt ins Wanken geriet.60 Oder geht eine solche kritische Subversion ins Leere, insofern damit notgedrungen Strukturierungen der Moderne weitergetragen werden? Dies zum einen, weil das moderne Subjekt immer eine negative Seite hat. Die Rolle des nicht dazugehörigen Anderen würde also nur verschoben. Zum Zweiten, weil die nun Subjektposition beanspruchenden Identitäten ja Ergebnis der diskriminierenden Grenzziehung sind (so etwa die Bewegung von Gegenrassismen). Letztendlich kann aber eine Übernahme der Subjektposition für die Ausgeschlossenen auch deshalb sinnlos sein, weil in einer Umkehr der Vorzeichen die Subjektposition entmachtet wird. Eine solche Entwertung ist wiederum ein Vorgang, für den man besonders Foucault mitverantwortlich machen kann. Und betrachtet man womöglich eine Universalisierung der Subjektposition nicht nur als gangbaren, sondern sogar notwendigen Schritt für eine Aufhebung oder Aufsplitterung der Identitätsgrenzen, so könnte der etwas banale, aber manchmal nicht zu verdrängende Verdacht aufkommen, ob nicht das herrschende Subjekt in dem Moment eine angeblich unmögliche Figur wird, wo auch Nicht-Subjekte diesen Status beanspruchen.61 Allerdings wäre dies in einem Spiel von relationalen Bestimmungen, wie es Foucault weitestgehend vertritt, immer eine notwendige Folge. Durch Berufung auf die Rechte des Menschen, nach Vorbild der Moderne die Subjektposition einzufordern und bestimmte damit verknüpfte Ziele zu erreichen, würde also vielleicht zugleich mit der Aufhebung der Ausschlüsse deren kontingent hegemoniale Funktion sichtbar gemacht – und auf diese Weise eine Verunsicherung hervorgerufen, die Foucaults Dezentrierung des Subjekts entspricht. Insofern eröffnet Foucaults Explikation und Dekonstruktion des Subjekts tatsächlich die Möglichkeit einer grundsätzlicheren Veränderung.
59 Crapanzano 1984. 60 Crapanzano (1984: 956) kehrt auch den in der Lebensgeschichte typisch westlichen Geständniszwang, wie ihn Foucault in Der Wille zum Wissen [1976] herausgearbeitet hat, hervor. 61 Vgl. dies auch bei Biebricher (2005: 148), der sich damit den Bedenken von Hartsock anschließt.
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In diesem Zusammenhang fällt auf, wie die Sekundärliteratur des Öfteren mit Begeisterung in den letzten Arbeiten von Foucault eine Wiedereinführung des Subjekts wahrnimmt.62 Demgegenüber ist aber zu bemerken, dass Foucaults Ansatz gerade deshalb brisant bleibt, weil er in den Überlegungen zur Problematisierung des Selbstbezugs als Ethos nicht zu dem Subjekt zurückgekehrt ist, für dessen Zerschlagung er steht. Tatsächlich hat Foucault gegen Ende seines Lebens die Praktiken der Freiheit auch als individuelle Selbstformation konkret unter die Lupe genommen. Vielleicht wäre insoweit von einer Umkehr zu sprechen, als er nun die Distanz zur Moderne nicht mehr nur in einer Auflösung des ans Subjekt geknüpften Selbstverhältnisses sucht, was implizieren hatte können, es gäbe nur eine Art des Selbstverhältnisses. Diese Wende hat manchmal aber etwas voreilig über die grundsätzliche Kritik am modernen Subjekt hinweg zu der beruhigenden Ansicht geführt, dass auch Foucault sich zuletzt wieder reuig zu dieser Instanz bekennt. Ganz im Gegenteil ist festzustellen: Foucault dekonstruiert das Subjekt der Moderne nun über eine Differenzierung, die es erlaubt, auch hier Alternativen zu sehen.63 Er pluralisiert die Individualisierungsformen, indem er zeigt, inwiefern in der klassischen Antike und in der Kaiserzeit nicht Normalisierung und Disziplinierung im christlich geprägten Sinn herrschten. Dabei expliziert er eine Art der Selbstkonstitution, die – nicht ohne sozialen Druck – über des richtige Maß, die Mäßigung, aber vor allem auch über spezifisch produktive, also nicht primär vorhandene Begierden unterdrückende, Praktiken operiert – so etwa, wenn mit der Kunst der Diätetik der Körper in bestimmter Weise formiert wird.
62 So etwa vermittelt Welsch (1991: 143) den Eindruck, dass der Mensch wiederkehrt, auch wenn er diese Figur dann als „ätherisch-ästhetisches Individuum“ präzisiert. Dörfler sieht zwar keine Rückkehr zum alten Subjekt – im Gegensatz zu Fink-Eitel, wie er sagt –, aber er spricht (von Waldenfels beeinflusst) davon, dass Foucault in den letzten beiden Bänden zu Sexualität und Wahrheit nach einem Subjekt „jenseits [Herv. i.O.] des Diskurses, jenseits [Herv. i.O.] der Verflechtungen diskursiver Zuschreibung“ fragt (Dörfler 2001: 103). Und vgl. auch Angaben von Harrer (2005: 76) zu weiteren Autoren in diesem Sinn: z.B. Dews oder Devos. 63 Vgl. z.B. Der Gebrauch der Lüste ([1984]: 10), wo Foucault sich von einer Position distanziert, die das Subjekt – hier in Bezug auf das Begehren – aus dem Feld des Historischen verbannt. Dementsprechend geht es Foucault um die verschiedenen Weisen, in denen man sich als Subjekt der Moral konstituieren sollte, also um verschiedene Selbstverhältnisse – ein Aspekt mit Geschichtlichkeit, der zwar vielleicht nicht ganz unabhängig, aber doch variabel gegenüber für sich genommen womöglich einförmigeren Moralcodes (und dem tatsächlichen Moralverhalten) ist (vgl. Der Gebrauch der Lüste [1984]: 37ff.).
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Somit wird deutlich, dass es andere Modi der Selbstbezüglichkeit von Individuen gibt – also dezidiert wieder kulturspezifische konstruktive Prozesse. Von feministischer Seite hat McNay dies mit folgenden Worten begrüßt: „Just as the presence of emancipatory themes in Foucault’s work on the self hinder its categorization as postmodern, so the fundamental emancipatory aims of feminism hinder its assimilation into a postmodern variant.“64
Und dass diese Differenzierung der Subjektposition nicht eine Idee ist, die etwa erst durch eine Umkehr im Ansatz der letzten Texte von Foucault ermöglicht wurde, sondern seinen epistemologischen Forschungen zu entnehmen ist, belegt zum Beispiel Guttings Synopsis: „The idea here seems to be that the countersciences show how such a thing as man is possible, but only by moving to a level of analysis at which he appears as just one possibility. They therefore also show that there are alternatives to thinking of ourselves under the category of man, thereby freeing us from the tyranny of this concept.“65
Es sind also auch hier die Gegenwissenschaften der Ordnung der Dinge, die für Foucault den Weg weisen. Zugleich aber will er eine Position zur Geltung bringen und vielleicht ihre Genealogie leisten, die von Anfang an mitgeschwungen hat: das sich selbst konstituierende und formierende Künstlerindividuum. Auch dies ist eine Figur, die dem modernen Subjekt entkommen will, denn: „Das Wort ‚Subjekt‘ hat zwei Bedeutungen: Es bezeichnet das Subjekt, das der Herrschaft eines anderen unterworfen ist und in seiner Abhängigkeit steht; und es bezeichnet das Subjekt, das durch Bewusstsein und Selbsterkenntnis an seine eigene Identität gebunden ist.“66
Die ‚Ästhetik der Existenz‘ verweist daher wieder auf die schon zu Beginn der Arbeit angesprochene Ambivalenz, dass bei Foucault immer auch Souveränität und Selbstermächtigung ins Spiel kommen – der Über-Mensch, um Fink-Eitels67 Analyse aufzugreifen. Dass das Leben mit ästhetischen Maßstäben zu messen ist, macht vielleicht weniger eine Läuterung des Anti-Aufklärers Foucault kenntlich als seine durchgängige Nähe zu Nietzsche. Wie Veyne sagt: „Von nun an 64 McNay (1992: 7); in anderer Hinsicht kritisiert McNay Foucault: z.B. dahingehend, dass sein neues Selbstverhältnis zu isoliert gedacht sei. 65 Gutting 1999: 224. 66 Subjekt und Macht [1982]: 275. 67 Vgl. Fink-Eitel 1994: 227. Auch Harrer (2005: 79) sieht hier bei Foucault zwei Pole.
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wird Foucault an den stets leeren Platz des Menschen [...] den Konstitutionsprozess stellen oder manchmal auch den Akt der Selbststilisierung [...].“68 Zentraler Punkt dieser zunächst der Moderne in ihrer Ambivalenz ähnlich scheinenden Konzeption von Foucault bleibt aber der Tod des Menschen als Subjekt der Moderne. Denn: „Das Subjekt ist hier keine Substanz mehr, die sich je nach Kontext etwas verändert, aber stets den gleichen Kern behält. Vielmehr wird es als eine Form [Herv. i.O.] konstituiert [...].“69 Diese von Stäheli formulierte Perspektive führt weiter zu der Überlegung, dass die Innerlichkeit der subjektive Effekt der öffentlichen Performativität des Selbst ist – also immer schon eine gesellschaftliche und öffentliche Beziehung. Folglich hält Bublitz fest: „Damit fällt die gesellschaftstheoretische Unterscheidung von Innen und Außen, nämlich die einer Innerlichkeit des Subjekts und einer Äußerlichkeit der Gesellschaft und des Sozialen.“70 Und hierbei geht es Foucault um eine spezifische Form des Widerstandes, nämlich den Kampf „gegen alles, was den Einzelnen an sich selbst bindet und dadurch seine Unterwerfung unter die anderen sicherstellt [...]“71. Das Selbst soll also jederzeit ein Anderes sein können. Mit der Problematisierung des Selbstbezugs differenziert Foucault die für seinen ethnologischen Ansatz wichtige Position der Anderen in der Great Divide insofern, als es in der ‚Post-Moderne‘ nicht nur darum geht, in Annäherung an die Anderen die Subjektposition aufzugeben. Sondern es ist auch zu erarbeiten, inwiefern die Anderen (hier Griechen und Römer) ihrerseits unterschiedliche Selbstverhältnisse haben. 68 Veyne 2010: 55. 69 Stäheli 2000: 50. Inwiefern dies tatsächlich einen Kernpunkt der Debatte darstellt, zeigt etwa die Argumentation von Nagl-Docekal (1987: 13), die angesichts der Gefahr, dass der Individualität Zerfall droht, wenn man sie sich als eine Folge kontinuierlicher Transformationen vorstellt, meint: „Es scheint daher, daß der Weg von Hume zu Kant zumindest soweit zu rekonstruieren ist, als es gilt, ein Subjekt als die allgemeine Bedingung der Möglichkeit der je und je besonderen Individualität zu konzipieren.“ Die Frage bleibt, ob man diese konstitutive Fähigkeit unbedingt so deutlich an die moderne Subjektkonzeption binden muss oder soll. Jedenfalls dürfte dieser Begriff dann aber keinerlei exklusive soziale Bedeutung haben, sondern muss derart unbestimmt und weit gefasst sein, dass er zumindest alle Menschen, egal welche Differenzierungen bei ihnen gelten, unzweifelhaft beschreibt – und je nach Auffassung womöglich auch andere Akteure. Wie ausführlich diskutiert wurde, ist schon ersteres etwa bei Habermas’ Begriff von Subjekt respektive Subjektivitätsbildung nicht gegeben. 70 Bublitz 2003: 96. Diese Wendung bei Foucault kommt auch in der im ersten Abschnitt des sechsten Kapitels besprochenen Distanzierung des Gesellschaftsmodells von Hobbes zum Ausdruck. 71 Subjekt und Macht [1982]: 275.
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Allerdings ist eine solche Vielfältigkeit in der Anthropologie auch ohne Zutun von Foucault kaum unbemerkt geblieben. Diese Pluralisierung liegt nämlich für die Anthropologie vielleicht näher als für andere Fächer, wo eine Bestätigung der bisherigen Sicht womöglich nicht unerwünscht wäre. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn der Tod des Subjekts die Existenz einer Disziplin bedrohen könnte: „Mit den verschiedenen Versuchen, das vernünftige autonome Subjekt als eine Fiktion zu erweisen und es in einer Theorie der irreduziblen Pluralität und historischen Kontingenz der Bedingungen allen Denkens und Handelns aufzulösen, bzw. alle Ansprüche auf Wahrheit und normative Verbindlichkeit genealogisch zu entlarven, verbindet sich ja die These vom Ende der Philosophie.“72
Dies wäre jedoch nur dann eine unmittelbare Konsequenz, wenn die Philosophie nicht allgemein genug angesetzt ist, um „verschiedene Elemente der Subjektkonzeptionen der philosophischen Tradition“73 zu beherbergen. In der Anthropologie hingegen bietet die Differenzierung der Subjektivation respektive des Selbstverhältnisses vor allem die Möglichkeit zur Befreiung von der Erpressung der Great Divide, entweder die Anderen als Nicht-Subjekte aufzulösen oder sie der modernen Subjektivierung zu unterstellen. Leitthema dieses Abschnitts war, was Foucaults ethnologischer Blick für die Frage impliziert, ob auch ‚große Erzählungen‘ anderer Gesellschaften oder bisheriger Nicht-Subjekte in der eigenen Gesellschaft von seinen Dekonstruktion betroffen sein sollen. Diese Überlegung wurde auch insofern drängend, als der vorausgehende Abschnitt zu dem Schluss geführt hatte, dass besonders dort eine Distanzierung von der ‚emischen‘ Perspektive feststellbar ist, wo diese nicht mehr als differentielle Positivität in Foucaults Ethnographien ihre Aufgabe erfüllt, der Moderne Paroli zu bieten. Zwar müsste Foucault solche ‚großen Erzählungen‘ einerseits als Gegebenheit repräsentieren beziehungsweise könnte keine für die Selbstobjektivierung des hegemonialen Diskurses der westlichen Moderne relevanten Alternativen aufweisen. Zugleich werden diese essentiellen Voraussetzungen aber durch Fou-
72 Nagl-Docekal 1987: 7f. 73 Nagl-Docekal 1987: 11. Eine solche Verengung erscheint allerdings zumindest auf den ersten Blick wenig plausibel. Denn es würde implizieren, dass es in der Antike aufgrund nicht der Moderne entsprechender Subjektposition keine Philosophie gegeben hat – und dem widerspricht allein schon die gängige historische Fundierung der westlichen Philosophie.
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caults Blick zerstückelt – denn dies ist die inhaltliche Wirkung seines gegen die Identitätsmechanismen der Moderne gerichteten epistemologischen Instrumentariums. Aber ist ein solcher Fall streng genommen überhaupt möglich? Denn dann wären es keine Anderen, sondern eigentlich ohnehin die Moderne, die er treffen würde. In gewisser Weise wäre hier aber doch eine – wenn auch sehr anders gelagerte – Bevormundung Anderer ähnlich Habermas zu sehen. Selbst wenn Foucault durch eine methodische, das heißt, durch die Methode gegebene, Zerschlagung andere wie eigene unilineare, historische und individuelle Identitäten konterkariert, so unterwirft er sie nicht dem Spiel von wahr/falsch. Daher ist das Subjekt der Moderne vielleicht weniger eine verbotene als eine bittere Frucht, sofern Foucaults Diagnose lautet: Subjektivierung ist Subjektbildung (subjectivizing, Innenlenkung) durch Unterwerfung (subjection, Außenlenkung).74 Ebenso wie Foucault die Subjektivierung durch wissenschaftliche Diskurse als Technologie der Macht identifiziert, die neue Individuen hervorbringt, nämlich die kriminelle Persönlichkeit, die hysterische Frau, den kranken Homosexuellen, könnte zum Beispiel – so Urla – in der Anthropologie die Subjektivierung in Verbindung mit Kolonialismus, mit Christianisierung, mit dem Homo oeconomicus auf ihre Machtwirkungen untersucht werden.75 Daher macht es die Tatsache, dass gerade mit Foucaults späteren Analysen gedacht die Subjektivation sich nicht in einer gleich bleibenden Figuration äußert, sondern für Veränderungen offen ist, der Anthropologie noch leichter, Foucault in diese Disziplin zu integrieren. Und die verschiedenen Modi des Selbstbezugs könnten etwa für die Reflexion von zukünftigen Differenzen in multiplen Modernen anregend sein.
K ULTURELLE K REATIVITÄT
IM GLOBALEN
AUSTAUSCH
Hat sich der vorige Abschnitt mit der Zerstreuung der Alleinansprüche des modernen Subjekts und der Problematik beschäftigt, inwiefern sich der Widerstand gegen dessen Ausschlussmechanismen ohne Rekurs auf diese Figur äußern kann, so führt dies nun weiter zu Fragen nach den Implikationen von Foucaults Pluralisierungsdenken. Hierbei spielen die im sechsten Kapitel aufgewiesenen Aspekte der strategischen Positionierung von Foucaults ethnologisch-kritischer Veränderung der Moderne eine große Rolle. Der an die Differenzierung geknüpfte Versuch von Foucault, andere kulturelle Positionen nicht mehr der westlichen 74 Vgl. Link (2004: 23) mit Berufung auf Riesman. 75 Vgl. Urla 1988: 389f.
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Moderne anzugleichen, ist in seinen Auswirkungen kaum überzubewerten. Auch die Auflösung von substantiellen Great Divides in mehrpolige Distinktionscluster ist ein ausgesprochen folgenreicher Vorgang, wo Foucault mit Anliegen der Sozial- und Kulturanthropologie konform geht, die diese besonders über die Fachgrenzen hinaus vertritt. Und sehr bedeutsam ist sicherlich, dass Foucault seine Vervielfältigung in keiner Weise an eine Entwicklungsachse bindet und für die Veränderung auf Reaktualisierung und Rekombination angesichts von Transformationen des Außen-Kontexts baut. Foucault ersetzt die evolutive Subjektgeschichte weder durch Partikularismen noch durch Multilinearitäten, sondern durch eine Perspektive, die in ein Feld einzuordnen wäre, das sich von polythetischen Systemen in der Biologie, aber auch Anthropologie bis zur der Familienähnlichkeit bei Wittgenstein sowie etwa der Redefinition des Kulturbegriffs, wie sie Brumann entwirft, spannt.76 Ein solcher Zugang lässt sich auch unmittelbar mit dem Ansatz von Saussure, der schon mehrfach als Bezugsrahmen für Foucaults Blickpunkt diente, assoziieren. Und dabei geht es nicht nur um die Existenz von Vielfalt, sondern insbesondere die kulturelle Kreativität, also den Vorgang der Artikulation. Saussure sieht zwar Sprachen einerseits als multilineare Divergenzentwicklungen von gemeinsamen Ausgangspunkten, betont jedoch zugleich, dass es ständige Überkreuzungen gibt und die Sprachen sich nicht scharf trennen lassen. Der diachrone Ablauf der Sprachbildung zeigt sich grundsätzlich als Differenzierung.77 Dabei ist der heute wichtige Gedanke der Gegenwärtigkeit bei Saussure explizit formuliert: „Wenn zwei verschiedene sprachliche Erscheinungen b und c vorliegen, so hat niemals ein Übergang von b zu c oder umgekehrt stattgefunden. Sondern um die Entwicklung von der Einheit zur Verschiedenheit zu erkennen, muß man auf ein ursprüngliches a zurückgehen [...].“78
Folglich ist ein Evolutionismus, wo andere Kulturen frühere Stufen der eigenen darstellen, von Saussure her ausgeschlossen. Allerdings hält er fest, dass in einer Sprache einzelne Bereiche konservativer ‚a‘ stärker gleichen können als in einer anderen Sprache mit demselben Ausgangspunkt. Die Differenzierung selbst verläuft über die weitgehend freie Kombination verschiedener Achsen der Diffe76 Vgl. z.B. Needham (1975), Wittgenstein (1995, Untersuchungen: 67), Brumann (1999). 77 Vgl. Saussure 2001: 238. 78 Saussure 2001: 237.
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renz.79 Daher müssen sich Sprachuntersuchungen entweder an einem einzelnen Merkmal orientieren oder die Suche und Untersuchung sprachlicher Einheitlichkeit muss das Partikulare fokussieren. Einheitlichkeiten gibt es nur als mehr oder minder große Schnittmengen, die räumlich in kleinen Abstufungen verlaufen – es sei denn, außersprachliche Mechanismen wie Staatsgrenzen, schriftsprachliche Vereinheitlichung oder Ähnliches ziehen scharfe Grenzen, welche die Vielfalt und den Austausch, die Überkreuzungen verhindern.80 Denn die Übernahme von Neuem aus einem anderen Kontext ist ein zentrales Moment der Dynamik und zugleich Vereinheitlichung, sodass Gemeinsamkeiten auch zwischen verwandten Sprachen nicht auf deren gemeinsamen Ursprung verweisen, sondern prinzipiell als im Moment bestehende, vielleicht erst kürzlich entstandene ‚Verwandtschaften‘ zu betrachten sind.81 Saussure nennt drei Mechanismen der Neuerung in der Sprache, die sich direkt auf die Auseinandersetzung um Historizität und Mechanismen kulturellen Wandels umlegen lassen: Analogie und Agglutination sowie Volksetymologie. Auffällig ist die Bewertung der Volksetymologie: „Die Volksetymologie ist eine pathologische Erscheinung.“82 Dies ist interessant, weil es Saussure nicht darum geht, dass dabei ‚Fehler‘ gemacht werden, denn an anderer Stelle bekennt er sich ausdrücklich dazu, dass es keine ‚Richtigkeit‘ in der Sprache gibt, sondern immer das jeweilige Verständnis gültig ist. Und das Urteil kann umso mehr erstaunen, weil in der Volksetymologie aus sprachwissenschaftlicher Sicht ja die Arbitrarität der beiden Seiten des Zeichens besonders deutlich wird – was also Saussures Ansatz entspricht. Saussure selbst begründet sein Verdikt nicht weiter. Man kann aber schlussfolgern, ihn irritiert, dass mit der Volksetymologie zumeist bewusst eine Achse zeitlicher Identität zum Ausdruck gebracht wird. Denn einem Wort respektive Lautbild, das den Sprechenden in seiner diachronen Herleitung unverständlich (geworden) ist, geben diese im Zuge einer rückblickenden relativen Motivierung, die auf die Erinnerung setzt, einen Sinn, welcher der nun damit verbundenen Vorstellung entspricht – sie substantialisieren also. Analogie und Agglutination hingegen stützen sich nicht auf zeitliche Tiefe, sondern verändern das System, indem sie im ständigen Spiel zwischen Auflösung und Kohärenz immer wieder Regelmäßigkeiten aufbauen – die Agglutination durch syntagmatische Zusammenfassungen, die Analogie in der Flexion durch paradigmatische Übertragungen. Hier wird wiederum augenfällig, welcher
79 80 81 82
Vgl. Saussure 2001: 239. Vgl. Saussure 2001: 241. Vgl. Saussure 2001: 254. Saussure 2001: 210.
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Unterschied zur Volksetymologie besteht: „Die Analogie bezieht nichts von der Substanz der Zeichen, die sie ersetzt.“83 Und zum Vorgang der Agglutination erklärt Saussure: „Ich sage Vorgang und nicht Verfahren, denn dieses letztere Wort enthält zugleich den Begriff des Willens, einer Absicht, und das Fehlen einer solchen ist gerade der wesentliche Charakter der Agglutination.“84 Hiermit sind also Artikulationsmechanismen beschrieben, denen Foucaults Ansatz deutlich korrespondiert. Ausgesprochen augenfällig wird dies auch, wenn Saussure die Herkunft von Neuerungen folgendermaßen umreißt: „Aber auf eines kommt es dem Sprachforscher besonders an: in der ungeheuren Menge der analogischen Erscheinungen, welche einige Jahrhunderte der Entwicklung darbieten, finden sich fast alle Elemente erhalten; sie sind nur auf andere Weise verteilt. [...] Die überwiegende Mehrzahl der Wörter sind auf die eine oder andere Weise neue Kombinationen von Lautbestandteilen, die von älteren Formen losgerissen wurden.“85
Die Festlegung diachronischer Einheiten ist demgemäß nach Saussure problematisch. Denn es ist nicht so, dass synchron bestimmbare Einheiten sich konsistent, über die Zeit hinweg bestehend, verändern. Vielmehr kommt es auf Seiten des sprachlichen Ausdrucks zu Spaltungen und umgekehrt zum Verschmelzen von Elementen mehrerer Einheiten; vor allem aber verändern sich natürlich auch die Vorstellungen, also die Inhalte der Sprache.86 Dazu gehört ebenfalls, dass Saussure es nicht nur ablehnt, in der Sprache etwas Organisches zu sehen, das das Gesetz seiner Entwicklung in sich trägt – eine Ablehnung, die allgemein gegeben sei, wie er sagt –, sondern er will diesen Gedanken darüber hinaus in jener Variante verneinen, die annimmt, dass „der ‚Geist‘ eines Volkes ständig bestrebt sei, die Sprache in gewisse festgelegte Bahnen zu lenken“87. Auch eine solche Identitätsentwicklung hintergeht Saussure also expressis verbis. Foucault seinerseits unterscheidet in Was ist ein Autor zwischen der von ihm dezidiert abgelehnten „Rückkehr zum Ursprung“ zum einen und Phänomenen der „Wiederentdeckung“ und der „Reaktualisierung“ zum anderen – und letztere scheint er zu akzeptieren.88 Die Wiederentdeckung definiert Foucault als „Analogie- oder Isomorphieeffekte [...], die ausgehend von aktuellen Formen des Wissens eine Figur sichtbar werden lassen, die verschwommen oder verschwun-
83 84 85 86 87 88
Saussure 2001: 210. Saussure 2001: 211. Saussure 2001: 205. Vgl. Saussure 2001: 214f. Saussure 2001: 279. Was ist ein Autor [1969]: 1025.
