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German Pages IX, 372 [376] Year 2020
S C H R I F T E N Z U R W E L T L I T E R AT U R
BAND 10
Dagmar Stöferle
Ehe als Nationalfiktion Dargestelltes Recht im Roman der Moderne
Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature Band 10 Reihe herausgegeben von Dieter Lamping, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft, Johannes-Gutenburg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland In Zusammenarbeit mit Immacolata Amodeo, David Damrosch, Henrieke Stahl, Elke Sturm-Trigonakis, Galin Tihanov und Markus Winkler
Der Begriff der Weltliteratur, im 19. Jahrhundert geprägt, hat in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten eine erstaunliche Karriere in der internationalen Literaturwissenschaft gemacht. Während sein Gegenbegriff, ‚Nationalliteratur‘, inzwischen weitgehend aus der Diskussion verschwunden ist, gilt ‚Weltliteratur‘ mehr denn je als das wichtigste Konzept für die Beschreibung der Internationalisierung, die inzwischen unübersehbar alle Literaturen bestimmt. Längst sind sie nicht mehr inselhaft in sich geschlossen, sondern stehen in vielerlei Beziehungen zueinander. „Schriften zur Weltliteratur“ ist eine komparatistische Reihe, die Autoren und Autorinnen, Texten und literarischen Problemen gewidmet ist, die von übernationaler Bedeutung sind. Dazu zählen etwa interkulturelle literarische Kontakte, produktive poetische Rezeptionen über Sprachgrenzen hinweg, Übersetzungen und Übersetzungspoetiken, Fragen eines kulturübergreifenden Kanons, literarische Leitfiguren von internationaler Ausstrahlung, historische und typologische Vergleiche zwischen Literaturen, Texten und Autoren verschiedener Sprachen, schließlich Diskussionen über Konzepte internationaler Literatur wie ‚Weltliteratur‘ oder ‚Europäische Literatur‘ u. ä. In dieser Anlage versucht die Reihe dem heute geläufigen weiten Verständnis von Weltliteratur als Bezeichnung für unterschiedliche Prozesse und Aspekte literarischer Internationalisierung gerecht zu werden. Weitere Bände in der Reihe http://www.springer.com/series/15407
Dagmar Stöferle
Ehe als Nationalfiktion Dargestelltes Recht im Roman der Moderne
Dagmar Stöferle Institut für Romanische Philologie, Ludwig-Maximilians-Universität München München, Deutschland Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Geschwister Boehringer Ingelheim Stiftung für Geisteswissenschaften in Ingelheim am Rhein. Ende 2017 als Habilitationsschrift angenommen von der Fakultät für Sprach- und Literaturwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität München.
Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature ISBN 978-3-476-05657-3 ISBN 978-3-476-05658-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0
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Verzeichnis benutzter Siglen
CI Manzoni: Storia della Colonna Infame (1840), in: Ders., Tutte le opere, Bd. II/1: I Promessi Sposi. Testo definitivo del 1840, hg. von Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti. Mailand: Mondadori 1963, S. 675–785. CS Rousseau: Contrat social, ou principes du droit politiques (1762), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 3, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1964, S. 347–470. FL Manzoni: Fermo e Lucia (1823), in: Ders., Tutte le opere, Bd. II/3: Fermo e Lucia, hg. Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti. Mailand: Mondadori 1964, S. 1–669. HD Goethe: Herrmann und Dorothea (1797), in: Ders., Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. von Waltraud Wiethölter, (= Bd. 8 der Frankfurter Ausgabe). Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2006 (1994), S. 807–883. MB Flaubert: Madame Bovary (1857), hg. von Jacques Neefs. Paris: Librairie Générale Française 2008. ND Hugo: Notre-Dame de Paris. 1482 (1831), hg. von Benedikte Andersson. Paris: Gallimard (folio classique) 2009. NH Rousseau: Nouvelle Héloïse (1761), in: Ders., Œuvres complètes, Bd. 2, hg. von Bernard Gagnebin und Marcel Raymond. Paris: Gallimard 1964, S. 1–793. OMC Manzoni: Osservazioni sulla morale cattolica (1855), in: Ders., Tutte le opere di Alessandro Manzoni, Bd. III: Opere morali e filosofiche, hg. von Fausto Ghisalberti. Mailand: Mondadori 1963, S. 1–250. PS Manzoni: I promessi sposi (1840), in: Ders., Tutte le opere, Bd. II/1: I Promessi Sposi. Testo definitivo del 1840, hg. von Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti. Mailand: Mondadori 1963, S. 1–673. UA Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. von Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 993–1119. W Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809), in: Ders., Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. von Waltraud Wiethölter, (= Bd. 8 der Frankfurter Ausgabe). Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2006 (1994), S. 269–529. V
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.1 Roman und Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1.2 Ehe und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 1.3 Paar und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1.4 Textkorpus und Aufbau der Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 2 Ehe um 1800 – Zwischen Vertrag und Sakrament. . . . . . . . . . . . . . . . . 15 2.1 Säkularisierung der Ehe? Sakramentalität und Rechtsprechung. . . . 15 Ehe als Metapher und Dispositiv. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Sichtbarkeit oder: paulinisches mysterium. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 Verfahren der Sichtbarmachung: der Paar-Konsens zwischen Sakrament und Vertrag. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 Vom heiligen Stand zum sittlichen Staatszweck. . . . . . . . . . . . . . . . 35 2.2 Band der Teilung. Die revolutionäre Ehegesetzgebung. . . . . . . . . . . 44 Ehescheidung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 Eheschließung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 Eheschließungspraxis: Fest, Gesetz, Ursprung . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3 Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschafts- und Ehevertrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56 Julie als personifizierter Gemeinwille. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Moderne Regierungskunst: Julie und Wolmar. . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 Julies Tod und die Frage nach dem Recht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 Politik und Religion der bürgerlichen Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 3 Manzoni – Recht und Roman . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.1 Poetik des Paares. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 3.2 Renzo im Prozess der Profanierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 Storia della colonna infame – Intertextuelle Selbstbehauptung . . . . 97 Der Erzähler als Richter der Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 101 Metapoetik. Logik und Rhetorik der Unwahrscheinlichkeit. . . . . . . 106 Rechtspoetologie: Irdisches Strafrecht und Ehegesetz . . . . . . . . . . . 110 Renzos Ironie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Ambivalente Affektpolitik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120
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VIII
Inhaltsverzeichnis
Zwischen Masse und Macht: Renzos ent-täuschte Revolution. . . . . 126 Konversion, unrein und natürlich. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Nascitur Renzo: der Traum der profanen Erzählung. . . . . . . . . . . . . 149 3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Marianna de Leyva alias Geltrude/Gertrude . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 Ein- und ausgeschlossene Leidenschaft. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 Gertrude, la Signora. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Zwischen Akt und Sprache. Zur Frage der Schuld . . . . . . . . . . . . . . 169 Latente Liebe. Gertrude – Lucia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 Lucias voto. Konversion als Irrtum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 Die Lösung des Gelübdes, rechtskritisch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197 Communauté inavouable. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente . . . . . . . 211 4.1 Von der Ehe-Novellistik der Ausgewanderten zur Herrschaftsutopie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213 Revolutionäre Leidenschaften und gestörte Ehen. . . . . . . . . . . . . . . 213 Ehegatten und Rechtssubjekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 4.2 Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 226 4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 Ehe-Idylle und Patriarchat (Voß’ Luise). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 235 Vom Schlafrock …. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 246 … zur Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251 Hochzeit von Liebe und Revolution. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 Apotropäische Paarung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Verlobung als Berührung von Gegensätzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 ‚Rein Menschliches‘ – zwischen ästhetischer und nationaler Norm. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 274 4.4 Die Wahlverwandtschaften: Darstellung der Herstellung von (Ent-)Scheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 277 Vom Versuch zum Fall. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 281 Eskalationen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 Scheidungsverhinderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Der Fall Ottilie: zweierlei Recht und asymmetrischer Schein. . . . . . 304 5 Romane vor Gericht – Notre-Dame de Paris und Madame Bovary. . . . 313 5.1 Dynastische Brautnahme. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 316 5.2 Scheinehen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 5.3 Quasimodos Hochzeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 322 5.4 Herstellung und Darstellung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327
Inhaltsverzeichnis
IX
6 Schluss. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 6.1 Roman und Ehe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 6.2 Ehe und Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 6.3 Paar und Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345 Literaturverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 Personenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 369
1
Einleitung
Schwindet das Bewußtsein von der latenten Anwesenheit der Gewalt in einem Rechtsinstitut, so verfällt es.* … was das Paar paart, ist kein Paar, ohne freilich ein Einzelner zu sein. Was paart und also „ist“, und zwar in dem transitiven Sinne, den Heidegger hier fordert, ist das, was das Seiende durchquert und bewegt, es entzückt und sich von ihm entzücken lässt; mit anderen Worten: was es mit sich reißt, es zugleich und plötzlich übersteigt. Dies ist weder eins noch zwei und auch nichts, was sich zählen ließe.**
1.1 Roman und Ehe Die Geschichte des Romans ist von Anfang an die Geschichte einer Rechtfertigung. Hans Blumenberg hat den Roman als die „Gattung des schlechten ästhetischen Gewissens“ bezeichnet, weil seine fiktive Realität das Menschenmögliche erweitere.1 Nicht zufällig, so zeigt er, warnt Platon ausgerechnet in seinem Staat vor den Dichtern. Romane bilden die Wirklichkeit nicht nur ab, sie wirken auf sie zurück, und in dem Maße, da sich die Homogenität eines Wirklichkeitsbegriffes verliert, gewinnt ihre Wirkung an Bedeutung und können
1Hans Blumenberg, „Wirklichkeitsbegriff und Möglichkeit des Romans“ (1963), in: Hans Robert Jauß (Hg.), Nachahmung und Illusion, München: Fink 21969, S. 9–227.
*Walter Benjamin, „Zur Kritik der Gewalt“ (1921), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. II.1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1977, S. 179–203; hier: S. 190. **Jean-Luc
Nancy, „Es gibt Geschlechtsverkehr“ (2001), in: ders: Es gibt – Geschlechtsverkehr, hg. und übers. von Judith Kasper, Zürich: diaphanes 2012, S. 7–57; hier: S. 10. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0_1
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1 Einleitung
sie als die literarische Gattung der Moderne schlechthin betrachtet werden. Im Anspruch, eine Welt darzustellen, ist der Roman (geschichts-)philosophischer Gegenstand geworden. Dabei wird er zum antiken Epos als gleichsam ursprüngliche fiktive Realität eines Staates in Beziehung gesetzt und als dessen Nachfolgeformation kritisiert oder gerechtfertigt. Wo es nach Hegel in einer bürgerlichen Gesellschaft, die sich im Staat institutionalisiert hat, kein Epos mehr und nur noch einen subjektiven Bildungs- und Entwicklungsroman geben kann, versucht Georg Lukács in der Theorie des Romans die Erneuerung der Gattung als „Epopöe der gottverlassenen Welt“2 und „Form [einer] gereiften Männlichkeit“.3 Seine Romantheorie ist unvollständig geblieben, die D ostojewski-Monographie, als deren Präludium sie gedacht war, wurde nicht geschrieben. Aber für die Geschichte des Romans bleibt der Text zentral, weil er Roman- als Modernetheorie betreibt und emphatisch davon ausgeht, dass man mit einer literarischen Gattung „die gesellschaftlichen Formen des Lebens“4 transzendieren könne. Der Roman wird auf diese Weise zu einer ästhetischen Norm, die über die als defizient wahrgenommene Normativität einer ‚gottverlassenen Welt‘ gestellt wird. In seinem Buch Mimesis, dessen latenter Hegelianismus an Lukács erinnert, stellt Erich Auerbach dagegen nicht ausdrücklich die Gattung Roman ins Zentrum seines Interesses, sondern eine ganze Literatur, die in ausgewählten Beispielen aus knapp 3000 Jahren als „dargestellte Wirklichkeit“ beschrieben wird.5 Dennoch spielt auch für den geschichtlich-prozessualen Realismus-Begriff in Mimesis die Gattung des Romans insgeheim eine ästhetisch normative Rolle. Auerbachs Geschichte der Literatur beginnt mit der Odyssee, die mit dem Stil des Alten Testamentes verglichen wird, und sie endet mit Virginia Woolfs Roman To the Lighthouse (1927), an dem noch einmal jene ernste „Einstellung des Schriftstellers zur Wirklichkeit der Welt“ herausgearbeitet wird, die das Buch im Leitmotiv der Gattungsmischung verfolgt. Ließe sich also Auerbachs ‚dargestellte Wirklichkeit‘ nicht auch als ein dargestelltes Recht der Literatur beschreiben, für die der Roman eine Schlüsselposition einnimmt? To the Lighthouse ist unter den Texten, die in Mimesis analysiert werden, der einzige, der von einer Frau geschrieben wurde; und vielleicht ist es nicht zufällig ein Roman, in dem es um die Geschichte eines Ehepaares geht. Was nun die Darstellung der Ehe im Roman angeht, entsteht und hält sich in der Moderne hartnäckig der Topos einer vermeintlich ästhetischen Widerständigkeit des Gegenstandes. Mit der Ubiquität der Ehe als Motiv in der aufklärerischen und romantischen Literatur geht einher, dass ihre Darstellbarkeit als Geschichte und narrativierbare Verlaufsform kontestiert oder mindestens ästhetisch devalorisiert wird. Wenn man unter Eheromanen solche Texte versteht, die die Geschichte eines Paares von der Heirat bis zum Tod des einen Partners (oder beider Partner)
2Georg
Lukács, Die Theorie des Romans (1916), Bielefeld: Aisthesis Verlag 2009, S. 68. S. 66. 4Vgl. ebd., S. 111 ff. 5Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/ Basel: Francke 91994 (1946). 3Ebd.,
1.1 Roman und Ehe
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schildern, wird man in der Literatur um 1800 in der Tat schlecht fündig bzw. stößt man unwillkürlich gleich auch auf ihr vermeintliches Gegenteil, den Ehebruchroman.6 Noch der soziologische Befund, nach der die Ehe in der Moderne zu einem ‚Problem‘ wird, steht in gewisser Weise im Bann des romantischen Topos einer Unvereinbarkeit von verlaufsförmiger Ehe und instantaner Liebe. So stellt Niklas Luhmann im Vorwort zu Liebe als Passion ausdrücklich fest, für die Argumentation vor allem auf „zweit- und drittrangige[ ] Literatur“ zurückgegriffen zu haben.7 Während sich die ästhetische Normierung realer Eheauffassungen scheinbar am besten an Texten von minderer literarischer Qualität zeigen lässt, spielen die ‚großen Romane‘ erst dort eine herausragende Rolle, wo es um die Subversion realer gesellschaftlicher Normierung geht. Das heißt, dass ausgerechnet im ‚realistischen‘ Roman scheinbar stillschweigend vorausgesetzt wird, dass die Ehe als Metapher für Zeit- und Gesellschaftskritik aufzufassen sei. Mit den in dieser Arbeit untersuchten Texten geht es mir nicht zuletzt darum, diese scheinbar selbstverständliche Metaphorisierung in einer Vorgeschichte des Ehebruchromans historisch zu situieren und zu erklären. Die ästhetische Marginalisierung der Ehe als narrative Verlaufsform, als das, was Blumenberg einen in sich stimmigen Kontext nennt, verdeckt einen Prozess gesellschaftlicher Normierung, an dem die Literatur, wie man zumindest theoretisch weiß, selbst doch maßgeblich beteiligt gewesen sein soll. Um diesen literarischen Prozess der Normierung erhellen zu können, ist eine Verschiebung der Perspektive auf die Darstellungsform der Ehe nötig: Der Realitätsausweis, den die literarischen Texte in der Darstellung der Ehe anstreben, resultiert nicht aus dem Verlauf einer Ehe, sondern aus der Form, wie diese Ehe geschlossen wird. Dabei rückt die Eheschließung nicht nur als ein inhaltliches Element der Handlung in den Vordergrund, sondern als eine Form, die sich nicht zuletzt auf den Begriff der Ehe selbst auswirkt. Eine wichtige Hypothese dieser Arbeit liegt also darin, dass man nicht von einer realhistorischen Eheauffassung ausgehen kann, die im literarischen Text abgebildet würde. In der narrativen Ausgestaltung der Eheschließung fingiert der Text nicht eine bestimmte Wirklichkeit, sondern ein (Eheschließungs-)Recht dieser Wirklichkeit, dessen Realitätsbezug folglich auch über ein einzelnes, beliebiges Paar hinausgehen und die ganze Gesellschaft betreffen kann, die unter diesem ‚realen‘ Recht steht. In diesem Sinne wäre also auch der Eheschließungsroman – wie der Ehebruchroman – ein ‚Gesellschaftsroman‘. Ein solcher Eheschließungsroman kann gleichzeitig als Ehebruchroman in den Blick genommen werden, dann
6Vgl. hierzu die Dissertation von Bettina Recker, „Ewige Dauer“ oder „Ewiges Einerlei“. Die Geschichte der Ehe im Roman um 1800, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. Am EheNarrativ, das hier am Beispiel von Johann Timotheus Hermes’ Für Eltern und Ehlustige (1789), Jean-Pauls Siebenkäs (1796/1797) und Goethes Wahlverwandtschaften (1809) verfolgt wird, macht Recker unterschiedliche literarische Strategien aus, die im Prinzip Gattungskonventionen (Didaxe, Satire und Roman) entsprechen. So wird der Roman der Wahlverwandtschaften denn auch unter der Strategie ‚Subversion‘ subsumiert. 7Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (1982). – In der Tat frappiert die Marginalität Rousseaus in Liebe als Passion, der mit der Nouvelle Héloïse doch eine Art Drehbuch für die ‚Codierung von Intimität‘ geschrieben hat.
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1 Einleitung
n ämlich, wenn entweder seine eigene Form als potentiell scheiternde reflektiert wird, oder aber wenn mit dieser Form der Bruch mit der vermeintlich realen Form des Eheschließungrechtes intendiert ist. Je nachdem ob der Vertrag oder die Transgression fokussiert wird, kann ein Roman wie Rousseaus La nouvelle Héloïse oder Goethes Wahlverwandtschaften als Ehe- oder Ehebruchroman analysiert werden.8
1.2 Ehe und Nation Die Eheschließungsfiktion ist eine Gründungsfiktion, deren Produkt man mit Benedict Anderson als eine imagined community, nicht aber unbedingt auch als Nation bezeichnen kann.9 Anderson betont in seinem Buch bekanntlich die Bedeutung der Printmedien für die Herausbildung von Nationen, weil mit ihrer kollektiven Rezeption das homogene Zeitbewusstsein eines sozusagen sozialen Organismus entstehen konnte. Doris Sommer hat diesen Befund vertieft, indem sie eine bestimmte, genuin ‚romantische‘ Thematik hervorhebt, die den Effekt einer nationalen Identifizierung verstärke.10 Es ist die Verbindung von Erotik und Politik, die sie an einer Reihe von lateinamerikanischen Romanen des 19. Jahrhunderts festmacht und als genuin literarischen Beitrag für das nation building der lateinamerikanischen Staaten profiliert. Dabei liest auch sie bewusst zweitklassige, melodramatische Romane,11 um in einer kulturwissenschaftlich-postkolonialen (Außen-)Perspektive marginalisierten Staaten eine vergessene oder verdrängte Geschichte wiederzugeben.12 Das Verfahren ist für die vorliegende Arbeit insofern interessant, als es den Nationenbegriff bewusst literaturpolitisch instrumentalisiert und implizit auf dessen Ambivalenz verweist. Es lässt sich nur schlecht auf den europäischen Roman übertragen, weil man dann sofort auf einen problematischen Zusammenhang von Nationalismus und (Bio-) Politik gestoßen wird.13 Eine 8Vgl.
Tony Tanner, Adultery in the Novel. Contract and Transgression, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1979. Tanners Haupttexte sind Rousseaus La nouvelle Héloïse, Goethes Wahlverwandtschaften und Flauberts Madame Bovary. 9Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt a. M./New York: Campus Verlag 21996 (engl. Orig. 1983). 10Doris Sommer, Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1991. 11„My reading consciously delays the ultimate questions of meaning, because I am more concerned to suggest how these books achieved their persuasive power than to determine if they had any right to do so. The foundational fictions are philosophically modest, even sloppy. Lacking the rigor that would either keep levels of meaning secret or show how that was impossible, these novels hypostatize desire as truth and then slide easily between them. With the exception, perhaps, of María (1867), these novels are not trapped in unproductive impasses.“ (Ebd., S. 45). 12Vgl. ebd., S. 1–29. 13Zu
einer literatur- und diskursgeschichtlichen Ausdifferenzierung von Sommers These mit Blick auf den europäischen Roman vgl. Wolfgang Matzat, „Der Bürger und die Frau von Stand. La Nouvelle Héloïse und die Folgen. Überlegungen zum Verhältnis von Eros und Polis im französisch- und spanischsprachigen Roman“, in: Stephan Leopold, Gerhard Poppenberg (Hg.), Planet Rousseau. Zur heteronomen Genealogie der Moderne, Paderborn: Fink 2015, S. 113–130.
1.2 Ehe und Nation
5
nationalpolitische Rehabilitation von Texten wie Hugos Notre-Dame de Paris oder Goethes Herrmann und Dorothea scheint eigentlich nur unter der Bedingung vorstellbar, dass sich die eigene Nation in der Situation einer äußeren oder äußersten politischen Bedrohung befindet. Als geschichts- und politikwissenschaftlicher Begriff ist und bleibt die Nation ein umstrittener Begriff, da er gerade in seiner organischen Metaphorik eine ebenso individuierende wie totalisierende Tendenz hat.14 Insofern rücken in der vorliegenden Arbeit fast notwendig diejenigen Aspekte in den Vordergrund, die Doris Sommer in ihrer Analyse bewusst ausklammert: die Ehe – statt Liebe – und das Recht – statt Politik. Eine Hypostasierung der Erotik als Politik schreibt in gewisser Weise gegen das historische Faktum an, dass die modernen Nationen und Nationalstaaten eben nicht aus Liebe, sondern aus Kriegen entstanden sind. Dass Nationen auf Kriegen gründen, wird in der Nations- und Nationalismusforschung auch betont.15 Ohne auf diese umfassende Forschung hier näher eingehen zu können, ist die Feststellung des „Janusgesicht[s] der modernen Nation“,16 das die Verdrängung von Gewalt mit einem Partizipationsversprechen verbindet, auch für die hier analysierten Texte zentral. Für Rousseau stellt „radikale Politik“17 bereits vor der Französischen Revolution ein Phantasma dar, das um die Gewaltproblematik kreist; und wenn Goethe, Manzoni und Hugo nach oder noch während den Revolutionskriegen über die Ehe schreiben, dann zielen auch diese Fiktionen auf eine Überwindung von Gründungsgewalt. Überhaupt bin ich im Laufe meiner Textlektüren auf die Frage gestoßen, ob die Ehe und das Eherecht nicht noch stärker für die Nationalismusforschung fruchtbar gemacht werden sollten. So hat zum Beispiel die Historikerin Nancy F. Cott mit ihrem Buch Public Vows (2002) eine äußerst spannende Geschichte der amerikanischen Nation als Darstellung ihres Eherechts vorgelegt.18 Zwischen Recht und Religion, Freiheit und Zwang, Privatheit und Öffentlichkeit angesiedelt, instituiert das Eherecht gleichsam einen imaginären Körper der Nation. Ehe und Nation können außerdem in mehrerlei Hinsicht als analoge Begriffe aufgefasst werden: Zunächst ist die Ehe des christlichen Westens wie die Nation ein als unauflöslich konzipiertes Gebilde. So wie die Nation ein neues Wir stiftet, in dem ein altes vergessen werden muss,
14Slavoj
Žižek, „Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen ‚Dings‘“, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 133–164. 15Vgl. Joseph Jurt, Sprache, Literatur und nationale Identität. Die Debatten über das Universelle und das Partikulare in Frankreich und Deutschland, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 3 f. (mit weiteren Nachweisen). 16Ebd.,
S. 3. Pfeiffer, „Radikale Politik. Rousseau und die Aporien der Aufklärung“, in: Richard Faber, Brunhilde Wehinger (Hg.), Aufklärung in Geschichte und Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 137–156. 18Nancy F. Cott, Public Vows. A History of Marriage and the Nation, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2002. 17Helmut
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1 Einleitung
stiftet die Ehe eine neue Familie, die (in historisch verschiedener Weise) eine alte Familie ablöst. Und während die Zivilehe im gleichen Zuge wie die französische Staatsnation entsteht, koinzidieren die gegenwärtigen Ehe-Debatten mit einer neuerlichen Virulenz des Nationalismus. Im Falle von Denis de Rougemonts Buch L’amour et l’Occident aus dem Jahr 1938 kann man tatsächlich von einem Versuch sprechen, nationale Idiosynkrasien in einer ‚wahren‘ Gemeinschaft zu überwinden.19 Bekannt geworden ist das Buch vor allem für seine eigenwillige Lektüre von Tristan und Isolde. Rougemont liest die mittelalterliche Geschichte als Gründungsmythos für den Ehebruch und für die ganze westliche Literatur. Sie stellt einen Mythos dar, der eine reale Wirkung auf das Gemeinwesen ausübt.20 Dieser Mythos einer Liebespassion, die einem Todestrieb folgt, identifiziert er als religiöse Häresie, als kathartisch-gnostischen Irrglauben und ‚orientalen‘ Kern des Okzidents, der die ganze Liebesliteratur des Westens geprägt habe.21 Das vierte der sieben Bücher, „Le mythe dans la littérature“, enthält eine Geschichte der Literatur als Geschichte der Profanierung des Liebes-Mythos. Vom Rosenroman bis zu Wagner beschreibt Rougemont eine zerstörerische Liebespassion, die dazu tendiert, alle Lebensbereiche zu umfassen: „[L]e contenu du mythe et ses fantômes envahissent les domaines les plus divers: politique, lutte des classes, sentiment national, tout devient prétexte à ‚passion‘ et déjà s’exalte en ‚mystiques‘.“22 Der bei Doris Sommer positivierte Konnex von Eros und Politik stellt sich hier als katastrophaler worst case dar. Um aus der konstruierten Dialektik von Orient und Okzident, Eros und Agape wieder herauszukommen, postuliert Rougemont nun die Ehe als einen politischen Gegenmythos. Im Ehebegriff, in dessen Zentrum Treue und Handlungsmacht stehen, soll die Dialektik gelöst und Eros gerettet werden. In der Ehe soll die Liebespassion menschlich erträglich, fruchtbar und als sakralisiertes Säkularisat gemeinschaftsstiftend werden. Was die Geschlechter angeht, bleibt Rougemonts Ehebegriff allerdings zutiefst konservativ: Die Ehe ist eine männliche Entscheidung, in der es nicht nur – gleichsam konventionell – um „le choix d’une femme pour toute la vie“ geht, sondern, liest man, um eine Wette auf die Frau: „choisir une femme, c’est parier“.23 Die Frau wird erst durch den Mann zu einem ganzen Menschen, womit sie letztlich mit jener falschen Passion identifiziert wird, die es zu besiegen gilt. So fallen Rougemont bezeichnenderweise als Beispiele für die rechte, eheliche Liebe keine realen Menschenpaare ein (weder hetero- noch homosexuelle), sondern in erster
19Denis
de Rougemont, L’amour et l’Occident (1938), Paris: Plon 1972. hierzu auch Tanner, Adultery in the Novel, S. 89 f.; ferner Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München: Hanser 1989, S. 70–72. 21Vgl. Barbara Vinken (Hg.), Translatio Babylonis. Unsere orientalische Moderne, Paderborn: Fink 2015. 22Rougemont, L’amour et l’Occident, S. 263. Das nachfolgende Buch, „Amour et guerre“ schildert dann die politischen Auswirkungen dieses ‚Mythos‘: die blutige Entstehung des imaginären Körpers der Nation aus einer passionell diskreditierten Revolution. 23Ebd., S. 327. 20Vgl.
1.3 Paar und Gemeinschaft
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Linie männliche Mystiker (wie Johannes vom Kreuz etwa).24 Dass in L’amour et l’Occident Rousseaus Roman La Nouvelle Héloïse als besseres unter den schlechten Beispielen gewürdigt wird, als eines, in dem die Ehe zumindest angestrebt wird, erstaunt vor diesem Hintergrund nicht mehr.25 Demgegenüber wird zu zeigen sein, dass eine passionelle Paar-Relation, in der auch der Mann zum großen Unbekannten wird, dem Text gar nicht abgesprochen werden kann. Am konsequentesten wird die Spannung von maximaler Differenz und maximalem Gemeinschaftsversprechen aber in Manzonis Roman aufrechterhalten. Goethe wiederum, um auch hier die Grundtendenz vorwegzunehmen, entwirft zwei verschiedene Rechtsauffassungen, um sie auf das Geschlechterverhältnis zu projizieren. Der Roman schwankt, mit anderen Worten, zwischen ‚Mythos‘ und Eigenrecht. So bleibt im Verhältnis von Ehe und Nation vielleicht zu betonen, dass ich mit meinen Textlektüren weder die Revalorisierung des Nationsbegriffes noch die eines Konzeptes von Nationalliteratur intendiere. Aber ich gehe davon aus, dass gerade Texte, die literarhistorisch als nationalliterarische rubriziert werden und die gleichzeitig nationale Zuordnungskategorien aufweisen, diese Kategorien und Kategorisierungen immer auch in Frage stellen. Der Eheroman soll mithin weniger auf seine nationalliterarische Wirkmacht hin als auf sein kritisch-epistemisches Potential in Bezug auf das Denken von Gemeinschaft hin befragt werden.
1.3 Paar und Gemeinschaft Während es prinzipiell problematisch ist, Gemeinschaft – sei es eine nationale oder okzidental-europäische – in der Figur einer Liebesverbindung zu denken, weil sie einen Ausschlussmechanismus impliziert, hat die Figur des Paares den Vorzug, aufgrund der ihr inhärenten Differenz solchen Mechanismen Rechnung tragen zu können. Will man dem Roman ein Eigenrecht ohne normatives Vorurteil zusprechen können, funktioniert dies nur dann, wenn statt eines projektierten ‚Gemeinschaftswerkes‘ das Paar als relationale Einheit im Verhältnis zum dargestellten (Ehe-)Recht in den Blick genommen wird. Denn sobald ein Text das Paar als bestimmte Gemeinschaft realisiert, vergegenständlicht oder verrechtlicht (Liebespaar, Familie, Kirche, Staat, Nation), verstößt er, so könnte man sagen, gegen das Gesetz des Romans, die Gemeinschaft als Gattung darzustellen. Als differentielle Identität markiert das Paar die Voraussetzung und zugleich die Grenze des Romans. Mit Jean-Luc Nancy gehe ich damit von einer dem Sein vorgängigen Relationalität aus, ohne die es keine Individuen geben könnte.26
24Ebd.,
S. 350. S. 233–236. 26Jean-Luc Nancy, La Communauté désavouée, Paris: Galilée 2014. Vgl. den letzten Satz, mit dem Nancy seine Relektüre von Blanchots La Communauté inavouable beschließt: „Toute ontologie est trop courte, qui avant l’être ne remonte pas au rapport. Et toute politique est trop longue, qui prétend se fonder en ontologie.“ (S. 160). 25Ebd.,
1 Einleitung
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Nancys Relektüre von Maurice Blanchots Communauté inavouable (die ihrerseits Parallelen zu Rougemonts philosophischem ‚Eheroman‘ aufweist) ist insofern aufschlussreich, als sie den problematischen Textstatus von La Communauté inavouable just am zweiten Teil des Textes aufzeigt, wo Blanchot scheinbar unvermittelt vom politischen (Gemeinschafts-)Diskurs zur „Communauté des amants“ hinübergleitet. Am bündigsten ist Blanchots negativ-paradoxes Gemeinschaftskonzept in der Formel „la communauté de ceux qui n’ont pas de communauté“27 zusammengefasst. Im zweiten Teil seines Buches illustriert er dieses Konzept, das er mit einem dezidiert politischen Anspruch verbindet, durch die Lektüre eines literarischen Textes, Maladie de la mort von Marguerite Duras. Ihre Erzählung, die einen intimen und in ein rätselhaftes Vertragsverhältnis gefassten Geschlechtsverkehr schildert, wird von Blanchot hypothetisch weitergeschrieben. Er verleiht Duras’ offener Szene einen bestimmten Ausgang, indem er die männliche Penetration als Tötung der Frau durch den Mann insinuiert: Ou bien, et c’est l’inavouable, s’unissant à elle selon sa volonté, il lui a aussi donné cette mort qu’elle attendait, dont il n’était pas jusque-là capable, et qui parachève ainsi son sort terrestre – mort réelle, mort imaginaire, il n’importe.28
Mit diesem Weiterschreiben wird die intime Szene der Paarbegegnung zu einem Ereignis von Blanchots Gemeinschaftsauffassung. Nancy hat in seinem ausführlichen Kommentar den ansonsten für Blanchots Schriften untypischen Diskurswechsel im zweiten Teil von La Communauté inavouable betont. Die Literatur (Duras’ Text) sei hier nicht einfach Gegenstand, sondern spiele eine operative Rolle.29 Indem Blanchot die von Duras geschilderte körperliche Hingabe der Frau zu einer eucharistischen Gabe sakralisiert, deren Folgen er real-imaginär weiterschreibt, erhält seine Sprecherposition einen paradoxen Status. Insofern ist es nicht zufällig, dass das Titelwort der Uneingestehbarkeit just hier – im ‚Vollenden‘ von Duras’ Text – fällt. Nancy bezeichnet Blanchots Verfahren als eine Mythopoetik, die ihre Leser zugleich bindet und spaltet. Für den Kontext der hier in Frage stehenden Eheschließungs- und Gemeinschaftsfiktionen ist interessant, dass Nancy Blanchots normative Sprechhaltung an die Worte Jesu erinnert, mit denen er das Urteil über die ehebrecherische Frau suspendiert hat: „Un homme comme une femme, un homme-femme, un écrivain, peut-être aussi semblable au messie chrétien qui un jour écrivait dans le sable, éludant les questions à propos d’une femme adultère.“30 Anders als in der biblischen Szene, in der die Menschen auseinandergehen und ein Freispruch erhofft werden kann, prophezeit die Entpflichtung vom Urteilen bei Blanchot einen zwingenden, politischen Sinn
27Maurice
Blanchot, La Communauté inavouable, Paris: Les Éditions de Minuit 1983, S. 83. S. 92. 29Nancy, La Communauté désavouée, S. 17. 30Ebd., S. 119. 28Ebd.,
1.4 Textkorpus und Aufbau der Arbeit
9
(„un sens politique astreignant“31), der autoritatives Versprechen und Drohung in einem ist. Für die Vermittlung von Akt und Sprache (parole) scheint sich hier fast kein Spielraum mehr aufzutun. Insofern ist auch Nancy zuzustimmen, wenn er gegen die von Blanchot entfaltete, radikale Asymmetrie eine Relationalität des Paares einfordert. In den hier in Frage stehenden Eheschließungsfiktionen steht der Geschlechtsverkehr, eherechtlich: die copulatio carnalis, zwar nie im Zentrum der Darstellung, aber als potentiell ehekonstitutives Kriterium bildet er einen gleichsam figuralen Fluchtpunkt. ‚Mythopoetik‘, so könnte man sagen, endet da, wo der Roman anfängt, wo die Frage des Geschlechtsverkehrs offen bleibt, das Paar nicht ontologisiert, sondern im Prozess seiner Beziehungshaftigkeit dargestellt wird. Für die Textlektüren bedeutet dies konkret, dass jeweils gefragt werden muss, wie das Paar narrativ modelliert und in welchen rechtlichen Rahmen es gestellt wird. Das Romanhafte läge demnach nicht in einem Sein des Paares, sondern in seinem Werden.
1.4 Textkorpus und Aufbau der Arbeit Bei der Auswahl der analysierten literarischen Texte stand die paradigmatische Dichte und keine erschöpfende Darstellung des Ehenarrativs im 18. und 19. Jahrhundert im Vordergrund. Es interessierten diejenigen Texte, in denen Ehe und Nation miteinander in Verbindung gebracht werden, in denen die Ehe als ein ‚Politikum‘ behandelt wird und die Liebesbindung des Ehepaares als soziales Band der Gemeinschaft figuriert. So rückten v. a. sogenannte Nationalautoren in den Vordergrund des Interesses: Alessandro Manzonis Roman I promessi sposi (1827/1840), Johann Wolfgang von Goethes Miniatur-Epos Herrmann und Dorothea (1797) und Victor Hugos Notre-Dame de Paris. 1482 (1831). Andere Romane schieden dadurch aus, dass sie genau diese Verbindung von Ehe und politischer Gemeinschaft/Nation nicht zulassen. Dabei ist für die französische Literatur zuerst die Comédie humaine zu nennen. Balzac, ein Autor, der selbst seine jahrelange Beziehung zu Madame Hańska erst fünf Monate vor seinem Tod am 18.08.1850 in die legale Form der Ehe brachte, dementiert mit seinen Romanen jene gemeinschaftsstiftende Funktion, die im Folgenden in den Blick genommen werden soll. Bereits in seiner Physiologie du mariage (1829) stellt er ironisch einen weiblichen und unkalkulierbaren Affekt aus, der jede gemeinschaftsstiftende und dauerhafte Verbindung zwischen Mann und Frau unmöglich macht und allenfalls zu einem ökonomischen Ausgleich führen könnte.32 Weiter ging es gerade nicht um das ‚klassische‘ Paradigma des modernen europäischen Romans, und so schieden insbesondere auch die angloamerikanischen Romane – angefangen bei Richardson und Fielding über Jane Austen, Thackeray, Hawthorne, 31Blanchot, 32Vgl.
La Communauté inavouable, S. 93.
Vf., „Balzacs Ehe-Spekulationen. Ökonomie des Nicht-Wissens und Selbstaffektion in der Physiologie du mariage“, in: Gesine Hindemith, Dagmar Stöferle (Hg.): Der Affekt der Ökonomie. Spekulatives Erzählen in der Moderne, Berlin: De Gruyter 2018, S. 61–83.
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1 Einleitung
Emily Brontë, George Eliot bis hin zu Henry James – aus dem untersuchten Textkorpus aus. Zwar wäre (und ist weiterhin) viel über den marriage plot angloamerikanischer Prägung zu sagen, doch hätten die entsprechenden Texte einer anderen rechts-, kultur- und konfessionsgeschichtlichen Kontextualisierung bedurft, was den Rahmen der vorliegenden Arbeit gesprengt hätte. Statt rechtlicher und metaphorologischer Aspekte hätten dann mehr ethische, psychologische und affektive Kriterien berücksichtigt werden müssen, die diese Texte sehr wohl auch im Verhältnis von Ehe und Nation problematisieren.33 Indessen kristallisierten sich Manzonis Promessi sposi als Herzstück der Arbeit heraus, mit dem eine allegorische Poetik des Paares verfolgt wird. Die Textauswahl bei Goethe – Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), Herrmann und Dorothea und Die Wahlverwandtschaften (1809) – rechtfertigt sich dadurch, dass mit dieser Textabfolge – im Gegensatz zu Manzonis optimistischem Narrativ – eine (negative) Entwicklung des Eheschließungsnarrativs aufgezeigt werden kann. An dieses Zentrum von Manzonis und Goethes formal experimentierenden Eheschließungsfiktionen schließen sich Bezugs- und Referenztexte an, die bis zu Flauberts Madame Bovary (1857) führen. Dabei erweist sich Rousseaus vor der Französischen Revolution geschriebener Briefroman La Nouvelle Héloïse (1761) insofern als diskursbegründend, als er das Problem einer vakant gewordenen Position politisch-rechtlicher Souveränität vorwegnimmt und mit ‚Clarens‘ ein Ersatzkollektiv zu schaffen versucht, das – wie der Name es sagt – transparent, durchsichtig auf seinen Ursprung sein soll. Die Arbeit beginnt mit einem historischen und diskursgeschichtlichen Teil (zweites Kapitel), das den metaphorischen Überschuss des Ehebegriffs freilegen soll. Für diesen Nachvollzug des Ehe-Diskurses werden unterschiedliche Quellen herangezogen: theologische und rechtsgeschichtliche Lexika, theologische Lehrtexte (tendenziell) für den mittelalterlich-frühneuzeitlichen Moment, und für das 18. und 19. Jahrhundert zunehmend historische Gesetzeswerke, rechts- und kulturphilosophische Abhandlungen. Eherechtlich interessiert vor allem das Eheband (vinculum matrimonii), das die Bereiche Ehehindernisse, Eheschließung und Ehescheidung umfasst. Das kanonische Eheschließungsrecht formiert sich zwischen dem 12. Jahrhundert, in dem sich die Ehe als Sakrament durchsetzt, und dem Konzil von Trient (1545–1563), das eine verbindliche Formvorschrift für die Eheschließung festlegt. Zentral für die Sakramentalisierung der Ehe sind die paulinischen Ausführungen im fünften Kapitel des Epheserbriefes (Eph 5, 21–33), wo die Verbindung zwischen Mann und Frau als ein mysterium bezeichnet wird, das auf die Gemeinschaft Christi mit der Kirche verweist. Der
33Aus
der schier unübersichtlichen Literatur sei verwiesen auf Lauren Berlant Lektüre von Hawthornes Roman The Scarlet Letter (1850): Lauren Berlant, The Anatomy of National Fantasy. Hawthorne, Utopia, and Everyday Life, Chicago/London: University of Chicago Press 1991; sowie auf den jüngst erschienenen Band zum marriage plot in der britischen Literatur: Elsie B. Michie, Jill Nicole Galvan (Hg.), Replotting Marriage in Nineteenth-century British Literature, Columbus: The Ohio State University Press 2018.
1.4 Textkorpus und Aufbau der Arbeit
11
Vertragsbegriff gerät hingegen da in den Vordergrund, wo es um die Sichtbarmachung dieses Geheimnisses in der Eheschließung geht. Hier setzt sich die sog. Konsens- gegen die Copulatheorie durch. Mit dem Tridentinum entsteht eine rechtliche und religiöse Publizität der Ehe, in deren Zentrum die Konsenskundgabe, der doppelte, reziproke Sprechakt von Mann und Frau, steht. In diesem Paar-Konsens zwischen Sakrament und Vertrag drückt sich jene Figur des Paares aus, die auch die literarischen Eheschließungsgeschichten inszenieren. Von je her illustrieren Literatur und Ikonographie aber auch, in welchem Maß es sich bei der Stimme der Frau um eine von Vornherein enteignete handelt. Während der Mann mit seinem Ja ‚die Frau nimmt‘, gleicht das Ja der Frau einem Geständnis und einem ‚Sprechen-Machen‘. Ein kurzes Intermezzo zum protestantischen Eherecht (am Beispiel Luthers) und zur protestantischen Eherechtsphilosophie (Kant, Fichte, Hegel) soll zeigen, wie, gewissermaßen zeitlich verschoben, auch hier die Eheschließung am Schnittpunkt von Recht und Religion und in der Frage, was sie repräsentiert, diskutiert wird. Geradezu traumatisch wirkt aber das Eherecht der Französischen Revolution, das aufgrund seiner konsequenten Vertragskonzeption eine buchstäblich revolutionäre Eheschließungs- und vor allem auch Scheidungsfreiheit hervorbrachte. Während das kanonische Recht das Paar als Metapher für die Kirche erfindet, kann man pointieren, erfindet die Revolution das ‚nackte‘ Paar, das moderne Liebespaar, das für nichts als für sich selbst steht. Zwar gilt dieses Recht nur ganz kurze Zeit – bereits nach dem Sturz Robespierres wird die Scheidungsfreiheit Zug und Zug wieder eingeschränkt. Aber der Coup sitzt, vor allem jenseits des Rheins, wo sich der Code civil nach und nach Geltung verschafft. Er sitzt auch, obwohl Napoleon diese EheRevolution in einem Kaiserreich mit der doppelten Gesetzgebung von Staat und Kirche wieder bändigt. Mit der Lektüre von Rousseaus La Nouvelle Héloïse endet das diskursgeschichtliche Kapitel nur scheinbar methodisch inkonsequent und anachronistisch. Rousseaus Roman soll hier in einer politischen und literarisch diskursbegründenden Perspektive vorgestellt werden. Der Text gesteht, wie man weiß, seine Zugehörigkeit zur Gattung des Romans selbst nur mit Vorbehalten ein, und die langen, traktatförmigen Einlassungen sprengen ihn wirklich. Ich lese La Nouvelle Héloïse vor dem Hintergrund des Contrat social als einen ‚Contrat de mariage‘. Konnten die Revolutionäre sich in ihrem Gesetzesbegriff als Akte des Gemeinwillens auf Rousseau beziehen, so war eine Inanspruchnahme im Fall der Ehe nicht ohne Weiteres möglich. Rousseau hält gegen eine Vertragsfreiheit an der Unauflöslichkeit der Ehe fest; sie ist das zivilreligiöse Band, das den Gesellschaftsvertrag zusammenhalten soll. Vor dem Hintergrund des Contrat social zeigt sich dann eine erstaunliche, chiastische Umkehrung des Verhältnisses von Politik und Religion in Rousseaus Roman: Während dort der Gesetzgeber, der den Gemeinwillen instituiert, mit mythisch-divinatorisch-religiösen Eigenschaften ausgestattet wird, mangelt es dem Gesetzgeber Wolmar in der Nouvelle Héloïse just an solcherlei Fähigkeiten. Demgegenüber ist es hier Julie, die durch ihren Ehe-Konsens, der den gemeinsamen Willen eines neuen Körpers ausspricht, eine Art göttlicher Beglaubigung erhält. Das Paar Julie und Wolmar wird in einer
12
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errschaftseinheit ontologisiert. In Clarens herrschen sie beide und erzeugen H dabei eine gespenstische Ökonomie und Proto-Nation. Das dritte Kapitel ist der Lektüre von Alessandro Manzonis einzigem Roman I promessi sposi gewidmet. Auch hier geht es um einen gewissermaßen uneingestandenen Roman; in einem frühen Vorwort spricht Manzoni noch von einer ‚verbotenen Gattung in der modernen Literatur‘, in der Endfassung gibt es nur noch die mit einer Herausgeberfiktion versehene storia. Der historische Roman spielt um 1630 im Herzogtum Mailand und erzählt die Geschichte von Renzo und Lucia. Sie beginnt mit einer verhinderten Hochzeit und endet – nach einer langen Phase der Trennung, in der die Liebenden je unterschiedliche Wege gehen – mit der Wiedervereinigung im Mailänder Pestlazarett, der Eheschließung im Heimatdorf und der Familiengründung im Exil der Republik Venedig. Manzonis Roman irritiert moderne Leser aufgrund der Unwahrscheinlichkeit seiner ‚märchenhaften‘ Handlung und einer vordergründig plakativ ‚christlichen‘ poetischen Gerechtigkeit, in der die Gottesfürchtigen belohnt und die Abtrünnigen bestraft würden. Wenn er dennoch gewürdigt wird, dann oft nicht in seiner Eigenschaft als modernem Roman, sondern aufgrund der scharfsinnig-pessimistischen Geschichtskritik, die in ihm entfaltet wird. Als Beleg könnte hierfür nicht zuletzt die zeitgleich mit der Romanüberarbeitung entstandene Abhandlung Del romanzo storico angeführt werden, in der Manzoni eine prinzipielle Unvereinbarkeit von Fiktion und Historie entwickelt und dem historischen, also auch seinem eigenen Roman, wortwörtlich den Prozess macht. Das in der Handlung zum Tragen kommende Eherecht und das Recht des Romans spielen mithin aufs Engste zusammen. Mit der Verschiebung der Differenz von Fiktion und Historie auf das Protagonisten-Paar, das zugleich meine Darstellung strukturiert, soll der rechtliche Ursprung des Romans sowie eine genuine Roman-Poetik – die Poetik des Paares – herausgearbeitet werden. Der Blick auf Renzo und Lucia beginnt jeweils mit ihrem historischen Spiegelbild, mit den beiden historischen Fällen, die den Roman von seinem Außen als auch von seinem Innen her rahmen. Bei der Storia della Colonna Infame, der Geschichte der Salbenschmierer, die 1630 in Mailand für die vermeintliche Verbreitung der Pest hingerichtet werden, handelt es sich um einen Justizfall, so wie es sich auch bei Lucias Double, der Nonne Gertrude, die zu einem Klostereintritt mit fatalen Folgen gezwungen wird, um einen historischen Justizfall handelt. Manzoni verarbeitet die beiden Fälle aber auf je verschiedene Weise, ja er kontrastiert zwei verschiedene Darstellungsformen: juristisches und ästhetisches Urteilen. Denn während im Prozess der Salbenschmierer die Rollen von Täter und Opfer vertauscht werden und die Prozessrichter als die eigentlich Schuldigen angeklagt werden, treibt Manzoni Gertrudes Fall (in der Mitte des Romans) in eine rechtliche Unentscheidbarkeit. Ihre Liebespassion, die zum Bruch ihres Gelübdes und bis zum Mord führt, bleibt ambivalent. Und während die Storia della Colonna Infame – das juristische Urteil – aus dem Roman ausgelagert wird, lässt sich Gertrudes Liebespassion nicht auslagern, weil es – sowohl im Fall Renzos als auch Lucias – just um ihre Positivierung, um ihre Umwendung, ‚Konversion‘, in eine schuldfreie Handlungsmacht geht. Ähnlich wie Rousseau
1.4 Textkorpus und Aufbau der Arbeit
13
verbindet Manzoni damit das Motiv der Eheschließung mit dem der Konversion, mit dem Unterschied, dass in den Promessi sposi eine exakte Symmetrie zwischen Braut und Bräutigam entsteht. Das Ergebnis ist ein gegenderter, doppelter Fiktionsbegriff, mit dem das Verhältnis von Aktivierung und Passivierung, Sakralisierung und Profanierung in ein poetologisch produktives Spiel des Romans gebracht wird. Das vierte Kapitel wendet sich Goethes Ehe-Experimenten zu. Wie allein die Kapitelstruktur verdeutlicht, die einem chronologischen Textverlauf folgt, bleibt die Ehe als Figur der Krisenüberwindung hier eine poetologisch gebrochene. Gemeinsam ist den Texten das Leitmotiv der Ehe als Chiffre für die Auseinandersetzung mit einer Revolution, die, politisch-historisch betrachtet, immer näher kommt. Dem chronologischen Textverlauf entspricht eine gattungsmäßige Entwicklung von der kleinen zur großen Form. Die Experimente beginnen mit der kleinen Form der Novelle, die Goethe mit den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten gleichsam tagespolitisch aktuell in die deutschsprachige Literatur einführt. Die in den sechs Novellen immer wieder ausbrechende Leidenschaft konnotiert den Ausbruch revolutionärer Gewalt, der entweder das Zustandekommen einer Ehe verhindert oder eine bestehende Ehe durch ‚Ehebruch‘ verwirrt oder aber in rechtlich suspekte Eheverhältnisse münden. So verhandeln die beiden letzten Novellen ausdrücklich einen asymmetrischen Rechtsstatus von Gatte und Gattin, der auf die Unhintergehbarkeit eines Herrschaftsverhältnisses verweist. Das die Novellensammlung beschließende Märchen löst diesen Konflikt durch den Sprung in die Gattung des ‚Märchens‘, das die Darstellung einer mythisch-allegorischen Herrschaftsbegründung zur Utopie einer erneuerten Gesellschaft macht. Goethes Märchen ist Anlass für einen Exkurs über Novalis’ staatsphilosophische Schrift Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798), weil sie direkt an Goethes Text anschließt und dessen ‚Herrschaftsmärchen‘ in ein gleichsam realmythisches, romantisches P aar-Verhältnis zwischen König und Königin auflöst. Im gleichen Jahr wie Glauben und Liebe erscheint Goethes großes Ehe-Experiment in der Form eines Epos. Herrmann und Dorothea kommen – wie Hugos Notre-Dame de Paris – dem Begriff der Nationalfiktion insofern am nächsten, als sich dieses deutsche Ehe-Versprechen tatsächlich als Überwindung der ‚französischen‘ Revolutionsgewalt präsentiert. Voß’ Luise (ab 1782 veröffentlicht) ist das aufklärerisch-empfindsame Textvorbild, dem Goethe die Idee des Eheschließungsnarrativs entnehmen konnte. Er überträgt es – vor allem im Mittel eines fetischisierten Schlafrocks – auf einen entkonfessionalisierten, nationalpolitischen Kontext. Anders als in den Novellen sucht man das Wort Leidenschaft in Herrmann und Dorothea vergeblich. Für das Zustandekommen dieser bürgerlich-patriarchalen Verlobung muss Dorothea durch eine List zum Sprechen gebracht werden. Gegen die nationale Vereinnahmung des Textes lässt sich allenfalls jene zweite List des Epikers ins Feld führen, die am Ende nicht sie selbst, sondern ihren ersten Bräutigam, den Revolutionssympathisanten, sprechen lässt. Das Kapitel mündet in den Roman der Wahlverwandtschaften, in dem – nach dem Bruch in den Novellen, der Eheschließung in Herrmann und Dorothea – die poetische Auseinandersetzung
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mit dem Ehescheidungsrecht als Eigenrecht des Romans dargestellt wird. Scheidungsverhinderung strukturiert den Roman der Wahlverwandtschaften, um im Paar von Charlotte und Eduard den Widerspruch zwischen einer gesellschaftskompatiblen Vernunftehe und einer individualistischen Liebesehe hervorzutreiben. Ottilie ist dabei diejenige Figur, mit der den Entscheidungen, die das Eherecht verlangt, ein ästhetisches Recht auf Entscheidungsverweigerung entgegengestellt wird. Das fünfte Kapitel, Romane vor Gericht, bildet den uneingestandenen Schluss der Arbeit. Hier endet nicht der Eheroman, eher nimmt er einen Neuanfang. Aber mit Hugos Notre-Dame de Paris und Flauberts Madame Bovary endet das schlechte Gewissen des Schriftstellers, ihn darzustellen, und als solche lassen ihre Texte die vorliegende Arbeit ausklingen. Hugos Roman bedient sich, so weit ich sehe, ein letztes Mal der Eheschließungsform als eines formal-inhaltlichen Rahmens. Allerdings wird diese Form insofern melodramatisch gebrochen, als für ihr Zustandekommen sowohl der Tod Esmeraldas (und ihrer ‚weiblichen Familie‘) als auch der Tod Quasimodos (und seiner ‚männlichen Familie‘) in Kauf genommen werden müssen. Flaubert übernimmt in Madame Bovary zwar das Element des Liebestodes, nicht aber den formalen Rahmen einer Eheschließung. Er verschiebt das Werden der Ehe zu einem (verfallenden) Sein hin. Eherechtlich gesprochen wendet er sich nicht dem Zustandekommen der Ehe, matrimonium in fieri, zu, sondern der Ehe in ihrer Dauer, matrimonium in facto esse. Vor dem Hintergrund dieses formalen Unterschieds kann in der Gegenüberstellung der beiden Romane die Schnittstelle von Ehe- und Ehebruchroman und ein Kippen in der Darstellungsform skizziert werden. Dabei wird deutlich, wie in Flauberts Roman der Ehe-Allegorie der Boden entzogen wird.
2
Ehe um 1800 – Zwischen Vertrag und Sakrament
Wer liest das? Mich fragst du? Keiner, beim Hercules! Keiner? Zwei allenfalls oder keiner. O Schande und Jammer! Warum?*
2.1 Säkularisierung der Ehe? Sakramentalität und Rechtsprechung Der Ehe als Begriff beizukommen, fällt schwer. Und dies nicht erst seit den jüngeren Ehe-Debatten um die Öffnung der Institution für andere Formen des partnerschaftlichen Zusammenlebens. Das Bürgerliche Gesetzbuch, welches das Eherecht als Teil des Familienrechts regelt, enthält keine Definition der Ehe.1 Auch die Verfassung enthält keine solche Definition, sondern setzt eine Vorstellung der Ehe voraus. Artikel 6 des Grundgesetzes stellt die Ehe zwar unter besonderen Schutz, aber die Ausgestaltung des Begriffs obliegt dem bürgerlichen Recht. Die Ableitung von Wesensmerkmalen ist Sache einer Interpretation, deren Grenze in Deutschland bundesverfassungsgerichtlich durch einen „innere[n]
1Vgl.
Alexandra Maschwitz, Die Form der Eheschließung. Ehe im Zentrum der Interessen von Staat und Religion, Bonn: V&R unipress 2014, S. 149: „Der einfache Gesetzgeber hat die Ehe in §§ 1303 ff. BGB geregelt, eine Legaldefinition der Ehe gibt es jedoch nicht.“
*Persius, Satiren, I, 2f.: „quis leget haec? min tu istud ais? nemo hercule. nemo? vel duo vel nemo. turpe e miserabile! quare?“; zit. nach: Aulus Persius Flaccus, Satiren, hg. Walter Kißel, Heidelberg: Winter 1990. Die Anführungsstriche, die die Kommunikationssituation (nach Kißel) klären (und ein großes Problem der Persius-Philologie lösen) würden, sind im Zitat oben weggelassen. Der fiktive Leser N und der fiktive Autor R jedenfalls führen, wenn sie ihr Gespräch im ‚zweiten Vorwort‘ zur Nouvelle Héloïse, dem „Entretien sur les romans“, mit diesem Persius-Zitat beginnen, das Versteckspiel fort.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0_2
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Bereich der Ehe“, eine Sphäre privater Lebensgestaltung, markiert wird.2 Durch die Gesetzgebung würde die Ehe demnach in ein Außen und Innen aufgespalten. Sie lieferte einen rechtlichen Rahmen für etwas eigentlich Unsichtbares. Das Problem einer definitorischen Begründung wird auch in der deutschen Etymologie des Begriffs deutlich. Das althochdeutsche êwa, so liest man in Grimms Wörterbuch, sei zurückzuführen auf das „ahd. êwa f. sowol aevum als auch lex, gleichsam ewige ordnung, regel, recht und matrimonium, ein von gott eingesetztes band zwischen mann und weib“.3 Die Spaltung in einen äußeren Bereich rechtlicher Ausgestaltung und einen inneren, intimen Privatraum zeigt sich in Grimms Definition in anderer Weise: Hier wird ein äußeres, sichtbares soziales Band zwischen Mann und Frau von einem unsichtbaren, von Gott eingesetzten Gesetz unterschieden. Wer begründet nun die Ehe? Das Recht oder die Religion? Und was repräsentiert sie? Ein unsichtbares oder ein sichtbares Band zwischen dem Paar? In der heutigen, „gängige[n] Definition“ der Rechtswissenschaft wird das Problem von Begründung und Repräsentation umgangen. Hier ist nun die Rede von einem „Rechtsverhältnis“, das „durch den freien Konsens von Mann und Frau zustande kommt, auf eine dauerhafte Lebensgemeinschaft ausgerichtet ist und von der staatlichen Ordnung anerkannt wird“.4 Die Rede vom ‚Rechtsverhältnis‘ ist insofern aufschlussreich, als alle anderen Begriffe, die man spontan mit dem Ehebegriff verbinden mag – ‚Institution‘, ‚Vertrag‘, ‚Sakrament‘ –, bereits kontrovers und in der heutigen Ehe-Debatte ideologisch aufgeladen sind. Die ‚Institution‘ der Ehe unterliegt einem Prozess der Destituierung, der Privatisierung und Individualisierung.5 Blickt man auf die Geschichte der Ehe, überrascht dieser Befund wenig, ist doch die bürgerlich-rechtliche Ehe eine junge Erscheinung. Die juristische Ausdifferenzierung beginnt im westchristlichen Mittelalter, wird im Zuge von Reformation und Konfessionalisierung zunehmend staatlich-säkular, um in der Sattelzeit in die staatliche Ehegesetzgebung zu münden.6 Diese Gesetzgebung verzichtete allerdings mitnichten auf eine Definition des 2Vgl.
Maschwitz, Die Form der Eheschließung, S. 306. „Ehe“ (1862), in: Deutsches Wörterbuch von Jakob Grimm und Wilhelm Grimm; zit. nach: http://woerterbuchnetz.de/DWB/ (03.03.2017). 4Maschwitz, Die Form der Eheschließung, S. 447. 5Art. 6 des Grundgesetzes enthält mit dem Schutz der Ehe zwar die Norm einer Institutsgarantie, aber die ‚Kernelemente‘ dieses Instituts sind zunehmend umstritten (insb. die Verschiedengeschlechtlichkeit) und haben längst die Diskussion um einen Verfassungswandel aufgeworfen (vgl. Maschwitz, Die Form der Eheschließung, S. 306 ff.). In der französischen Verfassung taucht die Ehe überhaupt nicht auf. Im Zuge der Einführung des PACS wird hier nun diskutiert, ob die Ehe überhaupt eine Institution oder eben nur ein Vertrag sei. – Zur Dialektik von Instituierung und Destituierung der Ehe bei Rousseau vgl. Judith Frömmer, „Versuchsanordnungen einer ‚petite Société‘. Zur Institution der Ehe bei Rousseau“, in: Konstanze Baron, Harald Bluhm (Hg.), Jean-Jacques Rousseau. Im Bann der Institutionen, Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 203–223. 6Vgl. hierzu die grundlegende Habilitationsschrift von Dieter Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung in der Neuzeit bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, Bielefeld: Gieseking 1967. 3Art.
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hebegriffs, also auf das, was in kanonischer Rechtsterminologie die Ehezwecke, E augustinisch: fides, proles, sacramentum, sind.7 Artikel 7 der Französischen Verfassung vom 3. September 1791 mit dem Satz „La loi ne considère le mariage que comme contrat civil“8 treibt diese politische Metaphorik auf die Spitze. Demgegenüber mehren sich heute die Stimmen, die in der Ehe ein Relikt der Vergangenheit sehen und sie damit gerade als Rechtsbegriff in Frage stellen.9
Ehe als Metapher und Dispositiv Die terminologischen Schwierigkeiten, ja, der kuriose Befund, dass man es womöglich gar mit einer Sache der Vergangenheit zu tun haben könnte, führen auf die sprachliche und sprachkritische Seite des Problems. Sie lenken die Aufmerksamkeit auf das Metaphorische der Ehe. Dass die Grenzen zwischen Begriff und Metapher fließend sind, wissen wir spätestens seit Hans Blumenbergs Paradigmen zu einer Metaphorologie. Nimmt man nun die rechtswissenschaftliche Definition der Ehe als (Rechts-)Verhältnis (und nicht: Vertrag, Sakrament o. Ä.) ernst, so wird man einerseits auf das Feld der Rhetorik gestoßen, in dem es um das Verhältnis von Eigentlichem und Uneigentlichem, von Sicht- und Unsichtbarem geht. Ontologisch ununterscheidbar wird dann am rechtswissenschaftlichen und etymologischen Beispiel, ob man es mit einem Begriff oder einer Metapher zu tun hat.10
7Nach Augustinus ist die Ehe kein Gut an sich (propter se ipsa), wie etwa Weisheit oder Gesundheit, sondern, wie Doktrinen, Trank, Speise und Schlaf, ein notwendiges Gut, das die copulatio coniugalis rechtfertigt. (Augustine, De bono coniugali/De sancta virginitate, hg. Patrick G. Walsh, Oxford: Clarendon Press 2001.). 8Constitution de 1791, Titel II, Art. 2; zit. nach: http://www.conseil-constitutionnel.fr (03.03.2017). 9Vgl.
etwa die die Einschätzung von Hans-Wolfgang Strätz: „Die völlige juristische Durchformung der Ehe, vor allem des Eheschließungs- und Ehebeendigungsrechts, die wir als normal empfinden, ist eine Frucht des westchristlichen Mittelalters. Schauen wir auf die Zeit davor, auf das klassische wie auf das christianisierte römische Recht, und blicken wir auf die nicht abendländisch geprägten Kulturen dieser Welt, so zeigt sich, daß das, was Ehe bislang immer gemeint hat, das anerkannte Zusammenleben von Mann und Frau (unter Einbeziehung von Kindern), auch ohne derartige juristische Ausdifferenzierung gelebt wurde und – im guten Sinne des Wortes – funktionieren konnte.“ („Rechtsgeschichtliche Entwicklung des staatlichen Eherechts in Deutschland: Eheschließung und Eheauflösung vom Reichspersonenstandsgesetz 1875 bis zum 1. Eherechtsreformgesetz 1976“, in: Richard Puza, Abraham P. Kustermann (Hg.), Beginn und Ende der Ehe. Aktuelle Tendenzen in Kirchen- und Zivilrecht, Heidelberg: C.F. Müller Juristischer Verlag 1994, S. 9–40; hier: S. 40.) 10Vgl. hierzu Susanne Lüdemann, die in ihrer Analyse zweier zentraler Gesellschaftsmetaphern – des Vertrags und des Körpers (die beide in der Ehe wieder auftauchen) – feststellt: „Erkennt man die (ontologische, wenngleich nicht heuristische) Ununterscheidbarkeit von Begriffen und Metaphern an; erkennt man an, daß Metaphern und Begriffe Ähnlichkeiten nicht abbilden, sondern für das wahrnehmende Bewußtsein herstellen, und daß die Illusionen der Buchstäblichkeit, die effets de réel, erst als Sekundäreffekte symbolischer und imaginärer Produktion auftreten, dann kann man nicht mehr hoffen, Figuration schlechterdings kontrollieren oder sogar ganz vermeiden zu können.“ (Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft. Studien zum soziologischen und politischen Imaginären, München: Fink 2004, S. 46.)
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Berücksichtigt man andererseits die gesellschaftlichen Debatten über die Ehe, in denen es um Normativität und Verbindlichkeit des Ehe-Begriffs geht, wird man auf das Feld des Rechts, auf die Nähe von Rechts- und Begriffswandel und die Relativität von ‚Rechtem‘ und ‚Falschem‘ zurückverwiesen. So könnte man beispielsweise nahezu alle weiteren prädikativen Elemente des zitierten, rechtswissenschaftlich definierten Verhältnisses in Zweifel ziehen: Geht es wirklich um einen ‚freien Konsens‘, nur um ‚Mann und Frau‘, um eine ‚dauerhafte Lebensgemeinschaft‘ und um die Anerkennung durch eine ‚staatliche Ordnung‘? Wenn Verbindlichkeit und Normativität mitten ins Recht, in den Bereich von Rechtsprechung und Gesetzgebung zurückverweisen, bedeutet das, dass die diskursgeschichtliche Annäherung an die literarischen Texte, die im Folgenden neu zu lesen sein werden, vorwiegend in rechtshistorischer Perspektive erfolgen muss. Die Rechtsgeschichte ist der faktische Gegenpol zu der schon um 1800, ja eigentlich schon immer kontrovers geführten (rechts-)philosophischen, pädagogischen und literarischen Ehe-Debatte. Es ist eine redundante These, in der schönen Literatur eine normierende Wirkung auf die moderne Auffassung von Ehe, Liebe und Familie zu sehen.11 Allerdings wurden oder werden diese effets de réel fast immer einseitig als ein Prozess der Verinnerlichung, der Intimisierung und Privatisierung betrachtet. Ehe und Familie fusionieren dann zu einem Quasi-Kompositum. Wenn aber unentschieden ist, was eine Familie überhaupt ist, was für eine Gemeinschaft die Ehe überhaupt repräsentiert, gerät sie als Metapher für die Gesellschaft und als ‚Inneres‘ des ‚Ganzen‘ in den Vordergrund. Die Texte Rousseaus, Goethes, Manzonis und Hugos handeln sämtlich von einer Ehe, die angebahnt, aufgeschoben, verhindert und eben doch (nicht) geschlossen wird. Und es wird zu zeigen sein, dass sie mit einem solchen Eheschließungsnarrativ weniger die sogenannte bürgerliche Kleinfamilie vorwegnehmen, als vielmehr eine Gemeinschaft beschreiben, die in eine unsichtbare Familie, in das ‚Volk‘, die ‚Nation‘ oder, noch allgemeiner, in eine „Kunst des Körpers“12 einmündet. Die Ehe als Metapher lässt sich mit dem in Verbindung bringen, was Michel Foucault und Giorgio Agamben im Anschluss an ihn als Dispositiv analysieren, ein interdiskursives Netz, mit dem Macht- und Funktionsbeziehungen geregelt werden. Zwar schließt Foucault (anders als Agamben) das Politisch-Juridische aus diesem Funktionsnetz aus, um die Aufmerksamkeit von der rechtlichen Normierung auf die Funktionsweise der Norm zu lenken. So kommt er im Rahmen seiner Geschichte der Sexualität zwar immer wieder auf die Ehe zu sprechen, allerdings weniger, um sie zu problematisieren, als vielmehr, um von ihrem normativen Rand aus eine Stilistik oder Ästhetik der Existenz zu skizzieren. In der Analyse des
11Als
frühes und für viele stellvertretendes Beispiel sei genannt: Paul Kluckhohn, Die Auffassung der Liebe in der Literatur des 18. Jahrhunderts und in der deutschen Romantik, Halle: Niemeyer 1922. 12Vgl. Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, S. 205. Ihre Analyse endet mit dem Ausblick auf eine Analyse des Prozesses der Nationalisierung.
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antiken Ehe-Diskurses – und bezeichnenderweise nicht des im 18. und 19. Jahrhundert explodierenden Ehe-Schrifttums – geht er (v. a. in Le souci de soi) einer ‚konjugalen Existenz‘ nach, in deren Zentrum das Paar-Sein steht: „c’est une façon de vivre en couple et de n’être qu’un; le mariage appelle un certain style de conduite où l’un et l’autre des deux conjoints mène sa vie comme une vie à deux et où, ensemble, ils forment une existence commune“.13 Diese duale und heterosexuelle Beziehung hat nach Foucault ein natürliches Privileg, „à la fois ontologique et éthique“.14 Gleichzeitig wird diese ‚duale Existenz‘ in ein paradoxales Verhältnis zu der von ihm anvisierten Selbsttechnik gebracht: „Tel est le paradoxe de cette thématique du mariage dans la culture de soi, telle que l’a développée toute une philosophie: la femme-épouse y est valorisée comme l’autre par l’excellence; mais le mari doit la reconnaître aussi comme formant unité avec soi.“15 Man dürfte nicht falsch liegen, in der ‚Philosophie‘, von der Foucault hier spricht, eine Anspielung auf die Romantik zu sehen. Dem Paradox der romantischen Liebesehe, in der die Ehe identisch mit Liebe und die Liebe identisch mit Ehe ist (insbesondere bei Fichte, Schlegel und Novalis) und die selbst das Potential eines biopolitischen Dispositivs hat,16 geht Foucault aber nicht weiter nach; die Ehe wird sozusagen nur gestreift.17 Man kann hierfür zwei Gründe anführen: Zum einen hat sie als nur eine Form der Ästhetik der Existenz die Funktion, die eigentlich avisierte, subjekttheoretische Selbsttechnik davon absetzen zu können. Zum anderen ist die Ehe als juristische Institution das, was Foucault methodisch aus der Machtanalyse auszuschließen versucht. Als Gesetz, das theoretisch von einem souveränen Subjekt intentional erlassen werden kann, ist die Ehe genau das, was eine streng diskursive Analyse von Machtbeziehungen verhindern würde. Genau hier setzt Agamben an, wenn er den Bereich des PolitischJuridischen und insbesondere das Zusammenspiel von Recht und Religion wieder in die Machtanalyse integriert.18 Im Übrigen dokumentieren bereits die Vorlesungen über ‚Gouvernementalität‘ und Souveränität, die Foucaults Geschichte der Sexualität unterbrochen, verzögert und verschoben haben, dass Recht und
13Michel
Foucault, Histoire de la sexualité 3. Le souci de soi, Paris: Gallimard 1984, S. 188. S. 191. – Die ‚Vorstufe‘ an klassisch-griechischer Zeit macht Foucault unter der Überschrift „Économique“ vor allem in der Lektüre von Xenophons Oikonomikos fest. Das Verhältnis von Gatte und Gattin im oikos ist eines der asymmetrischen Treue: Während die Frau treu sein muss, um ihren rechtlichen Status aufrechtzuerhalten, kann der Mann im Rahmen seiner Regierungskunst treu sein. (Vgl. den Abschnitt „La maisonnée d’Ischomache“, in: Ders., Histoire de la sexualité 2. L’usage des plaisirs, Paris: Gallimard 1984, S. 169–183.) 15Foucault, Histoire de la sexualité 3, S. 192. 16Vgl. hierzu unten Abschn. 4.2: „Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis)“. 17Zu diesem Ausklammern der Ehe und dem bürgerlichen Ehe-Roman vgl. auch Doris Sommer, Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley u. a.: University of California Press 1991, S. 33–36. 18Vgl. hierzu auch Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, S. 181–183. 14Ebd.,
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Politik gar nicht ‚blind‘ aus einer Machtanalyse ausgespart werden konnten. Der rechtshistorische Blick auf die Ehe kann nun erhellen, wie politische, rechtliche und religiöse Kategorien (‚Sakrament‘, ‚Vertrag‘, ‚Konsens‘, ‚Reziprozität‘, ‚Asymmetrie‘, ‚Schutz‘ und ‚Gehorsam‘) innerhalb eines ‚Dispositivs Ehe‘ und im Verhältnis von Paar und Gemeinschaft verhandelt werden. Das Grundproblem, das in diesem Diskursgeflecht immer wieder auftaucht, ist die Frage nach der Darstellung, nach der rituellen, sakramentalen, rechtlichen oder eben ästhetischen Sichtbarmachung eines doppelten, konsensuellen und freien Sprechaktes.
Sichtbarkeit oder: paulinisches mysterium Die Frage der Darstellbarkeit und Sichtbarkeit führt unweigerlich zur christlichen Auffassung der Ehe, die sich im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit herausgebildet hat. Ungefähr seit dem 10. Jahrhundert, liest man in dem buchlangen Artikel zur Ehe im Dictionnaire de théologie catholique, wurde die ausschließliche Kompetenz der Kirche in Ehesachen allgemein anerkannt.19 Unter dem Rechtstitel des ius divinum konzipierten die Kanoniker ein normatives Eheband (das Eheschließung, Ehehindernisse und Scheidungsrecht umfassende vinculum matrimonii), das die christlich-religiöse Eheauffassung mit dem politisch-weltlichen Eherecht identifizierte.20 Es geht hier, mit anderen Worten, um eine Verschränkung von Recht und Religion, sowohl um die Sakramentalisierung des Eherechts als auch um die Verrechtlichung des Sakralen.21 Teilweise werden bestimmte Daten, Konzilsbeschlüsse angeführt, die im Zusammenhang mit der Erhebung der Ehe zum Sakrament stehen, etwa das zweite Laterankonzil von 1139, das die Ehe mit Eucharistie, Taufe und Priestertum parallelisiert, oder das Konzil zu Lyon 1274 (also mehr als 100 Jahre später!), auf dem die Siebenzahl der Sakramente festgelegt wurde.22 Tatsächlich kann für den Geltungsvorrang des kanonischen Eherechts kein exakter Zeitpunkt angegeben werden bzw. schwankt dieser zwischen dem 10. und 12. Jahrhundert. Ist von der Bündelung der Ordnungsmacht der Kirche in Mittelalter und Neuzeit die Rede, so wird meist auf die Parallelität von Sakramentalisierung und Jurisdiktionsanspruch verwiesen.23
19Art.
„Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Bd. 9, Paris: Librairie Letouzey et Ané 1927, Sp. 2043–2335; hier: Sp. 2123. 20Vgl. Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 12 ff. 21Zur Ununterscheidbarkeit bzw. Gleichursprünglichkeit von Recht und Religion vgl. Giorgio Agamben, Il sacramento del linguaggio. Archeologia del giuramento, Rom/Bari: GLF Editori Laterza 2008. 22Art. „Ehe/Eherecht/Ehescheidung“, in: Theologische Realenzyklopädie, hg. Horst Robert Balz u. a., Bd. 9, Berlin/New York: De Gruyter 1982, S. 308–362; hier: S. 334. 23Bereits bei den Reformatoren, etwa in Calvins Institution de la Religion chrétienne, findet sich der Vorwurf, dass die Erhebung zum Sakrament nur erfolgt sei, um sich Gesetzgebungs- und Jurisdiktionsansprüche zu sichern (vgl. Art. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2226).
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Im Prinzip ist der Höhepunkt einer solchen Bündelung erst mit dem Konzil von Trient (1545–1563) erreicht, wo eine verbindliche Formvorschrift als Kriterium für die Sichtbarkeit der Eheschließung festgelegt wurde. Weil das Tridentinum die Formvorschrift aber nicht zuletzt deswegen einführte, um sich von konfessionell abweichenden Vorstellungen abzugrenzen, kann es sowohl als Höhepunkt als auch Verfall der kirchlichen Vorherrschaft betrachtet werden.24 Das Dekret „Tametsi“, das 1563 erlassen wurde, ist das Ergebnis langwieriger theologischer Auseinandersetzungen vor dem Hintergrund der Reformation. Es brauchte mehrere Jahre und Textvorlagen, bis im Oktober 1563 zwölf Kanones De sacramento matrimonii und (die als Dekret „Tametsi“ bezeichneten) zehn Kanones Super reformatione verabschiedet wurden.25 Bestätigt wurde die Lehre von der alttestamentlichen Einsetzung der Ehe in Gen 2, 23 f. („Dies nun Bein von meinen Gebeinen und Fleisch von meinem Fleisch. Deshalb wird der Mann seinen Vater und die Mutter verlassen und wird seiner Frau anhangen, und sie werden zwei in einem Fleische sein.“).26 Jesus Christus hat die schon bestehende Ehe als Stifter (institutor) und Vollender (perfector) zu einem der Sieben Sakramente des Neuen Bundes erhoben. In scholastischer Tradition wird die Stelle aus Paulus’ Brief an die Epheser (Eph 5, 21–33), nach der die Ehe ein Abbild der Beziehung zwischen Christus und der Kirche ist, als Hauptbeleg für die Sakramentalität der Ehe angeführt. Aus der Gegenüberstellung von alttestamentlicher Ehe (vetus connubia) und Ehe nach dem Gesetz des Evangeliums (matrimonium in lege evangelica) wird ferner der Anspruch der Kirchengerichtsbarkeit abgeleitet.27 Um heimliche Ehen, insbesondere mit Andersgläubigen, zu verhindern, wird schließlich die Formpflicht festgeschrieben: Bevor die Ehe geschlossen wird, muss sie an drei aufeinanderfolgenden Festtagen während der Messe verkündet werden. Die Eheschließung, als deren Kern die gegenseitige Konsenserklärung (mutus consensus) erachtet wird, muss im Angesicht der Kirche (in facie Ecclesiae) und im Beisein von zwei oder drei Zeugen erfolgen, wobei der Priester außerdem folgende (bzw. regional variierbare) verbindende Worte spricht: „Ego vos in matrimonium coniungo, in nomine Patris et Filii et Spiritus 24Vgl.
etwa in diesem Sinne Markus Waldmann, Das System der Konkordatsehe in Italien. Entwicklung und aktuelle Probleme der Kooperation zwischen Staat und katholischer Kirche, Berlin: Duncker & Humblot 2003, S. 23–25 „Mit dem Konzil war der Höhepunkt der Vorherrschaft des kanonischen Eherechts jedoch bereits überschritten, da durch die Reformation sowohl die sakramentale Natur der christlichen Ehe als auch ihre Unauflöslichkeit in Frage gestellt und somit die Grundfesten des oben dargestellten Systems erschüttert waren.“ Zu den verweltlichenden Aspekten der tridentinischen Debatte vgl. auch Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 64 f. 25Siehe die Zusammenfassung im Art. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2233–2247. 26Zit. nach „Sitzung vom 11. Nov. 1563: a) Lehre und Kanones über das Sakrament der Ehe b) Kanones über eine Reform der Ehe: Dekret Tametsi“, in: Heinrich Denzinger (Hg.), Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrmeinungen, Freiburg i.B./Basel/Rom/Wien: Herder 381999, S. 572–577; hier: can. 1797, S. 573. 27Ebd., can. 1797, S. 573.
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Sancti“.28 Sieht man von allen strittigen Punkten ab, was Wesen, Zweck und Band der Ehe angeht, bleibt festzustellen, dass diese Eheschließungsform im kanonischen Recht bis heute praktiziert wird und dass sich auch in der bürgerlichrechtlichen Eheschließung Spuren von ihr finden. Entscheidend ist, dass das Dekret „Tametsi“ nicht nur die Gültigkeit des Sakraments, sondern auch dessen Wesen an die juristische Formpflicht bindet. Die Ehe wird ihrem ‚Wesen‘, ihrem Sein nach als sakrales Gesetz bestimmt!29 Der innertheologisch gewagte und kontrovers diskutierte Schritt bestand darin zu riskieren, andere christliche Ehen, die nicht nach der neuen Formvorschrift geschlossen wurden, als nicht-sakramentale auszuschließen. Es entsteht eine religiös-rechtliche Publizität der Ehe, in deren Zentrum die Konsenskundgabe, der doppelte Sprechakt von Mann und Frau steht. So könnte man in Analogie zu Giorgio Agambens philosophischer Archäologie des Eides, die versucht, den Eid als religiös-rechtlichen Begründungsakt der Sprache zu fassen, von einer Archäologie der Ehe sprechen, deren Fluchtpunkt die Figuration des Paar-Seins ist. Kommen wir hierfür noch einmal auf die mittelalterliche Szene zurück, in der die Ehe als Unsichtbares oder: als absolute Metapher sichtbar gemacht wird. Die Erhebung der Ehe zu einem Sakrament bedeutet, dass sie – wie die Taufe und die Eucharistie – als Zeichen für eine unsichtbare Sache aufgefasst wird: sacramentum quia sacræ rei signum.30 Im Zentrum dieser Sakramentalisierung stehen die bereits erwähnten paulinischen Ausführungen im fünften Kapitel des Epheserbriefes, wo Paulus auch den griechischen Ausdruck mysterium (lat. sacramentum) verwendet: Einer ordne sich dem andern unter in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus. Ihr Frauen, ordnet euch euren Männern unter wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau, so wie auch Christus das Haupt der Kirche ist; er hat sie gerettet, denn sie ist sein Leib. Wie aber die Kirche sich Christus unterordnet, sollen sich die Frauen in allem den Männern unterordnen. Ihr Männer, liebt eure Frauen, wie Christus die Kirche geliebt und sich für sie hingegeben hat, um sie im Wasser und durch das Wort rein und heilig zu machen. So will er die Kirche herrlich vor sich erscheinen lassen, ohne Flecken, Falten oder andere Fehler; heilig soll sie sein und makellos. Darum sind die Männer verpflichtet, ihre Frauen so zu lieben wie ihren eigenen Leib. Wer seine Frau liebt, liebt sich selbst. Keiner hat je seinen eigenen Leib gehaßt, sondern er nährt und pflegt ihn, wie auch Christus die Kirche. Denn wir sind Glieder seines Leibes. Darum wird der
28Ebd.,
Cap. 1, S. 576 f. darin liegt der Unterschied zu den modernen Kodifikationen (Code civil, Allgemeines Preußisches Landrecht), die eine Eheschließungskompetenz formal verlangen, allenfalls Ehezwecke festlegen, während die Diskussion über ein Wesen der Ehe in andere Diskurse (Philosophie, Literatur) wandert. 30Art. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2199. 29Genau
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Mann Vater und Mutter verlassen und sich an seine Frau binden, und die zwei werden ein Fleisch sein. Dies ist ein tiefes Geheimnis [mysterium]; ich beziehe es auf Christus und die Kirche. Was euch angeht, so liebe jeder von euch seine Frau wie sich selbst, die Frau aber ehre den Mann.31
Paulus’ Bild für die Kirche als ein mystisches Unterordnungsverhältnis basiert auf den jesuanischen Aussagen zur Unauflöslichkeit und Einheit der Ehe. Einschlägig hierfür sind zum einen die Jesusworte aus der Bergpredigt, die sich auf die Erfüllung des Gesetzes beziehen und die den Bruch mit dem jüdischen Scheidungsrecht implizieren. Dem Gebot „Du sollst nicht die Ehe brechen“ entgegnet Jesus hier mit den Worten: „Wer eine Frau auch nur lüstern ansieht, hat in seinem Herzen schon Ehebruch mit ihr begangen.“ (Mt 5, 28) Und dem alten Gesetz, das eine Scheidungsmöglichkeit vorsieht (Dtn 24, 1), setzt er die Worte entgegen: „Wer seine Frau entläßt, obwohl kein Fall von Unzucht vorliegt, liefert sie dem Ehebruch aus; und wer eine Frau heiratet, die aus der Ehe entlassen worden ist, begeht Ehebruch“ (Mt 5, 32). Goethe wird in seinen Wahlverwandtschaften dieses entrechtlichte, individualisierte Treue-Gebot zur Hauptfrage seines Romans machen. Zum anderen verneint Jesus, als er von den Pharisäern direkt auf das Scheidungsrecht angesprochen wird, dieses mit dem una caro von Mann und Frau aus der Schöpfungserzählung (Gen 2, 24). Mann und Frau sind nicht mehr zwei, sondern eins, antwortet Jesus den Schriftgelehrten: „Was aber Gott verbunden hat, das darf der Mensch nicht trennen“ (Mt 19, 6). Die kanonische Rechtssprache wird vor allem dieses Deus coniunxit aufgreifen, um die Göttlichkeit des Ehebandes, vinculum matrimonii, zu fundieren. Und in der protestantischen Eheschließungsform wird das Jesuswort aus Mt 19, 6 zu einem Pflichtbestandteil. Paulus greift nun seinerseits das ‚eine Fleisch‘ von Mann und Frau auf, um die Einigkeit der Gemeinde zu beschwören. Das Neue bei ihm ist aber, dass er es mit einem anderen Bild, jenem der Gemeinschaft der Gläubigen als mystischem Leib Christi (vgl. 1 Kor 12, 12) verquickt. Die christliche Gemeinschaft bildet einen ‚geistigen Körper‘, der aus gleich notwendigen Gliedern besteht und der sich von der auf ethnischer und ständischer Ungleichheit beruhenden Gemeinschaft der Nicht-Gläubigen unterscheidet: „Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt“ (1 Kor 12, 13). Christus ist das Haupt dieser Gemeinschaft, dem sich die Glieder unterordnen. Paulus überträgt nun diese Leib-Metapher griechisch-antiker Provenienz, die der jüdischen Tradition fremd ist, auf das Verhältnis zwischen Mann und Frau, so dass sich folgendes Schema ergibt:
31Eph
5, 21–33. Bibelstellen werden im Folgenden – wenn nicht anders angegeben – zit. nach der Einheitsübersetzung (Neue Jerusalemer Bibel, Freiburg/Basel/Wien: Herder 121985).
24
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Mit dieser Überlagerung der Metaphern integriert Paulus ein hierarchisches Geschlechterverhältnis in die leibmetaphorische Vorstellung Christi als Haupt der Kirche. Dabei verbindet er die Leib-Metapher außerdem mit der alttestamentlich geläufigen Bundesvorstellung, die dort mehrfach als ‚Ehe‘ Gottes mit seinem auserwählten Volk dargestellt wird und die er nun auf Christus und das neue Volk der Getauften anwendet.32 Damit gelingt ihm, so könnte man sagen, die Ersetzung des Alten durch den Neuen Bund bzw. die paradoxe Operation der Einführung der Liebe als neues Gesetz in der Fusion zweier Metaphern.33 Wie Christus das Haupt und die Gläubigen die Glieder des Leibes repräsentieren, ist der Mann als Haupt der Paarbeziehung derjenige, der die Frau liebend neu gebiert, während diese einen männlich-schöpferischen Leib ‚ehrt‘. Um die Paarbeziehung hierarchisch zu regeln, integriert Paulus sie in die Bildlichkeit einer keusch-männlichen Leiblichkeit, die durch die ‚pneumatische Interpenetration‘34 mit Christus entsteht. Das Paar ist eine Einheit nicht, weil es sich wörtlich-geschlechtlich vereinigt, sondern weil es eine andere Einheit repräsentiert. Das ist das mysterium, das Paulus „auf Christus und die Kirche“ bezieht. Die Ehe wird damit zwar als Metapher für die Gemeinschaft der ecclesia eingeführt, allerdings nicht als die beste, sondern quasi
32Man
muss terminologisch präzisieren: Das Hebräische hat keinen Terminus für ‚Ehe‘ oder ‚heiraten‘: „Die Wendung ‚A ist der Mann/die Frau von‘ kennzeichnet den Mann oder die Frau genügend als verheiratet.“ Das Neue Testament verwendet für die Verbindung eines Mannes und einer Frau das Wort γάμος, das primär ‚Hochzeit‘ bedeutet und erst sekundär ‚Ehestand‘, bspw. die in Joh 2,1 geschilderte Hochzeit in Kana (vgl. Art. „Ehe/Eherecht/Ehescheidung“, in: Theologische Realenzyklopädie, S. 311 und S. 318). In der oben zitierten Paulus-Stelle Eph 5, 21–33 fällt der Begriff der Heirat nicht; es geht hier nur um den ‚Mann‘ als ‚Haupt‘ der ‚Frau‘. 33Zur Ehe-Metapher im Alten Testament und bei Paulus vgl. Jan Assmann, Exodus. Die Revolution der Alten Welt, München: C.H. Beck 2015, S. 241–248. Die alttestamentliche Anrede Israels als auserwählte Frau Jahwes ist zuvörderst eine Mahnung zu Treue; insofern ist schon hier der Ehebruch das entscheidende Stichwort. Assmann nennt als Beispiele u. a. Hos 4, 13–14; Jer 3, 19; Ez 16 und Ez 23. Die positive Umdeutung vom abzuwehrenden Ehebruch zur erotischen Liebesbeziehung sei erst später mit dem Hohelied erfolgt. Zu Jerusalem als positiver Figur der Erfüllung und Braut des Herrn vgl. vor allem Jes 54. 34Susanne Lüdemann, Metaphern der Gesellschaft, S. 99 (im Kapitel „Vom Leib Christi zur Körperschaft. Die Durchsetzung der organischen Metaphorik in der paulinischen Theologie“, S. 88–100).
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als zweitbeste Metapher, die aus der Leib-Christi-Metapher abgeleitet ist.35 Paulus empfiehlt die Ehe bekanntlich jenen, die nicht genug Kraft und Selbstdisziplin für eine enthaltsame Existenz haben, denn „[e]s ist besser zu heiraten, als sich in Begierde zu verzehren“ (1 Kor 7, 9). Beste oder zweitbeste Metapher, es ist wichtig, an dieser Stelle zu betonen, dass der abstrakte Zeichencharakter der Ehe in der zitierten paulinischen Umschreibung des Paarverhältnisses als mysterium wurzelt. Gegenüber Judentum und Antike ist diese Deutung neu: Aus dem gesetzlich, ‚ehelich‘ mit seinem Volk verbundenen Jahwe des Judentums wird ein christlich liebender und inkarnierter Gott, der mit seinen Gläubigen einen einzigen Leib bildet. Der alttestamentliche Gesetzesbund wird ein Liebesbund, eine ‚Liebesehe‘. Der griechischen und römischen Antike ist eine solche für Judentum und Christentum charakteristische allegorische Bedeutung des Ehebundes überhaupt fremd. Zwar werden auch in der antiken Staatslehre Organismus und Familie mit dem politischen Gemeinwesen verglichen, man denke vor allem an Aristoteles’ Typologie von Herrschaftsformen im ersten Buch der Politeia.36 Weder in rechtlicher noch in religiöser Funktion spielt die Ehe hier aber eine Rolle. Nur in analogischer Funktion dient sie zur Legitimation einer prinzipiell natürlichen Herrschaftsordnung. So ist es nicht das eheliche Verhältnis, sondern der oikos, wie ihn auch Xenophon beschreibt, der den natürlichen Staat als Produkt einer guten Herrschaft spiegelt. So wie die Seele über den Körper regiert, regiert im oikos der Mann über die Frau und im Staat der Herrscher über die Untertanen. Insbesondere bei Rousseau wird sich diese Beziehung von sichtbar-natürlichem, ‚ökonomischem‘ Produkt – Stichwort ist hier die Gutsherrschaft von Clarens – und unsichtbarem, politisch-religiösem Produkt – sei es die Vertragsfiktion des Contrat social oder die Ehefiktion der Nouvelle Héloïse – unauflöslich verschränken. Erst die jüdisch-christliche Bundesvorstellung ermöglicht es also, das Paar zu ‚politisieren‘. Dass dies nur im Schatten eines eigentlich männlich-enthaltsamen Gemeinschaftskörpers möglich wurde und sich das kirchliche Zögern in der symbolischen Valorisierung fortsetzte, zeigt sich noch im mittelalterlichen Prozess der Sakramentalisierung. Die Eheschließung bleibt das fleischlichste und letzte der sieben Sakramente. In der sakramentalen Eheschließung wird das Paar auf die kirchliche Gesellschaft vereidigt. Paolo Prodi hat den Eid bekanntlich als „Grundlage des politischen Vertrags in der abendländischen Geschichte“ beschrieben.37
35Der
Kommentar zu Eph 5, 22–33 im Artikel „Mariage“ des Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2067, liest sich in dieser Hinsicht folgendermaßen: „Le but de saint Paul n’est pas directement d’affirmer le caractère symbolique du mariage; ce qu’il veut, c’est proposer aux époux un modèle à réaliser. […] Ce n’est pas une allégorie qu’il développe; c’est une exhortation morale à réaliser, un idéal surnaturel.“ 36Vgl. Aristoteles, Politik, übers. Eckart Schütrumpf, Hamburg: Meiner 2012. 37Paolo Prodi, „Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte“, in: Ders., Elisabeth MüllerLuckner (Hg.), Glaube und Eid. Treueformeln, Glaubensbekenntnisse und Sozialdisziplinierung zwischen Mittelalter und Neuzeit, München: Oldenbourg 1993, S. VII–XXIX; hier: S. VII.
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Mit dem Eid wird der Einzelne ganz, d. h. äußerlich-politisch und innerlichreligiös-privat, an die Staatsgewalt gebunden und von ihr repräsentiert, wobei das Hochmittelalter diejenige Epoche markiert, in der der Träger dieser Institution sich dualistisch in Kirche und Staat zu differenzieren beginnt. Nach Prodi wird die „Sakramentengesetzgebung – zum Beispiel im Hinblick auf die Ehe – […] zum Austragungsfeld der Konkurrenz der beiden Mächte“.38 Fast hätte die Kirche den Eid als achtes Sakrament eingeführt; faktisch sei es bei der Ehe als dem siebten geblieben, mit dem die Kirche die Schwelle zum sozialen Leben betreten habe. An der zeichentheoretischen Ambivalenz des Übertretens dieser Schwelle setzt die Studie von Marie-Odile Métral, Le mariage. Les hésitations de l’Occident, an.39 Nach ihr ist die Ambivalenz einer gleichzeitigen Aufwertung und Abwertung der Ehe durch das Christentum bis heute der Grund dafür, dass das Paar durch die Institution der Ehe weniger in sein Recht gesetzt, als geschlechtlich und sexuell normiert wurde. Das kirchliche Eheverständnis wird für seinen Substantialismus kritisiert: Während die Jungfräulichkeit das eigentliche oder primordiale Zeichen für das Bündnis zwischen Gott und den Menschen sei, sei die Ehe ein abgeleitetes, sekundäres Zeichen, nämlich ein Zeichen des Zeichens der Jungfräulichkeit. Der Status der Jungfräulichkeit schwankt zwischen Zeichen und Wirklichkeit, zwischen Unsichtbarkeit und Sichtbarkeit. Unsichtbares Zeichen ist sie, weil man die Beziehung mit Gott nicht sieht. Sichtbar, wirklich, Praxis, hypostasierte oder ontologisierte Metapher wird sie im Mönchstum – und zwar in der Differenz zur Ehe (die eben ‚nur‘ die sichtbare Kirche, nicht aber die mystische Gottesbeziehung ‚direkt‘ repräsentieren kann).40 Die Ehe ist nicht Zeichen für eine Beziehung (diejenige zwischen Christus und dem Gläubigen), sondern Zeichen für eine (jungfräuliche) Körperschaft der Kirche. Daraus resultiert ihre Einstufung als niedrigstes und zweifelhaftestes Sakrament. Einerseits kompensiert sie den Ausschluss des Körperlichen und reglementiert die biologische Reproduktion, andererseits autorisiert sie eine Erotisierung des Jungfräulichkeitsideals als mystische Liebesbeziehung, die institutionell-faktisch nur Männern eingeräumt wird: „Bien loin d’établir l’égalité, la complémentarité assure la hiérarchie en donnant l’illusion de la réciprocité.“41 Mit psychoanalytischem und semiotischem Instrumentarium zeichnet Métral nach, wie und warum die Kirche – und der Staat in ihrer Verlängerung – die Ehe ausschließlich als keusche, sexualitätsfeindliche Ehe fasste; und sie weist auf die diskursiven Bruchstellen dieses Narrativs hin: auf den revolutionären Ehe-Diskurs eines Hugo von Sankt-Viktor (der in der Kirchengeschichte ungehört geblieben ist),
38Ebd.,
S. XV.
39Marie-Odile
Métral, Le mariage. Les hésitations de l’Occident, Paris: Éditions AubierMontaigne 1977. Die deutsche Übersetzung erschien 1981 bei Suhrkamp unter dem irreführenden Titel Die Ehe. Analyse einer Institution. – Der Titel verkennt, dass es Métral mit ihrer „méthode, délibérément philosophique“ (Le mariage, S. 15) nicht nur um die Analyse, sondern um die ‚Vorbehalte des christlichen Abendlandes‘ gegen diese Institution geht. 40Métral, Le mariage, S. 50–55. 41Ebd., S. 55.
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auf die Integration eines verschobenen Eros in der christlichen Mystik oder auf die höfische Liebe, die als Widerstand gegen den Verrechtlichungsprozess begriffen werden kann.42 In ihrer Revalorisierung der Ehe geht es nun um die Aufwertung des Zeichencharakters, d. h. um die Sichtbarmachung nicht eines regimental funktionierenden (‚paulinischen‘) Begriffsspektrums, sondern eines relationalen, differentiellen Paar-Modells. An Stelle spiritueller Interpenetration in Christo zielt Métral auf eine „interpénétration du social dans le couple“.43 So verschiebt sie das Sakrale auf das Soziale: Le mariage est donc l’institution qui, dans une société véritable, est un relais vers une existence transindividuelle. Il inscrit l’intersubjectif dans un système de relations. Ce qui veut dire que le mariage entretient forcément un rapport avec le sacré, même en dehors de toute société sacrale.44
Métral macht die Ehe in dem Maße zu einem ‚sakralen‘, gesellschaftsutopischen Projekt, wie es faktisch bestehende Ungleichheiten im Sinne von Ungerechtigkeiten zwischen Mann und Frau in der Gesellschaft zu überwinden gilt. Originell daran ist das nonchalante Überspringen jener ganzen aufklärerischen und romantischen Literatur, die die Ehe naturrechtlich und geschlechterkomplementär zum Keim der Gesellschaft machen will. Originell daran ist ferner die Methode, die Ehe nicht einseitig auf der Seite von Recht und Politik oder von Religion, sondern in einer diese Bereiche verbindenden Sphäre zu betrachten.45 Mit Blick auf die literarischen Eheschließungsfiktionen bleibt insbesondere ein dogmatischer Kritikpunkt Métrals hervorzuheben, welcher die Aufmerksamkeit auf die Verfahren der Sichtbarmachung zurücklenkt: Métral kritisiert (anhand der thomistischen Theologie), dass der Konsens theologisch zur Ursache des Sakraments gemacht und damit aus dem Bereich dauerhafter Wirksamkeit herausgenommen wurde. Die Ehe ist, mit anderen Worten, zwar ein sakramentalabbildendes Zeichen – als wirkendes, Gnaden spendendes Zeichen verbleibt sie indessen auf einer niedrigen, nur körperlichen Stufe, unterhalb der S akramentalität
42Verrechtlichung
der Ehe und höfische Dichtung (inklusive des Tristan-Stoffes) bedingen sich: Erst wenn theoretisch der Konsens des Paares ehekonstitutiv wird, kann sich eine andere Sprechweise des Paares davon absetzen. 43Métral, Le mariage, S. 302. 44Ebd., S. 275. 45Wie untypisch diese Vorgehensweise in den 1970er und 1980er Jahren war und noch heute ist, sieht man an der nur spärlichen Rezeption von Métrals Studie. Aufschlussreich ist auch das Vorwort von Philippe Ariès, das die Studie zwar würdigt, aber zugleich unter grundlegende Vorbehalte stellt: „Cela est maintenant connu et admis, que nous, les hommes, nous ne cessons pas encore de dominer les femmes: n’empêche qu’il a fallu à Marie-Odile Métral une bonne dose de pouvoir et de talent pour m’emmener dans sa galère jusqu’au bout d’une révolte qui n’est pas tout à fait la mienne.“ (Vgl. Philippe Ariès, „Préface“, in: Métral, Le mariage, S. 7.)
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eines wahrhaft ‚jungfräulichen‘ Klerus.46 Formuliert wird die Kritik an dem solchermaßen ‚gehemmten‘ Sakrament mithilfe des Vertragsbegriffs: Der Konsens wird als Vertrag – eine juristische Form freiwilligen Einverständnisses – bezeichnet, den die Kirche illegitimerweise normiert, indem sie ihn als bloße „Ursache“ des Sakraments auf den Moment der Eheschließung beschränkt und damit gleichzeitig seiner anhaltenden Gnaden- bzw. Rechtswirkungen beraubt. Der Vertragsgedanke, nach dem zwei Parteien dauerhaft zusammen agieren, wird zu einer Voraussetzung der ehelichen Gemeinschaft erklärt, die dann, nach der Eheschließung, als Herrschaftsverhältnis (des Mannes über die Frau) realisiert wird. Damit ist die Stimme der Frau, so Métral, von Vornherein eine enteignete: „Sa parole est d’avance une parole aliénée.“47 Sie hat nicht die Wahl zwischen einem Ja und Nein, sondern kann ihr Ja nur auf die eine oder andere, die rechte oder die falsche Weise vorbringen.
Verfahren der Sichtbarmachung: der Paar-Konsens zwischen Sakrament und Vertrag Wie macht man die Verbindung zwischen Mann und Frau sichtbar? Wie normiert man ein Eheschließungsritual? Wann beginnt eine Ehe? Die scholastische Theologie bringt in diesem Zusammenhang das Wort oder die Rede gegen den Akt des Beischlafs, copula carnalis, in Stellung. Gegen das germanische und fränkische Recht, nach dem die Ehe eine sippenrechtliche Angelegenheit ist, setzt sich im römisch-kanonischen Recht zunehmend das Konsensprinzip durch, welches auf der Willensübereinstimmung der Ehepartner beruht.48 Für die Eheschließungspraxis bedeutet das, dass verschiedene Rituale wie Brautwerbung, Brautübergabe, Beschreitung des Beilagers, Brautkammersegnung oder die Übergabe von Dingsymbolen wie Munt, Speer, Handschuh, Ring etc. vor dem öffentlichen und feierlichen Austausch des Ehekonsenses zurücktreten.49 Bei der germanisch-archaischen 46„Le
sacrement du mariage joue par rapport à l’institution un rôle conservateur; il est soumis à l’ordre de la création, qu’il parachève sans le détruire. […] Le sacrement apparaît donc comme la christianisation, c’est-à-dire le baptême, de l’institution naturelle lorsque ce sont des chrétiens, des baptisés, qui s’engagent dans cette institution./Un tel engagement, comme celui du baptême, ne peut être que personnel. Saint Thomas inscrit dans l’institution naturelle le libre consentement, sans lequel le mariage ne pourrait être sacrement. En effet, le mariage repose sur un contrat et ce contrat, lorsqu’il a pour parties des chrétiens, ne peut engager seulement les richesses [die Ehegüter; Anm. D.S.], mais l’ensemble de leur vie. […] Car si, précisément, c’est le contrat de ce type est bien un sacrement au sens strict, lorsque les parties sont chrétiennes. Aussi faut-il le ritualisant de façon adéquate. Mais le consentement, et le consentement seulement, est sacrementel.“ (Métral, Le mariage, S. 198 f.) 47Ebd., S. 200. 48Vgl. hierzu Hermann Conrad, „Das Tridentinische Konzil und die Entwicklung des kirchlichen und weltlichen Eherechtes“, in: Georg Schreiber (Hg.), Das Weltkonzil von Trient, Freiburg: Herder 1951, S. 297–324. 49Zur Geschichte des Eheschließungsrituals vgl. Clausdieter Schott, Trauung und Jawort. Von der Brautübergabe zur Ziviltrauung. Festschrift für Karl Bodenstein, Frankfurt a. M.: Verlag für Standesamtswesen GmbH 1992.
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‚Muntehe‘ geht die Vormundschaft (munt) des Vaters über die Frau auf den Ehemann über. Der Bräutigam einer Muntehe verpflichtet sich bei der Verlobung – lat. desponsatio –, der Frauensippe einen sogenannten Muntschatz (Brautschatz, lat. dos) für die Braut zu entrichten.50 Auf die germanische desponsatio folgte die Brautübergabe (traditio puellae), die Heimführung der Braut in das Haus des Mannes, das Beilager und die Morgengabe. Vertragsschließende sind in der germanischen Muntehe nicht Bräutigam und Braut, sondern der Bräutigam und der Vormund der Braut. Aus den überlieferten Eheschließungselementen wird teilweise abgeleitet, dass die mittelalterliche Eheschließung weniger als punktuelles Ereignis denn als geregelter Ablauf und Prozess betrachtet werden kann.51 Die Eheschließung als ein Brauch, eine Sitte, die aus mehreren Handlungen besteht, die vollzogen bzw. erzählt werden müssen, das ist ein Aspekt, den Goethe in Herrmann und Dorothea episch ausgestaltet. Die öffentliche Konsenserklärung der Nupturienten scheint hier noch keine Rolle zu spielen; erst in der Fusion von römisch-kanonischem und germanischem Recht wird sie zu einem zentralen Element der Eheschließung. Mit der zunehmenden Kompetenzerweiterung der Kirche in Gesetzgebung und Gerichtsbarkeit um die Jahrtausendwende wird der Stellenwert des Ehekonsenses zum Gegenstand der Diskussion. Mit ihm zielte die Kirche „auf die Abschaffung des Verlobungsrechts, kraft dessen der Muntwalt der Frau diese auch ohne ihren Willen verheiraten konnte“.52 In der sog. Copula- gegen die Konsenstheorie stehen sich nun ein körperlich-fleischliches und ein ‚metaphorisches‘ Eheschließungsprinzip gegenüber. Die Nachschlagewerke stellen das Ergebnis der Kontroverse als eine Synthese zwischen der in Bologna entstandenen Dekretalensammlung Gratians (um 1140) und den Positionen des Pariser Theologen Petrus Lombardus (12. Jahrhundert) dar. Im Kern der Auseinandersetzung geht es um den Status des römischem Recht entnommenen Grundsatzes „Nuptias non concubitus, sed consensus facit“.53 Nach Gratian ist für die volle Gültigkeit der Ehe über die Willenserklärung hinaus eine geschlechtliche Vereinigung der Ehegatten erforderlich. Demgegenüber vertritt die Pariser Schule um Petrus Lombardus die Auffassung, dass allein der Konsens ehekonstitutiv ist: „Efficiens autem causa matrimonii est consensus, non quilibet, sed per verba expressus: nec de futuro sed de praesenti.“54 Petrus Lombardus
50Vgl.
ebd., S. 19–29. hierzu insbesondere Michael Schröter, „Wo zwei zusammenkommen in rechter Ehe …“. Sozio- und psychogenetische Studien über Eheschließungsvorgänge vom 12. bis 15. Jahrhundert, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1985. 52Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 16. 53Digesten 50, 17, 30 (nach Ulpian, gest. 223); zit. in: Schott, Trauung und Jawort, S. 27. 54„Die eigentliche Grundlage der Ehe ist der Konsens, aber nicht irgendeiner, sondern der durch Worte ausgedrückte, und zwar nicht für die Zukunft, sondern für die Gegenwart.“ (Petrus Lombardus, Libri IV Sententiarum. IV. dist. XXVII. c. III; zit. in: Conrad, „Das Tridentinische Konzil“, S. 303) 51Vgl.
30
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unterscheidet für die genaue Festlegung des Zeitpunktes, zu dem die Rechtswirkungen eintreten, das, was heute der begrifflichen Unterscheidung von ‚Verlobung‘ und ‚Trauung‘ gleichkommt: einen consensus de futuro – eine Einigung mit Zukunftswirkung, welche die verbindende Wirkung in die Zukunft verlegt – und einen consensus de praesenti – eine Einigung mit Sofortwirkung. Tatsächlich löste die Konsenstheorie weniger die Frage der Sichtbarkeit als die des genauen Zeitpunktes, ab dem rechtliche und religiöse Wirkungen eintreten sollen. Zum einen war nicht ausgemacht, wo, wie und in welchem Wortlaut die gegenseitige Willenserklärung erfolgen sollte.55 Der Rechtshistoriker Clausdieter Schott weist darauf hin, dass mit dem Konsensprinzip „die Frau zwar rechtlich handlungsfähig geworden“ war, Literatur und Ikonographie der Eheschließung aber gleichzeitig illustrierten, wie sehr die Einwilligung der Frau dem Verdacht von Trug und List ausgesetzt war.56 Insofern bedingt die sich durchsetzende Konsenstheorie auch die Entstehung einer Literatur, die den Konsens als rechtliches und sakramentales Prinzip – im Witz, im Schwank und, vielleicht vor allem, in der Liebesdichtung – aushebeln bzw. überschreiten konnte. Und noch in den Eheschließungsgeschichten um 1800 bemisst sich die Qualität des Konsenses an der Art und Weise, wie die Frau spricht bzw. sprechen gemacht wird. Zum anderen bringt die Autonomie des Paar-Konsenses das Problem der heimlichen Ehen überhaupt erst hervor. Das Konsensprinzip, heißt es bei dem protestantischen Kirchenrechtler Dieterich, wird als Neuerung eingeführt, ohne nicht öffentlich geschlossene Ehen – Trauungen von Laien oder Andersgläubigen, Winkelehen oder heimliche Ehen – mit Nichtigkeit zu sanktionieren.57 Erst mit der Formvorschrift des Tridentinum werden Kriterien für die Publizität der Konsenskundgabe festgelegt. Schließlich ist festzuhalten, dass die Durchsetzung des Konsenses zuungunsten des Beischlafs auch eine indirekte Scheidungsmöglichkeit mit sich brachte: Das Unauflöslichkeitsprinzip gilt nur für sakramentale und vollzogene Ehen (matrimonium ratum et consummatum58). Demnach können im kanonischen Recht – bis heute – qua Konsens rechtswirksam geschlossene, aber geschlechtlich nicht vollzogene Ehen wieder aufgelöst werden. Die Erhebung des Konsenses zum notwendigen
55„Les
formes de la célébration du mariage ne pouvaient être rigoureusement déterminées, puisque le consentement crée, à lui seul, le lien.“ (Art. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2160.) 56Schott, Trauung und Jawort, S. 32. 57Hartwig Dieterich, Das protestantische Eherecht in Deutschland bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, München: Claudius 1970, S. 23. 58Vgl. Codex Iuris Canonici (1983), Buch IV, Teil I, Titel VII, Can. 1141: „Die gültige und vollzogene Ehe kann durch keine menschliche Gewalt und aus keinem Grunde, außer durch den Tod, aufgelöst werden.“ („Matrimonium ratum et consummatum nulla humana potestate nullaque causa, praeterquam morte, dissolvi potest.“) Can. 1142 regelt dann die Auflösungsmöglichkeit einer nicht vollzogenen Ehe (zit. nach: http://www.vatican.va; 23.11.2016). Es gibt bekanntlich keine Scheidung im römisch-kanonischen Recht. Neben den Ausnahmen der Auflösung sieht der CIC die Trennung von Tisch und Bett sowie die gerichtliche und rückwirkende Feststellung der Nichtigkeit (Unwirksamkeit) des Ehebandes vor.
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Kriterium für das Zustandekommen der Ehe impliziert die Vertragsidee (bzw. eine Vertragsfiktion) auf der Paar-Ebene. Hermann Conrad kommentiert die Durchsetzung des Konsens- gegen das Copula-Prinzip mit dem Satz: „Nach Ansicht der Kirche war demnach die Ehe ein Vertrag zwischen den beiden Partnern.“59 Ein Vertrag, bei dem Mann und Frau die Parteien sind, die sich als einheitliches und unauflösliches Paar bezeugen müssen.60 Im Zuge der „Umkleidung des Konsenses der Ehepartner mit zwingenden Rechtsförmlichkeiten“61 dringt die Vertragsidee aber noch von anderer Seite in die christliche Eheauffassung. Nicht von Seiten des Paares und nicht zur Abgrenzung von einer durch Blutsbande verbundenen Gemeinschaft (Sippe oder Familie), sondern auch ‚von oben‘, von Seiten einer ecclesia mit Jurisdiktionsanspruch, die sich gegen eine andere, auch rechtlich verbundene Gemeinschaft verteidigt. Damit verbunden ist die dogmatische Besonderheit des Ehe-Sakramentes im römisch-katholischen Recht, dass es sich um das einzige der sieben Sakramente handelt, das durch Jesus Christus im Neuen Testament nicht neu gestiftet, sondern gleichsam restituiert wurde.62 Die Ehe wird als göttliche und natürliche Institution betrachtet, die in der Schöpfung ihren Ursprung hat und die durch Jesus Christus zum Sakrament ‚erhoben‘ wurde – so der auf den Robert Bellarmin zurückgehende, theologische Terminus.63 Bereits mit der aristotelischscholastischen Theologie eines Thomas von Aquin, die göttliches, politisches und natürliches Recht verband, konnte der Konsens naturrechtlich auch als ein stofflicher Vertrag (contractus materialis) erklärt werden.64 Aber erst mit dem Tridentinum im 16. Jahrhundert rückt die Ehe als Vertrag (contractus) langsam in den Mittelpunkt des Interesses, um gegen Ende des 18. Jahrhunderts zu einem polemischen Begriff bzw. zu einer politischen Metapher zu werden, mit der von staatlicher Seite das Gesetzgebungsrecht der Kirche bestritten werden sollte. Das
59Conrad,
„Das Tridentinische Konzil“, S. 303. auch die Unterscheidung von gleichsam mittelalterlich konzipiertem „contrat consensuel“ und tridentisch weiterentwickeltem „contrat solennel“ im Art. „Mariage en droit occidental“, in: Dictionnaire de droit canonique, hg. R. Naz, Paris: Letouzey et Ané 1957, Sp. 740–787; hier: Sp. 746–750. 61Conrad, „Das Tridentinische Konzil“, S. 306. 62Gleichzeitig ist die Ehe das einzige der sieben Sakramente, das bereits im Neuen Testament wörtlich, in Eph 5, 32, mit sacramentum in Verbindung gebracht wird. 63Es ist die Formulierung, die noch der aktuelle CIC (1983) im ersten Paragraphen zur Ehe enthält: „Der Ehebund, durch den Mann und Frau unter sich die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben.“ („Matrimoniale foedus, quo vir et mulier inter se totius vitae consortium constituunt, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis generationem et educationem ordinatum, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est.“) Vgl. Codex Iuris Canonici (1983), Buch IV, Teil I, Titel VII, Can. 1033, § 1. 64Vgl. hierzu Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 77 f. 60Vgl.
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Dekret „Tametsi“ wurde innertheologisch auch deshalb so kontrovers diskutiert, weil viele Konzilsteilnehmer die Befugnis, den sakramentalen Konsens förmlich zu regeln, negierten. Die Befürworter des Dekrets unterstrichen deshalb, dass die verlangte Eheschließungsform das Wesen des Sakraments gar nicht betreffe. Sie taten dies mit der folgenschweren Unterscheidung von Sakrament und natürlichbürgerlichem Vertrag. Derselbe Robert Bellarmin, der erklärt, dass Christus die Ehe zu einem Sakrament erhoben hat, lehrt auch, dass dieses Sakrament auf einem Zivilvertrag (contractus civilis) beruht.65 Damit aber werden implizit rechtlich verschiedene Körperschaften vorausgesetzt. Aus heutiger Sicht ist es eine Selbstverständlichkeit, dass es Verträge zwischen Individuen, aber auch zwischen fiktiven Personen, Körperschaften und Staaten geben kann, dass der Vertragsbegriff sowohl im Privatrechtlichen wie im Staatsund Völkerrechtlichen verankert ist.66 Dies ist aber das Ergebnis einer Natur- und Vertragsrechtlehre, die über Hobbes, Grotius, Locke und Rousseau verläuft und die den Vertragsbegriff vom Einzelwesen auf das Gemeinwesen überträgt. Das römische Recht hatte offenbar keine ausgefeilte Vertragstheorie; Begriffe wie consensus, contractus, pactum, conventio konnten mehr oder weniger synonym verwendet werden. Im Mittelalter wurde mit der Aufstellung des Rechtssatzes, nach dem grundsätzlich alle Verträge klagbar wurden, ein erster Schritt zu einer einheitlichen Vertragslehre getan. Ferner wurde pactum zu einem allgemeinen Grundbegriff des Vertrages. Das Lehnwort ‚Kontrakt‘, contractus, setzte sich im 15./16. Jahrhundert in der Kanzleisprache durch – im Dekret „Tametsi“ von 1563 heißt Eheschließung matrimonium contrahere. Hugo Grotius’ völkerrechtliche Abhandlung De iure belli ac pacis von 1625 prägte keinen bestimmten Vertragsbegriff, sondern benutzte contractus, pactum, conventio oder auch promissio.67 Erst Rousseau wird 1762 mit seinem Contrat social den Gesellschaftsvertrag zu einem politischen Begriff mit explizit staatsbegründender Funktion machen. Wenn zur gleichen Zeit (im Roman der Nouvelle Héloïse vom selben Rousseau!) auch die Ehe zur Begründung eines Gemeinwesens herangezogen wird (angefangen beim Revolutionskult bis zu Fichte oder Hegel), dann ist der Konsensbegriff zu einer Scharnierstelle zwischen Sakrament und Vertrag geworden. Die Kirche verstärkte ihre Auffassung, nach der die Ehe auch einen Vertrag darstellt, in dem Maße, wie der Staat zunehmend ein weltliches Eherecht für sich in Anspruch nahm. Als Rechtsfiktion geriet der Konsens damit in Frontstellung sowohl gegenüber einer buchstäblich verstandenen, körperlichen Vereinigung von Mann und Frau (copula) als auch gegenüber einem Sakrament, das, wenn nicht faktisch,
65Vgl.
ebd., S. 70–79. Art. „Vertrag“, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte, hg. Adalbert Erler u. a., Bd. 5, Berlin: Erich Schmidt Verlag 1998, S. 842–852, der in genau diese beiden Abschnitte (Privatrecht und Staats- und Völkerrecht), verfasst von zwei unterschiedlichen Autoren, eingeteilt ist. 67Ulrike Köbler, Werden, Wandel und Wesen des deutschen Privatrechtswortschatzes, Frankfurt a. M.: Peter Lang 2010, S. 132–137 (zu den Begriffen von ‚Kontrakt‘ und ‚Vertrag‘). 66Vgl.
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so doch theoretisch vom Vertrag unterscheidbar wurde. Das spiegelt sich in der paradoxen und kanonisch kontrovers diskutierten Funktion, die der Priester in einer Trauung hat: Nicht er ist der Spender (minister) dieses Sakraments, wie es bei den anderen Sakramenten der Fall ist, sondern die Brautleute selbst, die in der Konsenskundgabe dieses ministerium übernehmen. Gleichzeitig gilt das Sakrament nur, wenn ein Priester als qualifizierter Zeuge diesem Moment beiwohnt. Während die Eheschließung in den meisten Religionen als weltlicher Vorgang betrachtet wird, verlangen einzig die römisch-katholische und die orthodoxen Kirchen aufgrund des Sakramentscharakters der Ehe bis heute zwingend die Anwesenheit eines Geistlichen.68 Der Konsens ist also deshalb ein so interessanter Begriff, weil mit ihm die Figur eines Paares entsteht, das, anachronistisch gesprochen, weder ganz privat ist, noch ganz der res publica zugeordnet werden kann. In genau dieser Zwischenstellung wird die Lektüre der literarischen Texte die Paar-Figur zu verfolgen haben. Der reziproke Sprechakt von Mann und Frau wird dabei zu einem verführerischen Bild für eine gerechtere, da wirklich relationale und nicht hierarchische Beziehung zwischen den Personen. Vertrag und Sakrament, Recht und Religion fallen in der kanonischen Eheauffassung bis heute zusammen. Man kann die Begriffe logisch oder vernunftmäßig trennen, aber im Akt des ‚förmlich umkleideten‘ Paar-Konsenses bilden sie eine metaphorische Einheit: „Donc, entre le contrat et le sacrement de mariage, on peut établir une distinction logique, mais pas une distinction réelle“, liest man im Dictionnaire de théologie catholique (1927).69 Und fast identisch im Dictionnaire de droit canonique (1957): „Il y a une identité réelle du contrat et du sacrement, la raison peut les distinguer, les dissocier, mais un seul, un même acte les réalise.“70 In der longue durée betrachtet erweist sich der Vertragsbegriff im kanonischen Recht als Symptom für die Konkurrenz mit der weltlichen Ehegesetzgebung. Ein Theologe wie Antonio Rosmini (1797–1855), mit dem Manzoni Austausch pflegte, versuchte mit den bekannten Argumenten, die Zivilehegesetzgebung im nachnapoleonischen Königreich Sardinien-Piemont in den 1840er und 1850er Jahren zu verhindern: Es gibt keinen Vertrag ohne Sakrament. Die französischen Regalisten, die die Begriffe trennten, um dem französischen König Gesetzgebungsbefugnisse einzuräumen, hätten geirrt. Der bürgerliche Ehevertrag ist eine Rechtsfiktion (‚finzione legale‘), die das reale Faktum der kirchlichen Ehe zerstören wolle.71 Inzwischen lässt sich im kanonischen Recht ein Rückzug des Vertragsbegriffes verzeichnen. Der Codex Iuris Canonici von 1917, das erste kirchliche Gesetzbuch,
68Maschwitz,
Die Form der Eheschließung, S. 198. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2293. 70Art. „Mariage en droit occidental“, in: Dictionnaire de droit canonique, S. 750. 71Antonio Rosmini, Sulle leggi civili che riguardano il Matrimonio de‘ cristiani (1851), in: Opere di Antonio Rosmini, Bd. 30: Del matrimonio. Operette varie, hg. Remo Bessero Belti, Rom: Città Nuova Editrice 1977, S. 11–175. – Zwar kam es in Sardinien-Piemont nicht zur Einführung einer obligatorischen Zivilehe, aber zu einer Zivilehe für Nicht-Katholiken. 69Art.
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führt die Ehe noch als einen zum Sakrament erhobenen Vertrag ein: „Christus Dominus ad sacramenti dignitatem evexit ipsum contractum matrimonialem inter baptizatos.“72 Dagegen verzichtet der Codex von 1983 auf den Vertragsbegriff, um stattdessen von einem ‚Ehebund‘ (matrimoniale foedus) zu sprechen: „Der Ehebund, durch den Mann und Frau unter sich die Gemeinschaft des ganzen Lebens begründen, welche durch ihre natürliche Eigenart auf das Wohl der Ehegatten und auf die Zeugung und die Erziehung von Nachkommenschaft hingeordnet ist, wurde zwischen Getauften von Christus dem Herrn zur Würde eines Sakramentes erhoben.“73 Mit dem Bundesbegriff schließt der aktuelle Codex wieder stärker an den Abbildcharakter der Ehe als Bund zwischen Christus und der Kirche an. Der Kanoniker Jean Bernhard konstatiert in seinem Kommentar zum heutigen kirchlichen Eherecht denn auch einen Wandel von einem kontraktualistischen Eheverständnis, das noch den Codex Iuris Canonici von 1917 geprägt habe, zu einem personalistischen Ansatz: War der Vertragsbegriff noch mit dem Verständnis des Ehekonsenses als eines Austausches von Rechten und Pflichten – so im Codex von 1917 – zu vereinbaren, so ist er für eine Beschreibung des Ehekonsenses als personaler Selbstschenkung und in einer Ehelehre, die die Ehe als personale Liebes- und Lebensgemeinschaft versteht, nicht mehr angebracht. Das Konzil hat daher den Vertragsbegriff vermieden und ihn durch den Bundesbegriff ersetzt, der die Ehe in ihrem Entstehen und ihrem Bestand bezeichnet. Der Bundesbegriff bringt aber auch die personale und religiöse Dimension der Ehe besser zum Ausdruck.74
Die ‚Personalisierung‘ ist eine zur Individualisierung des bürgerlichen Eherechts parallel verlaufende Entwicklung. Im Begriff des ‚Bundes‘ bzw. der ‚Lebensgemeinschaft‘ tritt die Differenz zwischen Entstehung und ‚Stand‘ der Ehe zugunsten einer ontologischen Einheit zurück. Damit tritt eine Unterscheidung zurück, auf die, so scheint es, in den literarischen Eheschließungs- oder -auflösungsgeschichten um 1800 alles ankommt: das Zustandekommen der Ehe und die Ehe in ihrer Dauer, als Stand; also das, was in theologisch-rechtlicher Fachsprache als matrimonium in fieri gegenüber matrimonium in facto esse ausdifferenziert wird.75 Nach dem Vorstehenden lässt sich jedenfalls das Argument, 72„Christus
der Herr hat den Ehevertrag zwischen Getauften zur Würde eines Sakramentes erhoben.“ (Codex Iuris Canonici (1917), Buch III, Teil I, Titel VII, Can. 1012, § 1; zit. nach: http://www.iuscangreg.it; 20.11.2016.) 73„Matrimoniale foedus, quo vir et mulier inter se totius vitae consortium constituunt, indole sua naturali ad bonum coniugum atque ad prolis generationem et educationem ordinatum, a Christo Domino ad sacramenti dignitatem inter baptizatos evectum est.“ (Codex Iuris Canonici (1983), Buch IV, Teil I, Titel VII, Can. 1033, § 1.) 74Jean Bernhard, „Grundlagen des kirchlichen Eherechts“, in: Puza, Kustermann (Hg.), Beginn und Ende der Ehe, S. 1–7; hier: S. 2. 75„Considéré in fieri, à l’instant de sa formation, il [le mariage; Anm. D.S.] est un contrat naturel que la loi a pu réglementer; il est toujours, entre chrétiens, un contrat-sacrement et il crée un lien de droit permanent, un état. Les théologiens et les canonistes étudient donc le mariage in fieri (contrat-sacrement) et in facto esse (état).“ (Art. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2285.)
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nach dem der Jurisdiktionsanspruch aus der Sakramentsnatur abgeleitet ist, auch umdrehen: Die Sakramentalität wird aus einem juridischen Wesensmerkmal – dem Konsensprinzip – abgeleitet.
Vom heiligen Stand zum sittlichen Staatszweck Die spätmittelalterliche ‚Hoch-Zeit‘ von Vertrag und Sakrament entsteht erst in der Abwehr reformatorischer Kräfte. Insbesondere Luthers Ablehnung der Sakramentalität der Ehe ist bekannt. Aber mit der Abwertung der Ehe als Sakrament geht eine bemerkenswerte Aufwertung des Ehestands einher. Nach Luther ist die Ehe ‚weltlich Ding‘ und ‚heiliger Stand‘ zugleich; und es gilt, ihn als zölibatärer Jungfräulichkeit überlegenen und allerheiligsten Stand zu profilieren. Nicht „in fleischlicher Liebe oder Hitze“ habe er die entlaufene Nonne Katharina von Bora geheiratet, sondern um „mit der Tat zu bekräftigen, was ich gelehrt habe“,76 schreibt der ehemalige Augustinermönch an Nikolaus von Amsdorff, den er zu seiner Hochzeitsfeier einlädt. Mit seiner eigenmächtigen Eheschließungstat bestreitet Luther mehr den kanonischen Jurisdiktionsanspruch als die Sakramentalität (im Sinne von ‚Heiligkeit‘) der Ehe. Obwohl Luther in Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche (1520) die Sakramentalität der Ehe ablehnt,77 benutzt er den Begriff doch an verschiedenen Stellen, so etwa in Ein Sermon von dem ehlichen Stand (1519): Ein Sakrament aber heißt ein heiliges Zeichen, das da bedeutet etwas anderes, ein geistlich, heilig, himmelisch und ewig Ding, gleich wie das Wasser der Taufe […]. Also ist auch der eheliche Stand ein Sakrament, ein äußerlichs, heiligs Zeichen des allergrößten, heiligesten, würdigesten, edelsten Dings, das noch nie gewesen oder werden kann, das ist die Vereinung göttlicher und menschlicher Natur in Christo. Denn der heilig Apostel Paulus sagt: Wie der Mann und Weib vereinigt im ehlichen Stand sind, zwei in einem
76Zit.
nach: Heinz Schilling, Martin Luther. Rebell in einer Zeit des Umbruchs, München: Beck 2016 (2012), S. 330. 77„Die Ehe wird nicht nur ohne allen Schriftbeweis für ein Sakrament gehalten, sondern sie ist auch durch dieselben Satzungen, durch die sie als ein Sakrament angepriesen wird, zu einem reinen Gespött geworden, wovon wir etwas sehen wollen. Wir haben gesagt, in jedem Sakrament muss es ein Wort göttlicher Verheißung geben, dem glauben muss, wer das Zeichen empfängt; das Zeichen allein könne kein Sakrament sein. Nun wird aber niemals gelesen, dass jeder, der eine Frau nimmt, irgendetwas an göttlicher Gnade empfangen soll. Ja, es gibt nicht einmal ein von Gott eingesetztes Zeichen in der Ehe. Denn nirgends liest man, dass sie von Gott eingesetzt wäre, um etwas anderes zu bedeuten, auch wenn alle Dinge, die sichtbar geschehen, als Abbilder und Allegorien unsichtbarer Dinge verstanden werden können. Aber Abbild oder Allegorie sind nicht Sakramente, so wie wir von Sakramenten reden.“ (Martin Luther, Von der babylonischen Gefangenschaft der Kirche, ein Vorspiel (1520), in: Ders., Schriften, Bd. 1: Aufbruch der Reformation, hg. Thomas Kaufmann, Berlin: Verlag der Weltreligionen 2014, S. 189–310; hier: S. 275.)
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Fleisch, also ist Gott und die Menschheit ein Christus, Christus auch und die Christenheit ein Leib, das ist fürwahr (spricht er) ein groß Sakrament […]; das ist, der ehliche Stand bedeutet fürwahr große Ding.78
Im bekannten Rückgriff auf Eph 5, 21 f. vergleicht Luther die Ehe mit dem Sakrament der Taufe. Wie dort dem Wasser so wächst dem Stand der Ehe eine metaphorische Bedeutung – Geistlichkeit, Heiligkeit oder ‚Sakramentalität‘ – zu. In seiner äußerlichen Qualität als Zeichen wird die Ehe ein ‚großes Ding‘, weil Paulus es als geheimnisvolles Bild für die ganze christliche Gemeinschaft bezeichnet hat. Anders als das Remedium des Taufwassers, das man mit Frische, Lebendigkeit und Gnade verbindet, ist der Ehestand bei Luther aber eine mühsame Angelegenheit. Mit dem Sündenfall ist auch die eheliche Liebe, die Luther an sich über alle andere Liebe stellt, gefallen und unrein geworden: Aber über die alle geht die eheliche Liebe, das ist eine Brautliebe, die brennet wie das Feuer und sucht nicht mehr denn das ehliche Gemahl […]. Alle andere Liebe sucht etwas anderes, denn den sie liebet, diese allein will den Geliebten eigen selbst ganz haben. Und wenn Adam nicht gefallen wäre, so wäre es das lieblichste Ding gewesen, Braut und Bräutigam.79
Nach dem Sündenfall ist aus dem göttlichen Stand der ehelichen Liebe, wie Luther fortfährt, das berühmte „Spital der Siechen“80 geworden, aus der freien ehelichen Vereinigung ein gemeinsamer Kampf gegen die fleischlichen Begierden. Nicht dem institutionellen oder vertraglichen Zustandekommen schenkt Luther, zumal in den früheren Schriften zur Ehe, seine Hauptaufmerksamkeit, sondern dem matrimonium in facto esse, der sozialen und moralischen Disziplin der Ehe. John Witte spricht in Bezug auf Luthers Ehe-Konzeption von einem Sozialmodell und einem gesellschaftlichen Stand,81 der rechtsanaloge Funktionen hat, ohne selbst positives Recht zu begründen. So parallelisiert er die Funktionen, die Luther in Anlehnung an die augustinischen Ehegüter der Ehe zuweist, bezeichnenderweise mit den Funktionen des Strafrechts und kommt dabei auf ‚erstaunliche‘ – präventive, abschreckende und pädagogische – Analogien. Die Ehe wurde als Beginn von Verpflichtung und Beruf(ung), von buchstäblichem Glaubensbekenntnis
78Martin
Luther, Ein Sermon von dem ehlichen Stand (1519), in: Ders., Vom ehelichen Leben, hg. Dagmar C. G. Lorenz, Stuttgart: Reclam 1978, S. 3–10; hier: S. 6. Weitere Nachweise für die Verwendung des Sakrament-Begriffs bei: Roland Kirstein, Die Entwicklung der Sponsalienlehre und der Lehre vom Eheschluß in der deutschen protestantischen Eherechtslehre bis zu J. H. Böhmer, Bonn: Röhrscheid 1966, S. 26. 79Martin Luther, Ein Sermon von dem ehlichen Stand, S. 5. 80Ebd. 81Im Gegensatz zu einem römisch-katholischen Sakramentsmodell, calvinistischen Bundesmodell, anglikanischen Commonwealth und einem aufklärerischen Vertragsmodell (John Witte, Vom Sakrament zum Vertrag. Ehe, Religion und Recht in der abendländischen Tradition, Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus 2008 (engl. 1997), S. 60–92).
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begriffen. Eines Prozess der Disziplinierung, nicht zuletzt von Geschlecht und Sexualität, der vom Staat nahtlos fortgesetzt werden konnte.82 Was die Ehegesetzgebung angeht, schafft Luther theologisch ein Rechtsvakuum. Wenn er sich in den späteren Schriften Ein Traubüchlein (1529) und Von Ehesachen (1530) auch Fragen des Ehebandes zuwendet, dann tut er das in ausdrücklicher Absetzung von der weltlichen Jurisprudenz; „nicht als ein rechtsprecher, official odder regent“ ist er etwa gegen heimliche Verlöbnisse und für den elterlichen Konsens, „sondern rats weise, wie ichs ym gewissen wolt guten freunden ynn sonderheit zu dienst thun“.83 Wie Luther mit Augustinus von der Spaltung der Welt in ein gefallenes weltliches und ein göttliches Reich rechnet, ist das Eherecht gespalten in ein defizientes weltliches Recht und ein göttliches Recht, in dem der Ehestand verankert ist.84 Mehrfach betont Luther die paradiesische Schöpfung der Ehe. Nach seinen Genesis-Vorlesungen ist die Ehe institutio Dei und sanctum coniugium.85 Aber die Verfallsgeschichte des Sündenstandes ist durch kein positiv-göttliches Recht aufzuhalten. Die Freiwilligkeit des gegenseitigen Ja wird so zu einer rechtlich-religiösen Notwendigkeit. Die Ehe als heiligster und gefallener Stand wird Rechtfertigung des Menschen par excellence und bei protestantischen Theologen metaphorisch zur „Mutter aller irdischen Rechtsordnungen“.86 Dabei beschränkt sich die eigene Zuständigkeit rechtstheologisch auf Predigt und Verkündigung jener heiligen Rechtsordnung, deren Pflichten im Diesseits nur Lasten und deren Rechte aufs Jenseits verlagert sind.
82Vgl.
hierzu Barbara Vinken, Die deutsche Mutter. Der lange Schatten eines Mythos, Frankfurt a. M.: Fischer 2007, S. 109–132, wo die physische Mütterlichkeit als Norm herausgearbeitet wird. 83Martin Luther, Von Ehesachen (1530), in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], 3. Abteilung, Bd. 30, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1910, S. 198–248; hier: S. 206. Zu Beginn des Traubüchlein (1529), das ein Formular zur kirchlichen Einsegnung der Ehe – für diejenigen, die es verlangen (!) – vorschlägt, heißt es: „[W]eil die hochzeit und ehestand ein welltlich geschefft ist, gebührt uns geistlichen odder kirchendienern nichts darynn zu ordenen odder regiern, Sondern lassen einer ieglichen Stad und Land hierynn yhren brauch und gewonheit, wie sie gehen“. (Martin Luther, Ein Traubüchlein für die einfältigen Pfarrherr (1529), in: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe [Weimarer Ausgabe], 3. Abteilung, Bd. 30, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 1910, S. 43–80; hier: S. 74. 84Vgl. Dieterich, Das protestantische Eherecht, S. 25–37; Kirstein, Die Entwicklung der Sponsalienlehre, S. 26 f.; Witte, Vom Sakrament zum Vertrag, S. 68 f. 85Vgl. Kirstein, Die Entwicklung der Sponsalienlehre, S. 26 und Dieterich, Das protestantische Eherecht, S. 37. 86Vgl. Johannes Heckel, Lex charitatis. Eine juristische Untersuchung über das Recht in der Theologie Martin Luthers, Köln/Wien: Böhlau 1973, S. 148: „Im Reiche der Welt hat nun die Ehe eine einzigartige Bedeutung. Sie ist die Mutter aller irdischen Rechtseinrichtungen. Ohne sie kann zwar das geistliche Reich Gottes, nicht aber das Reich dieser Welt bestehen.“ Vgl. auch Dieterich, Das protestantische Eherecht, S. 37. Die Ehe ist wichtiger als das weltliche Regiment, „[d]enn wie die Ehe für das Reich der Welt fons politiae ist, so wird sie durch die Erziehung der Kinder im Glauben für das Reich Christi die Pflanzschule der wahren Kirche.“
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Die Auffassung der Ehe als res mixta bereitet den protestantischen Theologen und Juristen noch größere Probleme als den römisch-katholischen, weil sie die Verfasstheit der ecclesia spiritualis und letztlich die grundsätzliche Frage nach der Möglichkeit eines eigenständigen Kirchenrechts betrifft.87 Ihren historistischen Höhepunkt hat die Problematik im Kulturkampf Ende des 19. Jahrhunderts und in der juristisch-theologischen Debatte um die Legitimität einer obligatorischen Zivilehe. „Luthers Name“, schreibt der Rechtshistoriker Emil Friedberg 1865, „war auf beiden Seiten das Feldgeschrei, und die Bestrebungen sowohl für wie gegen die Einführung der Civilehe stützen sich auf seine Autorität.“88 Er selbst benutzt Luthers Autorität freilich für die Zivilehe. Knapp zehn Jahre vor ihrer tatsächlichen Einführung in Preußen und im Deutschen Reich führt er mit seiner monumentalen Abhandlung den historischen Nachweis, dass es nach reformatorisch-dogmatischem Verständnis noch nie eine kirchliche Eheschließung, sondern immer nur eine Ehebestätigung gegeben habe. Dass im 18. und 19. Jahrhundert – kulminierend im Preußischen Landrecht von 1794 – die kirchliche Trauung als einzige Form der Eheschließung festgelegt wurde, ist nach Friedberg ein theologisch-rechtlicher Irrtum.89 Dem stellt der konservativ-lutherische Kirchenrechtler Rudolf Sohm sein Recht der Eheschließung entgegen, das den bürgerlichen Zivilvertrag zwar anerkennt, sich aber vehement gegen eine nur noch segnend-bestätigende Funktion der kirchlichen Trauung verwehrt. Die kirchliche Trauung ist für ihn der essentielle Akt, mit dem im christlichen Staat die Eheleute zusammengesprochen werden, die Ehe ‚konsumiert‘ und ins Leben gerufen wird.90 Sohms Plädoyer für die pneumatisch-charismatische Kirchenhandlung, mit der die Gatten in den Ehestand ‚eingefügt‘ werden sollen, erklärt die begriffliche Sonderstellung der ‚deutschen Trauung‘, die kein wirkliches Äquivalent in anderen Sprachen hat. Es verweist außerdem auf den anhaltend kontroversen Status der kirchlichen Eheschließung in den protestantischen Kirchen.91 87Hartwig
Dieterich, Das protestantische Eherecht, der Luthers Ehelehre ausdrücklich vor dem Hintergrund von Luthers Rechtfertigungs- und Zwei-Reiche-Lehre beschreibt. 88Emil Friedberg, Das Recht der Eheschließung in seiner geschichtlichen Entwicklung, Leipzig: Verlag von Bernhard Tauchnitz 1865, S. 160. 89Ebd., S. 303–305. 90Rudolph Sohm, Das Recht der Eheschließung aus dem deutschen und canonischen Recht geschichtlich entwickelt. Eine Antwort auf die Frage nach dem Verhältnis der kirchlichen Trauung zur Civilehe, Weimar: Böhlau 1875. Vgl. S. 295: „Wie jetzt der Trauung der eheschliessende Civilact, so musste damals der Trauung die eheschliessende Verlobung voraufgehen. Daraus ergiebt sich, dass das Trauformular [Luthers; Anm. D.S.] unverändert beizubehalten ist […]. Vor Allem ist das ‚Zusammensprechen‘ beizubehalten. Das ‚Zusammensprechen‘ ist […] eine selbständige, die Thatsächlichkeit der Ehe herbeiführende Handlung des Geistlichen.“ – Eine gute Zusammenfassung der Friedberg-Sohm-Debatte findet sich in Stephan Buchholz, „Beiträge zum Ehe- und Familienrecht des 19. Jahrhunderts“, Ius commune IX (1980), 229–313 (Exkurs S. 307–313). 91Vgl. hierzu Art. „Trauung“, Theologische Realenzyklopädie, hg. Horst Robert Balz u. a., Bd. 34, Berlin/New York: De Gruyter 2002, S. 50–56, wo vier Hauptpositionen unterschieden werden: die Trauung als Ergänzung der standesamtlichen Eheschließung, als eine wiederholende Interpretation der standesamtlichen Eheschließung, als Bekenntnis zu einer christlichen
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In der gesetzgebenden Praxis verlangte Luthers Ehe-Auffassung Handeln: Neue obrigkeitliche Eheverordnungen mussten geschaffen und theologische Ratgeber für diese Obrigkeit zur Verfügung gestellt werden. So revolutionär sich das neue „Aktionsprogramm“92 ausnahm, so rasch geriet es wieder in traditionelle, und das heißt kanonische Bahnen. Überblicksdarstellungen betonen eine erstaunliche Kontinuität des kanonischen Rechts. Kirchenregimenter, Konsistorien, Kirchenverzeichnisse entstehen in Parallelität zur kanonischen Ehegesetzgebung und -gerichtsbarkeit.93 So erfährt bei den protestantischen Theologen und Juristen der Konflikt um das ministerium der Ehe und um den ‚vollgültigen‘ Beginn einer Ehe eine Neuauflage, den die römisch-katholische Kirche theoretisch mit dem Vertragssakrament gelöst hatte, ein Konflikt, der nun mit dem Fachterminus ‚Sponsalienlehre‘ belegt wurde.94 Die Debatten kreisten um den wahren rechtlichen und/oder theologischen Moment, in dem das unauflösliche Band der Ehe gestiftet wird. Dabei reichte die Bandbreite von einer Verlöbnisehe, die begrifflich gegebenenfalls um ‚Verlöbnisvorverträge‘ ergänzt wurde, bis zu einer Eheschließungslehre, die das Eheband erst in der copula carnalis oder aber sacerdotalis statt im Konsens der Ehewilligen dargestellt sehen wollte.95 Luther verursachte das Problem dadurch, dass er zwar den Paarkonsens als die Ehe ‚ins Werk setzend‘ erachtete, ihn allerdings an ein Verlöbnis knüpfte, das seine Gültigkeit weder aus juridischer Faktizität (der eines schriftlichen Vertrags etwa) noch aus einer (ja nur angemahnten) kirchlichen Trauung bezog, sondern aus einer ‚Öffentlichkeit‘, die sich wesentlich durch die Einwilligung der Eltern (also der Sippe oder Familie) konstituiert.96 In diesem Zuge polemisiert er gegen die kanonische Unterscheidung von verba de futuro und verba de praesenti,
Ehe, als eine liturgische und/oder diakonische Veranstaltung anlässlich der standesamtlichen Eheschließung (S. 52). 92So Witte, Vom Sakrament zum Vertrag, S. 71. 93Vgl. etwa Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 114 ff. 94Vgl. insb. Kirstein, Die Entwicklung der Sponsalienlehre. 95Stephan Buchholz stellt Justus Henning Böhmer (1674–1749) mit seiner Ablehnung der sponsalia de praesenti und dem Postulat einer rechtlich verbindlichen Eheschließungsform als problemklärend und die Kasuistik beendend dar. Grundsätzlich kommentiert er die sog. Sponsalienlehre: „Festzuhalten ist nur, daß die wesentliche Frage, wann der ehebegründende Konsens anzusetzen und wann der Beginn des vinculum indissolubile anzunehmen sein sollte, ohne allgemeingültige Antwort bleiben mußte.“ (Stephan Buchholz, „Justus Henning Böhmer (1674–1749) und das Kirchenrecht“, Ius Commune 18 (1991), 37–49; hier: S. 47.) 96Vgl. hierzu v. a. Luther, Von Ehesachen, S. 214: „So ist nu der beschlus: Was durch Gottes wort zusamen gefuget wird, das hat Gott zusamen gefuget, und sonst nichts. Nu las die heimlichen verlöbnis beweisen, das Gottes wort da bey sey, und solchs befolhen odder geboten habe. Sage, wo bey weistu, das euch Gott zusamen gefuget hat? gib des ein warzeichen, das Got, und nicht du selbs on Got gethan hast. Es ist viel mehr widder Gott und sein wort, nemlich widder der elltern gehorsam, welchen Gott offenberlich geboten hat, und Gott ynn dem selbigen gebot ist und verbeut solche verlöbnis und gar nichts zusamen fugt.“
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mit der die Kirche sich als Rechtsinstanz gleichsam zwischen die Verlobung und Geschlechtsvereinigung als ehestiftende Rechtsinstanz ‚einschob‘. Nach Luther gilt die Äußerung des Sich-gegenseitig-haben-Wollens, egal ob im Futur oder Präsens ausgesprochen.97 ‚Verlobte‘ und ‚Eheleute‘ werden ihm so zu synonymen Begriffen: „Es ist eben so wol ein Ehe nach dem offentlichen verlöbnis als nach der hochzeit“.98 In seiner Nachfolge sollte dieser Konsens des Paares in einen unlösbaren Konflikt mit dem ‚Zusammensprechen‘ geraten, das Luther den Pfarrern im Traubüchlein (1529) zusammen mit den Worten nach Mt 10, 9 zunächst nur als kirchliche Einsegnung der Ehe empfiehlt: „So spreche ich sie ehelich zu samen ym namen des Vaters und des Sons und des heiligen geists, Amen.“99 Die Tatsache, dass der Pfarrer in göttlicher Stellvertretung das Paar ‚zusammenspricht‘, bildet das Hauptargument dafür, in ihm zunehmend einen Kirchen- und Staatsdiener zu sehen, der das Paar auf rechtlich-religiöse Weise ‚kopuliert‘. Abgesehen von allen patriarchalen und sozialnormativen Wirkungen, die Luthers prototypische ‚Ehe-Tatlehre‘ auf das protestantische Pfarrhaus hatte, liegt ihre (staats-)politische und revolutionäre Sprengkraft in dem Rechtsvakuum, das sie schuf, bzw. – rechtstheologisch formuliert – in der Tatsache, dass sie zwei Rechtskreisen (weltlichem Recht und lex Christi)100 angehören sollte. Luther eliminierte, pointiert gesagt, nicht das Sakrament aus der Ehe, sondern den Vertrag. Der machtpolitische Sprengsatz dieser Eheauffassung explodierte in Deutschland, anders als im revolutionären Frankreich, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier wurde die Eheschließung erst im die Nationalstaatsbildung begleitenden Machtkampf zwischen Kirche und Staat zum Streitgegenstand. Zuvor beförderte die „Profanierung der Ehe in Gesetzgebung und Jurisdiktion“101 bei gleichzeitiger Vergeistigung des Ehestandes als Schwundstufe einer göttlichen Institution im lutherischen Stammland eine typisch deutsche,
97Vgl.
ebd., S. 211 f.: „Gleich wie sie [die Kanoniker; Anm. D.S.] auch ein lauter narren spiel getrieben haben cum verbis de presenti vel de futuro, Damit haben sie auch viel Ehe zurissen, die nach yhrem recht gegolten hat und gebunden, die nichts gegolten hat, Denn diese wort ‚Ich wil dich zum weibe haben‘ odder ‚ich wil dich nehmen, Ich wil dich haben‘, ‚Du solt mein sein‘ und der gleichen haben sie gemeiniglich verba de futuro genennet und fur gegeben, der mans name solt also sagen: Accipio te in uxorem, Ich neme dich zu meinem weibe, der weibs name also: Ich neme dich zu meinem eheman. Und haben nicht gesehen noch gemerckt, das dis nicht ym brauch ist, deudsch zu reden, wenn man de presenti redet. Sondern das heisst de presenti geredt: Ich will dich haben, Ego volo te habere, est presentis temporis, non futuri. Darumb redet kein Deudsch mensch von zu kunfftigem verlöbnis, wenn er spricht ‚Ich wil dich haben‘ odder ‚nehmen‘. Denn man spricht nicht ‚Ich werde dich haben‘, wie sie gaugkeln mit dem ‚Accipiam te‘, Sondern ‚Accipio te‘ heisst eigentlich auff Deudsch ‚Ich will dich nehmen‘ odder ‚haben‘, Und wird verstanden de presenti, das er itzt mit solchen worten ia spricht und seinen Willen darein gibt.“ 98Ebd., S. 231. 99Luther, Ein Traubüchlein, S. 77. 100Vgl. Dieterich, Das protestantische Eherecht, S. 35. 101Vgl. Buchholz, „Beiträge zum Ehe- und Familienrecht des 19. Jahrhunderts“, S. 246.
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protestantische Ehephilosophie, die sich ihrem Kern nach nicht destabilisierend, sondern stabilisierend auf Staat und Kirche auswirkte. Ihre Methode ist naturund vernunftrechtlich, metaphysisch, sozialreformerisch und, tendenziell, antirevolutionär und anti-französisch.102 Ehe(rechts)philosophen profilieren die Ehe in aller Regel als sittlich-religiöses Verbindungselement, das als Vertrag immer nur unzureichend beschrieben ist und dessen Produkt eine männlich-juristische Familien-Person ist. Man muss ‚in aller Regel‘ sagen, denn die einzelnen Eheauffassungen variieren und setzen unterschiedliche Akzente.103 Der gemeinsame Minimalnenner liegt aber darin, dass die eheliche Verbindung nicht in feindlicher Abgrenzung von einem äußeren, politisch-rechtlichen Wirkbereich des Staates begriffen wurde, sondern als metaphysische, sittlich-religiöse Fundierung desselben. Kant, Fichte und Hegel geht es nicht um eine Paar-Beziehung, die es gegen ein anderes Recht (oder zwei konkurrierende Rechte wie das von Kirche und Staat) zu verteidigen gilt, sondern um eine Einheit – die vom Mann repräsentierte Familie –, die ein Rechtsverhältnis zwischen (männlichem) Individuum und Staat allererst ermöglicht. Den Kern der Argumentation bildet dabei die Identifizierung der Ehe mit einer verinnerlichten, moralisierten und disziplinierten Liebe. „Die Ehe ist gar nicht bloß eine juridische Gesellschaft, wie etwa der Staat; sie ist eine natürliche und moralische Gesellschaft“, schreibt Johann Gottlieb Fichte 1796/97.104 „[Sie] ist eine durch den Geschlechtstrieb begründete vollkommene Vereinigung zweier Personen beiderlei Geschlechts, die ihr eigener Zweck ist.“105 Monogamie und Unauflöslichkeit des Paares ergeben sich nicht aus der Abbildfunktion einer transzendenten Beziehung zwischen Christus und Gläubigem, sondern aus der Natur des Geschlechterverhältnisses: „Die eheliche Verbindung ist ihrer Natur nach unzertrennlich und ewig, und wird notwendig als ewig geschlossen [Herv. D. S.]. […] Erst muß eine Ehe da sein, ehe von einem Eherechte […] überhaupt die Rede sein kann.“106 Fichtes Ehe beschreibt einen vorrechtlichen Individuierungsvorgang, aus dem dank weiblicher ‚Liebe‘ und männlichem ‚Großmut‘ zwei moralisch gleiche Wesen, ein weiblichfamiliärer Innenraum, ein männlich-staatlicher Außenraum und nur ein männlich-juristisches Subjekt hervorgeht. Die verheiratete Frau ist für den Staat als
102Vgl. zu diesem Befund und den Abweichungen in den geheimen Männer-Debatten der „Gesellschaft von Freunden der Aufklärung“ mit ihrem Publikationsorgan der Berlinischen Monatsschrift: Michael Taylor, „‚Was heißt Aufklärung?‘ Eine Fußnote zur Ehekrise“, in: Albrecht Koschorke, Nacim Ghanbari u. a., Vor der Familie. Grenzbedingungen einer modernen Institution, München: Fink 2010, S. 51–95. 103Vgl. hierzu auch Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994 (1982), S. 171: „Man hat insgesamt den Eindruck, daß die Unterschiede von Autor zu Autor in dieser Zeit größer sind als die Unterschiede zwischen den historischen Epochen.“ 104Johann Gottlieb Fichte, Grundlage des Naturrechts nach Prinzipien der Wissenschaftslehre (1796), Hamburg: Meiner 1979, S. 298. 105Ebd., S. 309. 106Ebd., S. 311.
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juridische Person „ganz vernichtet“, schreibt er unverblümt.107 Fichtes eherechtliche Konsequenzen bestätigen im Großen und Ganzen die geltende Ehegesetzgebung seiner Zeit; ausdrücklich befürwortet er die Beteiligung eines Geistlichen als „Beamter des Staats“ an der Eheschließung.108 Kant setzt in seiner berühmten Ehe-Definition die Vereinigung von Mann und Frau zwar auf einer anderen Ebene an; nicht Liebe, sondern ein gesetzlicher Geschlechtsverkehr macht nach ihm das matrimonium: „die Verbindung zweier Personen verschiedenen Geschlechts zum lebenswierigen wechselseitigen Besitz ihrer Geschlechtseigenschaften“.109 Diese Bestimmung, der Walter Benjamin in Goethes Wahlverwandtschaften ‚sachliche Vollendung‘ und ‚erhabene Ahnungslosigkeit‘ attestiert hat, mutet insofern modern an, als sie tatsächlich auf Wechselseitigkeit und Relationalität beruht.110 Aber auch er zielt doch nur auf die Wiederherstellung der einzigen Persönlichkeit, die vom Geschlechtsverkehr, in dem der Mensch sich selbst zur Sache macht, bedroht wird, und die in der häuslichen Gesellschaft natürlich in das Hausherrenrecht übergeht.111 Hegel korrigiert Kants vertragsrechtlichen Ansatz geistphilosophisch, indem er die Ehe zum einen als Aufhebung des „Vertrags-Standpunktes“ definiert und sie zum anderen an das Ritual der Eheschließung zurückbindet. Dialektisch zeichnet
107„In
dem Begriffe der Ehe liegt die unbegrenzteste Unterwerfung der Frau unter den Willen des Mannes; nicht aus einem juridischen sondern einem moralischen Grunde. Sie muß sich unterwerfen um ihrer eignen Ehre willen. – Die Frau gehört nicht sich selbst an, sondern dem Manne. Indem der Staat die Ehe, d. i. gerade dieses ihm wohlbekannte, nicht durch ihn sondern durch etwas Höheres als er, begründete Verhältnis anerkennt, tut er Verzicht darauf, das Weib von nun an als juridische Person zu betrachten. Der Mann tritt ganz an ihre Stelle; sie ist durch ihre Verheiratung für den Staat ganz vernichtet, zufolge ihres eignen notwendigen Willens, den der Staat garantiert hat.“ (Ebd., S. 320 f.) 108„Daß die Ehe, da sie etwas auf Moralität Gegründetes, und schlechthin nur durch sie Bestehendes ist, unter den Augen derer, die die Erzieher des Volks zur Moralität sein sollen, d. i. der Geistlichen, geschlossen wird, ist sehr vernünftig; aber inwiefern die Trauung juridische Gültigkeit hat, ist der Geistliche ein Beamter des Staats.“ (Ebd., S. 317.) 109Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), hg. Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner 1998, Erster Teil, § 24, S. 94. 110Zu den Berührungspunkten von Kants Ehe-Definition mit Rousseaus Gesellschaftsvertrag vgl. Reinhard Brandt, „Kants Eherecht“, in: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann, Hubert Thüring (Hg.), Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München: Fink 2005, S. 113–131. Zur Romantik, insb. Novalis vgl. unten Abschn. 4.2: Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis). 111Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, § 25, S. 94: „Denn der natürliche Gebrauch, den ein Geschlecht von den Geschlechtsorganen des Andern macht, ist ein Genuß, zu dem sich ein Teil dem Anderen hingibt. In diesem Akt macht sich ein Mensch selbst zur Sache, welches dem Rechte der Menschheit in seiner eigenen Person widerstreitet. Nur unter der einzigen Bedingung ist dieses möglich, daß, indem die eine Person von der Anderen gleich als Sache erworben wird, diese gegenseitig wiederum jene erwerbe; denn so gewinnt sie wiederum sich selbst und stellt ihre Persönlichkeit wieder her.“
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sich die Ehe sowohl durch ein inneres, nur an sich seiendes Verhältnis aus, das Hegel „Lebendigkeit“ nennt, als auch durch ein „Selbstbewußtsein, eine äußere, geistige Einheit“, nämlich „selbstbewußte Liebe“.112 Anders als Fichte und Kant sieht er nicht im Geschlechtsakt den Vollzug der Ehe, sondern im sprachlichen Akt der Eheschließung, der den Übergang vom ‚lebendigen‘ zum ‚geistigen‘, sittlichen Verhältnis markiert. Nach ihm macht die feierliche Erklärung der Einwilligung zum sittlichen Bande der Ehe und die entsprechende Anerkennung und Bestätigung desselben durch die Familie und Gemeinde (daß in dieser Rücksicht die Kirche eintritt, ist eine weitere hier nicht auszuführende Bestimmung) – die förmliche Schließung und Wirklichkeit der Ehe aus, so daß diese Verbindung nur durch das Vorangehen dieser Ceremonie als der Vollbringung des Substantiellen durch das Zeichen, die Sprache, als das geistigste Daseyn des Geistigen, (§. 78) als sittlich constituirt ist.113
In dieser Herausstellung der Sprachlichkeit der Eheschließung verweist Hegel auf das Ästhetische der Ehe und formuliert in gewisser Weise eine Hypothese, die den folgenden Textlektüren zugrunde liegt und nach der eine ‚Eheschließung‘ sprachlich, narrativ, episch oder romanhaft hervorgebracht werden kann. Den Gedanken, dass die Eheschließung Gründungsfiktion eines Gemeinwesens ist, formuliert Hegel dezidierter als seine Vorgänger: Die Ehe, und wesentlich die Monogamie, ist eines der absoluten Principien, worauf die Sittlichkeit eines Gemeinwesens beruht; die Stiftung der Ehe wird daher als eines der Momente der göttlichen oder heroischen Gründung der Staaten aufgeführt.114
Wenn bei Kant und Fichte nur von einer latenten Analogisierung von Ehe- und Gesellschaftsgründung gesprochen werden kann, dann identifiziert Hegel in ihr ein ‚absolutes Princip‘ für die ‚Sittlichkeit eines Gemeinwesens‘. Im Ergebnis wird dabei die Frage nach der Gewaltenteilung, ebenso wie bei Fichte, in einer komplementären Geschlechterordnung neutralisiert, die dem Mann das Außen der Politik und der Frau die ‚Pietät‘ in der Familie zuweist. Die Relationalität des Paares wird zugunsten seines ‚familiären Staatszweckes‘ eliminiert. Darauf, dass bei Rousseau, auf den sich die deutschen Staats- und Ehephilosophen allesamt beziehen, die Paar-Differenz nicht so leicht zu eliminieren ist, wird am Ende des Kapitels zurückzukommen sein.