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den war“ – eine solche Figur ist allerdings erst von der Gegenwart her begründbar, „denn diese enthält deren Konstruktionsgesetz“; Reaktualisierung ist hingegen „die Wiedereingliederung eines Diskurses in einen Bereich der Verallgemeinerung, der Anwendung oder der Transformation, die ihm neu ist“.89 Der soeben in Engführung mit Saussure charakterisierte Modus der Artikulation kann sich allerdings dem Zweifel ausgesetzt sehen, ob die historische Inkonsistenz der Einheiten im Gegensatz zur Moderne nicht einige Unwägbarkeiten birgt. Foucault sagt zur Identität der Aussage: „Jede Aussage wird so spezifiziert: es gibt keine Aussage im allgemeinen, keine freie, neutrale und unabhängige Aussage [...]. [...] Ganz allgemein kann man sagen, daß eine Sequenz von sprachlichen Elementen eine Aussage nur dann ist, wenn sie in ein Aussagefeld eingetaucht ist, wo sie dann als ein besonderes Element erscheint.“90
Und mit Streit lässt sich feststellen: „Deshalb ist für die ‚Aussage‘ wie für das sprachliche Zeichen ‚Bedeutung‘ prozessual gedacht; es geht stets um ihr Erstellen.“91 Damit ergibt sich aber für die Rekombination die Unsicherheit, worin die Konsistenz eines in der Rekombination neu integrierten Elements besteht. Noch klarer wird die Problematik bei Saussures Antwort auf die Frage nach der Existenz eines Elements: „[W]enn man es außerhalb der gesprochenen Reihe und der Zeit nimmt, so ist es nur mehr eine Sache, die keine eigentliche Existenz hat.“92 Wenn aber ein Element nur in der Differenz existiert, wie kann man dann vom selben Element in der Rekombination sprechen, ohne dem Element eine Eigenexistenz zuzuschreiben? Vielleicht löst sich diese Frage, indem man ein Element als Schnittpunkt verschiedener differentieller Kontexte versteht, also als die Summe verschiedener Differenzspiele. Wechselt es einen Kontext, ist seine Konsistenz durch den Fortbestand anderer Kontexte gegeben, in denen es zunächst weiterhin dieselbe Position einnimmt. Da diese Kontexte sowohl ökonomisch, sozial, wie auch rein linguistisch sein können, entspricht dies in gewissem Sinne einer Semiologie nach Saussures Vorschlag – wenn auch in diesem Fall vom Element in seinen verschiedenen Zusammenhängen ausgehend und nicht von der kulturellen Ebene oder dem Dispositiv. 89 90 91 92
Was ist ein Autor [1969]: 1025. Archäologie des Wissens [1969]: 144. Streit 1995: 367. Saussure 2001: 62. Jäger (1975: 98) kehrt hervor, dass schon in früheren Phasen und Schriften von Saussure das „Problem der Identität“ eine zentrale Rolle spielt.
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So wäre möglicherweise auch die Perspektive von Laclau und Mouffe zu integrieren, wenn sie sagen, dass der Signifikant einen Bedeutungsüberschuss hat.93 Meinem Verständnis nach ergibt sich dies dadurch respektive trägt dem Umstand Rechnung, dass ein Signifikant nicht nur Element (Wert, Moment) in einem einzigen klar abgegrenzten Diskurs ist, sondern aufgrund offener Grenzen, also einer nicht vollkommenen Innerlichkeit, dies auch immer nach außen ist, „da jeder Knotenpunkt in einer ihn überflutenden Intertextualität konstituiert ist“94: „Die Praxis der Artikulation besteht deshalb in der Konstruktion von Knotenpunkten, die Bedeutung teilweise fixieren. [Herv. i.O.]“95 Steht der Signifikant solchermaßen in mehreren Kontexten, so kann das zwar eine gewisse Konsistenz bei der Rekombination erklären – ganz wie von LéviStrauss für das Zeichen vorgesehen.96 Zugleich taucht damit aber eine Thematik wieder auf, die Saussure mit seinem Zeichenkonzept vermieden hatte. Denn die Elemente wären dann jeweils bereits bedeutungsgeladen und die Zeichenbildung insofern nicht ganz arbiträr (ähnlich dem Hinweis der Postcolonial Studies etwa, dass Migrantinnen und Migranten eine Geschichte repräsentieren, die nicht einfach durch synchrone Re-Signifikation verschwindet).97 Mit solch einem Schritt würde man Foucault von Saussure distanzieren und enger an das ‚Wilde Denken‘ von Lévi-Strauss anbinden. Ob bei Foucault eine solche Mehrwertigkeit von Elementen vorgesehen ist, lässt sich meines Erachtens nicht durchgehend einheitlich beurteilen. Einerseits spricht er in der Archäologie des Wissens von distinkten diskursiven Formationen.98 Andererseits kann es aber sein, dass Foucault diesem Aspekt durch die Genealogie gerecht wird.99 Dass er die Genealogie mitunter sehr deutlich an Nietzsche bindet, sollte eine solche Sicht nicht verhin93 94 95 96 97
Vgl. Laclau; Mouffe 2000: 149. Laclau; Mouffe 2000: 151. Laclau; Mouffe 2000: 151. Vgl. Lévi-Strauss 1973: 31ff. Tatsächlich schreiben Laclau und Mouffe (2000: 151f.): „Notwendigkeit existiert deshalb nicht in der Form eines zugrundeliegenden Prinzips, eines Grundes, sondern als ein Versuch der Verbuchstäblichung, der die Differenzen eines relationalen Systems fixiert.“ 98 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 186. 99 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 186. Dreyfus und Rabinow (1994: 80) betonen Foucaults „archäologischen Holismus“ – freilich ohne diese Position mit Saussure in Verbindung zu bringen – und sehen dies als eine noch über den holistischen Strukturalismus hinausgehende Radikalisierung des Kontextualismus. Wenn Foucault tatsächlich die Mehrwertigkeit von Elementen, zumal in der Genealogie, miteinbezieht, dann wäre er auch gemäß der Kriterien von Dreyfus und Rabinow (wieder) dem Wilden Denken des Strukturalismus näher gerückt.
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dern. Sowohl die Beschreibung der Forschungsperspektiven in der Ordnung des Diskurses als auch in Nietzsche, die Genealogie, die Historie etwa spricht von den jeweils momentan eine kulturelle Positivität bildenden und definierenden Kräfteverhältnissen. Die Fragestellung richtet sich zum anderen aber auch an die Herkunft der Forschungsobjekte als Aufspüren ihrer unterschiedlichen, sich darin kreuzenden Elemente oder Aspekte – vielleicht also nicht nur diachron im Sinn von ‚Vorläufer‘, sondern auch von ‚Überläufer‘ aus anderen Kontexten der differentiellen Praxis zu verstehen.100 Genealogie und Archäologie in ihrem Verhältnis zueinander solcherart anzusiedeln, würde zumindest eine weitere Unwägbarkeit lösen. Die Genealogie erscheint nämlich bei Foucault und auch in der Sekundärliteratur bald als diachrone Herkunftsanalyse, bald als Rückbezug diskursiver Gegebenheiten auf nichtdiskursive Praktiken.101 Angesichts der hier erwogenen Einordnung der Genealogie ließe sich für beides lesen: ‚andere Zwecke‘, das heißt andere Spiele der Differenz, die dem Element eine gewisse genealogische Konsistenz vor der Rekombination im nun archäologisch gegenständlichen Differenzierungskontext verleihen. Auf diese Weise wird also ein Einbahn-Denken, wie es logischerweise der unilinearen Subjektgeschichte eigen ist, mit Foucaults ethnologischem Blick durch eine in alle Richtungen offene Beweglichkeit bei der Artikulation neuer kultureller Tatbestände abgelöst. Die Kreativität durch produktive Differenzierung operiert dabei mit einem Fundus an Alternativen, die mit der Praxis der Rekombination respektive Rekontextualisierung ihren Wert ständig verändern, folglich nicht substantialisiert sind, durch die Mehrdimensionalität des Kontexts aber vielleicht eine gewisse Stabilität haben. So gesehen ist Vielfalt ein notwendiger Existenzmodus auf allen Stufen sozialer Einheiten – vom Individuum bis zum weltweiten kommunikativen Zusammenhang. Damit ist eine Einschätzung wie die folgende kaum vereinbar: „[Foucault’s work does not] account for the possibility of otherness, the difference so central in the production of hybridity in talk. Bakhtin’s work on the self as other, the self as multiple and in process and addressivity is needed to account for such a subject constituted in talk-in-interaction.“102 100 Vgl. Die Ordnung des Diskurses ([1971]: 41f.) und Nietzsche, die Genealogie, die Historie ([1971]: 171ff.). 101 Vgl. etwa zum einen Daniel (2001: 169), zum anderen Bublitz (2003: 38). Vgl. auch Foucault in Der Gebrauch der Lüste ([1984]: 19). 102 Tate 2007: Abs. 41. Im Gegenteil wäre es interessant, der Ähnlichkeit zwischen Foucault und Bakhtin genauer nachzuspüren.
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Der in meiner Analyse aufscheinende Stellenwert des Anderen bei Foucault zeigt vielmehr die Ähnlichkeit zwischen Foucault und Bakhtin. Hinsichtlich des im Zitat angesprochenen multiplen Subjekts etwa sei hier nur an Foucaults Zugang in Nietzsche, die Genealogie, die Historie erinnert, wo er genau solch eine Konzeption nahe legt.103 Die für Foucault wie offenbar Bakhtin charakteristische Betrachtungsweise impliziert eine Instabilität von Kultur, die folglich auch die Einführung anderer Konzepte für die Repräsentation der Entstehung neuer kultureller Phänomene erfordert. Tatsächlich sind in gegenwärtigen Ansätzen der Anthropologie, aber auch der Sozial- und Kulturwissenschaften allgemeiner – und zwar besonders im Zusammenhang mit der Globalisierungsdebatte – Perspektiven wichtig geworden, die auf der Linie von Foucaults Arbeit an der Durchsetzung des Wilden Denkens liegen. Kreolisierung, Métissage, Hybridisierung, Transkulturation, Branchement, Reterritorialisierung – all diese und ähnliche Begriffe treten der Historizität moderner Eigenentwicklung, wo Kulturen in ihrer lokal gebundenen Eigenlogik wahrgenommen werden, entgegen.104 Die genannten Konzepte haben als gemeinsame Idee – ganz wie Foucaults Veränderungs- und Artikulationsmodalität –, dass Neues nicht aus Bestehendem von sich heraus erwächst. Damit tritt auch hier unhinterfragter Weiterentwicklung die Überlegung entgegen, wie aus der Rekombination oder der Resituierung anderen Kontexten entstammender Elemente Neues hervorgeht. Sie verweisen darauf, dass diese Prozesse und diese Interdependenz und Beweglichkeit von Kultur überall am Werk sind und vielleicht auch immer waren – und dass wesentlich hierin der kreative Prozess kultureller Neuerung liegt. Unterschiedlich wird die Rekontextualisierung, also die transformative Relevanz der Synthese beurteilt: Bei Métissage und Hybridisierung zum Beispiel bleiben die kombinierten Elemente noch erkennbar distinkt. Daher wird, zumal bei mehrfachen Rekombinationsvorgängen, die Konsistenz des Elements unterstrichen. Eventuell kann sich so die Frage nach dem ursprünglichen Entstehungspunkt ergeben. Der primäre Herkunftskontext einzelner Elemente wäre also möglicherweise letztlich nicht ganz irrelevant. Das aus mehreren Elementen zusammengesetzte Phänomen hingegen hat folglich erkennbar eine Mehrzahl von Herkunftspunkten und ist Schnittpunkt verschiedener Kontexte. Mit Fou-
103 Vgl. Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971]: 172. 104 Vgl. zu den Konzepten die entsprechenden Stichworteinträge in Kreff; Knoll; Gingrich (Hg.) (2011).
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cault gesprochen wird hier auf die Genealogie Bezug genommen. Demgegenüber werden bei der Kreolisierung die konstitutiven Elemente derart miteinander verschmolzen, dass sich etwas umfassend Neues daraus ergibt. Dies entspricht eher dem ausschließlich archäologischen Blick bei Foucault. Jedes authentische Phänomen kann damit auch als Produkt einer Kreolisierung betrachtet werden, während bei der Métissage entweder alle Phänomene erkennbar aus Teilelementen anderer Kontexte bestehen oder aber unterschieden werden muss zwischen zusammengesetzten und einheitlichen Phänomenen – einheitlich infolge einer anderen Entstehungsform oder eines weiteren Integrationsprozesses noch nach dem ersten Verknüpfungsschritt der Métissage. In jedem Fall aber sind es, wie Foucault sagt, „stets relative Anfänge [...], eher Einführungen oder Transformationen als Fundamente und Grundlegungen“105. Für die Relevanz der Anthropologie in der Wissensgesellschaft maßgebend ist, dass offensichtlich diese Begriffe gleich Foucaults Ethnologie eher dem Modell der Bricolage als dem der autoritativen creatio ex nihilo oder auch der Entfaltung eines historischen Subjekts folgen.106 Sie haben daher Ähnlichkeiten mit der gemeinschaftlichen Wissensproduktion, wie sie häufig in traditionellen Gesellschaften gesehen wird. Politisch besonders revolutionär sind diese kreativen Modi dann, wenn sie nicht nur die Entstehung von Neuem bei den Anderen reflektieren und somit eine Great Divide weiterführen, sondern wenn sie in einer globalisierten Welt auch im Westen Geltung haben.107 Zugleich reflektiert dies, wie in der Globalisierung Zentrum und Peripherie verschwimmen beziehungsweise auch Charakteristika der Peripherie sich globalisieren können – zumindest in einer Form, die in Ansätzen der Anthropologie und einer Foucault entsprechenden Ethnologie formuliert wurde. Als Beispiel für den Gleichklang zwischen einer in der Anthropologie beschriebenen Epistemologie und jener von Foucault kann nochmals die Argumentation des Perspektivismus dienen. Dieser ontologische Zugang wurde im Abschnitt zum Stellenwert der Anderen bei Habermas schon kursorisch als eine Alternative zur Moderne ins Spiel gebracht. Im gegenständlichen Zusammenhang ist nun interessant, dass tatsächlich auch der konkret am Denken südamerikanischer Indianer orientierte Perspektivismus als Modus der Veränderung primär
105 Michel Foucault erklärt sein jüngstes Buch [1969]: 981. 106 Vgl. zum Modus des Bastelns (bricolage) als Rationalitätsform Lévi-Strauss (1973: 11-48). 107 Dies zeigen z.B. die Diskussionen zu ‚Identität‘ bei Eickelpasch und Rademacher (2004). Sie nennen auch Foucaults Ästhetik der Existenz als ein Beispiel für die „Bastelexistenz“ (Eickelpasch; Rademacher 2004: 21-25, bes. 24).
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auf Transformationen im Austausch, also bei der Rekontextualisierung, setzt.108 Auch hier dominiert offenbar nicht Kreation und Invention, denn prinzipiell entsteht alles durch Transformationen von etwas anderem. Kulturgüter sind nicht erfunden, sondern transferiert, sind von Anderen an anderen Orten oder mit anderen Existenzformen gelernt, geschenkt, geborgt oder gestohlen. „The origin and essence of culture is acculturation.“109 – so Viveiros de Castro über die kulturelle Artikulation im Perspektivismus, der bei ihm durchaus den Anspruch hat, eine allgemeine und grundlegende Epistemologie zu sein. „The idea of creation/invention belongs to the paradigm of production [...]. Both are actions in – or rather, upon and against – the world. Production is the imposition of mental design on inert, formless matter. The idea of transformation/transfer belongs to the paradigm of exchange: an exchange event is always the transformation of a prior exchange event. There is no absolute beginning, no absolutely initial act of exchange. Every act is a response: that is, a transformation of an anterior token of the same type. […] In the creation paradigm, production is causally primary; and exchange, its encompassed consequence. […] In the transformation paradigm, exchange is the condition for production […]. Production is a type or mode of exchange, and the means of ‚reexchange‘ […] Production creates; exchange changes.“110
Die kulturelle Kreativität folgt dementsprechend ‚einem Austauschmodell‘: jeder Akt ist eine Reaktion, eine Antwort und impliziert, dass die Anderen ebenso sehr – oder ebenso wenig – Subjekt sind.111 Wenn Viveiros de Castro hier betont, dass sich im Perspektivismus alles um Subjektivierung (subjectification) dreht,112 so macht aber allein schon die soeben nachgezeichnete Form kultureller Kreativität sichtbar, dass damit nicht notwendig die Subjektivierung im Sinne des modernen Identitätsdiskurses gemeint ist. Wie dieser Abschnitt zeigt, lässt sich der bei Foucault unter den Vorzeichen seiner ethnologischen Positionierung verdeutlichte Modus der Artikulation nicht nur vor dem Hintergrund von Saussure und Lévi-Strauss verorten. Auch zu aktuellen Konzepten der Sozial- und Kulturanthropologie, welche den Begriff von kultureller Kreativität und Identität angesichts globaler Zusammenhänge neu 108 Für die Charakterisierung des Perspektivismus beziehe ich mich auf Viveiros de Castro (2004: 477f.). 109 Viveiros de Castro 2004: 477. 110 Viveiros de Castro 2004: 477f. Wie dieses Zitat bereits nahe legt, kann hier auch die Dichotomie Marx/Mauss ins Spiel kommen – so Viveiros de Castro im nächsten Schritt. 111 Vgl. Viveiros de Castro 2004: 477. 112 Vgl. Viveiros de Castro 2004: 477.
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aufrollen wollen, werden grundlegende Ähnlichkeiten erkennbar. Und letztlich erweist sich auch eine große Nähe zu Repräsentationen von indigenem Denken in der Anthropologie, konkret dem Perspektivismus, dessen Reichweite nicht nur lokal begrenzt zu sehen ist. Die angesichts der Überschneidungen mit Lévi-Strauss’ Denken vielleicht nicht überraschende konzeptionelle Nähe zwischen Foucaults Ethnologie und dem Perspektivismus sollte hier nur angedeutet werden – eine genaue Analyse wäre sicherlich interessant und eine eigene Untersuchung wert. So legt auch die Erforschung der konstitutiven Beziehung zwischen Subjekt- und Objektposition im nächsten Abschnitt nahe, dass Foucaults Epistemologie und den Perspektivismus noch weiter gehende Gemeinsamkeiten verbinden. Viveiros de Castro zieht allerdings einen klaren Trennstrich zwischen Perspektivismus und Relativismus, aber auch Konstruktivismus.113 Während ersteres sofort einleuchtet, sofern es dem Perspektivismus anders als dem Relativismus nicht um verschiedene Perspektiven auf ein unabhängig davon existierendes Objekt geht,114 ist der Unterschied zum Konstruktivismus in meinen Augen nicht so evident. Gerade in dieser epistemologischen Frage zeigen sich nämlich zwischen dem Perspektivismus, wie ich ihn bei Viveiros de Castro sehe, und dem Konstruktivismus bei Foucault oder zum Beispiel Butler sowie auch etwa der Situated-KnowledgeDebatte große Parallelen. Vielleicht stärker als der Perspektivismus stellen Foucaults Arbeiten zur Diskussion, inwieweit die archäologische Ebene überhaupt eine Innensicht als Artikulationsinstanz kennt. Zu Beginn dieses Kapitels wurde festgehalten, dass bei Foucault zwar nicht die explizite Selbstrepräsentation im Vordergrund steht, die emische Perspektive der Anderen aber insofern bedeutend ist, als sie mit demselben Realitätswert wie die Moderne diese zu distanzieren erlaubt. Andererseits werden historische Differenzen immer unter bestimmten Vorzeichen, nämlich als Geschichte von Gegenwartsproblemen ausgehend, expliziert. So gesehen ist der Blick äußerlich – und will weniger der Innensicht gerecht werden, als etwa laut Barnard jedem emischen Ansatz notgedrungen konzediert werden muss, wenn gilt: „Analysis, even emic analysis, is the job of the observer.“115 Grundsätzlich meint Barnard:
113 Vgl. Viveiros de Castro 2004: 471f. 114 Der Ausdruck ‚Perspektivismus‘ alleine erscheint mir diesbezüglich nicht ganz durchsichtig. Eindeutiger, wenn auch sperriger, wäre vielleicht ‚relationaler Perspektivismus‘ oder ‚antirepräsentationalistischer Perspektivismus‘ oder eventuell auch ‚relationaler Pluralismus‘. 115 Barnard 1996: 182.
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„A defining feature of the classic emic approach is that ideology or behaviour is studied from ‚within‘ the cultural system. This implies that only one cultural system can be studied at a time [...].“116
Ist eine solche Lokalisierung Definition des emischen Zugangs, so trifft dies auf Foucaults Ethnologie nicht zu, da er im Rahmen der differentiellen Existenz immer zugleich andere Positionen im Auge hat und haben muss. Diese schon mehrfach angeschnittene Spezifität wird nun Thema der abschließenden Überlegungen zur ethnologischen Verortung der Äußerungsinstanz in Foucaults Diskurs.
D IE ARTIKULATION RELATIONAL OBJEKTIVER P OSITIVITÄTEN Die Formation kultureller Tatsachen, wie sie im vorigen Abschnitt herausgearbeitet wurde, bildet einen Mechanismus, der die ständige Existenz von Alternativen impliziert und zudem vermittelt, in welcher Weise die Alternativen in Transformationsprozessen zum Ausdruck kommen und welche Identitätsbildung dies bedingt. In Hinblick auf Bedenken, dass der Poststrukturalismus zwar kulturelle Dualismen der Moderne auflöst, andererseits aber selbst radikale Alteritäten braucht, um die eigenen Gegebenheiten als europäische kulturelle Konstruktionen aufzuweisen,117 ist angesichts dessen eine Veränderung der Rolle von Alterität feststellbar. Die Widersprüchlichkeit wird zumindest gemildert, wenn man einkalkuliert, inwiefern zwischen dem Anderen der Moderne und den poststrukturalistischen Alteritäten eine Transformation und Neupositionierung stattgefunden hat. Während nämlich die Dualismen in der Moderne Voraussetzung waren und ihre Auflösung daher emanzipatorisch wirkt, soll die Alterität nun im Erkenntnisakt erst erarbeitet werden – mit dem Ziel, die Moderne dem über das Andere laufenden Identitätsdiskurs zu entreißen. Die unterschiedlichen kulturellen Positionen stellen so gesehen für die ethnologische Perspektive von Foucault keine radikalen Alteritäten dar. Wie aber lässt sich in Foucaults Diskurs die Äußerungsinstanz charakterisieren? Und welche Rolle kommt dabei kultureller Vielfalt, dem Eigenen und dem Anderen zu? Die ersten beiden Abschnitte dieses Kapitels haben bereits verdeut-
116 Barnard 1996: 182. 117 Vgl. Keesing 1994: 302.
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licht, dass nicht die subjektive, bewusste emische Position zur Sprache kommt, und auch dem autoritativen, seine substantielle Identität allen Widrigkeiten zum Trotz behauptenden Subjekt nicht das Wort überlassen wird. Nun soll die Lokalisierung und Verortung kultureller Positivitäten als Einheiten diskursiver wie nicht-diskursiver Praxis thematisiert werden. Dabei wäre letztlich auch zu überlegen, wie sich die Formation der Äußerungseinheit angesichts der Transformation des modernen Wechselspiels zwischen Subjekt und Objekt der Aussage bei Foucault gestaltet und welchen existenziellen Status infolgedessen der Inhalt der Äußerung hat. Die Frage nach den in Foucaults Diskurs zum Ausdruck kommenden kulturellen Entitäten geht analytisch in zwei Richtungen. Zum einen stehen Verschränkung oder Unabhängigkeit der kulturellen Ebenen untereinander zur Diskussion, zum anderen der Modus kultureller Unterschiede auf den einzelnen Ebenen. Zudem ist die spezifische Kombination dieser Strukturierungsformen für die Definition der Vielfalt sowohl auf der synchronen als auch der diachronen Achse von Bedeutung. Vorweg wäre festzuhalten, dass Foucault ganz selbstverständlich von ‚unserer‘ ‚Kultur‘ spricht – so in deutscher Übersetzung, im französischen Original heißt es im Allgemeinen ‚unsere‘ ‚Zivilisation‘. Die Grenzen dieser epistemischen und zumindest tendenziell ebenfalls sozioökonomischen Einheit scheinen relativ kursorisch konzipiert. Foucault analysiert nämlich die Beziehung etwa zum Orient oder zu den Kolonialgebieten nicht (ideologiekritisch) ausführlicher und er reflektiert kaum, welche ökonomische Relevanz dies hatte. Angesichts dessen bemerkt etwa auch Stoler skeptisch, dass Foucault eine Genealogie des Rassismus mit Europa „as an unproblematic entity“118 bietet. Eine solche Identitätsauffassung ist allerdings einer der grundlegendsten Streitpunkte in der Anthropologie. Entsprechend kritisierte zum Beispiel Wolf die im neunzehnten Jahrhundert wichtig gewordene Idee, einzelne Gesellschaften als in sich geschlossene Systeme zu sehen, die durch die Ausblendung der Ökonomie von Saussure noch verstärkt worden sei: „Selbst die Anthropologie, die sich früher intensiv mit der Frage beschäftigt hat, wie sich bestimmte Kulturmerkmale über die ganze Welt ausgebreitet haben, zerlegt ihren Gegenstand heute in einzelne Fallstudien: Jede Gesellschaft hat ihre eigene Kultur, wird als ein in sich geschlossenes und streng umgrenztes System wahrgenommen, das sich von anderen, ebenso abgezirkelten Systemen abhebt.“119 118 Stoler 1995: 207. Vgl. zu einer Kritik in diese Richtung auch Donham (1998). 119 Wolf 1991: 18. An die Analysen des vorigen Abschnitts anknüpfend sei hier nur kurz
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Diese Rüge gilt für die Sozial- und Kulturanthropologie heute weit weniger, könnte aber auf Foucaults Ethnologie zutreffen. Allerdings behält Foucault die ökonomische Ebene im Auge, wiewohl er ihr in der Epistemologie keinen Vorrang einräumt. Wie im Zusammenhang mit der Materialität der Sprache und der Sprachlichkeit von Foucaults Gegenstand dargestellt, fällt die referentielle Ebene außersprachlicher Tatsachen als maßgebende Instanz weg – ökonomische und soziale Praktiken werden mit diskursiven Praktiken verbunden in ihrer Regelmäßigkeit analysiert. Dennoch schließt dies nicht aus, dass die Transformationen der Episteme sich insgesamt auf sozioökonomische Bedingungen und deren Dynamiken beziehen und vielleicht sogar darauf zurückführen ließen,120 auch wenn die Ebene der Episteme bei Foucault eine gewisse selbstbezügliche Logik zeigt.121 Grundsätzlich aber denkt Foucault entweder alle kulturellen Ebenen zusammen oder er lässt durch die Betonung diachroner Brüche im Bereich der Episteme Spielraum für das Einwirken anderer Ebenen. Foucaults Analysen könnten daher den Anschein isolierter Fallstudien erwecken. Gegebenenfalls gerade deshalb, weil – wie oben für die Archäologie des Wissens gezeigt – seine Positivitäten im Prinzip die Ökonomie mit umfassen können. Wenn Foucault Diskurs oder Dispositiv als Relationssystem untersucht, problematisiert er die Verbindungen der thematisierten Bereiche in Klassik, Renaissance, Antike oder Moderne nach außen also de facto nur selten und sicher nicht systematisch. Andererseits impliziert dies als Regionalisierung der Aussagekraft aber auch, dass Foucault bis auf wenige Ausnahmen seine Diagnosen nicht eurozentrisch verallgemeinert, da er sie ausschließlich auf die „abendländische Geschichte“ münzt.122 Foucaults Rekurs auf den ethnologischen Grenzbegriff könnte somit das Modell unterschiedlicher Kulturen als isolierter Inseln unterstreichen. Nun hat aber spedaran erinnert, dass Saussure Sprachen allerdings nicht als scharf abgegrenzte, geschlossene Systeme betrachtet. 120 Vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 414. Dies differenziert ein wenig, die an sich einleuchtende Aussage von Veyne (2010: 37), dass „Foucault niemals einen wie auch immer gearteten Ursache-Wirkungs-Zusammenhang zwischen den Diskursen und dem Rest der Wirklichkeit konstruiert“ hat. 121 Dies hat Foucault später gelockert: vgl. Archäologie des Wissens ([1969]: 29). Siehe dazu z.B. auch Hacking (1998: 32). 122 Vgl. z.B. Die Geburt der Klinik [1963]: 12. Ganz selten nur lassen sich Aussagen wie die folgende finden: „Aber dieses Verhältnis war niemals wissenschaftlich durchdacht worden, es war in keiner medizinischen Wahrnehmung strukturiert worden; erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts bekommt es eine Gestalt [...]“ (Die Geburt der Klinik [1963]: 168).