112Georg
Wilhelm Friedrich Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), hg. Klaus Grotsch und Elisabeth Weißer-Lohmann (= Gesammelte Werke, Bd. 14), Hamburg: Meiner 2009, § 161, S. 145. 113Ebd., § 164, S. 147. 114Ebd., § 167, S. 149.
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2.2 Band der Teilung. Die revolutionäre Ehegesetzgebung Dem revolutionären Königsmord in Frankreich, dessen kollektivtraumatische Folgen sattsam bekannt sind, entspricht auf privatrechtlicher Ebene eine buchstäblich revolutionäre Scheidungsgesetzgebung. In seinem Buch Le Contrat sentimental führt Francis Ronsin aus, dass für die Frage nach dem Verhältnis von Kirche und Staat weniger die Einführung der Zivilehe in Frankreich als vielmehr das Scheidungsrecht als Seismograph zu erachten sei.115 Dem Blick auf die Eheschließung soll daher jener auf die Scheidung vorangestellt werden.
Ehescheidung Die erste revolutionäre Verfassung vom 3. September 1792, in der die Ehe als Zivilvertrag bestimmt wird, lässt das Thema der Scheidung offen.116 Aber die Revolutionsbefürworter verlangen die Scheidungsmöglichkeit unverzüglich als eine logische Folge der Verstaatlichung der Ehe. Das publizistische Protokollorgan der Revolution, der Moniteur universel, notiert am 21. März 1792: „On demande de toute part la loi sur le divorce.“117 Das Gesetz kommt schließlich – am Vortag der Republik! Einstimmig wird es am 20. September 1792, nur wenige Stunden vor der Einberufung des Nationalkonvents, verabschiedet. Wenn Dieter Schwab schreibt, dass es sich bei diesem Scheidungsrecht „beinahe um einen Angriff auf die Institution der Ehe selbst“ gehandelt habe,118 so ist zu ergänzen, dass dieser Angriff auf die Ehe in allererster Linie eben auf die Institution des alten Staates, das Ancien Régime, zielte und paradoxerweise zugleich als Triumph einer individualrechtlichen und Privatautonomie sichernden Institution gefeiert werden konnte. Das Scheidungsrecht vom 20. September 1792 ging weit über die traditionell auch im protestantischen Eherecht als schriftkonform akzeptierten Scheidungsgründe (wie Ehebruch und bösliche Verlassung) hinaus.119 Es sollte nur wenige Jahre gelten und in seiner Liberalität bis zu Valéry Giscard d’Estaings Scheidungsreform im Jahr 1975 unübertroffen bleiben.120 An erster Stelle der Scheidungsgründe firmiert, 115Francis Ronsin, Le Contrat sentimental. Débats sur le mariage, l’amour, le divorce, de l’Ancien Régime à la Restauration, Alençon: Éditions Aubier 1990. 116Die folgende Zusammenfassung stützt sich auf Ronsin, Le Contrat sentimental. Eine Kurzform der Debatte findet sich auch in: Ders., „Indissolubilité du mariage ou divorce“, in: Irène Théry, Christian Biet (Hg.), La famille, la loi, l’état de la Révolution au Code civil, Paris: Éditions du Centre Georges Pompidou 1989, S. 322–334. 117Zit. in: Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 102. 118Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 219. 119Vgl. „Loi Qui détermine les causes, le mode & les effets du Divorce“ (20. September 1792), als Faksimile abgedruckt in Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 110–121. 120Vgl. Suzanne Desan, The Family on Trial in Revolutionary France, Berkeley/Los Angeles: University of California Press 2004.
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in konsequenter Analogie zur Eheschließungsfreiheit, das gegenseitige Einvernehmen („consentement mutuel“). An zweiter Stelle folgt die Möglichkeit beider Gatten, eine Unvereinbarkeit der Gemüter festzustellen („la simple allégation d’incompatibilité d’humeur ou de caractère“, Art. 1, Abschn. III), wodurch die Unverbindlichkeit und prinzipielle Auflösbarkeit in das Band der ehelichen Verbindung eingeführt wird. Erst dieser Scheidungsgrund macht aus dem Ehe-Vertrag konsequent einen individualrechtlichen Vertrag. Auf ‚auf äußere Tatbestände‘ bezogene Scheidungsgründe – „motifs déterminés“ – wird erst an dritter und letzter Stelle eingegangen (Art. 1, Abschn. IV). Genannt werden Geisteskrankheit, Straffälligkeit, Verbrechen, Sittenverstöße, böswillige Verlassung, Abwesenheit und Emigration. Ebenso aufschlussreich wie logisch ist, dass man den Ehebruch, der im Allgemeinen Preußischen Landrecht von 1794 beispielsweise an erster Stelle firmiert, im revolutionären Scheidungsgesetz vergeblich sucht.121 In der individualrechtlichen Logik wird der Ehebruch nun wirklich zu einem unbeweisbaren und unsichtbaren Verbrechen, über das nur das Paar selbst urteilen kann.122 Praktisch war die revolutionäre Scheidung ein (haupt-)städtisches, kleinbürgerliches und überwiegend weibliches Phänomen. Ihre Legalisierung hatte zum einen einen frauenemanzipativen Effekt, zum anderen jenen, dass zunehmend eine Herzensneigung als Voraussetzung für eine Ehe betrachtet wurde.123 Zu einer Metapher für die sich neu und (individual-)vertragsrechtlich gründende Republik wurde die Scheidungsfreiheit in dem Moment, da man eine weitere Implikation hervorhob, die sie von der alten Praxis – Trennung von Tisch und Bett – unterschied: die Möglichkeit der Wiederverheiratung. Und genau dies war der Fall. So preist der Sansculotte Chaumette in einer Rede zwei Paare, die sich aufgrund der neuen Gesetzgebung neu finden und verheiraten konnten, mit den Worten: „Le divorce est le Dieu tutélaire de l’hymen“.124 Damit feiert die Republik sich in der neuen, paradoxen Paarung von Scheidung und
121Die Scheidungseingaben der Zeit zeigen, dass der Ehebruch unter anderen Gründen subsumiert wurde, interessanterweise unter geschlechtlich verschiedenen: Während die Frau den Mann des Verbrechens („crime“) anklagte (um überhaupt Aussicht auf einen Scheidungserfolg zu haben), belastete der Mann die ehebrechische Frau i. d. R. mit Sittenwidrigkeit („dérèglement de mœurs notoire“). Vgl. hierzu Michèle Bordeaux, „Le maître et l’infidèle. Des relations personnelles entre mari et femme de l’ancien droit au Code civil“, in: Théry, Biet (Hg.), La famille, la loi, l’état de la Révolution au Code civil, S. 432–446. 122In Manzonis Gegenüberstellung zweier Rechtsfälle in den Promessi sposi taucht das Problem einer Feststellbarkeit des Rechtsbruches in Gestalt der ‚ehebrecherischen‘ Nonne Gertrude und der Pestsalber wieder auf. Die Letzteren haben sich, wie es in der Colonna Infame ausdrücklich heißt, eines Verbrechens schuldig gemacht, ‚das es nicht gab‘, ‚che non c’era‘. Vgl. unten Abschn. 3.3: Lucia im Prozess der Sakralisierung (insb. „Zwischen Akt und Sprache. Zur Frage der Schuld“). 123Vgl. das Kapitel „The Revolutionary Practice of Divorce“ in Desan, The Family on Trial, S. 93–140. Zur Auswertung der Zahlen von Lyon (mit den gleichen Befunden wie Desan) vgl. Dominique Dessertine, „Le divorce sous la Révolution: audace ou nécessité?“, in: Théry, Biet (Hg.), La famille, la loi, l’état de la Révolution au Code civil, S. 312–321. 124Le Moniteur universel, 23. Oktober 1792; zit. in: Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 128.
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Heirat. Wechselseitiger Konsens und Unvereinbarkeit der Gemüter avancierten zu Scheidungsgründen, aufgrund derer erst die neue Einheit der Nation möglich wurde. Das liberale Scheidungsrecht wirkt wie ein revolutionärer Dammbruch, und die Debatten über die Scheidung sind die Kehrseite jener revolutionären Lobeshymnen, die den bürgerlichen Ehevertrag als Gründungsdokument der neuen Staatsverfassung feiern. Auf dem Theater feiert man das Scheidungsrecht mit Stücken, die paradoxerweise die Darstellung der Scheidung um einer Neuvereinigung willen aussparen.125 Wielands Novelle Freundschaft und Liebe auf der Probe (1805), in der zwei Paare über den temporären Partnerwechsel wieder zueinander (zurück-!)finden, greift genau diese Paradoxie auf. Und Goethes Wahlverwandtschaften-Experiment von 1809 bliebe, bei aller Chemie, ohne den Hintergrund des revolutionären Scheidungsrechtes undenkbar. Erst mit ihm werden die politisch revolutionären Implikationen von Eduards Liebes- und PartnertauschVisionen lesbar. Erst im Scheidungsrecht zeigt sich der bei Goethe poetologisch systematische Zusammenhang zwischen gemeinschaftsstiftendem (Ehe-)Epos und institutionenkritischem Roman. Das revolutionäre Scheidungsgesetz ermöglicht es der französischen Nation, die sich am 26. August 1789 mit der Erklärung der Menschenrechte neu setzt, sich auch als neuen, organischen Körper zu legitimieren. Im 3. Artikel der „Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen“ heißt es: „Le principe de toute souveraineté réside essentiellement dans la nation: nul corps, nul individu ne peut exercer d’autorité qui n’en émane expressément.“126 Das konnte nur funktionieren, da man im gleichen Zuge jenen Klerus zerschlug, der einem anderen, übernationalen, zölibatären Kirchenkörper angehörte; und so schaffte die Assemblée nationale im Februar 1790 die lebenslänglichen Gelübde ab. Die konstituierende Versammlung beschließt im Juli 1790 eine Neuverfassung des Klerus, die Constitution civile du clergé, die den französischen Klerus in eine prorevolutionäre Partei, die den Eid auf die Verfassung leistete (clergé jureur), und in die Revolutionsgegner (le clergé réfractaire) spaltete. Nach der Abschaffung der kirchlichen Orden implizierte die Frage nach der ‚Löslösung‘ vom Weihegelübde jene, ob Priester und Nonnen heiraten dürften.127 Eine der zentralen Figuren des konstitutionellen Klerus ist der jansenistisch geprägte (und die Priesterehe vehement ablehnende) Abbé Henri Grégoire (1750–1831), dessen Vision eine nationale, republikanische Kirche ist und der in engem Kontakt zu jenem Abbé Eustachio Degola steht, unter dessen geistlicher Führung Manzonis Gattin, Enrichetta Blondel, 1810 (im Jahr ihrer kirchlichen Trauung in Paris) vom Calvinismus zum römisch-katholischen
125Vgl. Ronsin, „Indissolubilité du mariage ou divorce“, S. 327. Er nennt die Stücke Le Divorce (1793) von Desfontaines, La Double Réconciliation (1798) von Dupont de l’Ille und L’utilité du divorce (1798) von Augustin Prévost. 126Zit. in: ebd., S. 85. 127Vgl. E. Claire Cage, Unnatural Frenchmen. The Politics of Priestly Celibacy and Marriage, 1720–1815, Charlottesville/London: University of Virginia Press 2015.
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Glauben konvertiert.128 Solange es noch keine Zivilehe gab, die Priester als traditionelle Verwalter der Ehe aber bereits zu Beamten erklärt worden waren, stellten sich Ehehindernisrecht,129 Priesterehe und Scheidung als ein und dasselbe Problem dar. Ähnlich wie Luther gegen das Zölibat den ‚geistlichen Ehestand‘ einsetzt, ohne sich um das Problem von Institutionalisierung und Verzeitlichung zu scheren, schafft die Menschenrechtserklärung ein Rechtsvakuum, das in der Scheidungsfreiheit vom 20. September 1792 gewissermaßen seinen Höhepunkt hat. Einmal mehr wird so deutlich, wie die Ehe als vertragliches und organisches Binde- und Scheideinstrument fungiert.130 Die Scheidungsfreiheit war ein kurzer (Alb-)Traum, der exakt mit der Phase der Terreur zusammenfällt. Nach Ronsin kippt die Stimmung nach dem Sturz Robespierres und dem Sieg der Gegen-Revolution.131 Das Projekt eines einheitlichen Code civil gibt es seit 1793; nach einigen Gesetzen zur verfahrensrechtlichen Erleichterung der Scheidung wird das Scheidungsrecht jedoch Zug um Zug wieder eingeschränkt, bis es 1816 unter dem Einfluss Louis de Bonalds wieder komplett abgeschafft wird. Die maßgebliche Rolle dabei, im Direktorium einen Kompromiss zwischen Royalisten und Republikanern herbeizuführen, fällt dem Redner, Juristen und Staatsmann Jean-Étienne-Marie Portalis zu. Irène Théry und Christian Biet haben mit ihrer Analyse des „Discours préliminaire“, der 1801 als Präliminarium zu Napoleons Code civil vor dem Conseil d’État gehalten wurde, gezeigt, wie Portalis es dank einer glänzenden Ehe-Rhetorik vermochte, die Wogen zu glätten und Napoleons Code civil als Lösung zu präsentieren.132 1803 verabschiedet der Conseil d’État das neue Scheidungsrecht, das ein Jahr später in den Code civil aufgenommen wird.133 Es ist, wie auch das Eheschließungsrecht des Code civil, ein patriarchales Scheidungsrecht, das, wie um das verlorene Machtzentrum des Königs zu ersetzen, den Mann als Eigentümer und Haupt von
128Vgl.
hierzu die Material- und Quellensammlung von Angelo de Gubernatis, Eustachio Degola. Il clero costituzionale e la conversione della famiglia Manzoni. Spogli da un carteggio inedito, Firenze: G. Barbèra 1882. 129Zeitgleich mit der Konstitution der Zivilverfassung (Juli 1790) ereignete sich die Affäre um den Schauspieler Talma, dessen Verheiratung der Priester von Saint-Sulpice verweigerte (vgl. Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 98). 130Vor dem Hintergrund des Ehe-Diskurses wäre auch das Projekt einer ‚organischen‘ Gemeinschaftskonzeption der deutschen Romantik zu relativieren, das sich dann nur bis zu einem gewissen Grad als ajuridisch von dem einer vermeintlich ‚rechtlich‘ instituierten, französischen Nation absetzen lässt. Vgl. hierzu Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg: Rombach 1999. 131Vgl. Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 153. 132Irène Théry, Christian Biet, „Portalis ou l’esprit des siècles. La rhétorique du mariage dans le Discours préliminaire au projet de Code civil“, in: Dies. (Hg.), La famille, la loi, l’état de la Révolution au Code civil, S. 104–121. 133„Loi sur le Divorce“ (30 Ventôse, an XI de la République une et indivisible), als Faksimile abgedruckt in: Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 219–234.
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Haus und Familie inthronisiert.134 Drastisch illustriert es die Rücknahme einer individualrechtlichen Ehe-Konzeption zugunsten einer vom Gatten repräsentierten Eigentums- und Disziplinaranstalt. An erster Stelle der Scheidungsgründe steht nun ein ungleicher Ehebruch: Während der Ehebruch der Frau für den Mann grundsätzlich einen Scheidungsgrund darstellt, gilt dies für die Frau nur dann, wenn der Ehebruch des Mannes im gemeinsamen Heim erfolgt („lorsqu’il aura tenu sa concubine dans la maison commune“, Art. CCXXV).135 Die Scheidung aufgrund der Unvereinbarkeit der Gemüter wird beseitigt; das gegenseitige Einverständnis wird zu einer Ausnahme mit strengen verfahrensrechtlichen Vorgaben; stattdessen wird die Trennung von Tisch und Bett als mögliche Scheidungsform wiedereingeführt. Wenige Jahre später will und kann Bonaparte freilich nicht auf das von ihm geschaffene Zivilrechtsinstitut der Scheidung zurückgreifen. Seine eigene, kinderlos gebliebene Ehe mit Joséphine, die er 1796 zivilrechtlich und 1804 (für die Kaiserkrönung) kirchlich geheiratet hatte, wird im Dezember 1809 kirchengerichtlich, vom Pariser Offizialat, annulliert, d. h. ex post für inexistent erklärt.
Eheschließung Am 20. September 1792 wurde nicht nur das Scheidungsgesetz verabschiedet, sondern auch ein Dekret, das die Einführung von Zivilstandsregistern für Geburt, Ehe, Scheidung und Tod sowie Verfahrensregeln für den Standesbeamten („officier public“) bei der Eheschließung anordnete. Historisch betrachtet handelt es um das Gründungsgesetz der modernen Zivilehe.136 Auch dieses Gesetz reagierte auf ein Rechtsvakuum, nämlich auf den von der konstitutionellen Verfassung (3. September 1791) eingeführten Zivilvertrag der Ehe: La loi ne considère le mariage que comme contrat civil. – Le Pouvoir législatif établira pour tous les habitants, sans distinction, le mode par lequel les naissances, mariages et décès seront constatés; et il désignera les officiers publics qui en recevront et conserveront les actes.137
Die Formulierung der konstitutionellen Verfassung bewegt sich noch in der gallikanisch-regalistischen Tradition einer sich ergänzenden, doppelten 134Vgl. Anne Verjus, Le bon mari. Une histoire politique des hommes et des femmes à l’époque révolutionnaire, Paris: Fayard 2010. Ferner die exemplarische Darstellung anhand der überlieferten Korrespondenz zweier Familien aus Lyon: Dies., Denise Davidson, Le roman conjugal. Chroniques de la vie familiale à l’époque de la Révolution et de l’Empire, Seyssel: Champ Vallon 2011. 135„Loi sur le Divorce“ (1803) zit. nach: Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 219. 136So profiliert bei Hermann Conrad, „Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische Revolution. Ein Beitrag zu neueren Geschichte des Familienrechts“, Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Germanistische Abteilung 67 (1950), 336–372. 137Constitution de 1791, Titel II, Art. 2; zit. nach: http://www.conseil-constitutionnel.fr (21.04.2015).
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esetzgebung von Staat und Kirche, bei der Vertrag und Sakrament als trennG bare Bestandteile der Eheschließung aufgefasst werden. Wenn es hier heißt, dass das Gesetz die Ehe ‚nur als Vertrag betrachtet‘, dann wird mit diesem Wortlaut dem kirchlich-sakramentalen Jurisdiktionsanspruch Rechnung getragen.138 Zwar wurde bereits noch vor der Revolution, unter Ludwig XVI., das Edikt von Versailles (1787) erlassen, ein Gesetz, mit dem aufgrund des öffentlichen Drucks eine relative Notzivilehe für Nicht-Katholiken eingeführt wurde.139 Aber erst das Zivilstandsgesetz vom 20. September 1792 generalisiert die Zivilehe vor dem Standesamt (‚maison commune‘) zu einem allgemeinen Eheschließungsprinzip.140 Das Verhältnis zwischen ziviler und kirchlicher Ehe blieb damit zunächst ungeklärt. Im historischen Rückblick kann man von einer obligatorischen Zivilehe erst ab 1802 sprechen, als Napoleon in den sog. Organischen Artikeln, die das Konkordat mit dem Papst (1801) innenpolitisch ergänzten (bzw. subvertierten), das Verbot der kirchlichen Voraustrauung verankern ließ.141 Im Gegensatz zum liberalen Scheidungsrecht bildete das Eheschließungsrecht in den verschiedenen Gesetzesentwürfen für das neue Zivilgesetzbuch keinen Anlass zu endlosen Debatten. Der 1804 in Kraft tretende Code civil konnte hier weitaus problemloser an das Dekret vom 20. September 1792 anknüpfen. Allerdings zeigen gesetzgeberische Feinheiten, wie sich der Fokus von einem revolutionären, verfassungskonstitutiven Pathos der Ehe zu einer rechtserhaltenden, im Dienst des ordre public stehenden Funktion verschoben hat. Auffällig ist zunächst, dass der Code civil auf eine Ehe-Definition verzichtet.142 1801 lehnte der Conseil d’Etat den Artikel 1 eines auf Jacqueminot zurückgehenden Gesetzesentwurfes ab, in dem es hieß: „La Loi ne considère le mariage que sous ses rapports civils et politiques“.143 Mit dem Argument, dass man keine Selbstverständlichkeiten mehr proklamieren wolle, werden die jahrelangen Diskussionen über das Wesen der Ehe abgebrochen. So beginnt der V. Titel „Du mariage“ im ersten Buch des Code civil nicht mit einer Ehe-Bestimmung (wie etwa das Preußische Landrecht von 1794), sondern in medias res mit einem Kapitel über die „Qualités et conditions requises pour pouvoir contracter mariage“.144 Eine Art 138Ronsin weist darauf hin, dass im ursprünglichen Gesetzesvorschlag zunächst nicht „ne considère“, sondern „ne reconnaît“ gestanden und man also ausdrücklich eine konziliantere Formulierung gewählt habe (Ronsin, Le Contrat sentimental, S. 95). 139Vgl. Conrad, „Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische Revolution“, S. 353. 140Vgl. Adhémar Esmein, Précis élémentaire de l’histoire du droit français de 1789 à 1804. Révolution, Consulat et Empire, Paris: Larose, Tenin 1911, S. 226. 141Vgl. hierzu Waldmann, Das System der Konkordatsehe in Italien, S. 26. 142Vgl. Théry/Biet, „Portalis ou l’esprit des siècles“, S. 105. 143Vgl. Conrad, „Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische Revolution“, S. 358 f. 144Der 1804 verabschiedete Code Napoléon regelt die Ehe in den Artikeln 63–76 („Des actes de mariage“, Buch 1, II. Titel, 3. Kap.), 144–228 („Du mariage“, Buch 1, V. Titel), 229–307 („Du divorce“, Buch 1, VI. Titel) und 1387–1581 („Du contrat de mariage et des droits respectifs des époux“, Buch 3, V. Titel). Vgl. Code civil des Français. Edition originale et seule officielle, Paris:
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Definition der Ehe findet sich dagegen, wie bereits erwähnt, in Portalis’ „Discours préliminaire“, wo von der Ehe als einem „contrat essentiellement indissoluble“ die Rede ist. Dort, im einleitenden Teil zum ganzen Zivilgesetzbuch, macht der Redner und Jurist Portalis, der ab 1804 Napoleons ‚ministre des Cultes‘ war, die Ehe zu einer rhetorischen und literarischen Figur, um die ideologischen Kriege der jüngsten Vergangenheit vergessen zu machen. Mit einem Eheroman à la Rousseau verspricht er einem aufatmenden Frankreich („Aujourd’hui, la France respire.“) den Neuaufbruch zu einer unauflöslichen Gemeinschaft.145 Ein zweiter Punkt betrifft die Formvorschrift zur Eheschließung. Zwar lehnt sie sich grob an ehemals kanonische Vorgaben an. Ein (zweimalig zu erfolgendes) Aufgebot, der Eheschluss, die Beurkundung und Archivierung unterstehen nun einem öffentlichen Beamten (‚l’officier de l’état civil‘), der die Nupturienten in der Gemeinde des Mannes oder der Frau unter Beisein von vier Zeugen traut. Für den Eheschließungsakt ist aber zusätzlich erforderlich, dass der Standesbeamte den Abschnitt „Des droits et des devoirs respectifs des époux“ aus dem Code civil verliest.146 Die dort aufgeführten Artikel 212 bis 226 fassen das patriarchalische Eheverständnis des napoleonischen Zivilgesetzbuches zusammen. Im viel zitierten Artikel 213 heißt es bündig: „Le mari doit protection à sa femme, la femme obéissance à son mari“.147 Das ist nicht nur weit entfernt vom Eheschließungspathos von 1791/1792, sondern auch von den Vorstellungen einer Olympe de Gouges, die ihre berühmte Déclaration des droits de la Femme von 1790 mit einem – nicht weniger als Portalis auf Rousseau zurückgreifenden – Vorschlag zur Ehe-Reform beschlossen hatte. Nach De Gouges’ Forme du Contrat social de l’Homme et de la Femme soll dem (unauflöslichen oder trennbaren) Paar ein gemeinschaftliches Recht zukommen, Kinder-, Eigentums- und Erbverhältnisse zu bestimmen. Damit würde es zur Perfektibilität einer glücklichen Regierung („un gouvernement heureux“) beitragen.148
Imprimerie de la République 1804. Vgl. dagegen das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (ALR), hg. Hans Hattenhauer, Frankfurt a. M./Berlin: Alfred Metzner Verlag 1970, S. 345, dessen Erster Titel des Zweiten Teils „Von der Ehe“ mit den Paragraphen beginnt: „§ 1. Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder. § 2. Auch zur wechselseitigen Unterstützung allein kann eine gültige Ehe geschlossen werden.“ 145Vgl. Théry/Biet, „Portalis ou l’esprit des siècles“, S. 113–115. 146Vgl. Code civil, Erstes Buch, I. Titel, Kap. III, Art. 75. 147Code civil, Erstes Buch, V. Titel, Kap. VI, Art. 213. 148Olympe de Gouges, „Déclaration des droits de la Femme“ (1790), in: Dies., Ecrits politiques 1788–1791, Bd. 1, Paris: côté-femmes éditions 1993, S. 204–215; hier: S. 212.
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Eheschließungspraxis: Fest, Gesetz, Ursprung Aber wie hat man sich eine Eheschließung in den Revolutionsjahren vorzustellen? So weit ich sehe, gibt es hierzu keine systematische Untersuchung, aber es ist in jedem Fall von einer uneinheitlichen, regional verschiedenen und turbulenten Praxis auszugehen. Ritual, Sitte und oktroyierte Gesetzgebung prallen hier aufeinander. Und bevor Napoleon die patriarchale Ehe mit dem Code civil zur rechtlichen Gründungsfigur eines neuen Kaiserreichs stilisieren lässt, kämpfen verschiedene Kräfte um die Verfügungsgewalt über die Eheschließungsform. Die Eheschließung wird Teil jenes Revolutionskultes, der die republikanische Verfassung der Nation durch einen neuen Zeit- und Festkalender institutionalisieren sollte.149 Die Zivilverfassung des Klerus (Juli/August 1790) bringt die Spaltung in kanonische und konstitutionell-kirchliche Eheschließung mit sich. Nach der Einführung der Zivilehe im September 1792 folgt am 22. Januar 1793 ein vom Nationalkonvent erlassenes Dekret, mit dem die Trennung von Vertrag und Sakrament juristisch durchgesetzt werden soll: Den Priestern wird verboten, parallele Kirchenregister zu führen, Aufgebote zu publizieren oder eigenmächtig (ans kanonische Eherecht angelehnte) Ehehindernisse aufzustellen.150 Für einen kurzen Moment scheint eine auf die Nation vereidigte Staatskirche eine kirchlich-sakramentale Eheschließung in der konstitutionellen Monarchie zu übernehmen.151 Aber die Zivilverfassung des Klerus – von Rom bereits im März 1790 verdammt – wird kurz nach dem Sturz Robespierres vom Nationalkonvent als Staatskirche und Rechtsinstitut wieder abgeschafft.152 Nach der Terreur setzen sich die rousseauistischen Anhänger einer offensiven „religion civile“ gegen die Befürworter einer privaten Religionsfreiheit und staatlichen Religionsneutralität durch.153 Die staatlichen Priester-Gehälter werden eingestellt, Kirchen werden für die Religionsausübung geschlossen, klerikale Tracht im öffentlichen Raum verboten. Esmein kommentiert: „C’était presque mettre la religion catholique au régime du culte privé“,154 so dass – sofern es sie noch gab und sie noch kirchliche Handlungen ausübten – romtreue oder auch konstitutionelle Priester ebenso heimliche und rechtlich ungültige Ehen schlossen, wie dies im Ancien Régime bei den hugenottischen mariages au désert der Fall war.
149Vgl.
Mona Ozouf, La fête révolutionnaire. 1789–1799, Paris: Gallimard 1976. Ozouf analysiert hauptsächlich die neu eingeführten nationalpolitischen Feiertage. Auf die Überlagerung von privat-sakraler Kultpraxis (Taufe, Hochzeit, Beerdigung) geht sie im letzten Kapitel ein („La fête révolutionnaire: un transfert de sacralité“, S. 317–340). 150Esmein, Précis élémentaire, S. 226 f. 151Vgl. ebd., S. 169: „La constitution civile du clergé était le contraire de la séparation de l’Église et de l’État. C’était une Église d’État que l’Assemblée constituante avait créée et plus profondément incorporée à l’État que ne l’était l’ancienne.“ 152Ebd., S. 173. 153Vgl. ebd., S. 172 f. 154Ebd., S. 177.
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Die Jahre 1795 bis 1799 unter dem Direktorium sind somit geprägt vom Nebeneinander einer klandestinen bzw. geduldeten Kultpraxis, die ein ideologisch zerrütteter Klerus administriert, und einer öffentlich-rechtlichen Zivileheschließungspraxis, die ideologisch von keiner Mehrheit getragen wird. Die (Ehe-)Gesetzgebung allein reichte nicht aus, um die neue Republik zu institutionalisieren, so ist die Einsicht der Revolutionäre nach der Terreur, und die prorevolutionären Bemühungen verschieben sich vom Rechtlichen zu Bildung und kultureller Praxis. Institutionalisierung ist der Schlüsselbegriff für die letzte Phase der Revolution, in der die (Zivil-)Ehe mehr und mehr in den bereits 1792 eingeführten Revolutionskalender eingefügt wird.155 Für die Revolutionäre sollte die Ehe kein sakramentales Zeichen für etwas Unsichtbares sein, sondern eine Praxis, die die Sichtbarkeit der neuen Gemeinschaft als ursprünglichste und natürlichste garantiert. Die Kundgabe des Ehe-Konsenses vor dem Standesbeamten soll in einem Fest, das Teil eines großen Friedensfestes der Revolution ist,156 verdoppelt werden. Das Paar soll in der Gemeinschaft des neuen, republikanischen Menschen aufgehen. Noch unter Robespierre und im Rahmen des von ihm eingesetzten Kultes des höchsten Wesens wird ein Dekret erlassen, das eine „fête de l’Amour conjugal“ in den Revolutionskalender integriert.157 Dabei handelt es sich zunächst nur um einen abstrakten Feier- und Gedenktag. Aus der Feder von Kommissaren, die mit der Einführung und Kontrolle der neuen sozialen Praktiken befasst waren, stammen die Dekadenberichte, die davon zeugen, wie mühsam es war, die kirchlich-religiösen Feiern von Taufe, Hochzeit und Beerdigung zu unterbinden. So wurde etwa beklagt, dass Hochzeitsfest und Hochzeitsnacht weiterhin erst im Anschluss an die kirchliche Eheschließung und nicht bereits nach dem Gang zum Gemeindebeamten begangen wurden.158 Mit dem Wiedererstarken konterrevolutionärer und kirchlicher Kräfte setzen die Revolutionäre auf die Theophilanthropie und den Ausbau des Dekadenkults.159 Am 3. Brumaire Jahr IV (1796) wird eine ‚Fête des Époux‘ eingeführt, die am 10. Floréal jährlich begangen werden soll. Gleichzeitig erfolgen Verordnungen und Rundschreiben des Innenministeriums an die Departements, wie das Fest zu begehen sei.160 Aufmärsche, Reden, Bürgerehrungen, Hymnen, Referenzen an Rousseau, den Vater der Revolution, und nicht zuletzt die danach anzufertigenden Protokolle sorgen für die Sichtbarkeit einer neuen Nation und einer neuen Ehe. Die Eheschließung soll Nationalfeiertag und zugleich institutioneller Bestandteil des Dekadenkults sein. Um für die Popularität des Nationalfeiertags zu sorgen, verknüpft man ihn 155Vgl.
Ozouf, La fête révolutionnaire, S. 332 ff.; Desan, The Family on Trial, S. 276 ff. hierzu Karlheinz Stierle, „Die Friedensfeier – Sprache und Fest im revolutionären und nachrevolutionären Frankreich und bei Hölderlin“, in: Walter Haug, Rainer Warning (Hg.), Das Fest, München: Fink 1989, S. 481–525. 157Vgl. Art. „Mariage“, in: Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2274. 158Ozouf, La fête révolutionnaire, S. 319. 159Vgl. Albert Mathiez, La théophilanthropie et le culte décadaire 1796–1801. Essai sur l’histoire religieuse de la Révolution, Paris: Félix Alcan 1903. 160Vgl. Verjus, Le bon mari, S. 275–307. 156Vgl.
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mit Trauungen, die an dem Tag stattfinden sollen. Um den Décadi als Ruhe- und Feiertag aufzuwerten, legt das Gesetz vom 13. Fructidor Jahr VI (1798) fest, dass Hochzeiten fürderhin zentral in der Kreishauptstadt an jedem zehnten Tag des republikanischen Kalenders stattzufinden haben.161 Bereits bei seiner Einführung kontrovers diskutiert, gilt das Gesetz allerdings nur bis zum 7. Thermidor Jahr VIII (1800). Nach Napoleons Staatsstreich wird, taktisch klug unter Berufung auf das Dekret vom 20. September 1792, das den Sonntag für die Eheschließung vorsah, nur noch der Aufgebotstermin auf den Décadi und eine Frist von acht Tagen für die Eheschließung bestimmt.162 In ihrer Analyse anlässlich der ‚Fête des Époux‘ verfasster Reden zeigt Anne Verjus, wie hier weniger ein Paar- als ein Familienkonsens gefeiert wird: „La fête des Époux est une fête des parents et, plus largement, la fête de la famille.“163 Nicht das Paarsein, der gegenseitige Konsens oder die Treue steht im Vordergrund, sondern sein Produkt: eine Familie, die über das Biologische hinausgeht, die Kinder nicht nur zeugt, sondern auch adoptiert und die pars pro toto der Republik ist. Von strittigen Punkten des zur gleichen Zeit in den Gesetzgebungskommissionen diskutierten Eherechts ist hier natürlich nicht die Rede. Vielmehr kompensieren die verordneten Feiern in ihrer organischen Metaphorik bestehende politische und rechtliche Differenzen. Das staatlich verordnete Nationalfest inszeniert, wie man mit Slavoj Žižek sagen könnte, einen „Überschuss des Realen“: die Nation als „Instanz, in deren Namen die ‚organischen‘ Bindungen aufgelöst werden müssen, und ‚Restbestand der Prä-Moderne in der Moderne‘“.164 Im Akt der Verheiratung überspielen Staats- und Standesbeamte, die selbst idealerweise ausschließlich Gatten und Väter sind, die Differenz zwischen der großen, öffentlichen und der kleinen, privaten Familie. Symptom hierfür ist die Tendenz der Revolution, die Heirat zu einer Bedingung für das politische Amt zu machen. Verheiratetsein wird zu einer Bürgerpflicht, wie es im Art. 4 der Déclaration des devoirs de l’homme et du citoyen, Präambel zur Verfassung des Jahres III (1795), heißt: „Nul n’est bon citoyen, s’il n’est bon fils, bon père, bon frère, bon ami, bon époux.“165 In den Conseil des Anciens, der zusammen mit dem Conseil des CinqCents das gesetzgebende Parlament (Corps législatif) während des Direktoriums (1795–1799) bildete, konnte tatsächlich nur gewählt werden, wer entweder verheiratet oder verwitwet war. Ein Vorschlag der konstituierenden Kommission sah zunächst gar vor, die Heiratsbedingung für beide Kammern einzuführen.166 161Vgl. Michael Meinzer, Der französische Revolutionskalender (1792–1805). Planung, Durchführung und Scheitern einer politischen Zeitrechnung, München: Oldenbourg 1992, S. 69 f. 162Ebd., S. 158. 163Verjus, Le bon mari, S. 281. 164Slavoj Žižek, „Genieße Deine Nation wie Dich selbst! Der Andere und das Böse – Vom Begehren des ethnischen Dings“, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1994, S. 133–164, hier: S. 154. 165Constitution de la République française, Du 5 Fructidor, an III, Paris: Millet 1795, S. 5 f. 166Esmein, Précis élémentaire, S. 52; vgl. außerdem Desan, The Family on Trial, S. 280 f.; Cage, Unnatural Frenchmen, S. 117.
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Dass die Ehe die Funktion eines Verfassungseides annahm, zeigt sich in aller Deutlichkeit in ihrer Frontalstellung zum Zölibat. Ehe und Zölibat werden zum politischen Antagonismus schlechthin. Revolutionäre erhöhen während und nach der Terreur den Druck auf zölibatäre Priester. Bisweilen heiraten sie, um einer Verfolgung zu entgehen; bisweilen werden ihre Eheschließungen als revolutionäres Fest und veritable Konversion vom Kleriker zum patriotischen père de famille gefeiert.167 Nach dem Wiedererstarken kirchlicher und kirchlich-konstitutioneller Kräfte wendet sich der Druck von den zölibatären zu den verheirateten Priestern. E. Claire Cage hat gezeigt, wie die ca. 6000 Priester, die während der Revolution geheiratet hatten, zwischen allen politischen Fronten standen und wie uneinheitlich ihre Handlungsmotive waren. In der napoleonischen und nachnapoleonischen Ära arbeiten zumindest in diesem Punkt, so Cage, Staat und Papsttum einvernehmlich mit Hilfe einer Amnestie-Politik daran, die Geschichte dieser von der Revolution ‚produzierten‘ Minderheit aus dem kulturellen Gedächtnis zu löschen.168 Der verheiratete Priester im revolutionären und nachrevolutionären Frankreich wird Symptom eines buchstäblichen Fremdkörpers der Nation. In seiner konjugalen Doppelbindung zu Staat und Kirche gerät er zwischen zwei konkurrierende Machtordnungen. Wo die republikanische Ehe-Propaganda Ehelosigkeit zum Synonym für politischen Ehebruch zuspitzt, beharrt der wiedererstarkende, konstitutionelle Klerus unter Grégoire auf dem Zölibat als Bedingung für eine Priesterschaft, die die moralische Säule der Republik darstellen soll.169 Anders als in protestantischen Ländern konnte sich in Frankreich weder der verheiratete Priester noch eine einheitliche Ehegesetzgebung durchsetzen. Während Henri Grégoire 1797 und 1801 zwei Nationalkonzile einberuft,170 arbeitet Bonaparte bereits an der Restauration einer eindeutig hierarchisierten Machtbeziehung zwischen Thron und Altar. Das Konkordat, das er 1801 Papst Pius VII. mit dynastischem Kalkül aufzwingt, beendet die Rechtsunsicherheit in der Eheschließungspraxis. In Art. 54 der einseitig hinzugefügten Organischen Artikel wird das Verbot kirchlicher Voraustrauungen verankert: „Art. LIV. Ils ne donneront la bénédiction nuptiale qu’à ceux qui justifieront, en bonne et due forme, avoir contracté mariage devant l’officier civil.“171 Napoleon löst das
167Vgl.
hierzu Cage, Unnatural Frenchmen, S. 61–91. S. 129. 1691826 legt Henri Grégoire als ehemaliger Bischof von Blois, inzwischen Privatmann und quasi wirklich souveräner, von keiner Offizialität mehr gebundener Bürger, eine Geschichte der Priesterehe vor, die er als Geschichte der Revolution verstanden wissen will: Henri Grégoire, Histoire du mariage des prêtres en France, particulièrement depuis 1789, Paris: Frères Baudoin 1826. 170Unter der Federführung Grégoires finden 1797 und 1801 zwei Nationalkonzile (Concile national) statt, die an einer gallikanischen Kirche mit gewählten Bischöfen und Priestern arbeiten und die beide von Pius VII. verdammt werden. „Le Concile national du 21 novembre 1797 reconnaît le droit exclusif de l’État de régler la forme et les conditions du mariage.“ (Art. „Mariage“, Dictionnaire de théologie catholique, Sp. 2277). 171„Les articles organiques“ (Loi du 18 germinal an X [8 avril 1802]); Originaltext zit. nach der Online-Fassung der Revue de droit canonique: http://www.droitcanon.com (22.04.2015). 168Ebd.,
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Problem der konjugalen Doppelbindung gewissermaßen in seiner temporalen Priorisierung. Einerseits legitimiert der französische Staat bestehende Priesterehen, andererseits schließen die Organischen Artikel eine Vereinbarung der Ehe mit der Ausübung kirchlicher Funktionen aus.172 Zugunsten einer hierarchischen Ehe- und Staatsverfassung, so könnte man sagen, wird die konjugale Relationalität in eine Beziehung zwischen Staat und Kirche transformiert. Die Beziehungsfrage wird von Bonaparte aus dem Staat ausgelagert und territorial entschieden. Der (Ehe-)Staatsphilosoph Louis de Bonald vollendet die Rechtsfiktion einer doppelten – natürlichen und göttlichen – Gesetzgebung theoretisch mit seiner Schrift Du divorce aus dem Jahr 1801, wo er – mit einem Motto aus Rousseaus Contrat social und in aller Deutlichkeit – den unauflöslichen konjugalen Herrschaftskonsens zum Fundament einer „société politique“ macht.173 Praktisch setzt er sie schließlich 1816 mit seinem Gesetzesvorschlag zur Abschaffung der Scheidung um. Nach De Bonald sind Scheidung, Bi- und Polygamie Synonyme, die eine „déconstitution de la famille“174 bewirken und nur Vorspiel für die ‚Dekonstitution‘ des Staates sein können. Die Zeit der Französischen Revolution hat, so wurde festgestellt, keine großen literarischen Kunstwerke hervorgebracht, weil sie im revolutionären Fest ihren ästhetischen und symbolischen Ausdruck suchte.175 Weitaus wirkmächtiger aber war das aus ihr hervorgehende bürgerliche Gesetzbuch, der Code civil, mit seiner nicht zuletzt rhetorisch bindenden Kraft, die Napoleon selbst bekanntlich einmal über die Leistung seiner Schlachten gestellt haben soll. Der Eheroman des revolutionären und nachrevolutionären Frankreich ist eine Rechtsfiktion, die zwei Seiten hat: das Moment revolutionärer Eheschließungsfreiheit, gleichsam die Erfindung des autonomen Paares, und das Moment einer nachrevolutionären, patriarchalen Verfasstheit der Ehe, gegen die der Gatte – wie im Ancien Régime – außerhalb seines Hauses gar nicht verstoßen konnte. Es ist bezeichnend, dass Balzac sich im Vorwort zu seiner Comédie humaine ausdrücklich auf De Bonald bezieht und den Schriftsteller mit einem souveränen Gesetzgeber vergleicht. Der Schriftsteller ist ein „instituteur des hommes“, der nicht das Individuum, sondern seine Bindungen und Beziehungen zum Sozialen im Blick hat.176 Die Serie von Einzelfällen in Balzacs Romanen ergibt dann aber weniger ein Gründungs- oder
172Cage,
Unnatural Frenchmen, S. 136. de Bonald, Du divorce, considéré au XIXe siècle, relativement à l’état domestique et à l’état public de société (1801), Paris: Adrien Le Clere 31818. Das Motto auf dem Frontispiz lautet: „Si le législateur, se trompant dans son objet, établit un principe différent de celui qui naît de la nature des choses, l’État ne cessera d’être agité, jusqu’à ce qu’il soit détruit ou changé, et que l’invincible nature aie repris son empire.“ (Contrat social) 174Ebd., S. 260. 175Stierle, „Die Friedensfeier“, S. 486. 176Honoré de Balzac, „Avant-propos“, in: Ders., La Comédie humaine, hg. Pierre-Georges Castex, Bd. 1, Paris: Gallimard (Pléiade) 1976, S. 7–20; hier: S. 12. 173Louis
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Eheschließungsnarrativ als eher jene ‚Dekonstitution‘ des Staates, die nach De Bonald in jeder Scheidung lauert.177
2.3 Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschaftsund Ehevertrag Im Doppel von Eheschließungsfreiheit und patriarchaler Ehe-Institution verweist die französische Ehegesetzgebung auf Rousseaus Eheroman, und zwar nicht nur auf den Roman Julie ou La Nouvelle Héloïse, sondern auch auf die politische Vertragsfiktion des Contrat social. Rückblickend wird der Nouvelle Héloïse in der Regel eine dialektische Begründungsfunktion zugeschrieben: Einerseits verbreite sich mit dem unglaublich erfolgreichen Roman das Ideal einer bürgerlich-empfindsamen und patriarchalischen Ehe, andererseits schürt der Text das Begehren nach dem, auf dessen Ausschluss dieses Ideal beruht: nach der Leidenschaft des amour-passion. Mir geht es im Folgenden nun darum zu zeigen, dass die sog. empfindsam-patriarchale These zu Rousseaus Roman eine Interpretationslinie ist, die erst nach den eherechtlichen Konsequenzen von Revolution und Restauration an Boden gewinnen konnte. In einer Parallellektüre des Contrat social mit der Nouvelle Héloïse möchte ich dagegen die These vertreten, dass Rousseaus Roman auf der Ebene der Ehe die gleiche Aporie wiederholt, die auch den Contrat social durchzieht. Beide Texte fragen danach, wie einem Gesetz, dem sich zwei (oder ‚alle‘) freiwillig unterwerfen, Dauer verliehen werden kann. Ich schließe mich dabei insofern einer dekonstruktiven Textlektüre an, als ich nicht davon ausgehe, dass sich der politische Text des Contrat social von Rousseaus Roman kategorisch trennen lässt. Beides sind Fiktionen, konstatiert schon Paul de Man.178 Nichtsdestoweniger unterscheidet er die beiden Texte in ihrer Äußerungsstruktur: Während er in der Nouvelle Héloïse die Figur der Unlesbarkeit als „the allegory of a figure“ in der Protagonistin Julie ausmacht, sieht er im Contrat social eine ‚bloßere‘ Allegorie (quasi ohne ‚Figur‘) am Werk: die Figur des Versprechens, in deren Zentrum die Begründbarkeit von Sprache durch Sprache steht. Der wesentliche Sprechakt des Contrat social bestehe im Versprechen „to perform the very illocutionary speech act, which it has discredited“.179 Daran möchte ich gerne anschließen und zeigen, dass auch Rousseaus Roman ein performativer Sprechakt durchzieht, und zwar keiner, der auf ein (männliches) ‚self-positing‘, sondern einer, der auf eine ebenso problematische wie unausweichliche Ontologisierung des Paares zielt. In Julie
177Zum Recht bei Balzac vgl. Françoise Gaillard, „Le pas de deux que Balzac fait exécuter au droit positif et à la loi morale, ou Le droit au secours de la morale ou la morale au secours du droit“, L’Année balzacienne 15 (2014), 205–221. 178Paul de Man, Allegories of Reading. Figural Language in Rousseau, Nietzsche, Rilke, and Proust, New Haven/London: Yale University Press 1979. 179Ebd., S. 275.
2.3 Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschafts- und Ehevertrag
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und Wolmar spiegeln sich die Instanzen von Gemeinwille und Gesetzgeber, die, wie Julies tödliches Ende zeigt, nur in einer hybriden Figur zusammengedacht werden können. Rousseau macht die Ehe-Frage zur Gretchen-Frage des Gemeinwesens. Das Ehepaar de Wolmar codiert dann nicht primär eine hierarchische Geschlechterordnung, sondern eine offene Machtrelation (zwischen Politik und Religion). Ohne ein neues Recht der Ehe behaupten zu können oder zu wollen, wird das Paar im Mittel der literarischen Fiktion zu einem sakralisierten Säkularisat; und genau darin wird Rousseaus Roman zu einem unumgänglichen Bezugspunkt für alle, die nach ihm über die Ehe schreiben. Die kirchliche Ehe ist eine Institution, über die nach Rousseau schlicht die falsche Macht verfügt. Seine Theoretisierung der Ehe ist allerdings weniger eine Angelegenheit expliziter politischer Theorie als pädagogisches und ästhetisches Projekt, das er in Schriften wie dem Emile, der Nouvelle Héloïse oder auch der sogenannten Idylle Le Lévite d’Éphraïm verfolgt.180 Ausdrücklich gerät auch das rechtliche Verhältnis der Ehegatten weder in der Nouvelle Héloïse noch im Emile in den Blick.181 So ist vom paradoxen Projekt einer Liebesgemeinschaft auszugehen, an das Autoren wie Manzoni, Goethe und auch Hugo nach- und immer noch revolutionär modifizierend anknüpfen. Dabei bringt das Ehe-Vokabular eine rechtliche Verbindlichkeit in die eigentümlich fiktive Landschaft des Romans. Sowohl der Form des Briefromans als auch seinen traktatförmigen Briefen über den oikos von Clarens vergleichbar, produziert es einen Realitätseffekt, der die Frage nach der ästhetischen, sozialen und politischen Normativität der RomanEhe aufwirft. Ich konzentriere mich in der Romanlektüre aus Platzgründen auf dieses Thema der Eheschließung, obwohl gerade Rousseaus komplexe Regie und multiperspektivische Öffnung des Briefromans prinzipiell auch als Experiment politisch-gesellschaftlicher Repräsentation in den Blick zu nehmen wäre.182 Rousseau hat weder eine Abhandlung über die Ehe geschrieben, noch ausdrücklich behauptet, dass diese eine notwendige Voraussetzung der Gesellschaft darstelle. Selbst die in eine solche Richtung weisende Aussage in der Lettre à
180Zur
Ehe bei Rousseau vgl. Judith Frömmer, „Versuchsanordnungen einer ‚petite Société‘. Zur Institution der Ehe bei Rousseau“, in: Konstanze Baron, Harald Bluhm (Hg.), Jean-Jacques Rousseau. Im Bann der Institutionen, Berlin/Boston: De Gruyter 2016, S. 203–223. Sie arbeitet eine Dialektik von Instituierung und Destituierung der Ehe heraus. Zum Lévite d’Éphraïm vgl. Bernhard Teuber, „Ursprung und Gewalt bei Rousseau“, in: Simon Bunke, Katerina Mihaylova, Antonio Roselli (Hg.), Rousseaus Welten, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 231– 263. 181Vgl. Friederike Kuster, Rousseau. Die Konstitution des Privaten. Zur Genese der bürgerlichen Familie, Berlin: Akademie-Verlag 2005, S. 134. 182Vgl. hierzu Wolfgang Matzat, Diskursgeschichte der Leidenschaft. Zur Affektmodellierung im französischen Roman von Rousseau bis Balzac, Tübingen: Narr 1990, insb. S. 51–60, dem ich mich mit der diskursgeschichtlichen Verortung von Rousseaus Roman vor der ‚bürgerlichen‘ Schwelle anschließe. Während Matzat jedoch die negative, moralistische Affektauffassung als Haupthindernis für eine Liebesbindung skizziert, geht es mir vor allem um die Politisierung und Funktionalisierung des Paares für die Gemeinschaft.
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d’Alembert (1758) wird im Modus des Spekulativen vorgetragen: „L’homme et la femme ont été formés l’un pour l’autre. Dieu veut qu’ils suivent leur destination, et certainement [Herv. D. S.] le premier et le plus saint de tous les liens de la Société est le mariage.“183 Und der savoyardische Vikar im Emile konstatiert Alter und Heiligkeit der Ehe nur, um selbst daraus ein Recht des Verzichts zugunsten einer größeren Natürlichkeit ableiten zu können: „Dès ma jeunesse j’ai respecté le mariage comme la premiére et la plus sainte institution de la nature. M’étant ôté le droit de m’y soumettre, je résolus de ne le point profaner“.184 Theoretisch bleibt die Ehe eine Fußnotenangelegenheit, sozusagen eine Fußnote zum aufgeklärten Gemeinwesen, in der aber, zumindest was die Nouvelle Héloïse betrifft, entscheidende Hinweise stecken.185 Das zeigt sich vor allem am 1762 erschienenen Contrat social, der, ohne von Ehe zu sprechen, mit einem Rückblick auf die ersten natürlichen Familien einsetzt, um ganz am Ende mit einer Fußnote über die Ehe zu enden.186 Die Bürgerreligion, wie Rousseau sie im letzten Kapitel umreißt, muss notwendig intolerant gegenüber jeder anderen Religion sein, die ‚bürgerliche Wirkungen‘ („effets civils“) hat. Die Fußnote in diesem Kontext – die allerletzte des Traktats – verweist dann auf das Beispiel der Ehegesetzgebung, auf die kein Staat verzichten könne: „Le mariage, par exemple, étant un contrat civil, a des effets civils sans lesquels il est même impossible que la société subsiste.“ (CS, IV, 8, 469) Jeder Klerus, der über ein Eheschließungsrecht verfügt, hat die Bürger schon auf seiner Seite, denn, so fragt der Autor rhetorisch: Maître de marier ou de ne pas marier les gens selon qu’ils auront ou n’auront pas telle ou telle doctrine, selon qu’ils admettront ou rejetteront tel ou tel formulaire, selon qu’ils lui seront plus ou moins dévoués, en se conduisant prudemment et tenant ferme, n’est il pas clair qu’il disposera seul des héritages, des charges, des Citoyens, de l’Etat même, qui ne sauroit subsister n’étant plus composé que des bâtards? (CS, IV, 8, 469)
183Rousseau, „Lettre à d’Alembert“, Bd. 5, S. 1–125; hier: S. 116. Rousseau wird nach der Pléiade-Ausgabe zitiert: Œuvres complètes, hg. Bernard Gagnebin, Marcel Raymond, 5 Bde., Paris: Gallimard 1959 ff.; Julie ou La Nouvelle Héloïse. Lettres de deux amans, habitans d’une petite ville au pied des Alpes (Bd. 2, S. 1–793) mit der Sigle NH und Buch-, Brief- und Seitenangabe, Du contrat social, ou principes du droit politiques (Bd. 3, S. 347–470) mit der Sigle CS und Buch-, Kapitel- und Seitenangabe im fortlaufenden Text. 184Rousseau, Emile ou De l’éducation, in: Œuvres complètes, hg. Gagnebin/Raymond, Bd. 4, S. 239–924; hier: S. 566. 185Ehekrise und Aufklärung markieren ein Verhältnis, in dem es sich lohnt, Fußnote und Haupttext aufeinander zu beziehen. Der große Satz „Was ist Aufklärung?“, erinnert Michael Taylor, geht zurück auf eine Fußnote in Johann Friedrich Zöllners 1783 in der Berlinischen Monatsschrift erschienenen Text „Ist es rathsam, das Ehebündnis nicht ferner durch die Religion zu sancieren?“. (Taylor, „‚Was heißt Aufklärung?‘ Eine Fußnote zur Ehekrise“, S. 51.) 186Hermann Conrad ist die Fußnote nicht entgangen. Indem Rousseau fordere, „die Ehe als einen bürgerlichen Vertrag allein der staatlichen Gewalt zu unterstellen“, tue er gleichsam den letzten Schritt zur Säkularisierung der Ehe. (Conrad, „Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische Revolution“, S. 351.)
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Wer das Eheschließungsrecht innehat, entscheidet darüber, wer Bürger oder Bastard des Gemeinwesens ist. Rousseau kritisiert mit dieser Frage offen die Politik des französischen Königs, der das kanonische Eheschließungsrecht prinzipiell anerkennt. Jeder Staat, der anfängt, mit dem Klerus Eherechte zu verhandeln, hat schon verloren, selbst wenn es ihm gelingt, Teil- oder Ausnahmerechte für sich zu erwirken: „Ce n’est pas, ce me semble, un grand sacrifice d’abandonner une partie quand on est sûr de s’emparer du tout.“ (CS, IV, 8, 469) Mag die Ehe für die Konstitution des Staates unerheblich sein, so hängt sein Überdauern an ihr: Das Eheschließungsrecht ist notwendig für den Erhalt des Staates. Schlechte Ehegesetze, führt Rousseau im fünften Buch des Emile aus, sind ein Symptom für den Verfall des Staates.187 Mit der Fußnote am Ende des Contrat social kommt Rousseau im Prinzip an dessen Anfang zurück, wo die vorrechtlichen, quasi natürlichen Familienzusammenschlüsse an der Schwelle zur Sesshaftwerdung des Menschen als Urform politischer Gemeinschaften angeführt werden: „La famille est donc si l’on veut le premier modéle des sociétés publiques“ (CS I, 2, 352). Bezeichnenderweise ist hier aber nicht von Ehe, von ‚amour conjugal‘, sondern von der Familie und ‚amour paternel‘ die Rede. Die patriarchale Familie dient Rousseau – gegen Naturrechtler wie Hobbes und Grotius – als Beleg für eine freiwillige Abhängigkeit, in die sich Frauen und Kinder zum Nutzen des Überlebens begeben hätten. Der Vater sorgt für Frau und Kinder, diese entgelten ihm seine Fürsorge mit einer anhänglichen Liebe. Zusammengehalten wird dieser Reproduktionsverbund durch die Kinder, deren Eintritt ins Erwachsenenalter ihn folglich beendet. Was das für das Verhältnis von Mann und Frau bedeutet, bleibt (zumindest hier) unerörtert, in den anschließenden Kapiteln des Contrat social spielen weder Frauen noch der ‚contrat civil‘ der Ehe eine Rolle. Der ‚pacte social‘ setzt eine Gemeinschaft von Männern voraus, er macht aus Männern, nicht aus Frauen Bürger. Das hat dazu geführt, dass man – vor allem mit dem Rousseau des Emile – von einer komplementären Geschlechterauffassung gesprochen hat, die Frauen aus der von Rousseau projektierten Republik faktisch ausschließt. Tatsächlich ist allerdings viel eher von einem dekonstruktiv-differentiellen und letztlich nicht sistierbaren Geschlechterverhältnis auszugehen.188 Rousseau geht von der Familie, nicht von der Ehe aus, wobei er einerseits ein Naturrecht des Vaters voraussetzt und andererseits mit dem Problem zu kämpfen hat, dass der Familienbund nur von begrenzter Dauer ist. Von einer aufgeklärten, naturrechtlichen Eheauffassung weicht er insofern ab, als er die Unauflösbarkeit des Ehebands nicht zur Disposition stellt. Die Ehe ist kein Vertrag, über deren inhaltliche Bestandteile die Nupturienten frei
187Vgl.
Rousseau, Emile, in: Œuvres complètes, hg. Gagnebin/Raymond, Bd. 4, S. 851: „Quand Auguste porta des loix contre le célibat, ces lois montroient déja le déclin de l’empire Romain. Il faut que la bonté du gouvernement porte les citoyens à se marier et non pas que la loi les y contraigne“. 188Vgl. hierzu Barbara Vinken, „Alle Menschen werden Brüder. Republik, Rhetorik, Differenz der Geschlechter“, Lendemains 71/72 (1993), 112–124.
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v erfügen können; sie wird lediglich durch einen Vertrag begründet und stellt dann ein ‚zivilreligiöses‘ und unauflösbares Band dar. In diesem Punkt weicht seine Auffassung auch eklatant von der revolutionären Ehegesetzgebung ab, nach der die Ehe wesensmäßig ein Vertrag ist und konsequenterweise ebenso frei gegründet wie frei aufgelöst werden kann. Nun liegt es angesichts der parallelen Entstehung von Contrat social, Nouvelle Héloïse und Emile nahe zu vermuten, dass das Problem von Gründung und Erhaltung, das sich eherechtlich im Begriffspaar von Vertrag und (‚sakramentaler‘) Verbindlichkeit spiegelt, die Texte eint.189 Was im Contrat social als philosophisches, theoretisches Vermittlungsproblem zwischen Gemeinwille und Gesetzgeber erscheint, zeigt sich in Rousseaus Roman als geschlechtertheoretisches Problem.
Julie als personifizierter Gemeinwille La Nouvelle Héloïse ist ein zweigeteilter Roman. Die Eheschließung am Ende des dritten der sechs Bücher markiert die Mitte – und man fragt sich gleich auch: die Wende? den Höhepunkt? – des Romans. Was für ein Recht entwirft die Romanfiktion? Und wodurch unterscheidet es sich von dem in Rousseaus Vertragsfiktion Du contrat social, die gemäß Untertitel von den „principes du droit politique“ handelt? Der Hauslehrer Saint-Preux und seine Schülerin Julie verlieben sich ineinander. Eine Ehe scheidet aus Gründen des Standesunterschieds aus, zudem hat der Baron d’Etange seine Tochter bereits dem alten Freund M. de Wolmar versprochen. Julie versucht, selbst Fakten zu schaffen und gegen das väterliche Gesetz eine Ehe mit Saint-Preux durchzusetzen, indem sie mit dem Geliebten ein Kind zeugt. Damit, dass der Vater, nachdem er von der Liebesbeziehung erfahren hat, so sehr auf sie einschlägt, dass sie das Kind verliert, rechnet sie nicht. Mehr und mehr bereut sie den Fehler, das ‚Verbrechen‘ ihrem Vater gegenüber und willigt, da der Tod ihrer Mutter die Schuldgefühle noch größer macht, in die Heirat mit Wolmar ein. So entsteht der Haus- und Ehestand von Clarens, der vor allem von Saint-Preux als vorbildliches, wirtschaftlich autarkes, ‚ganzes‘ Haus beschrieben wird. Beendet wird er durch einen Unfall: Die Rettung ihres ins Wasser gefallenen Sohnes hat tödliche Folgen für Julie. Ihr Abschiedsbrief, in dem sie ihre fortdauernde Liebe zu Saint-Preux bekennt, stellt sämtliche Grundlagen ihrer Ehe mit Wolmar in Frage. Der Roman endet insofern offen, als es dem Leser anheimgestellt wird, in diesem Ehe-Experiment eine gelungene oder gescheiterte Begründung des Gemeinwesens zu sehen. Diese Offenheit verbindet den Roman
189Vgl. Rousseaus eigenen Hinweis auf den Problem- und Entstehungszusammenhang im neunten Buch der Confessions, in: Rousseau, Œuvres complètes, hg. Gagnebin/Raymond, Bd. 1, S. 1–656; hier: S. 409. Auch Francine Markovits, „Rousseau et l’éthique de Clarens: une économie des relations humaines“, Stanford French Review 15 (1991), 323–348, nimmt diesen Zusammenhang zum Ausgangpunkt ihrer Überlegungen.
2.3 Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschafts- und Ehevertrag
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mit dem Contrat social, dessen Rezeption gleichfalls im Spannungsfeld von demokratischer Verdienstlichkeit und totalitärem Vordenkertum steht.190 Der Widerspruch verdichtet sich in der Frage, wie Rousseaus Konstruktion des Gemeinwillens mit der Figur des Gesetzgebers zusammenzudenken ist.191 Wie kann ein Einziger Gesetzgeber eines Gemeinwesens sein, das auf der Freiheit und Gleichheit aller beruht? Walter Mesch argumentiert, dass das fundamentale Vermittlungsproblem nur zu lösen sei, wenn man Rousseaus Gemeinwillen als dynamische Entität auffasst, deren Bewertung ganz davon abhängt, ob man ihre Voraussetzungen oder aber ihr Ergebnis in den Blick nimmt.192 Anders als Kant, der moralphilosophisch eine universelle, voraussetzungslose Handlungsmaxime formulieren kann, hänge Rousseaus politisches Selbstverpflichtungsmodell entscheidend von einer Ausgangslage ab, die durch gleiche Interessen, ökonomische und soziale Gleichheit gekennzeichnet sein muss.193 Antiliberal und kritikwürdig erscheint der Gemeinwillen von seinem identifikatorischen und kollektivistischen Ergebnis her, während es Rousseau in der Konstitution eines faktischen Gemeinwillens doch vor allem um die Beschränkung – durch einen Gesetzgeber – gegangen sei.194 Der ursprüngliche Gründungsakt der völligen Entäußerung aller unter alle – „l’aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté“ (CS, I, 6, 360) – ist demzufolge begrifflich, nicht aber zeitlich ursprünglich aufzufassen. Er formuliert einen formalen, rein begrifflichen Akt des Zusammenschlusses, unabhängig von einem materialen Ziel; und erst im Zusammenspiel mit dem Gesetzgeber wird aus diesem abstrakten Zusammenschluss ein faktischer Gemeinwille. Die formale Unterwerfung aller unter alle funktioniert nach dem Prinzip, nach dem das Ganze – der Gemeinwillen – mehr als die Summe der Partikularwillen ist. Der Einzelne gibt seine Person und erhält einen Körper: „Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout.“ (CS, I, 6, 361) Aber
190Stellvertretend
hier nur der Hinweis auf Reinhart Koselleck, der bei Rousseau die Virulenz der ‚Krise‘ – Souveränität als „permanente Revolution“ und „permanente Diktatur“ – systematisch in Anschlag bringt (Reinhart Koselleck, Kritik und Krise, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1973 (1959), S. 132–144). 191Vgl. hierzu Walter Mesch, „Vorne Kant und hinten Platon? Gemeinwille und Gesetzgeber in Rousseaus Du contrat social“, Zeitschrift für philosophische Forschung 53 (1999), 355–382. Außerdem die staats- und verfassungsrechtliche Profilierung des Contrat social bei Hasso Hofmann, „Rousseaus Gesetzgeber oder: Rousseau in der europäischen Verfassungsgeschichte“, in: Jakob Nolte, Ralf Poscher, Henner Wolter (Hg.), Die Verfassung als Aufgabe von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit. Freundesgabe für Bernhard Schlink zum 70. Geburtstag, Heidelberg u. a.: C.F. Müller 2014, S. 99–109. 192Mesch, „Vorne Kant und hinten Platon“, S. 364 f. 193Eine verzerrte, ungerechte Variante des Gesellschaftsvertrages stellt demzufolge der im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755) beschriebene Unterwerfungsvertrag dar, mit dem die Reichen ihre despotische Herrschaft begründen. 194Vgl. Mesch, „Vorne Kant und hinten Platon“, S. 365.
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erst im Zusammenspiel mit dem Gesetzgeber wird aus dem im abstrakten Akt des Zusammenschlusses entstandenen, ‚moralischen und kollektiven Körper‘ (‚corps moral et collectif‘) ein politischer Körper (‚corps politique‘). Damit überträgt Rousseau das zentrale Thema der Relation von Wille und Vernunft vom Individuum auf den politischen Körper. Nach Helmut Pfeiffer braucht der ‚corps moral et collectif‘ zwingend den Gesetzgeber als „supplementäre Instanz“, die die Asymmetrie von Wille und Vernunft, Intention und Urteil korrigiert.195 Anders als Jean Bodins Souverän, der außerhalb der Gesetze steht und daraus seine Herrschaftslegitimation ableitet, hat Rousseaus Gesetzgeber die paradoxe Rolle eines outsider within. Er verleiht einem Gemeinwesen Gesetzeskraft, das unabhängig von ihm existiert. Rousseau beschreibt sein Amt mit dem berühmten Wortspiel: „Cet emploi, qui constitue la république, n’entre point dans sa constitution.“ (CS, II, 7, 382) Der Gesetzgeber herrscht nicht, sondern verwaltet ein unveräußerliches Recht des Volkes: „Celui qui rédige les lois n’a donc ou ne doit avoir aucun droit législatif, et le peuple même ne peut, quand il voudroit, se dépouiller de ce droit incommunicable“. (CS, II, 7, 383) Er ist für die Bildung, die Kontrolle und die Erhaltung jener Gesetze zuständig, deren Inhalt das Volk theoretisch kennt, faktisch aber meist verkennt. Mit Walter Benjamins Unterscheidung aus der Kritik der Gewalt kann man sagen, dass der Rousseau’sche Gesetzgeber keine Recht setzende, sondern eine nur Recht erhaltende Gewalt innehat, die sich aber gleichwohl nie von der Recht setzenden Instanz ablöst. In immer neuen Anläufen wird seine Aufgabe in paradoxen Wendungen beschrieben: Er formuliert Gesetze, die schon vor ihm bestanden haben; er überredet, ohne zu überzeugen; er erzieht das Volk zu Menschen, die sie schon waren, bevor er seine Erziehung angefangen hat. Er verwandelt die Menschen mit einem Recht, das er nicht hat: Celui qui ose entreprendre d’instituer un peuple doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine; de transformer chaque individu, qui par lui-même est un tout parfait et solitaire, en partie d’un plus grand tout dont cet individu reçoive en quelque sorte sa vie et son être; d’altérer la constitution de l’homme pour la renforcer; de substituer une existence partielle et morale à l’existence physique et indépendante que nous avons tous reçue de la nature. (CS, II, 7, 381)
Dieser Gesetzgeber, der irrende Partikularwillen und Öffentlichkeiten zum faktisch guten, auf Gleichheit und Freiheit begründeten Gemeinwillen (zurück-) verwandeln soll, setzt neben Wissen, Redekunst und Pädagogik divinatorische Fähigkeiten voraus: „La grande âme du Législateur est le vrai miracle qui doit prouver sa mission.“ (CS, II, 6, 384) In Übereinstimmung mit dem Volkssouverän schreibt der Gesetzgeber also auch jene Glaubensartikel, jene ‚profession de foi‘ auf, in die Rousseaus Traktat mündet – so wie Wolmar am Ende des Romans Julies ‚profession de foi‘ (allerdings ohne jegliche Verwandlungskunst!) in
195Helmut Pfeiffer, „Radikale Politik. Rousseau und die Aporien der Aufklärung“, in: Richard Faber, Brunhilde Wehinger (Hg.), Aufklärung in Geschichte und Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2010, S. 137–156; hier: S. 153 f.
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seinem Brief an Saint-Preux aufschreibt. Staatsgründung setzt, für die Garantie der Geradlinigkeit des Gemeinwillens, eine (natürliche) Religion in der Form von „sentimens de sociabilité“ (CS, IV, 8, 468) voraus.196 In der Forschung wurde schon verschiedentlich darauf hingewiesen, dass Rousseaus Wolmar Züge des Gesetzgebers aus dem Contrat social aufweist,197 und auch Julies Eheschließung wurde bereits mit dem Konzept des Gemeinwillens in Verbindung gebracht.198 Mir kommt es nun im Folgenden darauf an zu zeigen, wie die Romanfiktion im Paar Wolmar und Julie die kategoriale Differenz von Gesetzgeber und Gemeinwillen so modifiziert, dass der an sich schon chimärischen Vertragsfiktion des Contrat social eine sozusagen romanhaft gesteigerte Ehefiktion an die Seite gestellt wird. Die Voraussetzungen für Julies Eheschließung sind denkbar schlecht: Julie liebt Saint-Preux und nicht Wolmar. Bis zum Ende des ersten der sechs Bücher versucht sie, ihre Liebesordnung gegen die väterliche Gewaltordnung durchzusetzen, was ihr mit der Eheschließung im dritten Buch auch gelingen wird, wenn auch nicht in der Art und Weise, wie sie es geplant hatte. Die Liebe, die sie in ihren Briefen an Saint-Preux bezeugt, ist von Anfang an begleitet von Schuldgefühlen. Ihre Liebe ist amour-passion; ihr Liebesgeständnis ist, wie dasjenige der Phèdre Racines, ein „aveu fatal“, der die Familie zu zerstören droht (vgl. NH, I, IV). Mit ihrer Strategie, Fakten durch ein Kind zu schaffen, setzt sie ihr Leben ein, wie sie Saint-Preux in ihrem großen, zwei Monate nach der Eheschließung geschriebenen Rekapitulationsbrief erklärt: „Je savois que mon pere me donneroit la mort ou mon amant“ (NH, III, XVIII, 445). Sie setzt also zunächst auf das väterliche Recht über Leben und Tod statt auf Konsens, auf die Gnade des Vaters statt auf dessen Einwilligung. Ein uneheliches Kind ist schlimmer als eine Mésalliance und die Wahrscheinlichkeit, ihr Ziel so zu erreichen, ist nicht gering. Aber der Text lässt es nicht zu dieser Entscheidungssituation kommen; noch bevor die Schwangerschaft sichtbar wird und
196Im Kapitel „De la loi“ heißt es: „La volonté générale est toujours droite, mais le jugement qui la guide n’est pas toujours éclairé.“ (CS, II, 6, 380) – Zur Um- und Ausweglosigkeit von Rousseaus natürlicher Religion vgl. auch Helmut Pfeiffer, „Der Skandal der natürlichen Religion“, in: Andreas Gelz, Dietmar Hüser, Sabine Ruß-Sattar (Hg.), Skandale zwischen Moderne und Postmoderne. Interdisziplinäre Perspektiven auf Formen gesellschaftlicher Transgression, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 21–56. 197Vgl. etwa Stephan Leopold, Liebe im Ancien Régime. Eros und Polis von Corneille bis Sade, Paderborn: Fink 2014, S. 366, der allerdings einfach davon ausgeht, dass die Figur des Gesetzgebers schon im Contrat social „die gesamte Vertragstheorie zum Einsturz bringt“. 198Vgl. z. B. Guillemette Johnston, Lectures poétiques. La Représentation poétique du discours théorique de Jean-Jacques Rousseau, Birmingham (Alabama): Summa Publications, Inc. 1996, insb. S. 99–117. Sie verfolgt die Funktion Julies insgesamt vor dem Hintergrund von Girards Sündenbock-Modell. Auch Roland Galle, Geständnis und Subjektivität. Untersuchungen zum französischen Roman zwischen Klassik und Romantik, München: Fink 1986, verweist bei Julies Konversion mehrmals auf die Parallele zum Gesellschaftsvertrag. – Seine subjekttheoretische Lektüre von Rousseaus Roman, in der er auf eine für das moderne Subjekt konstitutive Dialektik von Geständnis und Geständnisverbot kommt, lässt sich durchaus auf den Diskurs der Gemeinschaft übertragen.
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bevor der Baron d’Etange davon erfährt, züchtigt er die Tochter für ihre verbotene Liebesbeziehung so brutal, dass sie das Kind verliert (vgl. NH, I, LXIII, 178). Der Gewaltausbruch des Vaters verhindert nicht nur eine voreheliche Mutterschaft; noch wesentlicher ist, dass er in Julie eine tiefgreifende Veränderung bewirkt, die bereits auf ihre ‚révolution subite‘ während der Eheschließung mit Wolmar vorausdeutet: „Je ne puis bien te dire“, schreibt sie Claire, „quelle révolution s’est faite en moi, mais depuis ce moment je me trouve changée.“ (NH, I, LXIII, 177) Was damit vorangetrieben wird, ist die Umbesetzung eines amour-passion, dessen Grund entzogen bleibt.199 Ab diesem Moment schwenkt Julie langsam von der Strategie der Konfrontation auf eine paradoxe Strategie des Konsenses um, welche darauf zielt, weder dem Geliebten noch dem Vater gegenüber untreu zu werden. Im elften Brief des zweiten Buches fasst sie Saint-Preux gegenüber diese Strategie mit den Worten zusammen: „Je ne t’épouserai jamais sans le consentement de mon pere; mais je n’en épouserai jamais un autre sans ton consentement.“ (NH, II, XI, 226) Dieser sieht die Sache zu diesem Zeitpunkt noch anders; er fordert, angesichts ihrer faktisch stattgefundenen fleischlichen Verbindung ein natürliches Recht der Ehe ein.200 Die körperliche Vereinigung zwischen ihm und der Geliebten sanktioniert nach Saint-Preux ein ‚heiliges Band‘. Deshalb mahnt er Julie an, den Verlust ihrer Jungfräulichkeit nicht zu bereuen: vois d’un œil moins prévenu les sacrés liens que ton cœur a formés. N’as-tu pas suivi les plus pures loix de la nature? N’as-tu pas librement contracté le plus saint des engagemens? Qu’as-tu fait que les loix divines et humaines ne puissent et ne doivent autoriser? Que manque-t-il au nœud qui nous joint qu’une déclaration publique? Veuille être à moi, tu n’es plus coupable. O mon épouse! (NH, I, XXXI, 100 f.)
Mit dem Geschlechtsakt ist Julie für ihn seine Ehegattin geworden. Julie selbst denkt auch in diese Richtung, findet ihr Fall, der voreheliche Geschlechtsverkehr, doch statt, just nachdem sie erfahren hat, dass ihr Vater sie mit Wolmar verheiraten will. Unterstützt werden die Liebenden in dieser Auffassung vor allem von dem Freund Lord Édouard, der ein natürliches Recht der Liebesehe einklagt. Gemeinsam mit Saint-Preux auf dem Weg nach Paris schreibt er Claire einen Brief, in dem er dieses Recht mit folgenden Worten fordert: Ces deux belles âmes sortirent l’une pour l’autre des mains de la nature; c’est dans une douce union, c’est dans le sein du bonheur que, libres de déployer leurs forces et d’exercer leurs vertus, elles eussent éclairé la terre de leurs exemples. Pourquoi faut-il qu’un insensé préjugé vienne changer les directions éternelles, et bouleverser l’harmonie
199So entzündet sich die Liebesleidenschaft zwischen Saint-Preux und Julie bezeichnenderweise bereits am Abwesenden, an der gemeinsamen Lektüre von – insbesondere französischen, klassisch-moralistischen – Texten. Das betont Judith Frömmer, Vaterfiktionen. Empfindsamkeit und Patriarchat in der Literatur der Aufklärung, München: Fink 2008, S. 201–209. 200Vgl. zu diesem Naturgesetz der Ehe auch die Ausführungen von Anneliese Botond, Die Wahlverwandtschaften. Transformation und Kritik der neuen Héloïse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006, S. 21 ff.
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des êtres pensans? Pourquoi la vanité d’un pere barbare cache-t-elle ainsi la lumiere sous le boisseau, et fait-elle gémir dans les larmes des cœurs tendres et bienfaisans nés pour essuyer celles d’autrui? Le lien conjugal n’est-il pas le plus libre ainsi que le plus sacré des engagemens? Oui, toutes les lois qui le gênent sont injustes; tous les peres qui l’osent former ou rompre sont des tirans. Ce chaste nœud de la nature n’est soumis ni au pouvoir souverain ni à l’autorité paternelle, mais à la seule autorité du pere commun qui sait commander aux cœurs, et qui leur ordonnant de s’unir, les peut contraindre à s’aimer. (NH, II, II, 193 f.)