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ziell die Anthropologie in den letzten Jahren nicht zuletzt im Zuge der Globalisierungsdebatte nach heftiger Auseinandersetzung um dieses Konzept eine weit gehende Abkehr davon vollzogen. In Anbetracht dessen bündelt sich eine kritische Reflexion des Foucault’schen Begriffs kultureller Positivitäten besonders deutlich in der Einschätzung von Sahlins, der Diskurs gemäß Foucault sei bloß ein Ersatz des ‚Superorganic‘ und anderer Konzeptionen kultureller Totalität wie Paideuma oder der Kultur als Prozess sui generis, die das Individuum und dessen Handlungen determinieren; während also ‚Kultur‘ als reifizierend und essentialisierend abgelehnt werde, floriere der ‚Diskurs‘ als Effekt omnipräsenter Macht.123 Die Feststellung, dass das Individuum fehlt, leuchtet insofern ein, als es sich bei Foucault um die Dezentrierung des ambivalenten humanwissenschaftlichen Subjekts handelt – andere Konzeptionen des Individuums finden sich zumindest in seinen späteren Schriften ja sehr wohl. Foucault wird aber darüberhinaus ähnlich wie Geertz mit einem Partikularismus in Verbindung gebracht, wo Kulturen kohärente, geschlossene Bezugsgrößen sind.124 Warum Sahlins, wenn er Foucault in eine solche Reihe stellt, auffälligerweise nicht auch Lévi-Strauss nennt, bleibt offen. Das kann jedoch die Frage komplizieren, wieweit es berechtigt ist, bei Foucault essentielle kulturelle Einheiten anzusetzen. Geertz freilich hat seinerseits den Strukturalismus abgelehnt, denn er will – so setzt er sich in Gegensatz zum Strukturalismus – die Vorstellung geschlossener, abstrakter Strukturen vermeiden und die Bedeutung der konkreten Handlungen sowie die Vielfalt der perspektivischen Bedeutungen in vielschichtigen Vernetzungen erfassen.125 Geertz distanziert sich also von stringenten formalen Ordnungen und will nur ein Mindestmaß an Kohärenz annehmen.126 Was nun den Modus kultureller Unterschiede betrifft, so stehen indes auch bei Foucault die kulturellen Positivitäten kaum für sich. In seinen ersten Arbeiten, besonders in Wahnsinn und Gesellschaft, bietet er unter den Vorzeichen von grundlegenderen Gemeinsamkeiten durchaus eine Öffnung des fokussierten kulturellen Gefüges auf äußere Bezugspunkte hin. In diesem Text verbinden Identitäten und kontrastierende Befunde die Untersuchungen für Frankreich etwa mit Angaben zu Großbritannien und Deutschland. Zudem rekurriert Foucault – wenn auch eher peripher – auf die determinierende Rolle des arabischen Denkens und seiner (institutionalisierten) Praktiken in der Medizin oder auf das auch ökonomisch motivierte Wechselspiel zwischen der Internierung von bestimmten Be-
123 124 125 126
Vgl. Sahlins 2002: 61f. Zu Geertz vgl. z.B. Gaillard (2004: 338). So bei Fuchs; Berg (1993: 47) und vgl. z.B. auch Geertz (1987: 29). Vgl. Geertz 1987: 26.
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völkerungsgruppen und deren Verschickung in die Kolonien.127 In Überwachen und Strafen wiederum beschränkt Foucault seine Diagnose ausdrücklich auf Frankreich.128 Gleichwohl finden sich größere Passagen, wo er vergleichend auf die Situation in Großbritannien, den USA, Italien oder Österreich eingeht.129 Der gelegentliche Verweis auf äußere Verhältnisse seiner primären Bezugsgrößen erweitert Foucaults Horizont in diese Richtung aber nicht maßgeblich. Allerdings ist es in den späteren Arbeiten explizit sein Vorhaben, dynamische und offene Multiplizitäten zu sehen. Damit verbunden ist unter anderem die Verortung der Macht in Kräfteverhältnissen, die durch ereignishaft auftretende – auch widerständig einsetzbare – (diskursive) Praktiken immer in Bewegung gehalten werden. Zudem geht Foucault grundsätzlich davon aus, dass die von ihm gewählte Thematik in einem Kontext steht. Fallweise geht er auf die Frage, wie dieser Kontext bestimmt ist,130 explizit ein. In diesem Sinn führt er in Überwachen und Strafen zum Beispiel nicht nur die Ökonomie, sondern auch Religion und politische Lage an, welche als die „allgemeinen und gewissermaßen äußeren Gründe“131 einen Existenzrahmen für das bilden, was Foucault in seinem systematischen Wirken und Zusammenwirken (etwa Macht/Wissen) beleuchtet. Trotzdem vermitteln auch Überwachen und Strafen und die Bände zu Sexualität und Wahrheit oft das Bild umfassend strukturierender produktiver Beziehungen. Honneth betont den Gedanken der Funktion bei Foucault und kommt so zur Definition der Praxis als zweckrationaler Operationen eines unter Funktionsimperativen sich selbst erhaltenden Systems.132 Das gilt etwa für die Biopolitik respektive die Biomacht, die als Gefüge von Differenzen wirkt, aber die Disziplinargesellschaft dennoch im Rahmen breiter historischer Prozesse auf allen kulturellen 127 128 129 130
Vgl. Wahnsinn und Gesellschaft [1961]: 110, 415f. Vgl. Überwachen und Strafen [1975]: 43. Vgl. etwa Überwachen und Strafen [1975]: 155ff. Vgl. zur Kritik, dass bei kontextualistischen Ansätzen oft unklar ist, „wodurch überhaupt der Kontext als Kontext bestimmt wird“ Singer (2005: 100). 131 Überwachen und Strafen [1975]: 72, sowie vgl. auch 279-293. 132 Vgl. Honneth (1989: 161), dessen Einschätzung vom Aspekt der Funktion her vor allem für Foucaults spätere Arbeiten zur Macht zunehmend plausibel ist; und dazu auch Biebricher (2005: 136). Auf „Foucaults Funktionalismus“ wird also immer wieder hingewiesen – etwa ebenfalls von Brenner (1994). Und Brenner (1994: 682) meint schon für die Archäologie: „The purpose of this ‚archeological‘ method might be understood as a functional analysis of discourse [...].“ Offenbar nannte zuerst Deleuze die Methode von Foucault einen ‚neuen Funktionalismus‘ (vgl. Brenner 1994: 680); neu sei der Funktionalismus, da die ahistorische Sichtweise des Funktionalismus dann durch einen Nietzscheanischen Blick auf die Geschichte als Spiel zufälliger Konflikte ersetzt wird.
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Ebenen bestimmt. Oder es kombiniert und addiert sich eine Mehrzahl ähnlicher Beziehungslogiken – wie dies besonders der strategische Aufbau der beiden letzten Bücher zum Selbstbezug zeigt. So gesehen bleibt Foucaults Standpunkt hinsichtlich der Abgrenzung seiner Einheiten kultureller Äußerung nicht klar abwägbar, was weiterhin den Vorwurf allzu monolithischer Formationen unterstützen könnte. Die soeben für Foucault skizzierte Problematik führt generell häufig zu der von Wolf in Anschlag gebrachten Warnung: „Unsere Menschenwelt stellt sich als eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse dar, und Untersuchungen, die diese Totalität zerstückeln, ohne sie wieder zusammenzusetzen, verfälschen die Realität. Begriffe wie ‚Nation‘, ‚Gesellschaft‘ oder ‚Kultur‘ sind lediglich Bezeichnungen für einzelne Bruchstücke und laufen Gefahr, für die Sache selbst genommen zu werden.“133
Aus diesem Zitat sprechen Bedenken, soziale Einheiten in der wissenschaftlichen Analyse zu substantialisieren, und dabei käme Grenzziehungen eine wesentliche, die ‚Realität verfälschende‘ negative Rolle zu. Die nun anschließenden Überlegungen sollen zeigen, welchen Status die Grenze bei Foucault hat. Dies verdeutlicht auch die Charakteristik der ethnologischen Verortung von Foucault den soeben vorgebrachten Einwand betreffend. Mit Blick auf Foucaults Theorie und Methode beweisen die immer wieder auftauchenden kulturellen Einheiten nämlich nicht unbedingt eine unreflektierte Weiterführung herkömmlicher Identitätsmuster, die noch dazu konträr zu seinen eigenen Vorgaben wäre. Denn Grund dafür, dass es an Grenzziehungen gebundene kulturelle Positivitäten gibt und geben muss, ist Foucaults epistemologischer Ansatz. Und obwohl Foucault keine synthetische Anstrengung unternimmt, diese ‚Bruchstücke‘ wieder zusammenzusetzen, kann er der im obigen Zitat angesprochenen kritischen Implikation auf gewisse Weise entgehen. In Foucaults Ethnologie lässt die Grenze das Abgegrenzte nämlich nicht unverbunden zurück, sondern stellt im Gegenteil die Verbindung dar, die der Substantialisierung widerspricht. Dieser Zugang führt zu zentralen Aspekten, welche die Äußerungsmodalität in Foucaults Strukturalismus kennzeichnen. Sie beziehen sich alle auf die von Foucault mit der Ethnologie verbundene Idee der produktiven Grenze in der Differenzierung. Theoretisch und historisch explizit im Rahmen des Strukturalismus begründet wurde dies in der Ordnung der Dinge, ist aber basal auch für die begriffliche Explikation der Methodologie in der Archäologie des Wissens oder die Programmatik der Ordnung des Diskurses. Angesprochen sind hiermit: die wis133 Wolf 1991: 17.
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senschaftliche Identifikation der Positivitäten, die damit verknüpfte Verortung der Äußerungsinstanz im kulturellen Zusammenhang und die konsequente Konzeption relationaler Objektivität wissenschaftlicher Tatsachen. Die verbleibenden Etappen dieses Abschnitts werden also die Formation der Äußerungsinstanz sowie des Inhalts ihrer Artikulationen thematisieren. In diesem Kontext kommen zum Teil Ergebnisse erneut zum Tragen, die in den vorhergehenden Kapiteln und Abschnitten unter anderen Gesichtspunkten des Foucault’schen Diskurses erarbeitet wurden. Daher bieten diese letzten Schritte der Analyse auch eine gewisse Rekapitulation. Inwiefern Foucault trotz der relativ unhinterfragt für seine Untersuchungen angesetzten Begrenzungen Kulturen nicht essentialisiert und als abgeschlossene Einheiten betrachtet, erscheint zunächst deutlicher, wenn man den Blick auf die Konzeption der Positivitäten im wissenschaftlichen Ansatz wirft. Foucaults Instrumentarium ist grundsätzlich darauf ausgerichtet, diskursive Praktiken in ihrer Vielfalt erscheinen zu lassen: „Wenn ich die Bezüge zum sprechenden Subjekt aufgehoben habe, ging es nicht um die Entdeckung der Konstruktionsgesetze oder der Formen, die von allen Sprechern auf die gleiche Weise angewandt würden, nicht darum, den großen, universalen Diskurs sprechen zu lassen, der allen Menschen einer Epoche gemeinsam wäre. Im Gegenteil handelte es sich darum zu zeigen, worin die Unterschiede bestehen, wie es möglich sei, daß Menschen innerhalb einer diskursiven Praxis von verschiedenen Gegenständen sprechen [...], eine sich widersprechende Wahl treffen; und es handelte sich auch darum zu zeigen, worin die diskursiven Praktiken sich voneinander unterscheiden.“134
Im Kapitel zur Archäologie des Wissens wurde argumentiert, dass Foucaults Diskursanalyse als eine Wissenschaft von den Paroles zu betrachten ist, welche auf die Vielfalt der verwirklichten Paroles und nicht die eine ihnen zugrunde liegende sprachliche Regelmäßigkeit zielt. In der Archäologie findet darüberhinaus eine grundsätzliche Auflösung bisheriger Kohärenzen und vor allem Identitäten statt – und zwar in Konsequenz der Logik der ethnologischen Gegenwissenschaft aus der Ordnung der Dinge, wonach das Subjekt seine Substanz und sein Potential synthetischer Integration verliert. Und die Integrationskraft des Subjekts wird auch nicht auf ein kollektives geschichtliches Subjekt oder eine andere synthetisierende Instanz übertragen. Denn die Einheit von Sinnzusammenhängen im Diskurs ist insofern nicht Foucaults Problem, als sie immer das primär Gegebene ist und sich die Pluralität davon ausgehend und im Bezug darauf entfaltet. 134 Archäologie des Wissens [1969]: 285.
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Foucault beschreibt diese Formationslogik als „Räume der Entzweiung [Herv. i.O.]“135, wo sich alle Positionen in ihrer Differenz gegenseitig konturieren. Die Zusammenhänge sind in den früheren Arbeiten auf der Ebene der Episteme geschlossener, während später Inkohärenzen und Asynchronitäten miteinbezogen werden, die durch den konsequenteren Bezug auf andere Ebenen des Dispositivs bedingt sind. Auch wenn seine Analysen unter Umständen einen anderen Eindruck entstehen lassen – Foucault gibt an, dass er nicht eine Geisteshaltung oder eine durchgängig wirksame Rationalitätsform darstellen wollte.136 Und tatsächlich können Inversionen, innere Alteritäten, Heterotopien und explizite Freiräume immer Teil der Logik sein.137 Allerdings spricht Foucault der Analyse mit dem ‚Archiv einer Kultur‘ neben aller innerer Diversifizierung der ‚allgemeinen Geschichte‘ in der Archäologie des Wissens auch konzeptuell eine umfassende, basale Regularität zu. Und doch beschäftigt er sich nicht ausführlicher damit, diese Außengrenze im synchronen kulturellen Zusammenhang zu präzisieren oder zu problematisieren. So ist auch die Überlegung, dass diese Positivitäten vielleicht in der Relation nach außen als ‚eine vielfältige Totalität miteinander verbundener Prozesse‘ zu durchkreuzen oder zu begründen wären, kein sehr deutlich unterstrichenes Thema. Zu einem gewissen Grad liegt diese Auslassung nahe, da Foucault sich die Differenzierung der historischen Achse vornimmt und deren Identität aufbricht, während er die Einheiten des synchronen Beziehungsgefüges, dessen Regelmäßigkeiten er diachron konturiert, nicht in gleichem Maße kritisch evaluiert. Dadurch bleiben die synchronen Grenzen etwas unscharf. Dies ist folglich weniger ein intrinsischer Aspekt der Theorie als Ausdruck einer Interessenlage. Foucault selbst hat hierzu in einem Kontext Stellung genommen, wo ihm vorgeworfen wurde, kulturellen Grenzen im Raum zu wenig Gewicht zu geben. Der Gesprächspartner hält fest: „De facto geben Sie dem Faktor Zeit den Vorzug und nehmen dafür die Gefahr nebulöser, nomadischer Abgrenzungen oder Verräumlichungen in Kauf. Unsichere Verräumlichungen, die zu dem Bemühen, Abschnitte, Perioden und Zeitalter herauszutrennen, im Kontrast stehen.“138
135 Archäologie des Wissens [1969]: 218. 136 Vgl. Archäologie des Wissens [1969]: 225. 137 Vgl. Von anderen Räumen ([1967]: 935f.); Heterotopien, die allerdings wiederum ganz unterschiedliche Form haben können, bezeichnet Foucault hier sogar als „Konstante aller menschlicher Gruppen“. Zur Heterotopie siehe auch v.a. Chlada (2005). 138 Fragen an Michel Foucault zur Geographie [1976]: 43.
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Foucault antwortet: „Sie rühren da an ein Problem der Methode [...]. [...] Ich [...] lasse eine Art vage, [...] ein wenig nomadisierende Grenze dahinfließen, [...] weil ich sehr oft genötigt bin, um ein französisches Phänomen zu verstehen, mich auf etwas zu beziehen, das sich anderswo abspielt, das in Frankreich kaum deutlich wäre [...]. [...] Ich führe das nicht weiter aus, denn es wäre genauso unangebracht zu behaupten ‚Ich spreche nur über Frankreich‘ wie zu behaupten ‚Ich spreche über ganz Europa‘.“139
Wie diese Erklärung zeigt, verfährt Foucault für die Synchronie grundsätzlich kontextuell differenzierend und substantialisiert somit auch hier nicht. Trotzdem kann man es bedauern, dass er seine Forschungen in diese Richtung nicht weiter ausgedehnt hat. Denn sein Instrumentarium hätte es eigentlich nahe gelegt zu überlegen, ob nicht genau diese synchronen Bezugsgrößen durch die Zerstückelung der Diachronie obsolet werden, und ob nicht gerade dadurch neue Zusammenhänge in den Blick kommen. Hier bietet Foucaults Ansatz meines Erachtens noch einiges an Sprengkraft, die er selbst nicht ausgenutzt hat. Insofern bleibt im Sinne der von Singer formulierten Frage, wodurch sich kulturelle Einheiten gegenüber dem Kontext bestimmen,140 weiterhin diskutabel, wo Foucault seine Analyse der relationalen Differenzierung vorantreibt und welche Einheiten er bestehen lässt – ohne sie konkret aus dem Forschungsmaterial heraus zu bestätigen. Und wie kann Foucault davon absehen, dass manche Regularitäten sich erst herausstellen, wenn nicht nur die Differenzierungen im Inneren, sondern ebenfalls die Relationen nach außen in die Untersuchung miteinbezogen werden – zumal Foucault doch die bewusste Ebene kritisch hintergehen will? Sehr deutlich äußert wiederum Stoler entsprechende Vorbehalte auch für die späteren Arbeiten. Sie argumentiert, „that you could not get from eighteenthto nineteenth-century technologies of sex in Europe without tracking them across colonial ground“141. Dies legt den Einwand nahe, Foucault perpetuiere womöglich durch die Wahl seines Textkorpus wie auch die Konzentration auf die Diachronie Trennungslinien, etwa die Grenze zum Orient, die er sogar explizit zur kritischen Untersuchung vorgeschlagen hat. Indem er den Blick auf die Außengrenzen nicht kritisch schärft, hält er aber zugleich seine Ethnographien ‚unserer Kultur‘ für weitere definierende Relationen nach außen offen – ein dem Strukturalismus entsprechender Umstand. Damit wird er der Problematik des Strukturalismus (und vergleichbarer Revisionen des 139 Fragen an Michel Foucault zur Geographie [1976]: 43. 140 Vgl. Singer 2005: z.B. 100, 232. 141 Stoler 2002: 144.
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Identitätskonzepts) gerecht, dass einerseits das Außen konstitutiv ist, andererseits immer ein Punkt kommt, wo die Kontextualisierung in der Analyse endet oder rekursiv wird. Eine Möglichkeit, dieser grundsätzlich grenzenlosen Bedingtheit Tribut zu zollen, kann daher sein, dass Foucault generell keine (abschließenden) Erklärungen liefert, also letztgültige Begründungen für das SoSein einer Zivilisation de facto überhaupt nicht entwickelt. Und dies ist wiederum verknüpft mit seiner ethnologischen Revision des individuellen und kollektiven historischen Subjekts. Wie bereits im vorigen Kapitel zu sehen war, ist das im Diskurs unartikulierte Außen keinesfalls ohne Relevanz, sondern hat – und zwar gerade für Foucaults Zielvorgabe – eine wichtige Funktion. Die subversive Position des Wahnsinns als Nicht-Sprache oder reines Sein der Sprache und die subversive Kraft der Körper und der Lüste können in der Mechanik des produktiven Kontexts vorausgesetzte Außeninstanzen sein, die historische Brüche und Transformationen bedingen. Geschichte kann damit ein gegenüber dem System kontingentes Ereignis sein. Davon ausgehend stellt Lévi-Strauss fest, bei den ‚geschichtslosen Völkern‘ finde sich Geschichte in ihrer reinsten Form: ohne tieferen Sinn, ohne teleologische Vorgabe als belanglose, alltägliche ‚Geschichten‘ von nichtigen Zwischenfällen.142 Insofern ist die häufig anzutreffende Ansicht zu relativieren, wonach: „[T]he popular image of a ‚structuralist‘ Foucault must be seriously revised once we consider the import and the pervasiveness of the ‚event‘ in his histories.“143 Das Ereignis ist im Gegenteil zentrales Element, nicht nur bei Foucault, sondern auch im Strukturalismus von Lévi-Strauss und seiner Konzeption von Geschichte.144 Lévi-Strauss anerkennt, dass es natürlich immer ein inneres Ungleichgewicht gibt – das hätten schon die Linguisten ganz klar gezeigt. Aber Geschichte beschreibe man, wenn man die Veränderungen aufgrund kontingenter Ereignisse untersucht – und folglich wäre dieser Wandel auch nicht vorhergebahnt. Selbst wenn ein System gleichermaßen wie ein anderes für eine bestimmte Entwicklung bereit ist, findet sie aufgrund anderer äußerer Ereignisse nicht statt. In diesem Sinne betont Lévi-Strauss, er habe gezeigt, dass in Südamerika alle Voraussetzungen für eine Entwicklung hin zu Philosophie, Geometrie und Wissenschaft wie in Griechenland vorhanden waren; aber eine solche Veränderung fand eben spezifisch in Griechenland statt – und warum sollte man sie 142 Vgl. Lévi-Strauss 1973: 281. 143 Flynn 2005: 49. 144 Vgl. dazu Lévi-Strauss; Augé; Godelier 1975.
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andernorts erwarten und vermissen, so argumentiert er sinngemäß gegen Godelier.145 Und mit Bezug darauf behauptet Lévi-Strauss „[...] le véritable historien, c’est moi“146. Entsprechend meint auch Foucault über den Strukturalismus inklusive der strukturalistischen Wissenschaftsgeschichte, zu der er sich hier expressis verbis zählt: „Deshalb glaube ich, dass man gleichwohl im Sinn behalten muss, dass die verschiedenen strukturalistischen Unternehmungen (ob in der Ethnologie, der Linguistik oder der Literatur, und man könnte dasselbe auch [...] von der Geschichte der Wissenschaften behaupten) [...] zunächst einmal stets Versuche waren, sich das Instrument für eine genaue historische Analyse zu schaffen. Allerdings ist anzuerkennen, dass dieses Unternehmen [...] als solches nicht erkannt wurde [...].“147
Nachdem also das historische Subjekt als essentielle Äußerungsinstanz ad acta gelegt werden sollte, sind die Veränderungen in der Diachronie nicht unhinterfragt von innerhalb der untersuchten kulturellen Positivitäten zu erklären und nicht prinzipiell probleminduzierter Neueinsatz. Zudem zeigt sich der Charakter der Bastelei, indem bei aller Brüchigkeit der Diachronie zum Großteil aus anderen Kontexten stammende Bestände rekombiniert werden und nicht autoritativ etwas ganz Neues auftaucht. Foucault hat somit die Kritik an der Geschichtlichkeit der Moderne, die Lévi-Strauss als Implikation des Wilden Denkens vor allem am Ende des Buches andeutet, weiter getrieben und die angesichts dieser Revision entstehende historische Artikulation methodisch ausgearbeitet und begrifflich strukturiert. Zugleich ermöglicht und installiert ein solches ‚Wildes Denken‘, das anders als die Moderne nicht ursprüngliche Diskontinuitäten vereinigen und überwinden will,148 eben jenen Erkenntnisprozess, der vom undifferenzierten Gleichen 145 Vgl. Lévi-Strauss; Augé; Godelier 1975: 180. 146 Lévi-Strauss, Augé, Godelier (1975: 180), eine Stelle, die Flynn (2005: 62) ebenfalls nennt, aber anders auffasst. 147 Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 334. Auch Faubion (2008: 95) rekapituliert, dass „die übliche Geschichte“ „Foucaults zentrale Aufmerksamkeit auf die Geschichtlichkeit des Denkens [...] zu einer Art großer Kluft“ macht, „die ihn und andere Poststrukturalisten trennt von der Lévi-Strauss’schen [...] Unzeitlichkeit“. Faubion (2008: 95f.) distanziert sich von dieser Sicht teilweise, und zwar v.a. mit der Begründung, dass Foucault nicht bei dem einfachen Gegensatz zwischen Geschichte und Struktur stehen bleibt, denn seine Geschichte des Denkens ist mit Strukturen übersättigt. Faubion problematisiert damit aber die Dichotomie Geschichtlichkeit versus Unzeitlichkeit nicht und sieht von Lévi-Strauss’ Selbstdefinition als Historiker ebenso ab wie von Foucaults Bemühen um eine andere Historizität. 148 Vgl. so auch die Charakterisierung der Moderne bei Lévi-Strauss (1973: 303).
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ausgehend durch den synchronen (strukturellen, systemischen) Zusammenhang relational objektive Positivitäten in der Diachronie spezifizierend aufzufächern erlaubt. Und Foucault seinerseits – statt also in der Synchronie den Kontext der Konturierung immer weiter zu ziehen (wie Lévi-Strauss z.B. für Australien) – verfolgt das ‚Wilde Denken‘ in der Diachronie. Dies wäre das hier herauszustreichende Fazit für die Überlegungen zu kulturellen Positivitäten als Äußerungseinheit und auch Äußerungsinstanz bei Foucault. Wenn Laclau und Mouffe die Kritik am Strukturalismus vertreten, dieser Ansatz denke in direktem Anschluss an Saussures Vorgabe, dass Elemente einen rein relationalen Wert im differentiellen System hätten, in geschlossenen Systemen und sei so „zu einer neuen Form des Essentialismus“149 geworden, dann gilt dies zumindest für Foucault meines Erachtens letztlich nicht – obwohl oder gerade weil Parallelen zu Saussure deutlich sind.150 Tatsächlich wäre in Bezug auf die produktive Grenze für die Äußerungseinheit bei Foucault nochmals explizit festzuhalten, dass die kontextuelle Definition ebenso wie die voranschreitende Differenzierung und übergreifende Rekombination Saussure entspricht, der sich ausführlich mit der Frage der Einheiten (von Sprachen) beschäftigt. Und dieser kommt zu dem Ergebnis, dass letztlich Sprachen nie sozial homogen existieren, sondern immer weiter auflösbar sind: „Es gibt so viele Dialekte wie Orte“151 – und schließlich Individuen. Aber auch zwischen den Sprachen gibt es, wie innerhalb der Sprache, keine klar festgelegten oder undurchlässigen Grenzen der Einheit, der Identität. Insofern wäre die Einschätzung begründet, dass Foucaults Ansatz hilfreich sein kann, wenn es darum geht, homogenisierenden Effekten der Identitätspolitik vorzubeugen.152 Hinsichtlich der Formation der Äußerungseinheit bieten sich der wissenschaftlichen Analyse zwei Möglichkeiten: Entweder kann die synchrone Grenzziehung unter einem Oberbegriff nach Außen auf ihre strukturierende Funktion hin verfolgt werden oder es kann von einer Konturierung ausgehend die innere Differenzierung thematisiert werden. Während der erstere Blick eher zeigt, was 149 Laclau; Mouffe 2000: 150. 150 Dieses Verdikt ist nämlich auch für Saussure nochmals zu hinterfragen, wenn dieser – wie Jäger (1975: 109) darlegt – mit Rückgriff auf Ansätze des neunzehnten Jahrhunderts betont, „daß die Sprache nicht dergestalt als ein Organismus aufgefaßt werden dürfe, daß dieser ‚als ein in sich geschlossenes selbständiges Ganzes das Princip seines Lebens, seiner Bewegung und Entwicklung, so wie der Verknüpfung seiner Differenzen zu einer Einheit in sich selbst [Herv. i.O.]‘ trage“. 151 Saussure 2001: 241. 152 Vgl. so etwa Deveaux’ (1994: 240) Urteil über den Stellenwert von Foucault.