Lord Édouard kann das Leid seines Freundes, der schon an Selbstmord denkt, kaum ertragen und fordert mit der freien Liebesverbindung die Erlösung des unglücklichen Paares. Deshalb bietet er in der Folge Julie auch an, um des ehelichen Glückes Willen gemeinsam mit dem Geliebten nach England zu fliehen. Was in seinem ‚Naturehe-Plädoyer‘ auffällt, ist die Verwendung von biblischem und sakralisierendem Vokabular. Die Ehe ist hier nicht ‚heilig‘ und ‚keusch‘, weil sie – wie nach gängiger christlicher Vorstellung – die Vereinigung Christi mit seiner Kirche darstellt,201 sondern weil sie ohne Zwang, natürlich, frei und gerecht ist. Dem pater familias, der demgegenüber die Konvenienzehe in Anschlag bringt, wird Unchristlichkeit vorgeworfen: Er ist wie jene, die, nach Matthäus 5, 15, das Licht (und Recht) der Ehe unter den Scheffel stellen und es der Allgemeinheit vorenthalten. In einer Fußnote stimmt der Roman-Erzähler Saint-Preux’ Kritik der Konvenienzehe voll und ganz zu. Diese führe dazu, dass man noch die glücklichsten Ehen verhindere und wieder auflöse. Er verweist dabei auf einen spektakulären Rechtsfall am Parlement de Paris: J’ai vu plaider au Parlement de Paris une cause célebre où l’honneur du rang attaquoit insolemment et publiquement l’honnêteté, le devoir, la foi conjugale, et où l’indigne pere qui gagna son procès, osa deshériter son fils pour n’avoir pas voulu être un malhonnête homme. (NH, II, II, 194)
Bernard Guyon merkt zu dieser Fußnote an, dass Rousseau hier auf den Fall des Pariser Rechtsanwalts Labédoyère anspielt, dessen Ehe mit der Schauspielerin Agathe Sticotti von seinem Vater angefochten und daraufhin für ungültig erklärt wurde. Die Affäre schlug Wellen, der Schriftsteller Baculard d’Arnaud skandalisierte den Fall in einem Roman mit dem Titel Époux malheureux, und die Geschichte endete 1758 mit einer Aussöhnung zwischen Vater und Sohn Labédoyère, was Rousseau zu diesem Zeitpunkt aber offenbar nicht wusste. Die Pariser Zensoren strichen die zitierte Passage aus der Roman-Fußnote, wogegen wiederum Rousseau protestierte. Was aber vor allem interessant scheint, ist die Konsequenz, die der Erzähler in der Fußnote aus dem Fall zieht: Anders als Lord Édouard hat er weniger die Männer oder das Paar als vielmehr die Frauen im
201Vgl. z. B. Bossuet in seinem „Catéchisme de Meaux“ (1687): „Quelle est la perfection du Mariage? C’est que le Mari représente Jesus-Christ l’Epoux de l’Eglise, & que la Femme représente l’Eglise Epouse de Jesus-Christ.“ (in: Œuvres de Messire Jacques-Bénigne Bossuet, Bd. 2, Paris: Coignard, Boudet 1747, S. 427–770; hier: S. 719.
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Blick: „On ne sauroit dire à quel point dans ce pays si galand les femmes sont tirannisées par les loix. Faut-il s’étonner qu’elles s’en vengent si cruellement par leurs mœurs?“ (NH, II, II, 194) Das patriarchale Eheschließungsrecht wird ihm zum Grund für den Sittenverfall der (französischen) Frauen, nicht aber der Männer. Édouard berührt in seinen Ausführungen die Frage nach Dauer und Unauflöslichkeit des natürlichen Liebesbandes überhaupt nicht. Schwärmerisch preist er das Herzogtum York als „asile de l’innocence“ für die Liebenden an.202 Julie vermag er damit letztlich nicht zu überzeugen, sie lehnt Édouards Angebot ab. Aber warum eigentlich? Es sei ein schönes Angebot für die Liebe zweier Individuen („amour“), schreibt sie ihm in ihrer Antwort, aber keines für ihr – und aller – Glück („félicité“; vgl. NH II, VI, 263). Der Gewalterfahrung der Liebesleidenschaft und der Gewalt des Vaters – amour-passion und amour paternel verschwimmen hier, so schrecklich das ist – setzt sie ein universalisierendes Glücksstreben entgegen. Ihre paradoxe consentement-Strategie ist expansiv und zielt auf die Egalisierung der Interessen. Das zeigt sich auch an den sekundären Figuren des Romans: Im ersten Teil des Romans wird noch geheiratet, im zweiten gibt es nur noch Heiratspläne. Diese Hochzeiten kommen dank Julie zustande. So unterstützt sie die mittellose Fanchon Regard in dem Vorhaben, ihren ebenso mittellosen Freund Claude Anet zu heiraten.203 Darüber hinaus trägt sie mit ihrem Entschluss, nicht nach England zu gehen, zur Verheiratung Claires bei, die im Zweifelsfall mit ihr geflohen wäre und auf ihre Hochzeit mit M. d’Orbe verzichtet hätte.204 Im zweiten Teil klappt das nicht mehr: Auf dem Gut von Clarens wird nach der Hochzeit von Julie und Wolmar offenbar nicht mehr205 geheiratet; hier finden nur Ernte-, aber keine Hochzeitsfeste statt. Auf der Ebene der Hauptfiguren stehen hierfür natürlich Claire und Saint-Preux, die trotz Julies Bemühungen nicht heiraten wollen. Aber noch im fernen Italien muss von Clarens aus die Mésalliance von Édouard und Laure verhindert werden. Und die im ersten Band geschlossene Ehe von Fanchon und Claude geht den Bach hinunter, weil der Mann das kleine Familienglück nicht erträgt, abhaut und Fanchon mit ihrem Kind
202Vgl. NH, II, III, 200: „Là vous pourrez aussi-tôt vous marier publiquement sans obstacle; car parmi nous une fille nubile n’a nul besoin du consentement d’autrui pour disposer d’elle-même.“ Dass auch die englische Ehe mit einigen Unannehmlichkeiten verbunden ist, wischt er mit dem anschließenden Satz unter den Tisch: „Nos sages lois n’abrogent point celles de la nature, et s’il résulte de cet heureux accord quelques inconvénients, ils sont beaucoup moindres que ceux qu’il prévient.“ 203Julie interpretiert ihr Handeln als Heiratsvermittlerin ausdrücklich als Wiedergutmachung ihrer Liebesschuld: „Pour moi, j’ai résolu de reparer envers ceux-ci ma faute à quelque prix que ce soit, et de faire en sorte que ces deux jeunes gens soient unis par le mariage.“ (NH, I, XXXIX, 118) Die Hochzeit von Fanchon und Claudet sanktioniert ihrerseits Julies Liebe zu Saint-Preux und Julie nutzt sie für das heimliche Treffen mit dem Geliebten. 204Vgl. NH, II, V, 206, wo Claire schreibt: „J’abandonne un mariage prêt à conclurre?“ 205Die Hochzeit von Fanchon und Claude soll auf Clarens stattfinden, aufgrund des Wetters wird sie in die Stadt verlegt, weswegen Julie und Saint-Preux eine andere Strategie für ihr heimliches Treffen aushecken müssen (vgl. NH, I, LIII, 144–146).
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sitzen lässt (vgl. NH, IV, X, 63). Fanchon wird Julies treues Zimmermädchen. Der untreue, heruntergekommene Anet taucht ausgerechnet am Sterbebett Julies wieder auf – wie der verlorene Sohn, für den der Vater ein Fest bereitet. Julie aber kann den Reumütigen wegen eines erneuten Erstickungsanfalls nicht mehr von seiner Schuld freisprechen, so bleibt – angesichts des ‚Lieber-Nicht‘ von Claire und Saint-Preux zumal – äußerst zweifelhaft, ob dieser (Dienstboten-)Ehe eine Versöhnung beschieden sein wird oder eher nicht. Aber noch einmal zurück zu Julies Strategie im ersten Romanteil: An die Stelle der von Lord Édouard vorgeschlagenen Utopie einer auf ‚amour‘ und ‚innocence‘ beruhenden Paarbeziehung tritt die (immer noch auf ‚amour‘ und ‚innocence‘ zurückgeführte) Verpflichtung auf ein Gemeinwohl, das über die Familie hinausgreift. Das versucht Julie, auch dem eifersüchtigen Saint-Preux beizubringen: C’est que la source du bonheur n’est toute entiere dans l’objet désiré ni dans le cœur qui le possede, mais dans le rapport de l’un et de l’autre, et que, comme tous les objets de nos desirs ne sont pas propres à produire la félicité, tous les états du cœur ne sont pas propres à la sentir. (NH, II, XI, 225)
Ihre Liebe wird platonisch, wie der Romancier in einer Fußnote zustimmend feststellt, es geht nicht mehr um eine intime Paarbeziehung, sondern um eine universell-sublime Liebe, um Tugend, Glück und Schönheit. Und so endet dieser Brief mit der oben bereits zitierten Ankündigung Julies, nur unter der Bedingung eines doppelten bzw. dreifachen Konsenses von Vater, Saint-Preux und Wolmar heiraten zu wollen. Bis zur Nachricht vom Tod der Mutter (am Anfang des dritten Buches) haben Saint-Preux und Julie die Rollen getauscht; Julie wird zur Lehrerin ihres Lehrers, vor allem, nachdem dieser ihr gesteht, in Paris ein Opfer weiblicher Verführung geworden zu sein. In ihrer Antwort ermahnt sie den Geliebten – „Le sage observe le desordre public“ (NH, II, XXVII, 301) – und nimmt darin die Kardinaleigenschaft Wolmars, das Beobachten, vorweg, das für die Herrschaftsausübung in Clarens so zentral ist. Julie beherrscht Saint-Preux in diesem Moment, sie regiert ihn, indem sie ihn zu vernünftigem und das heißt politischem Handeln ermahnt. An Édouard, so moniert sie in ihrem Postscriptum desselben Briefes, schreibe er Vernünftiges, über „sujets importans“, „de réflexions graves et judicieuses“ (NH, II, XXVII, 305), während er ihr nur seine unglückseligen Liebschaften zumute. Auch wenn sie als Frau nicht für die Politik („la politique“) geboren sei, möge er sie doch am Politischen (und ihr Beispiel sind Fragen des „gouvernement“) teilhaben lassen. So labil und transitorisch diese Selbstbeherrschung auch ist, Julie schreitet dem Kairos ihrer Hochzeit im Zeichen einer Aufrichtigkeit (‚sincérité‘) entgegen, die möglichst vielen nutzt und für die sie die Letztinstanz darstellt. Von Saint-Preux erbittet sie, ihrem bereits gegebenen Treueversprechen gemäß, ein Recht auf Freiheit, über das der Vater verfügen will, aber nicht kann: „Rendez-moi donc la liberté que je vous ai engagée, et dont mon pere veut disposer“ (NH, III, IX, 325). Das kurze Billet, das sie Saint-Preux schreibt, ist das Ergebnis ihrer letzten Auseinandersetzung mit dem Vater und, wie sie
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rückblickend in ihrem großen Eheschließungsbrief schreibt, ein Beweis dafür, dass sie diesem gegenüber ihren Willen und ihre Wortgewalt bewahren konnte. Mit dem Verweis auf das Saint-Preux gegebene Versprechen, sich nicht ohne sein Einverständnis zu verheiraten, habe sie das Wohlwollen des Vaters und, mehr noch, erlangt, dass er an ihre Worte wie an heilige Worte glaubt: „tant un Gentilhomme plein d’honneur a naturellement une haute idée de la foi des engagemens, et regarde la parole comme une chose toujours sacrée!“ (NH, III, XVIII, 350) SaintPreux wiederum antwortet Julie mit der Gewährung eines Rechtes auf Selbstbestimmung, das ihn selbst ‚herzensmäßig‘ einbindet: „Je rends Julie d’Etange le droit de disposer d’elle-même, et de donner sa main sans consulter son cœur.“ (NH, III, XI, 327) Der Akt der Eheschließung markiert in dieser Logik die Auflösung von individuellen Einzelwillen im Zustandekommen eines Gesellschaftsvertrages, dessen Problematik Rousseau im Contrat social folgendermaßen beschreibt: „Trouver une forme d’association qui défende et protege de toute la force commune la personne et les biens de chaque associé, et par laquelle chacun s’unissant à tous n’obéisse pourtant qu’à lui-même et reste aussi libre qu’auparavant.“ (CS, I, VI, 360) Der Roman beseitigt das Problem nun damit, dass in Julies Schilderung Ehe- und Konversionsakt zusammenfallen. Das ist insofern aufschlussreich, als der Akt des Zusammenschlusses – die Selbstunterwerfung aller unter alle – im Contrat social überhaupt nicht als mythischreligiöser Moment, sondern schlicht als theoretische, vernünftig-utilitaristische Vertragsfiktion, als ‚pacte social‘, dargestellt wird. Es ist vielmehr der Gesetzgeber, der dort mit Religion assoziiert und als mythischer Gründungsvater nach dem Modell Lykurgs präsentiert wird, wohingegen der ‚Gesetzgeber‘ von Clarens, Wolmar, kurioserweise ein Atheist sein soll. Während im Contrat social dem Gesetzgeber eine transformierende Fähigkeit zugeschrieben wird – „[il] doit se sentir en état de changer, pour ainsi dire, la nature humaine“ (CS, II, VII, 381) –, ist in der Nouvelle Héloïse Julie das transformierende Zentrum, das alle in seinen Bann zieht. Ihre Konversion wird von allen (recht oder schlecht) imitiert, ihr Willen wird zum (mehr oder weniger guten) Willen aller, dem sich (scheinbar) alle unterwerfen, dem (scheinbar) alle glauben und von dem (scheinbar) alle profitieren. Quasi der Definition des Contrat social entsprechend, realisiert Julie – im Doppelsinne von ‚wahrnehmen‘ und ‚verwirklichen‘206 – die „aliénation totale de chaque associé avec tous ses droits à toute la communauté“ (CS, I, VI, 360). Ihre Trauung interpretiert sie nachträglich als Fiktion jenes „corps moral et collectif“ (CS, I, VI, 52), der im (Sprech-)Akt seines Zusammenschlusses zu einer unteilbaren Einheit wird: „Chacun de nous met en commun sa personne et toute sa puissance sous la suprême direction de la volonté générale; et nous recevons en corps chaque membre comme partie indivisible du tout.“ (CS, I, VI, 51 f.) Julie selbst ist die souveräne Darstellungs- und Deutungsinstanz dieser wundersamen
206Zum Doppelsinn des Charles Taylor entlehnten Begriffs der ‚Realisierung‘ und seiner Verschiebung zur „Handlungsseite“ hin vgl. Pfeiffer, „Der Skandal der natürlichen Religion“, S. 26.
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Eheschließung, von der sie in dem überlangen Rekapitulationsbrief an den immer noch (und immer mehr) Geliebten berichtet und bei der es weniger um den Austausch eines Ehekonsenses zwischen Braut und Bräutigam, als um Julies ‚eheliche‘ Neuausrichtung geht. Die Ehe findet in der Kirche vor einem Pastor statt, was aber nur deshalb wesentlich ist, weil dadurch von Julie eine öffentliche Macht des Rituals der Liturgie empfunden wird („un air de solennité“, „la sainte liturgie“), die zum Auslöser ihrer gänzlich innerlichen Erfahrung der „révolution subite“ (III, XVIII, 422) wird. Was ihr zwingend aufgeht in diesem Moment, ist die zeitliche und räumlich-personale Totalität der von ihr eingegangenen Verbindung: J’envisagai le saint nœud que j’allois former comme un nouvel état qui devoit purifier mon ame et la rendre à tous ses devoirs. Quand le Pasteur me demanda si je promettois obéissance et fidélité parfaitte à celui que j’acceptois pour époux, ma bouche et mon cœur le promirent. Je le tiendrai jusqu’à la mort. (NH, III, XVIII, 354)
Die kurze, entscheidende Passage ist darauf angelegt, die Frage, wen Julie eigentlich heiratet, mit der maliziösen Paraphrasierung des Adressaten als „celui que j’acceptois pour époux“ ins Unentscheidbare zu transferieren. Gott, ihren Vater, Wolmar, Saint-Preux oder alle – Männer, vielleicht sogar Frauen … wen auch immer, Julie spricht hier einen Zusammenschluss aus, aus dem der im vierten Buch geschilderte eheliche Gutshof von Clarens seine ganze politische und ökonomische Kohäsionskraft beziehen wird.207 Treue und Öffentlichkeit sind die Merkmale, die Julie theoretisch am Konsens zweier Eheleute, faktischerfahrungsmäßig nur an ihrem eigenen, hervorhebt. Heilig ist das geschlossene Band nicht deshalb, weil es das Band zwischen Christus und den Gläubigen ‚sakramental‘ repräsentieren bzw. auf es verweisen würde – an keiner einzigen Stelle des Romans wird Julies Eheschließung denn auch als Sakrament bezeichnet.208 Heilig ist es auch nicht im Sinne der ‚philosophes‘, weil es 207Vgl. hierzu auch Gesine Hindemith, „Erwirtschaftete Gefühlsarmut. Die gescheiterte Gemeinschaft der Nouvelle Héloïse“, in: Maud Meyzaud (Hg.), Arme Gemeinschaft, die Moderne Rousseaus, Berlin: b_books 2015, S. 76–97, wo die öffentlich-politische Funktion Julies für die Gemeinschaft von Clarens herausgestellt wird. 208Der Sakramentsbegriff bleibt ironischerweise der von Saint-Preux beschriebenen ‚Pariser Ehe‘ vorbehalten: „On diroit que le mariage n’est pas à Paris de la même nature que par tout ailleurs. C’est un sacrement, à ce qu’ils prétendent, et ce sacrement n’a pas la force des moindres contracts civils: il semble n’être que l’accord de deux personnes libres qui conviennent de demeurer ensemble, de porter le même nom, de reconnoître les mêmes enfants; mais qui n’ont, au surplus, aucune sorte de droit l’un sur l’autre; et un mari qui s’aviseroit de controller ici la mauvaise conduite de sa femme n’exciteroit pas moins de murmures que celui qui souffriroit chez nous le desordre public de la sienne. Les femmes, de leur côté, n’usent pas de rigueur envers leurs maris, et l’on ne voit pas encore qu’elles les fassent punir d’imiter leurs infidélités.“ (NH, II, XXI, 271). Die liberalen Ehesitten in Paris schaffen eine wunderbare Gegenordnung, die allein auf der Freiheit des sexuellen Bandes beruht, ohne dass aus diesem (wie es insbesondere bei Kant der Fall sein wird) ein Recht auf die Person des Anderen resultieren würde. Das (nach Rousseau) in Liebesdingen demokratische oder anarchische Paris ist mithin das Gegenteil jener öffentlichen Ordnung, die der Roman zu stiften sich zur Aufgabe gemacht hat.
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ursprünglich, natürlich und frei wäre. Heilig ist es, ganz anthropozentrisch, kollektivistisch, weil es die ganze Menschheit involviert und den stillen Konsens aller immer mit voraussetzt. „Chaque fois que deux époux s’unissent par un nœud solemnel“, erklärt Julie Saint-Preux: il intervient un engagement tacite de tout le genre humain de respecter ce lien sacré, d’honorer en eux l’union conjugale; et c’est, ce me semble, une raison très forte contre les mariages clandestins, qui, n’offrant nul signe de cette union, exposent des cœurs innocens à bruler d’une flame adultere. (NH, III, XVIII, S. 359)
Im Contrat social definiert Rousseau die Gesetze („la loi“) als Akte des Gemeinwillens („actes de la volonté générale“, CS, II, VI, 379). Vor diesem Hintergrund gleicht Julies Ehe-Interpretation einem solch fiktiven Akt der Selbststatuierung; sie verkörpert gewissermaßen jenes legislative Recht, von dem Rousseau den Gesetzgeber so scharf geschieden wissen will und das dem Volkssouverän vorbehalten ist.209 Angesichts eines solch universellen Konsenses gerät das unsichtbar und heimlich geschlossene Band der Zweisamkeit in den Bann des Verbotenen. Die Totalität der drittinstanzlich geschlossenen Ehe macht die auf reiner Zweisamkeit beruhende Paar-Ehe zum Ehebruch. Die paradoxe Konsequenz ist, dass die Gemeinschaft zweier und die Gemeinschaft vieler sich zugleich ausschließen und bedingen. Rückblickend geht Julie, die ihr Herz als Refugium für sich und SaintPreux aus der bevorstehenden Ehe heraushalten wollte, als ‚unreines Opfer‘ und ‚Ehebrecherin‘ zum Altar, nicht um entsühnt und konvertiert zu werden, sondern um als glücklich transformierte Gattin wieder von ihm herunterzuschreiten.210 Mit Julies einseitig proklamiertem Ehekonsens endet die Darstellung der Feierlichkeiten. Vom Bräutigam Wolmar kein Wort, geschweige denn von einer anschließenden Hochzeitsfeier.211 Stattdessen sucht Julie, „[d]e retour au logis“, erst einmal die Einsamkeit auf, um ihr Bekenntnis in einem Gebet zu vertiefen.
209Vgl. CS, II, VII, 383: „Celui qui rédige les loix n’a donc ou ne doit pas avoir aucun droit législatif […].“ 210Vgl. NH, III, XVIII, 352 f.: L’idée même de souiller le lit conjugal ne leur fait plus d’horreur … ils méditent des adultères!“, „Dans l’instant même où j’étois prête à jurer à un autre une éternelle fidélité, mon cœur vous juroit encore un amour éternel, et je fus menée au Temple comme une victime impure, qui souille le sacrifice où l’on va l’immoler.“ – An diesem ‚Ehebruch‘ setzt Barbara Vinkens Lektüre an, um vor dem intertextuellen Hintergrund der Geschichte von Abaelard und Héloïse und eines augustinischen Ehebegriffs das Scheitern von Julies Begehren herauszustellen („Von Fall zu Fall: Rousseaus Nouvelle Héloïse“, in: Stephan Leopold, Gerhard Poppenberg (Hg.), Planet Rousseau. Zur heteronomen Genealogie der Moderne, Paderborn: Fink 2015, S. 95–112). 211Ein Hochzeitsfest wird im Roman zugunsten der in Clarens praktizierten Fest-Disziplin ausgespart. Vgl. hierzu v. a.: Jean Starobinski, Jean-Jacques Rousseau. La transparence et l’obstacle, Paris: Gallimard 1971, S. 116–129. – Mit einem Tanz- und Feierverzicht entsühnt Julie im Übrigen eine Mitschuld am Tod der Mutter: „mais après la perte de ma mere je renonçai pour ma vie au bal et à toute assemblée publique; j’ai tenu parole, même à mon mariage, et la tiendrai, sans croire y déroger en dansant quelquefois chez moi avec mes hôtes et mes domestiques.“ (NH, IV, X, 458)
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Mit der neuen, göttlichen Instanz, die nun erstmals ins Spiel kommt, so wird oft argumentiert, internalisiere Julie die patriarchale Instanz und füge sich in eine proto-bürgerliche Eheordnung, in der sich die Frau dem Mann unterordne und in der sich die Sphärentrennung des modernen Staates (männlich-öffentliche Politik vs. weiblich-private Religion) widerspiegle.212 In dieser ‚ergebnisorientierten‘ Lesart scheinen mir indes zwei Aspekte unterzugehen: Zum einen entwirft Julie ja gerade kein privates Ideal, um ein öffentliches, das jenseits ihrer selbst läge, zu begründen, sondern eines, in dem Innen und Außen zusammenfallen sollen. Zum anderen ist mehr als auffällig, dass an keiner Stelle ihrer gebetsförmigen Ergüsse und Meditationen über die keusche und tugendhafte Ehe der Name Wolmars fällt.213 Während Julie im ersten Romanteil ihre Verfehlungen und Verhaltensänderungen nicht auf Gott, sondern eher auf den Himmel zurückführt („le Ciel“; z. B. NH, I, LXIII, 178, nach dem Verlust ihres Kindes; NH, II, XI, 226, beim Entschluss zum ‚Doppelkonsens‘), materialisiert sich die göttliche Instanz nun einmalig im Pastor, in dem Julie „l’organe de la providence“ zu sehen und „la voix de Dieu“ zu hören glaubt (NH, III, XVIII, 354) und im Folgenden in dem, was im Roman ‚Gebet‘ genannt wird. In ihrem Bericht an Saint-Preux nennt sie Gott eine „voix secrète“, ein „principe intérieur“, „l’Être éternel“, „l’Être immense“, „l’Être Suprême“ (NH, III, XVIII, 456–358). Egal, ob dieser Gott die Offenbarung am Ende überflüssig macht oder nicht, er verkörpert, materialisiert sich jedenfalls nicht in Wolmar, und das scheint mir die Pointe der Funktionsweise von Clarens zu sein. Der neuen Gattin korrespondiert kein durch die Ehe konvertierter Mann, kein neuer Mann und auch kein neuer Gatte, sondern ein russischer Atheist, der sein Interesse gerade einmal vom Partikularinteresse auf das Gemeinwohl (‚utilité commune‘) umstellt, der für die Wahrheit, für den Ursprung dieses Gemeinwohls aber bis zum Schluss blind bleibt. Die Einschätzung, nach der die Gemeinschaft von Clarens auf einer patriarchalischen Ordnung beruht, lässt sich demzufolge auch geradewegs umkehren: Das Recht von Clarens liegt in einem faktischen Gemeinwillen, den eine vergöttlichte Julie alleine ausspricht.214 Nur sie ist die Gewähr dafür, dass es auf Dauer gestellt werden kann. Wolmar ist für dieses Recht – erst einmal – unerheblich. Anders als in der Geschichte zwischen Emile und Sophie in Rousseaus Erziehungsroman spielt er in der Eheanbahnung keine Rolle; erst nach der Eheschließung kommt er wie ein schlechter deus ex machina ins Spiel.
212Z.B. Albrecht Koschorke, der Julies Gebet als „so etwas wie das Glaubensbekenntnis der bürgerlichen Ehefrau“ charakterisiert (Die Heilige Familie und ihre Folgen, Frankfurt a. M.: Fischer 2000, S. 183). 213Erst ganz am Ende ihres Rekapitulationsbriefes kommt sie wieder auf ihn zurück: Sie fragt Saint-Preux, ob sie dem neuen Gatten ihre voreheliche Beziehung wohl gestehen soll oder nicht (vgl. NH, III, XVIII, 367 f.). 214Das ist die Kehrseite der Lektüre, die Koschorke, Die Heilige Familie, S. 186, vorschlägt und nach der die Frau lernen müsse, ihren Gatten zu vergöttlichen.
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In ihrem zweiten Brief an Saint-Preux nach ihrer Heirat sagt Julie eigentlich alles, was es über ihn zu sagen gibt. Wolmar hat eine eigene ‚Konstitution‘. Wie der Gesetzgeber aus dem Contrat social gehört er der Ordnung, die er konstituiert, nicht wirklich an. So wie Julie nicht mehr ‚wirklich‘ Frau ist, nachdem sie sich ganz dem neuen Kollektiv und ‚höchsten Sein‘ hingegeben hat, so ist Wolmar kein wirklicher Mann aus Fleisch und Blut (mit dem Unterschied, dass man nicht weiß, was er vorher war): M. de Wolmar a près de cinquante ans; sa vie unie, reglée, et le calme des passions lui ont conservé une constitution si saine et un air si frais qu’il paroit à peine en avoir quarante, et il n’a rien d’un âge avancé que l’expérience et la sagesse. […] Il est le même pour tout le monde, ne cherche et ne fuit personne, et n’a jamais d’autres préférences que celles de la raison. (NH, III, XX, 369 f.)
Der Gleiche für alle, Erfahrung und Weisheit, die Vernunft als einzige Richtlinie; allein diese Beschreibung rückt Wolmar in die Nähe der in der Aufklärung gerne beschworenen mythischen Gesetzgeberfiguren, „verstanden als Verkörperung säkularer Gestaltungskraft der aus ihrer Unmündigkeit befreiten Menschenvernunft“,215 wie der Verfassungsrechtler Hasso Hofmann Rousseaus Gesetzgeber charakterisiert. Wolmar allerdings verfügt über derartige intellektuelle und pädagogische Fähigkeiten, dass die ‚méthode de Wolmar‘ in der Nouvelle HéloïseKritik zu einem abschreckenden Topos geworden ist. Das mag daran liegen, dass dieser Gesetzgeber, anders als der des Contrat social, eben nicht mit göttlicher Autorität ausgestattet ist. Selbst wenn sie ihm als ‚œil vivant‘ fast zu konzedieren wäre, wird sie mit seinem Atheismus dementiert. Sein Außer-der-Gesellschaft/ Ehe-Stehen wird auch durch die Eheschließung bestätigt; so schreibt Julie über ihr Verhältnis: Malgré sa froideur naturelle, son cœur secondant les intentions de mon pere crut sentir que je lui convenois, et pour la premiere fois de sa vie il prit un attachement. Ce goût modéré mais durable s’est si bien réglé sur les bienséances et s’est maintenu dans une telle égalité, qu’il n’a pas eu besoin de changer d’état, et que sans blesser la gravité conjugale il conserve avec moi depuis son mariage les mêmes manieres qu’il avoit auparavant. […] En un mot, il veut que je sois heureuse; il ne me le dit pas, mais je le vois; et vouloir le bonheur de sa femme, n’est ce pas l’avoir obtenu? (NH, III, XX, 370)
Die Hochzeit hat Wolmars schon zuvor eingegangene Vernunftbindung mit Julie in keinster Weise verändert: „il n’a pas eu besoin de changer d’état“. Julie spricht auch von ‚seiner‘ Hochzeit („son mariage“) und nicht etwa von ‚unserer‘. Wolmar war quasi nicht dabei und hat, als rechter Gesetzgeber, mit seinem EheJa aus dem theoretisch-formalen Gemeinwillen Julies einen faktischen gemacht. Auf diese Weise hat das neue Gemeinwesen Clarens seine erste gesetzesförmige Realisierung erhalten. Der Gründungsakt funktioniert in chiastischer Umkehrung
215Hofmann,
„Rousseaus Gesetzgeber“, S. 99 f.
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des Gesellschaftsvertrags: Während dort ein religiös abgesicherter Gesetzgeber die Individuen ‚erzieht‘ oder ‚transformiert‘ und im richtigen Moment rational und politisch handelnde Individuen rechtlich als ‚Volk‘ instituiert, entsteht die EheGemeinschaft im Roman dadurch, dass ein rein rational und politisch handelnder Gesetzgeber den religiös sanktionierten Akt der Selbsthingabe beglaubigt. Rousseau vertauscht im Roman gewissermaßen die Zuordnungen von ‚Politik‘ und ‚Religion‘.216
Moderne Regierungskunst: Julie und Wolmar Am Romanende wird das fiktive Eherecht radikal in Frage gestellt, wenn nicht dementiert. Aber Clarens funktioniert trotzdem. Die Zeit, in der das Gut von der Doppelspitze Julie und Wolmar regiert wird, umfasst ungefähr sechs Jahre, von 1738 bis 1744, bis Julie sich langweilt und bis Saint-Preux, von seiner Weltreise zurückkehrend, in Clarens ankommt. Sieht man in Clarens das Produkt der Roman-Ehe, ist festzuhalten, dass es (von Saint-Preux) lediglich als Rückblick erzählt wird und es eigentlich – wie eine Chimäre – in einer langen Pause der Romanhandlung zwischen erstem und zweitem Romanteil liegt. So morsch das Eherecht zwischen Julie und Wolmar ist, politisch funktioniert das Paar perfekt. Julie und Wolmar agieren als dynamische Einheit; mit Paul de Man könnte man auch sagen, dass in Clarens eine perfekte Lesbarkeit vorgespielt wird. Gemeinsam bilden Julie und Wolmar eine moderne Regierung, eine „Form der Machtausübung, die mit der Freiheit der Geführten rechnet“.217 Im Contrat social bestimmt Rousseau die (exekutive) Regierung („gouvernement“) in strenger Abgrenzung vom legislativen Gemeinwillen (der dem Volk vorbehalten ist) als einen ‚Körper‘, der zwischen Souverän und Untertanen vermittelt: „[u]n corps intermédiaire établi entre les sujets et le Souverain pour leur mutuelle correspondance, chargé de l’éxécution des loix, et du maintien de la liberté, tant civile que politique“ (CS, III, I, 396). Clarens indessen verstößt gegen dieses Gebot einer Trennung von Legislative und Exekutive; Julie und Wolmar verkörpern sowohl einen ‚corps politique‘ als auch den exekutiven Vermittlungskörper desselben. Der Effekt ihrer Paar-Regierung ist nicht die Gleichheit aller, sondern die absolute Differenz zwischen dem Paar und den Untertanen (Freunden, Kindern, Hauspersonal) – weswegen ihre rechtliche Legitimität fragwürdig bleibt. Jedenfalls scheint es irreführend, beim Oikos von Clarens von einer proto-bürgerlichen Rollenverteilung auszugehen, nach der Wolmar die planende und zielsetzende Instanz und
216Vgl.
den letzten Satz des Kapitels „Du législateur“, wo Rousseau die Notwendigkeit der Religion für die Gründung von Nationen betont: „Il ne faut pas de tout ceci conclurre avec Warburton que la politique et la religion aient parmi nous un objet commun, mais que dans l’origine des nations l’une sert d’instrument à l’autre.“ (CS, II, VII, 384) 217Vgl. hierzu Marcus Twellmann, „Zur Transformationsgeschichte der Oikonomik: Rousseaus Neue Héloïse“, Deutsche Vierteljahrsschrift 85 (2011), 161–185; hier: S. 179.
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die Hausherrin ‚lediglich‘ das ausführende Organ darstellt.218 Rousseaus Gesetzgeber zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass er selbst kein legislatives Recht hat. Julie präsentiert Saint-Preux ihr Eheverhältnis mit Wolmar als dynamische Komplementarität, die sich ausschließlich aus dem Paarsein und nicht in der Abgrenzung von irgendeinem anderen, außerhalb ihrer Ehe liegenden Recht ergibt:219 Il semble que quand on nous eut formés exprès pour nous unir on n’auroit pu réussir mieux. […] Chacun des deux est précisément ce qu’il faut à l’autre; il m’éclaire et je l’anime; nous en valons mieux réunis, et il semble que nous soyons destinés à ne faire entre nous qu’une seule âme, dont il est l’entendement et moi la volonté. (NH, III, XX, 473 f.)
Das Paar wird gewissermaßen autopoietisch entworfen: Er erhellt sie, sie belebt ihn; als Paar sind sie mehr als die Summe ihrer Teile. Sie ‚haben‘ nicht nur eine Seele, sie ‚machen‘ eine, eine expansive Seele, die aus ‚seiner‘ Fassungskraft und ‚ihrem‘ Willen besteht. Das ist die performative Kraft, die das neue Gemeinwesen von Clarens – mehr als eine Familie und weniger als einen Staat – hervorbringt. Gemeinsam bilden sie einen souveränen Körper, der nicht mehr aus Organen, sondern nur noch aus einer Seele besteht.220 Voller Bewunderung schreibt Claire am Anfang des vierten Buches: „Ma Julie, tu es faite pour regner. Ton empire est le plus absolu que je connoisse. Il s’étend jusques sur les volontés, et je l’éprouve plus que personne.“ (NH, IV, II, 409) Biologische Kind- und Mutterschaft spielen hier eine überraschend geringe Rolle; Julie hat ‚nur‘ zwei Kinder, in deren Umgang sie sich außerdem langweilt (NH, IV, I, 399). Wolmar und Julies Ehe, und das heißt der zweite Romanteil, gibt sich den Anschein, den performativen Akt der Eheschließung zu verzeitlichen bzw. ihre Selbstfeier auf Dauer zu stellen. Mit kanonischem Eherechtsvokabular hieße das, dass Rousseaus Roman das matrimonium in fieri (das Zustandekommen der Ehe) mit dem matrimonium in facto esse (der Ehe als (Zu-)Stand) zusammenfallen lässt.221 Clarens ist damit, eher hetero- als utopisch, in erster Linie Experiment einer Gemeinschaft im Werden und Projekt einer latenten Gemeinschaft. Das regimentale Prinzip der
218Vgl.
etwa Friederike Kuster, Rousseau, S. 130 f. unterscheidet sich Rousseau sowohl von romantischen als auch von naturrechtlichen Konzeptionen, die das Paar in Abgrenzung von einem normativen Außen oder als natürliche Einheit (wie etwa Fichte) denken. S. o. Abschn. 2.1: Säkularisierung der Ehe? Sakramentalität und Rechtsprechung („Vom heiligen Stand zum Selbstzweck“). 220Vgl. Pfeiffer, „Radikale Politik“, S. 140, der Rousseaus absolute Metapher des politischen Körpers mit dem Konzept des ‚organlosen Körpers‘ (corps sans organes) von Deleuze und Guattari in Verbindung bringt, um seine unhierarchische und singuläre Funktionsweise zu plausibilisieren. 221Hier wird Manzoni ansetzen: Auch er verzeitlicht die Eheschließung, mit dem Unterschied, dass sie von Anfang an das Ziel ist und nur als Aufschub realisiert wird, während Rousseau sie als Produkt (vermeintlich) konvertierter Liebe in der Mitte des Romans beginnen, aber nicht über den Zustand der Latenz hinauskommen lässt. 219Darin
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(geschlechtlichen) Reziprozität zeitigt sich in einer ökonomischen Reziprozität und im Überflüssigwerden der Frage nach seinem rechtlichen Fundament. (Neben-)Effekt dieser Beziehung ist nicht die Familie oder der Staat, sondern das sich selbst erhaltende, autarke Haus, das – gelänge über die Selbsterhaltung hinaus auch seine Expansion – in die Gefühls- und Willensgemeinschaft einer Nation übergehen würde. So ist dem Roman mit dem zehnten Brief des vierten Buches (über das dienstherrschaftliche Verhältnis), dem zweiten und dritten des fünften Buches (über das eheliche und das elterliche Regiment) eine nach aristotelischem Vorbild komplette Herrschaftslehre des oikos eingelassen.222 Der Erfolg von Clarens bemisst sich an seiner Fähigkeit zur Sichtbarmachung ubiquitärer Nützlichkeitsrelationen – das geschieht ironischerweise fast immer in Situationen krisenhafter und potentiell scheiternder Eingemeindung. Der erste, der eingemeindet, von Julie und Wolmar ‚adoptiert‘ und ständig in die Lage von Schein-Wahlfreiheit versetzt werden soll, ist bekanntlich Saint-Preux; und an seiner ersten Wiederbegegnung mit Julie in Clarens ‚liest‘ Wolmar jenes fatale Gebot der ‚Klarheit‘ ab, das mit Blick auf den Akt seines ehelichen Zusammenschlusses mit Julie als Wiederholung einer Sichtbarmachung erscheint: „Ne fais ni ne dis jamais rien que tu ne veuilles que tout le monde voye et entende“ (NH, IV, VI, 424). Das erklärte Ziel von Clarens ist ein auf restloser Gegenseitigkeit beruhendes Glück aller. Mehrfach ist darauf hingewiesen worden, dass Rousseau mit dem in der Nouvelle Héloïse entworfenen oikos von Clarens die klassisch-aristotelische Trennung einer ‚économie politique‘ und ‚économie domestique‘ durchbricht, obschon er diese Trennung in seinem Enzyklopädie-Artikel „Économie politique“ selbst ausdrücklich festhält. Zwar kennt auch bereits die frühneuzeitliche Oeconomia Christiana mit der Abbildlogik zwischen göttlicher, monarchischer und häuslich-väterlicher Herrschaft eine politisch-theologische Überdachung der verschiedenen Herrschaftsformen. Doch Rousseau, das unterstreicht Twellmann, greift genau auf diese Rechtfertigungsmuster nicht mehr zurück, weswegen er von einer Entchristlichung der Oikonomik spricht. An die Stelle der patriarchal-christlichen Hauslehre tritt die Fiktion einer Liebesgemeinschaft von Dienern und Herrschern, die als „Säkularisat“223 aber nur unzulänglich beschrieben ist, wird die Funktion der religiösen Legitimierung im Roman doch lediglich vom Hausvater auf die ‚konvertierte‘ Hausmutter übertragen. Das moderne Zauberwort für die eheliche Bindungskunst von Clarens lautet ‚Emotionalisierung‘. Freunde, Kinder und Bedienstete werden in ein ebenso ethisches wie melodramatisches Spektakel involviert, dessen vorgeblicher Gegenstand ‚innocence‘ und ‚amour‘, zweite Natur, Autarkie und S elbstgenügsamkeit
222Je
nach Blick auf den Text kann man die ‚Haus-Lehre‘ des Romans (lutherisch: die Lehre vom Ehestand) als Zentrum oder als Abschweifung des Romans ansehen. Roland Galle etwa spricht von „Digressionsbriefe[n]“ (Galle, Geständnis und Subjektivität, S. 141). 223Vgl. Twellmann, „Transformationsgeschichte“, S. 184.
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sind;224 ein hochexplosives Spektakel, das so lange funktioniert, wie sich ihm alle permanent und nach festen Regeln unterwerfen. Dabei machen Julie und Wolmar ihre Arbeit zusammen: Während Wolmar unentwegt beobachtet und dadurch Regelverstöße verhindert, spornt Julie durch Affektbindung zu regelkonformem Verhalten an.225 Clarens beruht nicht auf der Gleichheit aller, aber auf der Gleichheit des Paares, die andere Herrschaftsverhältnisse rechtfertigt und im Bild der vorgeführten Paar-Harmonie versüßt.226 Gemeinsam machen sie ihre Kontrollspaziergänge auf den Feldern. Gemeinsam erfolgt die Personalauswahl und auch die Rechtsprechung über ungefügige Untertanen.227 Das Personal wird aus armen und kinderreichen Landfamilien rekrutiert, sozusagen aus einem Überschuss der Natur; es besteht aus heiratsfähigen Mädchen und Jungen, die nicht nur auf ihre Dienst-, sondern auch auf ihre Heiratsfertigkeit hin überprüft werden. Das Paar fordert die Unterwerfung sowohl unter seine Herrschaft als auch unter alle anderen Familienmitglieder – „[à] la subordination des inférieurs se joint la concorde entre les égaux“ (NH, IV, X, 460). Die Untertanen verpflichten sich nicht nur als Lohnarbeiter, die Geld für ihre Dienste erhalten, sondern – wie bei Ehepaaren – als treue und liebende Subjekte.228 In einer solchermaßen konstituierten Willens- und Liebesgemeinschaft wird Individualisierung verunmöglicht und die Politisierung des Paares vorangetrieben. Hierfür stehen die ausnahmsweisen sonntäglichen und gemischtgeschlechtlichen Geselligkeiten, die von Julie und Wolmar als Heiratsmarkt veranstaltet werden und die Frauen und Männer ihrer gegenseitigen Bestimmung zuführen sollen. Julie bringt es für Saint-Preux auf den Punkt: „L’homme et la femme sont destinés l’un pour l’autre, la fin de la nature est qu’ils soient unis par le mariage.“ (NH, IV, X, 456) Rechnen Julie und Wolmar in der Regierung ihrer Dienstboten mit deren Freiwilligkeit, so beruht ihr eigenes eheliches Verhältnis auf einem „parfait accord des deux époux“ (NH, V, II, 530). Die perfekte Harmonie nivelliert jene Autoritätsunterschiede, die Rousseau im Discours sur l’économie politique zugunsten
224Genau so beginnt Saint-Preux seine an Lord Édouard gerichtete Beschreibung der Hauslehre von Clarens: „c’est un spectacle agréable et touchant que celui d’une maison simple et bien réglée où regnent l’ordre, la paix, l’innocence“ (NH, IV, X, 441). 225Vgl. hierzu auch Hindemith, „Erwirtschaftete Armut“, S. 85. Sie spricht von einer „paradoxe[n] Ehe-Konstellation als Ineinanderwirken zweier energetischer Stränge […], die beide [Wolmars exzessive Beobachtung und Julies exzessive Frömmigkeit; Anm. D.S.] zu Bedingung und Möglichkeit der Gemeinschaft von Clarens werden“. 226Saint-Preux fasst das in seinem Brief über die Ernte in Clarens so zusammen: „[M]ais la douce égalité qui regne ici rétablit l’ordre de la nature, forme une instruction pour les uns, une consolation pour les autres et un lien d’amitié pour tous.“ (NH, V, VII, 608) 227Vgl. NH, IV, X, 445: „M. de Wolmar les interroge, les examine, puis les présente à sa femme. S’ils aggréent à tous deux, ils sont reçus“. 228„La premiere chose qu’on leur demande est d’être honnêtes gens, la seconde d’aimer leur maître, la troisieme de le servir à son gré“ (NH, IV, X, 445) – wobei sich die dritte Forderung automatisch aus den ersten beiden ergebe.
2.3 Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschafts- und Ehevertrag
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des Mannes ausdrücklich feststellt.229 Zwar fängt Saint-Preux’ Brief über die „maniere de vivre des maitres“ (NH, IV, X, 470) bezeichnenderweise mit dem Hinweis auf die heimliche Qual an („la peine secrette“, NH, V, II, 528), die Julie umtreibt und auf die gleich zurückzukommen ist, aber in der anschließenden Beschreibung der souveränen Paar-Regierung wird sie ausgeklammert. Julie und Wolmar repräsentieren in ihrem restlos ökonomischen Umgang miteinander die auf Subsistenz und Autarkie beruhende Produktions- und Konsumtionsgemeinschaft von Clarens: „La condition naturelle à l’homme est de cultiver la terre et de vivre de ses fruits.“ (NH, V, II, 157) Ihre Selbsterhaltung macht sie zu einem politischen Vorbild: „C’est en lui [dem Zustand der Autarkie; Anm. D. S.] que consiste la véritable prospérité d’un pays, la force et la grandeur qu’un peuple tire de lui-méme, qui ne dépend en rien des autres nations […].“ (NH, V, II, 535) Während den Dienstboten Glück in der Ungleichheit verschafft werden soll, geht es bei Julie und Wolmar – wie im Wirtschaftshaushalt – um die Suggestion der Konvertierbarkeit des Überschüssigen in Bedürfnisbefriedigung: „l’indispensable conversion de ce que nous avons de trop en ce qui nous manque“ (NH, V, II, 548).
Julies Tod und die Frage nach dem Recht Die narrative Dynamik des zweiten Romanteils, ohne die man die langen Briefe über Ökonomie, Gartenkunst, Erziehung und Religion kaum überstehen würde, beruht auf der Engführung zweier ‚Geheimnisse‘: dem Geheimnis von Julies vorehelicher Beziehung – „un secret dangereux“ (NH, III, XIX, 368) in der Einschätzung Saint-Preux’ – und dem Geheimnis von Wolmars Ungläubigkeit. Wurde die Liebe zwischen Saint-Preux und Julie im ersten Romanteil durch äußere Hindernisse verunmöglicht, stellt sich im zweiten Teil die Religion als inneres Hindernis zwischen die Ehegatten. Für eine nahtlose Substituierung der Geheimnisse sorgt bereits ein Erzähler-Kommentar in Julies Hochzeitsbrief, in dem ihr vermeintlich vollendetes Glück unter den schleierhaften Vorbehalt eines „fatal secret“ gestellt wird.230 In der Folge muss man genau lesen, um zu erkennen, von welchem ‚secret‘ Julie, Claire oder Saint-Preux jeweils sprechen: von der vorehelichen Liebe, die Julie Wolmar eigentlich gestehen will, aber nicht gesteht, weil sie fürchtet, den ehelichen Frieden zu stören, oder vom sich langsam entfaltenden Geheimnis der Ungläubigkeit Wolmars, das den Ehefrieden faktisch immer mehr stört. Aber spätestens mit der Szene im ‚bosquet‘ (vgl. NH, IV, XII), in der Wolmar die Verliebten zum erneuten Kuss – nun Freundschaftsund nicht mehr Liebeskuss – zwingt und in der er Julie offenbart, schon vor ihrer
229„Par plusieurs raisons tirées de la nature de la chose, le pere doit commander dans la famille. […]“ (vgl. Rousseau, Discours sur l’économie politique, in: Œuvres complètes, hg. Gagnebin/ Raymond, Bd. 3, S. 242). 230Vgl. NH, III, XVIII, 372: „Apparemment qu’elle n’avoit pas découvert encore le fatal secret qui la tourmenta si fort dans la suite, ou qu’elle ne vouloit pas alors le confier à son ami.“
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Ehe vom Geheimnis ihrer Liebe gewusst zu haben, hat Wolmars Religionsgeheimnis Julies’ Liebesgeheimnis ersetzt. Die Differenz von Glauben und Unglauben ist die Restdifferenz in Julie und Wolmars scheinbar restloser Reziprozität, eine Differenz, die Clarens als politisch-ökonomisches Missverständnis und als rechtlichen Schein produziert, die aber in ihrer transformierten Wiederkehr die Gemeinschaft wiederum vom Paar abhängig macht bzw. sie erneut als Paar verspricht. Deshalb kann La Nouvelle Héloïse als Ehe- aber auch als Ehebruchroman gelesen werden.231 Sieht man in Julies Eheschließung – wie viele Leser und wie auch Wolmar – einen Vertrag, der nur zwei betrifft, ist es Julie, die spätestens mit ihrem letzten Brief an Saint-Preux in die Position der potentiellen Ehebrecherin rückt. Sieht man den Eheschließungakt jedoch, wie hier vorgeschlagen, in seiner doppelten Wirkungsweise als amplifizierende Relektüre einer Liebesverbindung und als institutionelle Bindung aller, ist es Wolmar als Ungläubiger, der in die Position des Ehebrechers gerät.232 Der euphorischen, politischen Entfaltung des Ehe-Experiments korrespondiert dann eine dysphorische, rechtliche Aushöhlung. Wann genau Julie vom Unglauben ihres Mannes erfahren hat, ob sie schon vor der Eheschließung davon wusste (so wie dieser bereits vor der Ehe von ihrer Liebe zu Saint-Preux wusste), lassen die Briefe offen. Es ist Saint-Preux, der seinem Freund Édouard im fünften Brief des fünften Bandes erstmals die Glaubensdiskrepanz als substanzielle Gefahr für die innige „union“ des Paares schildert.233 In der Öffentlichkeit von Clarens spielt Wolmar freilich den Gläubigen; Julie hat ihn davon überzeugt, dass das für den öffentlichen Frieden notwendig sei.234 Paarintern drängen aber beide, Julie und Wolmar, auf eine gegenseitige Bestätigung ihrer religiösen Doppelbindung; das Paar ist, anders gesagt, mit der Legitimierung seines ontologischen Status beschäftigt. Julie will Wolmar konvertieren, d. h. ihm das rechte Recht nahebringen: „Si le Ciel, dit-elle souvent, me refuse la conversion de cet honnête homme, je n’ai plus qu’une grace à lui demander; c’est de mourir la premiere.“ (NH, V, V, 592) Obwohl das, wie Saint-Preux noch im selben Brief schreibt, völlig aussichtslos sei – „nous ne ramenerons jamais cet homme“ –,
231Vgl. Tony Tanner, Adultery in the Novel. Contract and Transgression, Baltimore/London: The Johns Hopkins University Press 1979, der den Roman an den Beginn der Gattung stellt. 232Aber auch die weiteren Mitglieder von Clarens, um deren Ehe Julie wirbt – Fanchon, Claire, Saint-Preux –, werden potentiell vertragsbrüchig. In dem Moment, da Wolmar sich als irrender Gesetzgeber erweist, übernimmt Julie seine Funktion und zieht ‚ihre Kinder‘ in eine paradoxe Entscheidungssituation hinein. 233„[I]l faut connaître l’union qui règne entre eux dans tout le reste, pour concevoir combien leur différend sur ce seul point est capable d’en troubler les charmes.“ (NH, V, V, 217) 234„Madame de Wolmar sentant donc le mauvais effet que ferait ici le pyrrhonisme de son mari, et voulant surtout garantir ses enfants d’un si dangereux exemple, n’a pas eu de peine à engager au secret un homme sincère et vrai, mais discret, simple, sans vanité, et fort éloigné de vouloir ôter aux autres un bien dont il est fâché d’être privé lui-même. Il ne dogmatise jamais, il vient au temple avec nous, il se conforme aux usages établis; sans professer de bouche une foi qu’il n’a pas, il évite le scandale, et fait sur le culte réglé par les lois tout ce que l’État peut exiger d’un Citoyen.“ (NH, V, V, 221)
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weil ihm schlicht das „sentiment“ dafür fehle (NH, V, V, 594). Wolmar wiederum wird in seiner Blindheit (für Recht und Religion seines Paarseins) Julie gegenüber immer gewalttätiger, wie die anschließend geschilderte Szene, in der er sie zusammen mit Saint-Preux im intimen Gebet bloßstellt, verdeutlicht. Zwar spricht Saint-Preux dies nicht und lässt seinen Brief stattdessen pathetisch abbrechen, aber auch Wolmar scheitert in seinen Penetrationsversuchen, weil – wie das Romanende zeigt – Julie das Arkanum der von ihr geschlossenen Ehe bis zu ihrem Tod aufrechterhält. Julie will Wolmar herzensmäßig penetrieren, Wolmar Julie mit Blicken. Das Paar in seiner nackten Relationalität desavouiert nun die Voraussetzungen der dynamischen Entität des mit Julies Eheschließung vollzogenen, faktischen Gemeinwillens. Wolmar gelingt es immer weniger, Julie zu verstehen, und das heißt an ihr den Zweck, das Gemeinsame seines Ehe-Gesetzes abzulesen, obwohl er Saint-Preux gegenüber stolz dekretiert: „Le vrai livre de la nature est pour moi le cœur des hommes, et la preuve que j’y sais lire est dans mon amitié pour vous.“ (NH, VI, V, 657) Die Ordnung sieht er in einer Natur, die sich nie irrt – ein unlogisches Bekenntnis für einen Atheisten, wie der Erzähler in einer Fußnote anmerkt (NH, V, III, 563). Für die Verzichtleistung, die sein mittelalterliches Vorbild Abaelard für Heloisa erbracht hat, ist er nicht bereit. Saint-Preux, der für Transzendenz immerhin ein bisschen empfänglicher als Wolmar ist, stellt Édouard gegenüber die Glaubensdifferenz denn auch als Qual („tourment“) heraus, die sich Julie bei den gemeinsamen Natur-Spaziergängen als besonders grausam offenbare: Imaginez Julie à la promenade avec son mari; l’une admirant dans la riche et brillante parure que la terre étale l’ouvrage et les dons de l’Auteur de l’univers; l’autre ne voyant en tout cela qu’une combinaison fortuite où rien n’est lié que par une force aveugle. […] Hélas! dit-elle avec attendrissement; le spectacle de la nature, si vivant si animé pour nous, est mort aux yeux de l’infortuné Wolmar, et dans cette grande harmonie des êtres, où tout parle de Dieu d’une voix si douce, il n’apperçoit qu’un silence éternel! (NH, V, V, 592 f.)
Wolmar dürften indes gerade diese Spaziergänge ein besonderes Vergnügen bereiten, weil er sich hier dem rechtlichen Grund seiner gesetzgeberischen Tätigkeit besonders nahe wähnt. In ihrem zweitletzten Brief, jenem, den der Erzähler in einer Fußnote als Schwanengesang bezeichnet, spricht Julie Wolmars Blindheit für die Wahrheit aus, indem sie die den Roman durchziehende Schleier-Metapher auf ihn anwendet: „Dieu lui-même a voilé sa face. Il ne fuit point la vérité, c’est la vérité qui le fuit.“ (NH, VI, VIII, 699) Die Kehrseite ist auch hier ein Selbstgenuss, der die Expansion eines eigenen – höheren – Wesens genießt, statt glücklich in einem Dritten aufzugehen. Trop heureuse ist Julie am Ende, wie man weiß: Je me disois: cette petite chambre contient tout ce qui est cher à mon cœur, et peut-être tout ce qu’il y a de meilleur sur la terre; je suis environnée de tout ce qui m’intéresse, tout l’univers est ici pour moi; je jouïs à la fois de l’attachement que j’ai pour mes amis, de celui qu’ils me rendent, de celui qu’ils ont l’un pour l’autre; leur bienveuillance mutuelle ou vient de moi ou s’y rapporte; je ne vois rien qui n’étende mon être, et rien qui le divise; il est dans tout ce qui m’environne, il n’en reste aucune portion loin de moi; mon imagination n’a plus rien à faire, je n’ai rien à désirer; sentir et jouïr sont pour moi la même chose; je vis à la fois dans tous ce que j’aime, je me rassasie de bonheur et de vie: O mort, viens quand tu voudras! (NH, VI, VIII, 688 f.)
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Wolmars und Julies in Clarens – im Schein des Rechts – vollzogene ‚actes de la volonté‘ haben sie – als double bind – enger aneinander gebunden und die Bindungskraft nach außen aufgezehrt. Die Entscheidung, auf die der Roman zusteuert, die er aber mit dem als Zufall einbrechenden Tod Julies komplett ausfallen lässt, ist die Frage nach der Konversion Wolmars. Der von Wolmar minutiös geschilderte Tod scheint die Legitimität von Julies Eherecht und die performative Kraft ihrer Vollzüge komplett zu desavouieren: Julie stirbt drei Tage lang wie eine caritas-Maschine und imitiert dabei einen Christus, dem jede potentielle Wundertätigkeit ausgetrieben wird.235 Man fragt sich, wie anders der Bericht ausgesehen hätte, wenn ihn nicht Wolmar, sondern Saint-Preux verantwortet hätte. Julie stirbt auf dem Gipfel eines politisch-ökonomischen Schein-Glücks und macht in der Frage „Un état permanent est-il fait pour l’homme?“ (NH, VI, XI, 726) aus dem Eherecht ein Recht zum Tode. Ihr in der Eheschließung sakralisierter Gemeinwille wird als gemeinschaftsunfähige, falsche christliche Religion denunziert, die ganz dem entspricht, wie Rousseau die „société de vrais chrétiens“ im Contrat social beschreibt: „Je dis même que cette société supposée ne seroit avec toute sa perfection ni la plus forte ni la plus durable: A force d’être parfaite, elle manqueroit de liaison; son vice destructeur seroit dans sa perfection même.“ (CS, IV, VIII, 465) Aufgrund seiner grenzenlosen Duldsamkeit und Nutzlosigkeit für das Gemeinwesen spricht Rousseau dem Christentum die Fähigkeit zu institutioneller Bindung ab. Die ihm entgegengesetzte Bürgerreligion, die vom Souverän dekretiert werden muss, ist undogmatisch, beruht auf ‚sentimens de sociabilité‘ und hat in der ‚utilité publique‘ ihre Grenze – persönliche Moral und persönliche Meinungen bleiben unangetastet. Nun bezog oder bezieht Julies allgemeiner Wille seine ganze Bindungskraft aber aus genau diesem Innern des Subjekts, das die Rousseau’sche Bürgerreligion ausschließt. Vielleicht ist dabei gar nicht so sehr die Frage entscheidend, ob der weibliche Konversionsbund der Romanfiktion den männlichen Vertragsbund des Contrat social subvertiert oder ihn in einem weiblichen Opfer ermöglicht. Vielleicht ist interessanter, dass die politische Ordnung beide Male – sei sie ‚ehelicher‘ oder ‚gesellschaftsvertraglicher‘ Natur – auf ein imaginäres Paar-Verhältnis angewiesen ist. Der Contrat social endet mit einem Appell zum Kampf gegen eine Kirche, die den Staat verhindert (und genau hier ist die Fußnote mit dem Postulat eines säkularisierten Eherechts platziert). La Nouvelle Héloïse endet mit einem Konversionsbefehl an den Gesetzgeber Wolmar, mit einem Befehl, die von ihm erlassenen Gesetze zu erneuern und im Zeichen eines ‚Suprême Être‘ neu zu lesen. Julies ‚innere‘ Religion und die ‚soziale‘ Bürgerreligion treffen sich damit im Kriterium der Intoleranz. So wie die Bürgerreligion für diejenigen bis zur Todesstrafe führen kann, die sie nicht ‚leben‘ bzw. sie nicht sichtbar machen, bezieht
235Goethes Wahlverwandtschaften zitieren im Tod Ottilies unverkennbar den Tod Julies, mit dem Unterschied, dass sie nicht in der Rolle eines profanen Christus, sondern einer profanen Gottesmutter dargestellt wird. Vgl. unten Abschn. 4.4: Die Wahlverwandtschaften. Darstellung der Herstellung einer (Ent-)Scheidung („Der Fall Ottilie: zweierlei Recht und asymmetrischer Schein“).
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Julie die Gemeinschaft in die Todesandrohung mit ein. Ihr Zugrunde gehen lässt sich als ein Auf-den-Grund-Gehen lesen, das die Hierarchie von Politik und Religion des Contrat social umdreht. Ihr natürlicher Körper stirbt, aber ihr politischer Körper (‚corps politique‘) verlangt eine neue ‚konstitutionelle‘ Verbindung, eine erneuerte Gesetzeskraft. In dieser rechtlichen Perspektive nimmt Wolmars Bericht über Julies Tod funktional den gleichen Platz ein wie das Kapitel „De la mort du corps politique“ des Contrat social. Die Menschen können zwar nicht ihr Leben verlängern, heißt es dort, aber das des Staates, dessen „constitution“ keine natürliche, sondern ein „ouvrage de l’art“ sei, schon: „il depend d’eux de prolonger celle de l’Etat aussi loin qu’il est possible“ (CS, III, XI, 424). Dementsprechend sagt Julie auf ihrem Sterbebett: „j’ai trouvé l’art d’étendre ma vie sans la prolonger“ (NH, VI, XI, 718). Die Frage ist, welche legislative Kraft dieser von ihr praktizierten ‚Extensionskunst‘ innewohnt, bzw. ob der in ihrem Eheschluss realisierte Souverän die seither mit Clarens instituierten Gesetze im Sinne von ‚actes de la volonté générale‘ bestätigen wird.236 Im Prinzip gelten Gesetze so lange, wie der Souverän nicht widerspricht. Sein Schweigen signalisiert Zustimmung: „La loi d’hier n’oblige pas aujourd’hui, mais le consentement tacite est présumé du silence, et le Souverain est censé confirmer incessamment les loix qu’il n’abroge pas, pouvant le faire.“ (CS, III, XI, 424) Je älter ein Gesetz auf diese Weise wird, desto größer seine Autorität. Julie will aber kein einzelnes Gesetz bestätigt, sondern die Gesetzeskraft neu eingesetzt, d. h. die Relation zwischen (ihrem) Gemeinwillen und (Wolmars) Gesetzgebung neu legitimiert haben. Der Romanschluss spitzt erneut den ambigen rechtlichen Status der Eheschließung zu: Sie ist einerseits ein auf Freiheit und Gleichheit des Individuums beruhendes, quasi privatrechtliches Gesetz, mit dem sich das Paar qua Naturrecht in einem defensiven ‚contrat civil‘ gegen einen übergriffigen Dritten (Kirche, König, patria potestas) zur Wehr setzt. Andererseits handelt es sich um einen offensiven, verfassungskonstitutiven Akt, mit dem der neue Staat begründet werden soll. Unabhängig davon, ob Wolmar konvertiert, ob er den Stab des Gesetzgebers an den Liebenden Saint-Preux weitergeben wird oder nicht,237 am Ende des Romans bleibt das Versprechen eines (Ehe-)Paares als Alternative zu einer ‚bloßen‘ Vertragsfiktion.
Politik und Religion der bürgerlichen Ehe Nicht nur Rousseaus Schriften, auch seine eigene ‚Ehe‘ mit der aus einfachsten Verhältnissen stammende Thérèse Levasseur befeuert die Ehe-Debatte vor, während und nach der Revolution. Nach seiner Rekonversion zum P rotestantismus
236Und auf exekutiver Ebene stellt sich die Frage, von wem Clarens in der Zukunft regiert werden wird. 237Saint-Preux rückt am Ende an die Stelle des erwarteten Freundes, Erziehers und Gesetzgebers, der die paradoxen Ehe-Gesetze weiter vollziehen soll: andere verheiraten, ohne selbst zu heiraten; einer Verfassung aus Paar-Subjekten Leben verleihen, der er selbst nicht angehört.
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1754 konnte Rousseau in Frankreich nicht öffentlich heiraten. Das Edikt von Nantes war 1685 unter Ludwig XIV. aufgehoben worden, wodurch Protestanten und Jansenisten bis zur Einführung der fakultativen Zivilehe für Nicht-Katholiken 1787 faktisch aus dem Eherecht ausgeschlossen waren. Sie mussten sich entweder von der katholischen Kirche oder heimlich von einem Pastor trauen lassen, wobei die sogenannten ‚mariages au désert‘ keinerlei Rechtswirkung hatten. Rousseau wählte weder die eine noch die andere Variante; aber offenbar heiratete er die katholische Thérèse nach 25 Jahren Dienstmädchen-, Freundschafts- und/ oder Liebesverhältnis trotzdem.238 Überliefert ist ein Zeugnis des Bürgermeisters von Bourgoin, Luc-Antoine Donin de Champagneux, nach dem er von Rousseau eingeladen worden sei, um dort am 29. August 1768 zusammen mit seinem (Champagneux’) Cousin M. de Rosière als Zeugen der Vermählung mit Thérèse beizuwohnen: Rousseau était paré plus qu’à l’ordinaire; l’ajustement de Mlle Renou [der Mädchenname von Thérèse Levasseur; Anm. D. S.] était aussi plus soigné. Il nous conduisit l’un et l’autre dans une chambre reculée, et là Rousseau nous pria d’être témoins de l’acte le plus important de sa vie; prenant ensuite la main de Mlle Renou, il parla de l’amitié qui les unissait ensemble depuis vingt-cinq ans et de la résolution où il était de rendre ces liens indissolubles par le nœud conjugal. Il demanda à Mlle Renou si elle partageait ses sentiments, et sur un oui prononcé avec le transport de la tendresse, Rousseu, tenant toujours la main de Mlle Renou dans la sienne, prononça un discours où il fit un tableau touchant des devoirs du mariage, s’arrêta sur quelques circonstances de sa vie, et mit un intérêt si ravissant à tout ce qu’il disait, que Mlle Renou, mon cousin et moi versions des torrents de larmes commandées par mille sentiments divers où sa chaude éloquence nous entraînait; puis, s’élevant jusqu’au ciel, il prit un langage si sublime qu’il nous fut impossible de le suivre; s’apercevant ensuite de la hauteur où il s’était élevé, il descendit peu à peu sur la terre, nous prit à témoin des serments qu’il faisait d’être l’époux de Mlle Renou, en nous priant de ne jamais les oublier. Il reçeut ceux de sa maîtresse; ils se serrèrent mutuellement dans leurs bras. Un silence profond succéda à cette scène si attendrissante, et j’avoue que jamais de ma vie mon âme n’a été aussi vivement et délicieusement émue que par le discours de Rousseau. Nous passâmes de cette cérémonie au banquet de noce.239
Zeitlich und inhaltlich steht diese von Rousseau in seinen autobiographischen Schriften nirgends erwähnte, private Trauzeremonie in einem direkten Zusammenhang mit der konfessionellen Ehekrise und einer Überzeugung, dass sich die Rechtspraxis verändern müsse. Rousseau hatte insbesondere – über den Discours dans la cause d’une femme protestante des Juristen Joseph-Michel-Antoine
238Um
Thérèse Levasseur ranken sich dank Rousseau selbst und verschiedener Zeitgenossen die aberwitzigsten und abgeschmacktesten Anekdoten, Gerüchte und Verleumdungen. Die PléiadeAusgabe der Confessions von 1959 vermerkt in einer Fußnote: „Il n’existe aucune biographie de Thérèse Le Vasseur.“ (Rousseau, Œuvres complètes, hg. Gagnebin/Raymond, Bd. 1, S. 1406) Und die Biographie steht immer noch aus! 239M. de Champagneux, CC, XXXVI, S. 232 f.; zit. in: Monique Cottret, Bernard Cottret, „JeanJacques Rousseau ou paradoxes à propos du mariage“, Bulletin de la Société de l’histoire du protestantisme français 158 (2012), 9–28; hier: S. 23 f.
2.3 Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschafts- und Ehevertrag
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Servan – von einer Affäre erfahren, in der der zum Katholizismus konvertierte Jacques Roux seine frühere, protestantische Frau samt Kindern ohne Entschädigung hatte sitzen lassen wollen.240 Monique und Bernard Cottret stellen Rousseaus Forderung eines Eheschließungsrechts für den Staat am Ende des Contrat social ferner in den Kontext einer gallikanischen Auffassung, derzufolge der unauflösliche Ehe-Vertrag dem Ehesakrament vorausgehe und protestantische Ehen auch nach einer Konversion zum Katholizismus ihre Gültigkeit beibehielten.241 In seinem Brief an Du Peyrou schreibt Rousseau, dass es ihm mit der Ehe nicht um die juristisch zweifelhafte Sicherung von Besitz und Eigentum gegangen sei: „S’il s’agissait de fortune et de biens qu’il fallût assurer, ce serait autre chose; mais […] chacun des deux est à l’autre, avec tout son être et son avoir, voilà tout!“242 Es wirkt, als ob hier ein Gesellschaftsvertrag im Kleinen geschlossen werden soll. Von der revolutionären und auch napoleonischen Ehegesetzgebung weicht die Zeremonie aber mindestens hinsichtlich der aus einer Eheschließung resultierenden familienrechtlichen Verpflichtungen ab; die bereits zwischen 1747 und 1751 geborenen Kinder, wie man im Fall Rousseau nur zu gut weiß, scheint dieser ‚private‘ Zivilvertrag nicht einzuschließen. Nichtsdestotrotz machen Monique und Bernard Cottret Rousseaus Ehe zur ersten Ziviltrauung Frank reichs. Rousseau habe sich aufgrund des Haftbefehls gegen ihn nicht publizistisch in die Eherechtsdebatte einmischen können und stattdessen den Weg gewählt, mit der klandestinen Ehe ‚ein republikanisches Exemplum‘ zu schaffen.243 Dieser Versuch einer späten politischen Weihe des reziproken Treueversprechens mutet angesichts der propagandistischen Ausschlachtung von ‚Rousseaus Ehe‘ bereits zu Revolutionszeiten fast grotesk an. Im Oktober 1794 bot man im Pariser „Théâtre de l’Égalité“ zur Feier des ‚Bürgers von Genf‘ ein musikalisch gerahmtes Schauspiel mit dem Titel „Mariage de Rousseau“, das die – 1792 erstmals eingeführte, aber noch wenig erfolgreiche – Ziviltrauung am Beispiel von Jean-Jacques und Thérèse „en plein champ“ feierte.244 Portalis, führender Kopf in der Ausarbeitung des Code civil, rekurriert zur Sicherung der obligatorischen Ziviltrauung (mit Verbot kirchlicher Voraustrauung) auf Rousseaus Gesetzesbegriff: „la loi est
240Vgl.
hierzu Cottret, Cottret, „Rousseau ou paradoxes à propos du mariage“, S. 22, und Giovanni Incorvati, „Ni Rome ancienne, ni Rome moderne. Thérèse et Jean-Jacques, ou le Code civil“, in: Théry, Biet (Hg.), La Famille, la Loi, l’État de la Révolution au Code civil, S. 29–44; hier: S. 30. 241Die sog. regalistischen, gallikanischen Theorien weichen vom kanonischen Eheschließungsrecht ab, nach dem die Andersgläubigkeit des Ehepartners ein trennendes Ehehindernis darstellte. Mit der Trennung von Vertrag und Sakrament bzw. der Auffassung einer Vorgängigkeit des Vertrags arbeiteten sie der Einführung der Zivilehe entgegen. Vgl. hierzu Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. 93–137. 242Rousseau à Du Peyrou, 26 septembre 1768 (CC, 36, p. 122); zit. in: Incorvati, „Ni Rome ancienne, ni Rome moderne“, S. 30. 243Vgl. Cottret, Cottret, „Rousseau ou paradoxes à propos du mariage“, S. 23. 244Vgl. Incorvati, „Ni Rome ancienne, ni Rome moderne“, S. 29 f. Text und Musik des Stücks sind offenbar verloren.
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2 Ehe um 1800 – Zwischen Vertrag und Sakrament
définie par la constitution, un acte de la volonté générale“245 und begründet die Eheschließung – mit Napoleon – als eines der „sacrements civils“.246 Thérèse Levasseur jedenfalls hat es in der Geschichte, wenn schon nicht bis zur ‚épouse‘ oder Madame Rousseau, so doch zur ‚veuve de Rousseau‘ gebracht. Wem dies und die damit verbundene Rente, die ihr die Assemblée nationale ab 1790 gewährte, letztlich zu verdanken ist – einem ‚Gatten‘ Rousseau, der Revolution oder Thérèse’ Geschicklichkeit –, das mag am Ende dahingestellt bleiben. Entscheidend für den weiteren Zusammenhang ist, dass Rousseau mit dem Paar als Gründungsfigur der Gemeinschaft eine – nicht nur literarisch – offene Frage hinterlassen hat.
245Portalis, „Rapports sur les articles organiques de la convention passée à Paris le 26 messidor an XI entre le gouvernement français et le pape“ (1801); zit. in: Incorvati, „Ni Rome ancienne, ni Rome moderne“, S. 32. 246Vgl. Conrad, „Die Grundlegung der modernen Zivilehe durch die französische Revolution“, S. 359.
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Manzoni – Recht und Roman
„We, in Italy, are not so apt to despair,“ replied the Italian smilingly.*
3.1 Poetik des Paares Anders als in Rousseaus Nouvelle Héloïse steht in Manzonis Roman die Ehe schließung nicht in der Mitte, sondern am Ende des Romans. I promessi sposi sind Manzonis einziger Roman, ein Roman-Projekt, muss man sagen, das in drei Fassungen (1823, 1827, 1840) überliefert ist, das sich also über fast zwanzig Jahre erstreckt und das untrennbar mit dem Projekt einer poetologischen Rechtfertigung des Romans verbunden ist. Die Figur der Eheschließung steht dabei, das ist vorauszuschicken, nicht oder wenn doch, dann allenfalls sekundär im Dienst einer eherechtspolitischen Parteinahme. Manzoni hat sich an der Debatte über die Einführung der Zivilehe nicht beteiligt; in seiner Verteidigung der katholischen Moral, den Osservazioni sulla morale cattolica, ist von der Ehe auffallend gar nicht die Rede. In der doppelten Heirat seiner Frau Enrichetta Blondel – 1808 zivilrechtlich-calvinistisch in Mailand und zwei Jahre später, 1810, kanonisch-kirchlich in Paris – drückt sich allerdings eine politische Relevanz des Themas aus, die der Roman mit dem Eheschließungsnarrativ figuralisiert. In dem um 1630 spielenden Roman bildet das damals quasi neu erlassene, tridentinisch-kanonische Eherecht gewissermaßen den Ausgangspunkt. Es firmiert, korrumpiert von denjenigen, die es anwenden sollten, als rechtlicher
*Ann Radcliffe, The Italian or the Confessional of the Black Penitents, London: Oxford University Press 1968, S. 3. © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0_3
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3 Manzoni – Recht und Roman
Rahmen des Romans.1 Renzo und Lucia wollen heiraten, doch der örtliche Feudalherr Don Rodrigo weiß dies zu verhindern, indem er den Dorfpfarrer Don Abbondio bedrohen lässt. Der Roman lässt sich insgesamt grob einteilen in einen ersten Teil, in dem das Paar noch zusammen ist, bis zur Flucht aus dem Dorf (Kap. I bis VIII), den daran anschließenden Weg Renzos, der ihn von Monza nach Mailand und über die Adda nach Bergamo führt (Kap. XI bis XVII und Kap. XXVII), einen dritten Teil, der Lucias Entführung und ihre Befreiung schildert (Kap. XX bis XXVII), sowie einen letzten Abschnitt (ab Kap. XXVIII) mit der Zusammenführung der Getrennten in Mailand. Vom Stiefsohn Stefano Stampa ist die berühmte Äußerung Manzonis überliefert, nach der die in Ripamontis Historia patriae (der wichtigsten historischen Quelle des Romans) zitierten Gesetzeserlasse gegen verhinderte Ehen ihm die Idee für seinen Roman geliefert hätten.2 Renzo lässt sich vom korrupten Rechtsanwalt Azzecca-garbugli einen dieser Erlasse vorlesen und leitet daraus ab, dass Don Abbondio die Trauung nicht verweigern hätte dürfen – was ihn aber seinem Ziel, Lucia zu heiraten, bekanntlich keinen Schritt näherbringt. Don Abbondios erste Ausrede, um die Trauung nicht vornehmen zu müssen, besteht darin, Renzo in lateinischen Hexametern kanonische Ehehindernisse aufzulisten und ihm auf diese Weise ‚formale‘ Hindernisse vorzugaukeln: „‚Sapete voi quante e quante formalità ci vogliono per fare un matrimonio in regola?‘“ (PS, II, 28)3 Nachdem Renzo bei Azzecca-garbugli – trotz passender Verordnungen (Grida) – auf taube Ohren stößt und auch Padre Cristoforo darin scheitert, Don Rodrigo von seinem Begehren abzubringen, hat Agnese die Idee der Überraschungshochzeit, bei der eine Rechtslücke der tridentinischen Formvorschriften zur Eheschließung genutzt werden soll. Das Dekret „Tametsi“ legt zwar juristisch ein Eheschließungsformular fest, da aber dogmatisch die Nupturienten es selbst sind, die sich gegenseitig das Sakrament spenden, und der Priester nur als Notar fungiert, ergibt sich die Möglichkeit einer Überrumpelung Don Abbondios. Aber auch sie scheitert, und damit verzeitlicht sich eine mit der Verlobung schon begonnene Eheschließung ins Unabsehbare, bis zum Ende des Romans, wo auch der juristischkanonische Eheschluss nur noch als lapidarer Nachtrag zum eigentlichen Höhepunkt
1Zu
diesem eherechtlichen Rahmen des Textes vgl. ausführlicher Vf., „Europäische Eherechtsfiktionen. Manzonis Promessi Sposi und Goethes Hermann und Dorothea“, in: Angela Oster, Francesca Broggi, Barbara Vinken (Hg.), Manzonis Europa – Europas Manzoni. L’Europa di Manzoni – Il Manzoni dell’Europa, München: Utz 2017, S. 329–368. 2Vgl. die „Note“ zu Fermo e Lucia, in Alessandro Manzoni, Fermo e Lucia, hg. Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti, Mailand: Mondadori 1964, S. 754. 3„‚Weißt du, wie viele Formalitäten zu erledigen sind, um eine Trauung ordentlich zu vollziehen?‘“ (S. 40). I promessi sposi werden, wenn nicht anders angegeben, nach der von Chiari und Ghisalberti besorgten Mondadori-Werkausgabe zitiert: Alessandro Manzoni, Tutte le opere, Bd. II/1: I Promessi Sposi. Testo definitivo del 1840 und Bd. II/3: Fermo e Lucia, hg. Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti, Mailand: Mondadori 1963 und 1964. Dabei werden folgende Siglen benutzt: PS = I promessi sposi (1840); FL = Fermo e Lucia (1823); CI = Storia della Colonna Infame (1840). Die deutschen Übersetzungen der Promessi sposi folgen der Ausgabe: Alessandro Manzoni, Die Brautleute. I Promessi Sposi, übers. Burkhart Kroeber, München: Deutscher Taschenbuch Verlag 32003 (2000). Zitate aus Fermo e Lucia sind von mir übersetzt.