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in der Anthropologie oft verschiedene Kulturen bezeichnete, erfasst der zweite dieselbe Entität als Gesellschaft. Dass aber immer beide Blickrichtungen möglich sind, unterläuft die im alleinigen Fokus auf eine Richtung liegende Tendenz zu totalisieren. Der nur auf die innere Strukturierung bezogene Eigenwert und seine Dynamik werden durch das äußere Gegenüber verunsichert, relativiert. Die vom Anderen trennende Identitätslogik wird durch die Vervielfältigung im Inneren fragwürdig. Interventionen der jeweils anderen Differenzierungsperspektive erlauben es, Veränderungen zu motivieren. Dadurch kann Geschichte als eigenständiges Prinzip zurücktreten. Denn in der Konzeption der autoritativen menschlichen Kreativität, wie sie im wissenschaftlichen Denken für die westliche Moderne maßgeblich ist, kommt es durch den damit implizierten ständigen Neueinsatz dauernd zu Brüchen, denen Geschichtlichkeit Zusammenhang und Sinn verleihen muss. Nun aber können die diachronen Konfigurationen wie die synchrone Vielfalt allein unter dem Aspekt unterschiedlicher Formen kultureller Strukturierung gesehen werden. Räumlich und zeitlich Entferntes kann sich nahe kommen, Ähnlichkeiten zeigen; Benachbartes erweist sich in seiner Differenz. Welche Untersuchungseinheit zum Ausdruck kommt, ist im Rahmen dieses Zugangs folglich notwendig kontingent.153 Wie zu sehen war, ist Foucaults Blick dabei insofern wenig originell, als er sich mit herkömmlichen kulturellen Einheiten (dem Westen, der westlichen Zivilisation) zufrieden gibt. Daher könnte man vermissen, dass Foucault die Analyse der Strukturierungen synchron einen Schritt ausgedehnt auf die Präsenz von weiteren konstitutiven Kontexten bezogen hätte, statt nur andeutend etwa auf den Orient in Wahnsinn und Gesellschaft oder die Ars erotica im Willen zum Wissen hinzuweisen. Als theoretischmethodische Operation ausschlaggebend ist jedoch, dass kulturelle Strukturierungen, welche synchron in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis stehen, kontinuierliche, auch dialektische, Historizitäten, die in der Diachronie notgedrungen eine eigene Logik entfalten, unterwandern – und eine solche DeEssentialisierung ist genau Foucaults Ziel. Gemäß Foucault als kulturelle Positivitäten oder Äußerungseinheit und somit auch als Instanz der Enunziation undenkbar sind also homogene Gemeinschaften mit eigenständiger Identität. Denn eine beziehungslose Diskontinuität zwischen Kulturen ist in seiner wissenschaftlichen Repräsentation nicht verankert. Und mit diesem zentralen Punkt benennt Foucault selbst eine Minimalbestimmung strukturaler Perspektiven, wenn er sagt: „und eben darin ist [...]eine Analyse eine strukturale Analyse – [sie] vergleicht [...] zwei Erzählungen allein, um exakt 153 Vgl. z.B. auch Archäologie des Wissens [1969]: 224.
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festzustellen, welches die Unterschiede zwischen den beiden sind“154. Daher entgeht Foucault jedenfalls dem Vorbehalt, wie ihn Singer einem kommunitären Standpunkt, im Speziellen dem von Rorty, gegenüber äußert, dass nämlich dieses Konzept, „weder einen Platz für Ansprüche von outsider-within, die nur peripher im gemeinschaftlichen Wahren sein können, noch von denjenigen, die gänzlich außerhalb eine spezifischen Gemeinschaft stehen“155, hat. Ausgeschlossen ist mit Foucaults Ansatz aber zugleich eigentlich auch die Möglichkeit eines reibungslosen Nebeneinanders – also gewissermaßen die von Foucault in der Archäologie des Wissens abgelehnte Pluralität verschiedener Geschichten –, von dem aus, wenn notwendig oder gewünscht, daran gedacht werden kann, Neukombinationen und Vernetzungen zu erproben. Angesichts der gegenwärtigen Globalisierungsperspektive ist Foucaults Diagnose alles betreffender polyzentrischer Machtformen mit einer Schlagseite in Richtung Gouvernementalität heute sicher besser zu argumentieren, als die Vision, möglichster Unabhängigkeit vom äußeren Kontext, die Freiheit, Beziehungen kappen zu können, oder nicht knüpfen zu müssen.156 Dem Zugang entgegnend könnte man allerdings fragen, ob der Konzeption kultureller Eigenständigkeit etwa im Rahmen der Emanzipation Indigener in der Anthropologie nicht dennoch Raum zukommen soll; ob angesichts der umfassenden Überkreuzungen und Durchdringungen aller Lebensbereiche in der Globalisierung nicht gerade das der Modus für Vielfalt ist, den die hegemoniale Logik der Globalisierung nicht integrieren kann und der diese daher am radikalsten in Frage stellt und unterläuft. Foucaults Ansatz weckt jedoch Zweifel, dass hierbei tatsächlich auf alternative Unabhängigkeiten rekurriert wird, sondern dies im globalen Zusammenhang vielmehr eine neorassistische Logik darstellt, deren Einheitlichkeitsvorstellungen im sozialen Gefüge letztlich die Aufgabe haben, Personen diskriminierend auszuschließen. Es muss im Rahmen der vorliegenden Untersuchung offen bleiben, inwieweit das traditionelle Konzept eigenständiger Identitäten aus der Moderne neu zu bewerten ist und etwa im Bemühen Indigener um Anerkennung möglichst umfassender Autonomie eine
154 Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 338. 155 Singer 2005: 101. 156 Natürlich wäre im strukturalistischen, aber auch im systemtheoretischen Sinn eine nicht bestehende Beziehung auch eine Beziehung. In Hinblick auf Foucaults Wahrnehmung der Diachronie interessant ist vielleicht der Hinweis, dass seine Skizze der hellenistischen Zeit in manchen Aspekten Ähnlichkeiten mit seiner Diagnose der Macht seit der Moderne hat – etwa was die Verschränkung von umfassendem Imperium mit begrenzten lokalen Strukturen betrifft, sodass Foucault (auch hier) von einem Raum spricht, „in dem die Machtzentren vielfältig“ sind (Die Sorge um sich [1984]: 112).
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antihegemoniale Rolle spielen kann. Versuche, dieses Potential auszuloten, gibt es. So bilden sie zum Beispiel im Falle der Diskussionen um Biokolonialismus eine unter mehreren Strategien. Eine Emanzipation vom Konnex mit der negativen Seite der Moderne wird auch davon abhängen, dass die Wiederholung im neuen Kontext mit einer deutlichen Verschiebung der Vorzeichen in Hinblick auf die totalisierenden Tendenzen des Konzepts einhergeht. Für die Anthropologie stellt das Revival einer solchen traditionellen Identität gegenwärtig eines der interessantesten Paradoxa dar.157 Denn es kommt zu einem Zeitpunkt, wo diese Auffassung nach heftiger Diskussion im Fach de facto widerrufen wurde und ein produktiver Prozess des Entwurfs neuer Formen der Definition von Kultur begonnen hat. Was nun die gegenwärtigen Veränderungen des traditionellen Begriffs kultureller Einheiten betrifft, so lassen sich resümierend mit Foucaults ethnologischem Blickwechsel paradigmatische Neuorientierungen verbinden. Die fundamentale Verschiebung der Perspektive in der Anthropologie, wie sie besonders durch die Problematisierung der Globalisierung zum Tragen kam,158 reflektiert im Sinne des Strukturalismus und auch Poststrukturalismus weniger ein Zusammenwachsen, eine Vernetzung, sondern eine relationale Existenz unterschiedlicher Positionen in einem Gesamtkontext. Wie deutlich wurde, sind kulturelle Positivitäten grundsätzlich differentielle Formationen, die keinerlei Substanz außer dieser jeweils momentanen Strukturierung besitzen. Ein gewisses Eigengewicht ist vielleicht durch die Überschneidung mehrerer Kontexte in einem Element denkbar – so das Ergebnis der Überlegungen am Ende des vorigen Abschnitts.159 Die spezielle, bei Foucault in allen Texten ausgesprochen prägnante Auflösung diachroner Identität und Entwicklungslogik verhindert aber jede daran gebundene Idee eines substantiellen Kulturbegriffs. Mechanismen der Öffnung und Veränderung, die oben mit dem Außen, der Verschiebung in der Wiederholung, der Reaktualisierung und Rekombination benannt wurden, erlauben immer synchron wie diachron Heterologien. Der konstitutive Stellenwert innerer Differenzierung spricht darüberhinaus grundsätzlich gegen Einheitlichkeit. Dem entsprechend sind aber 157 Vgl. dazu Kuper 2005. 158 Zu den großen Verschiebungen in der Anthropologie im Zuge der Globalisierungsdebatte siehe ausführlich Kreff (2003). 159 Zwar ergibt sich auch trotz der inneren Pluralisierung ab der Archäologie des Wissens in den späteren Arbeiten, z.B. in Überwachen und Strafen, die soziale Strukturierung grundsätzlich durch wechselseitige Konturierung. Insbesondere in Vom Licht des Krieges scheint die Rekombination in der diachronen Achse allerdings eine gewisse, fast dialektische, negative Eigendynamik zu besitzen.
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auch die Außengrenzen ebenso zu konzipieren. Durch die stets mitgedachten Widersprüche kann bei Foucault ein System daher nie alternativlos und total sein. Vom Prinzip her tendiert diese Perspektive dazu, synchron einen weltweit ausgedehnten kulturellen Gesamtzusammenhang zu sehen, der aus letztlich immer voran zu treibenden kulturellen Unterschieden besteht. Wie bei einem Kippbild kann man aber auch verschiedene kulturelle Ebenen respektive Identitätsaspekte fokussieren und ihre differentielle Verteilung in der Überlagerung betrachten. Intersections, Cross-cutting-ties und Scapes sind hiermit als auch für die Sozial- und Kulturanthropologie wichtiges Thema eingeführt. Eine Anthropologie, die mit dem ‚Superorganischen‘, mit ‚Paideuma‘ oder ‚Prozessen sui generis‘ eine ursprüngliche, selbstbezügliche Identität und autoritative Eigenkreativität bloß kollektiviert oder auf andere Ebenen verschoben weiterführt, ist Foucaults Ethnologie folglich keineswegs. In der strukturellen oder systemischen Logik der Kultur kann diese nie für sich stehen, sondern sie ist immer kontextualisiert und bildet ihrerseits Kontexte. Kulturelle Positivitäten als Äußerungseinheit oder Gegenstand der Forschung sind somit zwar vielfältig, aber definitiv zusammenhängend. Insofern diese Auflösung des geschlossenen Kulturbegriffs in Richtung Postmoderne geht, wäre zu verstehen, wenn Foucault hier als einer gilt, dessen Dekonstruktionen eines konzeptuellen Kulturganzen stärksten Anklang fanden.160 Und es ließe sich eventuell eine Parallele zum Gegenstand in Geertz’ Ansatz ziehen, der in Konsequenz partikular oder partikularisierend nur einzelne, wenn auch vernetzte Aspekte ausmacht.161 Aus beiden Blickwinkeln könnte sich der für den Sinngehalt maßgebliche Kontext immer weiter und letztlich unbegrenzt ausdehnen. Andererseits ist im Auge zu behalten, ob nicht doch gerade die spezifische Selbstreflexivität postmoderner Autorinnen und Autoren der so genannten Writing-Culture zu unüberbrückbarem (allenfalls übersetzbarem) kulturellem Eigensinn tendiert. Daher könnte die zu Beginn des Abschnitts genannte Mahnung von Wolf, Kulturen seien nicht jede für sich als Fallstudie zu verstehen, hier vielleicht gerechtfertigt sein – für Foucaults Artikulation wissenschaftlicher Positivitäten gilt dies jedoch nicht. Einen Schritt weiter zur Frage nach der inhaltlichen Verortung der Äußerung im Blickwechsel zwischen Subjekt- und Objektposition führen einige Schlaglichter auf die Konsequenzen, welche die Formation der Äußerungsinstanz für den Stellenwert unterschiedlicher Standpunkte hat. Wie bereits gesagt, wollte Foucault in 160 So zumindest zum Teil die Sicht in der Sekundärliteratur, vgl. Petermann (2004: 1018ff.). 161 Vgl. Geertz 1996.
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politischen Kämpfen das Wort jene führen lassen, die davon ausgeschlossen sind. Und seinem Paradigma kultureller Positivitäten entsprechend geht es sowohl in diesem Kontext als auch in der wissenschaftlichen Analyse nicht um die Äußerung unabhängig voneinander existierender Weltbilder, sondern vielfältiger Positionen im relationalen Sinnzusammenhang, welcher letztlich unbegrenzt ausgedehnt zu denken ist.162 Damit ist auch wieder die im Vergleich zwischen Foucault und Habermas aufgetauchte Thematik angesprochen, inwiefern Foucault das Problem der Kommunikation und des gemeinsamen Handelns verschiedener Gruppen umgehen kann. Jedes Sprechen, jede Aussage, jeder Diskurs und ebenfalls jede nicht-diskursive Praxis sind notwendig sozial, also auf andere oder anderes bezogen, implizieren also notwendig Kommunikation und gemeinsames Handeln, das allerdings auch Differenzbildungen beinhaltet. Die schlussendliche Aufhebung von Differenzen, wie von Habermas angesetzt, rekurriert auf eine universell akzeptable, wenn auch nicht referentielle Wahrheit. Foucaults Texte hingegen können die Aufgabe erfüllen, Widersprüche aufzuzeigen und Alternativen einsichtig zu machen. Und hierbei erfordern Kommunikation und gemeinsames Handeln nicht unbedingt, dass sich die unterschiedlichen Perspektiven auf eine vorausgesetzte Wahrheit beziehen lassen. Vasilache argumentiert dies so: „Aus der grundsätzlichen Relativität der Wahrheit [...] bei Foucault resultiert aber durchaus kein nihilistischer Gestus. Denn problematisch wäre ein relativer Wahrheitsbegriff nur, wenn man ihm das Ideal einer kontextunabhängigen und originären Wahrheit gegenüberstellte. [...] Gerade aus dem Bewußtsein der Relativität von Wahrheiten folgt [...] die Einsicht in den Geschehenscharakter von Wahrheiten. Wahrheiten sind als relative und veränderbare damit auch untereinander vermittelbar.“163
Zumindest von der prinzipiellen Tendenz her lässt sich demnach für die Kommunikation angesichts von Foucaults Wahrheitskonzeption im Vergleich zu Habermas sagen, dass aus den jeweiligen Vorstellungen von (selbstauferlegter) Beschränkung ein sehr unterschiedliches Konzept von Dialog resultiert – so die Feststellung von Owen.164 Für die Frankfurter Schule heißt dies: „Der Dialog ist hier ein ‚Mittel‘ zum Zweck, nämlich zu dem Zweck, der unverzerrten Sichtweise zum Durchbruch zu verhelfen [...].“165 Daher „wird die Haltung, die man [...] 162 Vgl. Scott (1992: 317, 319), der dies auch an Foucaults Position betont und von Geertz abhebt, welcher als Lösung des Emisch-etisch-Problems angibt, ständig zwischen erfahrungs-nahen und erfahrungs-fernen Konzepten zu kreuzen. 163 Vgl. Vasilache 2003: 131. 164 Vgl. Owen 2003: 142. 165 Owen 2003: 142.
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[im] Dialog einnimmt, die sein, daß man seine unverzerrte Sichtweise gegen die Einwände seiner Gesprächspartner verteidigt“166. Hingegen schlussfolgert Owen für die Perspektive von Foucault: „Glaubt man aber, jemanden von den Beschränkungen eines Bildes zu befreien und ihm ein anderes (ebenfalls begrenztes) nahezubringen, wobei das bloße Nebeneinanderstellen eine befreiende Wirkung erzielen soll, dann wird man dem sich nun anschließenden Dialog gegenüber eine völlig andere Einstellung einnehmen. Man ist nun tatsächlich darauf angewiesen, daß andere ihre konkurrierenden Bilder anbieten, um die Begrenztheit des eigenen Bildes zu sehen und darüber hinaus erkennen zu können, in welcher Hinsicht es die Selbstregierung blockiert.“167
Mit einem solchen epistemologischen Ansatz kann auch die Äußerung von ‚anderem Wissen‘, zum Beispiel historisch zurückliegendem Wissen oder indigenem Wissen, dessen Stellung mit Foucault als ‚unterworfenes Wissen‘168 zu denken wäre, einen völlig anderen Wert bekommen als etwa bei Habermas. „Es geht in der Tat darum, dieses lokale, diskontinuierliche, disqualifizierte, nicht legitimierte Wissen gegen die einheitliche theoretische Instanz [...] antreten zu lassen.“169 Daran knüpft Foucault einen Gutteil seines emanzipatorischen Engagements: Er warnt vor der stets gegenwärtigen Gefahr, dass das unterworfene Wissen mit seinem Auftauchen „rekodiert und rekolonialisiert“ wird, dass es annektiert wird, dass also die alternativen kritischen Diskurse ebenfalls unter einem einheitlichen Diskurs Platz finden könnten170 – so die Befürchtung ganz konträr zu Habermas. Und Foucault treibt die Relevanz und Ebenbürtigkeit noch einen Schritt voran, wenn er des Weiteren meint, dieses Wissen sollte mit dem ‚Wissen der Gelehrsamkeit‘ aus spezifischen Bereichen verbunden werden – woran 166 Owen 2003: 142. Statt ‚unverzerrt‘, womit stärker der Repräsentationsgedanke nahe gelegt wird, könnte es bei gleich bleibender Argumentation hier auch ‚herrschaftsfrei‘ heißen. 167 Owen 2003: 142. 168 Vorlesung vom 7. Januar 1976 ([1976]: 218, 217): hier charakterisiert Foucault dieses ‚unterworfene‘ Wissen als: „nicht-begriffliches Wissen“, „unzureichend ausgearbeitetes Wissen“, „hierarchisch untergeordnetes Wissen“, als „unterhalb [...] der erforderlichen Wissenschaftlichkeit“ disqualifiziertes Wissen, aber auch als historische Inhalte, die wieder auftauchen, nachdem sie „verschüttet, in funktionalen Zusammenhängen oder in formalen Systematisierungen verschleiert“ wurden. Vgl. auch Swazo (2004: 569), der diese Konzeption für die Anthropologie als relevant ansieht. Der genannte Text von Foucault ist auch etwa in Dirks; Eley; Ortner (Hg.) (1994) abgedruckt. 169 Vorlesung vom 7. Januar 1976 [1976]: 219. 170 Vgl. Vorlesung vom 7. Januar 1976 [1976]: 222.
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er auch arbeite. Foucaults Ansatz entspricht insofern einer Richtung der Wissenschaftsforschung, die Singer folgendermaßen umreißt: „Wissenschaftsforschung sollte wegbereitend dafür sein, daß einander ausschließende Wissenssysteme sich gegenseitig in die Quere kommen und sich in Frage stellen.“171 Bei diesem Vorhaben hat Foucault allerdings seinen Untersuchungsraum nicht nur auf die kontroversen Blickpunkte zu einer bestimmten Zeit bezogen oder gar darauf beschränkt. Denn die Kritik läuft über eine Explikation der Voraussetzungen. Und hier kann sich eben auch herausstellen, inwieweit alle Positionen eines spezifischen Machtgefüges – also inklusive des Widerstands – tief greifend auf eine gemeinsame Basis rekurrieren und sie somit naturalisieren.172 Demgegenüber sollen umfassendere Unterschiede im diachronen Differenzierungsprozess die für kritische Diagnosen notwendige Distanz bieten. Der Gedanke, dass auch der jeweilige Widerstand nicht (grundsätzlich genug) außerhalb der herrschenden Logik angesiedelt ist, war ein Grund, Foucault Fatalismus vorzuwerfen. Dies betrifft nicht zuletzt Foucaults spätere Arbeiten, wo die synchronen Kohärenzen zwar etwas gelockert erscheinen, zugleich die Hoffnung auf Veränderung aber nicht mehr wie zuvor von der Radikalität historischer Brüche getragen wird. Entsprechend zweischneidig zeigt sich seine Machtanalyse: Die multipolare Macht bedeutet einerseits eine Streuung, in der gegen die herrschenden Strukturierungen gerichtete kritische Positionen nicht total entmachtet sind. Andererseits gibt es aber auch keinen einzelnen, klar erkennbaren Angriffspunkt mehr – also kann Widerstand sich nicht eindeutig gegenüber Machtoperationen verorten. So weit wie Spivak in ihrem Diktum, dass Subalterne keinen differenten Standpunkt artikulieren können, geht Foucault allerdings nicht. Zu Spivak heißt es bei Gingrich: „Spivak’s influential argument does not open up enough substantial intellectual space for any independent or alternative existence to her postcolonial subjects outside [Herv. i.O.] the powerful gaze of dominant forces and agencies.“173
171 Singer 2005: 242. 172 Widerstand allein wäre also noch kein Garant für Veränderung, da Widerstand zumindest im Sinne vorstellbarer Alternativen immer Teil des Systems ist. So gesehen kann man ihn auch nicht, wie Brenner (1994: 680), schlichtweg als Dysfunktion bezeichnen, denn der Gedanke eines Funktionierens ohne Antagonismus ist in Foucaults Epistemologie gar nicht vorgesehen. 173 Gingrich 2004: 11.
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Obwohl dies gegebenenfalls auch für die differentiellen Positionierungen im Rahmen spezifischer Machtverhältnisse, wie sie Foucault konzipiert, gelten kann, zieht er daraus andere Schlüsse als Spivak: „Es ist richtig, dass die Macht ‚immer schon da‘ ist; dass man niemals ‚draußen‘ steht, dass es keine ‚Randbezirke‘ für die Luftsprünge von denen gibt, die im Gegensatz zur Gesellschaft stehen. Aber das bedeutet nicht, dass man eine unausweichliche Form der Herrschaft oder ein absolutes Privileg des Gesetzes zugeben muss. Dass man niemals ‚außerhalb der Macht‘ sein kann, bedeutet nicht, dass man so oder so in der Falle sitzt.“174
Denn Foucault findet überall unterschiedliche Standpunkte, welche zumindest die herrschenden Kräfteverhältnisse hinterfragen – daher ist es jedenfalls Wert, ausgeschlossenes, ‚unterworfenes‘ Wissen zum Vorschein und zu Gehör zu bringen, die Kräfteverhältnisse zu verschieben und somit den Raum für Veränderung offen zu halten. Wenn hingegen der „mutwilligen epistemischen Gewalt des imperialistischen Projekts [...] Spivak zufolge nicht einfach mit einer Textproduktion aus einer nativistischen Position heraus widerstanden werden“175 kann, so impliziert dies für den politischen Kampf: Es kann gar nicht darum gehen, dass die Subalternen Texte (im weitesten Sinne) verfassen, sich also hörbar äußern. Und folglich können das Sprechen und die Texte dieser Personen nicht ernst genommen werden – weil sie von einer Bevölkerungsgruppe stammen, welche die sie diskriminierende Ideologie nicht angemessen übersteigen kann. Interessanterweise zählt Spivak zur Gruppe der Subalternen aber gerade nicht nur vom Kapitalismus abhängige, unorganisierte, besitzlose Arbeitskräfte. Sondern alle, die sich außerhalb definierter Produktionsverhältnisse und/oder außerhalb von Lohnarbeit bewegen, sind im Feld der Null-Arbeit (zero work)‚ganz unten‘. 176 Subaltern, das sie mit ‚elend und unter kaum lebenswerten Umständen lebend assoziiert‘, sind auch von der Subsistenzwirtschaft lebende Menschen.177 Demzufolge sind diese Menschen nicht deshalb subaltern, weil sie in Anbetracht der Kräfteverhältnisse kein Mitspracherecht haben, sondern weil sie außerhalb von Lohnarbeit stehen – denn das ist ihr primäres Definiens und daran geknüpft ist ihre respektive jede Artikulationsmöglichkeit im Rahmen des Kapitalismus. Meinem Verständnis nach ist dies bei Spivak folglich nicht nur als
174 Mächte und Strategien [1977]: 546. 175 Castro Varela; Dhawan 2005: 72. 176 Vgl. Castro Varela; Dhawan (2005: 70), die explizieren, welche Gruppen Spivak unter dem Begriff der Subalternen als ‚ganz unten‘ zusammenfasst und wie sie diese bewertet. 177 Vgl. Castro Varela; Dhawan 2005: 70.
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Diagnose der tatsächlichen Monopolisierung ‚des Sprechens‘ im Kapitalismus zu verstehen, sondern sie unterstellt sich diesem Monopol, indem sie nur die Eingliederung in die Lohnarbeit als Mittel der Ermächtigung sieht.178 Damit wertet Spivak aber Gruppen, die nicht dem kapitalistischen Wirtschaftssystem eingegliedert sind, notwendig ab. Offenbar erst, wenn diese Gruppen (ohnehin) nicht mehr sind, was sie sind, dann ist ihr ‚Sprechen‘ akzeptabel. Was sie vorher zu sagen haben, kann kein ‚Sprechen‘ sein – ein epistemologischer Aufbau, der in verblüffender Weise dem für Habermas explizierten gleicht. So gesehen stimmt Spivak aber nicht nur der Hegemonie zu, sondern arbeitet auch aktiv an der Vernichtung gerade jener Wirtschaftsformen mit, die potentiell (noch) eine Relativierung des Kapitalismus bedeuten könnten. Damit belegt sie zwar für ihre eigene Perspektive die von Foucault angesprochene Verortung der Kritik im Rahmen der herrschenden Machtverhältnisse, doch kennt Foucault eben auch die Existenz kritischer Alternativen in größerem Rahmen und kann sich darauf rückbeziehen – so die hier aufgezeigte ‚ethnologische Alternative‘. Und selbst wenn die ‚Subalternen‘ auch bei Foucault nicht die befreiende ganz andere Außenperspektive beanspruchen können, so sind es doch diese unterschiedlichen Standpunkte, die das dominante Wissen erst als solches aufzeigen: „Statt die Macht im Blick auf ihre innere Rationalität zu analysieren, möchte ich die Machtbeziehungen über das Wechselspiel gegensätzlicher Strategien untersuchen.“179 Somit läge vielleicht eine Verbindung zur Standpoint-Epistemology nahe. Jedoch teilt Foucault wiederum den Realitätsbezug und epistemologischen Optimismus der Standpunkttheorie nicht. Einerseits will er nicht darauf rekurrieren, dass es eine adäquate Sicht der Gesellschaft geben kann. Zum anderen tendiert die soziale Verortung dieses Blicks zu kulturellem Essentialismus und könnte mit Referenz auf ‚natürliche‘ Unterschiede sogar die Gefahr eines Biologismus bergen. Nachdem die vorangegangenen Überlegungen die konstitutive Rolle der Grenze bei der Äußerung kultureller Positivitäten thematisiert hatten, zeigte zuletzt die Frage nach den Implikationen dieser Verortung der Äußerungsinstanz für den Wert der Artikulation unterschiedlicher Standpunkte im kommunikativen Zusammenhang die Bedeutung, welche der notwendigen Vielfalt an Positionen in 178 Vgl. Castro Varela; Dhawan (2005: 70): zu den Subalternen zählen grundsätzlich auch – zumal indigene – Analphabeten und Analphabetinnen. Ähnlich wie im Falle der Lohnarbeit, wird die Rolle des Alphabetismus offenbar nicht hinterfragt, sondern nur die mangelnde Durchgängigkeit der Alphabetisierung. 179 Subjekt und Macht [1982]: 273.