3.1 Poetik des Paares
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der romanhaften (Wieder-)Vereinung des Paares im Pestlazarett geschildert wird: „Venne la dispensa, venne l’assolutoria, venne quel benedetto giorno: i due promessi andarono, con sicurezza trionfale, proprio a quella chiesa, dove, proprio per bocca di don Abbondio, furono sposi.“ (PS, XXXVIII, 667)4 Wenn Renzo und Lucia am Ende „proprio per bocca di don Abbondio“ – und nicht durch einen ehekonstitutiven Paar-Konsens – verheiratet werden, fragt sich natürlich, was für ein Recht die Eheschließung eigentlich begründen soll. Als unwahrscheinliches und märchenhaftes Happyend wird diese Eheschließung in der Sposi-Kritik denn auch immer wieder angeführt, um Manzonis‚christlichen Roman‘ als Anachronismus und, romantheoretisch gesehen, unmodernen und unrealistischen Roman auszuweisen.5 In der folgenden Lektüre geht es mir darum, gegen einen solchen ästhetischen Vorbehalt zu argumentieren und eine spezifische Modernität, die ich im Begriff einer Poetik des Paares zu fassen versuche, herauszustellen. In der Anachronismus-These spielen vor allem zwei Einwände eine Rolle, wobei der Roman einmal als Liebesroman, das andere Mal als (psychologischer) Entwicklungs- oder Bildungsroman kritisiert wird. Zum einen sei die ‚Liebesgeschichte‘ zwischen Renzo und Lucia nur Vorwand für die Darstellung eines primär geschichtsphilosophischen bzw. -theologischen Konflikts, der um die Geschichte (statt um den ‚echten‘ Roman) kreise. Thema des Romans wäre dann nicht Liebe als Passion, als eine Affekt-Problematik, sondern eine moderne Rationalität, die in den Begriffen von ‚Providenz‘ und ‚Kontingenz‘, ‚Recht‘ und ‚Unrecht‘, ‚Macht‘ und ‚Sprache‘ problematisiert wird. Das Argument wird in der Regel textgenetisch, d. h. mit der radikalen Kürzung der Gertrude-Episode in der Endfassung des Romans belegt. Was mit Gertrudes Geschichte ebenfalls wegfällt, ist eine poetologische Digression, in der der Erzähler mit einer fiktiven Figur gegen die literarische Darstellung von leidenschaftlichen Liebeshandlungen argumentiert. Dieser vermeintliche Ausschluss, auf den ich in der Gegenüberstellung der Figuren Gertrudes und Lucias näher eingehen werde,6 hat dazu geführt, dass man I promessi sposi immer wieder als einen ‚Liebesroman ohne Liebe‘ („romanzo senz’amore“) bezeichnet hat.7 Aufgrund seiner christlich-katholischen Überzeugung hätte Manzoni die
4„Es kam der Dispens, es kam der Freispruch, und es kam der gesegnete Tag: Die Brautleute gingen mit triumphierender Unbeschwertheit in keine andere als ihre Kirche, wo sie von keinem anderen als Don Abbondio getraut wurden.“ (S. 846). 5Vgl. stellvertretend Frank-Rutger Hausmann, „Alessandro Manzonis Die Verlobten (1840), ein ‚christlicher Roman‘ des 19. Jahrhunderts“, in: Helmut Siepmann (Hg.), Von Augustinus bis Heinrich Mann: Meisterwerke der Weltliteratur, Bonn: Romanistischer Verlag 1989, S. 39–56; Joachim Küpper, „Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie. Manzonis Antwort auf den historischen Roman (I Promessi Sposi)“, Poetica 26 (1994), 121–152. 6Siehe Abschn. 3.3: „Lucia im Prozess der Sakralisierung“. 7Vgl. z.B. Giovanni Macchia, Manzoni e la via del romanzo, Milano: Adelphi 1994, S. 78: „Si ripete spesso, con una frase che è divenuta un luogo commune, che I Promessi Sposi sono un romanzo senz’amore.“
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3 Manzoni – Recht und Roman
arstellung von erotischer, körperlich-leidenschaftlicher Liebe zugunsten christD licher caritas einer Selbstzensur unterzogen.8 Aber ebenso wie eine nicht buchstäbliche Darstellung von Liebesleidenschaft nicht automatisch mit deren Zensur einhergehen muss, können Texte ja auch durchaus Anderes als ihre Autoren behaupten.9 So möchte ich gegen die Behauptung einer Zensur die Hypothese verfolgen, nach der die ‚Liebe‘ eine zentrale epistemische Funktion für den Roman hat. Liebe bliebe demnach das Andere, das der Roman supplementiert. Dies gälte dann auch nicht erst für die Endfassung des Romans, wie suggeriert wird, wenn man sagt, dass die frühe Fassung noch ein Liebesroman gewesen sei, die spätere aber nicht mehr, sondern auch schon für Fermo e Lucia.10 Der Text verdammt an keiner Stelle explizit die Liebespassion, er setzt sie voraus und verschiebt ihre Bedeutung zur Figur einer Ehe hin, die als ein Recht der Gemeinschaft zu verstehen wäre.11 Denn indem Machtbeziehungen am Beispiel des Paares verhandelt werden, geht es immer auch um die Bedingung und Möglichkeit einer ‚gerechten‘ Beziehungs haftigkeit. In diesem Sinne wäre eher von einer Dekonstruktion des Liebesromans als von dessen Ausschluss oder Zensur zu sprechen.12 Auch Fabio Danelon kommt zu dem Ergebnis, dass die Promessi sposi sich dem in der europäischen Literatur seiner Zeit dominierenden modernen,
8Die
Nicht-Darstellung der Liebespassion hat zahlreiche Parodien des Romans befördert. Vgl. Luciano Parisi, „Alessandro Manzoni’s I Promessi Sposi: A Chaste Novel and an Erotic Palimpsest“, Modern Language Review 103 (2008), 424–437. Erwähnt werden: Guido da Verona, I promessi sposi (1930), Piero Chiara, I promessi sposi (1970), Mario Soldati, La confessione (1955), Alberto Moravia, Gli Indifferenti (1929) und Sebastiano Vassalli, La chimera (1990). 9Die Frage der Selbstzensur betrifft im Wesentlichen auch die Frage nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten zwischen den drei Romanfassungen. Erst der Übergang von Fermo e Lucia zu den Promessi sposi offenbart die Figuralisierung der Liebe als einen ‚Hauptgenerator‘ des Textes. Zur Tendenz, in Manzonis Roman drei autonome Texte zu unterscheiden, vgl. insb. die Edition: Alessandro Manzoni, I romanzi, hg. Salvatore S. Nigro und Ermanno Paccagnini, Mailand: Mondadori 2002 (Bd. 1: Fermo e Lucia [mit einer exzellenten Kommentierung]; Bd. 2.1: I promessi sposi (1827); Bd. 2.2: I promessi sposi (1840) [mit den Illustrationen von Francesco Gonin]). 10In aller Schärfe spricht Paolo Valesio den Promessi sposi ab, sich der Herausforderung erotischer Liebe gestellt zu haben, und ideologisch wirkmächtig hätten sie darin alle andere italienische Narrativik des 19. Jahrhunderts zu Unrecht in den Schatten gestellt (Paolo Valesio, „Lucia, ovvero la ‚reticentia‘“, in: Giovanni Manetti (Hg.), Leggere I promessi sposi, Mailand: Bompiani 1989, S. 145–175). 11Vgl. in geistesgeschichtlicher Perspektive zu dieser These auch Giorgio Melloni, „Il matrimonio come luogo della giustizia: un accostamento di Manzoni e Proudhon“, Italica 84 (2007), S. 534–547. 12Zum Ausfall einer Ideologisierung der bürgerlich-patriarchalen Liebesehe am Beispiel des chiastischen Verhältnisses von Gertrude und Lucia vgl. Barbara Vinken, „Nuovo romanzo – Sponsa und sponsina: Manzonis zwei Bräute“, in: Dies., Susanna Elm (Hg.), Braut Christi. Familienformen in Europa, Paderborn: Fink 2016, S. 113–133.
3.1 Poetik des Paares
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individualistischen Mythos der romantischen Liebesehe widersetzen.13 Er erkennt in der Ehe ein „tema sotterraneamente cruciale del romanzo“,14 vermutet dessen tiefere Bedeutung aber vor allem in einem verborgenen biographischen Narrativ. Ich würde dagegen sagen, dass das Konzept der romantischen Liebesehe universalisiert und auf die Gemeinschaft übertragen wird.15 Man könnte mit Luhmann sagen, dass der Roman die romantische Liebe als Kommunikationsmedium voraussetzt, um sie in einem paradoxen Romanunternehmen zur Funktion einer fiktiven Totalität zu machen.16 Der zweite Einwand der AnachronismusThese betrifft die Frage, ob und inwieweit man bei Manzonis Roman von einem Bildungs- oder Entwicklungsroman sprechen kann. Die Figurenpsychologie der Promessi sposi ist immer wieder Zielscheibe der Kritik geworden, wobei die Meinungen darüber auseinandergehen, ob die Figuren überhaupt so etwas wie eine authentische Entwicklung durchmachen (und wenn ja, welche) oder ob es sich nicht doch nur um statische und künstlich-paternal erzeugte Erzählermarionetten handelt. Das liegt daran, dass das Grundkonzept des Bildungsromans dem Roman fremd ist und dass ‚Entwicklung‘ im Roman nie anders denn als Konversion gedacht ist.17 Wenn es trotzdem auf den Roman angewendet wird, dann meist auf Renzo, der auf der letzten Romanseite in einer verstörenden Ironie auflistet, was er alles aus seiner Geschichte ‚gelernt‘ hat.18 Lucia scheint dagegen von Anfang an aus einem ‚Bildungs- oder Lernprozess‘ ausgenommen. Und im Blick auf die Nebenfiguren, die grosso modo als ‚gut‘ oder ‚schlecht‘ qualifiziert werden können, drängt sich das Konzept der Konversion geradezu auf: Padre Cristoforo hat sie hinter sich, Gertrude vor sich und die spektakuläre des Innominato wird in
13Fabio
Danelon, Né domani, né mai. Rappresentazioni del matrimonio nella letteratura italiana, Venedig: Marsilio 2004 (zu Manzoni: S. 159–220). – Er zeichnet nach, wie Ehe und Liebe (amour-passion) im Roman streng getrennt gehalten werden, und weist darauf hin, dass damit auch die Darstellung eines (intimen) Ehelebens ausfällt. In der weitgehend motivischen Analyse zeigt er, wie fast alle im Roman vorkommenden Ehe- (oder Quasi-Ehe-)paare – von Don Abbondio und Perpetua bis zu Tonio und Tecla – als scheiternde oder als gescheiterte beschrieben werden. 14Ebd., S. 219. 15Vgl. auch Gianfranco Folena, der schreibt: „L’amore dei Promessi è un sentimento globale, del quale non si può fare un’analisi: è indicibile e non si può neppur nominare.“ (in: „Manzoni ‚libertino‘ e i romanzi d’amore“, in: Ders., Angela N. Bonanni, Francesco d’Episcopo, Salvatore S. Nigro, Manzoni e oltre, Neapel: Edizioni Scientifiche Italiane 1987, S. 11–50; hier: S. 15). Folena berichtet von den (trotz Zensur) überlieferten Spuren früher Liebesdichtung und -affären, insb. von den satirischen Sermoni und einem frühen Brief an den Freund Giovan Battista Pagani. 16Niklas Luhmann, Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994 (1982). 17Manzoni steht hier ganz in französisch-moralistischer Tradition, die mit einem substantialistischen Individualitätskonzept kollidiert. Vgl. Rainer Warning, „‚Éducation‘ und ‚Bildung‘. Zum Ausfall des Bildungsromans in Frankreich“, in: Jürgen Fohrmann (Hg.), Lebensläufe um 1800, Tübingen: Niemeyer 1998, S. 121–140. 18Vgl. hierzu insb. Guido Baldi, L’Eden e la storia. Lettura dei Promessi sposi, Mailand: Mursia 2004.
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actu geschildert. Während aber die plakativen Konversionen des Romans – diejenige Padre Cristoforos und des Innominato – wesentlich auf Schuld beruhen, auf einer (paulinischen) Wandlung vom Täter zum Wiedergutmacher, bleibt die Frage der Konversion in Bezug auf die Hauptpersonen Renzo und Lucia eine kryptischere Angelegenheit. Dass der Roman auch auf sie das Konzept der Konversion anwendet, mit dem die Liebespassion gerechtfertigt werden soll, ist eine Grundannahme, die das vorliegende Kapitel strukturiert. Mit dem liebenden Protagonisten-Paar machen I promessi sposi ein quasi christologischeres Konversionsmodell, das nicht auf Schuld, sondern auf liebender Selbsthingabe beruht, romanpoetologisch produktiv.19 Dabei soll deutlich werden, dass nicht nur der Erzähler ein gespaltener ist, sondern dass er seine Spaltung gewissermaßen auf das Paar überträgt. Einerseits gibt es, wie man weiß, die Spaltung der Erzählinstanz in einen ‚Anonymus‘, den fiktiven Geschichtsschreiber, der die ‚wahre‘ Geschichte im 17. Jahrhundert aufgeschrieben hat, und einen Erzähler, der die ‚schöne Geschichte‘ für den modernen Leser (vermeintlich nur sprachlich) neu einrichtet. Vor dem Hintergrund des modernen Entwicklungs- oder auch Liebesromans mutet natürlich auch diese Herausgeberfiktion anachronistisch an. Aber sie erlaubt ein multiperspektivisches Erzählen, eine Distanzierung und Reflexivierung der Fiktion. Dabei geht es nicht um eine prinzipielle Offenheit der Fiktion oder um die Stimmigkeit seines Kontextes, sondern um die Konkurrenz, genauer um die romanhafte Equilibrierung von zwei verschiedenen Fiktionsbegriffen. So kann man sagen, dass der Erzähler poetologisch und entsprechend seinem PaarProtagonisten in eine ‚männliche‘ und eine ‚weibliche‘ Poetik gespalten ist, die in einem metaphorischen Recht der Ehefiktion kulminiert.20 In diesem Sinne ist der
19In
den Osservazioni sulla morale cattolica gibt es ein eigenes Kapitel „Sul ritardo della conversione“ (OMC, IX, S. 102–119), in dem Manzoni den Vorwurf Sismondis aufgreift, demzufolge die Möglichkeit der Generalbeichte vor dem Tod nur den Sittenverfall befördere. Der Text wird im Folgenden mit der Sigle OMC, Kapitel- und Seitenangabe zit. nach: Manzoni, Osservazioni sulla morale cattolica, in: Tutte le opere di Alessandro Manzoni, hg. Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti, Bd. III, Mailand: Mondadori 1963, S. 1–250. Übersetzungen nach: Betrachtungen über die katholische Moral, in: Die Werke von Alessandro Manzoni, hg. Hermann Bahr und Ernst Kamnitzer, übers. Franz Arens, Bd. 6, München: Theatiner-Verlag 1923. 20Einen grundlegenden Hinweis auf die generische Spaltung gibt es bei Fredric Jameson, „Magical Narratives: Romance as Genre“, New Literary History 7 (1975), S. 135–163; hier: S. 151 f., allerdings verfolgt er die (A-)Symmetrie von Gattung und Geschlecht nicht weiter: „In I Promessi Sposi, for instance, it becomes clear that the separation of the lovers provides Manzoni with two distinct and alternating story lines which in fact constitute two very different types of narrative: on the one hand, the plight of Lucia gives him the material for a Gothic novel, in which the victim eludes one trap only to fall into a more agonizing one, confronting villains of ever blacker nature. In this half of his plot, then, Manzoni has at his disposal a modal instrument for developing his vision of evil and redemption, and conveying narrative messages about the inward life and the fate of the soul. Meanwhile Renzo wanders through the grosse Welt of history and of the displacement of vast armed populations, the realm of the destiny of peoples and the vicissitudes of their governments. […] It is the presence, and systematic interweaving, then, of these two quite different generic modes of narrative which lends Menzoni’s book an appearance of breadth and variety scarcely equaled elsewhere in world literature.“
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Weg zur Eheschließung – ähnlich wie bei Rousseau – der Weg einer Konversion, allerdings einer doppelten Konversion, die Bräutigam und Braut gleichermaßen betrifft. Diese bislang nicht systematisch verfolgte Differenz soll in der folgenden Lektüre im Vordergrund stehen, wobei es mir insbesondere auf die fiktionale Produktivität einer solchen Paar-Poetik ankommt. In der Tatsache, dass der Roman damit eine gerechtere Welt als die faktische Wirklichkeit postuliert, liegt das Moment einer Uneingestehbarkeit. An erster Stelle ist hier Manzoni als Autor zu nennen, der seinem Text den Status des Romans abspricht. Nur im allerersten Vorwort zu Fermo e Lucia gesteht der Erzähler „di aver fatto un romanzo, genere proscritto nella letteratura moderna“;21 in den nachfolgenden Vorworten wird dieser Umstand geleugnet. Dieses Gattungsverbot bezieht sich nicht nur auf die Wahl der Romanform, wie Daniela Brogi gezeigt hat,22 sondern auch auf die Art der Gattung, die Art des Geschlechts, die diese Form zur Darstellung bringt. Manzoni war in Bezug auf seinen Roman als neue „forma dell’arte“23 selbst vermutlich sein strengster Leser. Sein parallel zur Romanüberarbeitung entstandener Traktat Del romanzo storico arbeitet sich umfassend an der Dekonstruktion des Gegensatzes zwischen ‚storia‘ und ‚invenzione‘ ab.24 In seinem ersten – systematischen – Teil geht es um die logische Widerlegung der theoretischen Möglichkeit einer Gattung, die historische Wahrheit und poetische Erfindung vermischen möchte. Vor allem ab dem Punkt, wo das problematische Verhältnis von faktischem Realitätsgehalt und Wahrscheinlichkeit auf die Domäne der Historiographie ausgeweitet wird, liest sich der Text so, als würde er die These Hayden Whites vorwegnehmen, nach der alle Geschichtsschreibung notwendig Fiktionen produziert. Im zweiten, literatur- und gattungsgeschichtlichen Teil seiner Abhandlung wird deutlich, dass Manzoni den historischen Roman entschieden von einem staatsbegründenden und staatstragenden Epos her und mit Rüdiger Campe könnte man sagen: als
21Alessandro
Manzoni, „Introduzione (Prima stesura)“, in: Ders., Fermo e Lucia, hg. Nigro/ Paccagnini, S. 5. 22Daniela Brogi, Il genere proscritto. Manzoni e la scelta del romanzo, Pisa: Giardini Editori e Stampatori 2005. 23Alessandro Manzoni, Del romanzo storico e, in genere, de’ componimenti misti di storia e d’invenzione, in: Ders., Tutte le opere, Bd. V/III: Scritti letterari, hg. Carla Riccardi und Biancamaria Travi, Mailand: Mondadori 1991, S. 287–366; hier: S. 366. 24Der Text soll als Replik auf Adolf Streckfuss’ S posi-Rezension in Kunst und Alterthum, welche Manzoni irrtümlich Goethe zuschrieb, entstanden und ursprünglich als offener Brief an Goethe konzipiert worden sein. Allerdings dürften auch andere Textreaktionen, diejenige Tommaseos eingeschlossen, eine Rolle gespielt haben. Seine Entstehung geht auf die Jahre 1827/1828 zurück; fertig gestellt in den Jahren 1849/1850, erscheint die Abhandlung erstmals 1850 in den Opere varie. Vgl. die „Nota al testo“ von Silvia de Laude in: Alessandro Manzoni, Del romanzo storico e, in genere, de’ componimenti misti di storia e d’invenzione, hg. Giancarlo Vigorelli (= Bd. 14 der Edizione Nazionale ed Europea delle Opere di Alessandro Manzoni), Mailand: Centro Nazionale Studi Manzoniani 2000, S. 87–107.
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Institutionenroman der Ehe zu denken versucht.25 Homers Epen waren noch Geschichte, argumentiert Manzoni mit Vico. Und in Vergil ereignet sich das Unmögliche und Einzigartige noch einmal: Das dichterisch Wahrscheinliche entfaltet sich ohne Kollision mit dem Historisch-Faktischen. Die Aeneis schildert „la fondazione e il progresso della città“26 und Vergil versteht es, seinen Gegenstand – „Roma, il soggetto, direi quasi, ulteriore del poema“27 – aus der Vergangenheit in die Gegenwart zu holen. Für die Neuzeit konstatiert Manzoni ganz hegelianisch eine Verwissenschaftlichung und Prosaisierung der Zustände. Der Dichter muss sein Gründungsereignis, ‚Rom‘, als ‚Roman‘ erfinden, weil es ihm entzogen ist. So heißt es apodiktisch am Ende des Traktats: „[I]l romanzo storico non prende il soggetto principale dalla storia, per trasformarlo con un intento poetico, ma l’inventa, come il componimento dal quale a preso il nome, e del quale è una nova forma.“28 Was die Erfindung des Gründungsereignisses angeht – in den Promessi sposi steht bekanntlich keine Stadt, kein Reich, keine Nation im Zentrum, sondern einfache Leute aus einem anonymen Dorf, ‚gente di nessuno‘, die heiraten wollen –, erstaunt umso mehr, dass Manzoni in Del romanzo storico die Tradition des Liebesromans komplett unerwähnt lässt.29 An keiner Stelle fällt etwa der Name Pierre-Daniel Huets, der den Roman in seiner Lettre-traité sur l’origine des romans (1669) vom antik-orientalischen Liebesroman ausgehend als nützliches Vergnügen salviert. Nur weil sie eben auch historisch sind, tauchen lediglich an einer Stelle die „romanzi storico-eroico-erotici (non saprei come chiamarli con un nome solo)“30 einer Mademoiselle de Scudéry auf. Der Roman ist eine Gattung, für die dem Autor der Name fehlt und die neu ‚erfunden‘ werden muss. Als historischer Roman bleibt die ‚Gattung‘ notwendig eine Form
25Vgl.
Rüdiger Campe, „Kafkas Institutionenroman. Der Prozess, Das Schloss“, in: Ders., Michael Niehaus (Hg.), Gesetz, Ironie, Heidelberg: Synchron Verlag 2004, S. 197–208. – Campe schlägt den Begriff als Alternative für den unglücklichen Begriff ‚Bildungsroman‘ vor, der auch für Renzo immer wieder – in einer negativen Variante! – ins Feld geführt wird. Seine Anwendung auf Manzoni mit der These einer Instituierung der Ehe und des Romans impliziert eine Verdoppelung: Die Institution wird hier nicht vom Subjekt, sondern vom Paar her gedacht. 26Manzoni, Del romanzo storico, S. 321. 27Ebd., S. 325. („Rom, sozusagen der entferntere Gegenstand der Dichtung“.) Die deutsche Übersetzung beruht auf der Ausgabe: Alessandro Manzoni, „Über den historischen Roman und im Besonderen: über die Zusammenkomposition von Geschichte und freier Erfindung“, in: Die Werke von Alessandro Manzoni, hg. Hermann Bahr und Ernst Kamnitzer, übers. Franz Arens, Bd. 5 (= Schriften zur Philosophie und Ästhetik), München: Theatiner-Verlag 1923, S. 345–449; hier: S. 393. 28Ebd., S. 363. „[D]er historische Roman [entnimmt] nicht seinen Hauptgegenstand der Geschichte […], um ihn in poetischer Absicht umzugestalten, sondern er erfindet ihn, ebenso wie die Kompositionsweise, deren Namen er trägt und von der er eine neue Gestalt ist“ (Übers. Arens, S. 445). 29Zur Dorfliteratur vgl. nun: Marcus Twellmann, Dorfgeschichten. Wie die Welt zur Literatur kommt. Göttingen: Wallstein 2019. 30Ebd., S. 309. „[D]ie historisch-heroisch-erotischen Romane (ich wüßte nicht, wie sie in einem Wort benennen)“ (Übers. Arens, S. 372).
3.1 Poetik des Paares
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der Mischung, ein „componimento“, und als solche bleibt sie – wie die Liebespassion – ein Supplement. Die ‚gemeine Prosa‘ („vile prosa“31) der Promessi sposi erfindet das niedrige Heldenpaar, die ‚villani‘ Renzo und Lucia, die die Geschichte in der Figur der Ehe zusammenhalten und als ‚werdende‘ Gemeinschaft zukunftsfähig machen soll. Manzonis Rechtfertigung des (historischen) Romans bleibt aufgrund des Coups der inventio wesentlich eine Anklage. Der poetische Anbeginn des Romans wird zugleich als Anfang seines Endes in den Blick genommen. Auf der letzten Seite des Traktats wird der historische Roman mit einem Kind verglichen, das die Keime tödlicher Krankheit in sich trägt, und auf den eigenen Text wird als ein „fare il processo al romanzo storico“32 zurückgeblickt. Das verbindet Del romanzo storico mit jenem anderen Ende der Promessi sposi, der Storia della Colonna Infame, die Manzoni zur gleichen Zeit überarbeitet und die den Richtern eines historischen Prozesses den Prozess macht. Mit der Geschichte der Salbenschmierer, die 1630 in Mailand für die Verbreitung der Pest grausam hingerichtet werden, und mit der Geschichte Gertrudes, die zu einem Klostereintritt mit fatalen Folgen gezwungen wird, sind zwei historische Justizfälle in den Roman eingearbeitet. Für die Rechtfertigung von Renzos und Lucias ‚ehelich‘-gesetzlicher Gemeinschaft nehmen diese beiden Rechtsfälle eine zentrale Position ein. Weil sie die Rechtfertigung des Subjekts in negativer Weise, d. h. in fragwürdigen Gerichtssituationen spiegeln, beginnt die Lektüre in den Abschn. 2.2 und 2.3 mit einer Analyse, wie diese Fälle bzw. Prozesse im Roman dargestellt und fiktionalisiert werden. Die idealen, fiktiven Protagonisten Renzo und Lucia entstehen aus dem Schatten der verurteilten Pestschmierer und der angeklagten Nonne. Interessanterweise verarbeitet Manzoni die beiden historischen Fälle auf völlig verschiedene Weise. Während er im Prozess der untori die Opfer-Täter-Rollen vertauscht und in den Richtern die ‚wahren‘ Täter findet, die ihren Affekten erlegen seien, wird Gertrudes Fall in eine rechtliche Unentscheidbarkeit gebracht. Ihr Liebesaffekt, der sie rebellieren lässt und ins Verbrechen stürzt, bleibt ambivalent. Manzoni stellt damit in beiden Fällen eine Passionalität der Akteure ins Zentrum einer moralischen Investigation, die er im einen Fall kompromisslos verurteilt, im anderen Fall aber hochgradig ambiguisiert. Darüber hinaus haben die Falldarstellungen, wie auch zu zeigen sein wird, einen geradezu konträren Status für die Romanfiktion. Die Storia della Colonna Infame markiert mit dem Gerichtsurteil des Schriftstellers, der über die Richter urteilt, gewissermaßen den äußeren Rand des Romans. Manzoni lagert sie aus dem Roman aus, obwohl sie untrennbar mit ihm verbunden bleiben soll. Die Geschichte Gertrudes und ihr ambiguisierter Liebesaffekt stellen dagegen eine Art innere Grenze dar, die sich trotz quantitativ-inhaltlicher Kürzungen nicht aus dem Roman ‚auslagern‘ lässt. Insofern kann man sagen, dass juristisches Urteilen und ästhetisches Urteilen in den historischen Fällen polarisiert, in den fiktiven Romanprotagonisten aber in ein symmetrisches Gleichgewicht gebracht wird. Denn an
31Ebd., 32Ebd.,
S. 347. S. 366.
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der ‚Wende‘ eines zweideutigen Affekts zu einer positiven Handlungsmacht hin entscheidet sich im Fall beider Romanprotagonisten das Recht, den Anderen ‚als Mann‘ oder ‚als Frau‘ besitzen zu dürfen. Ihr Liebesaffekt wird dabei in einer je getrennten Weltbegegnung – statt in intimer Liebeskommunikation – ambiguisiert, um am Ende in der metaphorischen Eheschließung fiktiv, romanhaft gerechtfertigt zu werden. Im Nachvollzug von Renzos und Lucias Weg soll deutlich werden, wie der Erzähler den männlichen Liebesaffekt profaniert und ‚unschädlich‘ macht, während Lucias Affekt sakralisiert und für die Paar- als Gemeinschaftsbildung ‚wirksam‘ gemacht wird. Der Roman verheiratet so gesehen weniger zwei Figuren als zwei Welten. Das Ereignis einer solchen gerechten Eheschließung, mit dem sich Manzonis radikal negative Romanpoetik uneingestandermaßen rechtfertigt, lässt sich mit der im vorangehenden Kapitel dargestellten Eheschließungsfreiheit der Französischen Revolution in Verbindung bringen: Es ist die Universalisierung eines Ehebandes, dessen Grund die Trennung ist.
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung Die Figuren der Promessi sposi sind wie Spielkarten, schreibt Pasolini. Jeder mischt und ordnet den Kartenstapel, wie er will, und sucht sich eine Lieblingskarte aus. Seine Lieblingsfigur sei Renzo, weil dieser wie keine dem komischen und poetischen Register des Romans angehöre: Nicht eindeutig gut, nicht eindeutig schlecht, bewege er sich in einer Zone existentiellen Daseins, was ihn zu einer „figura straordinariamente poetica“ mache. Gleichzeitig führt Pasolini diese Intuition zu der Beobachtung, dass es in Manzonis Roman nicht um eine heterosexuelle Paarbeziehung, sondern um Homoerotik gehe: „una volta privilegiato e messo sull’altare il rapporto d’amore uomo-donna, tutti i rapporti che formano l’intreccio del libro sono caratterizzati da una strana intensità (fraternalità o odio) omoerotica“.33 Frauen würden dabei von jedem „rapporto sexuale“ ausgeschlossen bzw. in einer „cristalizzazione della femminilità“ eingeschlossen. Den hauptsächlichen Reiz machen nach Pasolini die homoerotischen Verbindungen zwischen den Männern aus: Don Rodrigo und der Griso, Don Rodrigo und sein Cousin Attilio, mit dem er um Lucia wettet, Kardinal Borromeo und der Innominato etc. Damit zielt er auf das Sexuelle von Machtbeziehungen und auf die Machtfrage im Sexuellen – um ‚Brüderlichkeit‘ oder Hass gehe es, mit anderen Worten um die Frage, welche Rolle Gleichheit, Über- oder Unterlegenheit in der Beziehung spielen. Renzo scheint Pasolini dabei so etwas wie eine brüderliche Beziehung mit dem Erzähler-Autor zuzuschreiben: „Renzo è una proiezione nostalgica del Manzoni […]. Renzo è il simbolo della salute e dell’integrità.“34 Es ist auf-
33Pier
Paolo Pasolini, „Alessandro Manzoni, I promessi sposi (1973)“, in: Ders., Saggi sulla letteratura e sull’arte, Bd. II, Mailand: Mondadori 1999, S. 1861–1866; hier: S. 1862 f. 34Ebd., S. 1863.
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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schlussreich, diese Lesart mit einem Buch wie Giorgio di Rienzos Per amore di Lucia zu konfrontieren, wo vom absoluten Privileg Lucias die Rede ist und von einem Erzähler-Autor, der, eifersüchtig auf alle anderen Figuren, in Lucia seine Gattinnenliebe sublimiere.35 Mit Eve Sedgwicks Konzept des Homosozialen ist man versucht, dem Roman ein homosoziales Begehren zu unterstellen, wobei in einem einschließenden Ausschluss von Weiblichkeit zugleich das Machtprivileg der Männer gesichert wird.36 Aber wie wäre es nun, wenn man davon ausginge, dass man sich nicht nur eine Figur, sondern auch das Paar als Lieblingskarte aussuchen könnte? Wenn man davon ausginge, dass der Erzähler mit beiden, Renzo und Lucia, ein je besonderes Verhältnis unterhält, um eine bestimmte Form der Sozialität darzustellen? Nicht nur aufgrund des Romantitels drängt sich eine solche Fokussierung auf das Paar als Vermittlungsfigur für die Gemeinschaft auf. Sie bezieht ihre Evidenz darüber hinaus aus den zwei, nicht weniger als die Protagonisten parallel angelegten Rechtsfällen, die beide als ‚Digressionen‘ (fast) aus dem Roman verschwunden wären: aus der Geschichte der zur Verbrecherin gewordenen Nonne Gertrude und aus jener der Salbenschmierer Guglielmo Piazza und Giangiacomo Mora, die als Sündenböcke für die in Mailand ausgebrochene Pest den Foltertod sterben. Obwohl die Analogien zwischen den untori und Renzo, Gertrude und Lucia auf der Hand liegen, wurde der Roman bislang kaum systematisch und gesamtkompositorisch vor dem Hintergrund dieses rechtlichen Rahmens gelesen. Eine Ausnahme bildet Giovanni Macchia, der in den beiden Justizfällen einen „sottofondo“ des Romans sieht: L’ombra di due processi si agita perennemente nel sottofondo dell’inspirazione manzoniana, quello di Gertrude e quello degli untori. Il primo investiva il problema dell’educazione famigliare, il secondo l’amministrazione della giustizia e i mezzi da essa impiegati. Nel primo c’è all’origine il sesso, l’eros, che non si può sopprimere ma solo educare, nel secondo c’è il problema della propagazione del male. Da una parte il convegno, dall’altra la tortura. Nel contrasto in cui egli venne a trovarsi, trascinato da storie particolari che giudicava necessarie e che prendevano sempre più spazio nello svolgimento del romanzo, questi due episodi furono i più tormentati nella tormentatissima storia dei Promessi Sposi.37
Macchia vergleicht die Fälle, in denen es um Liebe und Grausamkeit geht, mit Schmuckkästchen, die wie ein Heiligtum vom Roman abgesondert und darin aufbewahrt werden. Seiner Ansicht nach erklären sie den grundsätzlich digressiven und zentrifugalen Charakter des Romans. Demgegenüber sollen hier die Justiz-
35Giorgio
De Rienzo, Per amore di Lucia, Mailand: Rusconi 1985. Kosofsky Sedgwick, Between Men. English Literature and Male Homosocial Desire, New York: Columbia University Press 1985. 37Giovanni Macchia, Tra Don Giovanni e don Rodrigo, Mailand: Adelphi 1989, S. 44. 36Eve
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fälle als Ausgangspunkt für die Lektüre des vom Roman affichierten Haupthandlungsstrangs genommen werden. Es geht, mit anderen Worten, darum, die immer wieder als Märchen und Anti-Roman devalorisierte Eheschließungsfiktion durch die ‚Schmuckkästchen‘ der Rechtsfälle hindurch anders erscheinen zu lassen. In den marginalisierten Rechtsfällen geht es weniger um Erotik als um eine Gewalt der Rechtsprechung, die über das Subjekt entscheidet. Gertrudes Geschichte und die Colonna Infame spiegeln – jeweils als historiographisch verbürgte Fälle – in negativer Verkehrung das wunderbare Happyend Lucias und Renzos. Während Gertrude und die Salber auf je unterschiedliche Weise zu Opfer und Sündenböcken einer problematischen Rechtsprechung werden, entgehen die fiktiven Roman-Protagonisten Lucia und Renzo für einmal einem ewigen Sündenbockmechanismus der Geschichte. Juridisch formuliert korrespondiert dem zivilrechtlichen Ehe-Versprechen von Renzo und Lucia eine strafrechtliche Doppelung in den Geschichten Gertrudes und der Salbenschmierer. Mit ihnen wird der rechtskritische Vorbehalt offengelegt, den der Erzähler gegen alle irdische – sei es kirchliche oder weltliche – Gerichtsbarkeit, und damit auch gegen alle Ehegesetzgebungen hegt. So wie Lucias Geschick in entscheidenden Punkten jenem Gertrudes ähnelt, so entrinnt Renzo in Mailand nur knapp jener Anklage der Salbenschmiererei, aufgrund deren Piazza und Mora zu Tode gefoltert werden. So muss also der Nachvollzug des Weges, den Renzo geht, mit der Storia della Colonna Infame beginnen. Gleichzeitig wird damit einem in der Forschung immer wieder formulierten und auf Aussagen Manzonis selbst zurückgehenden Postulat Tribut gezollt: dass die Promessi sposi und die Colonna Infame wesentlich zusammengehören und eigentlich nicht getrennt voneinander publiziert werden dürften.38 Dass die Rezeption trotzdem weitgehend eine getrennte geblieben ist – und zumal in Deutschland, wo es bis heute keine beide Texte enthaltende Edition gibt –, liegt zum einen daran, dass der Roman mit der Ausgabe von 1825–1827 bereits ohne die Colonna infame berühmt geworden war (auch in Deutschland, wo die ersten Übersetzungen auf dieser Ausgabe beruhten!), und zum anderen daran, dass der 1840–1842 als Anhang zu den Promessi sposi publizierte Text Irritationen beim Publikum ausgelöst hat. Man hatte eher mit einem weiteren Roman als mit der rechtsgeschichtlichen Aufarbeitung eines Justizfalles gerechnet, und schon gar nicht mit einem, der zu diesem Zeitpunkt bereits als aufgearbeitet galt.39
38Vgl.
den Kommentar in: Manzoni, I Promessi Sposi, hg. Chiari/Ghisalberti, S. 831. Italien wird die Colonna Infame nach einer unterschwelligen bis negativen Rezeption im 19. Jahrhundert (meist illustriert mit einer Briefstelle Manzonis an Adolphe de Circourt vom 14. Februar 1843, in der er eine quasi totale Nichtbeachtung des Textes beim Publikum beklagt) im Prinzip erst nach dem Zweiten Weltkrieg wiederentdeckt. Giancarlo Vigorelli initiiert die Renaissance mit seiner Textedition von 1942, begleitet von einem (anonymen) Vorwort Alberto Moravias, welcher zahlreiche Neuauflagen (teils fulminante, wie jene von 1973 mit dem Vorwort von Leonardo Sciascia) folgten. Vgl. die Einführungen von Giancarlo Vigorelli und Carla Riccardi in: Alessandro Manzoni, Storia della Colonna Infame, hg. Giancarlo Vigorelli (= Bd. 12 der Edizione Nazionale ed Europea delle Opere di Alessandro Manzoni), Mailand: Centro Nazionale Studi Manzoniani 2002, S. XIII–XXVI und S. XXIX–LXXIV.
39In
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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Storia della colonna infame – Intertextuelle Selbstbehauptung Die Storia della Colonna Infame begleitet Manzonis Romanprojekt von Anfang an. Am Ende des vierten Kapitels des vierten Bandes von Fermo e Lucia kündigt der Erzähler sie als einen extra Anhang an und realisiert sie als Appendice storica su la colonna infame, um nicht zu sehr von der Haupthandlung abzuschweifen, sie aber gleichzeitig als wesentlichen Teil der Geschichte der damaligen Zeit integrieren zu können.40 In der Ausgabe 1825–1827 fehlt der Anhang, aber Manzoni überarbeitet den Text ebenso, wie er die Promessi sposi überarbeitet, und publiziert ihn unter dem Titel Storia della Colonna Infame erstmals als deren Anhang in der definitiven, von Francesco Gonin illustrierten Ausgabe von 1840/1842. Hier steht der letzten Illustration der Promessi sposi – Agnese mit Enkelkind, Renzo und Lucia am Tisch ihres Hauses im neuen Dorf – direkt jene gegenüber, die das Mahnmal zeigt, das an der Stelle des niedergebrannten Hauses des vermeintlichen Salbenschmierers Giangiacomo Mora in Mailand errichtet wurde. Und erst mit der Colonna Infame erhält der Roman sein letztes Wort: „Fine“. Manzoni reiht sich mit dem Text in eine große aufklärerische Tradition, aber auch in eine familiär wie intertextuell äußerst komplexe Tradition ein: Gleich zu Beginn bezieht er sich auf Pietro Verris (1728–1797) Abhandlung Osservazioni sulla tortura (1777/1804), die in engem Austausch mit Manzonis Großvater mütterlicherseits, Cesare Beccaria (1738–1794), Verfasser des strafrechtlichen Klassikers Dei delitti e delle pene (1764), entstanden ist. Angesichts der Spekulationen, nach denen Pietro Verris Bruder Giovanni der leibliche Vater Manzonis gewesen sei, hätte Manzoni sich mit der Schrift nicht nur auf seinen
In Deutschland erfolgt die Renaissance des Textes m.W. bislang leider fast nur unter rechtshistorischer Ägide: Hier ist zunächst die vergriffene, nur schwer lesbare Übersetzung (basierend auf der anonymen Übersetzung von 1843 und übertragen von Wolfgang Boerner), aber mit dem hervorragenden Vorwort Sciascias zu nennen: Alessandro Manzoni, Die Schandsäule. Vorwort von Leonardo Sciascia, München: dtv klassik 1990 (1988). Thomas Vormbaum hat sie überarbeitet und 2008, zusammen mit Verris Osservazioni sulla tortura sowie zwei Kommentaren von Ezequiel Malarino und Helmut C. Jacobs, neu herausgegeben: Ders. (Hg.), Pest, Folter und Schandsäule. Der Mailänder Prozess wegen „Pestschmierereien“ in Rechtskritik und Literatur, Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag 2008. Seit 2012 gibt es die Neuübersetzung, nach der hier auch übersetzt wird: Alessandro Manzoni, Geschichte der Schandsäule. Aus dem Italienischen übers. von Burkhart Kroeber. Mit einem Vorwort von Umberto Eco und einem Nachwort von Michael Stolleis, Mainz: Dieterich’scheVerlagsbuchhandlung 2012. – So nötig eine Neuübersetzung des Textes war und so gelungen sie im Vergleich zur alten ist, setzt die neue Ausgabe doch die alte, editorische Malaise in der deutschsprachigen Rezeption fort: Es wird getrennt, was konzeptionell zusammengehört. 40„Passare
questi giudizj sotto silenzio sarebbe ommettere una parte troppo essenziale della storia di quel tempo disastroso; il raccontarli ci condurrebbe o ci trarrebbe troppo fuori del nostro sentiero.“ (FL IV, IV, 585) „Man würde einen zu wesentlichen Teil der Geschichte jener unheilvollen Zeit auslassen, wenn man diese Urteile mit Stillschweigen überginge; ihr Erzählen würde uns [hingegen] zu sehr von unserem Weg wegführen oder davon abbringen.“
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berühmten Großvater, sondern auch auf seinen leiblichen Onkel bezogen.41 Die Schandsäule, das Mahnmal, das man 1630 zur Schande der als Pestschmierer Verurteilten errichtet hatte, war 1778 erst abgerissen worden. Beccaria und Verri schrieben an ihren Texten gegen die Folter damit nicht nur zu einem Moment, da die Erinnerung an die Vorkommnisse noch sichtbar war, sondern auch in einem Staat – im Herzogtum Mailand –, in dem die Folter noch geltendes Recht war. Es ging um eine humanistisch-aufklärerische Reform des Justizwesens, die vor allem durch die Abgrenzung von einer barbarischen Vergangenheit erzielt werden sollte. Pietro Verris Osservazioni rechnen einerseits mit Beccaria ab, dem Verri vorwarf, den ganzen Ruhm für Dei delitti e delle pene für sich eingestrichen zu haben, obwohl er maßgeblich an der Entstehung des Werkes beteiligt gewesen sei. Andererseits wenden sie sich, wie der späte Erscheinungszeitpunkt zeigt, politisch und privat gegen den Vater Gabriele Verri, der als Senator der Stadt Mailand eine Empfehlung Wiens, die Folter in Mailand abzuschaffen, glatt abgelehnt hatte. Aus Rücksicht und Respekt vor Vater und Senat, auch aus Angst vor finanziellen bzw. erbrechtsmäßigen Konsequenzen, verzichtete Verri auf die Publikation seiner Osservazioni.42 Als Manzoni sich Anfang der 1820er Jahre, nach Abschaffung der Folter, erneut den Prozessakten widmet, setzt er sich zum einen mit einem Großvater auseinander, der seiner Tochter Giulia eine freie Gattenwahl und damit ihm, Manzoni, in gewisser Weise eine Vaterschaft verweigert hatte; zum anderen revidiert er den Triumph von Verris Osservazioni sulla tortura, indem er nach dessen euphorisch-aufklärerischem Niederreißen der Schandsäule, diese gleichsam als literarisches Monument, Storia della Colonna Infame, wieder errichtet.43 Die Hauptfrage, die der Text aufwirft, diejenige nach der Verantwortlichkeit der Richter, bezieht sich damit nicht nur auf einen historischen Fall, sondern auch auf dessen Repräsentation. Warum würde dem Roman ohne die Colonna infame ein wesentlicher Teil der damaligen Geschichte fehlen? Die Lektüre beider Rechtsfälle (der untori und der Nonne Marianna de Leyva) wird zeigen, dass Manzoni auf die Existenz historischer Fehlurteile wettet, um dagegen seinen letztlich uneingestehbaren Roman zu setzen. Der Fall der fiktiven Gertrude ist ähnlich wie derjenige der Salber gelagert: Auch mit ihr zeigt der Erzähler, wie ein durchschnittlich vernünftiger Mensch zu abgrundtief bösen Handlungen getrieben wird. In beiden Fällen handelt es sich um historische Gerichtsfälle: Während Piazza und Mora
41Vgl.
etwa die biographische Notiz in: Alessandro Manzoni, I Promessi Sposi. Storia della colonna infame, hg. Angelo Stella und Cesare Repossi, Turin: Einaudi-Gallimard (Biblioteca della Pléiade) 1995, S. XLV. 42Vgl. Carla Riccardi, „Introduzione“, in: Manzoni, Storia della Colonna Infame, hg. Vigorelli, S. LVIII–LXVII. 43Von einer „ménage à trois“ ist die Rede bei: Loredana Garlati, „Schuldig eines Verbrechens, das es nicht gab“. Der Prozess gegen die Mailänder „Pestschmierer“ in der Deutung Pietro Verris und Alessandro Manzonis, Berlin: LIT Verlag 2013, S. 21.
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vor die weltliche Gerichtsbarkeit gestellt werden, spricht im Fall Gertrudes der Kardinal Federigo Borromeo als Kirchenrichter (kanonisches) Recht. Den Schandsäulen-Fall bezeichnet der Erzähler an einer Stelle als „orrenda vittoria dell’errore contro la verità“ (CI, 683; „schrecklichen Sieg des Irrtums über die Wahrheit“, S. 25). Gertrudes Fall ließe sich umgekehrt bewerten: Ganz am Ende, wenn auch quasi aus dem Text eliminiert, triumphiert hier durch Buße und Umkehr nach dem Irrtum und dem Verbrechen doch die Wahrheit. Aber wer ist Opfer, wer Täter in diesen historischen Rechtsfällen? Ist Gertrude mehr oder weniger schuld an ihren Leidenschaften als die Richter der beiden sogenannten Salbenschmierer? Oder andersherum: Stellen die gefolterten und qualvoll getöteten Salbenschmierer größere Opfer der Geschichte dar als dasjenige, das die Nonne am Ende bringt, wenn sie lebendig eingemauert ihr Verbrechen sühnt? Im und als Schatten der Protagonisten, denen am Ende poetische Gerechtigkeit widerfährt, zeigen beide Exkurse die Opferseite der Geschichte, eine Opferseite, die aber, sobald man sich ihr zuwendet, unsicher wird, eine Geschichte, deren Rechtsvollzüge in Frage gestellt, ja dekonstruiert werden. So schreibt Stolleis nicht zufällig im Nachwort zur deutschen Übersetzung der Colonna Infame, dass Manzonis Aufklärung nicht einfach auf eine Kritik der Folter, sondern „auf ein viel tieferes Problem jedes Strafprozesses, ja der Rechtsanwendung generell“ ziele.44 Unabhängig vom Roman der Promessi sposi liegt eine rechtshistorische Aktualität des Textes darin, dass er illustriert, wie in der Rechtsprechung immer mit individuellem Versagen zu rechnen ist. Der Fall belege damit, so Stolleis, dass die Strafprozessordnung nicht ohne institutionelle und prozedurale Verfahren, mit denen die Richterschaft kontrolliert wird, funktionieren kann.45 Bei der Colonna Infame handelt es sich, wie Renzo Negri 1974 in der Einleitung einer Ausgabe des Textes schreibt, um einen Ermittlungsroman, un romanzo inchiesta, in dem Manzoni den Richtern eines Prozesses den Prozess macht. Negris Gattungsbezeichnung aufgreifend, macht Leonardo Sciascia nicht nur darauf aufmerksam, dass es bis zu Manzonis Text in Italien nie etwas Ähnliches gegeben habe, sondern auch darauf, dass diese ‚Gattung‘ noch in der zeitgenössischen Literatur „Stillschweigen“ auslöse.46 Die Colonna Infame spitzt, so soll im Folgenden deutlich werden, die juridische Dimension der Promessi sposi zu; als Prozess des Prozesses ist sie juridischer Höhepunkt und zugleich Reflexion des juridischen Schreibens von Manzoni.47 Die Rechtsanwendung erscheint dabei nicht nur als ein Problem der Strafprozessordnung, sondern als eines der Literatur, der Philologie.
44Stolleis,
Nachwort, in: Manzoni, Geschichte der Schandsäule, S. 196. S. 205–207. 46Renzo Negri, „Il romanzo-inchiesta del Manzoni“ (1972), in: Elena Sala Di Felice (Hg.), Il punto su: Manzoni, Rom: Editori Laterza 1989, S. 197–200; Leonardo Sciascia, „Vorwort von Leonardo Sciascia“, in: Manzoni, Die Schandsäule, S. 19. 47„[V]ielleicht das bedeutendste Buch für eine Analyse des manzonianischen Rechtsdenkens“, kommentiert Loredana Garlati Manzonis Colonna Infame („Schuldig eines Verbrechens, das es nicht gab“, S. 21). 45Ebd.,
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In sieben Kapiteln rekapituliert der Erzähler den Prozess aus dem Jahr 1630, in dem Guglielmo Piazza, Kommissar der Gesundheitsbehörde (Commissario della Sanità), und der Barbier Giangiacomo Mora als sogenannte Salbenschmierer, untori, zum Tode verurteilt werden. Weil der Fall seit Verris Osservazioni sulla tortura beim Publikum nicht mehr unbekannt war, rechtfertigt der Erzähler in der Einleitung seine erneute Bearbeitung damit, dass er nicht wie dieser das Mittel der Folter denunzieren, sondern vielmehr quellenkritisch die individuelle Schuld jener Richter beweisen wolle, die damals wider besseren Wissens zwei Unschuldige zu Schuldigen gemacht hätten.48 Manzoni schildert den Fall mehr oder weniger chronologisch: Das erste Kapitel beginnt mit dem 21. Juni 1630, dem Tag, an dem die einfache Frau namens Caterina Rosa in der Via della Vetra de’ Cittadini einen Mann beobachtet, der, dicht an der Mauer entlanggehend, etwas auf ein Blatt Papier zu schreiben scheint. Bei dieser Beobachtung, so sagt Caterina Rosa in der Vernehmung aus, sei ihr in den Sinn gekommen, dass es sich dabei vielleicht um einen der berüchtigten Pestschmierer handeln könnte.49 Ausgehend von diesem Indiz rekapituliert Manzoni in den Kapiteln III bis VI die Prozessverhöre von der Festnahme des ersten Hauptverdächtigen Piazza bis zur Vollstreckung der Urteile, wobei sein Augenmerk darauf liegt, die perverse Logik der Verhöre zu entlarven. Im Verlauf der Ermittlungen wird der Barbier Giangiacomo Mora zum zweiten Hauptangeklagten. Die Verhöre fördern folgende haarsträubende Lügengeschichte zutage: Der Gesundheitskommissar Piazza, der Barbier Mora und noch einige Mittäter hätten, um sich zu bereichern, im Auftrag des – bezeichnenderweise frei gesprochenen – Don Giovanni Gaetano Padilla, Sohn des Mailänder Schlosskommandanten („figlio del comandante del castello di Milano“, CI, 682), eine aus Menschenkot, Lauge und Speichel von Pesttoten gerührte Salbe an die Häusermauern geschmiert, um die Pest zu verbreiten. Dass ausgerechnet ein capitano di guistizia, der in der Mailänder Pestzeit für die Versorgung der Pestopfer zuständig ist, und ein Barbier, der nebenbei Heilmittel und Salben vertreibt, angeklagt
48Wenn die Colonna Infame gerade in der Literatur zu den Promessi sposi oft als historiographisches Gegenstück zum Roman bezeichnet wird, muss man dies dahingehend relativieren, dass diese im Prinzip ebenso wenig historiographisch im Sinne von objektiv Fakten darstellend ist, wie es die Promessi Sposi sind. Michael Bernsen qualifiziert Manzonis Schreibweise, der Sicht einer Spaltung oder Zweigeteiltheit des Romans (in Historie und Fiktion) zu Recht widersprechend, deshalb als „historische Mythenforschung“. Vgl. Michael Bernsen, Geschichten und Geschichte. Alessandro Manzonis I promessi sposi, Berlin: LIT Verlag 2014, S. 177–195. Als generelle Charakterisierung von Manzonis Poetik ist dieser Begriff aber nicht geeignet, weil er deren Anspruch auf partikulare Erkentnisinteressen reduziert. 49„All’hora, soggiunge, mi viene in pensiero se a caso fosse un poco uno de quelli che, a’ giorni passati, andauano ongendo le muraglie.“ (CI, 685) („Und da, fügte sie hinzu, ist mir in den Sinn gekommen, daß er vielleicht einer von denen war, die in den letzten Tagen mit dem Beschmieren von Mauern zugange waren.“ S. 27)
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werden, ist kein Zufall. Beide profitieren qua Amt von der Pest: der eine, weil er seine berufliche Aufgabe überhaupt erst aufgrund des Auftretens der Pest erhält, der andere, indem er seinen Lohn mit zusätzlichen Salben aufbessert. Piazza hätte demzufolge Mora zum Rühren der tödlichen Salbe überredet, um noch mehr Gewinn aus der Pest schlagen zu können.50 Nach der Festnahme der beiden Hauptverdächtigen am 22. Juni und 26. Juni 1630 wird am 2. August das infernalische Urteil („[qu]ell’infernale] sentenza“, CI, 762) vollstreckt: Den Schuldigen wird nach langen Stunden der Qual die Kehle durchschnitten. Auf dem Weg zum Hinrichtungsort werden sie mit glühenden Zangen malträtiert; man bindet sie aufs Rad, bricht ihnen die Knochen und hackt ihnen die rechte Hand ab. Die Leichname werden verbrannt, die Asche in den Fluss geworfen und an der Stelle von Moras Haus errichtet man die Schandsäule als Zeichen der Mahnung.
Der Erzähler als Richter der Richter Das Interesse, das Manzoni an dem historischen Gerichtsfall hat, wird in der Einleitung klar und in ausdrücklicher Abgrenzung zu Verri formuliert. Statt des aufklärerisch-strafrechtskritischen Ziels, gegen die Praxis der Folter zu argumentieren, geht es Manzoni – wenn man so will, (negativ-)anthropologischer – um den Nachweis der Unschuld der Verurteilten und, entscheidender, um den Nachweis einer Schuld der Richter, über die er im dritten Kapitel schreibt: „non cercavano una verità, ma volevano una confessione“ (CI, 710).51 Er kritisiert Verris Textintention, den Prozess als Argument gegen die Folter einzusetzen, nicht als falsch, aber als quasi zu oberflächlich. Ihm, Manzoni, gehe es um ‚allgemeinere Bemerkungen‘ („osservazioni più generali“, CI, 678), um aus dem Fall ‚eine nützliche Lehre‘ („un utile insegnamento“, CI 678) ziehen zu können. Eine solche Rechtfertigung schien umso gebotener, als der Schandsäulen-Prozess um 1840, wie erwähnt, durch Verris Osservazioni, aber auch die Promessi sposi selbst bereits hinlänglich bekannt war. Darüber hinaus hatte Cesare Cantù 1839 wenige Monate vor Erscheinen und mit explizitem Bezug auf Manzonis Roman und dessen Ankündigung eines weiteren Werkes zu diesem Gegenstand
50Vgl.
CI, 747: Mora „disse in quell’interrogatorio, che la bava de’ morti di peste l’aveva avuta dal commissario, che questo gli aveva proposto il delitto, e che il motivo del fare e dell’accettare una proposta simile era che, ammalandosi, con quel mezzo, molte persone, avrebbero guadagnato molto tutt’e due: uno, nel suo posto di commissario; l’altro, con lo spaccio del preservativo.“ („Nun sagte der unselige Mora in jenem Verhör […], er habe den Speichel der Pesttoten von dem Kommissar Piazza erhalten, dieser habe ihm das Verbrechen vorgeschlagen, und das Motiv, einen solchen Vorschlag anzunehmen, sei gewesen, daß sie, wenn durch dieses Mittel viele Menschen erkranken würden, beide viel Geld verdient hätten, der eine in seiner Stellung als Sanitätskommissar, der andere durch den Verkauf des Schutzmittels.“ S. 124) 51„Denn sie suchten nicht nach einer Wahrheit, sie wollten bloß ein Geständnis.“ (S. 67)
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die Original-Prozessakten auf Italienisch publiziert.52 Dass die Intention, an diesem Fall die Schuld der Richter zu erweisen, riskant und problematisch sei, konzediert Manzoni selbst, wenn er Vernunft und Nutzen seines Werkes relativiert. Hingen diese doch – leider – mehr von der tatsächlichen Ausführung als von der angegebenen Absicht ab („ma questa [l’utilità], pur troppo, dipende molto più dall’esecuzione che dall’intento“, CI, 677). Er verweist insofern tatsächlich auf eine fundamentale Unvereinbarkeit dieser Absicht (‚intento‘) mit der Ausführung (‚esecuzione‘), als die Colonna Infame eine Kritik des Urteils im rhetorischen Verfahren des Urteilens vorträgt.53 Die Absicht, die Schuld der Richter zu erweisen, strukturiert – bis zu einem gewissen Grad – Manzonis Text. So erfolgt im zweiten Kapitel, einem Exkurs, der von den Prozessakten weggeht, eine rechtshistorische Reflexion über die damalige Rechtspraxis und Rechtsauslegung in Mailand. Während Verri im damaligen Justizsystem eine Hauptursache für die grausame Folterpraxis erblickt, rechtfertigt Manzoni in einer akribischen Lektüre der entsprechenden mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Quellen die damalige italienische Strafrechtswissenschaft.54 Er zitiert einschlägige Stellen aus den kriminalistischen Abhandlungen über die Folter eines Prosper Farinaccio, Francesco dal Bruno, Angelo d’Arezzo, Guido da Suzara, Baldo, Parida dal Pozzo, Giulio Claro etc. etc., um gegen Verri zu beweisen, dass diese den Richtern eben keine Freiheit oder Willkür in der Anwendung der Folter einräumten, sondern – im Gegenteil – dazu beigetragen hätten, aus der Rechtsauslegung eine „scienza“ zu machen, die zumindest
52Cesare
Cantù, Processo originale degli untori nella peste del M.DC.XXX, Mailand: Perelli & Mariani 1839. (Vgl. Manzoni, Colonna Infame, hg. Vigorelli, S. 11 (Fußn. 1) sowie das Faksimile der ersten Seite der Einleitung an die „Umanissimo Lettori“, ebd. nach S. 502.) Manzonis wichtigste Quellen für die Colonna Infame sind, wie er in der Einleitung darlegt, ein Abdruck der Prozessakten, die der Mitangeklagte (und freigesprochene) Padilla zu seiner Verteidigung anfertigen ließ, sowie diejenige Abschrift dieser Akten, die auch Pietro Verri für seine Osservazioni benutzt hatte (vgl. CI, 681 f.). 53Vgl. Cornelia Vismann, Thomas Weitin (Hg.), Urteilen/Entscheiden, München: Fink 2006. 54Vgl. CI, 696: „,È certo‘, dice l’ingegnoso ma preoccupato scrittore [Verri; D.S.],,che niente sta scritto nelle leggi nostre, nè sulle persone che possono mettersi alla tortura, nè sulle occasioni nelle quali possano applicarvisi, nè sul modo di tormentare […]; tutto questo strazio si fa sopra gli uomini coll’autorità del giudice, unicamente appoggiato alle dottrine dei criminalisti citati.‘/ Ma in quelle leggi nostre stava scritta la tortura […].“(„,Es ist sicher‘, erklärt der geistreiche, aber nicht vorurteilsfreie Autor [Verri; D.S.],,daß in unseren Gesetzen nichts über die Folter geschrieben steht, weder über die Personen, die ihr unterzogen werden dürfen, noch über die Gelegenheiten, bei denen sie angewandt werden darf, noch über die Art der Folterung […]. All diese Qualen werden den Menschen mit der Autorität des Richters angetan, die sich allein auf die Lehren der zitierten Strafrechtler stützt.‘/ Doch unsere Gesetze kannten sehr wohl die Folter […].“ S. 44 f.)
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theoretisch mäßigenden Einfluss auf die Richter hätte haben können und sollen.55 Mit diesem zweiten Kapitel setzt Manzoni die philologische Grundlage für die anschließende „applicazione“ (CI, 707; „Anwendung“, S. 64) der Gesetzeslage auf den Fall der Pestschmierer. Anders als Verri und anders als er es selbst in seiner ersten Fassung (von 1823) seiner Colonna Infame gemacht hatte, lässt Manzoni in der Darstellung der Verhöre von Piazza (im III. Kapitel) und Mora (im IV. Kapitel) nicht nur die Prozessakten selbst sprechen, um dem Leser die Absurdität der Folter als Mittel zur Wahrheitsfindung unmittelbar und drastisch vor Augen zu stellen. Vielmehr liest er die Prozessakten im mikrologischen Abgleich des Verfahrens mit dem, was die zeitgenössischen Rechtswissenschaftler (Manzoni nennt sie „interpreti“) zur Anwendung der Folter ausgeführt haben. Durchgängiger Befund dabei ist eine den Richtern anzulastende Illegalität des Verfahrens. In der Argumentation wird damit eine theoretische Legalität der Folter in Kauf genommen – ein Skandalon, das Manzoni von seinen Kritikern bisweilen bitter vorgeworfen wird –, aber dies nur, um das Problem der Folter gleichzeitig differenzierter behandeln zu können. Loredana Garlati bringt dies auf den Punkt: „Er salviert somit einen Teil der Vertreter der forensischen Welt, verurteilt aber heftig einen anderen: die Richter.“56 Die Anklage der Richter fällt heftig aus und wird von Manzoni immer wieder wiederholt: Sie haben wider besseren Wissens und willentlich Unschuldige verurteilt – und zu Schuldigen gemacht. Sie hätten, so liest Manzoni aus den Gesetzeskommentaren, es besser wissen müssen und sie haben es auch besser gewusst. Und doch fällt bei der Lektüre auf, wie der Text zwischen einer Individualisierung und Anonymisierung der Richter eigentümlich unentschieden
55Dieses
zweite Kapitel ist insbesondere gemünzt auf Verris Satz aus § 13: „Vennero poi il Claro, il Girlando, il Tabor, il Giovannini, il Zangherio, l’Oldekop, il Capzovio, il Gandino, il Farinaccio, il Gornez, il Menocchio, il Bruno, il Brunoro, il Carerio, il Boerio, il Cumano, il Cepolla, il Bossio, il Bocerio, il Casonnio, il Cirillo, il Bonacossi, il Brusato, il Follerio, l’Iodocio, il Damoderio, e l’altra folla di oscurissimi scrittori celebri presso i criminalisti, i quali, se avessero esposto le crudeli loro dottrine e la metodica descrizione de’ rafinati loro spasimi in lingua volgare e con uno stile di cui la rozezza e la barbarie non allontanasse le persone sensate e colte dall’esaminarli, non potevano essere risguardati se non coll’occhio medesimo col quale si rimira il carnefice, cioè con orrore e iniominia.“ (Verri, Osservazioni sulla tortura (1777/1804), in: Manzoni, Storia della Colonna Infame, hg. Vigorelli, S. 415–488; hier: S. 477.) „Dann kamen Clarus, Girlando, Tabor, Giovannini, Zangerius, Oldekoop, Carpzov, Gandinus, Farinacius, Gornez, Manocchio, Brunus, Brunoro, Carerius, Boerius, Cumanus, Capela, Bossius, Bocevius Casonius, Cirillus, Bonacossi, Brussato, Follarius, Jodocius, Damhouder, und wie die ganze Menge von Autoren, die ebenso obskurante wie berühmte Kriminalisten sind, auch heißen mag, die, wenn sie ihre grässlichen Lehren und ihre raffinierten technischen Beschreibungen der Foltermethoden in der Volkssprache und in einem Stil geschrieben hätten, dessen Rohheit und Barbarei empfindende und gebildete Menschen nicht von der Lektüre abschreckt, mit demselben Auge wie der Folterknecht, nämlich mit Schaudern und Verachtung, betrachten würden.“ (Übers. Vormbaum, in: Ders. (Hg.), Pest, Folter und Schandsäule, S. 58.) 56Garlati, „Schuldig eines Verbrechens, das es nicht gab“, S. 37.
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bleibt. So wurde auch bereits darauf hingewiesen, dass die Richter weder namentlich genannt werden, noch zwischen entscheidendem Richter im engen Sinn und ‚mitrichtenden‘ Ermittlern unterschieden wird.57 Manzoni vermeidet nicht nur sorgsam die Identifizierung der Individualität der von ihm Angeklagten, sondern auch, jenen potentiellen individuellen oder psychologischen Beweggründen nachzuspüren, die zu den falschen Urteilen geführt haben könnten. (Obwohl man sich genau so eigentlich eine Argumentationsstruktur vorstellt, deren Ziel im Erweis einer individuellen Schuld besteht – und zumal bei Manzoni, der es versteht, sich in historische Quellen zu vergraben.) Indessen bleiben die Richter anonym ‚sie‘, die Richter: „que’ giudici“ (CI, 679; „der Richter“, S. 18), „que’ magistrati“ (CI, 679; „jene Richter“, S. 19), „l’iniquo esaminatore“ (CI, 711; „der bösartige Verhörer“, S. 70) etc. Der zuerst festgenommene Piazza wird noch am selben Tag, heißt es fast schwammig, verhört „dal capitano di giustizia, con l’assistenza d’un auditore, probabilmente quello del tribunale della Sanità“ (CI, 690 f.; „vom Stadthauptmann […], im Beisein eines Auditors, vermutlich eines Angehörigen des Gesundheitsrates“, S. 36).58 Die oberste Justizbehörde war der Senat, zuständig für die Kriminalrechtsprechung war der Capitano di giustizia, der allerdings in manchen Fällen – wie z. B. dem Versprechen von Straffreiheit – an die Weisung des Gouverneurs gebunden war. Sein Name, Giovan Battist Visconti, wird von Manzoni nie erwähnt. Spinola, der Gouverneur, findet sowohl in der Colonna Infame als auch in den Promessi sposi Erwähnung, allerdings, in hochgradiger Ironie, in absentia: Er war nicht da, weil er mit der Belagerung von Casale beschäftigt war. Die Anklage adressiert also weder ein konkretes Individuum noch eine konkrete Institution – ein „corpo“, wie es im Fazit der Frühfassung noch heißt, welchem das Individuum damals noch mehr verpflichtet gewesen sei als heute. Sie adressiert vielmehr eine illegale Gewalt der Richter, welche das Subjekt da unterwirft, wo es ihre Pflicht gewesen wäre, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Die Verhöre Piazzas und Moras bilden, gemeinsam mit Gertrudes Examinierung vor dem Klostereintritt,59 den schwarzen Tiefpunkt der Promessi sposi: ein urteilendes Sprechenmachen um des Todes Willen.
57Vgl.
Ermanno Paccagnini, „Nota critico-filologica: la Colonna Infame“, in: Manzoni, Fermo e Lucia, hg. Nigro/Paccagnini, S. XLII. 58In der ersten Textfassung spekuliert Manzoni noch (mit Namen) darüber, ob und inwiefern eine spezielle Kommission für den Fall eingesetzt wurde: Piazza sei verhört worden „da una Commissione speciale, non so se istituita in quella circostanza, o prima, per tutti i casi di quel genere, e composta del presidente della Sanità suddetto, dell’auditore del medesimo tribunale, Gaspare Alfieri, e del capitano di giustizia, Giovanbatista Visconti“ (vgl. Anm. 22 in: Manzoni, Fermo e Lucia, hg. Nigro/Paccagnini, S. 950). Weitere Ausführungen zu dieser Ad-hocKommission und den damit verbundenen (macht-)politischen Zielen siehe Garlati, „Schuldig eines Verbrechens, das es nicht gab“, S. 59–61. 59Ihre Verhöre danach – nach Entdeckung des Verbrechens – werden bezeichnenderweise aus dem Roman ausgelagert. S.u. Abschn. 3.3: Lucia im Prozess der Sakralisierung („Marianna de Leyva alias Geltrude/Gertrude“).
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Die Folterkritik Verris lenkt Manzoni auf paradoxe epistemologische Bahnen. An dem Salbenschmierer-Verbrechen interessiert ihn einerseits, wie Unwissen in Macht über Leben und Tod umgemünzt wird. Mit Verri stimmt er grundsätzlich überein, dass es sich um ein Verbrechen handelte, das es nicht gab („un delitto che non c’era“, CI, 679), ein Verbrechen, das physisch und moralisch unmöglich war („un delitto, fisicamente e moralmente impossibile“, CI, 677 f.). Genau darin liegt das epistemologische Potential des Falls, die letztliche Unableitbarkeit von Urteilen aufzudecken.60 Das Nichtwissen eines Gerichtsurteils liegt auf zwei Ebenen: „Auf der retrospektiven Ebene des Tathergangs, der zu einer rechtlichen Beurteilung ansteht und den der Richter nicht kennt. Auf der prospektiven Ebene besteht das Nichtwissen darin, dass der Verfahrensausgang unbekannt ist und es auch sein soll, um so die Unvoreingenommenheit des Richters garantieren zu können.“61 Nun unterstellt Manzoni aber im Fall der Richter über die Salbenschmierer, dass sie genau dieses prinzipiell notwendige Nichtwissen nicht hatten. Sie hätten Wissen dort gehabt, wo es keines geben konnte. Der Text begibt sich damit selbst mitten in eine prinzipielle Paradoxie des Urteils und/oder der Entscheidung: die Entzogenheit ihres Grundes, die im Urteil in die Gewalt der Entscheidung umschlägt.62 Er löst das Paradoxon ein, indem er die Kritik (der Gewalt) des Urteils umschlagen lässt in ein (gewaltförmiges) Urteil über die Richter. Anders gesagt: Der rhetorische Gestus der Anklage performiert vor den Augen des Lesers jene Gewaltsamkeit des Urteils, die am Beispiel der Richter entlarvt wird. Daraus ergibt sich die Frage nach der Gewaltförmigkeit der Narration der Promessi Sposi insgesamt. Nur bis zu einem bestimmten Maß, nicht grundsätzlich, so würde ich behaupten, kontrastiert der rhetorische Anklage-Gestus mit dem Rest der Promessi sposi und deren Erzähler- und Herausgeberfiktion, nach der den Lesern eine ‚schöne Geschichte‘ nicht vorenthalten werden soll.63 Zwischen dem ästhetischen
60Man
könnte von hier aus strafrechtsgeschichtlich weiter fragen, inwiefern die Anklage materiell nicht existenter Straftaten eine Konstante in der Geschichte der Rechtsprechung darstellt; das macht aber weder Verri noch Manzoni. Auch geht es keinem der beiden darum zu klären, ob und inwiefern die Anklage, historisch gesehen, nicht doch auch Plausibilitäten in sich trug. 61Cornelia Vismann, Thomas Weitin, „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Urteilen/Entscheiden, S. 7–16; hier: S. 10. 62Vgl. Jacques Derrida, Force de loi. Le „Fondement mystique de l’autorité“, Paris: Galilée 1994. Außerdem: Ders., „Donner la mort“, in: Anselm Haverkamp (Hg.), Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benjamin, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 331–445. 63Aber bereits die Herausgeberfiktion der Einleitung verrät die grundsätzlichen Zweifel, die ‚schöne Geschichte‘ in die richtige Sprache für die Leser übersetzen zu können: „Nell’atto però di chiudere lo scartafaccio, per riporlo, mi sapeva male che una storia così bella dovesse rimanersi tuttavia sconosciuta; perchè, in quanto storia, può essere che al lettore ne paia altrimenti, ma a me era parsa bella, come dico; molto bella.“ (PS, Introduzione, 5) („Doch im gleichen Moment, in dem ich die alte Scharteke zuklappen und wieder weglegen wollte, bedauerte ich, daß eine so schöne Geschichte für immer unbekannt bleiben sollte; denn was die Geschichte als solche betrifft – der Leser mag sie ja anders finden, aber ich fand sie schön, was sage ich, wunderschön.“ S. 10)
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Urteil, das dem Leser abgerungen werden soll, und dem juridischen, das dem Leser zugemutet wird, bestehen nur graduelle Unterschiede. In beiden Fällen hat er über die Wahrscheinlichkeit von Narrationen (das Happyend der Protagonisten bzw. die Schuld der Richter) zu befinden. Die Colonna Infame und die Promessi sposi illustrieren mithin ein „Zusammenfallen von Ästhetik mit Recht im Urteil des 18. Jahrhunderts“, das als eine diskursübergreifende Verrechtlichung begriffen werden kann.64 Kein Wunder also, dass die Urteile über die Texte nicht nur divergieren, sondern auch unterschiedlicher disziplinärer Provenienz sind. Sicher ist es Sciascias Verdienst, die rhetorische Paradoxie und das affizierende Potential in aller Schärfe erkannt zu haben. Unter den Beispielen, welche die Affektivität des Textes auf dessen Autor rückübertragen und die Anklage in eine G egen-Anklage münzen, ragen Fausto Nicolinis Peste e untori nei „Promessi Sposi“ e nella realtà storica (Bari: Laterza 1937) und Franco Corderos La fabbrica della peste (Rom/ Bari: Laterza 1987) hervor. Nicolini rehabilitiert die Richter, Manzoni vorwerfend, die komplexen historisch-politischen Bedingungen des Prozesses nicht durchschaut zu haben. Cordero geht in der Mimikry noch weiter, indem er Manzoni nicht nur eine ahistorische Argumentation und ideologische (katholische) Voreingenommenheit vorwirft, sondern – ironischerweise – den Text zudem als schlecht gemachtes Machwerk disqualifiziert.65 Man kann daraus ein sowohl produktions- wie auch rezeptionsästhetisch äußerst beachtliches Ansteckungspotential der Colonna Infame ersehen. Ich möchte diese Verallgemeinerungsbewegung des Urteilens und des Urteils hier auf seine metapoetischen und selbstreflexiven Implikationen beziehen. Denn nicht zuletzt wirft die Verurteilung der Richter die Frage nach der Autorität dessen auf, der dieses Urteil fällt.
Metapoetik. Logik und Rhetorik der Unwahrscheinlichkeit Wie erwähnt geht es Manzoni in der Lektüre der Verhörprotokolle darum zu zeigen (bzw. zu denunzieren), wie aus Unwissen Unwahrheit oder Lügen produziert werden. Das ist gewissermaßen das umgekehrte Verfahren einer (aristotelischen) Dichtungslehre, die aus Unwissenheit das Wahrscheinliche ableiten möchte. Und genauso, mit poetologisch hochgradig aufgeladener Semantik, bekommt der Leser bei Manzoni das Verhörmaterial präsentiert. Das dritte Kapitel der ‚Anwendung‘ („applicazione“) beginnt mit der Feststellung, dass die Inquirenten bei ihren Verhören nicht nach der Wahrheit, sondern nach der Rechtfertigung schon feststehender Lügen suchten. Sie wollten mit der Folter – gegen die Rechtslage, die strenge Einschränkungen für ihre Anwendung 64Vgl. Vismann,
Weitin, „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Urteilen/Entscheiden, S. 16. die BUR-Ausgabe von 1987 der Colonna Infame dann ausgerechnet von Franco Cordero eingeleitet wird – in Form einer vernichtenden Kritik und veritablen vituperatio –, kann man eigentlich nur verwundert feststellen. (Alessandro Manzoni, Storia della Colonna Infame, eingeleitet von Franco Cordero und kommentiert von Gianmarco Gaspari, Mailand: Biblioteca Universale Rizzoli 1987.)
65Dass
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vorsah – beginnen:„ Vollero appunto costoro cominciar dalla tortura. […] È che non cercavano una verità, ma volevano una confessione“ (CI, 709 f.).66 In dieser Perspektive besiegelt bereits Piazzas allererste Aussage nach seiner Festnahme, nichts von den Schmierereien zu wissen, sein späteres Urteil, denn sie erlaubt es den Verhörern, genau darin eine potentielle Lüge zu erkennen – ganz Mailand wusste schließlich von den Salben an den Wänden – und die Folter anzudrohen: „[…] che altrimente, come cose inuerisimili, si metterà alla corda, per hauer la verità di queste inuerisimilitudini“ (CI, 711).67 Manzoni liest den Unrechtsprozess in einer Dialektik von Wahrscheinlichkeit und Unwahrscheinlichkeit, die von Anfang an zu Gunsten des Stärkeren entschieden ist und deren Ziel einzig darin besteht, mittels Geständnissen einen Schein von Recht zu erzeugen. Immer wieder hält er in der Lektüre der Verhörprotokolle an jenen Stellen inne, wo er auf absurde Indizien trifft – „cose che in un romanzo sarebbero tacciate d’inverisimili“ (CI, 686; „lauter Dinge, die in einem Roman als unwahrscheinlich erachtet würden“, S. 29) – bzw. wo ‚Unwahrscheinlichkeit‘ (im Text teilweise durch Kursivierung hervorhoben) als Indiz der Schuld missbraucht wird.68 Die durch Folter erzwungenen Geständnisse werden zu einer Negativfolie von freien, wenn schon nicht wahren, so wenigstens wahrscheinlichen (und auf Manzonis Schreiben bezogen: ‚poetischen‘) Sprechakten. Schlimmer: Die anfänglich erpresste Lüge weitet sich zu einem monströsen Lügengebäude aus, in dem durch Verleumdung tatsächlich Schuldige produziert werden: „Così, con la loro impunità, e con la loro tortura, riuscivan que’ giudici, non solo a fare atrocemente morir degl’innocenti, ma, per quanto dipendeva da loro, a farli morir colpevoli.“ (CI, 762)69 Die wahrscheinliche Fiktion erhält im Gegensatz zu dieser unwahrscheinlichen damit den Vorzug, dass sie keine Schuldigen produziert, nicht falsch richtet, aber im besten Falle ein wahres Urteil qua schönem Schein darstellt (und als solches imitiert werden kann). Der ‚hässliche Schein‘, als den Manzoni die Prozessakten sprechen lässt, offenbart dagegen – aufklärerisch gesprochen – die Logik des Vorurteils bzw. – religiös – eine Macht des Bösen. Setzt Verri in seiner Prozessgeschichte auf diejenigen Momente, in denen die physische Folter zu Unwahrheit führt, sucht Manzoni nach den Inkohärenzen und logischen Bruchstellen, aus denen das Lügengespinst der Anklage zusammengesetzt ist.70 Das erlaubt ihm, gegen Verri
66„Sie
wollten tatsächlich mit der Folter beginnen. […] Denn sie suchten nicht nach einer Wahrheit, sie wollten bloß ein Geständnis.“ (S. 67) 67„[…] denn andernfalls sei das so unwahrscheinlich, daß man ihn ans Seil hängen werde, um die Wahrheit über diese Unwahrscheinlichkeiten zu erfahren.“ (S. 70) 68Vgl. beispielsweise CI, I. Kap.: S. 691; III. Kap.: S. 710, 711, 713, 720, 724; IV. Kap.: S. 733, 739, 741, 743, 751, 752, 753. 69„So gelang es jenen Richtern mit ihrem Straflosigkeitsversprechen und ihrer Folter nicht nur, Unschuldige auf entsetzliche Weise sterben zu lassen, sondern auch, soweit es in ihrer Macht lag, sie als Schuldige sterben zu lassen.“ (S. 148) 70„Die von Manzoni erstellte Liste der Regelwidrigkeiten ist beachtlich und bildet bei näherem Hinsehen die tragende Struktur der Kapitel der Schandsäule […].“ (Garlati, „Schuldig eines Verbrechens, das es nicht gab“, S. 73.)
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zu zeigen, dass die Abschaffung der Folter Fehlurteile nicht ausmerzt, sondern dass Folter und Verhör in einem Zusammenhang stehen, in dem physische Gewalt durch verbale und imaginäre Gewalt abgelöst wird.71 So wird Manzoni neben der Folter das Versprechen der Straffreiheit zum zentralen Argument gegen die Richter. Auch hier insistiert er auf der Illegalität dieses Versprechens, das allein vom Fürsten bzw. dem (abwesenden) Gouverneur Spinola hätte angeordnet werden dürfen. Nur weil es in nicht offizieller, nicht schriftlicher Form gegeben war, konnte es am Ende wieder außer Kraft gesetzt werden.72 Aber erst diese Form der moralischen Folter – diese Verführung – bringt Piazza zum aktiven Lügen und auf die Idee, Giangiacomo Mora mit ins Spiel zu bringen, der als Barbier u. a. auch eine Salbe gegen die Pestkrankheit vertrieb.73 Volevan dal Piazza una storia d’unguento, di concerti, di via della Vetra: quelle circostanze così recenti gli serviron di materia per comporne una: se si può chiamar comporre l’attaccare a molte circostanze reali un’invenzione incompatibile con esse. (CI, 722 f.)74
Manzoni legt für die Geständnislogik des Prozesses die ambivalente Metapher des Salbenschmierens nahe: Die Richter wollten eine Salben-Geschichte und Piazza liefert sie – auch wenn die invenzione damit am Ende mit den Bestandteilen unvereinbar werden würde. Das Zusammensetzen der Bestandteile (‚comporre‘) übersetzt Kroeber bezeichnenderweise mit ‚zusammenrühren‘. Die Geschichte, das Narrativ des fiktiven, grundlosen Verbrechens substituiert als eigenmächtig wirkende, ansteckende storia die buchstäbliche Pest-Krankheit bzw. deren potentielle Verursacher. Nicht das Mitschuldig-Werden bzw. das Den-Anderen-mitschuldig-Machen der einzelnen Akteure steht dabei im Vordergrund, sondern ein ursprüngliches, verkehrtes (Un-)Wahrheitsbegehren, das Manzoni in der Sprache der Richter sucht und verzweifelt anklagt: Sie wollen Geständnisse statt Wahrheit. Was Foucault als historischen Übergang von vormodernen zu modernen Disziplinartechniken beschrieben hat, demonstriert Manzoni – als Ineinandergreifen von physischer und moralisch-imaginärer Folter – am Ort der Justiz selbst. Er zeigt, wie ungerechte Richter es schaffen, eine immer
71Vgl.
hierzu Thomas Weitin (Hg.), Wahrheit und Gewalt. Der Diskurs der Folter in Europa und in den USA, Bielefeld: transcript 2010. 72Vgl. III. Kapitel, CI, 718 ff. 73Was ein Berufsvergehen darstellte, weil das Herstellen solcher Mittel Apothekern und Medizinern vorbehalten war. Insofern zeigt Mora bei seiner Festnahme und Hausdurchsuchung ein Unrechtsbewusstsein, welches von den Ermittlern als Indiz für das Verbrechen gewertet wird. (Vgl. CI, 87–89.) 74„Die Richter wollten von Piazza eine Geschichte hören, in der es um Salbe, um Verabredungen und um die Via della Vetra ging: Hier waren die Fakten, aus denen er eine zusammenrühren und ihnen vorsetzen konnte – wenn man das Festmachen einer aus der Luft gegriffenen Erfindung an einer Vielzahl einzelner Umstände so nennen kann.“ (S. 87 f.)
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größer werdende Unwahrscheinlichkeit als Wahrscheinlichkeit der Schuld und Wahrheit des Rechts erscheinen zu lassen. So heißt es an einer Stelle der Erstfassung der Colonna Infame: „È negli esaminatori sempre la stessa instancabile avidità di fatti, di spiegazioni, di particolari, negli esaminati lo stesso stento, la stessa contenzione dell’inventare.“75 Der ganze vermeintliche Plot, das ‚Verbrechen‘ oder der ‚Grund‘ für die Verurteilung wird als erpresstes, illegales Geständnis demaskiert. Es ist mühsam, diesen oben nur grob umrissenen ‚Plot‘ anhand von Manzonis minutiösen Verhör-Interpretationen herauszufiltern, einmal, weil Manzoni ihn beim Leser voraussetzen konnte, aber vor allem, weil es ja gerade darauf ankommt, ihn als Irrweg einer fehlgeleiteten Indizien-Deutung zu entlarven. Die Infektionslogik, die Manzoni in den Verhören ausmacht, repräsentiert eine Variante des Topos der Dichtung als pharmakon. Im Fall des Pestschmierer-Prozesses führt das Gift der Fiktion statt zur Heilung oder Wiedergutmachung eines Verbrechens zu einer tödlichen Verselbständigung. Das erste Kapitel setzt mit Caterina Rosas Beobachtung eines scheinbar Schreibenden (!) ein. Im zweiten Kapitel erfolgt der Exkurs zur Strafrechtsliteratur, die, wenn man sich an sie gehalten hätte, den Justizskandal hätte verhindern können. Kapitel III und IV legen dar, wie die Geständnisse Piazzas (III) und Moras (IV) unter Folter und Ankündigung von Straffreiheit gezielt gelenkt wurden, allerdings aber auch zu zwei konträren Aussagen führten, welche im V. Kapitel mit der Erfindung der „persona grande“ (CI, 757; „der hochgestellten Person“, S. 140) Padillas als Kopf einer Verschwörung durch weitere Verhöre ‚gelöst‘ wird. Dessen Freispruch gut ein Jahr nach der an Piazza und Mora (und einigen Anderen) verhängten Todesstrafe ist im sechsten Kapitel dann nachträglicher Beweis für die Unschuld der Verurteilten und – im Umkehrschluss – für die Schuld der Verurteilenden. Spätestens mit dem Freispruch der „persona grande“ Padilla, Sohn des Schlosshauptmanns, erweist sich die Anklage als ein einziges Lügenkonstrukt („inganno“, CI, 774). Damit wird die Logik der Ungerechtigkeit durchbrochen und eine (historische) Wahrscheinlichkeit (der Unschuld der Angeklagten) drängt sich auf. Indem Manzoni aber betont, dass die Macht des Höhergestellten, nicht etwa eine willentliche Entscheidung der Richter, zu diesem Abbruch der Gewaltspirale geführt habe, verweigert er gewissermaßen einen Ausweg aus der juristischen Logik des Dezisiven an einer Stelle, wo die Möglichkeit zur Ausdifferenzierung bestanden hätte.76 Die Unwahrheit des Urteils wird vielmehr sistiert, um sie im letzten, siebten Kapitel vom Recht – moralphilosophisch – auf andere Bereiche, auf Historiographie und Dichtung, 75Alessandro
Manzoni, Appendice storica su la colonna infame, in: Ders., Tutte le opere, Bd. II/3: Fermo e Lucia, hg. Alberto Chiari und Fausto Ghisalberti, Mailand: Mondadori 1964, S. 671–749, hier: S. 699. („Bei den Ermittlern findet sich immer die gleiche unermüdliche Gier nach Fakten, Erklärungen, einzelnen Umständen, bei den Verhörten die gleiche Mühe, die gleiche Anstrengung zu erfinde“). 76An der Stelle der Möglichkeit, Padillas Freispruch zu ergründen, häuft Manzoni fast eine Seite lang Fragen an – nach dem Muster: ‚Erinnerten sich die Richter in jenem Moment, dass …‘ –, deren rhetorische Funktion das nochmalige Vor-Augen-Stellen der Grausamkeit des Urteils ist: „Il Padilla fu assolto, non si sa quando per l’appunto, ma sicuramente più d’un anno dopo, poichè l’ultime sue difese furono presentate nel maggio del 1632. E, certo, l’assolverlo non fu
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übertragen zu können. In einer kursorischen Lektüre von Geschichtswerken, die den Fall dokumentieren, rechnet Manzoni quasi bis zu Verri, der die Verurteilten endlich rehabilitierte, mit heuchlerischen, opportunistischen und abschreibenden Historiographen ab, um ganz am Ende in derselben inquisitorischen Absicht die Verse Giuseppe Parinis (1729–1799) zu zitieren, in denen dieser die Bürger anmahnt, die unheilvolle Pestsäule in Mailand zu meiden: O buoni cittadin, lungi, che il suolo Miserabile infame non v’infetti. (CI, 784)77
Als Invektive gegen seine Person hat dieses Parini-Zitat, mit dem Manzoni die Colonna Infame beschließt, bei den Literaturwissenschaftlern – quasi analog zu jener gegen die Richter von Seiten der Rechtsgeschichte – Kritik hervorgerufen. Es wurde eingewendet, dass Parini der Strafrechtspraxis seiner Zeit längst nicht so unkritisch gegenübergestanden habe, wie hier suggeriert werde.78 Der entscheidende Punkt scheint mir aber zu sein, dass Selbst- und Fremdanklage einander nicht ausschließen. Parini warnt in den Versen vor der fürchterlichen Säule; und noch einmal taucht die Ansteckungsmetapher auf: Man solle ihren verruchten Boden meiden, um nicht von ihm infiziert zu werden. Indem er die Zeilen zitiert, stellt Manzoni nun genau diese Frage: ob er sich in und mit seiner Schrift hat anstecken lassen von der Verruchtheit des Verbrechens oder ob es richtig war, ‚dorthin‘ zu gehen. Ganz wörtlich bezieht sich die Mahnung auf den Umstand, dass Manzoni die Colonna Infame in der ersten Fassung des Romans (von 1825/1827) ja tatsächlich ausgelagert hatte und sie nun für die Ausgabe von 1840 wieder einplante.79
Rechtspoetologie: Irdisches Strafrecht und Ehegesetz Wer sind „diese Richter“ („que’ guidici“)? Warum werden sie so scharf verurteilt? Sie bleiben, wie oben bereits dargelegt, namenlos – innominati wie der große
grazia; ma i giudici, s’avvidero che, con questo, dichiaravano essi medesimi ingiuste tutte le loro condanne?“ (CI, S. 773) („Padilla wurde freigesprochen, man weiß nicht genau, wann, aber sicher mehr als ein Jahr danach, denn seine letzte Verteidigungsschrift wurde im Mai 1632 vorgelegt. Und gewiß war dieser Freispruch kein Gnadenakt, aber bemerkten die Richter, daß sie mit ihm alle ihre früheren Verurteilungen für ungerecht erklärten?“ S. 165). 77„Ihr guten Bürger, fort von hier, damit dieser/Elende verruchte Boden euch nicht ansteckt!“ (S. 181) 78Vgl. den Kommentar von Ermanno Paccagnini in Manzoni, Fermo e Lucia, hg. Nigro/ Paccagnini, S. 1084–1086. 79Verris Osservazioni werden dann als endlich vom Vorurteil befreiendes Werk gefeiert, allerdings nicht ohne den bitteren Hinweis darauf, dass auch sie aufgrund persönlicher und karrieristischer Erwägungen ihres Autors erst postum erschienen sind. Mit der Feststellung ihrer Verspätung bringt auch Manzoni für die Colonna Infame eine implizite Selbstanklage ins Spiel, stellt andererseits aber sicher, dass sein Text immerhin noch von ihm selbst autorisiert ist (vgl. CI, 785).
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Tyrann Innominato der Promessi sposi – und werden doch nicht als Kollektiv oder Körperschaft („corpo“), sondern als Individuen angeklagt. Manzoni macht sie, das erläutert er in der Einleitung präzise, zu einem Exempel für eine korrupte Leidenschaftsverfallenheit des menschlichen Willens.80 Damit ist zugleich auf den moralistischen und den in der Manzoni-Forschung immer wieder kontrovers diskutierten jansenistischen Hintergrund verwiesen, vor dem die Promessi sposi und Manzonis gesamte Poetik gelesen werden müssen.81 Manzoni teilt mit den französischen Moralisten des 17. Jahrhunderts eine extrem skeptische Sicht auf die menschlichen Leidenschaften und auf die Dichtung als jenen Bereich, der auf diese Leidenschaften einwirkt.82 Allerdings kommt er gerade in Bezug auf die Dichtung zu einer Bewertung, die jener der solitaires von Port-Royal entgegengesetzt ist. Er erkennt mit ihnen ein poetisches Wirkungspotential, das jenseits aller logischen, rationalen oder historischen Vernunft liegt. Daraus zieht er aber nicht die Konsequenz, sie als solche zum verbotenen Anderen der Heiligen Schrift zu machen, das wahrhafte Wirklichkeitserkenntnis per se verstellt. Vielmehr setzt er auf die Beherrschbarmachung der Fiktion, um ihr Wirkungspotential, das auf Intuition und Identifikation beruht (und das insofern Leidenschaften ein- und nicht ausschließt), für die Erkenntnis nutzbar zu machen. Der Roman wird zu einem Wahrscheinlichkeitsbereich gnadenhaften Handelns und göttlicher Heilsordnung.83 Manzonis jansenistischer Pessimismus richtet sich, so kann man grob
80Insofern
laufen die Vorwürfe einer (rechts-) historischen Inkorrektheit von Vornherein ins Leere bzw. zielen implizit immer auf etwas Anderes; zum Beispiel auch auf die Rhetorizität der Colonna Infame: Massimo Verdicchio erkennt einen „relapse into the rhetorical mode“ darin, wenn Manzoni einerseits die prinzipielle Leidenschaftsverfallenheit der Menschen, andererseits eine besondere Schuld der Richter konstatiert: „Manzoni’s blindness is the unavoidable deceit inherent in historical writing, in the rhetoric and ideology of history and not in the individual. Manzoni’s Storia della Colonna Infame necessarily alters and hides the truth because, in the last instance, the truth that would be revealing is its own deceit.“ (Massimo Verdicchio, „Manzoni and the Promise of History“, in: Sante Matteo, Larry H. Peter (Hg.), The Reasonable Romantic. Essays on Alessandro Manzoni, New York u. a.: Peter Lang 1986, S. 213–230; hier: S. 228.) – Aber „individual writing“ ist ja nicht weniger rhetorisch als „historical writing“, und der Witz ist, dass sich beide Aussagen aus dem gleichen ‚Fall‘ (Referenten) ergeben. 81Biographisch ist hier nach wie vor die Arbeit von Francesco Ruffini, La vita religiosa di Alessandro Manzoni, 2 Bde., Bari: Laterza 1931 unumgänglich. Ruffini behauptet einen ‚inneren Jansenismus‘ Manzonis gegen alle anderen ideologischen oder theologischen Strömungen. Eine differenzierte Neueinschätzung bietet Luciano Parisi, Manzoni e Bossuet, Alessandria: Edizioni Dell’Orso 2003. 82Zur Debatte zwischen Jansenisten und Jesuiten im französischen 17. Jahrhundert, ihren ästhetischen Implikationen und Fortwirkungen in der Aufklärung siehe: Barbara Vinken, Der Ursprung der Ästhetik aus theologischem Vorbehalt. Theorien des Ästhetischen von Port-Royal bis Rousseau und Sade, Dissertation Yale University, New Haven u. a. 1992. 83Funktion und Status der Providenz in den Promessi sposi sind schon viel diskutiert worden. Dabei ist hervorzuheben, dass eine Providenz-Erwartung bzw. ihre Aktivität in der Geschichte im Roman nie vom (anonymen) Erzähler behauptet, sondern immer nur bestimmten Figuren attribuiert wird. Vgl. Ezio Raimondi, Il romanzo senza idillio. Saggio sui Promessi Sposi, Turin: Einaudi 1974, S. 214–219; Franco Triolo, „Manzoni and Providence“, in: Matteo, Peter (Hg.), The Reasonable Romantic, S. 245–257; Luciano Parisi, Manzoni e Bossuet, S. 91–116 („Il tema della Provvidenza in Manzoni“).
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sagen, weniger auf das Individuum als auf das Soziale und Kollektive: Erst in der Interaktion, im sozialen Handeln werden Leidenschaften pervertiert, persönliche Willen gebrochen und einem gesellschaftlichen, ‚irdischen‘ Unrecht unterworfen. Auf der Ebene des Individuums wäre Manzoni eher einer jesuitisch-molinistischen Seite, die eine Willensfreiheit des Menschen verteidigt, zuzurechnen. Deshalb sind die in der Einleitung der Osservazioni sulla morale cattolica genannten Vorbilder für Manzonis Apologie der katholischen Morallehre nicht auschließlich Jansenisten (wie Pascal und Nicole), sondern auch staatstragende Bischöfe wie Massillon und Bourdaloue.84 Das singuläre Beispiel der Richter wird von Manzoni in der Colonna Infame nun gerechtfertigt, weil es scheinbar helfe, ein rechtstheologisches Problem – kein anderes als die Rechtfertigung Gottes – zu lösen. Es geht darum, eine Willensfreiheit der Richter zu behaupten. Er wolle nicht, so schreibt Manzoni, Verris Einsicht in die Folter als Ursache des grausamen Fehlurteils in Abrede stellen: „Ma crediamo che importi il distinguerne le vere ed efficienti cagioni, che furono atti iniqui, prodotti da che, se non da passioni perverse?“ (CI, 679)85 Die Gewalt wird von der Folter auf die Richter verschoben, die böswillig gehandelt hätten. Den ‚Grad der Bosheit‘ bzw. deren endgültige Qualität lässt Manzoni offen; zweimal weist er mit der Formulierung „Dio solo ha potuto distinguere“, „Dio solo ha potuto vedere“ (CI, S. 679; „Gott allein konnte wissen“, S. 18 und S. 19) auf ein Wissen hin, das er unangetastet lässt; evident aber bleibt für ihn die Schuld der Tat. Der positive Zweck davon, die Ursache für die Ungerechtigkeit nicht in der Folter oder einer dunklen Vergangenheit, sondern in den „passioni pervertitrici della volontà“ (CI, S. 679; „pervertierenden Leidenschaften des Willens“, S. 19) zu sehen, ist nach Manzoni die Aufrechterhaltung der Willens- und Handlungsfreiheit des Menschen. Ohne sie würden angesichts des grässlichen historischen Falls nur „orrore“, „compassione“, schlimmer: „scoraggimento“ und „disperazione“ übrig bleiben. Bloße Erschütterung angesichts des Bösen ist Selbst- und Wirklichkeitsverlust: Ci par di vedere la natura umana spinta invincibilmente al male da cagioni indipendenti dal suo arbitrio, e come legata in un sogno perverso e affannoso, da cui non ha mezzo di riscotersi, di cui non può nemmeno accorgersi. (CI, 680)86
84Vgl.
OMC, „Al lettore“, S. 7. wir glauben, daß es darauf ankommt, die wahren Ursachen zu erkennen, die böswillige Handlungen waren, und was sollte diese hervorgebracht haben, wenn nicht perverse Leidenschaften?“ (S. 18) 86„Wir meinen, die menschliche Natur unweigerlich zum Bösen getrieben zu sehen durch Ursachen, die nicht von ihrem Willen abhängen, als wäre sie gefesselt in einem perversen und qualvollen Traum, aus dem sie sich nicht zu lösen, ja den sie nicht einmal als solchen zu erkennen vermag.“ (S. 20 f.) 85„Aber
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Ohne den menschlichen Willen wäre das Leben ein böser Traum, den der Träumende nicht einmal als solchen erkennte. Bloße Entrüstung ist hier unangemessen, weil die böse Tat damit naturalisiert, zu etwas Erhabenem gemacht würde und ungerechtfertigt bliebe. Schulderkenntnis wird notwendig, weil sonst Gott in Frage gestellt würde. Und so wird die Richteranklage zur notwendigen Alternative für „due bestemmie“ (CI, 680; „zwei Blasphemien“, S. 21), die Providenz zu leugnen oder sie anzuklagen („negar la Provvidenza, o accusarla“, CI, 680). Manzoni geht, indem er die Schuld bei den Richtern sucht, einen probabilistischen Mittelweg. In moraltheologischer Logik bleibt ihm keine andere Wahl, als aus der Ungerechtigkeit des Urteils eine Schuld der Richter zu machen: Ma quando, nel guardar più attentamente a que’ fatti, ci si scopre un’ingiustizia che poteva esser veduta da quelli stessi che la commettevano, un trasgredir le regole ammesse anche da loro, dell’azioni opposte ai lumi che non solo c’erano al loro tempo, ma che essi medesimi, in circostanze simili, mostraron d’avere, è un sollievo il pensare che, se non seppero quello che facevano, fu per non volerlo sapere, fu per quell’ignoranza che l’uomo assume e perde a suo piacere, e non è una scusa, ma una colpa; e che di tali fatti si può bensì esser forzatamente vittime, ma non autori. (CI, 680 f.; Herv. D. S.)87
In einem dezisionistischen Akt wird aus der Ungerechtigkeit der Tat die Schuld der Richter. An Stelle der Leugnung oder Anklage Gottes entscheidet sich Manzoni für die Anklage der Richter. Es ist also nicht ganz richtig, wie oben zu behaupten, dass den Richtern ein Wissen dort unterstellt wird, wo es keines geben konnte. Was ihnen zur Last gelegt wird, ist eine Verweigerung des Wissens. Anders als Jesus, der den Vater um Vergebung für seine Mörder bat, weil sie ‚nicht wussten, was sie tun‘ (Lk 23, 34), klagt Manzoni die Richter an, weil sie nicht wissen wollten, was sie taten. Das ist, mit Blumenberg, eine juridisch verschärfte Geschichte zur Entlastung Gottes, in der die Legitimität der Neuzeit zur Gnade wird.88 Eine radikalere Positivierung des Bösen im Namen des Guten ist kaum denkbar und freiwillig mag man Manzoni wohl kaum darin folgen, in diesem theologischen Juridismus eine Erleichterung oder etwas Tröstliches („un sollievo“) zu sehen. Man ahnt, warum er, obwohl die Colonna Infame gleichen Ursprungs wie der Roman ist, gezögert hat, sie dabeizubehalten: weil sie die Notwendigkeit einer Verurteilung des Menschen durch den Menschen impliziert.
87„Doch
wenn man bei genauerer Prüfung der Fakten darin eine Ungerechtigkeit (Herv. D.S.) entdeckt, die auch von denen erkannt werden konnte, die sie begingen, eine Übertretung der auch von ihnen anerkannten Regeln, mit Handlungen entgegen den Einsichten, die es nicht nur bereits zu ihrer Zeit gab, sondern die sogar sie selbst bei anderer Gelegenheit bezeugten, dann ist es tröstlich zu denken, daß sie nicht wußten, was sie taten, weil sie es nicht wissen wollten, weil sie in jenem Unwissen verharrten, das der Mensch nach Belieben hinnimmt oder verliert, was keine Entschuldigung ist, sondern eine Schuld (Herv. D.S.); und daß man bei solchen Taten zwar gezwungenermaßen das Opfer sein kann, aber nicht gezwungenermaßen der Täter.“ (S. 21) 88Hans 21999
Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit. Erneuerte Ausgabe, Frankfurt a. M.: Suhrkamp (1966).
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Erleichterung und Trost stellt sich aber darüber ein, dass der Text am Ende eben als Romanschluss und gerade nicht als eigenständiger Text publiziert worden ist. Manzonis Beispiel der verurteilten Richter schafft keine analytische Vergleichbarkeit; aus ihrem Fall lässt sich keine Regel ableiten, sei es ‚nur‘ die der Notwendigkeit des Urteils oder auch die der Providenz. Viel eher ließe sich ihr (fiktionalisierter) Fall als eine schlechte Metapher für jene Regel (der Gewalt des Rechts) auffassen, die der Roman aus einer Summe schlechter, mörderischer Beispiele (von Cristoforo bis zu Egidio) im Protagonisten-Paar Renzo und Lucia aufzuheben unternimmt.89 Renzo und Lucia entgehen mit ihrer Ehe (vielleicht oder in der Fiktion) jener Gewalt des perversen Rechts, deren sich die Richter im Fall Piazzas und Moras vielleicht ermächtigt haben. Vermittels eines metaphorischen, ausgleichenden Verfahrens wird der historische Fall Piazza/Mora ebenso fiktionalisiert, wie das fiktive Paar Renzo und Lucia historisiert wird. Im einen wie andern Fall sind Geschichte und Roman, Historiographie und Fiktion ebenso wenig zu trennen wie im ganzen ‚historischen Roman‘. Deshalb scheinen Gattungsstreitigkeiten in Bezug auf die Colonna Infame auch nur bedingt aufschlussreich.90 Die Providenz nicht leugnen oder verneinen zu dürfen, bringt Manzoni dazu, etwas Anderes zu tun. Michael Bernsen hat zu Recht auf die aufschlussreichen Worte aus dem 31. Kapitel hingewiesen, mit denen der Erzähler den Exkurs zur Mailänder Pest ankündigt, zu deren Verlängerung die Colonna Infame geworden ist: Noi, esaminando e confrontando, con molta diligenza se non altro, tutte le relazioni stampate, più d’una inedita, molti (in ragione del poco che ne rimane) documenti, come dicono, ufiziali, abbiam cercato di farne non già quel che si vorrebbe, ma qualche cosa che non è stato ancor fatto. (PS, XXXI, 526)91
Bernsen schreibt dazu: „Der historiographisch interessierte Leser erwartet bei der Formel, er habe etwas aus den Quellen zu machen versucht, ‚nicht wie es sein sollte‘ die Fortsetzung: ‚sondern, wie es wirklich gewesen ist‘. Manzoni erklärt jedoch, er habe etwas gemacht, was noch keiner vor ihm gemacht habe.“92 Die Neuheit der Manzoni’schen Geschichtslektüre bewegt sich zwischen den
89Vgl. Anselm
Haverkamp, „Beispiel, Metapher, Äquivalenz: Poetik nach Aristoteles“, in: Armen Avanessian, Jan Niklas Howe (Hg.), Poetik. Historische Narrative und aktuelle Positionen, Berlin: Kadmos 2014, S. 15–29. 90Vgl. Angelo Pupinos formalisierende Visualisierung der Rezeption des Textes als literarisch, rhetorisch (oratorisch) und nicht-literarisch (historiographisch) in: „Il vero solo è bello“. Manzoni tra Retorica e Logica, Bologna: Il Mulino 1982, S. 25. Seine These einer nichtautonomen Literatur und eines Schreibens zwischen Rhetorik und Logik entwickelt er bezeichnenderweise anhand einer Lektüre der Colonna Infame. 91„Wir
haben alle gedruckten Berichte plus einige ungedruckte und viele (von den wenigen, die erhalten geblieben sind) sogenannte amtliche Dokumente mit großer Sorgfalt geprüft und verglichen, um daraus wenn nicht das zu machen, was man gern hätte, so doch etwas, das noch nie gemacht worden ist.“ (S. 668) 92Bernsen, Geschichte und Geschichten, S. 184.
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aristotelischen Polen von Dichtung, die „quel che si vorrebbe“ darstellt, und Geschichtsschreibung, die das wirklich Geschehene abbildet. Bernsen nennt dieses neue Verfahren „historische Mythenforschung“ und ist darum bemüht, gegen Goethe und Co die innere Zusammengehörigkeit von historischen und fiktionalen Passagen des Romans zu erweisen. Das verkennt aber die Radikalität der Neuheit von Manzonis epistemischem Roman-Projekt, welches den Roman unerhörterweise als Wahrheitsrede instituiert. Wenn schon von Mythenforschung, müsste man jedenfalls auch von ‚Mythenschaffung‘ sprechen. Im Brautpaar von Renzo und Lucia entsteht ein ‚mythischer‘ Gegenpol zu den historischen Machtkonstellationen und Ungerechtigkeitspaaren, die aus Unterdrückern und Unterdrückten bestehen.93 Was man als Märchen oder als (Schema des hellenistischen) Liebesroman(s) der Promessi sposi bezeichnet hat, scheint angemessener als ein fiktives Gesetz oder eine legitime Fiktion beschrieben zu sein, die macht, dass wir an die Wahrheit eines Gesetzes dort glauben, wo es sie nicht gibt. In der Idee der Ehe scheint der Kreislauf der Gewalt unterbrochen und eine fiktional affirmierte – also weder geleugnete noch angeklagte – göttliche Gewalt mitgedacht, die einmal nicht straft oder verurteilt, sondern freispricht. Dem Verbrechen der Pestschmierer, das es nicht gab, steht demgemäß ein alles Zivilrecht übersteigendes Ehegesetz gegenüber, das es vielleicht auch nicht gibt und das in den Promessi sposi nur annähernd (als Wahrscheinlichkeit) entziffert wird. Man könnte diese Option einer legitimen Fiktion (eines Paares) in eine funktionale Analogie zu Pascals Wette bringen: Ähnlich wie Pascal in einem paradox-chiastischen Sprechakt einen unwahrscheinlichen Gott mit einer Wahrscheinlichkeitsrechnung behauptet,94 affirmiert Manzonis Erzähler ein unwahrscheinliches göttliches Recht mit einer wahrscheinlichen Rechtsfiktion. Im Nicht-Wissen des göttlichen Rechts (oder der Providenz) ist das Urteil suspendiert und wird übertragen auf das Spiel des Romans. Auf der Ebene des discours führt das zur paradoxen Erzählinstanz eines identitätslosen Anonymus, der keine Geschichte erfindet, sondern eine von der Geschichte schon geschriebene findet und nur noch überträgt.95 Dies erlaubt einerseits, die ganze Skala der RichterRolle (vom Freispruch bis zum Todesurteil) durchzuspielen, um gleichzeitig
93Vgl.
hierzu Italo Calvino, „Il romanzo dei rapporti di forza“, in: Carlo Ballerini (Hg.), Atti del convegno manzoniano di Nimega 1 6-17-18 ottobre 1973, Firenze: Libr. Ed. Fiorentiana 1974, S. 215–225. 94Vgl. Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist, Göttingen: Wallstein 2002; Cornelia Wild, „Schreibpraxis und Gottesbeweis – Pascals Experimentalsystem“, in: Michael Gamper, Martina Wernli, Jörg Zimmer (Hg), „Es ist nun einmal zum Versuch gekommen“. Experiment und Literatur I, S. 1580–1790, Göttingen: Wallstein 2009, S. 131–146. 95Vgl. die Lektüre des Roman-Vorworts als epistemologische Fiktion bei Thomas Klinkert, Epistemologische Fiktionen. Zur Interferenz von Literatur und Wissenschaft seit der Aufklärung, Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 179–185 („Die Refunktionalisierung der Manuskriptfiktion im Zeichen der Ironie“), der die beobachtete Ironie allerdings nicht in den hier behaupteten juridischen Rahmen stellt.
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an dieser Skala zu zeigen, dass das Urteil immer auch anders ausgesehen haben könnte – selbst im Fall eines Federigo Borromeo, der die Rechtsprechung der Kirche vertritt.96 Mir geht es im vorliegenden Zusammenhang allerdings weniger um diesen problematischen Status des Romanerzählers als um die Wirkweise der von ihm bemühten Rechtsfigur der Ehe, in der das Entscheidungsdilemma der Promessi sposi auf der Ebene der histoire ausgedrückt wird. Die Ehe wird im Roman zur prospektiven Figur einer nicht zuletzt göttlichen Gerechtigkeit; die dargestellte Eheschließung ist davon allenfalls schöner Schein bzw. im Gegensatz zu den Richtern keine schlechte, sondern eine gute Metapher. Im Gegensatz zum Richterurteil beruhte der Akt der Eheschließung nicht auf pervertierten Passionen, sondern auf einer legitimen Passion. Beruhen das Richterurteil (und auch das Urteil des Erzählers über die Richter) auf einem Zwang ohne Recht, ist die Ehe ein Recht ohne Zwang. Als Figur der Gerechtigkeit überdeckt sie die prinzipiellen Aporien von Recht und Gerechtigkeit. In Kants Rechtsphilosophie, nach der das Recht ein Zwang zur Freiheit ist, hätte eine solche Eheauffassung keinen Platz. Nicht Recht, allenfalls Billigkeit käme ihr als solche zu. Zwischen Recht und Gerechtigkeit vermittelnd, hatte die Billigkeit (aequitas) im römischen Recht eine Korrekturfunktion für das ius civile inne. Sie sollte gewährleisten, dass in verschiedenen Fällen gleiches Recht zur Anwendung kommt. Billigkeit und Notrecht werden aber nun von Kant als „Recht ohne Zwang“ bzw. „Zwang ohne Recht“ aus dem Recht im engeren Sinne (ius strictum) ausgeschlossen.97 Die Ehe von Renzo und Lucia ist ein Recht ohne Zwang, weil es auf eigener Autorität, wechselseitigem Konsens und Sakramentalität beruht. Wichtig ist festzuhalten, dass sie die Paradoxie von (irdischem) Recht und Gerechtigkeit nicht ersetzt oder aufhebt, sondern – poetisch-sakramental – überlagert. Das zeigt sich daran, dass der Romanschluss der Colonna Infame aufs Engste mit dem Romananfang verwoben ist, wo die verhinderte (Ehe-)Rechtsausübung Don Abbondios durch die Bravi schlechten Gesetzen zugeschrieben wird. Die Rechtskritik bei der Einführung Don Abbondios im ersten Kapitel liest sich stellenweise wie ein direkter Kommentar zum Justizskandal der Colonna Infame: Es gab Gesetze, aber sie wurden nicht befolgt; Klassen, Stände, Oligarchien und Potentaten sicherten sich Macht, Privilegien und Straffreiheit, um das Recht umgehen zu können. Kein Einzelner, am wenigsten der Machtlose, konnte auf eine Unterstützung hoffen: „La forza
96Kritik
im Modus der Ironie wird denn auch an der psychischen Folter kirchlicher Beicht- und Bußpraktiken geübt: Vgl. Kardinal Federigos gnadenloses, Autoinquisition einschließendes Verhör, dem Don Abbondio unterzogen wird und das dieser mit einem innerlichen „,Oh che sant’uomo! ma che tormento!‘“ (PS, XXVI, 447; „,Oh, was für ein heiliger Mann! Und was für ein Quälgeist!‘“, S. 566) quittiert.
97Vgl.
Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Erster Teil, hg. Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner 1998, S. 42–45 („Vom zweideutigen Recht (Ius aequivocum)“). Kants Ehedefinition lautet, wie oben gesehen (s. Abschn. 2.1, „Vom heiligen Stand zum Selbstzweck“), ganz anders (vgl. ebd., § 24 bis § 27; S. 93–97). Auf die Billigkeit als Recht ohne Zwang bin ich gestoßen bei Harun Maye, „Die Paradoxie der Billigkeit in Recht und Hermeneutik“, in: Vismann, Weitin (Hg.), Urteilen/Entscheiden, S. 56–71.
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
117
legale non proteggeva in alcun conto l’uomo tranquillo, inoffensivo, e che non avesse altri mezzi di far paura altrui.“ (PS, I, 16)98 Manzoni folgt hier zweifellos der von Pascal im Fragment „Justice, force“ festgestellten Interdependenz von Macht und Gerechtigkeit: Weil die Gesetze nicht an sich gerecht sind, braucht das Recht eine Gewalt, die es als gerecht behauptet: „Et ainsi ne pouvant faire que ce qui est juste fût fort, on a fait que ce qui est fort fût juste.“99 Weil Gerechtigkeit sich nicht erzwingen lässt, geschieht der umgekehrte Fall: Die Macht gibt sich den Anschein des Rechts und wer keine Macht hat, hat Pech. Pascals Rechtspessimismus und Kants ‚Zwangsrecht zur Freiheit‘ setzt Manzonis Roman in der Figur der Eheschließung ein fiktives Freiheitsrecht entgegen.100
Renzos Ironie „,[…] A questo mondo c’è giustizia finalmente.‘“ (PS, III, 55) – „,[…] Es gibt schließlich noch Gerechtigkeit in dieser Welt.‘“ (S. 74). Das sind die wütenden und verbitterten Worte Renzos, die er immer wieder sagen wird, bis er am Ende seine Lucia wieder in Armen halten kann. Das erste Mal fallen sie im dritten Kapitel nach dem erfolglosen Versuch, beim Winkeladvokaten Azzecca-garbugli Rechtshilfe gegen Don Rodrigos Nachstellungen zu erwirken. Von Anfang an ist die verhinderte Hochzeit ein „caso“, ein Rechtsfall, in dessen Verlauf Renzo immer wieder von der Rolle des Anklägers in die des Angeklagten zu fallen droht.101 Das erste Mal eben bei Azzecca-garbugli, von dem Renzo wissen will, ob es eine Straftat darstelle, wenn ein Priester mit einer Todesandrohung an seiner Amtsausführung gehindert werde: „,[…] Vorrei sapere se, a minacciare un curato, perchè non faccia un matrimonio, c’è penale.‘“ (PS, III, 44 f.)102 Der schräge Anwalt, der die Rechtsverdrehung im Namen trägt, findet in den Aktenbergen tatsächlich einen entsprechenden Gesetzeserlass, vermutet in Renzo aber keinen Unschuldigen, sondern jenen Bravo, der den Pfarrer unter Druck gesetzt hat. In Renzo wird damit immer wieder – wie im Fall Piazzas und Moras – ein Unschuldiger angeklagt. Aber ist er wirklich unschuldig?
98„Die
Macht des Gesetzes bot einem stillen und friedlichen Menschen, der keine sonstigen Mittel besaß, um sich bei den anderen Respekt zu verschaffen, nicht den geringsten Schutz.“ (S. 25) 99Blaise Pascal, Pensées, hg. Michel Le Guern, Paris: Gallimard 2004 (1977), Fragm. 94 (Le Guern)/298 (Brunschvicg), S. 102. 100Manzoni schwankt zwischen einem prinzipiellen Rechtspessimismus und der Auffassung einer Optimierbarkeit des Rechts durch seine Kodifikation. Vgl. etwa das zweite Kapitel der Colonna Infame, wo er die Autorität der Rechtsgelehrten mit dem Fehlen eines kodifizierten Rechts rechtfertigt (CI, S. 691). 101Vgl. „il miserabile caso“ (PS, I, S. 23). 102„,[…] Ich möchte gern wissen, ob es strafbar ist, einen Pfarrer zu bedrohen, damit er eine Trauung nicht vollzieht.‘“ (S. 61)
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3 Manzoni – Recht und Roman
Renzos Liebe zu Lucia ist ein Faktum, das der Roman voraussetzt; eine Liebesanbahnung oder die Szene einer Liebeserklärung gibt es in den Promessi sposi nicht. In den getrennten Geschichten der Protagonisten geht es nicht um die Entwicklung einer individuellen Paarbeziehung oder um Paar-Psychologie, sondern darum, mit welchem Recht eine solche Paarbeziehung überhaupt behauptet werden kann. Ausschlaggebend für dieses Recht ist, in welches Verhältnis das Paar zu seinem Außen gebracht wird und wie sich Renzo als männliche, Lucia als weibliche Figur zu diesem Außen verhalten. Die fiktive Prämisse des Romans ist die Unschuld des sich liebenden Paars, die im Zuge der Trennung auf die Probe gestellt wird. Es geht, mit anderen Worten, um die Bewährung Renzos als Romanheld, als männliche, liebende Figur, und statt individueller Psychologie beschreibt sein Weg eine Psychologie des männlichen Romanhelden. Im gleichen Zuge wird damit das zentrale Entwicklungsmodell des Romans, das Modell der Konversion, auf die Probe gestellt. Während sich die herausragenden Figuren Padre Cristoforo und der Innominato durch spektakuläre Konversionen – vom Mörder bzw. gefürchteten Outlaw zum Anwalt der Unterdrückten – auszeichnen, fällt bei Renzo und Lucia die Konversion mit der Paar-Vereinigung zusammen. Am Schluss im Paar eine gerechte Gemeinschaft zu repräsentieren, ist das paradoxe Ziel von Renzos als auch von Lucias Weg. Im Protagonisten-Paar propagiert der Roman eine fiktive Geschichte, in der das Subjekt paarungsfähig, gemeinschaftsfähig und gemeinschaftsmächtig wird, auch wenn seine Beziehung nach der Wiedervereinigung sofort wieder zweifelhaft wird. Renzo als fiktives Paar-Subjekt ist damit nicht nur eine Alternative zu seinen Wiedergängern Piazza und Mora – den Opfern der Realgeschichte –, sondern ebenso zum Märtyrer-Modell, dem Manzoni skeptisch-aufklärerisch entgegensteht,103 wie auch zu institutionell-korporativlegislativen Autoritäten wie dem Innominato oder Kardinal Borromeo. Schon mehrfach ist auf die Differenzen zwischen Renzos und Lucias Reisen im Roman aufmerksam gemacht worden: Lucia hält sich hauptsächlich in geschlossenen Räumen auf, während Renzo in die Welt, Geschichte und Natur geschickt wird. Die Oppositionen Innen und Außen, Religion und Politik scheinen so klar verteilt. Allerdings wird diese Oppositionsbildung systematisch im gemeinsamen, aber verschiedenen Moment einer umwegigen Konversion
103Ein Attribut, das Piazza und Mora übrigens aufgrund ihres Mitschuldigwerdens vorenthalten wird. Nur ein einziges Mal fällt der Märtyrer-Begriff in der Colonna Infame, und zwar im Falle Gaspare Migliavaccas, der – ebenso wie Piazza und Mora zum Tode verurteilt – in Folter und Verhör standhaft blieb und sich keine weiteren Namen abringen ließ. Vgl. CI, VI, 765: „Ne’ tormenti, in faccia alla morte, le sue parole furon tutte meglio che da uom forte; furon da martire.“ („Unter der Folter und im Angesicht des Todes klangen seine Worte besser als die eines Starken – es waren die eines Märtyrers.“ S. 152) In den Osservazioni sulla morale cattolica führt Manzoni das frühchristliche Märtyrertum als Ausnahme für die ‚anthropologische‘ Regel an, nach der die Menschen mächtigen Gesetzen Gehorsam leisten. Das Christentum sei insofern eine wunderbare Gemeinschaft, als es ihm trotz der eigentlich unmenschlichen Norm, bei Unmöglichkeit der Flucht den Tod ertragen zu müssen, gelungen sei, sich zu verbreiten und massenhaft Erfolg zu haben. (Vgl. OMC, III, 26.)
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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durchbrochen. Was Renzo auf seiner Reise widerfährt, was er tut und was er lernt, profaniert sowohl den epischen wie auch den bürgerlichen Helden. Weder wird er für Krieg und Politik gestählt, indem er sich das Recht auf seine Frau erkämpft. Noch lernt er irgend etwas, was das Glück der Gemeinschaft befördern würde. Renzo will weder als epischer noch als bürgerlicher, noch als komisch-pikaresker Held recht erstrahlen; er wird kaum weniger domestiziert und diszipliniert als Lucia, ohne doch der Lächerlichkeit preisgegeben zu werden. Ich lese Renzos ebenso wie Lucias Entwicklung als paradoxe Konversion, bei der es nicht um die Vollendung des Subjekts in der Beziehung zu Gott, sondern im Paar geht. Das ist deswegen paradox, weil von Paarbeziehung im Roman ja (fast) nirgends die Rede ist. Stattdessen betreibt der Text eine ‚Halbierung‘ der Subjekte, indem er sie im Kontakt mit der Außenwelt (Politik im Fall Renzos, Religion im Fall Lucias) scheitern lässt. Renzo und Lucia werden als Einzelsubjekte delegitimiert, auf ihrem Weg ‚allein‘ fallen sie beide in Schuld und Irrtum, um am Ende im Paar eine entscheidende Wende zu erfahren – eine ‚Konversion‘, einen ‚Neubeginn‘ von Idylle und Katastrophe gleichermaßen. Unterschieden ist das Paar am Ende nicht nur semantisch durch die ‚Außenwelten‘, die es durchläuft, sondern insbesondere durch zwei verschiedene Fiktionalitäten: In einer chiastischen Verschränkung profaniert der Romanerzähler in der Figur Renzos die epische Literatur, während er in der Figur Lucias die romaneske Literatur (die moderne Romantradition) sakralisiert. Die Prämisse des Textes, das unerzählte (romantische) Liebesbegehren, löst der Text als Rechtfertigung eines neuen Romans, einer neuen Literatur der Paar-Differenz – zwischen Epos und Roman, Männlichkeit und Weiblichkeit, zwischen Aktivität und Passivität, zwischen Paar und Gemeinschaft, Intimität und Öffentlichkeit – ein. Ezio Raimondi hat Renzo als einen gescheiterten Odysseus beschrieben.104 Tatsächlich gleicht er in Vielem dem epischen Helden: Er ist Reisender und Rächer; er wird zum Erzähler der eigenen Geschichte und er erwirbt List. Sein letztliches Scheitern sieht Raimondi aber vor allem im Schluss bestätigt, an dem keine Rückkehr, sondern das Exil steht und an dem Lucia Renzos utilitaristische Moral negiert. Lucia verkörpere daher in Analogie zu Hegels „Weiblichem“ „l’ironia della comunità“.105 Tatsächlich wäre die Hegel’sche Dialektik vielmehr umzukehren: Renzos Männlichkeit ist die Ironie jenes dialektischen Gemeinwesens, das „sich nur durch die Störung der Familienglückseligkeit und die Auflösung des Selbstbewußtseins in das allgemeine sein Bestehen gibt“.106 Renzo-Odysseus entspräche dann sozusagen der Hegel’schen Antigone: Ebenso wie Hegel deren Handeln im Namen des göttlichen Gesetzes in einer bürgerlichen Hausfrauensphäre aufhebt, macht Manzoni aus den epischen Heldentaten Odysseus’ potentiell
104Raimondi,
Il romanzo senza idillio, S. 173–189 („La ricerca incompiuta“). S. 188. 106Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes, hg. Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1986, S. 352. 105Ebd.,
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störende Handlungen aus dem Inneren des Gemeinwesens heraus, wohingegen das ‚menschliche Gesetz‘ „in seiner Betätigung überhaupt“ vor allem Weiblichkeit „ist, bewegt und erhält“.107 Differenzen zwischen den Protagonisten sind sowohl auf der Handlungsebene als auch auf der metanarrativen Ebene des Textes zu suchen. Entscheidend ist dabei, dass der epische Intertext und allgemeiner: männliches Heldentum in konsequent parodistisch-entlarvender Weise zitiert wird. Die Ironie des Romans beginnt mit seiner Handlung und bricht nicht erst am Ende ein.108 Renzos komisch-verzweifelter Ausruf „A questo mondo c’è giustizia finalmente.“ ist das Emblem für diese Ironie.
Ambivalente Affektpolitik Renzos unschuldiges Liebesbegehren bleibt vom Erzähler unerwähnt; nur Don Abbondio formuliert es in Gedanken, nachdem er von Don Rodrigos Bravi bedroht worden ist und die nächste Bedrohung – durch Renzo – fürchtet: „Se Renzo si potesse mandare in pace con un bel no, via; ma vorrà delle ragioni […]? […] E poi, e poi, perduto dietro a quella Lucia, innamorato come … Ragazzacci, che, per non saper che fare, s’innamorano, voglion maritarsi, e non pensano ad altro; non si fanno carico de’ travagli in che mettono un povero galantuomo. Oh povero me! […]“ (PS, I, 21)109
Don Abbondios vorweggenommene Anklage Renzos ist durchaus berechtigt, denn als dieser von den vermeintlichen Ehehindernissen erfährt, bedrängt er den Pfarrer mit seiner ganzen Manneskraft, den Namen Don Rodrigos als wahre Ursache für den Aufschub der Hochzeit preiszugeben. Das Gespräch im zweiten Kapitel inszeniert Renzos pseudo-epischen Zorn, der sich vor allem in einer seltsam zur Schau gestellten Bedrohungsgestik ausdrückt. Im Moment der Namenspreisgabe wird Renzo mit den Worten beschrieben: „e stava curvo, con l’orecchio chino sulla bocca di lui, con le braccia tese, e i pugni stretti all’indietro“ (PS, II, 34).110 Primo Levi hat auf die Künstlichkeit, Manieriertheit dieser Bedrohungsgeste hingewiesen und von einem „processo mentale indiretto“ gesprochen, „come se l’autore, di fronte a un atteggiamento del corpo umano […] cercasse di illustrare
107Ebd. 108Vgl. hierzu die gesammelten Beiträge in: Massimiliano Mancini (Hg.), Il romanzo dell’ironia. I promessi sposi nella critica manzoniana recente, Manziana (Rom): Vecchiarelli 2005. 109„,Wenn sich Renzo doch mit einem klaren Nein abspeisen ließe! Aber nein, er wird nach Gründen fragen […] Und dann ist er so vernarrt in diese Lucia, verliebt wie ein… diese Kindsköpfe, die sich verknallen, weil sie nichts Besseres zu tun wissen, die heiraten wollen und an nichts anderes denken, die sich nicht darum kümmern, in welche Nöte sie einen armen Ehrenmann bringen! O weh, o weh! […]‘“. (S. 31) 110„[D]abei stand er vorgebeugt, das Ohr dicht über dem Mund des Pfarrers, die Arme nach hinten gestreckt und die Hände rücklings zu Fäusten geballt.“ (S. 47)
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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l’illustrazione stessa in luogo del dato visivo immediato“.111 Manzonis Größe im Finden von Metaphern und Bildern für den unbegreiflichen Grund des Bösen stellt er eine Ungelenkigkeit und Verlegenheit im Ausdruck der menschlichen Geste („il gesto umano“)112 gegenüber. In der Affektdarstellung erweise sich eine Grenze des christlichen Erzählers, der keine unkontrollierten und ambivalenten Affekte (man könnte auch sagen: Affekte, die nicht unter christlicher caritas subsumierbar sind) zulasse. Renzos Wut wird christlich zensiert, indem sie als künstliche, falsche Wut eines literarischen Helden evoziert wird. Diese Verschiebung trägt die Signatur der von René Girard beschriebenen triangulären Begehrensstruktur: Don Rodrigo wird zur Mittler-Figur von Renzos Begehren.113 Hier beginnt, mit dem Erzähler der Colonna Infame zu sprechen, ein böser Traum der Geschichte, in dem die Unschuldigen in die Schuld hineingezogen und zu (Mit-)Schuldigen werden. Mit Mordphantasien verlässt Renzo das Pfarrhaus, wobei der Erzähler dem Leser die Logik der Verstrickung erklärt: Renzo intanto camminava a passi infuriati verso casa, senza aver determinato quel che dovesse fare, man con una smania addosso di far qualcosa di strano e di terribile. I provocatori, i soverchiatori, tutti coloro che, in qualunque modo, fanno torto altrui, sonor rei, non solo del male che commettono, ma del pervertimento ancora a cui portano gli animi degli offesi. (PS, II, 36)114
Dieser „pervertimento“, dem Renzo unterliegt, hat im Plan der Überraschungshochzeit ihren ersten – komischen – Höhepunkt. Renzo eignet sich eifrig Agneses Idee an, man könne die Hochzeit in einem rechtlichen Graubereich forcieren. Wenn es nur gelänge, dass Renzo und Lucia in der Gegenwart des Pfarrers den Ehe-Konsens im Beisein zweier weiterer Zeugen aussprächen, wäre das Paar kirchenrechtlich getraut. Zufällig auf denselben Tag fällt Don Rodrigos Plan, Lucia zu entführen. Beide in der „notte degl’imbrogli e de’ sotterfugi“ (PS, VIII, 141; „Nacht der Vortäuschungen und Winkelzüge“, S. 180) geschilderten Aktionen scheitern. Beide Projekte – Renzos forcierte Hochzeit und Don Rodrigos schmählich scheiternder Frauenraub – werden im Modus des Komischen geschildert. Salvatore S. Nigro verweist auf Parallelen zu Fieldings Joseph Andrews und Tom Jones und auf eine – über den Barbier von Sevilla
111Primo Levi, „Il pugno di Renzo“, in: Ders., L’altrui mestiere, Turin: Einaudi 1985, S. 75–80; hier: S. 77 f. 112Ebd., S. 77. 113Vgl. René Girard, Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris: Grasset 1961. 114„Unterdessen eilte Renzo wütenden Schrittes nach Hause, ohne entschieden zu haben, was er tun sollte, aber mit dem wilden Verlangen, etwas Außergewöhnliches und Schreckliches zu tun. Die Aufwiegler, die Unheilstifter, all jene, die in irgendeiner Weise anderen unrecht tun, sind nicht nur schuldig der Missetaten, die sie begehen, sondern auch schuld an den Verirrungen, in die sie die Seelen ihrer Opfer treiben.“ (S. 49)
122
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vermittelte – Melodramatisierung der Szene.115 Der späteren, tatsächlichen Entführung Lucias und der „notte dell’Innominato“ steht die karnevalisierte Nacht im Dorf, in der niemand mehr weiß, was der andere tut, diametral entgegen. In Bezug auf Renzo macht der Erzähler die bezeichnende Bemerkung einer Ununterscheidbarkeit von Recht und Unrecht, in der sich zugleich die maliziöse Metapoetik ausdrückt: In mezzo a questo serra serra, non possiam lasciar di fermarci un momento a fare una riflessione. Renzo, che strepitava di notte in casa altrui, che vi s’era introdotto di soppiatto, e teneva il padrone stesso assediato in una stanza, ha tutta l’apparenza d’un oppressore; eppure, alla fin de’ fatti, era l’oppresso. Don Abbondio, sorpreso, messo in fuga, spaventato, mentre attendeva tranquillamente a’ fatti suoi, parrebbe la vittima; eppure, in realtà, era lui che faceva un sopruso. Così va spesso il mondo… voglio dire, così andava nel secolo decimo settimo. (PS, VIII, 128)116
Die Ironie dieser Feststellung einer scheinbaren Rollenverteilung von Verfolger und Verfolgtem wird dadurch gesteigert, dass der Erzähler sie genau in dem Moment anführt, wo Don Abbondio, indem er Lucia panisch eine Decke über den Kopf wirft, den Plan der eigenmächtigen Verheiratung vereitelt hat. Renzos Versuch, sich selbst Recht zu verschaffen, scheitert komisch und gibt Anlass zu einer Reflexion („riflessione“) der Figuren-Regie. Seine Schuld wird komisch gedämpft, obwohl die Einsicht, bezogen aufs Romanganze, von tragischem Ernst ist und auch im Falle Renzos bis zum Haftbefehl und fast bis zum Todesurteil führt. Einerseits ist klar, dass irdische Gerechtigkeit sich nur einstellen kann, wenn die verkehrten Passionen in die richtige Bahn gelenkt werden; andererseits bleibt genau diese Konversion Renzos zweifelhaft. Seine Affektivität behält bis zum Schluss den Hauch des Als-komisch-zu-Entlarvenden bei. Während sie sich in seinen Kontakten mit der Welt, der großen Politik und der Pest als irdische prudentia bewährt, wird ihr im Verhältnis zu Lucia eine komplementäre, passiv empfangende Rolle zugeschrieben. Im Laufe des Romans konvertiert nicht Renzo (und auch nicht Lucia, wie weiter unten analog deutlich werden soll), vielmehr ist es die Paar-Vereinigung, welche als zentrale Wende beider Figuren dargestellt wird. Die rekonfigurierte romantische Fiktion lautet Gemeinsam-ins-Leben- statt Gemeinsam-in-den-Tod-Gehen.
115Manzoni,
Fermo e Lucia, hg. Nigro/Paccagnini, S. 966 f. dieses Durcheinanders können wir nicht umhin, einen Augenblick innezuhalten, um eine Überlegung anzustellen. Renzo, der zur Nachtzeit in einem fremden Haus herumlärmt, in das er heimlich eingedrungen ist und dessen Besitzer er in einem Zimmer belagert, macht ganz den Eindruck eines Bedrängers, und doch ist er letztlich der Bedrängte. Don Abbondio, überrascht, erschreckt, in die Flucht getrieben, während er friedlich seinen Liebhabereien nachging, könnte als Opfer erscheinen, und doch war in Wirklichkeit er es, der ein Unrecht begangen hatte. So geht es häufig zu in der Welt… will sagen, so ging es im siebzehnten Jahrhundert zu.“ (S. 165) 116„Inmitten
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Illustrieren lässt sich diese ‚Wende im Paar‘ in der Gegenüberstellung der Schlussszene des Romans mit den Vorbereitungen des ‚matrimonio a sorpresa‘ im VII. Kapitel, in deren Verlauf Renzo Lucia erpresserisch zwingt, in den halb illegalen Plan einzuwilligen. Es ist die Szene, in der sich mit Primo Levi die Ambivalenz von Renzos Affekt gegen Lucia selbst wendet, eine Ambivalenz, die der Erzähler als strategische List Renzos einzuhegen versucht. Renzo gibt sich seiner Wut gegen Don Rodrigo hin, nachdem Cristoforo von seinem Misserfolg in der Unterredung mit diesem berichtet. Die brave Lucia ist entsetzt von Renzos Wut, hält aber an ihrem Unwillen, illegale Dinge zu tun, fest, was Renzo wiederum dazu bringt, ihr – in teils gespielter, teils echter Rage – das Einverständnis als Liebesbeweis abzuringen: „Voi!“ rispose, con una voce che’esprimeva un’ira ben diversa, ma un’ira tuttavia: „voi! Che bene mi volete voi? Che prova m’avete data? Non v’ho io pregata, e pregata, e pregata? E voi: no! no!“ (PS, VII, 106)117
Die manieristische, gestische und verbale Drohung tut ihre Wirkung und Lucia willigt ein. Primo Levi ist dieser künstliche Zorn zu Recht aufgefallen, und tatsächlich ist er mehr ‚die Illustration einer Illustration‘, Meta-Zorn als ‚echter Zorn‘. Giovanni Pascoli hat in seiner Mikrolektüre der Szene gezeigt, wie sehr sie vor dem Hintergrund von Aeneas’ letzter Nacht in Troja zu lesen ist.118 Lucia übernehme dabei sowohl die Rolle des Vaters Anchises, der nicht mit fliehen will, als auch der Gattin Creusa, die Aeneas im Namen der Familie anfleht, sich nicht noch einmal in den Kampf zu stürzen. Ein Wunder, das den alten Anchises nachgeben lässt, bringt bei Vergil die Wende; Creusa aber, der Gattin, wird die Flucht von den Olympiern verweigert, das höhere Gesetz verfügt, dass Aeneas das Geschlecht mit einer neuen Gattin retten wird. Renzos Worte nun, die unter der Maßgabe des Realistischen als unwahrscheinlich und ungeschickt erscheinen müssen, imitieren Aeneas’ epischen Zorn und entlarven weniger einen falschen Affekt (bzw. einen Renzo, der heimlicher Rowdy wäre) als eine falsche Affektdarstellung (bzw. ein episches Heldenkonzept). Mit „un’ira ben diversa, ma un’ira
117„,Du?‘ antwortete er mit einer Stimme, die einen ganz anderen Zorn, aber immer noch Zorn ausdrückte.,Du? Wie sehr liebst du mich denn? Welchen Beweis hast du mir erbracht? Hab ich dich nicht gebeten, gebeten und immer wieder gebeten? Aber du: Nein! Nein!‘“ (S. 139) 118Giovanni Pascoli, „Eco d’una notte mitica“, in: Ders., L’Era Nuova. Pensieri e discorsi (1907), Mailand: E.G.E.A. 1994, S. 131–145. Renzos Racheandrohung ist eine Parodie von Aeneas Worten: „arma, viri, ferte arma; vocat lux ultima victos./reddite me Danais; sinite instaurata revisam/proelia. Numquam omnes hodie moriemur inulti.“ („Waffen, Männer, schafft die Waffen her; es ruft der letzte Tag die Besiegten! Bringt mich wieder zu den Danaern, lasst mich von neuem den Kampf aufnehmen! Nie und nimmer werden wir alle heute sterben, ohne gerächt zu werden!“, Vergil, Aeneis, übers. und hg. Edith und Gerhard Binder, Stuttgart: Reclam 2008, II, 668–670, S. 108.)
124
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tuttavia“ klingt Aeneas’ Überredungsstrategie an – ein Ruf zu den Waffen („arma, viri, ferte arma“),119 den Manzonis Erzähler in Frage stellt: In mezzo a quella sua gran collera, aveva Renzo pensato di che profitto poteva esser per lui lo spavento di Lucia? E non aveva adoperato un po’ d’artifizio a farlo crescere, per farlo fruttare? Il nostro autore protesta di non ne saper nulla; e io credo che nemmen Renzo non lo sapesse bene. Il fatto sta ch’era realmente infuriato contro don Rodrigo, e che bramava ardentemente il consenso di Lucia; e quando due forti passioni schiamazzano insieme nel cuor d’un uomo, nessuno, neppure il paziente, può sempre distinguer chiaramente una voce dall’altra, e dir con sicurezza qual sia quella che predomini. (PS, VII, 106 f.)120
Pascoli modifiziert treffsicher die Frage des Erzählers: „Aveva Enea pensato di che profitto poteva esser per lui lo spavento di Anchise e Creusa? E non aveva adoperato un po’ d’artifizio a farlo crescere, per farlo fruttare? Il nostro autore protesta di non ne saper nulla …“.121 In der Auseinandersetzung mit der fiktiven Autorinstanz bringt Manzonis Erzähler Renzos ‚aeneischen‘ Zorn in einen moralischen Graubereich, indem er ihm Kalkül und Intentionalität – und Lucia gegenüber Täuschung – unterstellt. Dabei wird Renzo zu einem Nachahmer seines Feindes Don Rodrigo: Während dieser Lucia rauben will, strebt Renzo eine Zwangshochzeit an, in der das Versprechen der Verlobten ein erzwungenes ist. Aus Angst vor Renzos Rache-Mord an Don Rodrigo verzichtet Lucia auf ihren Willen und gerät dadurch nicht weniger in einen moralischen Graubereich. „‚Ve lo prometto […]‘“, „,[v]e l’ho promesso,‘“ „,[ho] promesso, e non mi ritiro […]‘“ (PS, VII, 106 f.),122 wiederholt sie verzweifelt. Strukturell wird die Szene so zu einer Ankündigung, einer Prolepse, von Lucias Keuschheitsgelübde im XXI. Kapitel, in dem sie sich erneut aus Angst hingeben und das Gelübde gestehen wird.123 Renzos ambivalenter Zorn erscheint im Laufe des Romans mehr und mehr als harmloser, durch irdische Gewalt und narrative Suggestion geläuterter, profaner Zorn, während Lucias ‚Unschuld‘ eine heilige Angst zugeschrieben wird,
119„Waffen,
Männer, schafft die Waffen her“ (Vergil, Aeneis, II, S. 668). Renzo mitten in seinem großen Zorn womöglich bedacht, welchen Nutzen er aus Lucias Entsetzen ziehen konnte? Und hatte er sich bemüht, ihr Entsetzen mit ein bißchen Kunstfertigkeit zu vergrößern, um es noch besser nutzen zu können? Unser Autor beteuert, nichts darüber zu wissen, und ich glaube, nicht einmal Renzo selber wußte es recht. Tatsache ist, daß er wirklich sehr wütend auf Don Rodrigo war und daß er Lucias Einwilligung glühend ersehnte, und wenn zwei starke Leidenschaften gleichzeitig in der Brust eines Mannes toben, kann niemand, nicht einmal der Betroffene selbst, immer klar die Stimme der einen von jener der anderen unterscheiden und mit Sicherheit sagen, welche der beiden überwiegt.“ (S. 139 f.) 121Pascoli, „Eco d’una notte mitica“, S. 144 f. 122„,Ich verspreche es dir.‘“; „,Ich hab’s versprochen‘“; „,Ich hab’s versprochen und werde es halten.‘“ (S. 139 f.) 120„Hatte
123Vgl. auch den Kommentar in Manzoni, I Promessi Sposi, hg. Stella/Repossi, S. 740: „La decisione di Lucia si proietta, fin da ora nella mente di chi già conosce la sua vicenda, in quella del voto“.
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die am Ende krisenentscheidend ist. In Fermo e Lucia korrigiert bezeichnenderweise nicht der Erzähler (und auch nicht der anonyme Autor) Renzos Rachegelüste, sondern Lucia selbst. Hier steht List gegen List und ein gegenseitiges Versprechen. Es ist so, dass Padre Cristoforo nicht hinnehmen will, wie Fermo seinem Rachedurst frönt, und verlangt, ihm abzuschwören: „,[…] io non mi parto di qui se tu non mi giuri in faccia a quella Vergine‘ (e accennò una immagine attaccata al muro della stanza) ‚di aver deposto ogni pensiero di vendetta‘“ (FL, I, VII, 113).124 Als Fermo zögert, ergreift Lucia die Gelegenheit und verspricht ihm, Renzo‚ alles, ‚was er will‘, wenn er nur den von Padre Cristoforo verlangten Schwur tue (ohne dass dieser freilich ahnen würde, welches Gegenversprechen Lucia konkret im Kopf hat). Und Fermo schwört: „‚Lo giuro,‘ disse Fermo“ (FL, I, VII, 114; „‚Ich schwöre es‘, sagte Fermo“). So entsteht in Fermo e Lucia ein gegenseitiges, rational-affektives Bündnis: Lucia stellt ihre Einwilligung in die eigenmächtig vollzogene Liebesehe geschickt unter die Bedingung einer Gegenforderung. Der Weg, den das Paar in den Promessi sposi geht, ist ein entschieden getrennterer und er hat andere Ähnlichkeiten. Nicht die symmetrische Paar-Beziehung, sondern die Vertiefung der Asymmetrie der Welten, in die Renzo und Lucia geschickt werden, wird vorangetrieben. Paradox formuliert kommt das Paar sich näher, indem es sich voneinander entfernt. Der Moment der Zusammenführung (der Eheschließung) wird zugleich der Moment der Spaltung des Paares sein. In der ohnmächtigen, gesetzlosen und chaotischen Welt wird die Ambivalenz von Renzos Affekten zunehmend irrelevant. Wenn er überlebt und am Ende eine Gerechtigkeit der Providenz erkennt, dann ist diese von Glück und Kontingenz ununterscheidbar. Statt Selbstüberwindung und Affektkontrolle ‚lernt‘ er, Affekte als natürlich hinzunehmen. Die Moral seiner Geschichte, die Renzo so gerne erzählt, ist eine selbstbezügliche Lektion des Unterlassens: „Ho imparato“, diceva, „a non mettermi ne’ tumulti; ho imparato a non predicare in piazza: ho imparato a guardare con chi parlo: ho imparato a non alzar troppo il gomito: ho imparato a non tenere in mano il martello delle porte, quando c’è lì d’intorno gente che ha la testa calda: ho imparato a non attaccarmi un campanello al piede, prima d’aver pensato quel che possa nascere.“ E cent’altre cose. (PS, XXXVIII, 672)125
Die rein negative Moral wird damit zum perfekten passiven Part jener aktiven „fiducia in Dio“, auf die das Paar sich nach dem Einwand Lucias einigt. Renzo
124„,[…] Ich bewege mich nicht von hier weg, solange du mir nicht im Angesicht dieser Madonna schwörst‘ (und er zeigte auf ein Bild, das an der Zimmerwand hing) ‚jeden Gedanken an Rache abgelegt zu haben‘“. 125„,Ich habe gelernt‘, sagte er,,mich nicht in Tumulte einzumischen, ich habe gelernt, auf der Straße keine Volksreden zu halten, ich habe gelernt, mir anzusehen, mit wem ich spreche, ich habe gelernt, nicht zu tief ins Glas zu schauen, ich habe gelernt, den Türklopfer nicht in der Hand zu behalten, wenn hitzköpfige Leute in der Nähe sind, ich habe gelernt, mir keine Schelle an den Fuß zu binden, ehe ich bedacht habe, wozu das führen kann.‘ Und hundert andere Dinge.“ (S. 854)
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lernt nicht zu lieben, sondern zu erzählen. Auf der Handlungsebene scheitert er als männlicher Tatheld. Alles geschieht trotz oder ohne sein Zutun. Gleichzeitig ist seine Lektion, den epischen Zorn in pikareske List und Lust der Erzählung umzulenken, nicht weniger essentiell für die Paar-Bildung als Lucias umgelenkte Gottes-Hingabe. Dies schon aus dem einfachen Grund, dass ihre getrennten Geschichten jeweils ungefähr den gleichen Umfang im Roman ausmachen; und schließlich aufgrund der Tatsache, dass die Leser in der Reflexion der Paar-Geschichte nicht nur ihr Selbstverhältnis, sondern auch ihr Weltverhältnis – in einer „contemplation désintéressée“126 – überdenken können. Für Renzos Welt lautet die Frage also weiterhin: Was wird aus seinem Zorn? Wie wird er umgelenkt, ‚konvertiert‘?
Zwischen Masse und Macht: Renzos ent-täuschte Revolution In der Kompositionsstruktur des Romans gibt es eine interessante Umstellung: In Fermo e Lucia wird Renzos Geschichte – seine Verwicklung in den Brotaufstand in Mailand, seine Festnahme und Flucht nach Bergamo – nach Lucias Entführungsgeschichte erzählt. Lucia wird dort von Gertrude im Kloster verraten, entführt und befreit, und erst danach wird erzählt, wie Renzo unterdessen in Mailand als Unwissender Revolution macht. Teilweise wurden diese Umstellungen im Roman als Wechsel von einer chronologisch vorgegebenen zu einer ‚inneren Zeitlichkeit‘ („tempo interiore“) erklärt, wobei allerdings weniger auf die Umdrehung der Einzelgeschichten als insbesondere auf die Zäsur des VIII. Kapitels und Lucias „Addio ai monti“ Bezug genommen wird.127 Was immer genau unter innerer Zeitlichkeit zu verstehen sei, das Vorziehen von Renzos Mailänder Geschichte stellt eine chronologische Restitution dar: Renzo wird am 12. November 1628, vor Lucias Entführung im Dezember 1628, festgenommen.128 Mehr als das, wird auf diese Weise die Kausalität der Handlung korrigiert. Renzos Justizfall wird zum logischen Vorspiel der Entführung Lucias, mit der ja die Konversion des Innominato und damit die Außerkraftsetzung der irdischen Unrechtsstrukturen verbunden ist. Seine Verstrickung in die Justiz muss logischerweise vorher erzählt werden, wenn sie ein wirkliches Hindernis für die Paar-Vereinigung darstellen soll. In Fermo e Lucia ist sie tatsächlich kein ernstes Hindernis; der Haftbefehl wird dort nicht zurückgenommen und stattdessen als einer der Gründe angeführt, die das Paar nach der Hochzeit dazu bewegen, sich im Exil und nicht
126Alessandro Manzoni, Lettre à M.r Chauvet, in: Ders., Tutte le opere, Bd. V/III: Scritti letterari, hg. Riccardi/Travi, S. 73–166; hier: S. 59. 127Vgl. Giovanni Getto, Manzoni europeo, Mailand: Mursia 1970, S. 57–140 („I capitoli ,francesi‘ dei Promessi sposi“); hier: S. 75 f. 128Vgl. die chronologische Rekonstruktion der Handlung in: Isabella Gherarducci, Enrico Ghidetti, Guida allo studio dei Promessi Sposi, Florenz: La Nuova Italia 1992, S. 93–100.
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in der Mailändischen Heimat niederzulassen.129 Rechtlich gesehen ist die kirchliche Eheschließung dort unabhängig vom bürgerlichen Strafrecht, woran sich im Übrigen auch der von Enrico Opocher konstatierte radikalere Rechtspessimismus von Fermo e Lucia ablesen lässt.130 Das Paar in den Promessi sposi hingegen konstitutiert sich weniger gegen das Recht als viel eher an der Stelle des Rechts. Wenn man von Interiorisierung sprechen mag, dann umfasst diese also das ganze Paar und nicht etwa nur (oder vor allem) den weiblichen Part. Verdeutlichen lässt sich dies, wenn man noch einmal die Struktur von Fermo e Lucia mit den Promessi sposi vergleicht: Die Frühfassung ist in vier Bände (und nicht: 38 Kapitel) eingeteilt, die sich – ganz grob – folgendermaßen aufteilen: 1. Band: Gescheiterte Hochzeit 2. Band: Geltrude-Episode und Entführung Lucias 3. Band: Befreiung Lucias; Festnahme und Flucht Renzos 4. Band: Mailand: Renzos Schwur des „perdono“; Lösung von Lucias ‚voto‘ Man sieht, wie hier der Gegensatz Geltrude – Lucia den gesamten mittleren Teil, eingerahmt von einem gemeinsamen Anfang und einem gemeinsamen Ende des Paars, strukturiert. Renzos Geschichte ist viel weniger ausgearbeitet und lange nicht so ausführlich dargestellt wie in den Promessi sposi. Im vierten Band stehen zwei analoge Sprechakte im Zentrum, mit welchen die finalen, weniger rechtlichen als moralischen Ehehindernisse aus dem Weg geräumt werden: Fermo schwört, dass er Don Rodrigo vergibt, und Lucia erbittet von Padre Cristoforo die Rücknahme des Gelübdes. Zu Gertrude und Lucia komme ich weiter unten, aber was Fermo angeht, ist der Sprechakt des Schwörens entscheidend. Padre Cristoforo drängt ihn im Lazarett zu diesem Schwur: „[…] Fermo! giuri tu il perdono?“ „Ah! lo giuro,“ rispose Fermo in tuono solenne. „A chi giuri tu di perdonare?“ „A quell’uomo …“ „A chi?“ „Sì, padre, a Don Rodrigo.“ (FL, IV, VII, 637)131
129„[Q]uantunque Fermo allora non ricevesse alcuna inquietudine per quella sua impresa di Milano, e la cattura fosse un titolo inoperoso; pure un sospetto, una reminiscenza, un mal uficio, poteva far risorgere l’antica querela, e rimetterlo in Dio sa quale impiccio.“ (FL, IV, IX, 665) („Obwohl Fermo nicht mehr wegen seiner Heldentaten in Mailand beunruhigt sein musste und der Haftbefehl faktisch gegenstandslos geworden war, so konnte doch ein Verdacht, eine Wiedererinnerung, eine missgünstige Verwaltung die alten Querelen aufleben lassen und ihn in Gott weiß was für eine Zwickmühle bringen.“) 130Vgl. Enrico Opocher, „Lo ‚scetticismo giuridico‘ del Manzoni. Note sulla visita di Renzo al dottor Azzecca-garbugli“, in: Sergio Cotta, Enrico Opocher, Dante Troisi, „se a minacciare un curato c’è penale“. Il diritto ne I promessi sposi, Mailand: Giuffrè 1985, S. 47–65. 131„,[…] Fermo! Schwörst Du, dass Du vergibst?‘/,Ja! Ich schwöre es‘, antwortete Fermo in einem feierlichen Tonfall./‚Wem schwörst Du zu vergeben?‘/,Diesem Menschen …‘/,Wem?‘/,Ja, Pater, ihm, Don Rodrigo.‘“
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Dreimal ‚giurare‘ – die Szene in Fermo e Lucia lässt keinen Zweifel daran, dass es auf die Sprache, auf den Sprechakt der verbalen Selbstverpflichtung ankommt. Renzo, anders als Fermo, schwört im ganzen Roman nicht – nichts und niemandem. In den Promessi sposi steht die Szene im XXV. Kapitel: Der Sprechakt des Schwörens wird in eine direkte Konfrontation Renzos mit dem pestkranken Rodrigo transponiert. Renzo beteuert: „‚capisco che non gli avevo mai perdonato davvero; capisco che ho parlato da bestia, e non da cristiano: e ora, con la grazia del Signore, sì, gli perdono proprio di cuore.‘“ (PS, XXXV, 618)132 Dennoch führt Cristoforo ihn zu Rodrigo, wo Renzo beten und seine attritio in contritio umwandeln soll. Das Kapitel kulminiert im gemeinsamen Gebet von Padre Cristoforo und Renzo vor dem Krankenlager des Pestkranken, wobei erklärt wird, dass Renzo den Pater im Gebet imitiert („Renzo fece lo stesso“, PS, XXXV, 620; „Renzo tat das gleiche“, S. 786). Der Erzähler enthält sich eines Kommentars, ob das fruchtet oder nicht. Stattdessen wird der Suspense kongenial verquickt mit der weiteren Suche nach Lucia im XXVI. Kapitel: „le parole sentite appiè di quel covile, si cacciavano tra i sì e i no, ond’era combattuta la sua mente; e non poteva terminare una preghiera per l’esito felice del gran cimento, senza attaccarci quella che aveva principiata là, e che lo scocco della campana aveva troncata“ (PS, XXXVI, 621).133 Die Promessi sposi retardieren damit das Moment von Renzos Versöhnung, um es ganz in der Paar-Vereinigung kulminieren zu lassen. Indem Renzo nicht (mehr) zum Schwören gezwungen wird, verliert er einerseits die Macht seiner Sprache und seiner Geschichte, andererseits werden seine Sprache und Geschichte überhaupt erst als machtlose produktiv: Renzos Geschichte gibt es zu großen Teilen erst in den Promessi Sposi! Ja, man kann sagen, dass, abgesehen von den Verwicklungen in den Mailänder Brotaufstand,134 die meisten seiner ‚großen‘ Episoden in der ersten Fassung noch nicht bzw. nur in Kurzform existieren: die Flucht über die Adda nach Bergamo (XVII. Kap.), die Rast im Wirtshaus von Gorgonzola (XVI. Kapitel), sein Weinberg, den der Erzähler bei Renzos Rückkehr in sein Heimatdorf schildert (XXXIII. Kap.), und – vor allem – die Gewitterstimmung, die mit seinem zweiten Gang nach Mailand verbunden ist (XXXV. und XXXVI. Kap.) und die sich in dem Platzregen, in dem sich der erleichterte Renzo wieder auf den Heimweg aufmacht, entlädt (XXXVII. Kap.). Dabei sticht ins Auge, dass es insbesondere der Natur- und Landschaftsdiskurs ist, mit dem die Figur Renzos zusammengebracht wird. Er hat, zusammen mit einer entschärften, positivierten curiositas, eine entscheidende Funktion
132„,[I]ch begreife, daß ich ihm nie wirklich verziehen hatte. Ich begreife, daß ich wie ein Unmensch und nicht wie ein Christ gesprochen habe. Aber jetzt, mit der Gnade des Herrn, jetzt verzeihe ich ihm wahrhaftig von Herzen.‘“ (S. 784) 133„Die Worte, die er zu Füßen jenes Lagers gehört hatte, mischten sich in den Kampf zwischen Zuversicht und Verzweiflung, der in ihm tobte, und er konnte kein Gebet für einen glücklichen Ausgang der großen Prüfung beenden, ohne jenes anzuhängen, das er in der Hütte begonnen und das der Glockenschlag jäh unterbrochen hatte.“ (S. 787) 134Vgl. FL, III, Kapitel VI bis VIII.