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Foucaults Arbeiten zukommt. Dass die Identifikation kultureller Positivitäten durch die in der Untersuchung beleuchteten Differenzierungen der Positionen gegeben ist und diese nicht für sich bestehen, hat in Foucaults erkenntnistheoretischem Entwurf jedoch noch eine weitere Dimension, nämlich die Artikulation wissenschaftlicher Tatsachen in relationaler Objektivität. Hier ist ein Vergleich mit Problemstellungen besonders aufschlussreich, wie sie für die Postmoderne, mit der Foucault ja häufig in Verbindung gebracht wird und für die seine Diagnosen und Begrifflichkeiten in der Tat eine gewisse Rolle spielen, bezeichnend wurden. Erkenntnistheoretisch prägnant unterscheiden sich die Projekte von Foucault und Geertz, der hier als Anknüpfungspunkt der Postmoderne wieder herangezogen werden soll, in der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt der Forschungstätigkeit oder der Erkenntnis im Allgemeinen – wobei dies auf Unterschiede in der ontologischen Existenzform des Artikulierten wie der Äußerungsinstanz zurückverweist. Im Gegensatz zu Foucaults Epistemologie wäre nämlich in der hermeneutischen (phänomenologischen) Interpretation180 womöglich doch eine allein vom Gegenstand her zu stützende, das heißt eine mit der Bedeutung (dem gedanklichen Gehalt) eines Ereignisses im sozialen Diskurs übereinstimmende Wahrheit wissenschaftlich zu erreichen oder zumindest anzuvisieren. Demnach existiert für Geertz vielleicht doch so etwas wie die ‚eigentliche Bedeutung‘ einer Handlung. Und es bildet sich nicht der Sinn immer in den unterschiedlichen Kontexten, also auch bei der Verortung der wissenschaftlichen Betrachtung. Diese ‚eigentliche Bedeutung‘ ist hierbei den Anthropologinnen und Anthropologen zunächst durch ihren eigenen Bedeutungshorizont verstellt. Daraus folgt die Aufgabe, diesen zu übersteigen, sich davon zu befreien, um einen möglichst objektiven Blick auf andere Sinnzusammenhänge zu bekommen. Trotz mancher Verschiebungen des Blickpunkts ähnlich orientiert ist in dieser Hinsicht ein dialogisches Paradigma, wenn die Differenz zwischen Forschenden und Erforschten „durch eine Dialogisierung des Forschungsprozesses selbstreflexiv überwunden werden soll“181. In Foucaults Ethnologie hingegen wird eine Aufhebung der Grenze in dieser Art nicht problematisiert. Virulenz hatte diese Thematik nur für die Vorgaben in Wahnsinn und Gesellschaft, wo der Wahnsinn, das als solches existierende Andere, wieder Gehör finden sollte. Wobei hier aber auf die Existenz vor jeder spezifischen kulturellen/sprachlichen Strukturierung gezielt wurde. Nachdem dann – wie im Anschluss an die Analyse von Wahnsinn und Gesellschaft gezeigt – ein 180 Wobei Geertz Ricoeurs hermeneutischer Phänomenologie folgt (vgl. dazu Fuchs; Berg 1993: 94f. und etwa Geertz 1987: 28). 181 Kumoll (2005: 122), der hier den Zugang von Crapanzano und Dwyer beschreibt.
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solches Anderes bei Foucault nicht mehr zur Sprache kommt, stellt sich Foucault auch für sein eigenes Schreiben meines Wissens nicht mehr die Frage, wie ein Zugang über diese ontologische Grenze hinweg möglich sein könnte.182 Allerdings wird in einem der wenigen Fälle, wo Foucault in der anthropologischen Sekundärliteratur auf seine Position als Ethnologe angesprochen wird, möglicherweise doch gerade das als die wichtigste Forderung von Foucault genannt. Foucault hätte demnach verlangt, die Epistemen fremder Kulturen nicht den eigenen Rationalisierungen zu unterwerfen (und auch nicht in unsere Begrifflichkeiten zu übertragen), sondern mit diesen in einen unvoreingenommenen Diskurs zu treten.183 Klärend bleibt hier festzuhalten, dass dies jedenfalls nicht einem alle individuellen oder kulturspezifischen Unterschiede ausschaltenden Verstehen (wie nach dem phonozentrischen Modell der hermeneutischen Exegese)184 gelingen soll, sondern wenn, dann einer von der westlichen Moderne distanzierten theoretisch-methodischen Position zukommt. Dabei ist eine gewisse Unvoreingenommenheit, oder besser, eine Verunsicherung und Offenheit als Distanzierung von der eigenen Kultur, also den eigenen Voraussetzungen, erst das Ergebnis der Übung. Eine augenscheinliche Verwandtschaft seiner Position mit dem ‚Blick aus der Ferne‘ von Lévi-Strauss ist dementsprechend nicht unerheblich. Diese aus dem Nô-Theater entlehnte Wendung meint, dass „[...] il faut savoir se regarder soi-même de la façon que les spectateurs vous regardent [...]. J’ai trouvé qu’elle représentait très bien l’attitude de l’ethnologue regardant sa propre société, non comme il la voit en tant qu’il en est membre, mais comme d’autres observateurs, placés loin d’elle dans le temps ou dans l’espace, la regarderaient.“185
182 An diesem Punkt weicht auch die mir bekannte philosophische Sekundärliteratur de facto ausnahmslos von meiner Perspektive ab. Sogar Hemminger, die Foucaults Arbeit in seinem Bezug auf die Grenze ausführt, schreibt zwar immer wieder von Foucaults „Begriff des Anderen im Sinne eines irreduzibel Anderen“ (Hemminger 2004: 207) – ohne jedoch dann auf die relationale Existenz zu sprechen zu kommen. Eine solche Perspektive ist bei ihr wohl nicht ausgeschlossen, aber sie expliziert sie nicht. 183 Vgl. so Petermann (2004: 1019f.) mit Hinweis auf die Habilitationsschrift von Annette Hornbacher (2003): Zuschreibung und Befremden. 184 Vgl. natürlich auch die diesbezügliche Kritik von Derrida (2004). 185 Lévi-Strauss 1991: 249. Rabinow (2004b: 74) verbindet einen Passus, wo Foucault vom Blick ‚aus größter Ferne‘ spricht mit Nietzsche. Aber obwohl Foucault vielleicht auch hier im Ergebnis Distanz erreichen will, verteidigt er in diesem Text primär, dass die Historie gemäß Nietzsche zunächst vom Nahen und Involviertsein ausgeht – im Kontrast zur Geschichtswissenschaft, die ‚aus größter Ferne‘ schauen wolle (vgl. Nietzsche, die Genealogie, die Historie [1971]: 182).
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Foucaults Methode der Selbstdistanzierung funktioniert ebenso über den Blickwechsel mit dem Anderen. Die solchermaßen eingesetzte Epistemologie der Äußerung gewährleistet in Foucaults Diskurs eine relationale Objektivität.186 Und dabei soll nicht dessen ursprünglicher, authentischer Sinn erschlossen werden, sondern die in der Differenzierung sich erweisenden Voraussetzungen des eigenen Standorts versus derjenigen der Anderen. Dies könnte möglicherweise auch eine Parallele zur Hermeneutik darstellen, insofern hier die Interpretation ebenfalls „eine Beziehung zwischen zwei Zeiten“187 herstellt – sofern sich also bei Gadamer der Gegenstand der Untersuchung erst im Bezug auf den Interpreten oder die Interpretin konstituiert. Der Unterschied von Foucaults Relationalität zu Gadamers Produktivität der Auslegenden (wenn etwa in den Vordergrund rückt, was ein Kunstwerk für die Betrachtenden bedeutet) lässt sich aber vielleicht folgendermaßen umreißen: Zwar hängt auch bei Foucault der Gegenstand von den Betrachtenden ab, aber die Auslegung spiegelt nicht deren Zustand wider – denn das ist die moderne Interpretation, das Zu-Eigen-Machen, wo sich immer nur der Mensch, das kreative Subjekt, findet.
186 Ich führe den Begriff ‚relationale Objektivität‘ hier ein, weil er Foucaults Epistemologie des ethnologischen Blick meines Erachtens gut und prägnant fasst. Selbst wenn er in anderen Kontexten schon existiert, ist dieser Begriff vielleicht noch nicht derart fix besetzt, dass man ihn für Foucaults Zugang nicht mehr verwenden könnte. Bezüglich des relationalen Denkens wäre wohl ein Vergleich mit Mannheim, der in diesem Zusammenhang immer wieder genannt wird, interessant. Wie bereits deutlich wurde, ließen sich auch andere Anschlüsse sowie etwaige Differenzierungspunkte denken – so insbesondere zum mehrfach angesprochenen Perspektivismus und Antirepräsentationalismus in der Anthropologie. 187 So Lavagno (2003: 150), der an dieser Stelle Foucaults Sicht und Ablehnung der Hermeneutik kritisiert, aber nicht die dennoch auffälligen Entsprechungen betont. Baberowski (2005: 100) wäre zu entnehmen, dass vieles bei Foucault auch von der Hermeneutik (in diesem Fall von Ricoeur) her zu verstehen ist: „Im Lesen und Verstehen ist das Ich stets der Andere des gemeinten Sinns“ – vgl. auch Schipper (1996: 224). Dies wäre eine Foucaults Ansatz vergleichbare epistemologische Figur bei Ricoeur – wiewohl es Foucault nicht um den ‚gemeinten Sinn’ geht. Auch der Verzicht auf einen unabhängig vom jeweiligen Bewusstsein bzw. dem diskursiven Zusammenhang existierenden objektiven Bezugspunkt zeigt Ähnlichkeiten (vgl. diesbezüglich im Kontext der Geschichte Baberowski 2005: z.B. 107f.). Wie schon angedeutet, sind die Parallelen aber vielleicht doch recht begrenzt, wenn Vasilache (2003: 134) es als Gadamers Denkbewegung und sein Verdienst bezeichnet „Phänomene [...], die auf den ersten Blick sogar inkompatibel erscheinen mögen [in Beziehung zu setzen und setzen zu können]“. Obwohl Gadamer, wie Vasilache (2003: 132) sagt, gegen die Synthese ist, stünde bei Gadamer im Gegensatz zu Foucault doch die (typisch moderne) Vorgabe im Hintergrund, eine Annäherung beider Positionen zu erreichen.
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Weder ein Übersteigen und Erreichen des Anderen noch eine selbstbezüglich subjektive Interpretation formieren also die Äußerung in Foucaults Diskurs, sondern die Artikulation objektiver Differenz in Hinblick auf die eigenen Voraussetzungen. Dies ist beispielsweise Foucaults Analyse des Bildes von Velázquez in der Ordnung der Dinge zu entnehmen. Nicht, was Velázquez sagen wollte, und auch nicht, was damals daran explizit wahrgenommen wurde, ist Inhalt der Äußerung in Foucaults Diskurs. Ebenso wenig kommt zur Sprache, was man heute dem Bild an sinnvoller Interpretation geben kann, welche zeitgemäße Bedeutung es zumal für die einzelnen Betrachtenden hat. Sondern es geht sehr wohl darum, was es über die Klassik aussagt – nämlich, was diese von der Gegenwart unterscheidet und so erkennen lässt, was hier implizit vorausgesetzt wurde. So gesehen gibt es keine Selbstäußerung – und zwar bei ‚uns‘ nicht und aus dieser Perspektive ebenfalls nicht bei ‚den Anderen‘. Auch in Foucaults Ethik kommt diese relationale Existenzlogik zum Ausdruck, wenn er sagt: „Man kann sich nicht mit sich selbst beschäftigen, sich nicht um sich selbst sorgen, ohne einen Bezug zu einem anderen zu haben.“188 Zudem erreicht eine solche Selbstdefinition über die Differenz nie festen Grund. „Es ist richtig, daß wir die Hoffnung aufgeben müssen, jemals einen Standpunkt zu erreichen, der uns Zugang zu einer vollständigen und definitiven Erkenntnis darüber gewähren könnte, was unsere historischen Grenzen konstituiert. Und von diesem Standpunkt aus ist die theoretische und praktische Erfahrung, die wir von unseren Grenzen und ihrer Überschreitung machen, stets selbst begrenzt, bestimmt und von neuem zu beginnen.“189
Dennoch ist dieser Vorgang eine Objektivierung, die zugleich konstruktiv ist. Sie ergibt relationale Objektivitäten, die im Akt des differenzierenden Bezugs entstehen und auch grundsätzlich nur darin bestehen. Zu Beginn dieses Abschnitts wurde die Abgrenzung der Einheiten, die in Foucaults Analyse zum Ausdruck kommen problematisiert. Das Motiv der daran anschließenden Passagen war dann, die Artikulation der Äußerungsinstanz über produktive Grenzen auszuloten und zwar als Positivität in der Wissenschaft sowie der kulturellen Strukturierung allgemein und schließlich inhaltlich als Relation zwischen unterschiedlichen Standorten in der wissenschaftlichen Repräsentation. Hier wäre in Hinblick auf die von Nagl190 angeführte Suche nach einer Vermittlung der fundamentalen Differenz zwischen dem objektivierenden, ver188 Das Wahrsprechen des Anderen [1988]: 17. 189 Was ist Aufklärung? [1984]: 50. 190 Vgl. Nagl 1988: 356.
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gegenständlichenden Blick und einer subjektrelativen, internen Perspektive zu überlegen, ob es mit Foucaults Ansatz gelingt, dieses Vorhaben zu beenden respektive obsolet zu machen, indem beide Positionen transformiert werden – und zwar dadurch, dass es eine interne Perspektive ohne Außenbezug nicht mehr gibt und sich umgekehrt die Vergegenständlichung nicht mehr auf eine von der subjektiven Relation unabhängige Welt richten kann und muss. Anders als in der Moderne verstellt im ethnologischen Blickwechsel von Foucault der Standpunkt des Subjekts nicht den des Objekts oder umgekehrt. Daher ist es auch nicht Aufgabe, die Pole der wissenschaftlichen Dyade auf einen Nenner zu bringen, zu verschmelzen oder aufzuheben. Die Archäologie „hat ihren Bereich dort, wo die Einheiten nebeneinanderstehen, sich trennen, ihre Ränder festlegen, sich gegenüberstehen [...].“191 Die Archäologie kann mittels differenzierenden Vergleichs zeitliche Grenzen ziehen oder auch das synchrone Gefüge konturieren und kommt so zu ihren Positivitäten. Der Vergleich und seine Resultate sind immer regional und stehen vor dem Hintergrund noch undifferenzierter Gemeinsamkeiten. Es ergeben sich prinzipiell nicht für eine jeweilige Zeit repräsentative Einheiten, die etwa den Geist einer Epoche ausdrücken. Eine Anzahl in mehrfacher Hinsicht unterscheidbarer Diskurse – wie die Naturgeschichte, die allgemeine Grammatik und die Analyse der Reichtümer – können sehr wohl eine ‚interdiskursive Konfiguration‘ bilden. Diese bringt aber situativ referentiell gerade das zum Vorschein, was die Beziehung dieser Teilbereiche ausmacht, nämlich das Gebiet der ‚Interpositivität‘, „das Gesetz ihrer Kommunikation“192. Wird die Beziehung dieser Diskurse zu anderen Bereichen und Diskursen – etwa der Kosmologie oder der Bibelexegese – untersucht, „dann würde man sicher ein ganz anderes Beziehungssystem sich abzeichnen sehen; und die Beschreibung würde einen interdiskursiven Raster erscheinen lassen, der sich dem ersten nicht überlagern, aber ihn in bestimmten seiner Punkte kreuzen würde“193. Die diskursiven Formationen zeigen sich also durch andere interdiskursive Konfigurationen in einer anderen Positivität: Die Äußerung etabliert daher eine, wie man es nennen könnte, relationale Objektivität. Insofern ist aber das Objekt – und das ist in Foucaults Ethnologie immer vom Gemeinsamen ausgehend das Andere, die Alternative – auch keinesfalls machtlos oder passiv, sondern ist ebenso Instanz der Äußerung wie das Eigene. Das jeweils kulturspezifisch Andere hat zugleich die Subjektposition inne, die das
191 Archäologie des Wissens [1969]: 224. 192 Archäologie des Wissens [1969]: 230f. 193 Archäologie des Wissens [1969]: 227.
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Eigene zum Objekt macht. McNay schreibt im Sinne von Habermas’ Kritik an einer narzisstisch überdehnten Autonomie bei Foucault: „Foucault’s entrapment within the fundamental dynamic of the philosophy of the subject can be illustrated most clearly in his inadequate treatment of the category of the ‚other‘, which is understood as a passive vector against which practices of the self are played out.“194
Die vorliegende Untersuchung legt allerdings den Schluss nahe, dass der primär aktive Part das Andere ist, in Bezug worauf sich bei Foucault die Eigensicht im kommunikativen Zusammenhang bestimmt und das damit zugleich die Erfüllung von Foucaults zentralem Anliegen erlaubt, nämlich die Selbst-Transformation. Im siebenten Kapitel war als vierter und letzter Aspekt die Äußerungsmodalität im Diskurs von Foucault zu beleuchten. Die Frage, wer spricht, sollte also die Veränderung der Subjektposition im Rahmen von Foucaults ethnologischer Transformation thematisieren. Dabei sind abschließend nochmals maßgebliche Zielsetzungen und Revisionen von Foucault gebündelt zum Tragen gekommen, denn das Subjekt als autoritative und doch stets bedingte Äußerungsinstanz kultureller Tatsachen – seien sie diskursiv oder nicht-diskursiv – ist jener Fixpunkt der Moderne, um den seine Distanzierungsschritte kreisen. Zunächst ging es darum, welcher Stellenwert einer etwaigen Selbstsicht unterschiedlicher Gruppen zukommt. Foucault will zwar als engagierter Aktivist in der Zivilgesellschaft den sozial Ausgeschlossenen zu Gehör verhelfen und lehnt hier auch die paternalistische Rolle des von einer Metaperspektive aus sprechenden universalen Intellektuellen ab. In seinen wissenschaftlichen Texten hingegen widmet er sich Regelmäßigkeiten und Funktionalitäten, die sich nicht unbedingt mit der bewussten Sinnebene decken. Foucaults wissenschaftlicher Diskurs vermittelt also nicht die subjektive Sicht; er versucht nicht, den Standpunkt derer zu einzunehmen oder zu rekonstruieren, über die er schreibt. Zudem beanspruchen diese Diagnosen keinen interesselosen, ungerichteten Blick, sondern gehen als Geschichte der Gegenwart von aktuellen Problemen aus und wollen ein spezialisiertes Wissen für die gegenwärtigen Kämpfe bereitstellen. Dennoch zielen seine Analysen relativistisch stets auf die kulturspezifische Signifikanz kultureller Tatsachen im jeweiligen Kontext. Allerdings macht sich besonders dann eine Kluft zwischen Foucaults ethnologischem Blick und anderen Realitäten bemerkbar, wenn diese der Moderne ähneln, da sein methodisches Werkzeug passgenau darauf ausgerichtet ist, die Moderne zu dekonstruieren. 194 McNay 1992: 171.
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Diese Verortung der Äußerung motiviert im zweiten Abschnitt die Überlegung, welche Konsequenzen die Subversion des Subjekts und seiner Bedeutungsebene für eine emanzipatorische Artikulation derjenigen hat, die vom Subjektstatus ausgeschlossen sind. Denn die Subversion herrschender Kräfteverhältnisse war ja das ausdrückliche Vorhaben von Foucault – nicht nur in seinem politischen Engagement, sondern auch in seinen wissenschaftlichen Arbeiten. In Anbetracht von Absenzen der Anderen, etwa der Kolonisierten oder der Frauen, in Foucaults Analysen kann der Vorwurf gelten, dass Foucault der hegemonialen Wahrnehmung des modernen Subjekts folgt, die den Subjektstatus nicht allen Menschen zugesteht und insofern die Machtverhältnisse ungebrochen widerspiegelt. Vor allem die feministische Kritik hat explizit aufgedeckt, inwieweit Foucault in seinen historischen Untersuchungen sehr wohl hörbare respektive lesbare Stimmen von Frauen übergangen hat. Daran schließt die Diskussion, ob Foucaults Abschied vom Rekurs auf das moderne Subjekt gesellschaftspolitisch differenziert zu betrachten ist. Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass zwar das Brüchigwerden des Subjekts als Identitätsfigur der Moderne gemäß Foucault einsichtig sein kann, dass zugleich aber auch die Berechtigung anzuerkennen wäre, die Great Divide von der anderen Seite her auflösen zu wollen, also den verweigerten Subjektstatus einzufordern. An dieser Stelle ist ein Hinweis auf die Rolle des Subjekts in den späten Arbeiten von Foucault relevant. Hier geht es nicht um eine Wiedereinführung des Subjekts, geschweige denn eine Anerkennung seiner Essentialität. Sondern Foucault arbeitet an der Auflösung dieser Figur, indem er deren Differenzierung leistet, also die Vielfalt der Subjektivierungsformen zeigt und somit dem Subjekt moderner Identität sein Privileg als Emanzipationsgestalt nimmt. Im Anschluss daran beschäftigte sich der dritte Abschnitt mit dem Modus der Artikulation kultureller Positivitäten und verortete ihn auch im Verhältnis zu aktuellen Theorien kultureller Kreativität und Identität in der Anthropologie. Zunächst wird diese Thematik des Foucault’schen Diskurses in Hinblick auf Parallelen und etwaige Unterschiede zu Saussure eingeführt. Des Weiteren erweist sich eine grundsätzliche Übereinstimmung gegenwärtiger anthropologischer Konzeptionen der Praxis lokaler kultureller Produktivität angesichts globaler Austauschprozesse mit Foucaults ethnologischem Blick. Dies legt die in der anthropologischen Literatur kaum explizit formulierte Einschätzung nahe, dass gerade in Hinblick auf globale Zusammenhänge eingeführte Begriffe wie Deund Reterritorialisierung, Kreolisierung, Métissage oder Hybridisierung eine Wende zum Wilden Denken darstellen, da ihr Modus kultureller Formation und Transformation eher dem Denkmodell der Bricolage entspricht als dem der modernen Autorschaft oder historischen Subjektentfaltung. Zum Teil wird in die-
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sem Fach die gegenwärtige Globalisierung also weniger mit einem von der Universalisierung der Moderne ausgehenden Ansatz à la Habermas repräsentiert als mit der Verallgemeinerung einer Perspektive, die Foucaults kritischem Impetus entspricht. Der letzte Abschnitt fragte nach der Äußerungsinstanz in Foucaults Diskurs, wenn jedes unabhängige Selbstbewusstsein und damit die interpretative oder auch rekonstruktive Hermeneutik ausgeschlossen ist. Wie betont wurde, geht Foucault bei der Wahl seiner Untersuchungseinheit eher konventionell vor und rekurriert recht umstandslos auf ‚unsere Zivilisation‘. Vor allem von anthropologischer Seite kommt die Kritik, dass einer Diagnose soziokultureller Verhältnisse in Europa, die den Kolonialismus nicht bedenkt, wesentliche Facetten und Zusammenhänge entgehen. Insofern wirken Foucaults Analyseinstrumentarien in der Festlegung ihrer Einheiten auf der synchronen Existenzebene wenig innovativ – vielleicht, weil das Interesse primär auf die Schärfung diachroner Unterschiede gerichtet ist. Während Foucault seinen theoretisch-methodischen Blick also nur am Rande auf die Konstitution von Gesellschaften nach außen richtet, problematisiert er deren innere Differenzen besonders deutlich und konturiert dies im historischen Vergleich. Zu bedenken bleibt allerdings, dass die Wahl der gegenständlichen Bezugsgröße prinzipiell beliebig ist. Von der Methode her ließe sich der differentielle Zusammenhang also auch weiter und weltweit sehen – das beweist auch die große Bedeutung von Foucaults Ansatz für die Postcolonial oder Cultural Studies. Zudem bleibt die Kontextualisierung nach Außen als möglicher Kausalfaktor, weil Foucault die historischen Transformationen prinzipiell nicht von Innen her erklärt. Dies gilt sowohl für die Analyse der kulturellen Ebenen im Einzelnen als auch für ihre integrierte Betrachtung. Die evolutionäre Eigendynamik moderner Identitäten wird radikal durchbrochen, ihre synchrone Eigenexistenz methodisch aufgehoben, neue Verbindlichkeiten werden jedoch nicht ausführlicher erforscht – obwohl dies das Vorhaben, die Subjektphilosophie zu unterlaufen, noch hätte erleichtern können. Zumal da Foucault diese Dimension seines Projekts nicht explizit auslotet, lässt sich schwer abschätzen, ob es zu den indirekten Wirkungen seines Werkzeugs gehört, wenn es in der Anthropologie etwa in Anbetracht der im vorhergehenden Abschnitt knapp besprochenen Konzepte ein Innen und Außen von Kulturen in herkömmlicher Weise nicht mehr gibt. Jedenfalls präsentiert Foucault keine ‚Welt in Stücken‘. Wird heute also das Konzept von Kultur als abgegrenzter – und womöglich für sich bestehender – Sinnzusammenhang in Zweifel gezogen, so kann Foucaults Ansatz dafür sicher als richtungweisend gelten.
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Die Äußerungen in Foucaults Diskurs sind folglich prinzipiell nicht unabhängig voneinander, sondern stehen immer in einem kommunikativen Zusammenhang. Dies impliziert, dass sich die Frage des Dialogs ganz anders stellt als in der Moderne, wo verschiedene Positionen erst miteinander ins Gespräch und auf einen Nenner gebracht werden müssen. Die Differenzen laufen zudem nicht auf eine universelle Wahrheit zu, sondern entstehen in der Praxis der Konstitution kultureller Tatsachen. Solchermaßen hervorgebrachte regionale Wahrheiten gelten in einem Spiel von Kräfteverhältnissen, dessen Prinzip der differentiellen Existenz zugleich besagt, dass diese Behauptungsmacht nie ohne Widerspruch sein kann. Vielfalt, Alternativen sind daher immer vorhanden. Jedoch können auch diese kritischen Äußerungen keinen unabhängigen, von der Bindung an Machtformationen befreiten Außenstandpunkt beanspruchen. Als letzte Konsequenz der ethnologischen Positionierung von Foucault wurde eine Definition der Äußerung elaboriert, deren Epistemologie man als relationale Objektivität bezeichnen könnte. Das Ergebnis der Forschung hängt vom Standpunkt der Betrachtenden ab und ist trotzdem nicht subjektiv. Denn die Aussage resultiert nicht aus einem Relativismus, wo nach humanwissenschaftlicher Logik die Grenze den Blick auf das Objekt verstellt und einschränkt. Es handelt sich bei Foucault vielmehr um eine ausschließlich relationale Existenz beider Seiten der erkenntnistheoretischen Dyade in der Wissenschaft. So wird auch verständlich, wie Foucault mit seiner Geschichte der Gegenwart direkt auf den eigenen Kontext als vielleicht zu Ende gehende Moderne zielen kann, wenn er daran arbeitet, dass sich diese Gegenwart über ihre Grenzen definiert. Da die Positivitäten nur durch die Differenz, also die Grenzziehung, bestehen, kann Foucault hervorkehren, was eine Identität gegenüber einer anderen ausmacht – in der Geschichte, zwischen Kulturen respektive innerhalb von Zivilisationen. Damit verbunden ist, dass die Alterität nicht für sich und mit zeitlicher Tiefe ausgestattet existiert, sondern in jedem Moment neu verhandelt wird. Substantialisierung und referentieller Alleinanspruch werden hierbei des Weiteren unterlaufen, weil ein solcher Blick nicht in einer definitiven Binarität gefangen ist, sondern vielmehr eine Empirie erlaubt, die eine Vielzahl relationaler Spezifitäten aufweist. Eine Universalisierung wie in der Moderne ist unmöglich, da ohne substantielle innere Wahrheit die Selbstbestimmung in jedem Augenblick auf die Existenz von Anderen angewiesen ist. Es gibt keine subjektive Selbstsicht. Das Andere, die Alternativen als Objekt von Foucaults Analyse spielen einen aktiven Part in der wissenschaftlichen Äußerung und teilen die Subjektposition.
Synopsis
Die vorliegende Analyse entfaltete sich im Spannungsfeld Foucault – Kritik – Ethnologie. Eine Suche nach Verbindungen zwischen Foucaults Arbeit und der Ethnologie findet leicht Ansatzpunkte: Foucault selbst hat immer wieder Interesse für die Sozial- und Kulturanthropologie gezeigt und er hat eine Richtung der französischen Ethnologie erklärtermaßen zum Paradigma seines kritischen Projekts gemacht. Zum anderen liefert Foucault natürlich der Anthropologie einen Fundus an Konzeptionen und Forschungsergebnissen. Das spiegelt sich auch in der außerordentlich starken Rezeption. Eine der Erklärungen für dieses Phänomen lautet: „Foucault’s category of ‚biopower‘ and his biopolitical analytics can […] be easily claimed for a diversity of theoretical projects. [...] Categories like ‚biopower,‘ ‚governmentality,‘ ‚power/knowledge,‘ far from being technically specific operators, are analytical instruments that can be employed in virtually any context.“1
Aus meiner Untersuchung geht indes hervor, dass sich Foucaults Konzepte in mancher Beziehung recht klar verorten lassen und seine Arbeiten nicht ohne starke innere Kohärenzen sind. Man muss also wohl der Offenheit des ‚Wilden Denkens‘ folgen, wenn man Foucaults Ansatz zerlegt und einzelne Begriffe in Zusammenhängen verwendet, die seiner Epistemologie in gewisser Hinsicht widersprechen. Zwar ist diese Nutzung des Instrumentariums prinzipiell auch mit Foucaults Denken durchaus vereinbar. Allerdings wäre bei solch einer kreativen Rekombination im Auge zu behalten, dass Foucault die Begrifflichkeiten in einem anderen Zusammenhang konzipiert hat und sie daher nicht mehr uneingeschränkt Foucaults Autorschaft für sich reklamieren können, sondern im Gegenteil etwa ihr Stellenwert im anthropologischen Diskurs als Verschiebung in der Wiederholung davon abzuheben wäre. Insofern kann es von Interesse sein, den 1
Boyer 2003.
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operativen Wert der Instrumente zur Gegenwartsdiagnose bei Foucault ausführlicher zu thematisieren und zu fragen, wie ihre kritische Dimension sich in der Anthropologie auswirkt. Möchte man Foucaults Arbeiten postmodern nennen, so ist dies kaum darauf zu stützen, dass sich seine Analysen einem einheitlich als postmodern qualifizierbaren Feld zuordnen lassen. Wenn diese Bezeichnung für den Standpunkt von Foucault einen Sinn hat, dann den, dass er einen wichtigen Beitrag zur reflexiven Distanzierung der Moderne geleistet hat. Dies beruht zwar auf einem Gestus, der, wie Foucault betont, mit zur Kritik der Aufklärung gehört – Foucault versucht aber im Bezug darauf eine Grenzüberschreitung, die wesentliche Teile der Aufklärungslogik hintergeht. In jedem Fall hat er die Moderne spezifiziert und der ‚Condition postmoderne‘ Möglichkeiten eröffnet. Direkt fassbar ist diese Blickweitung allein schon darin, dass es in allen Büchern Ziel ist, angesichts kultureller Vielfalt die Verortung der westlichen Moderne mit einem davon distanzierten ethnologischen Blick zu regionalisieren. Meine Forschung kreiste also insbesondere um das Thema, inwieweit Foucaults Konzeption einer Gegenwissenschaft – durch die Ethnologie inspiriert – subversive Kraft gewinnt. Denn ihre Funktion als Kritik erhalten seine Diagnosen immer in Verbindung mit ihrer spezifischen epistemologischen Position. Und in diesem Zusammenhang stellt sich der Philosoph und Historiker vor allem in der Ordnung der Dinge und mit der Archäologie des Wissens deutlich unter die Vorzeichen der Ethnologie. Dennoch wird dies kaum als richtungweisende Perspektive wahrgenommen. Relativ einhellig heißt es nämlich: „Insgesamt bietet die Foucaultsche Kritik gleichwohl keine Orientierung, sondern beschränkt sich darauf, das, was Orientierung bietet, [...] auf seine Bedingtheit hin zu befragen, um auf diese Weise den Charakter der Notwendigkeit zu untergraben und den Blick auf die damit verbundenen Kosten zu lenken.“2
Aber selbst dieser Akt ist schon auf die Arbeit mit Alternativen angewiesen – zumindest in der konsistenten Form, wie er von Foucault unternommen wird. Daher sollte deutlicher zu zutage treten, was bisher im Diskurs um Foucaults Ansatz eher vernachlässigt wurde, und zwar wie angesichts der Dekonstruktion Foucaults Neukonstruktion aussieht. Für mein Vorhaben im Speziellen motivierend war auch eine Diskrepanz, die im Vergleich zwischen der anthropologischen Foucault-Rezeption und der Auseinandersetzung zu Foucault in der Philosophie aufgetaucht ist. In der philosophi2
Hemminger 2004: 216.
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schen Sekundärliteratur dreht sich ein Großteil der Diskussion um Fragen, die mit Foucaults theoretisch-methodischer Positionierung zusammenhängen. Und in diesen Reflexionen wird – anders als in der Anthropologie – wiederholt und in einzelnen Fällen auch ausführlich darauf eingegangen, dass Foucault seine Ergebnisse zeitweise explizit mit dem Anspruch verbindet, sie aus ethnologischem Blickwinkel und von einer Außenperspektive her zu erstellen. Angesichts eines solchen Stands interdisziplinärer Überkreuzungen sollte eine anthropologisch fundierte Explikation der Epistemologie von Foucault für die Sozial- und Kulturanthropologie wie auch die Philosophie fruchtbar sein. Foucaults ethnologischen Blick innerhalb der Anthropologie zu verorten, sollte schließlich auch die Rolle der Anthropologie respektive einer ihrer Richtungen im interdisziplinären paradigmatischen Gefüge der Wissenschaften prägnanter hervortreten lassen. Primäre Aufgabe war also, jenen grundlegenden Bezug von Foucault auf die Ethnologie zu umreißen, der seinen spezifischen Ansatz im weiten Feld der Kulturwissenschaften als ‚Ethnologie der eigenen Kultur‘ definiert. Ganz zentral ist für Foucault die Abwendung vom biologischen Modell der Kulturanalyse – also vor allem von jeglicher Spielart eines sozialwissenschaftlichen Evolutionismus – und die Suche nach relationaler Regelmäßigkeit, nach Strukturen. Hiefür steht ihm Boas als, wie er sagt, „Begründer der strukturalen Methode in der Ethnologie“ 3 Pate. Daher ist es nicht abwegig, Foucault und Boas in einer auch für die Anthropologie fruchtbaren Perspektive vereinen zu wollen – so das Vorhaben von Bunzl.4 Möglicherweise kann man im Anschluss an Bunzl beide Ansätze als ‚Geschichte der Gegenwart‘ bezeichnen. Foucault jedenfalls bindet seine Form der Geschichtsschreibung direkt an die Ethnologie und beschreibt seinen Blickwinkel folgendermaßen: „Nun, ich habe nicht vor, die Geschichte der Vergangenheit in die Begriffe der Gegenwart zu fassen. Wohl aber ist es meine Absicht, die Geschichte der Gegenwart zu schreiben.“5 Und die Geschichte ist für Foucault legitim, insofern sie als (innere) Ethnologie funktioniert.6 Während in Foucaults Dekonstruktion der Moderne die Grenzziehung konstitutiv für die Positivitäten ist, betont Bunzl als Leistung von Boas:
3 4 5 6
Zur Geschichte zurückkehren [1972]: 332. Vgl. Bunzl 2004. Überwachen und Strafen [1975]: 43. Vgl. das zu Beginn des ersten Teils angeführte Zitat aus Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben ([1967]: 174).
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„Insiders and outsiders were thus differentially positioned at the onset of the ethnographic project. What is central in the present context, however, is that Boasian ethnography not only did not rest on that distinction but also was designed to efface it.“7
Eine substantielle Great Divide wird gemäß Bunzl nicht verschwinden, „as long as theorists and practitioners attribute epistemological significance and ethnographic salience to alterity as a privileged basis of anthropological knowledge production“8. Dennoch arbeitet auch Foucault an einer Auflösung der Great Divide, wenn sein differenzierender Vergleich immer vor dem Hintergrund von Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten operiert, sodass die in der Moderne stets vorausgesetzte Fremdheit verschwindet. Mit Bedacht auf diese antiessentialistische Schlagrichtung der Epistemologie von Foucault ist Hobarts Nachruf zu verstehen: „Undoubtedly Foucault’s most instant gift to anthropology was the idea of ‚The Other‘.“9 Das mit der Ethnologie verbundene Thema der Grenze, die Produktivität der Grenzziehung, das Außen- oder Innenstehen, Identität und Vereinnahmung oder Differenzierung und Exklusion, der Bezug zum Anderen sowie Grenzüberschreitung und Veränderung zieht sich durch Foucaults Arbeiten und war Schwerpunkt der hier präsentierten Analyse. Für Foucault ist ein weiterer wichtiger Anziehungspunkt der Ethnologie, dass sie eine dem Objekt gegenüber äußerliche Position einnimmt. Neben dem genannten Fokus auf die ‚Alterität als Basis anthropologischer Wissensproduktion‘ bildet auch diese Abgrenzung eine ausgesprochen emotional aufgeladene Sichtweise in der Sozial- und Kulturanthropologie. Jedoch stellt die mittels Außenperspektive mögliche Objektivierung und Distanzierung der eigenen Voraussetzungen nichtsdestotrotz eine der grundlegenden Hoffnungen und zugleich Existenzberechtigungen für diese Disziplin dar – nämlich im Bewusstsein der Gefahr des Ethnozentrismus bestimmte Strategien zu dessen Vermeidung zu entwickeln. „[A]nthropology does have the means of contradicting and limiting such ethnocentrism. The means is to extend more methodically the refocusing of anthropological analysis in relation to the cultural presuppositions of anthropologists and to endeavour to trace the historical lineage of such presuppositions.“10
7 8 9 10
Bunzl 2004: 439. Bunzl 2004: 441. Hobart 1984: 5. Godelier 1996: 73.
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Meines Erachtens lässt sich Foucaults Projekt sehr gut in den Rahmen dieser Vorgaben einordnen. Wie die Rezeption belegt, hat er in seinen Arbeiten zu sozialen Brennpunkten ohne Zweifel Bereiche unserer Kultur in neuem Licht erscheinen lassen. So meint Fraser, „daß Foucaults wertvollste Leistung in der ergiebigen empirischen Darstellung von einigen unverwechselbar modernen Modalitäten der Macht in ihren Entstehungsstadien liegt“11. Und sie betont den Zusammenhang zwischen genealogischer Methode und diesen Einsichten. In Anbetracht meiner Fragestellung bleibt allerdings festzuhalten, dass die spürbare kritische Distanz in wesentlichen Teilen gerade der als Ethnologie konzipierten Theorie und Methode zu verdanken ist. Der anschließende letzte Abschnitt rekapituliert Foucaults ethnologischen Blick. Zur Konturierung, zumal im anthropologisch-ethnologischen Kontext, soll ein kursorischer Vergleich zwischen der epistemologischen Außenperspektive von Foucault, Dumont und Bourdieu dienen. Dies fußt auf einer Analyse von Fuchs – eine der wenigen anthropologischen Arbeiten, die direkt Foucaults Epistemologie zum Gegenstand haben.12 Fuchs kommt zu einiger Kritik an Foucault:13 – Foucaults Außen hat keinen Ort. Er argumentiert eigentlich von Innen her, weil seine Wissenschaft als ‚Gegenwissenschaft‘ noch an die Problematik der eigenen Kultur gebunden ist. Er kann nicht klar machen, wie er nach Außen kommt, wie er also die Grenzen seiner Kultur überschreiten kann, sondern nur dieses Verlangen artikulieren. Wie er die spezifische Sinnhaftigkeit der Zeichen ausschalten will, um sie ‚neutral‘ von außen zu betrachten, ist ungeklärt. Auch noch Énoncés sind vorinterpretiert und verkörpern einen vom Subjekt intendierten Sinn. – Die methodologische Argumentation wird ontologisiert. Allem Anschein nach will Foucault sich von der Vorprägung des Denkens durch kulturspezifische Kategorien frei machen, um auch die eigene Kultur unvoreingenommen wahrzunehmen. Doch letztlich hält er den in diesem Denken befangenen Menschen illusionäre Vorstellungen vor, da sie in Wirklichkeit eben nicht Subjekte seien, die Sinn stiften. Foucault erhebt sein Wirklichkeitsverständnis zur allgemeinen Prämisse. – Daraus folgt laut Fuchs, dass eine Kultur nicht wirklich in ihrer Spezifität akzeptiert wird, da die Weltauffassung des Beobachters gegenüber der Innensicht Vorrang hat. 11 Fraser 1994: 31. 12 Vgl. Fuchs 1991: 311-332. 13 Vgl. Fuchs 1991: 318f.
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– Fuchs beanstandet, dass Foucault einen äußerst beschränkten Begriff von Ethnologie verwendet. Die ohnehin problematische Metapher des ‚Außen‘Stehens wird von Foucault missverstanden als Aufforderung, nicht nur jedes Vorverständnis auszumerzen, sondern auf Verstehen, auf eine so genannte ‚Innen‘-Sicht, überhaupt verzichten zu sollen. Foucault vermittelt durch seine Rede von Diskursen, Epistemen, Kulturen, Zeichensystemen zudem oft das Bild in sich geschlossener Welten – daher der Vorwurf eines erkenntnistheoretischen Relativismus. Im Folgenden soll nun zum Abschluss Foucaults Ansatz verdichtet nachgezeichnet und damit auch auf die soeben angeführten Bedenken und den Vergleich zwischen Foucault, Dumont und Bourdieu eingegangen werden. Grundsätzlich spielt parallel zu dem, was Fuchs für Dumont und Bourdieu beschreibt, die Objektivierung bei Foucault eine wichtige Rolle im Bestreben, die Figuren der Moderne zu einem spezifischen Fall des Möglichen zu machen. Und ähnlich Dumont, der die westliche Moderne in einem ersten Schritt aus Sicht der traditionellen Ideologie Indiens betrachten will,14 arbeitet auch Foucault für seine Distanzierung über den Vergleich mit Anderen, die nicht zur Moderne gehören. Eine auf die Differenz als produktive Grenze gestützte Wahrnehmung anderer kultureller Positivitäten soll es erlauben, kontingente Strukturen der westlichen Moderne herauszukehren, die diese sonst nicht sehen könnte. Und hierbei verspricht vor allem die Regionalisierung des Subjekts, dessen Spiegelungen zu beenden – und nicht auch bei den Anderen das autoritative Subjekt sinnstiftend einzusetzen. Bei Foucault steht folglich der durch seine Methode möglich gewordene Abbruch der identifikatorischen Beziehung am Anfang der Objektivierungsbewegung. Daher geht es bei der Frage nach dem Außen von Foucault nicht nur um das jeweils empirisch konkretisierte Andere, sondern dessen Ausdrucksmöglichkeiten in Foucaults Diskurs liegt eine spezifische epistemologische Position zugrunde, die sich von zentralen Aspekten der Moderne distanziert und als eine Alternative eingeführt wurde. Diese Gegenwissenschaft stellt ein Außen dar, das nicht, gemäß Fuchs’ kritischem Einwand, keinen Ort hat, sondern in der Ordnung der Dinge und der Archäologie des Wissens detailliert kartographiert ist. Denn diese Bücher lassen sich zum einen als Aufweis des ephemeren Charakters des Subjekts angesichts anderer konsistenter kultureller Positivitäten lesen und zum anderen als begriffliche Definition einer Ebene kultureller Produktivität, die ohne dieses Subjekt funktioniert und es nur als einen Sonderfall erscheinen lässt. 14 Vgl. Fuchs 1991: 320.
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Allerdings könnte die Einschätzung von Fuchs insofern gelten, als dem modernen Menschen und natürlich Foucault als Subjekt kein Raum gegeben wird, sich in diesem Außen zu verorten. Zudem hat dieses alternative Außen seinen Wert als Anderes bei Foucault zunächst in Relation zur Moderne und ist daher in der Tat, wie Fuchs sagt, nicht frei von jedweden Bindungen. Das ‚Außen‘ ist somit nicht nur im Sinne von Blanchot oder Bataille die Grenzüberschreitung zu etwas mit der Vernunft nicht Erreichbarem, „rebellion devoid of positive content“15, wenngleich auch diese Erfahrung durch Foucaults Bücher möglicherweise induziert werden soll. Steht also zur Diskussion, inwieweit Foucault die Grenzen seiner eigenen Kultur überschreiten kann, so ist zu bedenken, auf welche Weise Foucault die Identifikation unterschiedlicher Aussagesysteme konzipiert. Wie gezeigt wurde, operiert Foucaults Denkbewegung vom Gleichen ausgehend in Richtung Differenzierung, wobei die jeweils undifferenzierten kulturellen Bereiche weiterhin als Allgemeines betrachtet werden können. Durch solche im Vergleich elaborierten Außenperspektiven relativiert Foucault immer wieder auch seine eigenen temporär beibehaltenen kulturtheoretischen Grundannahmen. Dieser Verortung nach steht Foucaults Epistemologie doch recht deutlich unter dem Zeichen des Strukturalismus. In dieselbe Richtung weist die immer wieder feststellbare Vorgehensweise. Wenn Foucault an der Differenzierung einer kulturellen Tatsache arbeitet, so auch, um diesen Bereich für den zweiten Schritt, die Rekombination zu öffnen. Die von ihm beschriebenen Alternativen bilden einen Fundus, aus dem weiter produktiv rekombiniert werden kann. Die im dualen Zeichenmodell gründende Möglichkeit, ohne Stützung des Menschen positive Beschreibungen zu leisten, findet sich allerdings vor dem Strukturalismus auch in der Klassik. Ist die Beobachtung an solche epistemischen Strukturen zu binden, so könnte sie Aussagesysteme diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken ‚in ihrer Neutralität‘ – ohne Interpretation – positivistisch wahrnehmen. Denn dabei hat nicht ein der Moderne entnommener reflexiver Standpunkt einen privilegierten, neutralen Zugang zum Objekt, sondern der auf Beobachterwie auf Objektseite zwischen Zeichen und Inhalt respektive dessen Repräsentation stehende doppelgesichtige Mensch hätte sich wieder verflüchtigt. Die Sprache soll nicht Spiegel des Seins sein und insofern (mehr oder weniger) durchsichtig, sondern die Sprache ist ‚durchsichtig‘, indem sie selbst rastert. Sie ist daher Praxis und hat eine Materialität, womit Foucault eher an die Renaissance und das Sein der Sprache in der Moderne anschließt. 15 Bevir 1999: 79.
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Diese Neupositionierung von Foucault lässt sich in seinen Schriften anhand der Analyse von Wahnsinn und Gesellschaft im Vergleich etwa zur Ordnung der Dinge herausschälen. Obwohl in Wahnsinn und Gesellschaft den weitaus größten Raum die Explikation konstituierender Grenzziehungen der westlichen Kultur einnimmt, ist von der Methode her der Zugang zum unabhängig von der jeweiligen Kultur bestehenden Anderen, hier dem Wahnsinn, noch nicht vollends verschlossen. Nach demselben Muster könnte man in Hinblick auf kulturelle Vielfalt verfahren wollen. Foucault versucht in diesem Buch wohl tatsächlich, ein für sich existierendes Sein als Außen unabhängig von der eigenen Kultur zu erreichen und zum Ausdruck zu bringen. Ein erster Schritt meiner Untersuchung war also, Foucaults spätere ‚ethnologische‘ Epistemologie davon abzuheben. Gleichermaßen basale Umbrüche sind meines Erachtens dann im weiteren Verlauf seiner Arbeiten nicht mehr zu finden. Archäologie und Genealogie wären weniger als aufeinander folgende Phasen denn als zwei Dimensionen von Foucaults Forschung zu sehen, die unterschiedlich gewichtet immer präsent sind – wobei die beiden letzten Bände zu Sexualität und Wahrheit wieder stärker an die Archäologie knüpfen, wie sie für die Geburt der Klinik, die Ordnung der Dinge und die Archäologie des Wissens bestimmend war, während dazwischen, also in Überwachen und Strafen und dem Willen zum Wissen, die Genealogie im Vordergrund gestanden ist. Wesentlich ist, dass die in den Arbeiten nach Wahnsinn und Gesellschaft als Ethnologie bezeichnete Perspektive nicht nur verfremden soll. Sie soll aber auch nicht, wie dies Fuchs bei Dumont beschreibt, die moderne Ideologie hintergehen und Nichtideologisches durch einen die sozialen Realitäten (nämlich die Hierarchien in der Moderne) (an-)erkennenden, an traditionellen Ideologien orientierten Blick erscheinen lassen.16 Denn der dabei angesprochene Referent spielt in Foucaults Ansatz keine Rolle mehr. Auch objektive Verhältnisse haben ihren Wert nur im Unterschied zu anderen Voraussetzungen. Foucault deckt also nicht ein falsches Bewusstsein auf und sagt uns nicht endlich die Wahrheit über uns selbst. Insofern ist die Ontologie außer Kraft gesetzt. Andererseits will er mit dem Einsatz des ethnologischen Blicks sehr wohl verändern, will eine Alternative anbieten, die Selbstreflexion und Distanzierung von der Moderne erlaubt. In Bezug auf den von Fuchs geäußerten Vorbehalt gegen eine Ontologisierung der methodologischen Argumentation wäre die Frage, welche Implikationen es hat, nicht wie Foucault zu ontologisieren. Was also heißt, etwas nur methodisch zu verfremden? Es impliziert einerseits, dass eine Realität existiert, die nicht so ist wie die methodische Verfremdung. Und da man dies auch feststellen 16 Vgl. Fuchs 1991: 323f.
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kann, muss des Weiteren diese Realität wohl zumindest insoweit erkennbar sein, dass dies von der Verfremdung auch inhaltlich zu unterscheiden ist. Wenn solchermaßen zwischen mehr und weniger verfremdend, mehr und weniger adäquat oder richtig geschieden wird, dann stellt sich die Problematik der Ontologisierung tatsächlich so, wie sie immer wieder auch von philosophischer Seite an Foucault herangetragen wurde. Doch trifft dies meinen Überlegungen zufolge nicht Foucaults Projekt, die modernen Realitätsbehauptungen zu verunsichern und durch die archäologische Perspektive abzulösen – eine Perspektive, die er selbst relativiert, indem er in der Ordnung der Dinge zeigt, dass die hierfür maßgebliche Konzeption der Sprache keinerlei unbedingter Notwendigkeit folgt. In diesem Konstruktivismus ist nicht alles gleich falsch – das ließe noch an einen Referenten denken und hält daher die Hoffnung, diesem näher zu kommen, wach; es ließe an eine einzige letztliche Wahrheit glauben und evoziert daher die ständige Frage nach dem Wie und Warum der partiellen oder verzerrenden Perspektive. Nachdem Foucault den Wahrheitsbegriff fundamental in Frage stellt, ist aber auch nicht alles gleich wahr. Sondern indem ein referentielles Wahrheitskriterium wegfällt, sind verschiedene Systeme gleichermaßen reale Positivitäten. Daher würde Foucault schwerlich von modernen Illusionen über die Voraussetzung des Menschen sprechen. Unter all den teils wortgewaltigen Stößen gegen die moderne Subjektphilosophie lassen sich bei Foucault kaum Stellen finden, die mit Verweis auf den Referenten operieren, die mit wahrer entgegen falscher Selbst-Auffassung, wahrer gegen falscher Historizität, wahrer gegen falscher Machtkonzeption argumentieren.17 Diskurse – als Praktiken verstanden und auf ihre Entstehung und Funktionsweise befragt – lassen regionale Regelmäßigkeiten erscheinen. Das heißt, es werden Gegenstandsbereiche konstituiert, „hinsichtlich deren wahre oder falsche Sätze behauptet oder verneint werden können“18. Heute gehe es daher nicht um Wahrheit, sondern um die Kohärenz der Diskurse – so Foucault.19 Hierauf baut auch die Kritik der Ordnung der Dinge, denn sie entdeckt eine Zirkularität der Argumentation in den Humanwissenschaften, die deren eigenen Ansprüchen zuwiderläuft. Ist der Wahrheitsbegriff dieserart distanziert, so kann Foucaults Relativierung über die Differenz ihre Wirkung logisch konsequent entfalten. Wie weit Foucault in seiner konstruktivistischen Relativierung geht, beweist sich sehr deutlich in einem Interview:
17 Auf die wenigen Ambivalenzen, die diese Abstinenz nicht durchzuhalten scheinen, wurde hingewiesen. 18 Vgl. Die Ordnung des Diskurses [1971]: 48. 19 Über verschiedene Arten Geschichte zu schreiben [1967]: 171.