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in den Promessi sposi und tritt in gewisser Weise an die Stelle der religiösen Versöhnungsszene in Fermo e Lucia. Renzos Geschichte ersetzt, gesamtkompositorisch gesehen, kurioserweise die lange Digression über die Nonne von Monza und wird damit erst in der Endfassung des Romans zum eigentlichen Pendant Lucias, zum Bräutigam seiner Braut. In der Forschung wurde bereits darauf hingewiesen, dass Renzo auf seiner Reise vor allem machtlosen Figuren bzw. dem Volk begegnet, während der Kontakt mit der Macht Lucia vorbehalten ist: […] sull’asse semico di Lucia si incontrano Gertrude, l’innominato, il cardinale Federigo, e magari donna Prassede o don Ferrante; mentre su quello di Renzo, fatta eccezione per il „vecchio“ Ferrer, si dispongono gli uomini della strada e della piazza: osti, avvocati, vagabondi, mercanti, poliziotti, compagnoni, artigiani, monatti, contadini in miseria.135
Kirchenobere und Adlige einerseits, das Volk auf der Straße und die Wirtshäuser andererseits. Renzo ist im Prinzip selbst verantwortlich für diese Aufteilung, denn zunächst wird er, wie Lucia auch, von Padre Cristoforo ins Kloster geschickt, um sich dort vor Don Rodrigo in Sicherheit zu bringen. Doch als er, zwischen Zorn und Reue schwankend, in Mailand ankommt, wird er so sehr von den Ereignissen des Brotaufstands abgelenkt, dass er beschließt, nicht, wie ihm vom Klosterpförtner geraten wird, in der Kirche auf Padre Bonaventura zu warten, sondern sich in das Getümmel der Stadt zu stürzen: „Il vortice attrasse lo spettatore.“ (PS, XI, 209)136 Attilio Momigliano hat in seinem Sposi-Kommentar auf die Affinität dieses kurzen und isolierten Satzes mit jenem „La sventurata rispose.“ hingewiesen, mit dem Gertrudes verbotenes Verhältnis zu Egidio erzählerisch eingefroren wird.137 So gerät Renzo völlig ahnungslos, sich aufgrund des auf den Straßen herumliegenden Brotes im Schlaraffenland wähnend („,[…] Che sia il paese di cuccagna questo?‘“, PS, XI, 206),138 in den Aufstand der Mailänder Bürger. Hier kommt es zu der von Ezio Raimondi erwähnten Ausnahme, zu Renzos Begegnung mit dem Großkanzler Ferrer, in die Renzo aus Neugierde, curiositas, hineinschlittert. Hier beginnt sein erstes, tragikomisches MailandAbenteuer beginnt, das in seinem zweiten Gang ins dann pestverseuchte Mailand ein ernsteres Pendant haben wird. Renzo erlebt, wie sich die aufständische Masse formiert und sich der Volkszorn, nach dem Sturm auf einige Bäckereien, plötzlich
135Raimondi,
Il romanzo senza idillio, S. 175. Strudel lockte den Zuschauer an.“ (S. 264) 137„[L]a frase ha un indefinibile affinità con un’altra anch’essa brevissima e potentemente isolata, in tutt’altra situazione: „La sventurata rispose“: in entrambe il personaggio è come astratto in una sfera diversa dalla realtà“. (Zit. in: Manzoni, I Promessi Sposi, hg. Stella/Repossi, S. 785.) 138„,[…] Ist dies hier etwa das Schlaraffenland?‘“ (S. 261) – Es ist dasselbe trügerische, irdisch-falsche Schlaraffenland, das der Erzähler am Ende ironisch in Bezug auf das Eheglück der Verlobten in Bergamo evoziert: „Per i nostri fu una nuova cuccagna.“ (PS, XXXVIII, 672) („Für die unseren war es ein neues Schlaraffenland.“ S. 853) – ein Indiz für die Zirkularität der Geschichte und die Abhängigkeit des fiktiven ‚Eheglücks‘ vom Gelesen-Werden. 136„Der
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gegen den Proviantverweser („vicario della provvisione“) richtet und der Mob sich anschickt, sein Haus zu stürmen, um den Sündenbock zu lynchen. Neugierig lässt er sich von der Masse mittreiben: „Prevalse di nuovo la curiosità.“ (PS, XII, 222)139 Der Mailänder Brotaufstand fungiert als Exemplum für die politische Krise. Die Eskalation, der Lynchmord, wird verhindert, weil der machthabende Ferrer, der mit seiner Kutsche ankommt, den Proviantverweser im letzten Moment aus seinem Haus rettet. Der Volksaufstand scheitert, die Masse des Volks bleibt in der Hand einer ungerechten Herrschaft. Renzos Einmischung in die Vorgänge entspricht dabei strukturell Gertrudes Fall; aber es ist ein Fall, in dem Renzo seine ‚gute Natur‘ unter Beweis stellen kann, ein Fall, aus dem er nicht als radikaler Revolutionär, sondern als Verfolgter einer Unrechtsjustiz hervorgeht. Seine Neugier schlägt, im Gegensatz zur schädlich-verderblichen curiositas der Nonne von Monza, in eine intuitive Mäßigung um. Und so erweist er sich als einer der mutigen, kräftigen und engagierten Retter des Proviantverwesers. Er hilft mit, der Kutsche des ankommenden Großkanzlers einen Weg bis zum Haus des Bedrängten frei zu machen, damit dieser vor seinen Verfolgern gerettet werden kann. Der Erzähler unterstellt ihm eine Selbstkontrolle inmitten einer unkontrollierbaren Masse: Renzo, questa volta, si trovava nel forte del tumulto, non già portatovi dalla piena, ma cacciatovisi deliberatamente. […] l’idea dell’omicidio gli cagionò un orrore pretto e immediato. E quantunque, per quella funesta docilità degli animi appassionati all’affermare appassionato di molti, fosse persuasissimo che il vicario era la cagion principale della fame, il nemico de’ poveri, pure, avendo, al primo moversi della turba, sentita a caso qualche parola che indicava la volontà di fare ogni sforzo per salvarlo, s’era subito proposto d’aiutare anche lui un’opera tale […]. (PS, XIII, 225)140
Renzo lässt sich nicht mehr blind von der Masse mitreißen, sondern befindet sich „deliberatamente“ mitten in ihr. Die Möglichkeit einer Ermordung des Proviantverwesers erfüllt ihn mit Entsetzen („orrore“), auch wenn er die Ursachen für die Hungersnot keineswegs durchschaut. Er glaubt an die Schuld des Verwaltungsbeamten, die er zwar nicht gleich mit dem Leben bezahlt, aber rechtmäßig vor einem Gericht angeklagt haben möchte. Mit diesem Willen rettet er – zufällig –
139„Abermals 140„Renzo
überwog die Neugier.“ (S. 282)
befand sich diesmal mitten im dicksten Getümmel, nicht weil er von der Menge mitgerissen worden wäre, sondern weil er sich aus freien Stücken hineingestürzt hatte. […] der Gedanke an Mord erfüllte ihn mit einem unmittelbaren und puren Entsetzen. Er war zwar, infolge der verhängnisvollen Empfänglichkeit leidenschaftlicher Gemüter für leidenschaftliche Beteuerungen der Masse, zutiefst davon überzeugt, daß der Proviantverweser die Hauptschuld an der Hungersnot trug und ein Feind der Armen war; doch als er zufällig, während die Menge zu dessen Amtssitz aufbrach, jemanden sagen hörte, daß er alles tun werde, um jenen Mann zu retten, hatte er sofort beschlossen, dabei nach Kräften zu helfen […].“ (S. 285)
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den Proviantverweser. Sein naiver Glaube bzw. Wille, nach dem es ‚schließlich noch Gerechtigkeit gibt auf dieser Erde‘, wird hier auf öffentlich-politischer Bühne auf die Probe gestellt. Das erzählerisch brillante XIII. Kapitel, das den verhinderten Lynchmord am Proviantverweser schildert, enthält unter anderem Manzonis berühmte und skeptische Reflexionen über die Masse. Als Macht ohne Recht ist die Masse prinzipiell eine Gefahr, irrational, unkontrollierbar, chaotisch und das Gegenteil von einem organisierten Volk (‚popolo‘).141 Es wurde gesagt, dass Manzoni die Masse zu einer eigenständigen Figur, zu einer Person erhebt. Allerdings zu einer Figur der Bedrohung, ja fast zu einer Figur des Bösen, wenn man an jene Stellen der Colonna Infame denkt, an denen vermutet wird, dass hinter den pervertierten Passionen der Richter am Ende nicht einmal Eigeninteressen, sondern die blanke Angst vor dem anonymen Furor der Masse gestanden haben könnte.142 Zwar gibt es im kirchlich formierten Gottesvolk, das sich zu Predigt und Gottesdienst versammelt, ein positives Gegenbild – hier ist an Kardinal Borromeos Gemeindebesuch zu erinnern (Kap. XXII und XXIII), der die Landbevölkerung zusammenströmen lässt, aber auch an Padre Felices Predigt im Pestlazarett, mit der die Überlebenden in die Freiheit entlassen werden (Kap. XXXVI) –, aber der Roman weist diese Gemeinschaft, da sie nur einen Teil des Ganzen ausmacht, eben nicht als (politisch) einheitliches ‚popolo‘ aus, sondern lediglich als „gente“ (PS, XXI, 367; PS, XXXVI, 624) oder „folla“ (PS, XXXVI, 624), die durch die Rede der Geistlichen, eine ‚parola‘, geordnet werden muss. Die Mailänder Aufständischen werden nun an einer Stelle als ein riesiger Machtkörper beschrieben, dem die Seele fehlt: Siccome però questa massa, avendo la maggior forza, la può dare a chi vuole, così ognuna delle due parti attive usa ogni arte per tirarla dalla sua, per impadronirsene: sono quasi due anime nemiche, che combattono per entrare in quel corpaccio, e farlo movere. (PS, XIII, 229 f.)143
Die zwei feindlichen Seelen, die um den Körper kämpfen, entscheiden über seine Bewegungsrichtung, im Fall des Brotaufstands darüber, ob es zum Gewaltausbruch gegen den Proviantverweser kommt oder ob er abgewehrt werden kann. Ferrer wird ihn abwenden. In der Kutsche, in der er sich den Weg durch die Masse bahnt, klingt in parodistischer Verzerrung die politische Metaphorik des Staatsschiffes an, das dem Sturm der Masse trotzt:
141Vgl. Vincenzo Binetti, „Nozione di popolo e immagini della folla nei Promessi sposi di Alessandro Manzoni“, Romance Languages Annual 6 (1994), S. 213–219. 142Vgl. CI, Introduzione, 679, wo von der Furcht („timor“) die Rede ist, sich gegen das Geschrei der Menge („le grida della moltitudine“) zu wenden. 143„Da jedoch diese Masse über die größte Macht verfügt und sie verleihen kann, wem sie will, setzt jede der beiden aktiven Parteien alle Mittel ein, um sie auf ihre Seite zu ziehen und sich ihrer zu bemächtigen. Es sind gewissermaßen zwei feindliche Seelen, die miteinander darum kämpfen, in jenen großen Körper einzudringen und ihn in Bewegung zu setzen.“ (S. 291)
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La gente si moveva, davanti e di dietro, a destra e a sinistra della carrozza, a guisa di cavalloni intorno a una nave che avanza nel forte della tempesta. Più acuto, più scordato, più assordante di quello della tempesta era il frastono. (PS, XIII, 234)144
Dabei wird Renzo, indem er mit seiner Körperkraft als Damm gegen die Wogen der tödlichen Menge dient, zu einem natürlichen und gleichzeitig komisch-illusionären Teil der Steuerungsmacht des Schiffes, das den ‚Massenkörper‘, der wie ein Sturm tost, in die (scheinbar) richtige Richtung lenkt. Zusammen mit dem gemäßigten Teil der Menge dient Renzo als „ala alla carrozza e argine alle due onde prementi di popolo“ (PS, XIII, 235; „Spalier für die Kutsche und […] Damm gegen die andrängenden Wogen der Volksmenge“, S. 298). Die Nähe, ja Intimität, die dabei zwischen ihm und dem politischen Machthaber entsteht, ist von hochgradiger Ironie: Renzo ist es, als schließe er ‚Freundschaft‘ mit dem mailändischen Großkanzler Antonio Ferrer, der das aufständische Volk mit sinistren und weibischen Gesten der Anbiederung – mit Handküssen in die Menge, einem falschen Lächeln und spanischen Satzfetzen – zu bändigen versucht. Renzos natürliche, ‚gute‘ Intention, sich gegen die Gewalt einzusetzen, bleibt blind für die Strategien politischer Täuschung. Während Lucia, wie weiter unten zu sehen sein wird, im Innominato die Gewalt der Herrschaft wirklich brechen wird, bleibt Renzos Kontakt mit dem mächtigen Ferrer ein Schein-Kontakt, dem es letztlich an Rationalität mangelt. Seine curiositas wird weder in ein Schuldigwerden noch in eine gute, politische Handlungsmacht umgewendet; sie bleibt ambivalenter Natur. Beflügelt von seinem scheinbaren Erfolg, lässt Renzo sich im anschließenden XIV. Kapitel zu seiner berühmten, revolutionär-leidenschaftlichen Rede gegen die falschen Machthaber hinreißen, um kurz darauf in der „Osteria della luna piena“ als Volksaufwiegler festgenommen zu werden. Verglichen mit Lucia wird Renzo damit zur buchstäblich ‚verfolgten Unschuld‘, zum Verfolgten eines Unrechtsregimes.145 Renzos Weg erweist sich als einer der sprachlichen und politischen Entmachtung. Seine Affekte werden zunehmend neutralisiert und naturalisiert. Seiner religiösen Konversion, die in Fermo e Lucia durch den Akt des Schwurs verbürgt wird, schreiben die Promessi sposi radikalen Zweifel und Latenz ein, wie die Szene mit Padre Cristoforo und dem pestkranken Don Rodrigo im Lazarett zeigt. Nie überschreitet seine Erkenntnis einen natürlichen Affekt. Mit der Landschaft des Comer Sees beginnt bekanntlich der ganze Roman. Von der makroskopischen Vogelperspektive auf das Wasser ‚zwischen See und Fluss‘ nähert der Erzähler 144„Die Menge wogte vor und hinter, rechts und links der Kutsche wie hohe Wellen um ein Schiff, das sich in einem heftigen Sturm vorankämpft. Noch lauter und gellender als das Tosen des Sturms war der ohrenbetäubende Lärm.“ (S. 296) 145Interessanterweise gibt es in der Forschung bezüglich seiner Brandrede und Festnahme tatsächlich die Diskussion, ob er als Gesetzesbrecher angesehen werden kann oder nicht. Mario A. Cattaneo vertritt (mit C. Angelini) gegen Enrico Opocher die These der Unschuld: Renzo sei ein Sündenbock der Justiz, ein wahrhaft evangelisches Opfer, das für die Schuld der Anderen bezahle (vgl. Mario A. Cattaneo: Carlo Goldoni e Alessandro Manzoni. Illuminismo e diritto penale, Milano: Giuffrè 1987, S. 191).
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sich über Wasser, Berge, Küsten und Ortschaften jenem Weg, auf dem die folgenreiche Begegnung Don Abbondios mit den Bravi stattfindet. In der Bewegung von oben nach unten und in der Fokussierung der ‚ganzen Natur‘ auf den Weg der Handlung zeige sich, wie Umberto Eco feststellt, schon die ganze providentielle Anlage des Romans und damit ein Buch, „il cui principale protagonista è qualcuno che guarda dall’alto le cose del mondo“.146 Eco zielt damit letztlich auf einen Erzähler, der souverän die Regie führt, während es mir hier darauf ankommt zu zeigen, wie diese Regie in zwei Hauptrichtungen gespalten ist. Renzo hat dabei die Funktion des Natürlichen: In seiner literarischen Profanierung klärt sich nach und nach ein freier Blick auf die Natur.
Konversion, unrein und natürlich Die Natur der Promessi sposi ist keine Landschaft in dem ästhetischen Sinne, wie Joachim Ritter sie beschrieben hat: kein antik-geordneter Kosmos, der sich dem Menschen in transzendierender Naturbetrachtung theoretisch-ästhetisch offenbaren würde.147 Die Natur an sich ist nicht gut, sie ist gefallene Natur und wer sich ihr naiv-schwärmerisch hingibt, erliegt dem Schlamm der Geschichte. Ordnung und Recht hat sie nicht in sich, sondern in einem unberechenbaren Schöpfer, der sich bisweilen, wie mit der Pest, auch gegen seine Schöpfung wendet. Und doch ist Renzo der idealistische, optimistische, sentimentale, lächerliche und sympathische Held des Romans, der bis zum Ende nicht aufhört, an eine erlösende Naturerfahrung zu glauben. In seiner Figur erhält der Erzähler die Hoffnung auf eine gute, freie Natur aufrecht. Für ihn bleibt der Schlamm der Natur befreiender als erzwungene Worte der Vergebung. Der N atur-Diskurs wurde bislang noch nicht systematisch auf die Figur Renzos bezogen. Das mag daran liegen, dass die Landschaftsbeschreibung, die den Roman eröffnet, der Erzähler-Instanz zuzurechnen ist und dass die daneben vielleicht berühmteste Natur-Episode der Promessi sposi, das ‚Addio ai monti‘ kurz vor der Trennung des Paars, der Figur Lucias zugeordnet ist.148 Giovanni Nencioni stellt zu Recht fest, dass die Natur im Roman, mit Ausnahme des Eingangstableaus, nur in Korelationalität mit den Figuren erscheint. Der Begriff ‚natura‘ tauche überhaupt nur zweimal im Roman auf, und zwar im Zusammenhang mit dem Gewitter im Pestlazarett, das hauptsächlich aus der Perspektive Renzos dargestellt wird.149 Das ist kein Zufall, denn Renzo und 146Umberto Eco, „Indugiare nel bosco“, in: Ders., Sei passeggiate nei boschi narrativi, Mailand: Bompiani 1994, S. 61–90; hier: S. 90. 147Joachim Ritter, „Landschaft. Zur Funktion des Ästhetischen in der modernen Gesellschaft (1962)“, in: Ders., Subjektivität. Sechs Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 141–163. 148Die Elegie zelebriert den Abschied aus einer idealisierten, unschuldigen Natur, die es in der Wirklichkeit nicht gibt. Diese unschuldige Natur fällt mit einer idyllischen Religion (die es in der Wirklichkeit auch nicht gibt) zusammen. 149Vgl. Giovanni Nencioni, La lingua di Manzoni, Bologna: il Mulino 1993, S. 293–302 („La natura e Renzo“); hier: S. 293.
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die Natur werden im Lauf des Romans miteinander verschmolzen. In der Natur vollzieht sich Renzos Entblößung; in ihr wird er zum natürlichen, profanen Romanhelden und Komplement einer entnaturalisierten, sakralisierten Lucia. Erst als konvertierte, durch das Gewitter gereinigte Natur, wird die Natur auch Natur genannt. Drei Stationen, auf die ich im Folgenden eingehen will, spielen in dieser ‚natürlichen Konversion‘ eine entscheidende Rolle: Renzos Flucht nach seiner Festnahme in Mailand, die berühmte Schilderung seines Weinbergs und die Rückkehr aus Mailand im vorletzten Kapitel des Romans. „,Perchè, se posso essere uccel di bosco, […] non voglio diventare uccel di gabbia.‘“ (PS, XVI, 274) – „‚Denn wenn ich ein freier Waldvogel sein kann, […] will ich kein Vogel im Käfig sein.‘“ (S. 347) So denkt Renzo bei sich, als er vor den Mailänder Justizbeamten davonläuft und dem Käfig des Klosters den Weg nach Bergamo vorzieht. Orientierungslos läuft er los, macht Rast in Gorgonzola, läuft auf Nebenwegen weiter in die Nacht hinein und nähert sich der Adda, dem Grenzfluß zwischen Mailänder und venezianischem Gebiet. Ein ganzes Kapitel lang (das XVIII.) beschreibt der Erzähler Renzos nächtliche Grenz- und Flussüberquerung und seine glückliche Ankunft beim Cousin Bortolo. Ängste und Bilder verfolgen ihn, bis er die Stimme der Adda hört. Er verbringt eine schreckliche Nacht in einer kleinen Hütte, fällt in einen unruhigen Schlaf mit Alpträumen und wartet die Dämmerung ab, bis er sich von einem Fischer über den Fluß fahren lassen kann. Renzos Nacht am Ufer der Adda ist das Pendant zu Lucias Nacht auf der Burg des Innominato. Wie dort detailreich Lucias wilde Ängste, Bilder und Träume geschildert werden – die wiederum nur jene des Innominato in derselben Nacht und im selben XXI. Kapitel vorwegnehmen –, so suggeriert auch Renzos Fluchterlebnis am Fluss eine Art Konversion. In der Darstellung konkurrieren dabei Natur und Providenz: Während auf der Handlungsebene Elemente angehäuft werden, die eine spannungsreiche Wende nahelegen (Ödnis, Büsche, Wald, Dunkelheit, Stimme des Flusses, widersprüchliche Bilder, Hören der Glocke am Morgen), rahmt der Erzähler diese Handlung ausdrücklich und an mehreren Stellen als eine ‚providentielle‘ ein. So penetrant geschieht das sonst nirgends im Roman, wo (wie im Fall des Innominato) das Deutungsmuster der Providenz in der Regel über die (Neben-)Figuren des Romans transportiert wird.150 Während 150Vgl. bereits den letzten Satz des XVI. Kapitels (PS, XVI, S. 289): „[Renzo] andò diritto all’uscio, passò la soglia, e, a guida della Provvidenza, s’incamminò dalla parte opposta a quella per cui era venuto.“ („[Renzo] ging ohne weitere Worte zur Tür, trat hinaus in die Nacht [Kroeber übersetzt das „passò la soglia“ symbolträchtig mit „trat hinaus in die Nacht“; Anm. D.S.] und machte sich, von der Vorsehung geleitet, umgekehrt zu der Richtung, in der er gekommen war, auf den Weg.“ S. 367) Ferner: „Prima però di sdraiarsi su quel letto che la Provvidenza gli avveva preparato.“ (PS, XVII, S. 295) („Bevor er sich jedoch auf dieses Bett legte, das die Vorsehung ihm bereitet hatte […].“ S. 375) Dann Renzo in direkter Rede: „,[…] E poi, la Provvidenza m’ha aiutato finora […].‘“ (PS, XVIII, S. 300 f.) und „,La c’è la Provvidenza!‘“ („,Und schließlich hat mir die Vorsehung bisher immer geholfen […].‘“ und „,Ich hab’s ja gesagt, es gibt eine Vorsehung!‘“ S. 381 und 382) Und schließlich der letzte Satz des Kapitels, der die ‚providentielle‘ Rahmung komplettiert: „E fu veramente provvidenza […].“ (PS, XVII, 306) („Und es war wirklich eine Fügung des Himmels“, S. 388)
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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Renzos Vorgängerheld Fermo die Adda auf nur einer Seite überwindet und ein innerer Konflikt evoziert wird, der im Gegensatz zu einer neutralen Natur zu stehen scheint, erzählen die Promessi sposi Renzos Zerrissenheit als Gang in eine dantesk-erhabene Natur, die umso bedrohlicher für das Subjekt wird, je tiefer es sich in sie hineinbegibt. Fermo marschiert, ganz auf den Spuren Robinsons, selbstbewusst bis zum Ufer der Adda, klettert – wie Robinson bei seinem Schiffbruch auf der Insel – auf einen Baum, wo er im Halbschlaf – und eben gequält von unangenehmen „immagini“ – die Stunden bis zum Morgengrauen verbringt.151 Er ist hier Robinson und Aeneas in einem, denn am Ende der Flucht empfängt ihn der Cousin Bortolo mit den Worten Didos: „Non ignara mali miseris succurrere disco“ (FL, III, VIII, 494).152 Nach Mailand zurückkommend und vor Padre Cristoforo im Pestlazarett Vergebung schwörend, wird Fermo seine epischen Vorbilder christlich überwinden, indem er – analog zu Lucia – Vergebung schwören wird. Aus der poetischen aemulatio der Frühfassung wird in den Promessi sposi etwas Komplizierteres: Statt die epischen Helden zu überbieten, stellt Renzo deren Profanität zur Schau. Es ist, als habe der Erzähler-Kommentar aus Fermo e Lucia zur klassisch-horazischen, schönen Natur, welcher Fermos hässliche, innere Zerrissenheit gegenübergestellt wird, Manzoni die entscheidende Idee für die Ausarbeitung des Kapitels in den Promessi sposi geliefert. Dort heißt es nämlich über Fermos widerstreitende, innere Bilder: „due immagine“ – Don Rodrigo, die Justizbeamten, Ferrer einerseits und Padre Cristoforo, Lucia, Agnese andererseits: Se noi inventassimo ora una storia a bel diletto, ricordevoli dell’acuto e profondo precetto del Venosino, ci guarderemmo bene dal riunire due immagini così disparate come quelle che si associavano nella mente di Fermo; ma noi trascriviamo una storia veridica; e le cose reali non sono ordinate con quella scelta, nè temperate con quella armonia che sono proprie del buongusto; la natura, e la bella natura, sono due cose diverse. (FL, III, VIII, 491)153
Die Natur und die schöne Natur sind zwei verschiedene Dinge. Und die schöne Natur des nächtlichen Flussufers in Fermo e Lucia passt nicht zu Fermos chaotischem Seelenzustand. Deshalb wird sie in den Promessi sposi diesem angepasst: Sie wird zu einer phantasmatisch-anthropomorphen Natur, die in Renzo überhaupt erst jene hässlichen Schreckens- und schönen Trostbilder hervorruft, die in Fermo e Lucia noch als innere „lanterna magica“ (FL, III, VIII, 492) bezeichnet werden. Die Natur, eigentlich Nebenschauplatz des universellen
151Vgl.
hierzu das Kapitel „Prima e dopo, con Robinson“ in: Salvatore S. Nigro, La tabacchiera di Don Lisander. Saggio sui Promessi sposi, Turin: Einaudi 1996, S. 157–161. 152„Selbst leiderfahren, lerne ich jetzt, Unglücklichen beizustehen.“ (Vergil, Aeneis, I, S. 640.) 153„Wenn wir nun eine Geschichte zu einem schönen Vergnügen erfinden würden, welche an die scharf- und tiefsinnige Regel des Horaz erinnerte, würden wir uns davor hüten, zwei so unterschiedliche Bilder zusammenzubringen wie jene, die sich in Fermos Sinn verbanden; aber wir übertragen eine wahre Geschichte; und die realen Dinge sind weder nach dieser Logik geordnet, noch werden sie von jener Harmonie, die dem guten Geschmack entspricht, gemäßigt. Die Natur und die schöne Natur sind zwei verschiedene Dinge.“
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Kampfes um Gerechtigkeit und Rechtfertigung, in dem es um die Behauptung des freien Willens geht, wird für Renzo zum Hauptschauplatz des Kampfes. Die Adda-Überquerung hat nun die Funktion, Renzos Affekt – nach dem Zorn der ersten Romansequenz und der profanen curiositas in der ersten (politischen) Mailänder Episode – als ein Hadern und Hin- und Herirren zwischen Natur und Providenz darzustellen. In ihrer Untersuchung der inneren Konflikte des Innominato, Lucias und auch Renzos ist Dorothea Kullmann auf das Ergebnis gekommen, dass Manzoni das konkret ausgesprochene bzw. bewusst gedachte Wort („parola“, „pensiero“) zuungunsten von visuellen oder imaginären Bildern („immagine“, „fantasie“, „sogni“) aufwertet.154 Dem apologetischen Romancier gehe es um das Konzept einer imaginationskritischen, aufgeklärt-rationalen Konversion. Was aber Renzo angeht, muss man feststellen, dass er in seiner Nacht keinen einzigen klaren Gedanken fasst, der über die Situation des Hier und Jetzt hinausginge. Kullmann geht zwar auch auf seine „immagini“ ein und sieht in der wörtlichen Rede „‚Quel che Dio vuole[…]‘“ (PS, XVII, 296; „‚Es wird gehen, wie Gott will‘“, S. 376), mit der er sie innerlich quittiert, das Korrektiv einer bewusst ausgesprochenen „parola“.155 Aber man muss klar sehen, dass all die narrativen Steuerungen in Richtung Providenz oder gar Konversion in einem ironischen Gegensatz zur Szene selbst stehen.156 Renzo kehrt eben nicht um, er ist (immer noch) auf der Flucht in die Geschichte hinein, deren Hölle – die Pest in Mailand – er noch lange nicht erreicht hat. Wenn er sich auf seinem unbequemen Lager zum Beten hinkniet, fällt ihm auf, was er in der Vergangenheit falsch gemacht hat – sich nämlich am Vorabend in der Osteria zu betrinken, statt sich mit dem üblichen Abendgebet ins Bett zu begeben –, aber er hört – außer der Adda – keine Stimme, die ihm sagen würde, was er in Zukunft anders machen könnte.157 Der Weg führt von der Kultur in die Natur: „Cammina, cammina; arrivò dove la campagna coltivata moriva in una sodaglia sparsa di felci e di scope.“ (PS, XVII,
154Dorothea Kullmann, „Rationaler Gedanke und Wort Gottes. Zur Nacht des Innominato und zur Bedeutung der parola in den Promessi Sposi“, Italienisch 28 (2006), S. 32–55. Sie bringt diese Imaginationskritik in Zusammenhang mit den Auffassungen Pascals, Bossuets, Massillons und jener der idéologues (insb. Destutt de Tracy), um eine apologetische Romanintention zu konfirmieren. 155Ebd., S. 43. 156In diesem Sinne schätzt auch Enzo N. Girardi die Figur Renzos ein: „Ma tutte queste cose in Renzo, come la sua fiducia nella Provvidenza, le sue abitudini di preghiera, la sua generosità, la sua pietà verso il dolore degli altri, il suo sincero sforzo di perdonare e la volonterosa adesione al comando che fra Cristoforo gli rivolge in questo senso, indicano appunto la buona disposizione, l’apertura di Renzo alla sfera superiore, ma non smentiscono, anzi confermano che la sua sfera è tuttavia diversa, che insomma chi guida il gioco del suo pensare e del suo agire non è qualcosa che abbia la sua origine fuori di questo mondo, ma qualcosa che ha le sue radici nel mondo e che può identificarsi volta a volta nell’istinto, nel temperamento, nella natura, nel costume.“ (Enzo Noè Girardi, Struttura e personaggi dei Promessi Sposi, Mailand: Jaca Book 1994, S. 66 f.) 157Vgl. PS, XVII, S. 295.
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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293)158 Es ist damit eine Umkehrung von Renzos erstem Weg nach Mailand, an dem er an einer Stelle stehen bleibt, um vor ihm „quella gran macchina del duomo“ (PS, XI, 203) und hinter ihm „il suo Resegone“ zu erblicken (PS, XI, 203). In Renzos staunendem Blick auf das Mailänder Bauwerk und seinem traurigen Rückblick auf die Heimat des Resegone ist bisweilen ein Symbol für den Austritt aus der Idylle in die Geschichte hinein gesehen worden – oder, gerade andersherum, eines für das Hinter-sich-Lassen einer verworren-leidenschaftlichen Vergangenheit.159 Diese Umdrehbarkeit der Deutungsperspektiven zeigt, dass gar nicht die Landmarken der Landschaft, egal ob die natürliche Bergkette oder das kulturelle (bezeichnenderweise nicht sakrale!) Bauwunder, für Renzo entscheidend sind, sondern die Art und Weise, wie er mit diesen Landmarken konfrontiert wird: La strada era allora tutta sepolta tra due alte rive, fangosa, sassosa, solcata da rotaie profonde, che, dopo una pioggia, divenivan rigagnoli; e in certe parti più basse, s’allagava tutta, che si sarebbe potuto andarci in barca. A que’ passi, un piccol sentiero erto, a scalini, sulla riva, indicava che altri passeggieri s’eran fatta una strada ne’ campi. Renzo, salito per un di que’ valichi sul terreno più elevato, vide quella gran’ macchina del duomo sola sul piano, come se, non di mezzo a una città, ma sorgesse in un deserto; e si fermò su due piedi, dimenticando tutti i suoi guai, a contemplare anche da lontano quell’ottava maraviglia, di cui aveva tanto sentito parlare fin da bambino. Ma dopo qualche momento, voltandosi indietro, vide all’orizzonte quella cresta frastagliata di montagne, vide distinto e alto tra quelle il suo Resegone, si sentì tutto rimescolare il sangue, stette lì alquanto a guardar tristamente da quella parte, poi tristamente si voltò, e seguitò la sua strada. (PS, XI, 203)160
Die tiefe Straße ist von einem Regenguss aufgeweicht und zwingt ihn, den Weg zu verlassen, wodurch seine Wahrnehmung erst produktiv wird. Renzo sieht überhaupt erst etwas, wenn die Natur schlammig und dreckig wird. Der Dom, das achte Weltwunder, löst Staunen in ihm aus, der Blick auf den Resegone Traurigkeit. Weder Dom noch Berg, weder kulturelle noch natürliche Monumentalität und
158„Er
wanderte weiter und gelangte zu einer Stelle, wo das bebaute Land in ein mit Farn und Heidekraut bewachsenes Ödland überging.“ (S. 372) 159So Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 102, mit Bezug auf Baldi, L’Eden e la storia, S. 156 f. 160„Die Straße verlief damals zwischen zwei hohen Böschungen; sie war schlammig, steinig und zerfurcht von tiefen Radspuren, die nach einem Regen zu kleinen Bächen wurden; an besonders niedrigen Stellen war sie so überschwemmt, daß man sie mit einem Boot hätte befahren können. An diesen Stellen zeigten steile Trampelpfade, die in Stufen die Böschung hinaufführten, daß andere Passanten sich einen Weg querfeldein gesucht hatten. Als Renzo über einen dieser Pfade auf höheres Gelände gestiegen war, sah er den mächtigen Bau des Mailänder Doms allein aus der Ebene ragen, als erhöbe er sich nicht mitten in einer Stadt, sondern in einer Wüste, und wie angewurzelt blieb er stehen und vergaß all sein Ungemach angesichts dieses achten Weltwunders, von dem er schon als Kind gehört hatte. Dann aber, als er sich umsah, erblickte er am Horizont die gezackte Linie der Berge, erkannte klar und deutlich seinen hoch aufragenden Resegone, fühlte sein Blut aufwallen, stand eine Weile reglos und blickte traurig zurück, drehte sich dann traurig um und setzte seinen Weg fort.“ (S. 258)
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weder Staunen noch Traurigkeit bringen ihn Lucia auch nur einen Schritt näher. Lösung wird erst eine Natur bringen, in die Renzo hineingeht, vielleicht um sie zu transzendieren, um dort etwas Anderes (Lucia, Gott, Gerechtigkeit) zu schauen (so legt der Erzähler es zumindest nahe), vielleicht aber auch nur, um sich zu finden und zu fühlen und vom Anderen entlastet zu werden. Nach dem Mailänder Abenteuer kämpft Renzo also mit einer phantasmatisch belebten Natur. Bilder, Erscheinungen, Spukgestalten aus Geschichten, die er als Kind gehört hat, bedrohen ihn: „immagini, certe apparizioni, lasciatevi in serbo dalle novelle sentite raccontar da bambino, così, per discacciarle, o per acquietarle, recitava, camminando, dell’orazioni per i morti“ (PS, XVII, 293).161 Die Macht der Bilder wächst entsprechend der Wildheit des Ortes („salvatichezza del luogo“, PS, XVII, 293). „A poco a poco, si trovò tra macchie più alte, di pruni, di quercioli, di marruche.“ (PS, XVII, 293)162 Und dann: ein Wald („un bosco“, PS, XVII, 293), der, zusammen mit Mondlicht, Schatten, Blätterrascheln und nächtlicher Brise, Angst und Schaudern solchermaßen steigert, dass sie durch Mark und Bein gehen. Aber Renzo wäre nicht Renzo, wenn er die Angst nicht im letzten Moment überwinden würde. Am Gipfel des Horrors erschreckt ihn nicht die nächtliche Natur, sondern ein Schrecken über den Schrecken: A un certo punto, quell’uggia, quell’orrore indefinito con cui l’animo combatteva da qualche tempo, parve che a un tratto lo soverchiasse. Era per perdersi affatto; ma atterrito, più che d’ogni altra cosa, del suo terrore, richiamò al cuore gli antichi spiriti, e gli comandò che reggesse. (PS, XVII, 294)163
Im Gegensatz zu Lucia, die auf dem Höhepunkt der Angst ihr Leben der Jungfrau Maria verspricht, besinnt sich Renzo auf ‚alte Geister‘ – Geister, die an jenes „revocate animos“ gemahnen, mit dem Aeneas seine Gefährten zum Durchhalten auffordert.164 Paradoxerweise führt diese meta-affektive Selbstbesinnung nicht zum mutigen, folgenreichen Fortschreiten, sondern zur Entscheidung zur Umkehr („risolveva d’uscir subito di lì“, PS, XVII, 294; „[er] beschloß, auf der Stelle umzukehren“, S. 373).165 Und in genau diesem Moment wird der anti-epische
161„[…] Bilder […], gewisse Spukgestalten aus den Märchen und Sagen, die er als Kind gehört hatte, sprach er im Gehen, um sie zu verjagen oder zu besänftigen, Bittgebete für die Toten.“ (S. 372) 162„Allmählich führte ihn sein Weg durch höheres Buschwerk aus Schlehen, Zwergeichen und Bocksdorn.“ (S. 372) 163„An einem bestimmten Punkt schien das vage Schaudern, das undeutliche Grauen, mit dem er seit einer Weile kämpfte, ihn zu übermannen. Er war nahe daran, allen Mut zu verlieren, aber noch erschrockener über sein eigenes Erschrecken als über alles andere, rief er sich die alten Lebensgeister ins Herz zurück und befahl ihnen standzuhalten.“ (S. 373) 164Vergil, Aeneis, I, 202. 165Zu dieser natürlichen Reaktion Renzos vgl. auch Nencioni, La lingua di Manzoni, S. 296: „La risoluzione di Renzo non è, in verità, né eroica né risolutiva; è una remissione alla propria impotenza fisica e morale, al proprio bisogno di accoglienza umana anche a prezzo di rischio.“
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Held zum romantischen Hörer der Natur. Die Stelle ist zu schön, um nicht zitiert zu werden: E stando così fermo, sospeso il fruscìo de’ piedi nel fogliame, tutto tacendo d’intorno a lui, cominciò a sentire un rumore, un mormorìo, un mormorìo d’acqua corrente. Sta in orecchi; n’è certo; esclama: „è l’Adda!“ Fu il ritrovamento d’un amico, d’un fratello, d’un salvatore. (PS, XVII, 294)166
Die Stimme des Flusses macht die kaum beschlossene Umkehr wieder rückgängig und belebt den erstarrten Renzo zu neuem Leben: „sentì il sangue scorrer libero e tepido per tutte le vene“, (PS, XVII, 294; „er fühlte das Blut wieder frei und warm durch seine Adern strömen“, S. 373). Aber mehr noch führt sie zu einem Wechsel des narrativen Registers und lässt Natur, Figur und Erzähler quasi eins werden. Der Moment des Hörens unterbricht die Erzählung, um sie in neuen Fluss zu bringen. Aus dem Geräusch wird ein Murmeln, das sich in den Liquiden von rumore, mormorìo, corrente verdichtet und zur Aussprache des Namens, des Wortes überhaupt, drängt. Die Adda ist Freund, Bruder, Retter in einem, Selbsterkenntnis Renzos im Anderen. Die euphorische exclamatio Renzos ist der poetische Höhepunkt des Kapitels und handlungsmäßiger Höhepunkt, was seine Flucht angeht. Bezogen auf die Suche nach Lucia markiert die Adda-Überquerung aber eher ein weiteres Hindernis als einen Schritt in die ‚richtige‘ Selbst- und Paarerkenntnis. (Lucias ‚voto‘ bringt dagegen, wie unten zu sehen sein wird, zwar den Handlungsverlauf weiter, aber keine poetischen Ergüsse hervor.) Im bergamaskischen Exil wird Renzo buchstäblich ein Anderer: Weil die Mailänder Justiz ihre Fänge bis in das Nachbarland ausstreckt, nimmt er erst einmal ein Pseudonym an. Als Antonio Rivolta trägt er wie zur Erinnerung Wende und Aufstand in seinem Namen. Auch wenn er nach der Gefahr wieder seinen Namen annimmt, haben Umkehr und Wende in seinem Fall den Charakter von Unumkehrbarkeit eingebüßt. Renzo schreitet das Terrain ab, er geht einen Zickzack-Weg, der von der Natur nur momenthaft und – worauf gleich zurückzukommen sein wird – von der Natur eines selbstvergessenen, spontanen Erzählens unterbrochen wird. So begleitet Orientierungslosigkeit leitmotivisch seinen Weg. Wenn man Renzo einem offenen Außen und Lucia einem geschlossenen Innen zuordnet (ihm einen Bildungsroman konzediert und Lucia nicht), vergisst man, dass Renzos Außen im Grunde ein Labyrinth, ein Eingesperrtsein in einem gesetzeslosen Raum codiert. Sein Schicksal ist es, der Ohnmacht der Justiz gnadenlos ausgeliefert zu sein und nie in die Situation, wirklich entscheiden zu müssen, zu kommen. Was er lernt, ist die Kunst der Umwegigkeit
166„Und wie er so da steht, ohne sich zu rühren, so daß auch die Blätter unter seinen Füßen nicht mehr rascheln und alles rings um ihn vollkommen still ist, hört er plötzlich ein leises Rauschen, ein Murmeln, ein Plätschern von fließendem Wasser. Er lauscht, ist sicher, und freudig ruft er: ,Die Adda!‘ Es war, wie wenn man einen alten Freund wiederfindet, einen Bruder, einen Retter.“ (S. 373)
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und N icht-Entscheidung. Einmal von der Justiz verfolgt, ist Renzo gezwungen, Umwege zu machen. Aber das ist leichter gesagt als getan: La conclusione fu che, andando così da destra a sinistra, e, come si dice, a zig zag, parte seguendo l’altre indicazioni che si faceva coraggio a pescar qua e là, parte correggendole secondo i suoi lumi, e adattandole al suo intento, parte lasciandosi guidar dalle strade in cui si trovava incamminato, il nostro fuggitivo aveva fatte forse dodici miglia, che non era distante da Milano più di sei; e in quanto a Bergamo, era molto se non se n’era allontanato. (PS, XVI, 278)167
Immer wieder weist der Erzähler auf Renzos Zögern zwischen dem einen und dem anderen Weg hin – ein ‚Oberflächen-Zögern‘, das in Gertrudes und Lucias Gewissensqualen ein Pendant hat und in der Konsequenz, den eigenen Willen zu riskieren, nicht weniger bedrohlich ist. Mäanderndes Gehen und Erzählen, Umwegigkeit und Suspension des Ziels bilden die positive Kehrseite von Renzos doppelt leeren und anaphorischen Lehrformeln des „ho imparato“. Nach seinen grandios scheiternden Versuchen, zuerst im Privaten, dann im Politischen, selbst für Gerechtigkeit zu sorgen, hört er auf, ewigen Gesetzen hinterherzujagen, und verlegt sich auf die Suche nach den Momenten des Glücks.168 Die Glockenschläge, die Renzos unruhige Nacht an der Adda begleiten und am Morgen zum Aufbruch läuten, sind in dieser Hinsicht G egen-Stimme zu einer Natur, in der man ruhig schlafen kann: eine Mahnung, nicht zu vergessen. Renzo ist es nicht gestattet, in jener Nacht sehnsüchtig an eine schöne Geliebte zu denken, vielmehr halten ihn „una treccia nera“ und „una barba bianca“ (PS, XVII, 296; „ein schwarzer Zopf und ein weißer Bart“, S. 376) vom schönen Träumen ab.169 Anders als beim Innominato wecken die widerstreitenden Bilder – Fermo e Lucia benennt für Lucia noch ausdrücklich einen „terrore della dimenticanza“ (FL, III, VIII, 492; „Schrecken des Vergessens“, eigene Übers.) – kein diffuses Konversionsbegehren, sondern schlicht ein Unlustgefühl, das der Erzähler mit einem „Che letto matrimoniale!“ (PS, XVII, 296; „Welch ein Ehebett!“, S. 376) kommentiert.
167„Das
Ergebnis war, daß unser Flüchtling kreuz und quer und, wie man so sagt, im Zickzack ging, teils anderen Auskünften folgend, die er sich da und dort einzuholen getraute, teils sie nach eigenem Gutdünken korrigierend, um sie seinen Wünschen anzupassen, teils einfach den Wegen folgend, auf denen er sich gerade befand, so daß er, nachdem er vielleicht zwölf Meilen zurückgelegt hatte, nicht mehr als sechs Meilen von Mailand entfernt war und, was Bergamo anging, noch von Glück sagen konnte, wenn er sich wenigstens nicht von ihm entfernt hatte.“ (S. 352) 168Antonio Pasqualino, Roberto Andò, Sandro Volpe weisen Renzo im Mut, den es für alle Figuren als „fiducia in Dio“ im Roman zu beweisen gelte, eine fundamentale „incoscienza“ zu (dies., „Dialogo col soprannaturale. Progetti d’azione e paura nei Promessi Sposi“, in: Manetti (Hg.), Leggere I promessi sposi, S. 209–226; hier: S. 212). 169Salvatore S. Nigro merkt an, dass damit der typische literarische Topos, das Erinnerungsbild der Geliebten synekdochisch darzustellen, gebrochen wird. Er zitiert „duo vaghi occhi“ und „una bella treccia“ aus dem Orlando furioso, XVI, 3, 2. – Die zwei Bilder von Padre Cristoforo und Lucia werden um ein drittes ergänzt – Agnese, die ihn zum Schwiegersohn auserkoren hat … –, in dem sich die Sehnsucht Renzos nach einem mütterlichen Gesetz ausdrückt.
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Nachdem Renzo einmal fast vor Gericht gestellt worden ist, flieht er, so könnte man sagen, jedes Gericht, egal ob weltlich oder überirdisch. Die Natur wird ihm zum Anderen des Gesetzes, zum Vergessen des (sogar Liebes-)Gesetzes. Er betrachtet sie nicht als Objekt der Erkenntnis und noch weniger nimmt er sie als schöne Natur wahr. Für die vom Erzähler wortreich beschriebene Schönheit des lombardisch-bergamaskischen Morgenhimmels ist er blind, weil sein Blick sich auf seinen Weg beschränkt.170 Noch deutlicher wird diese Mimikry Renzos an die Natur in der berühmten Weinberg-Szene: Nach über anderthalb Jahren (und mehr als zehn Romankapiteln) kehrt Renzo als von der Pest Geheilter171 im September 1630 in sein Heimatland zurück. Von Agnese in einem komplizierten Briefwechsel halber Analphabeten notdürftig über die Lage Lucias und ihr ‚seltsames‘ Gelübde aufgeklärt, verlässt er seinen Cousin, um über den Umweg seines Heimatdorfes – erneut ein Umweg – Lucia in Mailand zu suchen. Bortolo verabschiedet ihn mit dem Ratschlag: „‚cerca di schivar la giustizia, com’io cercherò di schivare il contagio[…]‘“ (PS, XXXIII, 572).172 Wie immun die Pestkrankheit Renzo tatsächlich gemacht hat, wird sich in Mailand zeigen, wo er, als Salbenschmierer verleumdet, auf einen Leichenkarren aufspringt, um seine Verfolger abzuschütteln. Unter den wenigen Pestüberlebenden in seinem Dorf trifft er auf Don Abbondio, der Renzos Suche nicht verstehen kann und ihm seinerseits rät: „,[…] In nome del cielo, cosa venite a far qui? Tornate…‘“ (PS, XXXIII, 578).173 Man könnte erwarten, dass Renzo ihm wütend, energisch Lucia als Ziel entgegenhält, stattdessen antwortet er: „‚Sempre l’ha con questo tornare, lei. Per tornare, tanto n’avevo a non movermi. […]‘“ (PS, XXXIII, 578).174 Weder von seinem Zorn auf Don Rodrigo, dessen erbärmliches Pest-Ende nicht zufällig im selben XXXIII. Kapitel berichtet wird, noch von seiner Neugierde auf die Welt ist viel übrig geblieben. Renzo kommt als Überlebender in sein Dorf zurück, ein Überlebender, der nicht mehr nach Gerechtigkeit sucht, sondern nur noch nach dem, was das herrschende Unrecht davon übrig gelassen hat, nach ‚bloßem Leben‘.175 In trauriger, nostalgischer, sentimentaler Stimmung erreicht er sein Haus und seinen kleinen Weinberg, der dem Erzähler Anlass zu einer knapp zweiseitigen Digression gibt, die in ausdrücklichen Kontrast zur Figur – zum ‚padrone‘ des Weinbergs – gestellt wird: „Ma questo non si curava d’entrare in una tal vigna; e forse non istette tanto a guardarla, quanto noi a farne questo po’ di
170Vgl.
PS, XVII, 297 f. sua buona complessione vinse la forza del male.“ (PS, XXXIII, 571) („[S]eine gute Konstitution überwand die Krankheit“, S. 725.) 172„,Bemühe dich, der Justiz zu entgehen, so wie ich mich bemühe, der Ansteckung zu entgehen. […]‘“ (S. 726) 171„[L]a
173„,[…]
Im Namen Gottes, was willst du hier? Geh zurück…‘“ (S. 732) Ihr mit Eurem Zurückgehen! Wenn ich zurückgehen soll, hätte ich gar nicht erst loszugehen brauchen. […]‘“ (S. 733) 175Raimondi spricht bei Renzos Rückkehr ins Dorf von einer „iniziazione al livello di un’umanità spoglia, quasi elementare“ (Raimondi, Il romanzo senza idillio, S. 183). 174„,Immer
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schizzo.“ (PS, XXXIII, 580)176 Es fällt als erstes auf, dass Renzo in dem einst von ihm kultivierten Weinberg nicht liest. Er erwartet – anders als bei der Überquerung der Adda – kein bedeutungsvolles Zeichen, das zu ihm sprechen würde. Seine alte Heimat ist stumm, ohne erlösendes Rauschen, ohne orientierende Glockenschläge, ohne Erzähler-Hinweise auf eine ‚Provvidenza‘. Als er sein Dorf erreicht, quälen ihn schmerzhafte Erinnerungen und Vorahnungen; innerlich hämmern jene Glocken in ihm, die in der Nacht der Flucht geläutet haben („que’ sinistri tocchi a martello“, PS, XXXIII, 574), außen herrscht Todesstille („silenzio di morte“, PS, XXXIII, 574). Der von der Pest verblödete und nur noch stammelnde Tonio – einst wichtigster Komplize für die heimliche Hochzeit – ist der erste, auf den er trifft. Danach Don Abbondio, der ihn an seinen Haftbefehl erinnert und alle Pestopfer des Dorfes, darunter Perpetua, aufzählt. Für seine Unterkunft fällt Renzo gerade noch ein alter Freund ein – einer, der nicht einmal mehr einen Namen hat –, dessen Gastfreundschaft ihm am Abend einziger und umso rührenderer Trost sein wird. Vorher noch, auf dem Weg dorthin, der Anblick seines verwachsenen Weinbergs und das nicht weniger verwüstete, von Spinnen und Ratten bevölkerte Häuschen: E andando, passò davanti alla sua vigna; e già dal di fuori potè subito argomentare in che stato la fosse. Una vetticciola, una fronda d’albero di quelli che ci aveva lasciati, non si vedeva passare il muro; se qualcosa si vedeva, era tutta roba venuta in sua assenza. S’affacciò all’apertura (del cancello non c’eran più neppure i gangheri); diede un’occhiata in giro: povera vigna! Per due inverni di seguito, la gente del paese era andata a far legna „nel luogo di quel poverino“, come dicevano. (PS, XXXIII, 579)177
Viel ist über die daran anschließende ‚kleine Weinberg-Skizze‘ des detailliert beschreibenden – botanisierenden und moralisierenden – Erzählers geschrieben und spekuliert worden. Ja, es ist anzunehmen, dass die inszenierte Naturwüchsigkeit dieses Weinberges zu ebensolchen naturwüchsigen Deutungen verführt.178 Auch wenn sich Renzos Weinberg als mise en abyme des Romans zu 176„Dieser aber dachte gar nicht daran, einen solchen Weingarten zu betreten, und vielleicht blieb er nicht einmal so lange stehen, um ihn zu betrachten, wie wir gebraucht haben, um diese kleine Studie zu zeichnen.“ (S. 736) 177„Unterwegs kam er an seinem Weingarten vorbei, und schon von außen konnte er gleich erkennen, in welchem Zustand er sich befand. Kein Wipfel, kein Zweig von den Bäumen, die er gepflanzt hatte, ragte mehr über die Mauer; wenn man da etwas ragen sah, war es von den Gewächsen, die sich in der Zwischenzeit breitgemacht hatten. Er trat in die Öffnung (vom Tor waren nicht einmal mehr die Angeln zu sehen) und warf einen Blick in die Runde: Welch ein trauriger Anblick! Zwei Winter hindurch waren die Leute aus dem Dorf zum Holzmachen hergekommen, an den ,Platz jenes armen Kerls‘, wie sie sagten.“ (S. 734) 178Abgesehen von den Romankommentaren sei insbesondere verwiesen auf: S. Eugene Scalia, „Ancora la vigna di Renzo“, Italica 17 (1949), S. 138–143. – So weit ich sehe, ist er einer der wenigen, der die Szene dezidiert vor dem Hintergrund von Renzos Geschichte liest. Darin folge ich ihm. Generalisierendere Lektüren finden sich bei: Giorgio Bàrberi-Squarotti, „Il significato della ,vigna di Renzo‘ (1965)“, in: Ders., Angelo Jacomuzzi (Hg.), Letteratura e critica. Antologia della critica italiana. L’Ottocento e il Novecento, Messina/Firenze: Casa Editrice G. d’Anna 1970, S. 100–103, und Romano Luperini, „Il silenzio dell’allegoria: la vigna di Renzo“, Belfagor 54/1 (1999), S. 11–23. Evolutionsbiologische und gesellschaftspolitische Anschauungen avant la lettre sieht Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 197–207 („Renzos Weinberg“).
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Recht verselbständigt haben mag, kommt es mir vor allen intertextuellen oder allegorischen Bezügen darauf an, dass es um Renzos Weinberg geht, um sein Eigentum, von dem dieser sich als „padrone“ mit einer „occhiata in giro“ an dieser Stelle des Romans profan-sentimental verabschiedet. In Fermo e Lucia gibt es die Weinberg-Szene noch nicht, sie steht damit in direktem Zusammenhang mit der den Natur-Diskurs systematisch einflechtenden Neuschreibung von Renzos Geschichte. Mit dem nostalgischen Blick auf den verwilderten Weingarten – „povera vigna!“ – hört Renzo auf, der Ungerechtigkeit der Welt eine eigene Gerechtigkeit in der Form des kleinen, patriarchalischen oikos entgegenzustellen. Von Verantwortungsgefühl gegenüber dem väterlich geerbten kleinen Gut ist hier bezeichnenderweise nicht die Rede. Fraglich ist außerdem, das legt der Erzähler ironisch nahe, wer hier eigentlich arm dran ist: der Weinberg oder Renzo – „quel poverino“, wie die Dörfler sagen, die die letzten zwei Jahre Holz aus seinem Garten gemacht haben. Im Vorbeigehen – „andando, passò la sua vigna“ – erkennt Renzo, dass der Mailänder Haftbefehl auch die Aufgabe seines Rechtes auf die Rolle des pater familias nach sich gezogen hat. Man kann hier an die Stelle aus der Colonna Infame denken, an der das schreckliche Gefühl von Moras Familie evoziert wird, jener Schrecken von Kindern und Gattinnen, die ihren Mann und Vater aus dem eigenen Haus von der Justiz abgeführt sehen müssen.179 Renzo entgeht der Verhaftung, aber in seiner Fluchtbewegung wird er der gesetzlosen, naturalisierten Kultur, die der Erzähler gleichsam an der Stelle innerer Entwurzelung beschreibt, ähnlich. Er weiß (immer noch) nicht, ob es eine (‚Bildung‘ zur) Gerechtigkeit auf dieser Welt gibt. Das Natur-Tableau des Erzählers hat die Funktion, eine solche Absenz von Ordnung, eine ambivalente Natürlichkeit zu spiegeln. Und in der Spiegelung kompensiert das Tableau die sentimentale Passivität Renzos. Wesentliches Kennzeichen dieser Natur ist Ordnungslosigkeit: Das sich über den ausgerissenen Kulturpflanzen breit machende Unkraut wird als „marmaglia“ (PS, XXXIII, 579; „Dickicht“, S. 734), „guazzabuglio di steli“ (PS, XXXIII, 579; „Wirrwarr von Stengeln“, S. 735) und „confusione di foglie“ (PS, XXXIII, S. 579; „Wust von Blättern“, S. 735) beschrieben. Renzos ‚Werk‘, seine Kulturarbeit – „i vestigi dell’antica coltura“ – ist in Spuren noch sichtbar, aber die Aufmerksamkeit des Erzählers gilt nicht den Weinstöcken, Maulbeerbäumen und Obstbäumen, die hier wachsen sollten, sondern der natürlichen Kraft, energeia, der alles überwuchernden Pflanzen: „una nuova, varia e fitta generazione, nata e cresciuta senza l’aiuto della man dell’uomo“ (PS, XXXIII, S. 579).180 Diese Kraft wird dem Leser in detaillierter und lebendiger Beschreibung vor Augen gestellt, indem das Unkraut, zum einen, Namen erhält und die einzelnen Pflanzen, zum anderen, nicht nur wachsen, sondern anthropomorph interagieren. Der Kraft der
179Vgl.
CI, IV. neue[ ], vielfältige[ ] und dichte[ ] Vegetation, die sich ohne Hilfe von Menschenhand entwickelt und ausgebreitet hatte.“ (S. 734)
180„[E]ine[ ]
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Natur korrespondiert eine Kraft der Beschreibung. Es wachsen ortiche, felci, logli, gramigne, farinelli, avene salvatiche, amaranti verdi, radicchielle, acetoselle, panicastrelle, uva turca, tasso barbasso, cardi, vilucchioni, gelso, zucca salvatica und über allem il rovo, Brombeerbüsche ohne Ende (PS, XXXIII, 579 f.; Brennnesseln, Farnen, Lolch, Quecke, Melde, wilde[r] Hafer, grüne[r] Amaranth, Löwenzahn, Sauerampfer, Borstenhirse, Kermesbeere, Königskerze, Disteln, Zaunwinden, Maulbeerbaum, Zaunrübe, S. 734 f.). Dem Chaos ihrer Formen, Farben und Größen korrespondiert eine phonetische und rhythmische Ordnung: „una confusione di foglie, di fiori, di frutti, di cento colori, di cento forme, di cento grandezze: spighette, pannocchiette, ciocche, mazzetti, capolini bianchi, rossi, gialli, azzurri.“181 Die mannigfaltigen Pflanzen wachsen nicht nur, sie ranken sich aneinander hoch, winden sich, überwuchern sich in der Luft, überholen sich am Boden, ragen in die Höhe oder ducken sich. Wie es den Schwachen häufig passiert, so heißt es in einem ausdrücklichen Vergleich, ziehen sie sich gegenseitig, wenn sie Halt suchen wollen, nach unten. Natur und Kultur scheinen hier sowohl zusammenzufallen als auch zusammen zu fallen. Kein Wunder, dass diese kleine Skizze die Leser irritiert hat: Renzos Weinberg, biblische Allegorie schlechthin, lässt nicht nur fragen, wo der Mensch, sondern auch, wo Gott darin geblieben ist. Von göttlicher Providenz ist, anders als in der Szene der Adda-Überquerung, nicht die Rede. Der für die Figuralisierung prädestinierte Gegenstand wird zum Skandal einer unlesbaren Natur. Die Lektüren, die dieses Naturwuchern referentiell sistieren, sind alle irgendwie plausibel, wie sie andererseits notwendig defizitär bleiben müssen. So schreibt S. Eugene Scalia schon 1940: Si è molto strogolato sul significato e ragion d’esser della minuta descrizione della vigna di Renzo fatta dal Manzoni nel capitolo XXXIII dei Promessi sposi. Chi ci ha voluto vedere dello Shakespeare, chi dello Scott, chi un omaggio alla voga romantica, chi del realismo in anticipo, chi della parodia del padre Bresciani o del Bartoli, chi dell’allegoria patriottica, chi del virtuosismo da dilettante d’agricoltura, chi della nomenclatura pura e semplice.182
Scalia kritisiert, zu Recht, wie ich meine, die Abstrahierung der Passage von der Romanhandlung. Die Erzähler-Digression nehme Renzos Affekt – Trauer, Verzweiflung, Sprachlosigkeit angesichts seiner zerstörten Landarbeit – als poetisch-sentimentalen Anlass, um das toskanische Botanik-Vokabular möglichst wirkungsvoll verbreiten zu können.183 Scalia macht auf eine Ambiguierung der
181„[E]in Wust von Blättern, Blüten und Früchten in zahllosen Formen, Farben und Größen: Ähren, Rispen, Büschel, Dolden, weiße, rote, gelbe, blaue Körbchen.“ (S. 735) 182Scalia, „Ancora la vigna di Renzo“, S. 138. 183Die italienische Nomenklatur ist aufgearbeitet von Claudio Marani, Il sentimento rurale in Manzoni, Mailand 1937, und Maurizio und Letizia Corgnati, Alessandro Manzoni „fattore di Brusuglio“, Mailand 1984 (zit. in: Manzoni, I Promessi Sposi, hg. Stella/Repossi, S. 1051). Sie entspricht der Klassifikation von Ottaviano Targioni Tozzetti, Lezioni di agricoltura specialmente toscana, Florenz S. 1802–1804.
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Erzählperspektive aufmerksam, die in der Tat wichtig ist: Es ist nicht ausgemacht, dass Renzo sich nicht ebenso viel Zeit für den Anblick seines Weinbergs nimmt wie der Erzähler für seine detaillierte Beschreibung: „e forse [Herv. D. S.]“ – vielleicht – „non istette tanto a guadarla“, heißt es an der bereits zitierten Stelle.184 Wenn es so ist, dass die Perspektiven von Erzähler und Figur verschwimmen, kompensiert die energetische Beschreibung, die ganz auf den actus des Hervorbringens setzt, Renzos passiven Affekt der Trauer. Der Affekt bringt in der Pflanzen-Nomenklatur plötzlich ein neues, unbekanntes Wissen hervor. Als er von Don Abbondio nämlich hört, wen alles die Pest dahingerafft hat, wird er ratlos: „Renzo rimase lì tristo e scontento, a pensar dove anderebbe a fermarsi.“ (PS, XXXIII, 578)185 Schon auf dem von Pesttoten übersäten Weg zum Dorf wird Renzos Verzweiflung mit der Fruchtbarkeit und dem Überfluss der Natur kontrastiert: Frutte, n’aveva a sua disposizione, lungo la strada, anche più del bisogno: fichi, pesche, susine, mele, quante n’avesse volute; bastava ch’entrasse ne’ campi a coglierne, o a raccattarle sotto gli alberi, dove ce n’era come se fosse grandinato; giacchè l’anno era straordinariamente abbondante, di frutte specialmente; e non c’era quasi chi se ne prendesse pensiero: anche l’uve nascondevano, per dir così, i pampani, ed eran lasciate in balìa del primo occupante. (PS, XXXIII, 574)186
In keiner Figur des Romans sind Pest und Schlaraffenland, potentielle Beglückung und Zerstörung so nahe beisammen wie in Renzo. Der Erzähler schreibt ihm nach und nach die Rolle einer natürlichen Rezeptionshaltung auf den Leib; er passiviert die Natur der Figur und rechtfertigt damit einen potentiell immer schuldhaften Affekt als Natur. Genau dies versinnbildlicht die Renzo ‚umruhende‘ ebenso wie seine ‚eigene‘ Natur und ‚sein Weinberg‘. Hier sprießt eine Natur, die, wie es in der Einleitung zur Colonna Infame heißt, die schrecklich-schöne Macht des Alptraums hat: Ci par di vedere la natura umana spinta invincibilmente al male da cagioni indipendenti dal suo arbitrio, e come legata in un sogno perverso e affannoso, da cui non ha mezzo di riscotersi, di cui non può nemmeno accorgersi. (CI, Einleitung, 680)187
184Und insofern ist Luperini zu widersprechen, wenn er schreibt: „Indubbiamente questo della vigna è un motivo che i formalisti russi avrebbero definito ‚libero‘, sciolto da legami con la fabula e inessenziale per la trama. La vigna non è neppure colta attraverso lo sguardo di Renzo, che – ci informa il narratore – non indugia affatto a guardarla.“ (Luperini, „Il silenzio dell’allegoria“, S. 13.) 185„Renzo blieb niedergeschlagen zurück und überlegte, wo er nun übernachten sollte.“ (S. 734) 186„Obst stand ihm längs der Straße zur Verfügung, mehr als genug: Feigen, Pfirsiche, Pflaumen, Äpfel, soviel er wollte, er brauchte nur auf die Felder zu gehen, um sie zu pflücken oder unter den Bäumen aufzulesen, wo sie dicht an dicht wie Hagelkörner lagen; denn das Jahr war außerordentlich ertragreich gewesen, besonders an Obst, und es gab fast niemanden, der sich seiner annahm. Auch die Trauben standen so dicht, daß sie fast die Weinblätter verdeckten, und waren dem Zugriff des erstbesten Interessenten überlassen.“ (S. 728) 187„Wir meinen, die menschliche Natur unweigerlich zum Bösen getrieben zu sehen durch Ursachen, die nicht von ihrem Willen abhängen, als wäre sie gefesselt in einem perversen und qualvollen Traum, aus dem sie sich nicht zu lösen, ja den sie nicht einmal als solchen zu erkennen vermag.“ (S. 20 f.)
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Die Weinberg-Szene zeigt Renzos Subjektivität in genau dieser traumhaften, latent bösen Natur.188 Echte Erkenntnis, Aufwachen aus dem Alptraum, definitive Konversion, selbstbewusste Vergebung seines Kontrahenten, die richtende Stimme Gottes – all das bleibt Renzo verwehrt oder erspart und wird durch das Hören der Stimme Lucias ersetzt. Während Lucia diejenige ist, die das Geheimnis der menschlichen Natur durchschaut, aber nie genießt, ist Renzo derjenige, der die Natur nie durchschaut, aber fortwährend genießt. Das XXXVI. Kapitel, in dem Renzo Lucia im Mailänder Lazarett wiederfindet, Padre Cristoforo das Keuschheitsgelübde löst und das Paar bedeutsam zusammenspricht, gilt als das eigentlich glücklich auflösende Ende des Romans. Für Renzo bleiben die Ereignisse im Pestlazarett eine Hölle ohne Gericht und ohne entscheidende Erlösung aus dem Alptraum der Geschichte. Sein göttliches Gericht ist ein profan-natürliches Gewitter ohne Blitz und Donner, d. h. ohne den Zwang, sein Innerstes, seine Subjektivität gestehen zu müssen. Während Lucia sich vor Padre Cristoforo ‚rein spricht‘, wird Renzo im Gewitterregen des vorletzten Romankapitels ‚dreckig gewaschen‘. Die Gewitter-Dramaturgie begleitet Renzos zweiten Gang ins pestverseuchte Mailand; bereits beim Betreten der Stadt kündigt sie sich an: Il tempo era chiuso, l’aria pesante, il cielo velato per tutto da una nuvola o da un nebbione uguale, inerte, che pareva negare il sole, senza prometter la pioggia; la campagna d’intorno, parte incolta, e tutta arida; ogni verzura scolorita, e neppure una gocciola di rugiada sulle foglie passe e cascanti. Per di più, quella solitudine, quel silenzio, così vicino a una gran città, aggiungevano una nuova costernazione all’inquietudine di Renzo, a rendevan più tetri tutti i suoi pensieri. (PS, XXXIV, 585 f.)189
Die Kommentatoren weisen darauf hin, dass Manzoni die Idee des reinigenden Gewitters nach der Mailänder Pestseuche bei Ripamonti nachlesen konnte. Auflösung der Romanhandlung und kathartische Wirkung der Natur würden so enggeführt. So einfach geht die Rechnung aber nicht auf, denn nicht nur wirkt die Gewitter-Thematik aufgesetzt angesichts der dann geschilderten Tragödien, die sich in der Stadt abspielen: erbärmliche Bilder des Sterbens und Krepierens, Leichenberge, das pietà-Bild der jungen Mutter, die den Leichnam ihrer Tochter gegen die Übergriffe der Monatti verteidigt, Renzo, der selbst als Monatto v erfolgt
188Vittorio Hösle schreibt: „Typisch für Manzonis Naturauffassung ist der Abschnitt über Renzos Weinberg im Kapitel XXXIII. Mitten im wildesten Wüten der Pest schießt dort ohne die ordnende Hand des Menschen die Vegetation geil und hemmungslos ins Kraut.“ (Alessandro Manzoni: Die Verlobten, München: Fink 1975, S. 37.) 189„Das Wetter war schwül, die Luft drückend, der Himmel verhangen von einer einzigen großen Wolke oder einem gleichförmigen, trägen Nebeldunst, der die Sonne vollständig verhüllte, ohne Regen anzukündigen. Das Land ringsum war zum Teil unbestellt und zur Gänze ausgedörrt, alles Grün war verblaßt, und kein Tröpfchen Tau lag auf den welken, schlaff herunterhängenden Blättern. Kein Wunder, daß diese Einsamkeit, diese Leere und Stille so nahe bei einer großen Stadt, Renzos Unruhe um eine neue Bestürzung vermehrten und alle seine Gedanken noch düsterer machten.“ (S. 743)
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wird, etc. Die Thematisierung des Gewitters bleibt darüber hinaus funktional an Renzos Gefühlslage geknüpft, ein quasi äußeres Supplement zu einer inneren Stimme Gottes, die seine „inquietudine“ vergrößert bzw. spürbar macht. Es geht nicht um ein mit der Stadtlandschaft ohnehin kollidierendes, realistisches Naturschauspiel, sondern um ein naturalisiertes Gericht, dessen donnerndes Urteil zugunsten eines erlösenden Regens – und des Hörens der Stimme Lucias – ausgelassen wird. Die Gewitterstimmung wird aufgerufen, wenn Renzo in Bewegung ist, wenn er Schwellen passiert, zuerst wenn er die Stadt betritt, ein zweites Mal, länger und ausführlicher, im XXXV. Kapitel beim Betreten des Lazaretts. Hier steigert sie sich – ganz ähnlich wie bei Renzos Weinberg – zu einer personifizierten Natur, die der Erlösung entgegenseufzt: L’aria stessa e il cielo accrescevano, se qualche cosa poteva accrescerlo, l’orrore di quelle viste. La nebbia s’era a poco a poco addensata e accavallata in nuvoloni che, rabbuiandosi sempre più, davano idea d’un annottar tempestoso; se non che, verso il mezzo di quel cielo cupo e abbassato, traspariva, come da un fitto velo, la spera del sole, pallida, che spargeva intorno a sè un barlume fioco e sfumato, e pioveva un calore morto e pesante. (PS, XXXV, 608)190
Renzos Haltung ist komplett passiv; was ihm bevorsteht, ist keine richterliche Stimme, die zur Umkehr zwingt, sondern die liebende Stimme Lucias, die er, nachdem Padre Cristoforo ihn zu Don Rodrigo geführt haben wird, im anschließenden XXXVI. Kapitel dann auch vernehmen wird. Obwohl der Himmel immer schwärzer und die Schwüle immer drückender wird, bleibt das Donnergrollen in der Ferne bzw. verwandelt es sich in das Lazarett selbst: Ogni tanto, tra mezzo al ronzìo continuo di quella confusa moltitudine, si sentiva un borbottar di tuoni, profondo, come tronco, irresoluto; nè, tendendo l’orecchio, avreste saputo distinguere da che parte venisse; o avreste potuto crederlo un correr lontano di carri, che si fermassero improvvisamente. (PS, XXXV, 608.)191
Die Geräusche der leidenden Kreaturen und Pestkarren im Lazarett vermischen sich mit einem nicht lokalisierbaren Donnergrollen zu einem ununterscheidbaren Grollen. Und analog zur visuell und botanisch inspirierten Poesie von Renzos Weinberg wird hier das Geräusch poetisch produktiv, wie zum Beispiel in diesem
190„Selbst
die Luft und der Himmel steigerten noch das Grauen jener Anblicke, soweit es überhaupt noch zu steigern war. Der Nebeldunst hatte sich allmählich verdichtet und zu großen Wolken geballt, die sich immer mehr verdüsterten und den Eindruck einer gewitterschwangeren Abenddämmerung weckten; nur daß mitten an diesem niedrigen, grauen Himmel undeutlich wie hinter einem dichten Schleier die bleiche Sonnenscheibe stand, die einen matten, diesigen Schein um sich her verbreitete und eine drückende, lähmende Schwüle erzeugte.“ (S. 771 f.) 191„Ab und zu hörte man über dem pausenlos summenden Stimmengewirr dieser großen Menschenansammlung ein tiefes, unentschlossenes, wie ersticktes Donnergrollen, doch man hätte, selbst wenn man die Ohren spitzte, nicht sagen können, aus welcher Richtung es kam, oder man hätte es für ein fernes Rumpeln von Karren halten können.“ (S. 772)
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Elfsilber, in dem sich das ‚o‘ zusammenballt: „si sentiva un borbottar di tuoni,/ profondo, come tronco, irresoluto“. Gewitter- und Pestnatur verschmelzen zu einer einzigen seufzenden und erlösungsbedürftigen Einheit, in der Paulus’ Bild von der in Wehen liegenden Schöpfung anklingt:192 Era uno […] di que’ tempi forieri della burrasca, in cui la natura, come immota al di fuori, e agitata da un travaglio interno, par che opprima ogni vivente, e aggiunga non so quale gravezza a ogni operazione, all’ozio, all’esistenza stessa. […] nè forse su quel luogo di miserie era ancor passata un’ora crudele al par di questa. (PS, XXXV, 609)193
In Szene gesetzt wird eine Renzos Weinberg ganz ähnliche, ambivalente Eigenmächtigkeit der Natur, die zwischen Erneuerung und Zerstörung, Leben und Tod steht. Als Renzo im anschließenden XXXVI. Kapitel suchend durch das Lazarett irrt und schließlich Lucias Stimme hinter einer Bretterwand hört, besänftigt diese Stimme nicht zufällig gerade die Angst eines Pestsiechenden vor dem drohenden Gewitter: „‚Paura di che?‘ diceva quella voce soave: ‚abbiam passato ben altro che un temporale. Chi ci ha custodite finora, ci custodirà anche adesso.‘“ (PS, XXXVI, 627)194 Lucias Stimme besänftigt das Gewitter, sie tritt an die Stelle des göttlichen Urteilsspruchs. Blitz und Donner entladen sich just zwischen dem Wiedersehen Lucias und Renzos erneutem Aufsuchen Padre Cristoforos, um das Problem des Gelübdes zu lösen.195 Aber für ihre Bedrohlichkeit ist Renzo angesichts des süßen Säuselns von Lucias Stimme taub; für Padre Cristoforos Verheiratungs-Liturgie ist Renzo nicht wirklich empfänglich, und erst als er das Lazarett wieder verlässt, wird er im erlösenden Gewitterregen neu geboren: Renzo, in vece d’inquietarsene [vor dem Regen; Anm. D. S.], ci sguazzava dentro, se la godeva in quella rinfrescata, in quel susurrìo, in quel brulichìo dell’erbe e delle foglie, tremolanti, gocciolanti, rinverdite, lustre; metteva certi respironi larghi e pieni; e in quel risolvimento della natura sentiva come più liberamente e più vivamente quello che s’era fatto nel suo destino. (PS, XXXVII, 642)196
192Vgl. Röm 8, 22: „Denn wir wissen, dass die gesamte Schöpfung bis zum heutigen Tag seufzt und in Wehen liegt.“ 193„Es herrschte […] jene Art von Gewitterstimmung, in welcher die Natur, äußerlich scheinbar unbewegt, aber aufgewühlt von einer inneren Qual, jedes Lebewesen niederzudrücken scheint und alles Tun, alles Nichtstun, ja selbst das bloße Dasein mit einer eigentümlichen Schwere belastet. […] Vielleicht war über diesen Ort des Jammers noch niemals eine so grausame Stunde gekommen.“ (S. 772) 194„,Wovor denn Angst?‘ sagt sie gerade sanft. ,Wir haben schon ganz anderes überstanden als ein Gewitter. Der uns bisher behütet hat, wird es auch diesmal tun.‘“ (S. 794) 195Vgl. PS, XXXVI, S. 635. 196„Aber statt sich davor [vor dem Regen; Anm. D.S.] zu schützen, stürzte er sich genüßlich hinein, genoß die Erfrischung, das Rauschen, das rege Keimen der zitternden, triefenden, wieder grün und glänzend werdenden Gräser und Blätter. Er sog die Luft in vollen Zügen ein und empfand in dieser erlösenden Entladung der Natur gewissermaßen noch freier und lebhafter die erlösende Wendung, die sich in seinem Schicksal vollzogen hatte.“ (S. 813)
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Renzos Spaziergang zurück ins Dorf ist Ziel und Höhepunkt seiner antiepischromanesken Konversion: Er wird von einer ambivalenten Natur affiziert, und das heißt: gereinigt und erlöst, aber auch beschmutzt und entblößt. Sein Weg über Sesto, Monza, Pescate und Pescarenico ist der Weg einer ewig defizienten Anamnesis, durch die sich ein komisches Heureka – ‚Ich hab’ sie wiedergefunden!‘ – zieht. Während des Gehens und Sich-Erinnerns wird Renzo schmutziger und schmutziger, was er sonderbar findet, denn, so denkt er, so prächtig, wie er sich fühle, müsste er auch aussehen: Diede un’occhiata anche a sè, e si trovò un po’ strano, quale, per dir la verità, da quel che si sentiva, s’immaginava già di dover parere: sciupata e attaccata addosso ogni cosa: dalla testa alla vita, tutto un fradiciume, una grondaia; dalla vita alla punta de’ piedi, melletta e mota: le parti dove non ce ne fosse si sarebbero potute chiamare esse zacchere e schizzi. E se si fosse visto tutt’intero in uno specchio, con la tesa del cappello floscia e cascante, e i capelli stesi e incollati sul viso, si sarebbe fatto ancor più specie. (PS, XXXVII, 645)197
Aus Renzos Wut ist das profane Staunen eines freien Waldvogels geworden: das Staunen über eine verdreckte, glückliche und einnehmbare Natur, die offen, empfänglich ist für ein weibliches, erotisch-karitativ verführendes Gesetz, das nicht verurteilt, sondern (Überlebens-)Lust befriedigt.198
Nascitur Renzo: der Traum der profanen Erzählung Renzos Traum vom Neugeborenwerden ist nicht zuletzt der Traum des sentimentalen Liebesromans. So weit ich sehe, hat diesen profanen Roman Renzos niemand so akribisch, so liebevoll – und so sehr auf Kosten der weiblichen Protagonistin! – entziffert wie Salvatore Nigro in La tabacchiera di don Lisander.199 „Renzo ama raccontare a se stesso“;200 immer wieder hält er auf seiner 197„Er
warf auch einen Blick auf sich selbst und fand sich etwas sonderbar, denn um die Wahrheit zu sagen, er hatte wohl gemeint, er sähe so prächtig aus, wie er sich fühlte: Alles, was er anhatte, war durchweicht und klebte ihm am Leib; vom Kopf bis zur Hüfte war alles triefnaß, eine einzige Traufe, von der Hüfte bis zu den Fußspitzen alles Schlamm und Kot, und sogar die Stellen, wo der Dreck nicht hingelangt war, hätte man noch bespritzt und verdreckt nennen können. Und hätte er sich in einem Spiegel gesehen, mit der schlapp herunterhängenden Hutkrempe und den angeklatschten, ins Gesicht geklebten Haaren, so hätte er sich noch mehr gewundert.“ (S. 817) 198Vermutlich versteckt sich außerdem in der Schwalbe, die in der Beschreibung der Lazarett-Gewitterstimmung erwähnt wird, eine Anspielung auf Renzo: „Non si vedeva, nelle campagne d’intorno, moversi un ramo d’albero, nè un uccello andarvisi a posare, o staccarsene: solo la rondine, comparendo subitamente di sopra il tetto del recinto, sdrucciolava in giù con l’ali tese, come per rasentare il terreno del campo; ma sbigottita da quel brulichìo, risaliva rapidamente, e fuggiva.“ (PS, XXXV, S. 608) („Auf den Feldern ringsum regte sich kein Zweig an einem Baum, kein Vogel setzte sich nieder oder flog auf; nur eine Schwalbe erschien plötzlich über dem Lazarett [eigentlich: ‚über dem Dach der Einzäunung‘; Anm. D.S.], kam mit ausgebreiteten Flügeln herab, um dicht über den Boden zu streifen, stieg jedoch erschreckt von dem Gewimmel pfeilschnell wieder empor und flog davon“, S. 772). 199Vgl. v.a. die Einleitung „Viaggio sentimentale attorno a una tabacchiera“ und das Kapitel „Tanti romanzi, a conferma“, S. 3–11 und S. 162–173. 200Nigro, La tabacchiera di don Lisander, S. 162.