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„G. Preti: [...] Aber was ich nicht verstehe, ist die Stellung des Bewusstseins als Gegenstand einer Episteme. Das Bewusstsein ist bestenfalls epistemisierend nicht epistemisierbar. M. Foucault: Sie sprechen vom transzendentalen Bewusstsein? G. Preti: Ja. M. Foucault: Nun, ich, ich bin genau genommen weder Kantianer noch Cartesianer, weil ich eine Gleichsetzung zwischen Subjekt und denkendem Ich auf transzendentaler Ebene zurückweise. Ich bin sicher, dass es, wenn nicht im eigentlichen Sinn Strukturen, so doch Funktionsregeln der Erkenntnis gibt, die im Laufe der Geschichte erschienen sind und innerhalb derer die verschiedenen Subjekte ihren Platz haben. G. Preti: Ich fürchte, dass das alles eine Falle ist, in der wir gefangen sind. Was Sie sagen ist zweifellos wahr, doch auf der anderen Seite bedingt eben dieses transzendentale Bewusstsein die Ausbildung unseres Bewusstseins. Es stimmt, dass das transzendentale Bewusstsein in einer bestimmten Phase unserer Geschichte und unserer Zivilisation, in einer gegebenen Situation erscheint; aber es stimmt auch, dass es sich, sobald es einmal erschienen ist, als konstituierend und nicht als konstituiert erweist. M. Foucault: Ich verstehe Ihre Position, doch genau was diesen Punkt betrifft gehen unsere Positionen auseinander. Sie kommen mir wie ein Kantianer oder ein Husserlianer vor. In meiner gesamten Forschung bemühe ich mich umgekehrt, jeden Bezug auf das Transzendentale, das eine Bedingung der Möglichkeit jedweder Erkenntnis sein soll, zu vermeiden. Wenn ich sage, ich bemühe mich, es zu vermeiden, behaupte ich damit nicht, sicher zu sein, es auch zu schaffen. Meine derzeitige Vorgehensweise ist von regressiver Art, würde ich sagen; ich versuche, eine immer stärker losgelöste Position einzunehmen, um die geschichtlichen Bedingungen und Wandlungen unserer Erkenntnis zu bestimmen. Ich versuche, in höchstem Maße zu historisieren, um dem Transzendentalen so wenig Platz wie möglich zu lassen. Ich kann die Möglichkeit nicht ausräumen, dass ich mich eines Tages einem Rest gegenüber befinde, der nicht vernachlässigt werden kann und der das Transzendentale sein wird.“20
Demnach ist also durchaus begründet bei Foucault ein erkenntnistheoretischer Relativismus ohne jeglichen Bezug auf einen endgültigen Fixpunkt zu sehen und – wenn man will – ihm vorzuwerfen.21 Dies ermöglicht Foucault die immer wieder verblüffende Äquidistanz zum Realitätswert unterschiedlicher Systeme. Daher muss es zunächst erstaunen, dass es zu Foucaults Blick heißen kann: „Eine Kultur wird in ihrer spezifischen Differenz und Ausdrucksform nicht wirklich akzeptiert. Die ihr eigene Art und Weise der Wahrnehmung, der Erfahrung, der Wissenskonstitution, die eigene Selbstauslegung zählt nichts gegenüber der Weltauffassung des sich überlegen fühlenden Beobachters (noch weniger zählt das Bewußtsein des einzelnen Gesellschaftsangehörigen).“22
20 Die Probleme der Kultur [1972]: 465f. 21 Vgl. Fuchs 1991: 319. 22 Fuchs 1991: 319.
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Mit den Darstellungen von Wahnsinn und Gesellschaft und der Ordnung der Dinge sollte anschaulich werden, wie kompromisslos gerade Foucault die Existenz diverser kultureller Positivitäten annimmt. Wenn Fuchs hiermit allerdings bei Foucault wie bei Dumont und Bourdieu das Übergehen der bewussten emischen Sicht oder des unmittelbaren Erlebens anspricht, so bezieht er sich auf die in Teilen der Sozial- und Kulturanthropologie erst vor nicht allzu langer Zeit erkämpfte Subjektposition der Anderen in der Äußerung. Für die Anthropologie ist also die von Foucault vorgenommene Entzauberung des Subjekts dadurch fragwürdig, dass in der Archäologie das ‚Wissen‘ (savoir) als eine Regularität kultureller Positivitäten angesprochen ist, die nicht den bewusst formulierten oder subjektiv intendierten Sinn als analytisch relevante Realitätsebene der Aussage zum Ausdruck bringt. Tatsächlich wollte die Ordnung der Dinge den „Zweig finden, von dem die Verästelung ausgeht“23: einerseits in Richtung Hermeneutik (und Interpretation) als dem Versuch, mittels Deutung den verborgenen Sinn zu verstehen, und auf der anderen Seite zu denjenigen Wissenschaften, die das Netz der simultanen Erscheinungen entdecken und formalisieren wollen. Und wie ausgeführt, steht in der Tradition der französischen Epistemologie weniger die Frage der adäquaten Repräsentation als der Bruch der Wissenschaft mit dem Alltagsdenken und der Aufbau einer formalen Begrifflichkeit zur Diskussion. Angesichts dessen kann man ein gewisses Unbehagen von Fuchs nachvollziehen, das sich in der Aussage manifestiert, Foucault habe einen äußerst begrenzten Begriff von Ethnologie und hätte diese als Aufforderung, auf Verstehen ganz zu verzichten, missverstanden. In diesem Licht betrachtet erscheint es auch etwas widersinnig, wenn Autoren und Autorinnen der Postmoderne, die den Stimmen der Anderen Gehör verschaffen wollen, mit Foucaults Konzeptionen arbeiten – zumal sich in den entsprechend ausgelegten Richtungen der Sozial- und Kulturanthropologie meist humanwissenschaftliche Figuren erkennen lassen. Foucault hingegen wollte die Ethnologie ja nutzen, um den Humanwissenschaften zu entkommen. Eine andere Ethnologie als die strukturalistische hätte diese paradigmatische Rolle gar nicht leicht erfüllen können. Der Bruch zwischen Subjekt- und Objektposition in der Aussage wird in Foucaults wissenschaftlichem Ansatz zum Garanten eines nicht subjektbezogenen und somit zugleich nicht empathischen Zugangs. Auch dafür ist streng relativistisch oder konstruktivistisch gedacht der Grund keineswegs, dass eine solche Sicht nicht gelingen kann, sondern dass im Gegenteil das ‚lebendige Erleben‘ des Historizismus beendet werden soll. Warum Foucault dies als Ziel seiner Kri23 Die Ordnung der Dinge: Ein Gespräch mit Raymond Bellour [1966]: 151.
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tik ausgemacht hat, wird auf den ersten Blick weniger aus den epistemologischen Arbeiten als vielmehr aus den Arbeiten zu Institutionen sozialer Differenzierung und Diskriminierung verständlich. Die vorliegende Analyse galt aber primär der Frage, auf welche Weise es Foucault methodisch gelingt, der Moderne zu entgehen und zu entgegnen. Dementsprechend wurden der produktive Stellenwert der Differenz und die radikale Ablehnung jeder angleichenden Bewegung als Foucaults Politik, das Andere zu Wort kommen zu lassen, zum Angelpunkt meiner Studie. Wenn Foucault keinesfalls durch Ausdehnung des Subjektstatus Gleichheit zwischen dem Menschen der Moderne und den Anderen erreichen will, so lässt sich dies als Geste des überlegenen Beobachterstatus kritisieren oder aber als Versuch werten, ein Anderssein bedingungslos anzuerkennen. Gerade dieser Aspekt von Foucault wird allzu oft übergangen oder in seiner Konsequenz nicht ausgelotet – sowohl in der philosophischen als auch in der anthropologischen Literatur. Die Diskussion, welchen Status bei Foucault Äußerungen haben, die nicht der Moderne folgen, macht die Auseinandersetzung mit einer Kommunikationstheorie wie jener von Habermas besonders interessant. Damit wurde im Rahmen der Untersuchung von Foucaults Epistemologie ein prominentes Beispiel für die Identitätsdefinition der Moderne eingeführt, die Gegenstand von Foucaults Kritik ist. Die Analyse konnte so ins Licht rücken, welchen emanzipatorischen Wert Foucaults Konzeption der Vielfalt im Rahmen eines umfassenden kommunikativen Zusammenhangs hat und inwiefern sich seine Herangehensweise von einer definitiven Festlegung in die Kommunikationsgemeinschaft nicht einzubeziehender Anderer abhebt. Während Foucaults kulturelle Positionierungen für die Kritik von Außen offen sind, argumentiert Habermas in einem geschlossenen System, das von Außen letztlich nicht kritisiert werden kann, da er präskriptiv als Bedingung für eine akzeptable Kommunikation die Annahme moderner Identität setzt. Andere kulturelle Strukturierungen können in einzelnen Bereichen Vorbild sein – wenn die Moderne sich hier selbst kritisieren will. Aber eine Stimme, ein Mitspracherecht haben Andere in Kommunikation mit der Moderne nicht. Die Anderen sind gemäß Habermas wohl moderner Kritik würdig, aber nicht kritikfähig. Demgegenüber stellte sich Foucault der Herausforderung, „to repeat Kant’s critical questioning, while attempting to escape the anthropological configuration to which the latter involuntarily gave birth“24. Und bei diesem Vorhaben ist die Verbindung von Aufklärung und Strukturalismus als Kritik relevant, wie sie für Foucault herausgekehrt wurde. 24 Han 2002: 4.
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Foucaults Ausklammerung des Subjekts und somit des subjektiven Sinns ist nicht unbedingt darauf zurückzuführen, dass er ‚die‘ Ethnologie ‚missverstanden‘ hätte, sondern kann auch dem Projekt einer spezifischen Selbstreflexion und Selbstkritik geschuldet sein. Er forderte die Ethnologie schon in der Ordnung der Dinge auf, sich zu verallgemeinern, als ihr Arbeitsgebiet die unbewussten Prozesse, die das System einer gegebenen Kultur charakterisieren, zu wählen – und nicht wie bisher andere, geschichtslose Gesellschaften. Eine solche Wissenschaft soll in der Lage sein, die Ethnologie unserer eigenen Gesellschaft zu erstellen. „Sie würde als System des kulturellen Unbewußten die Gesamtheit der formalen Strukturen definieren, die die [...] Diskurse signifikant machen, die den Regeln, die die Bedürfnisse steuern, ihre Kohärenz und Notwendigkeit geben und anders als in der Natur und auf etwas anderem als auf reinen biologischen Funktionen die Normen des Lebens begründen.“25
Diese Definition zeigt, wie Foucault den Gegenstand der Ethnologie in Übereinstimmung mit seinem eigenen Forschungsvorhaben bestimmt. Auffällig ist, dass er hierbei alle kulturellen Ebenen einschließt beziehungsweise das ganze Gebiet der Humanwissenschaften und ihrer Reflexion der empirischen Wissenschaften umfasst. Auch für die Archäologie des Wissens, die ähnlich der Ordnung der Dinge häufig dem Vorwurf ausgesetzt ist, soziale und ökonomische Strukturen völlig auszublenden, konnte dieser Zugang festgehalten werden. Die Ebene der Regelmäßigkeit, auf die Foucault abzielt, ist keine Sprachlichkeit im engen linguistischen als vielmehr in einem spezifischen semiologischen Sinn. Ein wichtiger Aspekt der Verschiebungen gegenüber Saussure war in einer Politisierung der Diskursanalyse zu sehen. Einerseits ist dies mit der Integration aller kultureller Ebenen verbunden. Andererseits folgt es aus einem Perspektivenwechsel, der nicht die Regelmäßigkeiten der Langue als Basis für unendlich viele Aussagen ins Auge fasst, sondern sich für die konstitutive Auswahl der Paroles interessiert. Somit wendet sich Foucaults ethnologische Analyse an Verknappungsmechanismen, welche die jeweils konkret existierenden kulturellen Positivitäten produzieren. Kultur wird hier begriffen als die immer im Licht bestimmter Kräfteverhältnisse stehende Aktualisierung potentiell unendlicher alternativer Möglichkeiten. Indem Foucault mit der Ordnung der Dinge und noch deutlicher der Archäologie des Wissens seine eigene Arbeit in dieser Weise definiert hat, ist hier ähnlich wie bei Bourdieu eine reflexive Rückwendung des Strukturalismus zu se25 Die Ordnung der Dinge [1966]: 454.
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hen26 – zunächst im Bereich des Wissens auf die Episteme respektive die diskursiven Praktiken und dann wieder verstärkt auch auf die nicht-diskursiven Praktiken. Foucault will die Objektivierungsfunktion des Strukturalismus voraussetzend die eigene Verortung feststellen, deren spezifische Produktivität erkennen und zugleich denaturalisieren. Ziel ist aber natürlich nicht, damit an einer perspektivenlos gültigen Repräsentation des Objekts zu arbeiten und Verzerrungen zu korrigieren. Und Foucault will auch nicht die eigene Position in das soziale Handlungsfeld reintegrieren oder über eine Rekonstruktion des Bruchs mit der unmittelbaren Handlungspraxis – diesem eigentlichen Anderen bei Bourdieu – eine Annäherung erreichen.27 Zudem würde dies wohl bedeuten, empirisch Erkanntes als Erkenntnisbedingung anzusetzen, was in eine der abgelehnten humanwissenschaftlichen Zirkularitäten führen kann.28 Zu diesem Regress schreibt Foucault: „Auf einer anderen Ebene (und das ist immer noch die gleiche formale Eigenschaft, die aber bis in ihren extremsten und außerordentlichsten Punkt entwickelt ist) ist es stets möglich, im Stil von Humanwissenschaften [...] die Tatsache zu behandeln, daß es für bestimmte Individuen oder bestimmte Gesellschaften etwas wie ein spekulatives Wissen über das Leben, die Produktion und die Sprache gibt – im Grenzfall eine Biologie, eine Ökonomie und eine Philologie. Wahrscheinlich ist das lediglich der Hinweis auf eine Möglichkeit, die nur selten erfüllt wird, und auf der Ebene der Empirizitäten vielleicht keinen großen Reichtum bieten kann. Aber die Tatsache, daß sie als eventuelle Distanz, als Raum des Rückzugs, der den Humanwissenschaften in Beziehung zu dem, woher sie kommen, gegeben worden ist, und auch die Tatsache, daß dieses Spiel auf sie selbst angewandt werden kann [...], genügen, um ihre eigenartige Konfiguration zu zeigen.“29
26 Auch Bourdieu (1993) grenzt seine Position einer wissenschaftlichen von der narzisstischen Reflexivität ab. Vgl. zu Bourdieus Objektivierung der Objektivierung auch Fuchs (1991: 327f.). 27 Bourdieu stellt offenbar diese zweite Verortung epistemologisch vor die zuvor genannte Positionierung im sozialen Feld (vgl. Bourdieu 2003: z.B. 289 sowie auch Fuchs 1991: 329). Foucault widmet sich durchgängig der Frage, wie Distanz zu erreichen ist – eine Thematik, die auch in der Anthropologie spätestens seit der dezidierten Infragestellung der Grenze zwischen ‚Fremdem‘ und ‚Eigenem‘ zumal im Zuge der Globalisierungsdebatte noch an Brisanz gewinnen könnte. Wenn also auch nicht mit demselben Ziel, so interessieren Foucault dennoch wie Bourdieu (2003: 282, 285) weder „biographical particularities of the researcher“ noch „the Zeitgeist“. 28 Dass man das, was jede Kenntnis möglich macht, zu erkennen versucht, gab es auch etwa in der Klassik, als man die Besonderheiten der Repräsentation analysierte. In der Moderne liefern aber die empirischen Inhalte der Erkenntnis die Bedingungen, die sie möglich gemacht haben (vgl. Die Ordnung der Dinge [1966]: 384). 29 Die Ordnung der Dinge [1966]: 425.
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Dennoch könnte der letzte Satz auch eine gewisse Nähe von Foucault zu dieser epistemologischen Position verraten. Wie in den Ausführungen zum Wissenschaftsbegriff dargestellt wurde, ergeben sich bei Foucault im Bezug auf die Sprache ähnlich rekursive Figuren. In dem Interview mit dem Titel Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was heute ist antwortet Foucault auf die Frage nach der Beziehung zwischen seiner strukturalistischen Theorie und seinen Arbeiten Folgendes: „Ich habe versucht, eine strukturalistisch geprägte Analyse in Bereiche einzuführen, in die sie bisher noch keinen Eingang gefunden haben, das heißt in die Geschichte der Ideen, die Geschichte der Erkenntnis, die Geschichte der Theorien. Das hat mich veranlasst, auch die Entstehung des Strukturalismus selbst in Begriffen der Struktur zu untersuchen. Darum ist mein Verhältnis zum Strukturalismus zugleich durch Distanz und durch eine Verdoppelung geprägt. Distanz, weil ich eher über ihn spreche, als ihn unmittelbar anzuwenden; und Verdoppelung, weil ich nicht über ihn sprechen möchte, ohne seine Sprache zu sprechen.“30
Dabei hat Foucault den Anspruch, das eigene unbewusste System der Regularitäten erstellen zu können, und müsste insofern die eigene Analyse als Teil des Objekts sehen. Die Behauptung, dass die Struktur einer Metasprache anders als ihr Objekt sein muss, kommentiert er in Bezug auf die von ihm geforderte diagnostische Tätigkeit mit: „Das ist möglich.“31 Und der Frage, ob man sich bei dieser Aktivität innerhalb oder außerhalb der Episteme befinde, weicht Foucault mit einer Gegenfrage nach der Definition von Episteme aus. An anderer Stelle wird er zögernd etwas deutlicher: „Welches wäre unser heutiges System? M.F. Ich habe das – teilweise – in ‚Les mots et les choses‘ darzustellen versucht. Befanden Sie sich, als sie das taten, jenseits des Systems? M.F. Um das System zu denken, wurde ich schon von einem System hinter dem System gezwungen [j’étais déjà contraint par un système derrière le système], das ich nicht kenne, und das in dem Maße zurückweichen wird, in dem ich es entdecken werde, in dem es sich entdecken wird...“32
30 Die strukturalistische Philosophie gestattet eine Diagnose dessen, was heute ist [1967]: 748. 31 Die Probleme der Kultur ([1972]: 463); allerdings hat Foucault kurz zuvor erklärt, wie sowohl seine eigene kritische Diagnose als Abgrenzung und Bestimmung von Unterschieden im Gegenstandsfeld definiert werden kann, als auch etwa Saussures Prozedere, als er ein neues Gegenstandsfeld wie jenes der Langue erschienen ließ. 32 Absage an Sartre [1966]: 205. Dies könnte aber im Gegensatz zu Lavagnos (2003: 14) Annahme bedeuten, dass Foucault mit seiner Diagnose der Moderne impliziert,
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Trotzdem wird weiterhin als Ziel der Archäologie genannt, „dieses Aussagefeld, zu dem sie selbst gehört“33 zu erhellen.34 Die textualistische Position – wenn man Foucault dazu zählen will – zeigt also bei ihm nicht nur „how different things can be“, aber „is silent about who we are“.35 Dass Foucault zu wenig an der Selbstreflexion arbeite und gegenüber seinem eigenen Vorverständnis blind wäre, ist allerdings ein häufiger Einwand auch von Seiten der Philosophie. In diesem Zusammenhang kommt die Rolle der relationalen Differenzen respektive der produktiven Grenze wieder ins Spiel. Denn eine Objektivierung vollzieht sich bei Foucault immer perspektivisch über den differenzierenden Vergleich mit anderen kulturellen Positivitäten.36 So kann das Archiv als Ebene, wo der Raum der Diskursivität gebildet wird, in seiner Positivität wiederum nur angesichts anderer Archive identifiziert werden. Der Zugang zu den jeweiligen Regelmäßigkeiten besteht demnach über ein Nachzeichnen der produktiven Abgrenzungen, sodass auch die eigenen Voraussetzungen als historisches Apriori im Unterschied zu Alternativen sichtbar werden. Diese Konzeption der produktiven Grenze divergiert meines Erachtens von jener oft der Postmoderne zugerechneten, die problematisiert, wie das ‚Fremde‘ in seiner jeweiligen Innensicht zu erreichen ist, und dabei die Gefahr birgt, die eigene Innensicht nicht verlassen zu können und im Bezug auf das Andere immer nur sich selbst zu sehen.37 Der archäologische Diskurs „hat im Gegenteil die Unterschiede zu machen; sie als Objekte zu konstituieren“38 – er arbeitet also „mit Hilfe von Unterscheidungen und Gegensätzen, nicht durch Verschmelzung und Partizipation“39, wie man mit Lévi-Strauss’ Worten über das Wilde Denken sagen könnte. Und dadurch hebt sich Foucaults Ethnologie von der Moderne ab. Denn deren Grundauffassung bei
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schon nicht mehr ungebrochen auf ihrem Boden zu stehen – zumal wenn das Augenmerk darauf gerichtet ist, wie Foucault daran arbeitet, diese neuen Bedingungen zu installieren. Archäologie des Wissens [1969]: 189. Wenn Bourdieu (2003: 289) sagt, „one knows the world better and better as one knows oneself better“, so ist dies bei Foucault umgekehrt gewichtet: Die eigene unreflektierte Verortung zeigt sich im Kontrast zu anderen Positionierungen, also dem besseren Kennenlernen der Welt. Rabinow 1988: 360. Dies entspricht dem Gedanken von Bourdieu (2003: 289), dass sich die jeweiligen Spontankategorien immer angesichts eines anderen Wissens zeigen. Eine Postmoderne, von der Bourdieu (2003: 282) polemisch spricht als: „the falsely sophisticated considerations on the ‚hermeneutic process of cultural interpretation‘ and the construction of reality through ethnographic recording“. Archäologie des Wissens [1969]: 293. Lévi-Strauss (1973: 308) zur Arbeitsweise des Wilden Denkens.
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Foucault entspricht exakt Lévi-Strauss’ Analyse, wonach die Moderne respektive das ‚domestizierte‘ Denken ursprüngliche Diskontinuitäten vereinigend überwinden will.40 Somit ist der zentrale Scheidepunkt zwischen Foucault und Habermas epistemologisch benannt. Auch Habermas baut für seine Theorie des kommunikativen Handelns auf die Setzung von Differenzen. Die Selbst-Konstitution erfolgt über die Abgrenzung von der Position des Anderen. Allerdings führt dies (sowohl phylo- wie ontogenetisch) zu einer eindeutigen, fixen Identität, die bestimmte Kriterien erfüllt respektive als Zielvorgabe erfüllen soll. Daher ist aber die Identität der Anderen ebenso im Singular gedacht, eindeutig und fix. Im prinzipiell binären Aufbau sind allenfalls Zwischenstufen vorgesehen. Außerdem wird diese Selbstkonstitution als einmaliger und feststehender, grundsätzlich abschließbarer Schritt eingeführt, wonach die resultierende Identität auch existiert, wenn es ihr Anderes nicht mehr gibt. Daher können die Anderen verschwinden – diese Perspektive im Ansatz von Habermas ist also nicht eine akzidentielle Assoziation. Ebenso ist nicht zufällig ein Verschwinden der Anderen bei Foucault in dieser Form unmöglich. Auch hier gilt die Logik der Selbstbestimmung durch Differenzierung. Aber die Abgrenzung kann nicht ohne Anderes bestehen. Denn die Relation, durch die jede spezifische Position aktuell in gegenseitigem Definitionsverhältnis zu anderen steht, sich also über diese Beziehung nach Außen konstituiert, macht die Existenz der Positivitäten aus und kann nie abgebrochen werden. Daher muss sich die Selbstpositionierung in jedem Augenblick der Existenz des Anderen gewiss sein und hat keine substantielle innere Wahrheit. Damit ist ebenfalls vorgezeichnet, dass der ständig notwendige Blick auf das Andere dieses und zugleich den eigenen Standpunkt immer wieder neu bestimmt. Und ein solcher Blick ist des Weiteren nicht in der Binarität gefangen, die nur ein Anderes zulässt, die Repräsentation der Anderen eindimensional und für Empirie unzugänglich macht. Er erlaubt vielmehr eine Empirie, die relationale Positivitäten feststellt und damit nicht nur der Substantialisierung, sondern auch dem referentiellen Alleinanspruch entgeht. Allerdings bleibt zu berücksichtigen, dass auch diese Epistemologie noch nicht notwendigerweise die Abwertung der Anderen verhindert. Foucaults Projekt einer fundamentalen Infragestellung moderner Prämissen kann nur funktionieren, weil es einem wissenschaftlichen Zugang folgt, der in der ge40 Vgl. so die Moderne bei Lévi-Strauss (1973: 303).
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nannten Weise an der Feststellung von Vielfalt arbeitet und nicht einfach Alteritäten voraussetzt. Kahn kritisiert am Postkolonialismus, dass er zwar einen neuen pluralistischen Diskurs will, aber weiterhin von bestehenden Entitäten und Differenzen zwischen Kulturen ausgeht und so doch herkömmliche Muster weiterträgt.41 Obwohl Said für Kahn eine Wasserscheide in der neuen Ethnographie darstellt, beziehen sich diese Einwände auch auf ihn. Ganz ähnlich äußert sich Augé über Fabian.42 Derartige Bedenken habe ich für Foucaults Ethnologie insbesondere über die grundlegende Bewegungsrichtung des Erkenntnisprozedere auszuräumen versucht. Die über das Andere an der Moderne arbeitende Archäologie oder Ethnologie vollzieht das Ziel von Dumont, zu einer universellen Sprache des Vergleichs zu kommen,43 in verwandelter Form, wenn Foucault in der Denkoperation der Anderen unsere Identität mit den Anderen ansetzt und daher etwa eine andere Historizität oder unbewusst bedingende Strukturen und das Funktionieren eines Systems finden kann – also neben der Denaturalisierung auch eine neue Selbstsicht in Gang bringt. Andererseits ähnelt Foucaults Ansatz Dumont, wenn letzterer die Unterstellung von Ethnozentrismus mit dem Argument zurückweist, dass sein auf Hierarchien gerichteter Blick schon die Kontinuität des traditionalen Denkens (oder seine Wiederentdeckung) im modernen Kontext verkörpere.44 Und so kann dem Strukturalismus ein spezifischer subversiver Wert zugesprochen werden: „[S]tructuralism, as Lévi-Strauss has it, is on the contrary ‚an Amerindian existentialism‘ [...] – as if Lévi-Strauss were the guide, or rather the shaman who allowed Indian perspectivism to be transported into Western thought in order to destroy it from the inside [...].“45
Dies wäre eine Weiterentwicklung unseres Denkens durch außereuropäisches Kulturgut – ein Prozess, den etwa Wimmer in der akademischen Diskussion der Philosophie generell vermisst.46 Wie die vorliegende Untersuchung zeigt, arbeitet Foucault allerdings genau in diese, hier mit Lévi-Strauss verknüpfte, Richtung weiter. Und sofern die epistemologische Konstellation bei Foucault Ähnlichkeit mit der im Strukturalismus sichtbaren Position der Anderen hat, ist die archäologisch-ethnologische Gegenwissenschaft als Distanzierung der Moderne
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Vgl. Kahn 1995: 7ff. Vgl. Augé (1994: 76f.) über Fabian (1983). Vgl. Fuchs 1991: 322. Vgl. Fuchs (1991: 325), der dies auch mit Hinweis auf Foucaults Nähe zur Klassik vermerkt. 45 Latour 2009: 2. 46 Vgl. Wimmer 1988: 150.
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durch das Einsetzen eines anderen Blicks zu lesen – und wiederum nicht als einzige wissenschaftliche Wahrheit. Angesichts dieser Perspektive kann man aber schwerlich davon sprechen, dass sich für Foucault bei der „Art der Vermittlung zwischen Ego und Alter ein starkes Übergewicht zuungunsten des Anderen nachweisen“47 lässt. Gerade umgekehrt ist zentrales Ergebnis meiner Analyse von Foucaults Ethnologie der eigenen Kultur, dass sie dem Anderen den Vortritt gegenüber der westlichen Moderne lässt. Auch in dieser Hinsicht wäre ein Bruch zwischen Wahnsinn und Gesellschaft und den späteren Schriften festzuhalten. Dienten in Wahnsinn und Gesellschaft Begriffe wie Magie, Mythos und Ritual zur Charakterisierung moderner Positionen und Verfahrensweisen und fungierten als Entzauberung der Moderne, so hat sich dies später dahingehend geändert, dass Foucault selbst ein dem Anderen der Moderne gleichendes Denken als von der Moderne befreiende Alternative einbringt. Habermas kommt bezüglich Foucaults radikaler Vernunftkritik zu einer Einschätzung, die Lavagno solchermaßen bündelt: „[S]ie eignet sich die Argumente der modernen Kritik an [Herv. i.O.] der Vernunft an, ohne die Resultate jedoch einer kritisierenden [Herv. i.O.] Vernunft gutzuschreiben.“48 Die Erforschung von Foucaults kritischem, ethnologischem Blick legt nahe, dass beide Behauptungen bestritten werden können. Foucault eignet sich die Argumente moderner Kritik nicht schlichtweg an (selbst wenn er etwa hinsichtlich der Aktualität von Kritik eine Verbindung mit der Moderne herstellt). Denn im Gegensatz zu dieser kann seine Kritik mit anderen Rationalitäten als der modernen verbunden werden. Daher ist seine Kritik auch nicht ohne Vernunft. Im Gegenteil: Foucault gesteht der ‚Kritik der Vernunft‘ sehr wohl auch den Genitivus subjectivus zu – die Crux liegt im bestimmten Artikel respektive im Singular: „Man hat uns gesagt, wenn wir in einer Welt der Vernunft lebten, könnten wir uns von der Gewalt befreien. Das ist vollkommen falsch. Gewalt und Vernunft sind nicht unvereinbar. Mir geht es nicht darum, der Vernunft den Prozess zu machen. Ich möchte vielmehr die Natur dieser Vernunft bestimmen, die so gut mit der Gewalt vereinbar ist. Ich kämpfe nicht gegen die Vernunft schlechthin. Das könnte ich gar nicht.“49
Jedoch kommt speziell von philosophischer Seite die Anklage, dass bei Foucault keine Alternativen zu sehen sind:
47 So aber Biebricher 2005: 227. 48 Lavagno 2003: 73. 49 Foucault untersucht die Staatsräson [1979]: 1002.
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„Die Ohnmacht, dem positiv Daseienden gegenüber den Standpunkt einer GegenWirklichkeit (eines ‚Kontra-Faktischen‘) zu beziehen und es von dort aus kritisieren zu können, scheint mir Foucaults ‚Archäologie‘ mit einer konservativen Schlagseite zu belasten, die sie – vom Ansatz, nicht von der subjektiven Moral ihres Verfassers her – noch tiefer in den Positivismus (d. h. ins faktische Einverständnis mit dem Faktischen) treibt als mit der dreist-kecken Selbstcharakterisierung Foucaults: ‚eh bien je suis un positiviste heureux‘ (AdS 164), gemeint gewesen sein mag.“50
Tatsächlich hat sich Foucault mehrfach zu einem Positivismus bekannt, der im Kontext seiner Methodologie meiner Ansicht nach aber eine ganz anders gerichtete Funktion hat. Von einem der Moderne gegenüber kontrafaktischen, ethnologischen Blick getragen kann Foucault die Wirkung seiner produktiven Begrifflichkeiten nur durch positivistische Feststellungen entfalten und dabei das Instrumentarium der Wahrnehmung zugleich das Konstruktionsinstrumentarium sein lassen.51 In der Wissenschaft entsteht so ein Bild, in dem sich positivistisch die Diversifikationen ebenjener Bereiche abzeichnen, die er ins Auge fasst. Dass die Konstruktion dem Wahrgenommenen entspricht, liegt an der von Foucault konsequent verfolgten Übereinstimmung zwischen der Formation kultureller Strukturierungen generell und der Äußerung wissenschaftlicher Tatsachen. Zwar könnte als Kritik an der Realitätsebene von Foucaults Positivitäten gelten: „[Foucault] erfaßt lediglich die Ebene der Diskurse in einem nominalistischen Vorgehen, bei dem das Wort auf quasi physikalische Weise als ein Ding behandelt wird und im Grunde an seine Stelle tritt.“52
Zur Einschätzung der diskursiven Ebene meint Foucault allerdings: „[W]elchen politischen Status können Sie dem Diskurs geben [...]? Hat die Praxis des revolutionären und wissenschaftlichen Diskurses in Europa seit mehr als zweihundert Jahren Sie nicht von der Idee befreit, daß die Wörter Wind, ein äußerliches Geflüster, ein Flügelschlagen sind, das man nur mit Mühe in der Ernsthaftigkeit der Geschichte hört? Oder 50 Frank 1984: 148. 51 Wie oben breiter ausgeführt, legen sich Verbindungen zur französischen Epistemologie nahe: „Hiernach ist die erste methodologische Sorge, wie man sich selbst systematisch durch den Einsatz von methodologischen Strategien, Techniken und Praktiken in die beobachtende Distanz setzt, um dann die zweite methodologische Sorge zum Zuge kommen zu lassen, ob die Strategien, Techniken und Praktiken nun ihrerseits eine Realisierung derselben Theorie sind, die eingesetzt werden soll, um die Phänomene mit zu konstruieren. Die Bachelardsche Epistemologie bereitet damit die Selbstanwendung der Analyseprinzipien auf sich selbst vor: der epistemologische Bruch wird reflexiv“ (Diaz-Bone 2007: Abs. 49). 52 Dosse 1996: 490.
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muß man sich vorstellen, daß Sie [...] hartnäckig die diskursiven Praktiken in ihrer eigenen Existenz verkannt haben [...]?“53
Diese Mahnung wiegt umso schwerer, als Wörter und Diskurse bei Foucault nie harmlos eigentliche Realitäten frei von genealogischen Bezügen und kontextuellen Verbindlichkeiten bloß wiedergeben. Sondern sie bekennen sich dazu, menschengemacht von dieser Welt zu sein, eine Auswahl angesichts stets denkbarer Alternativen – ausgeliefert dem Widerspruch oder Einspruch und offen für Ereignisse von Außen. Hier zeigt sich wiederum die kritische Dimension von Lévi-Strauss, Saussure und sicher auch Nietzsche, wie Foucault explizit sagt.54 Eine solche Logik kultureller Kreativität kann auch als Basis oder Anschlussstelle für die Thematisierung kultureller Transformationen betrachtet werden, wie sie in der Anthropologie gegenwärtig etwa mit Konzepten der Métissage, Kreolisierung, Hybridität oder Reterritorialisierung artikuliert wird. Wendet man die Verschränkung von Positivismus und Konstruktivismus in Richtung der Frage nach den in Foucaults Analyse zum Ausdruck kommenden Entitäten, so erweist sich deren Abgrenzung letztlich als kontingent – abhängig von der Fragestellung bestimmt sie das Ergebnis. Von anthropologischer Seite kann man Foucault den Vorwurf nicht ersparen, dass er diesbezüglich sehr traditionell, vielleicht unkritisch, einen im Wesentlichen territorialen Fokus hat, seine Untersuchungen auf Einheiten wie die abendländische Zivilisation, Frankreich und Europa beschränkt und dabei etwa deren koloniale Bedingungen kaum in Betracht zieht. Diese Tatsache hinterlässt den Eindruck, aus der Subjektphilosophie stammende Identitäten weiterzutradieren. Allerdings resultiert dies nicht aus seinem theoretisch-methodischen Ansatz, der die Ausweitung des Horizonts im Gegenteil nahe gelegt hätte. Es war und ist daher auch für die Anthropologie relevant, nach Foucaults Modell die Grenzen des produktiven Systems weiter und weltweit zu denken und ‚Kulturen‘ als Positivitäten der Beziehungen dieses globalen Gefüges zu verstehen. Denn Foucaults Methode öffnet die Sicht auf einen sich stets ausdehnenden Zusammenhang. Umgekehrt lassen sich die Einheiten in verschiedene Aspekte auflösen, die jeder in anderen differentiellen Kontexten stehen. Damit bekommt die jeweilige Positivität, das jeweilige Element eine gewisse – und zwar klar definierbare – Konsistenz, die es erlaubt, seine Identität wie auch deren Veränderung in Konzepte kultureller Formation zu fassen, welche entgegen jeder essentialistischen
53 Archäologie des Wissens [1969]: 298f. 54 An dieser Stelle sei nochmals betont, dass damit andere Isomorphien etwa mit Heideggers Denken nicht ausgeschlossen sind, sie waren jedoch nicht Thema.
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Identitätslogik auf den kommunikativen Zusammenhang bauen. Ausgehend von Foucaults methodologischen Zugängen könnte man hierbei den archäologischen und genealogischen Blickwinkel vielleicht kombiniert so ansetzen, dass die Archäologie die Wertigkeit kultureller Positivitäten im jeweils gegenständlichen differentiellen Kontext auffasst, während die Genealogie die Wertigkeit dieser Elemente in andere Kontexte verfolgt. Dieser Gesichtspunkt der Analyse zeigt nicht nur die Herkunft als Differenz in der Wiederholung, sondern vermittelt auch eine gewisse Konsistenz der Elemente durch ihre Existenz außerhalb des jeweils analytisch im Vordergrund stehenden Kontexts. Dass solche auf der Rekombination beruhenden Modi der Veränderung auch die westliche Moderne bestimmen und die Autorschaft des Subjekts ebenso wie die natürliche Entfaltung ablösen, ist nur möglich durch eine Problematisierung der Historizität, wie sie Foucault betrieben hat. Die Kritik am historisierenden Bewusstsein als einer Dimension westlich moderner Dominanz steht vielleicht in der Anthropologie insgesamt etwas im Hintergrund – wenn man Faubion folgt, der meint, Lévi-Strauss sei de facto der einzige Anthropologe, der dies tief greifender analysiert, und zwar vor allem am Ende des Wilden Denkens.55 Zumindest aber lässt sich sagen, dass diese Kritik in der Anthropologie nicht einer jener Bereiche ist, welche bei der FoucaultRezeption deutlich wahrgenommen werden. Die Frage nach der Rolle der Ethnologie in Foucaults Arbeiten erwies jedoch, inwieweit Foucault seine kritische Revision ganz wesentlich hierauf bezieht und eine Kontinuität respektive Identität zwischen Moderne und anderen kulturellen Positivitäten vorsieht, die speziell in der Philosophie umstritten ist. In Anbetracht des großen Durchsetzungsvermögens von Foucaults Arbeiten besteht aber durchaus die Möglichkeit, dass dieser ethnologische Blick noch zu Transformationen der Moderne führen kann. Meine Untersuchung kommt zu Ergebnissen, wonach Hobarts Prognose stichhaltig sein sollte: „[Foucault] will be remembered as a nominalist in a world of essentialists, an epistemologist among unwitting ontologists, or as one who allows for chance in a throng of systematizers. As a matter of record he is already the person who boldly declared that anthropology was a key epistemic discipline [...].“56
55 Vgl. Faubion (1988: 375f.), der auch auf die Relevanz von Foucault in dieser Sache hinweist. Allerdings wird die Thematik von ihm hier als Diskussion um Gleichzeitigkeit und Gegenwärtigkeit geführt. 56 Hobarts 1984: 5.
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Hingegen ist schwer nachvollziehbar, wieso Foucault dem häufigen Vorbehalt gegenüber postmodernen sowie poststrukturalistischen Ansätzen unterliegen sollte, sowohl die historische wie auch systematische Begründung des eigenen Verfahrens zu verweigern und daher in Beliebigkeit abzurutschen.57 Man kann zu dem Schluss kommen, dass nicht nur die mit gesellschaftspolitischen Brennpunkten befassten Arbeiten von Foucault, sondern auch die hier im Vordergrund stehenden epistemologischen Schriften sehr wohl – und vielleicht in besonders hohem Maß – mit ihrem Modus operandi und den entsprechenden Inhalten einen normativen Gehalt haben. Foucault hat selbst aktiv verändert, vor allem aber öffnet er neue Perspektiven für diejenigen, die in Machtbeziehungen verwickelt sind, ihren Kampf aber nicht im Rahmen einer universell alternativlosen Rationalität der Moderne austragen können oder wollen. „So gesehen beruht meine gesamte Forschung auf dem Postulat eines unbedingten Optimismus. Ich unternehme meine Analysen nicht, um zu sagen: seht, die Dinge stehen so und so, ihr sitzt in der Falle. Sondern weil ich meine, daß das, was ich sage, geeignet ist, die Dinge zu ändern. Ich sage alles, was ich sage, damit es nützt.“58
Die ausführliche Diskussion des ethnologischen Blicks von Foucault sollte insbesondere den hier angesprochenen Praxischarakter dieser Epistemologie im Kontext wissenschaftlicher Argumentation thematisieren. Zu beurteilen war nicht, ob Foucaults Diskurs wahr ist, sondern welchen strategischen Wert er haben kann und inwiefern er Konsistenz und Plausibilität besitzt. Und es erwies sich als wissenschaftlich fruchtbare Aufgabe zu erforschen, dass Foucaults Werkzeuge gerade durch den Bezug auf die Ethnologie die Wirkung haben, im differenzierenden Vergleich als Auto-Anthropology mit einem über die Grenze operierenden Konstruktivismus moderne Identitäten zu zerschlagen und dabei die Rolle der Alterität umzukehren. Andererseits führte dies zu der Überlegung, inwiefern eine Übertragung seines Instrumentariums und seiner Ergebnisse in die Sozial- und Kulturanthropologie nicht ganz unproblematisch ist. Foucault selbst hat mit seiner ethnologischen Methode eine subversive Kraft zunächst für westliche Gesellschaften in der aktuellen Situation veranschlagt. Daher ist einleuchtend, dass er etwa für die Cultural Studies, sofern sie besonders an der Vielfalt in modernen Gesellschaften interessiert sind, eine wichtige Rolle spielen kann.59 57 Vgl. Quadflieg 2006: 13. 58 Der Mensch ist ein Erfahrungstier [1980]: 117. 59 Umgekehrt sieht Godelier (2000: 306) als große Gefahr der dekonstruktivistischen
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Für die Sozial- und Kulturanthropologie ist Foucaults Sichtweise einerseits nicht in gleichem Maße neu, da er basale Konzepte expressis verbis ihr entliehen hat. Möglicherweise ist Foucaults „largely unparalleled [pervasiveness] in anthropology“60 zum Teil hierauf zurückzuführen – selbst wenn die anthropologische Zunft ihn nicht als einen der ihren betrachtet. Zum anderen geht es aber um eine Schlüsselfrage der Diversität: Solange Foucaults Kritik an der Moderne nicht erfolgreich war, birgt der Einsatz seiner Theorie und Methode in der Anthropologie die Gefahr, vom Strukturalismus gesehene binäre Differenzen zwischen Moderne und den Anderen in gewissem Ausmaß fortzuschreiben. Foucaults Angebot – eine Alternative zum Denken der Moderne – wird allerdings dann zentral für die Anthropologie, wenn diese die Moderne als Teil ihres Gegenstandsbereichs fasst. Foucault bietet hierfür eine verallgemeinerbare Perspektive, die auf einem umfassenden Kommunikationszusammenhang verschiedener Rationalitäten beruht und nicht präskriptiv universelle Bedingungen für die Zulassung zum Wahrheitsspiel festlegt. Die fundamentale Ausrichtung der vorliegenden Analyse bildet die Frage, was Foucaults ethnologische Positionierung in Hinblick auf kulturelle Unterschiede bedeutet. Im Gegensatz zu anderen Zugangsweisen, die hier konkret am Beispiel von Habermas angeschnitten wurden, operiert sein Ansatz weder mit Ausschluss noch mit Einbeziehung der Anderen. Foucaults Ansatz kann dieser Gegenüberstellung entgehen, indem er die Struktur der Moderne, die dies vorgibt, in Richtung eines Denkens verschiebt, wo kulturelle Unterschiede in kommunikativem Zusammenhang bestehen. Foucaults Ethnologie ist ein strikt regionaler Zugang, der den Anspruch hat, entgegen der identitätsstiftenden Subjektivität der Humanwissenschaften von der Einheitlichkeit ausgehend den Gegenstand und über dessen Artikulation auch die Subjektposition mittels Differenzierung zu objektivieren. Die im Vergleich erstellten Grenzen erlauben, die unbewussten Regelmäßigkeiten der kulturellen Positivitäten in ihrer Sprachlichkeit zu erkennen. Angesichts des Verzichts auf einen vorgegebenen, unerreichbaren Referenten sollen positivistisch in relationaler Objektivität konzipierte Alternativen Erfahrungen ermöglichen, die Öffnungen für kritische Transformationen der Moderne schaffen.
Richtung, dass damit die Sozialanthropologie womöglich einfach den Cultural Studies zugeschlagen wird. 60 Boyer 2003.
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Einige Textstellen zu Foucaults ethnologischem Blick sollen den Schluss bilden. „Welcher Gattung gehört Ihrer Meinung nach Ihre Arbeit an? [...] Man könnte sie als eine Analyse der Zivilisationstatsachen, die unsere [Herv. i.O.] Kultur charakterisieren, definieren und insofern würde es sich um etwas wie eine Ethnologie [Herv. i.O.] der Kultur, der wir angehören, handeln. Ich versuche tatsächlich, mich außerhalb der Kultur, der wir angehören, zu stellen, um ihre formalen Bedingungen zu analysieren, um gewissermaßen ihre Kritik [Herv. i.O.] zu bewerkstelligen: aber nicht um ihre Werte herabzusetzen, sondern um zu sehen, wie sie tatsächlich entstanden sind. Indem ich die Bedingungen unserer Rationalität analysiere, stelle ich auch unsere Sprache, stelle ich meine Sprache, deren Entstehung ich analysiere, in Frage. Sie arbeiten also an einer Ethnologie unserer Kultur? Oder zumindest an einer Ethnologie unserer Rationalität, unseres Diskurses.“ Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 12 „Die Ethnologie befragt [...] nicht den Menschen selbst, so wie er in den Humanwissenschaften erscheinen kann, sondern sie befragt jenes Gebiet, das im allgemeinen ein Wissen über den Menschen möglich macht. [...] Die Ethnologie steht innerhalb der besonderen Beziehung, die die abendländische ratio mit allen anderen Kulturen herstellt. Und von da ausgehend umgeht sie die Repräsentationen, die die Menschen in einer Zivilisation von sich selbst, ihrem Leben, ihren Bedürfnissen, von den in ihrer Sprache niedergelegten Bedeutungen haben können. [...] Das Privileg der Ethnologie [...] [ist] also nicht in einer bestimmten Sorge zu suchen [...], das tiefe Rätsel, den geheimnisvollsten Teil der Natur zu durchdringen. Tatsächlich spiegelt sich im Raum ihres Diskurses viel eher das historische Apriori aller Wissenschaften über den Menschen – die großen Zäsuren, die Furchen, die Trennungen, die in der abendländischen episteme das Profil des Menschen umrissen und ihn für ein mögliches Wissen disponiert haben. Es war also notwendig, daß [die Ethnologie] immer Wissenschaft [...] des Unbewußten [ist], nicht, weil sie im Menschen das [erreicht], was unterhalb seines Bewußtseins liegt, sondern weil sie sich dem [zuwendet], was außerhalb des Menschen erlaubt, daß man (und zwar in einem positiven Wissen) das weiß, was seinem Bewußtsein gegeben wird, oder ihm entgeht. [...] Aber ihre Entwicklung hat die Besonderheit, daß sie trotz ihrer quasi universellen ‚Tragweite‘ nie einen allgemeinen Begriff des Menschen [erreicht].“ Die Ordnung der Dinge [1966]: 452f. „[D]ie Ethnologie [stellt sich] in die [Dimension] der Historizität (die Dimension jenes ständigen Oszillierens, das bewirkt, daß die Humanwissenschaften stets in Frage gestellt werden, und zwar von außen, von ihrer eigenen Geschichte).“ Die Ordnung der Dinge [1966]: 450 „Im Verhältnis zu den ‚Humanwissenschaften‘ sind die Psychoanalyse und die Ethnologie eher ‚Gegenwissenschaften‘. Das bedeutet nicht, daß sie weniger ‚rational‘ oder ‚objektiv‘ sind als die anderen, sondern daß sie ihnen entgegen arbeiten und sie auf ihr epistemologisches Fundament zurückführen und nicht aufhören, diesen Menschen ‚kaputt‘ zu machen, der in den Humanwissenschaften seine Positivität bildet und erneut bildet.“ Die Ordnung der Dinge [1966]: 454
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„[Man könnte] Ihnen vorwerfen, daß Sie die Genesis Ihres Blicks auf die Dinge vergessen oder verbergen. In Ihren Analysen handelt es sich um ein methodologisches Vergessen des Subjekts, welches die Analysen selber durchführt [...]. [...] Man hat tatsächlich einige Zeit lang geglaubt, daß sich eine Methode nur dadurch rechtfertigen lasse, daß sie von der ‚Totalität‘ Rechenschaft ablegen könne. [...] [D]ie historische Methode [war] umfassender als die strukturale, da sie gleichzeitig die Entwicklung und das Resultat erfassen wollte. Seit Saussure sind Methodologien im Entstehen begriffen, die sich ganz bewußt als partielle Methodologien verstehen. Man verdeckt bestimmte existente Bereiche, und dank dieser Abblendung erscheinen – sozusagen im Kontrast – Phänomene, die sonst in einer allzu komplexen Menge von Beziehungen versunken geblieben wären. [...] Ich negiere also das Cogito nicht, ich beschränke mich auf die Beobachtung, daß seine methodologische Fruchtbarkeit nicht mehr so groß ist, wie man geglaubt hat, und daß wir in jedem Falle unter völliger Mißachtung des Cogito Beschreibungen durchführen können, die mir objektiv und positiv zu sein scheinen. [...] [...] Das ändert nichts daran, daß man sich immer auf der Ebene der Totalität befindet und daß der Philosoph von dieser Totalität Rechenschaft abzulegen hat. [...] [M]an kann ein Forschungsgebiet eingrenzen, wie man will, aber man kann nicht verhindern, daß es einen Kontext hat. [...] [...] Ich weiß genau, daß ich mich in einem Kontext befinde. Das Problem liegt darin, wie man von diesem Kontext Bewußtsein erhalten kann, wie man ihn integrieren kann, wie man seine Effekte auf den gerade in Entstehung begriffenen eigenen Diskurs wirken lassen kann [...].“ Paolo Caruso: Gespräch mit Michel Foucault [1967]: 16,17,18 „Die so verstandene Diagnose erreicht nicht die Feststellung unserer Identität durch das Spiel der Unterscheidungen. Sie stellt fest, daß wir Unterschiede sind [...]. [...] Sie beginnt mit dem unserer eigenen Sprache Äußeren; ihr Ort ist der Abstand [...] [,] sie nimmt uns unsere Kontinuitäten [...].“ Archäologie des Wissens [1969]: 190 „Ich bin mir dessen voll bewußt, daß ich nie etwas anderes geschrieben habe als fictions. Ich will nicht sagen, daß das außerhalb von Wahrheit liegt. Es scheint mir die Möglichkeit zu geben, die Fiktion in der Wahrheit zum Arbeiten zu bringen, mit einem Fiktionsdiskurs Wahrheitswirkungen hervorzurufen und so zu erreichen, daß der Wahrheitsdiskurs etwas hervorruft, ‚fabriziert‘, was noch nicht existiert, also ‚fingiert‘.“ Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere [1977]: 117 „Es ist immer etwas Lächerliches im philosophischen Diskurs, wenn er von außen den andern vorschreiben und vorsagen will, wo ihre Wahrheit liegt und wie sie zu finden ist, oder wenn er ihnen in naiver Positivität vorschreiben will, wie sie zu verfahren haben. Aber es ist sein Recht, zu erkunden, was in seinem Denken verändert werden kann, indem er sich in einem ihm fremden Wissen versucht. Der ‚Versuch‘ – zu verstehen als eine verändernde Erprobung seiner selber und nicht als vereinfachende Aneignung des andern zu Zwecken der Kommunikation – ist der lebende Körper der Philosophie [...]“ Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2 [1984]: 16
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Edition Kulturwissenschaft Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited 2010, 466 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3
Uta Fenske, Walburga Hülk, Gregor Schuhen (Hg.) Die Krise als Erzählung Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne Mai 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1835-8
Erika Fischer-Lichte Performativität Eine Einführung März 2012, ca. 150 Seiten, kart., ca. 14,80 €, ISBN 978-3-8376-1178-6
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums 2010, 180 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7
Bernd Hüppauf Vom Frosch Eine Kulturgeschichte zwischen Tierphilosophie und Ökologie Februar 2011, 400 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1642-2
Claus Leggewie, Darius Zifonun, Marcel Siepmann (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften März 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Edition Kulturwissenschaft Stephan Conermann (Hg.) Was ist Kulturwissenschaft? Zehn Antworten aus den »Kleinen Fächern« Januar 2012, 316 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1863-1
Barbara Gronau (Hg.) Szenarien der Energie Zur Ästhetik und Wissenschaft des Immateriellen März 2012, ca. 270 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1689-7
Klaus W. Hempfer, Jörg Volbers (Hg.) Theorien des Performativen Sprache – Wissen – Praxis. Eine kritische Bestandsaufnahme April 2011, 164 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1691-0
Nicole L. Immler Das Familiengedächtnis der Wittgensteins Zu verführerischen Lesarten von (auto-)biographischen Texten
Thomas Kirchhoff, Vera Vicenzotti, Annette Voigt (Hg.) Sehnsucht nach Natur Über den Drang nach draußen in der heutigen Freizeitkultur Februar 2012, ca. 200 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1866-2
Alexander Kratochvil, Renata Makarska, Katharina Schwitin, Annette Werberger (Hg.) Kulturgrenzen in postimperialen Räumen Bosnien und Westukraine als transkulturelle Regionen März 2012, ca. 350 Seiten, kart., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1777-1
Regine Strätling (Hg.) Spielformen des Selbst Das Spiel zwischen Subjektivität, Kunst und Alltagspraxis Februar 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1416-9
April 2011, 398 Seiten, kart., zahlr. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1813-6
Roland Innerhofer, Katja Rothe, Karin Harrasser (Hg.) Das Mögliche regieren Gouvernementalität in der Literaturund Kulturanalyse Januar 2011, 338 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1474-9
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