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Zickzack-Reise inne, um sich den glücklichen Ausgang seiner Geschichte vorzustellen. Auf der Flucht über die Adda malt er sich aus, wie er schon bald zusammen mit Agnese und Lucia ein idyllisches Familiendasein wird führen können: Che piacere, andar passeggiando su questa stessa strada tutti insieme! Andar fino all’Adda in baroccio, e far merenda sulla riva, proprio sulla riva, e far vedere alle donne il luogo dove mi sono imbarcato, il prunaio da cui sono sceso, quel posto dove sono stato a guardare se c’era un battello. (PS, XVII, 302)201
Renzo träumt von einem bürgerlichen Leben, mit Nigro: von einer Art idyllischem déjeuner sur l’herbe. Tatsächlich ist sein Aufstieg von Anfang an vorprogrammiert. Wie schon im zweiten Kapitel bei der Einführung seiner Figur zu erfahren ist, beherrscht Renzo das Seidenspinner-Handwerk, betreibt aber nebenbei sein kleines Anwesen („poderetto“). Das ökonomische Exil in der Republik Venedig ist, unabhängig von dem Ärger, den Don Rodrigo verursacht, eine realistische Option angesichts der schlechten beruflichen Aussichten von Seidenspinnern im Herzogtum Mailand. Den Irrweg der Politik geht er unfreiwillig; was er anstrebt, ist privates, unschuldiges Glück, weniger Arbeit und Zeit, davon erzählen zu können. Deshalb ist er umso empörter, als er sich inkognito im Wirtshaus von Gorgonzola seine eigene Mailänder Geschichte, von einem Kaufmann entstellt und verfälscht, anhören muss: Einen der aufständischen Rädelsführer, die Brandreden geschwungen hätten, habe die Justiz in einem Wirtshaus festgenommen. Briefe habe er in der Tasche gehabt, man wollte ihn ins Gefängnis bringen, aber seine Komplizen hätten dafür gesorgt, dass ihm die Flucht gelänge …202 Noch auf der nächtlichen Flucht über die Adda stellt Renzo in Gedanken entrüstet den Verleumder zur Rede und bläut ihm in innerer, direkter Rede ein: „E imparate a parlare un’altra volta; principalmente quando si tratta del prossimo.“ (PS, XVII, 291)203 Das ist ironischerweise genau jene Lektion, von der es am Ende des Romans heißen wird, dass er, Renzo (!), sie gelernt haben wird: „Allora s’accorse che le parole fanno un effetto in bocca, e un altro negli orecchi; e prese un po’ più d’abitudine d’ascoltar di dentro le sue, prima di proferirle.“ (PS, XXXVIII, 671)204 Ein bisschen hat er am Ende gelernt, seine Worte besser
201„Wie schön wird es sein, wenn wir dann alle zusammen hier auf dieser Straße spazierengehen! Wenn wir in einem kleinen Wagen zur Adda fahren und am Ufer eine Brotzeit machen, genau an der Stelle, wo ich gelandet bin, und ich den Frauen die Stelle drüben zeige, wo ich ins Boot gestiegen bin, und das Dornengestrüpp, durch das ich hinuntergeklettert bin, und die Stelle oben, wo ich Ausschau nach einem Boot gehalten hatte.“ (S. 383) 202Vgl.
PS, XVI, 288 f. Kroebers Übersetzung fällt leider das ins Auge springende „imparare“ weg: „Also überlegt Euch in Zukunft gefälligst, was Ihr sagt, vor allem, wenn es sich um den Nächsten handelt!“ (S. 370) 204„Nun ging ihm auf, daß die Worte im Munde eine andere Wirkung haben als in den Ohren, und er gewöhnte sich etwas mehr daran, in die seinen hineinzuhören, bevor er sie aussprach.“ (S. 852) 203In
3.2 Renzo im Prozess der Profanierung
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einzusetzen; er hat gelernt, vieles nicht zu tun, aber im Prinzip ist er am Ende – im Gegensatz zur gestehenden Lucia – zum Paradefall eines unzuverlässigen Erzählers von privaten, pseudo-politischen, profanen Fiktionen geworden. Renzo konkurriert sogar mit dem anonymen barocken Autor um die Autorschaft der Geschichte. Das vertraut der Erzähler dem Leser spät, im vorletzten Kapitel, an, als er von Renzos Heimkehr bei strömendem Regen berichtet: […] chè lui medesimo, il quale soleva raccontar la sua storia molto per minuto, lunghettamente anzi che no (e tutto conduce a credere che il nostro anonimo l’avesse sentita da lui più d’una volta), lui medesimo, a questo punto, diceva che, di quella notte, non se ne rammentava che come se l’avesse passata in letto a sognare. (PS, XXXVII, 644)205
Weder der Erzähler noch Renzo selbst vermögen zu erzählen, wie er in jener Nacht den Weg zur Adda zurück gefunden hat; „e tutto conduce a credere che il nostro anonimo l’avesse sentita da lui più d’una volta“ – die Rückkehr in Matsch und Dunkelheit ist die Krönung seiner Geschichte, in der Erinnerung zu einem süßen Traum im Bett geronnen. Und in aller Traumhaftigkeit imaginiert Renzo auch hier wieder den erzählerischen Rückblick auf sein fabelhaftes Leben, in dem er gegen alles irdische (Un-)Recht seine Lucia wiedergefunden hat: il gran lavoro della sua mente era di riandare la storia di que’ tristi anni passati: tant’imbrogli, tante traversìe, tanti momenti in cui era stato per perdere anche la speranza, e fare andata ogni cosa; e di contrapporci l’immaginazioni d’un avvenire così diverso: e l’arrivar di Lucia, e le nozze, e il metter su casa, e il raccontarsi le vicende passate, e tutta la vita. (PS, XXXVII, 644)206
Es ist der traumwandlerische Renzo, dem der Erzähler am Ende mehr und mehr die Rolle, die Verantwortung, aber auch die Schuld für ein vom Träumen und trunkenen Fabulieren kaum zu unterscheidendes Erzählen zuschreibt. Nicht zufällig bezeichnet ihn der Erzähler während der Episode in der „Osteria della luna piena“, wo Renzo sich das erste Mal in seinem Leben betrinkt, in erzählerischer Distanzierung als „primo uomo della nostra storia“ (PS, XIV, 253). Und nicht zufällig legt der einfältige Bergler hier eine unbewusste, vom Erzähler ironisierte poetische Ader an den Tag, bei der es mehr um schlagfertigen Wortwitz als um das Heiligtum der Musen geht. Als er unzurechnungsfähig vom Wirt ins
205„Er
selbst, der seine Geschichte sehr detailliert zu erzählen pflegte – eher ein bißchen zu ausführlich als zu knapp (und alles stützt die Annahme, daß unser Anonymus sie mehr als einmal von ihm gehört haben muß) –, er selbst pflegte an dieser Stelle zu sagen, daß er sich an jene Nacht nicht anders erinnern könne, als wenn er sie träumend im Bett verbracht hätte.“ (S. 816) 206„[D]enn die große Arbeit seines Geistes bestand darin, sich die Geschichte jener traurigen letzten Jahre zu vergegenwärtigen: all die Verwicklungen, die Widrigkeiten, die vielen Momente, in denen er nahe daran gewesen war, auch noch die Hoffnung zu verlieren und alles verlorenzugeben; und ihnen dann die Vorstellungen einer so ganz und gar anderen Zukunft entgegenzusetzen: die Ankunft Lucias, die Hochzeit, die Gründung des Hausstandes, das gegenseitige Erzählen ihrer Erlebnisse und das ganze weitere Leben.“ (S. 816)
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3 Manzoni – Recht und Roman
Bett gebracht wird, beleuchtet dieser ihn noch einmal mit seiner Lampe. In einem antiklassizistischen Vergleich dieser Geste des Wirts mit derjenigen Psyches, die im Schein der Lampe ihren Gatten Amor erkennt, macht der Erzähler Renzo damit zu einem profanen Amor, der vom Wirt, dem er seinen Namen nicht preisgeben will, statt als ‚Gott‘ als ‚gottverdammter Esel‘ („Pezzo d’asino!“ PS, XIV, 259) erkannt wird.207 Umberto Eco hat auf Manzonis pessimistische Auffassung in Bezug auf die Macht des Wortes aufmerksam gemacht. Er unterscheidet eine natürliche bzw. populäre Zeichensprache, die aus visuellen Zeichen, Gesten, Ritualen, Liturgien besteht, von einer künstlichen Sprache, die auf dem menschlichen Wort, der parola, beruht und die im Zweifel immer mehr lügt und trügt als die Erstere.208 Wie fast alle Gegensatzpaare bei Manzoni lässt sich allerdings auch dieses kaum aufrechterhalten,209 und so konzediert Eco am Beispiel von Manzonis Pest-Analyse als Massenwahn („pubblica follia“), wie auch das ‚natürliche‘ und vermeintlich wahrere Zeichensystem in die Ansteckungslogik des menschlichen Irrtums kippen kann. Wenn Renzo der letzte ist, der im Bildungsroman der Promessi sposi eine natürliche Semiose, besser: eine Semiose der Natur, erlernt, dann darf man nicht außer Acht lassen, dass er damit nicht nur bloß die halbe Wahrheit lernt, sondern außerdem selbst zu einem halbierten Zeichen wird, das erst in der Relation zu seiner anderen Hälfte lesbar wird. An einem letzten Beispiel lässt sich zeigen, wie Renzos Aufwertung als halber, als ‚Paar‘-Protagonist mit seiner Profanierung einhergeht, wie sein eigenmächtiger Wille einer unrein-profan-literarischen Selbstentäußerung geopfert wird. Es handelt sich um die Übergabe des Brotes der Vergebung durch Padre Cristoforo im XVI. Kapitel. Sie markiert den fiktiv-poetischen Höhepunkt des Romans, in dem der Pater nach der Lösung von Lucias falschem Gelübde das Paar mit mahnenden Worten aufeinander verpflichtet, noch bevor die eigentliche Verheiratung durch Don Abbondio im letzten Kapitel quasi nachgeliefert wird. Das Brot der Vergebung („il pane del perdono“), das Cristoforo von der Familie des von ihm Ermordeten erbeten hatte und das er seither zur Selbstermahnung mit sich herumträgt, wird in der frühen Romanfassung noch Fermo, nicht Lucia übergeben. Es ist hier, in Fermo e Lucia, noch eine Angelegenheit Fermos, nicht des Paares: Cristoforo überreicht es ihm, nachdem Fermo Don Rodrigo Vergebung
207Für Paolo Valesio ist dieses einzige Auftreten des ‚demone Eros‘ der Ausweis dafür, dass Manzoni die Liebe aus seinem Roman kategorisch ausschließe: „Con questo suo intervento infatti sulla calda e vasta immagine apuleiana dell’amore, il Manzoni strategicamente esprime la sua profonda opposizione a ogni storia d’amore […].“ (Valesio, „Lucia, ovvero la ‚reticentia‘“, Fußn. 7, S. 172). – Ich würde dagegen behaupten, dass Renzo erst als profaner Amor (‚christlich‘ oder auch bloß ‚aufklärerisch‘) für die Liebesgemeinschaft gerechtfertigt wird. 208Umberto Eco, „Semiosi naturale e parola nei Promessi sposi“, in: Manetti (Hg.), Leggere I promessi sposi, S. 1–16. 209Vgl. Pierantonio Frare, La scrittura dell’inquietudine. Saggio su Alessandro Manzoni, Florenz: Olschki 2006, der Manzonis Schreiben zwischen den grundlegenden Antithesen von ‚sentire‘ – ‚meditare‘, ‚passione‘ – ‚ragione‘, ‚giudizio‘ – ‚complicità‘, ‚essere‘ – ‚dover essere‘, ‚autore‘ – ‚lettore‘ beschreibt.
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung
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geschworen hat. Salvatore S. Nigro hat nicht nur darauf aufmerksam gemacht, wie das Brot in den Promessi sposi den Empfänger wechselt, sondern auch, wie es, von Cristoforo zuerst einfach aus einem ‚Korb‘ (‚una sporta‘) herausgeholt, in den Promessi sposi aber dagegen in einer Art Tabakdose (‚una scatola‘) eingeschachtelt wird, so dass reliquienartiges Brot und Pfeifentabak, Sucht und spirituelle Nahrung, eine Allianz eingehen.210 Die Tabakdose beschreibt Nigro als Topos für das literarische Gedächtnis: Es gibt zwei berühmte Bildnisse von Manzoni, auf denen er einmal mit einer solchen Dose in der Hand, das andere Mal mit einem Buch (und ‚quel ramo del lago di Como‘ im Hintergrund) abgebildet ist. Mit der Sucht eines rauchenden Schriftstellers wird in Fermo e Lucia bezeichnenderweise Fermos fataler Wein- und Wort-Rausch in der „Osteria della luna piena“ verglichen. Fermo betrinkt sich dort „a quel modo che uno scrittore, nelle stesse angustie, ricorre alla scatola, piglia una presa in furia, la porta al naso, chiude la scatola, la riapre, e ricomincia lo stesso gioco.“ (FL III, VII, 467; Herv. D. S.)211 Diesen Vergleich gibt es in der Endfassung des Romans nicht mehr. Aber Padre Cristoforo entnimmt dort, in der L azarett-Szene, „seinem Korb ein Kästchen aus gewöhnlichem Holz, aber gedrechselt und poliert mit einer gewissen kapuzinertypischen Vollendung“ (S. 809),212 welches er Lucia überreicht. Das Brot und sein verführerisches Schächtelchen werden dem Paar so zum Vermächtnis, wie ein in sakrale Sache und profanes Wort, Signifikat und Signifikant aufgespaltenes Paar. Und im gleichen Zug wird die Szene damit zu einem bildlichen Zitat von Sternes Sentimental Journey (1768), wo der Ich-Erzähler Yorick mit einem Franziskanermönch, dem er eben noch ein Almosen verweigert hat, als Zeichen freundschaftlicher Versöhnung die Tabakdose samt Inhalt tauscht. Wenn Lucia am Ende Renzo als Adressatin von Padre Cristoforos Gabe ersetzt, so bleibt Renzo der vornehmliche Adressat ihrer Verpackung: der Adressat eines Schächtelchens, das auf einen natürlichen, kunstvoll veredelten, aber doch potentiell süchtig machenden Genuss – nicht zuletzt der Lektüre – verweist.
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung Marianna de Leyva alias Geltrude/Gertrude Gertrudes im IX. und X. Kapitel des Romans erzählte Geschichte ist das Pendant zur Colonna Infame. Wie die zum Tode verurteilten Piazza und Mora als historische Schatten hinter dem männlichen Protagonisten Renzo stehen, hat Lucia
210Nigro,
La tabacchiera di don Lisander, S. 3–11. ein Schriftsteller, der in gleicher Bedrängnis ist, zur Tabakdose greift, hektisch eine Prise nimmt, schnupft, die Dose schließt, sie aufs Neue öffnet und wieder mit dem gleichen Spiel beginnt.“ 212„[L]evò dalla sporta una scatola d’un legno ordinario, ma tornita e lustrata con una certa finitezza cappuccinesca.“ (PS, XXXVI, 638) 211„Wie
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3 Manzoni – Recht und Roman
in der zu lebenslanger Buße verurteilten Nonne von Monza ein unheimliches, historisches Gegenbild. Auch Gertrudes Geschichte liegt nicht nur ein historischer, sondern in erster Linie ein juristischer Fall zugrunde. Und wie die Prozessgeschichte der Pestschmierer den Romanschreiber in die Verlegenheit bringt, ob sie in den Roman gehört oder nicht, löst auch Gertrudes Geschichte grundlegende poetologische Zweifel aus. Der als Digression ausgewiesene zweite Band (von vier Bänden) in Fermo e Lucia wird in der Endfassung des Romans auf zwei von dreiunddreißig Romankapiteln gekürzt. Was in den Promessi sposi wegfallen wird, ist nicht zuletzt die poetologische Selbstaussprache des Ich-Erzählers über Sinn und Nutzen von Liebesromanen, auf die gleich zurückzukommen sein wird. Marianna de Leyva (1575–1650), Tochter einer katalanischen Adelsfamilie, wird 1589 als Suor Virginia Maria ins Kloster geschickt, wo sie eine verbrecherische Beziehung mit dem Conte Giovanni Paolo Osio eingeht. Sie bringt zwei Kinder von ihm, eines davon tot, auf die Welt. Der Liebhaber beseitigt mehrere Mitwisser und Mitwisserinnen, wobei die Nonne ihm als Komplizin zur Seite steht. 1608 wird Suor Virginia vom Kirchengericht – unter dem Vorsitz des Kardinal Federigo Borromeo – dazu verurteilt, in einer Klosterzelle eingemauert Buße zu tun. 1622 von Borromeo begnadigt, verlängert die Nonne diese Buße freiwillig bis zu ihrem Lebensende. In weiterem persönlichen Kontakt mit Kardinal Federigo stehend, so dass dieser gar eine Biographie ihres bemerkenswerten Büßerlebens plant, stirbt sie 1650 im hohen Alter von 75 Jahren. Im Gegensatz zum Fall der Colonna Infame stützt sich Manzoni für die Figur der Gertrude allerdings nicht auf die Prozessakten, die gleichwohl existieren und 1855 das erste Mal in Teilen, 1985 erstmals vollständig publiziert werden.213 Manzonis Hauptquelle ist Giuseppe Ripamontis Historia Patriae, wie der Romanerzähler gleich zu Beginn des IX. Kapitels erwähnt.214 Vermutlich erst nach dem Erscheinen des Romans erfährt Manzoni von den Akten. Mit erzbischöflicher Genehmigung erhält er zwischen 1835 und 1840 Einsicht in die ausführlichen Verhörprotokolle, verzichtet aber darauf, sie für die Überarbeitung des Romans heranzuziehen. Es ist der gleiche Zeitraum, in dem er für die Colonna Infame, die die Endfassung des Romans beschließen soll, noch einmal Piazza und Moras Prozessakten und Verris Osservazioni sulla tortura durcharbeitet. Und man kann sich fragen, warum Manzoni im Fall der Marianna de Leyva mit dem Kriterium historischer Korrektheit offenbar ganz anders umging als im Fall der Pestschmierer. Neben den Parallelen der Rechtsfälle fallen in der Tat auch ihre Divergenzen auf. Erstens:
213Vgl. die moderne Edition der Prozessakten mit verschiedenen, umfang- und informationsreichen Beiträgen zum juristischen, historischen, editions- und literaturgeschichtlichen Kontext des Falls: Umberto Colombo (Hg.), Vita e processo di suor Virginia Maria de Leyva monaca di Monza, Mailand: Garzanti 1985. Einen Überblick über die Geschichte der Marianna de Leyva bietet außerdem: Volker Hunecke, „Ein Fall aufrichtiger Reue“, in: Barbara Duden, Karen Hagemann u.a. (Hg.), Geschichte in Geschichten. Ein historisches Lesebuch, Frankfurt a.M.: Campus 2003, S. 99–106. 214Giuseppe Ripamonti, Historiae Patriae (Mediolanensis), 5. Decadis V Libri VI, Mailand: Malatesta o.J., S. 358–377.
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung
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Aus Marianna de Leyva wird eine fiktive Figur: Geltrude in Fermo e Lucia, Gertrude in den Promessi sposi215 ist im Gegensatz zu Piazza und Mora Teil der Romanhandlung. In dem oberflächlich so klar zwischen gut und schlecht aufgeteilten Figurenuniversum wird sie eine böse Figur, deren Rolle darin besteht, die Protagonistin zu verraten und an den Entführer auszuliefern. Lucia und Gertrude begegnen sich, während Renzo der Kontakt mit seinen grausam verurteilten Spiegelbildern Piazza und Mora erspart bleibt. Gertrude wird für die Romanfiktion instrumentalisiert, während die mitschuldig gewordenen Opfer des Justizskandals zugunsten einer fiktionalen Richter-Figur und einer metafiktionalen Richter-Funktion marginalisiert werden. Zweitens: Das Problem der Straftat stellt sich auf verschiedene Weise. Den Pestschmierern wird ein Verbrechen zur Last gelegt, das es nicht gab: „un delitto che non c’era“. Gertrudes Verbrechen in den Promessi sposi hingegen wird ambiguisiert und (in der Endfassung des Romans) in die weltberühmte Ellipse „La sventurata rispose“ gefasst. Gertrude, die mit dem Keuschheitsgelübde einen ausschließlichen Bund mit Gott versprochen hat, verrät diesen Bund, indem sie eine verbotene Liebesbeziehung mit dem niederträchtigen Egidio eingeht. ‚Perverse Passionen‘ scheinen Gertrudes Problem zu sein – und damit das Gleiche, was Manzoni den Richtern in der Colonna Infame vorwirft. Juristisch sieht die Sache anders aus, weil es sich um einen Fall handelt, der sowohl die kirchliche als auch die weltliche Gerichtsbarkeit trifft, „un delitto misto“. Liest man die Prozessakten, so fehlt nicht nur der eigentliche Protagonist des Verbrechens – Gian Paolo Osio soll aus dem Gefängnis geflohen und auf der Flucht von einem vermeintlichen Komplizen ermordet worden sein –, es scheint außerdem wenig klar, wer genau mit welchen Taten in die Intrige verwickelt war.216 Suor Virginia Maria wurde jedenfalls nicht nur wegen einer ‚mala pratica‘, sondern auch wegen Mitschuld am Mord an mindestens einer Nonne eingemauert, und das, obwohl sie zu Beginn des Prozesses aussagt, von Osio vergewaltigt worden zu sein.217 Drittens: In der Colonna Infame will Manzoni qua Prozesslektüre die Schuld der Richter erweisen. Der Text ist eine unerbittliche 215Warum
wird eigentlich aus Geltrude Gertrude? Geltrude klingt weicher als Gertrude. Valesio, „Lucia, ovvero la ‚reticentia‘“, S. 153, sieht in der Namensänderung „quasi un’icona della austerità del taglio effettuato su tutta la storia di colei“. – Manzoni könnte das Verfahren der Ersetzung (l statt r) in Fermo e Lucia vom englischen Schauerroman haben, wo die italienischen Namen klischeehaft zitiert werden: ‚banditto‘ statt ‚bandito‘ oder ‚Ellena‘ statt ‚Elena‘ (vgl. Stefania Acciaioli, „Die ‚Schattenseite‘ der Promessi sposi. Manzonis Rezeption der Gothic Novel am Beispiel von Fermo e Lucia“, in: Komparatistik. Jahrbuch der Deutschen Gesellschaft für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft 2014/2015, hg. Christian Moser und Linda Simonis, Bielefeld: Aisthesis 2015, S. 227–246; hier: S. 236). 216Franco Galliano schreibt in den „Note giuridiche“ zu den Prozessakten: „Il procedimento criminale in questione, sebbene si incentri nella „mala pratica“ che ha legato inesorabilmente e tragicamente suor Verginia Maria e Gian Paolo Osio, non permette l’esatta puntualizzazione degli esecrabili delitti che da quella relazione traggono causa, né consente di localizzare tutti i personaggi che ruotano, attivamente e passivamente, nell’intricato gioco del processo.“ (In: Colombo (Hg.), Vita e processo, S. 751–767; hier: S. 751.) 217Giancarlo Vigorelli verweist in seiner „Presentazione“ der Prozessakten auf die dubiose Rolle des Pfarrers Paolo Arrigono – „Ha negato più di Giuda“ – und Manzoni hätte ihn als den Hauptschuldigen ausmachen müssen … (in: Colombo (Hg.), Vita e processo, S. VII–XIX; hier: S. XIV).
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Verpflichtung des lesenden, schreibenden und handelnden Individuums auf das Urteilen. Die Richter und ihre Psychologie verdrängen die Opfer Piazza und Mora aus der Position der Hauptrolle der Erzählung, die sie bei Verri zum Beispiel haben. Die Schuld Gertrudes hingegen bleibt ein Mysterium, das der Romanerzähler sorgsam hütet und über das nicht nur manzonisti schon viel sinniert haben. Warum macht Manzoni aus ihr nicht jene Vita einer wunderbaren Buße, die der historische Kardinal Federigo selbst fast geschrieben hätte? Welche Funktion hat die der Gewalt geopferte Gertrude für die Romanfiktion?218 Welche Funktion hat Gertrude? Das ist die große Frage, die ich im Folgenden nicht – wie es schon oft geschehen ist – dahingehend beantworten will, dass mit ihrer Geschichte die erotische Liebe aus dem Roman verbannt werde. Gertrude ist vielmehr eine notwendige Figur, um das Paar Renzo und Lucia als gerechtes Liebespaar, das nicht auf Kosten Anderer liebt, erscheinen zu lassen. Nur vor ihrer Folie – der mächtigen, ihrer Liebespassion erlegenen Adligen, die bis zum Mord, zur Macht über das Leben Anderer geht – gelingt es, Lucias ‚unschuldiger‘ Weiblichkeit eine Agency zuzuschreiben. Der Roman überträgt, wie zu sehen sein wird, ihre aristokratische als sexuelle Gewalt auf das einfache Bauernmädchen, das damit zu einer Figuration heiliger Gewalt – und zum perfekten Pendant zu Renzo, dem profanen Amor, wird.
Ein- und ausgeschlossene Leidenschaft In der Aufklärung ist das erzwungene Klostergelübde ein verbreiteter Topos. Giovanni Getto nennt neben Diderots La Religieuse (1780–1782 im Feuilleton erschienen) noch zahlreiche andere Texte, die Manzoni beeinflusst haben könnten.219 Anders als einer aufklärerischen und antiklerikalen Kritik geht es Manzoni aber eben nicht darum, das weibliche Klosterleben als widernatürlich zu stigmatisieren. Seine Rechts- und Gewaltkritik setzt tiefer an, so wie sie auch im Vergleich mit Verris aufklärerischer Folterkritik tiefer ansetzt. Auch im Fall Gertrudes läuft der beunruhigende Befund mit, dass Gewalt nicht immer und per se schlecht ist. Die Frage ist vielmehr die nach dem Recht der Gewalt. So hebt der Erzähler von Fermo e Lucia noch ausdrücklich die religiöse Exemplarität jener im 17. Jahrhundert weggesperrten Nonnen hervor, die am Ende „rassegnazione“ und „pace“ gefunden hätten: „una pace quale si trova di rado negli stati eletti più liberamente“ (FL, II, IV, 204).220 Diderots Schwester Suzanne will vor allem eines: im Namen des Marquis de Croismare, an den sie ihre verzweifelten Briefe 218„[È]
l’unica vittima del romanzo“, schreibt Giovanni Nencioni (La lingua di Manzoni, S. 290). Vgl. auch Girardi, Struttura e personaggi dei Promessi Sposi, S. 149: „[Q]uesto personaggio […] appare più sfruttato che realizzato.“ 219Insbesondere Mélanie (1770) von Jean-François de La Harpe und Marivaux’ La vie de Marianne (S. 1731–1745). Vgl. Getto, Manzoni europeo, S. 57–140 („I capitoli ,francesi‘ dei Promessi sposi“). 220„[E]in Frieden, der sich in den freier gewählten Ständen selten findet“.
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richtet, von einem unfreiwillig gewählten Stand befreit werden. Vieles hat sie gegen den familiären und klösterlichen Zwang schon selbst dafür unternommen: Im ersten Kloster, in das sie gesteckt wird, durchkreuzt sie ihre Profess mit einem klaren Nein. Im zweiten Kloster strengt sie mit Hilfe des Anwalts Manouri einen Prozess an, um die Revokation des schließlich durch mütterliche Gewalt erzwungenen Gelübdes zu bewirken.221 Im dritten, im Kloster von Saint-Eutrope, kämpft sie gegen eine Nonne, die sie verführen, und einen Geistlichen, der sie vergewaltigen will. Das alles reicht aber nicht aus, und letztlich hängt ihre Befreiung vom guten Willen dessen ab, den sie mit ihren ‚Memoiren‘ zu überzeugen versucht. Genau das ist bereits mit dem ersten Satz des Textes gesagt: „La réponse de M. le marquis de Croismare, s’il m’en fait une, me fournira les premières lignes de ce récit.“222 Dass Manzoni poetologisch und ideologisch mit Gertrude Anderes im Sinn hat, liegt auf der Hand. Diderot setzt ganz auf eine Mitleids- und Einfühlungspoetik: Der Leser soll überzeugt werden, indem ein unschuldiges, weibliches Opfer in der Ich-Form vor Augen gestellt wird. Manzoni wird nun in seinen poetologischen Schriften nicht müde, eine solche theatrale Form unmittelbarer Affektübertragung, die auf die Sympathie des Lesers oder Zuschauers mit der Figur setzt, zu kritisieren: Opinione ricantata e falsa: che il poeta per interessare deve movere le passioni. Se fosse così sarebbe da proscriversi la poesia. – Ma non è così. La rappresentazione delle passioni che non eccitano simpatia, ma riflessione sentita è più poetica d’ogni altra.223
Kein Wunder also, dass der Erzähler (mit Hilfe der Herausgeberfiktion) in den Promessi sposi die potentielle Identifikation des Lesers mit den Figuren immer wieder unterbricht. Vom Begehren und Willen, von den Gedanken und Wünschen Gertrudes erfährt man konsequenterweise nur in einer durch den Erzähler vermittelten Form. Aber was ist überhaupt Gertrudes Passion und welche ‚gefühlsmäßige Reflexion‘ vermag sie im Leser auszulösen? Bemerkenswert ist ja, dass Gertrude nicht einfach als unschuldiges Opfer des Romans erscheint (wie die Opfer der Colonna Infame), sondern als femme fatale, die „den Kanon des dekadenten Romans des 19. Jahrhunderts vorwegnimmt“.224 Berühmt geworden ist sie wegen ihres dekadent-verführerischen Aussehens, ihres seltsamen, 221Als uneheliches Kind büßt Suzanne für das Vergehen ihrer Mutter. Diese ist es, die den eigentlichen Druck auf Suzanne ausübt. In der Geschichte Gertrudes, die legitime Zweitgeborene ist, bleibt die Mutter im Hintergrund und Manzonis Analyse konzentriert sich ganz auf die väterliche Gewalt. 222Denis Diderot, La Religieuse, Paris: GF-Flammarion 1968, S. 39. 223Alessandro Manzoni, „Della Moralità delle Opere Tragiche“, in: Ders., Tutte le opere, Bd. V/ III: Scritti letterari, hg. Riccardi/Travi, S. 53–70, hier: S. 57. („Eine immer wieder wiederholte und falsche Auffassung: dass der Dichter, um zu interessieren, Leidenschaften erzeugen muss. Wenn es so wäre, müsste man die Dichtung verbieten. Aber es ist nicht so. Die Darstellung jener Leidenschaften, die nicht Sympathie, sondern eine gefühlsmäßige Reflexion provozieren, ist poetischer als alles andere.“) 224Acciaioli, „Die ‚Schattenseite‘ der Promessi sposi“, S. 236.
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unberechenbaren und widersprüchlichen Verhaltens. Nicht ihr Kampf gegen die väterliche Gewalt ist legendär, sondern ihr Einverständnis in diese Gewalt – „La sventurata rispose“ –, in dem Erotik und Verbrechen eine einzigartige Verbindung eingehen. Gertrudes moralische Niederlage ist ihr ästhetischer Triumph, ein Triumph, gegen den Lucia, ihr Doppel, zu einem blassen Schatten verkommt. So ähnelt ihr Verhalten auch weniger Diderots unschuldiger Suzanne als vielmehr jenem der unberechenbaren Superiorin von Arpajon, die am Ende verrückt, hysterisch an ihren Leidenschaften zugrunde geht.225 Was es zu erklären gilt, ist, warum Gertrudes verbrecherische Leidenschaften nicht gegen die Romankonzeption als Ganzes verstoßen. Warum die Geschichte als „Fremdkörper im Roman“226 und ihre Raffung in der Endfassung als ‚Zensur‘ nur unzulänglich, wenn nicht falsch beschrieben sind.227 In der frühen Romanfassung bildet der Moment, da Lucia und Agnese ins Kloster von Monza kommen (am Übergang vom ersten zum zweiten Band), Anlass zu einer Erzählerdigression, welche die poetologische Zentralität der Figur Gertrudes verdeutlicht (FL, II, I, 143–149). In einem inszenierten Dialog zwischen dem Erzähler und einem „personaggio ideale“ wird die Darstellung falscher Leidenschaften ausdrücklich mit der Konzeption des Liebesromans in Verbindung gebracht. Wie der Erzähler dazu komme, lautet der Einwand der fiktiven Figur, eine Geschichte zweier Verliebter („due innamorati“) zu erzählen, ohne auch nur im Geringsten auf die Anfänge, die Entwicklung und die Kommunikation ihres Affekts einzugehen. Allein diese fiktive Frage zeigt, wie sehr Manzoni die Paradoxie seines Roman-Vorhabens umgetrieben hat. Als Gründe werden moralische genannt: Liebe gebe es schon genug auf der Welt und andere Affekte („altri sentimenti“) seien doch viel wichtiger: zum Beispiel „la commiserazione, l’affetto al prossimo, la dolcezza, l’indulgenza, il sacrificio di se stesso“ (FL, II, I, 145).228 Außerdem soll der Roman allen dienen, auch Jungfern, Nonnen und Priestern, nicht nur Verliebten. Was der Erzähler nicht hinzufügt, ist, dass diese Leser dann angesichts einer solchen Verpflichtung des Romans auf den religiös-moralischen Nutzen umso überraschter sein dürfen, wenn sie direkt im Anschluss mit der
225Vgl. Getto, Manzoni europeo, S. 86–88, der an der gleichen Stelle – als erster, wenn ich es recht sehe – in einer Fußnote, die den Haupttext sprengt, auf Parallelen zu Ann Radcliffes Schedoni aus The Italian, or the Confessional of the Black Pentitents (1797) hinweist. Die ‚französischen Kapitel‘ des Romans werden damit unfranzösischer als vielleicht gedacht … 226Vgl. Bernsen, Geschichten und Geschichte, S. 123. 227Vgl. Vf., „Fehlgeleitete Leidenschaften? Zur Liebe der ‚monaca di Monza‘ in Manzonis I Promessi Sposi“, in: Isabel Maurer Queipo, Tanja Schwan (Hg.), Pathos – zwischen Passion und Phobie. Schmerz und Schrecken in den romanischen Literaturen seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a.M.: Peter Lang 2015, S. 111–126. – Ich versuche dort, mit Jean-Luc Marions Konzept des ,phénomène érotique‘ zu zeigen, wie Gertrudes Liebesfähigkeit Lucias Passivität kompensiert. 228„Mitleid, Nächstenliebe, Sanftheit, Nachsicht, Selbstopfer“.
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verbrecherischen Geschichte Gertrudes vertraut gemacht werden.229 Das Problem wird nicht ausdiskutiert, der inszenierte Kontrahent wird zum Schweigen gebracht, als er noch einmal nachfragt, ob der Erzähler wirklich freiwillig auf die ‚mächtigsten Mittel zu unterhalten‘ verzichten wolle.230 Er habe doch nichts davon verstanden und solle noch einmal über das Problem nachdenken. Wenn man das tut, kommt man darauf, dass der Erzähler nicht auf das potente Mittel der Liebesdarstellung verzichten, aber vermeiden will, dass der Leser die Liebe als eine private und intime Beziehung versteht. Bereits die erste Antwort auf den Einwand des fiktiven Dialogpartners lautet: „Perchè io sono del parere di coloro i quali dicono che non si deve scrivere d’amore in modo da far consentire l’animo di chi legge a questa passione.“ (FL, II, I, 144)231 Es geht um den Einspruch gegen die Auffassung von der Privatheit der Liebe und damit nicht um ihren Ausschluss, sondern um ihren Einschluss als eine öffentliche Angelegenheit. Der Erzähler verurteilt die Liebesliteratur nicht (Petrarca, Racine sind die Kronzeugen). Es sind die Richter, die verurteilen, stellt er fest, während er nicht urteile, sondern lediglich ‚jene schönen Stellen dieser Geschichte‘ – „quei bei passi da questa storia“ (FL, II, I, 146) – ausgeschlossen habe. Die schönen Episoden privater Liebe interessieren nicht, sehr wohl aber die Wirkung, die sie haben kann. Im Fall Gertrudes geht die Liebe bis zur tödlichen Tat. Aber wie sollen Renzo und Lucia das verstehen? Renzos Geschichte hat gezeigt, dass er am Ende eher gelernt hat, dass Liebe glücklicherweise auch mal keine Wirkung haben kann. Wenn die PaarFiktion gelingen soll, hängt die Einsicht in die Gewalt der Liebe allein an Lucia, und deshalb muss sie – wie der Leser – Gertrude begegnen. Es ist schon häufiger festgestellt worden, dass Fermo e Lucia romanhafter als I promessi sposi sei: Die Erzählung wird viel seltener unterbrochen, Renzo und Lucia kommunizieren noch mehr miteinander, das Wort Liebe kommt häufiger vor. Während es die Liebesintrige ist, die die Handlung strukturiert, tritt in der Endfassung mehr und mehr deren narrative Perspektivierung an ihre Stelle.232 Eine Verschiebung von der Geschichte zum Text der Geschichte – und, paradoxerweise, eine Verschiebung von der Liebespassion zu den Passionen: „[…] se […] è
229Vgl. dazu bereits den Kommentar Gettos: „Ora, non può certo non apparire singolare (e lo notava il critico citato, T. De Wyzewa) il fatto che nel Fermo Manzoni, mentre si arresta di fronte a tali scrupoli morali sulla rappresentazione dell’amore dei due promessi, non esiti poi ad entrare nella distesa narrazione die sacrileghi e delittuosi rapporti di Gertrude con Egidio.“ (Manzoni europeo, S. 62.) 230„Ma voi volete privarvi volontariamente dei mezzi più potenti di dilettare, di quei mezzi che anche in mano della mediocrità possono talvolta produrre un grande effetto?“ (FL, II, I, 148) („Aber ihr wollt freiwillig auf die mächtigsten Mittel zu unterhalten verzichten, auf jene Mittel, die auch in der Hand der Mittelmäßigkeit manchmal eine große Wirkung entfalten können?“) 231„Weil ich die Ansicht derjenigen teile, die sagen, dass man nicht derart über Liebe schreiben darf, dass das Gemüt der Lesenden diese Leidenschaft mitfühlt.“ 232Daniela Brogi spricht vom Übergang einer „poetica settecentesca dell’intrigo“ zu einer „poetica dell’intreccio“ (Il genere proscritto, S. 153).
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vero che Fermo e Lucia dà più spazio alla passione amorosa e ai sentimenti a essa affini, è anche vero che nei Promessi sposi, se si accettua l’amore, tutte le altre passioni sono maggiormente presente: la paura, la violenza, l’ansia del potere, il senso di colpa, la dissimulazione, il terrore della morte, l’avidità, il risentimento […].“233 Was Daniela Brogi als einen Realitätseffekt beschreibt, durch den die Figuren in einen Konflikt zu ihrer Außenwelt gebracht werden, lässt sich nirgends so gut illustrieren wie an der Schnittstelle Gertrude, deren Liebespassion zu falschen, verbrecherischen Akten führt, weil sie selbst Opfer einer psychischen Vergewaltigung (durch den Vater) wird.
Gertrude, la Signora Während Renzo neugierigerweise nicht in das ihm empfohlene Kloster geht und die Mailänder Welt im Aufstand entdeckt, wird die gehorsame Lucia im Kloster von Monza mit Gertrude, einer in erster Linie seltsamen Signora und ‚Frau im Aufstand‘ konfrontiert. Wo dieser sich über das in Mailand herumliegende Brot wundert, wird Lucia von der dubiosen Neugierde der Signora verunsichert und eingeschüchtert. Gertrude wird in ihrer ersten Begegnung mit Lucia eingeführt und der Erzähler setzt alles daran, das Geheimnisvolle ihrer Figur zu betonen. Dies beginnt mit dem Kutscher, der den Auftrag hat, Agnese und Lucia ins Kloster zu bringen, und den beiden, nachdem er von Lucias Schicksal gehört hat, in vorwegnehmender Ironie versichert: „La signora […] è una monaca; ma non è una monaca come l’altre. Non è che sia la badessa, nè la priora; che anzi, a quel che dicono, è una delle più giovani: ma è della costola d’Adamo; e i suoi del tempo antico erano gente grande, venuta di Spagna, dove son quelli che comandano; […] e perciò, se quel buon religioso lì, ottiene di mettervi nelle sue mani, e che lei v’accetti, vi posso dire che sarete sicure come sull’altare.“ (PS, IX, 148)234
Die Signora ist vor allem eine mächtige Figur; wer in ihre Hände kommt, ist sicher wie auf dem Altar: er kann gerettet oder geopfert werden. Gertrude, von Padre Cristoforo als Helferfigur gedacht, wird zur Verräterfigur für Lucia werden.235
233Ebd.,
S. 122. Signora […] ist eine Nonne, aber keine wie die anderen. Nicht daß sie die Äbtissin wäre, auch nicht die Priorin, im Gegenteil, sie soll sogar, wie es heißt, eine der jüngsten sein. Aber sie stammt aus ältestem Adel, ihre Vorfahren waren schon immer große Herren, Leute aus Spanien, wo alle her sind, die etwas zu sagen haben. […] und deswegen kann ich euch sagen, wenn dieser gute Ordensmann dort es schafft, euch in ihre Hände zu legen, und wenn sie euch aufnimmt, dann seid ihr sicher wie in Abrahams Schoß.‘“ (S. 189 f. – Unglücklicherweise gehen beide Zweideutigkeiten in der Übersetzung verloren: „è della costola d’Adamo“ (‚sie ist von ältestem Geschlecht‘ und ‚aus der Rippe Adams‘ im Sinne von purer Fleischlichkeit); „sarete sicure come all’altare“ (‚sicher, gerettet, heilig‘ vs. ‚verloren, geopfert‘ auf dem Altar). 235Guido Baldi verweist auf das chiastische Verhältnis, in dem sie somit zum Innominato, der vom Antagonisten zu einer Helferfigur Lucias konvertiert, steht („La Signora di Monza: Potere feudale ed Eros“, Giornale storico della letteratura italiana 180 (2003), S. 235–250; hier: S. 135). 234„,Die
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Gleichzeitig nimmt der Satz aber auch vorweg, dass diejenige, die vermeintlich die Macht zu opfern hat, selbst ein Opfer ist, und zwar das falsche Opfer ihres Vaters, der sie ins Kloster gezwungen hat. Auch der Guardian, der die beiden Frauen vor dem Kloster in Empfang nimmt, hat die Funktion, den Roman in ein düsteres, geheimnisvolles Inneres – gattungsmäßig gesprochen in die Gothic Novel – gleiten zu lassen. An der Schwelle („sulla soglia“) der Klosterpforte („la porta“) nimmt er Padre Cristoforos Empfehlungsschreiben in Empfang und führt die Frauen über einen Klostervorplatz („la piazza“) und eine weitere Pforte bis zum ersten Klosterhof („nel primo cortile del monastero“), über den Raum der Schaffnerin („nelle camere della fattoressa“) und einen zweiten Hof („un secondo cortile“) bis zum Sprechzimmer des Klosters („parlatorio“, vgl. PS, IX, 147 ff.). Der Padre Guardian ist es auch, der die erste schlüpfrige Bemerkung des Romans macht und damit die sexuellen Konnotationen vorantreibt: Agnese und Lucia sollen einige Schritte hinter ihm gehen, damit die Leute ihn nicht mit einem schönen Mädchen auf der Straße sehen (wo allerdings von Straße kaum mehr die Rede sein kann).236 Noch bevor Lucia, zuerst verwundert, niemanden in dem Sprechzimmer zu sehen, die Signora in einer Ecke hinter einem vergitterten Fenster entdeckt,237 noch bevor diese sichtbar wird, ist für den Leser klar, dass die Intrige sich nun zum Schlimmeren weiterentwickeln muss. Auf unvergleichliche Weise ist ihre Ambivalenz in ihrem Portrait zusammengefasst, einem Konstrukt, das aus topischen, inter- und intratextuellen Anspielungen besteht und jede wertende Vereindeutigung verunmöglicht. Obwohl erst um die fünfundzwanzig Jahre alt, ist ihre Schönheit eine verfallene Schönheit („una bellezza sbattuta, sfiorita e, direi quasi, scomposta“, PS, IX, 149; „eine[ ] müde[ ], verblühte[ ], fast möchte man sagen: verfallene[ ] Schönheit“, S. 191). Das Nonnengewand bringt ihre Weiblichkeit mehr hervor, als dass es sie verschleiert. Aus der Stirnbinde lugt eine schwarze Locke hervor, das Weiß der Binde kontrastiert mit dem ‚anderen‘ Weiß ihrer Stirn. Das schwarze Gewand unterstreicht ihre Taille, die mit einer ‚fast mondänen‘ Sorgfalt geschnürt ist („la vita era attillata con una certa cura secolaresca“, PS, IX, 150). Ebenso widersprüchlich charakterisiert wie ihre Lippen und Wangen – einerseits zart, schön, andererseits blass, eingefallen – sind auch ihre Mimik und Gestik: Die schwarzen Augen („neri neri“, PS, IX, 150) fixieren das Gegenüber mit einem durchdringenden Blick („con un’investigazione superba“, PS, IX, 150) oder sie senken sich schnell, ‚als suchten sie ein Versteck‘ („come per
236Getto
macht auf den Kontrast zwischen dem Padre Guardian und Padre Cristoforo aufmerksam (Manzoni europeo, S. 78), außerdem auf den fundamentalen Wechsel im Erzählregister: „Un paesaggio psicologico così vasto e tenebroso non era stato finora tentato da Manzoni. La biografia di Lodovico è cosa del tutto diversa, meno insistente nell’analisi di una vicenda interiore.“ (Ebd.) – Nichtsdestotrotz fühlt sich Padre Cristoforo ja tatsächlich auf besondere Weise von Lucia angezogen, indem er die Rettung des Paars zu seiner besonderen Mission macht.
237Das Fenster ‚in einer Ecke‘, „verso un angolo“ (PS, IX, 149) ist unlogisch, aber es schafft eine Paralle zu Lucias Gefangenschaft in der Burg des Innominato. Auch sie zieht sich in die hinterste Ecke der Kammer zurück: „[L’innominato; D. S.] vide Lucia rannicchiata in terra, nel canto il più lontano dall’uscio.“ (PS, XXI, 356) („[Der Ungenannte; D.S.]“ sah […] Lucia am Boden kauern, in der am weitesten von der Tür entfernten Ecke des Raumes.“ S. 451)
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cercare un nascondiglio“, PS, IX, 150). Ihr Blick scheint, so der Erzähler, einerseits Mitleid („affetto, corrispondenza, pietà“, PS, IX, 150) erheischen zu wollen, andererseits hasserfüllt und bedrohlich zu sein („un odio inveterato e compresso, un non so che di minaccioso e di feroce“, PS, IX, 150). Abgesehen von den Ähnlichkeiten und Kontrasten zur Figur Lucias, auf die gleich zurückzukommen sein wird, fällt vor allem die Nähe zu Diderots Religieuse und Anne Radcliffes Italian auf. Auch von der Superiorin von Arpajon heißt es: „il y a toujours quelque chose qui cloche dans son vêtement“. Außerdem: „Sa figure décomposée marque tout le décousu de son esprit et toute l’inégalité de son caractère“.238 Manzoni übernimmt mit der ‚bellezza scomposta‘ das Attribut des Entstellten, Verzerrten, allerdings ohne es als Ausdruck von Gertrudes Charakter auszuweisen.239 Im Gegenteil: Das Zitat wird dafür verwendet, die Frage nach dem Charakter und dem Inneren überhaupt erst hervorzurufen. Alles in ihrem Portrait zielt auf die Mystifizierung dieses Inneren. Ihre Augen und Bewegungen drücken ein Mysterium aus („pieni d’espressione e di mistero“, PS, IX, 150), sie hat etwas Seltsames („quel non so che di strano“, PS, IX, 150). Warum verstößt sie gegen die Ordensregel und lässt eine Locke aus ihrem Schleier hervorlugen? Und warum fragt sie Lucia über ihre Verfolgung durch Don Rodrigo aus? Der Erzähler nimmt dieses erste Gespräch, in dem ihre Reden immer ‚seltsamer‘ werden („strani“, PS, IX, 154), „a render ragione dell’insolito e del misterioso che abbiam veduto in lei, e a far comprendere i motivi della sua condotta, in quello che avvenne dopo“ (PS, IX, 154; „um das Ungewöhnliche und Geheimnisvolle, das wir an ihr bemerkt haben, zu erklären und die Gründe ihres späteren Verhaltens zu verstehen“, S. 197). Noch aufschlussreicher ist aber die Nähe zu Radcliffes Italian; hier gibt es Parallelen, die über Einzelstellen hinausgehen. Gertrude ähnelt nämlich auch dem Mönch Schedoni, dem Schurken, der im Italian von der Marchesa di Vivaldi beauftragt wird, die schöne, verwaiste Ellena zu verführen. Ihr Sohn Vincentio di Vivaldi hat sich verliebt und eine Mesalliance muss verhindert werden. Schedoni strahlt eine ‚düstere und grausame Melancholie‘ aus; auch bei ihm kontrastiert das Schwarz der Mönchskutte mit einer ‚fahlen Blässe des Gesichts‘. Seine Gestalt ist „striking“, und so wie Gertrude als „una monaca singolare“ (PS, IX, 150; „eine recht eigenwillige Nonne“, S. 192) bezeichnet wird, ist in seiner Physiognomie „something […] extremely singular, and that can not easily be defined“.240 238Diderot,
La Religieuse, S. 139 f. Superiorin zeichnet vor allem eine deregulierte Sexualität aus: „il n’y a rien de réglé“, heißt es an derselben Stelle. 240Vgl. Ann Radcliffe, The Italian, or the Confessional of the Black Pentitents (1797), S. 34 f. Auf die Parallele weist auch hin: Baldi, „La Signora di Monza“, S. 237; Acciaioli, „Die ‚Schattenseite‘ der Promessi sposi, S. 237. Ein grundlegender Hinweis auf die Relevanz von Radcliffes Confessional, da in Verbindung mit dem Eheschließungsmotiv, findet sich schon bei Joachim Schulze, „Alessandro Manzonis verfolgte Unschuld oder die Schwierigkeit, Intertextualität zu steuern“, in: Ders., Ilse Nolting-Hauff (Hg.), Das fremde Wort. Studien zur Interdependenz von Texten, Amsterdam: Grüner 1988, S. 306–322. – Von Küpper, „Ironisierung der Fiktion und De-Auratisierung der Historie“, S. 130, wird dieser Hinweis ungerechtfertigterweise zurückgewiesen. Dabei wäre das Schema des hellenistischen Liebesromans (aufgrund des Wiedererkennungsmotivs) womöglich mit mehr Plausibiltät auf Radcliffes Roman zu beziehen als auf die Promessi sposi, deren Konversionsschema mit dem antiken Roman unvereinbar ist. 239Diderots
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Gertrude wird so zu einem Echo zweier antiklerikal konzipierter Roman-Antihelden – von der historischen Suor Virginia Maria keine Spur! Mit Radcliffes Schedoni greift Manzoni außerdem ein anti-italienisches Klischee auf, spielen die Schauerromane doch bevorzugt nicht nur in einem medievalen, sondern auch mediterranen Milieu – d. h. in einem rückschrittlichen, römisch-katholischen Italien. Bei der Einführung des Schurken Egidios als Rachelüstling in Fermo e Lucia bringt den Erzähler dieses Klischee noch fast in die nächste Digression: Sarebbe un soggetto degno di curiosità, la ricerca delle cagioni per cui quelle idee e quei costumi, dopo aver regnato per troppe età in quasi tutte le nazioni d’Europa, sieno poi stati da migliaia di scrittori, e da milioni di parlanti attribuite poi esclusivamente agli Italiani. Ma noi invece di avviarci in una nuova digressione, ne abbiamo ora una, e anzi lunghetta che no, da farci perdonare: torniamo quindi alla storia. (FL, II, V, 210 f.)241
Man kann vermuten, dass Manzoni hier nicht zuletzt Schauerromane wie Radcliffes Italian, The Mysteries of Udolpho (1794) oder Matthew Gregory Lewis’ The Monk (1796) im Sinn hat und gleichzeitig in der ‚Digression‘ zu Gertrude das Klischee zur Waffe ummünzt, um die konfessionelle Gegenposition zu überschreiben.242 In Radcliffes Italian geht es um eine vermeintlich unstandesgemäße Heirat, die vor allem mit der Hilfe Schedonis vermieden werden soll. Die Lösung wird über die Klärung wahrer (und recht verwickelter!) Identitäten herbeigeführt: Schedoni entdeckt just in dem Moment, in dem er Ellena vergewaltigen will, ein Portrait an ihrem Hals, das ihn selbst zeigt und das ihn (später) als Onkel der Entführten offenbart. Ellena entpuppt sich als Adlige und kann am Ende Vicentio heiraten. Hinter dem Roman steht so die rational-sentimentale Kritik an einer patriarchalen Eheschließungspraxis, der Standesgemäßheit wichtiger als Liebe und Zuneigung ist. Möglich wird die Kritik durch die Verfremdung des patriarchalen Vertreters als schaurig-gruseliger Mönch. Nun will Manzoni kein italienisches Bekenntnis gegen die Standesehe schreiben, sondern eine fiktive, universelle, nicht nationale Gemeinschaft entwerfen, in der historische Antagonismen (bzw. der zwischen säkularem Staat und dissoziierter, heimatloser Kirche) überwunden werden sollen. Das zentrale Hindernis in Manzonis Eheschließungsroman ist nicht fehlende Standesgemäßheit oder fehlende Zuneigung – beides setzen die Promessi sposi voraus. Das Hindernis ist die Anfechtung von außen, die sich im Lauf des
241„Es
wäre ein spannender Gegenstand, die Frage zu untersuchen, warum diese Auffassungen und Sitten, die nur zu lange in fast allen europäischen Nationen geherrscht haben, dann von Tausenden von Schriftstellern und von Millionen von Leuten ausschließlich den Italienern zugeschrieben worden sind. Aber anstatt uns in eine neue Digression zu begeben – wir sind bereits in einer Digression und zwar in einer ziemlichen langen, was uns nachgesehen werden sollte – kehren wir zur Geschichte zurück.“ 242Vgl. Michael C. Frank, „Ästhetik des Schreckens. Der Schauerroman von Horace Walpole bis Ann Radcliffe“, in: Martin von Koppenfels, Cornelia Zumbusch (Hg.), Handbuch Literatur & Emotionen, Berlin: De Gruyter 2016, S. 261–280, der von einer „geradezu obsessiven Auseinandersetzung mit einem Imaginären des Katholizismus’“ spricht (S. 478).
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Romans im Paar verdoppelt, transformiert und steigert – Don Rodrigo, Gertrude, der Innominato für Lucia; Hunger, Krieg/Revolte und Pest für Renzo – und die damit gleichzeitig sich verdoppelnde, transformierende und steigernde Lösungsoperationen erfordert. Anders als in Radcliffes Roman ist in den Promessi sposi eine Lösung von außen (Renzo) und von innen (Lucia) notwendig. An Renzos Geschichte habe ich zeigen wollen, wie ‚seine Lösung‘ passiv ist; die Konversion seiner Liebe bleibt unvollständig, er erkennt sich mehr in der Natur und einer natürlichen Geschlechtlichkeit als in der Bußszene mit Don Rodrigo, seine Rettung ist vor allem die Pest, die den Nebenbuhler dahinrafft und ihn überleben lässt. Demgegenüber fällt Lucia die Aufgabe zu, die Anfechtung von außen aktiv, durch ihre eigene Person, durch eine performierte Geschlechtlichkeit zu überwinden. Lucia begegnet zwei mächtigen Personen, der adligen Nonne Gertrude und dem Innominato – und auch der Innominato ist ein zweiter Schedoni. Von der einen lernt Lucia die Gewalt ihres Geschlechts, vom anderen den Namen, das Recht dieser Gewalt. Aber ich greife voraus. Wichtig an dieser Stelle ist, dass Gertrude als ambivalente Figur eingeführt wird, was sich auch darin zeigt, dass ihr Portrait einerseits zwar Elemente eines Schedoni aufweist, die Szene der Ankunft im Kloster aber gleichzeitig auf Ellenas Entführung ins Kloster Santa Maria della Pietà verweist, wo sie bezeichnenderweise jene Nonne trifft, die sich später als ihre leibliche Mutter, Olivia Rosalba, herausstellen wird und die ihr aus dem Kloster verhilft. Lucia begegnet in Gertrude damit auch intertextuell einer Figur, die ihrem Wesen nach unerkannt ist und die eine sowohl negative als auch positive Funktion für sie hat. Tatsächlich präsentiert der Erzähler Gertrude zunächst als buchstäblich namenlose Figur.243 Als ‚Signora‘, ‚Herrin‘, eingeführt, fällt der Name ‚Gertrude‘ erst in Verbindung mit der Erzählung ihrer Geschichte. Der Vater gibt Gertrude ihren Namen: „la chiamò Gertrude“, weil er darin ‚einen Namen fand, der unmittelbar die Idee des Klosters evozierte‘ („un nome che risvegliasse immediatamente l’idea del chiostro“, PS, IX, 155). Der Erzähler, der sich anschickt, den Lesern das Seltsame ihres ersten Auftritts und ihr (falsches) Handeln zu erklären, bevorzugt für Gertrude, vor allem bevor sie ihr fatales Gelübde tut, andere Namen: la signorina, la nostra infelice, la povera innocentina, Gertrudina, la nostra poveretta, la sposina, la sventurata.244 Als ‚Geltrude‘/ ‚Gertrude‘ trägt sie einen falschen Namen und bleibt wie der Innominato eine ungenannte (oder namen-lose) Macht. Mit ihrem Klostereintritt nimmt sie nicht,
243Vgl.
Paola Mastrocola, „Gertrude e La Signora: due storie, nessuna fine“, in: Giorgio Barberi Squarotti (Hg.), Prospettive sui Promessi sposi, Turin: Tirrenia Stampatori 1991, S. 163–202; hier: S. 163. 244Mastrocola, „Gertrude e La Signora“, S. 164, wertet dies als Zeichen für die Sympathie des Erzählers für die Figur. In ihrer träumerischen Veranlagung stelle sie weniger eine historische Figur als deren Symbol dar, den Traum, das Begehren des Erzählers, der Geschichte entfliehen zu können. Indem er den Ausgang ihrer Geschichte – ihre Konversion – kappt, macht er eine ‚blockierte Figur‘ aus. Das Steckenbleiben Gertrudes in ihrer Schuld interpretiert Mastrocola ästhetisch als Unabschließbarkeit: „È personaggio in-finito. L’unico dei grandi a non avere una fine.“ (S. 176)
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wie üblich und wie im Fall Padre Cristoforos, einen neuen Namen an. Kreatur ihres Vaters, ist ihr Name numen einer angemaßten Göttlichkeit.245 In der zweiten Hälfte des IX. Kapitels liefert der Erzähler die Erklärung für ihr Verhalten. Ganz ohne Analyse von Prozessakten, nur Ripamonti als historische Quelle nutzend, imaginiert und analysiert er Gertrudes erzwungenen Klostereintritt als zwangsläufiges Resultat einer psychischen Vergewaltigung durch den Vater. Mehr noch: Den Schluss der finalen Konversion und der außergewöhnlichen Bußleistungen, mit welchem Ripamonti seine Geschichte der (dort namenlosen) Nonne abgeschlossen hatte, blendet er damit aus. Während die ‚digressione‘ in Fermo e Lucia noch mit dem frommen Ende gerechtfertigt wird,246 lagert der Erzähler die Bekehrung der Nonne aus der fiktiven Romanhandlung aus und erwähnt sie nur noch am Ende des Romans, in der Form eines metafiktionalen Erzählerkommentars und ‚Nachtrags‘, der dem Leser nicht vorenthalten werden solle: Seppe dalla vedova che la sciagurata, caduta in sospetto d’atrocissimi fatti, era stata, per ordine del cardinale, trasportata in un monastero di Milano; che lì, dopo molto infuriare e dibattersi, s’era ravveduta, s’era accusata; e che la sua vita attuale era supplizio volontario tale, che nessuno, a meno di non togliergliela, ne avrebbe potuto trovare un più severo. (PS, XXXVII, 652 f.)247
Für die interessierten Leser erfolgt zum Nachlesen der anschließende Verweis auf die Quelle Ripamontis. Dieser berichtet eindeutiger von der Sache und erklärt, dass der Kardinal Federigo Borromeo, dem Suor Virginia als Kirchenrichter übergeben worden war, am Ende von einer echten Konversion der Nonne überzeugt war: E la cosa giunse a tal punto che, dopo grandi e ripetute prove, nell’animo del cardinale sorge la certezza che Dio è veramente presente e che il cielo plaude alla conversione di quell’anima; manifestamente commosso, anch’egli plaudiva e voleva rendere onore alla conversione e a questo fatto esemplare.248
245Vgl.
Umberto Colombo, „La Gertrude manzoniana“, in: Ders. (Hg.), Vita e processo, S. 787 f. cose però, […] noi le avremmo taciute, avremmo anche soppresso tutto il racconto, se non avessimo potuto anche raccontare in progresso un tale mutamento d’animo nella Signora, che non solo tempera e raddolcisce l’impressione sinistra che deggiono fare i primi fatti della Signora, ma deve creare una impressione d’opposto genere, e consolante.“ (FL, II, II, 160 f.) („Wir hätten diese Dinge indessen verschwiegen, wir hätten die ganze Geschichte weggelassen, wenn wir nicht auch von einem fortschreitenden Wandel hätten berichten können, der den düsteren Eindruck, den die ersten Taten der Signora hervorrufen, nicht nur mäßigt und abmildert, sondern der sogar einen gegensätzlichen, ja tröstlichen Eindruck bewirken muss.“) 247„Sie erfuhr von der Witwe, daß die Unselige, gräßlicher Taten verdächtigt, auf Anordnung des Kardinals in ein Kloster zu Mailand verbracht worden war, daß sie dort nach vielem Toben und Umsichschlagen ihr Unrecht eingesehen und sich selbst bezichtigt habe und daß ihr gegenwärtiges Leben eine freiwillige Strafe von solcher Art sei, daß niemand eine strengere finden könnte, es sei denn, ihr gleich das Leben zu nehmen.“ (S. 827) 246„Queste
248Giuseppe Ripamonti, Historiae patriae, Mailand 1641–1643, decadis V lib. VI, S. 375; zit. in: Colombo (Hg.), Vita e processo, S. 45.
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Die Aussparung der Konversion Gertrudes in den Promessi sposi ist programmatisch, was nicht zuletzt daran erkennbar ist, dass Manzoni selbst im Nachtrag am Romanende den Begriff der Konversion vermeidet. Lucia muss hier, darauf konzentrieren sich alle Kürzungen der Episode, einer Figur begegnen, die im Widerstreit mit sich steht. Insofern personifiziert sie die Revolte, in die Renzo in Mailand ‚buchstäblich‘ hineingeworfen wird. Die frühe Romanfassung dagegen hält Geltrude einerseits als letztlich positives Vorbild präsent und schildert andererseits detailliert (im VII. und IX. Kapitel des vierten Bandes) die Bekanntschaft mit Egidio und das Verbrechen.249 Was allerdings schon hier ausgespart wird und worauf selten hingewiesen wird,250 ist die narrative Ausgestaltung der Liebesbeziehung zu Egidio, womit die vorausgeschickte, poetologische Entscheidung, keinen Liebesroman zu schreiben, eingelöst wird: Il nostro manoscritto, segue qui con lunghi particolari il progresso dei falli di Geltrude; noi saltiamo tutti questi particolari, e diremo soltanto ciò che è necessario a fare intendere in che abisso ella fosse caduta, e a motivare gli orribili eccessi d’un altro genere, ai quali la strascinò la sua caduta. (FL, II, V, 215)251
Die Auslassung der Liebe – „noi saltiamo tutti questi particolari“ – betrifft bei Manzoni nicht nur den Übergang vom einen zum anderen Roman, sondern den Ursprung des Romans. Wenn nicht undarstellbar, ist erotische, körperliche Liebe samt ihrer Schönheit und Verführungskraft nutzlos, weil sie nur zwei betrifft und den Dritten ausschließt. Die verbrecherische Liebe aber ist umso instruktiver, als an ihr eine Wirkungskraft sichtbar wird, die über das Paar hinausgeht, weil sie Dritte betrifft, indem sie Opfer einfordert. Gleichzeitig ist verbrecherische Liebe instruktiver als andere Verbrechen (insbesondere das, welches Manzoni den Richtern des Pest-Prozesses unterstellt), weil in ihr jene positive Passion, eine Liebe, die für die Stiftung der Gemeinschaft notwendig ist, als Spur lesbar bleibt. Während Manzoni im Fehlurteil der Richter der Colonna Infame nur Angst ausmachen kann, schimmert in Gertrude die Liebe durch, die im Happyend der Eheschließenden triumphieren soll. Damit lässt sich die Asymmetrie der beiden historischen Rechtsfälle des Romans erklären: Mit der Colonna Infame wird eine schlechte Gewalt aus dem Roman ausgeschlossen: das wirkliche Verbrechen
249In
Fermo e Lucia ist es eine verbündete Nonne, die die Mitwisserin umbringt; nach den Prozessakten war Osio der Täter. 250In Manzoni, Fermo e Lucia, hg. Nigro/Paccagnini, bleibt die Stelle unkommentiert. 251„Unser Manuskript verfolgt hier mit ausschweifenden Einzelheiten die Steigerung von Geltrudes Verfehlungen; wir überspringen all diese Einzelheiten und berichten nur das, was nötig ist, um begreiflich zu machen, in welchen Abgrund sie geraten war, und um die schrecklichen Exzesse anderer Art zu begründen, die ihren Niedergang begleiteten.“
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(der Mord an den Unschuldigen),252 die falsche Passion (die Angst der Richter) und, vielleicht nicht zuletzt, ein potentiell falsch, da passioniert urteilender Erzähler. Piazza und Mora sind wirklich Opfer-Schatten des freigesprochenen Protagonisten. Die Episode Gertrudes hingegen kann nicht komplett aus dem Roman ausgeschlossen werden, weil sich unter ihrer falschen Gewalt die richtige verbirgt, Liebe statt Angst. Ihre auf zwei Kapitel konzentrierte Geschichte ist an der Grenze zwischen Fiktion und Historie angesiedelt und verweist sowohl auf ihr Außen (in der Unabgeschlossenheit der Figur) wie auch auf ihr Zentrum (Lucia). Die These eines Ausschlusses des Erotischen zugunsten christlicher caritas funktioniert nicht, weil die gemeinschaftliche, konvertierte, ‚eheliche Liebe‘, die der Roman zum utopisch-gesellschaftlichen Ziel hat, nichts anderes als eine Übertragung der Figur der Liebespassion ist. Der Gemeinschaft, die es in den Promessi sposi nicht gibt und die im exilierten Paar nur in Aussicht gestellt wird, entspricht in Manzonis Osservazioni sulla morale cattolica in gewisser Hinsicht die Kirche, „la Chiesa“. Eine verborgen-ominöse Institution, die sich kaum in Namen offenbart (am aller wenigsten in Papst-Namen, allenfalls in Namen französischer Moralisten) und insofern eher als ein zu konstruierender Kollektiv-Protagonist des Textes denn als existierendes Objekt einer Apologie beschrieben werden müsste. Kernproblem der Apologie ist, wie sich diese Institution – corpus mysticum der Passion Christi – moralphilosophisch und -theologisch mit der Vernunft und Passionalität des (aufgeklärten) Menschen vereinbaren lässt. Der Schreiber bewegt sich dabei, wie Pierantonio Frare nachgezeichnet hat, in einem unauflösbaren Spannungsverhältnis von passione und ragione.253 ‚Falsche Passionen‘ werden als Grund dafür angeführt, dass so viele Menschen falschen Lehren („dottrine false“; OMC, VII, 110) anhängen und die richtigen missbrauchen. Für fast alle gesellschaftlichen Missstände werden die Leidenschaften verantwortlich gemacht: für den Hass unter den Nationen, für die Gewalt der Kolonialherren, für die Missstände innerhalb der Kirche. Gleichzeitig fehlt logisch und rhetorisch das Mittel, den ‚richtigen‘
252Nicht nur die Liebe markiert damit einen neuralgischen Punkt von Manzonis Poetik, sondern auch die Darstellung physischer Gewalt. Das gerät in der Liebesroman-Debatte oft in Vergessenheit. Eine berühmte Ausnahme ist Moravia, für den Egidio die einzig wirklich böse Figur des Romans darstellt: „Ecco, infatti, Egidio, un malvagio più malvagio di Don Rodrigo e dell’Innominato perché, al contrario di questi ultimi, motivato nella sua malvagità e per giunta con i moventi molto moderni del sadismo e della lussuria profanatoria.“ (Alberto Moravia, „Alessandro Manzoni o l’ipotesi di un realismo cattolico (1964)“, in: Ders., Opere complete, 16 Bde., Mailand: Bompiani 1974–1976, Bd. 15, S. 303–343; hier: S. 328.) – Egidio ist der Verführer, der Don Rodrigo nicht sein darf; und trotzdem: In Fermo e Lucia lässt der Erzähler nicht ihn, sondern eine verführte Nonne den Mord begehen. 253Vgl. Frare, La scrittura dell’inquietudine, S. 53–83 („,Un esimio, ma appassionato ingegno‘“). – Frare zeigt, wie die narrative Kontrolle in der Colonna Infame in einen passionierten Erzähler kippt. Die Gertrude-Episode liest er als Ausschluss der Passion (und insofern gelungene Erzählerkontrolle), während ich sie in der Weise lese, dass in ihr das Erzählerurteil suspendiert ist (bzw. gespalten in ein ‚unschuldig‘ vor dem Klostergelübde und ein ‚schuldig‘ nach ihm).
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Passionsbegriff zu behaupten. Nur an einer einzigen Stelle der Osservazioni (die in der Erstfassung von 1819 noch fehlt) kommt der Begriff in positiver Bedeutung vor.254 Dabei geht es ironischerweise um die christlichen Missionare, die sich wie Lämmer unter die Wölfe begeben und nur zwischen ‚zwei Passionen‘ hinund hergerissen seien, zwischen jener, andere zu retten, und jener, selbst den Märtyrertod zu erleiden. Nun ist aber das Hin- und Hergerissensein zwischen den Passionen genau das, was ausgeschlossen werden muss. Diese prekäre Ununterscheidbarkeit von wahren und falschen Passionen bringt Manzoni in den Osservazioni dazu, von einer Sophistik der Passionen zu sprechen: L’uomo che vuol vivere a seconda di queste [le passioni; D. S.], e insieme non osa negare a sé stesso l’autorità della dottrina che le condanna, si sforza di conciliare in apparenza queste due disposizioni inconciliabili, per darla vinta a quella che vuol far prevalere in effetto. E questa infelicissima frode se la fa col mezzo della sofistica ordinaria delle passioni; cioè spezzando, per dir così, la dottrina, prendendone quel che tanto che gli conviene, e non curandosi del rimanente: che è quanto dire, riconoscendola e negandola nello stesso tempo. (OMC, VII, 110; Herv. D. S.)255
Schlimm sind nicht so sehr die Menschen, die die richtige Lehre als Ganze und mit rationalen Mitteln bekämpfen, sondern jene, die ihren Passionen gegen die Vernunft nachgeben. Sie beherrschen die Sophistik der Passionen und nehmen sich aus der Lehre nur das, was ihnen in den Kram passt. Auch das kann bis zu völliger Gottlosigkeit führen.256 In ihrem synekdochischen Gebrauch der Lehre verwischen sie die Grenzen zwischen den Passionen immer mehr. Gertrude ist die Figur der Promessi sposi, die zunächst erbarmungslos in die Sophistik der
254„[Q]uelle migliaia di missionari che portando la fede ai selvaggi e agli infedeli d’ogni sorte, ci andarono e ci vanno senza soldati, senz’armi, come agnelli tra i lupi [Ecce ego mitto vos sicut agnos inter lupos. Luc. X, 3], e col core diviso tra due sole passioni, quella di condurre molti alla salute, e quella del martirio.“ (Manzoni, Osservazioni, VII, 76; zit. in: Frare, La scrittura dell’inquietudine, S. 56.) 255„Der Mensch, der ihnen [den Passionen; D.S.] nachleben will und es doch nicht wagt, vor sich selbst die Autorität der Lehre abzuleugnen, welche sie verdammt, zwingt sich dazu, dem äußeren Anschein nach einen Ausgleich zu vermitteln zwischen zwei unvereinbaren Meinungen, um derjenigen freien Lauf zu lassen, von der er in Wirklichkeit wünscht, daß sie die Oberhand behalten solle. Und dieser unheilvolle Betrug wird mit Hilfe der den Leidenschaften geläufigen Sophismen verübt, indem man die Lehre sozusagen zerstückelt, wobei man soviel davon nimmt, als einem paßt, und sich um das übrige nicht bekümmert – was so viel besagen will, als: sie gleichzeitig anerkennen und ableugnen.“ (Übers. Arens, S. 165.) 256„E l’oscuramento della sua mente [des Menschen; D.S.] può qualche volta arrivare al segno (poiché a che non va l’intelletto soggiogato dalle passioni?) che quegli atti, quantunque scompagnati dall’amore della giustizia, gli paiano una specie d’espiazione: e prenda per un sentimento di religione quello che non à altro che un’illusione colontaria dell’empietà.“ (OMC, XIII, 142) („Und die Trübung seines Geistes [des Menschen; D.S.] kann bisweilen solchen Umfang annehmen (denn wohin gelangt nicht der Geist, wenn er im Bann der Leidenschaften steht?), daß diese Handlungen ihm, so wenig ihm auch die Liebe zur Gerechtigkeit zur Seite geht, als eine Art Sühne erscheinen und daß er etwas für ein religiöses Gefühl hält, was in Wirklichkeit nichts ist als eine freiwillige Selbsttäuschung des Gottlosen.“ Übers. Arens, S. 215 f.).
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Passionen getrieben wird und dann selbst zu einer Meisterin dieser Rhetorik wird. Aber ihre verschwiegene Liebesbeziehung markiert dabei eine katachrestische Stelle. Sie schließt eine Lücke des Romanvokabulars (und auch der Osservazioni), in der amore und passione nicht auseinanderklaffen, sondern zusammenfallen.
Zwischen Akt und Sprache. Zur Frage der Schuld Lucia und Agnese wissen nicht, warum die Signora, der sie anvertraut werden, sich so seltsam verhält. Aber der Leser erfährt es, indem der Erzähler ihre Geschichte (in der zweiten Hälfte des IX. Kapitels) erzählt. Auf die Handlung bezogen hat Gertrude die einzige Funktion, Lucia zu verraten. Das ist nur ein Moment, ein Auftritt in der fast zwei Jahre dauernden Romanhandlung, ein einziger Moment, in dem es darum geht, Lucia mit Worten dazu zu bewegen, das Kloster zu verlassen, um sie den Bravi des Innominato zuzuspielen. Aber wie kommt es, dass die zum Schutz der Flüchtenden auserkorene Nonne zur Verräterin wird? Weil dies den Lesern plausibilisiert werden soll, wird Gertrude weniger als historische Figur eingeführt – erst im Nachtrag zur Geschichte erscheint sie als solche, da nur hier auf die historische Quelle verwiesen wird! – als eher, wie Paola Mastrocola sich ausdrückt, als „simbolo stesso del personaggio storico“.257 Mit einer kleinen, aber entscheidenden Abweichung erfüllt Manzoni mit ihrer Geschichte jene Aufgabe des Dichters, die er in der Lettre à M. Chauvet beschreibt und die darin bestehe, die inneren Antriebe der historischen Akteure zu erhellen: Car enfin que nous donne l’histoire? Des événemens qui ne sont, pour ainsi dire, connus que par leur dehors; ce que les hommes ont exécuté: mais ce qu’ils ont pensé, les sentimens qui ont accompagné leurs délibérations et leurs projets, leurs succès et leurs infortunes; les discours par lesquels ils ont fait ou essayé de faire prévaloir leurs passions et leurs volontés sur d’autres passions et sur d’autres volontés, par lesquels ils ont exprimé leur colère, épanché leur tristesse, par lesquels, en un mot, ils ont révélé leur individualité: tout cela, à peu de chose près, est passé sous silence par l’histoire; et tout cela est le domaine de la poésie.258
Eine solche Geschichte innerer Motivationen, von Zwängen, Ängsten und Sehnsüchten liefert der Erzähler nun mit der Biographie Gertrudes bis zu ihrer Begegnung mit Lucia, die ungefähr ein Jahr nach dem Verbrechen an der Mitschwester stattfindet. Es ist damit eine ganz poetische, ganz erfinderische Geschichte, die das Seltsame Gertrudes erklären soll. Die Abweichung von der empfohlenen Aufgabe liegt nun aber darin, dass der Romanschreiber, indem er die mysteriöse Erscheinung zum Ausgangspunkt seiner Erklärungen nimmt, ja gerade nicht vom historischen Fall ausgeht. Was somit im Dunkeln bleibt, ist die ‚historische‘ Tat.259 Gertrudes Roman bringt die historischen Prozessakten 257Mastrocola,
„Gertrude et La Signora“, S. 171. „Lettre à M.r Chauvet“, S. 122. 259„Sembra che Manzoni descriva un mistero quasi per poterne poi inventare la spiegazione.“ (Mastrocola, „Gertrude et La Signora“, S. 173). 258Manzoni,
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a llererst hervor. Manzoni ist, mit anderen Worten, an ihrem historischen Recht, an ihrer ‚Geschichtsmacht‘ gelegen.260 Was ‚tut‘ Gertrude also, wenn sie Lucia verrät? Worin besteht ihre Tat? Um es auf paradoxe Weise vorwegzunehmen: Sie besteht darin, dass sie nichts tut. Gertrude ist nicht Herrin ihres Willens, sondern Herrin der Willen Anderer; sie ist ohne Individualität bzw. ein gespaltenes Individuum, das im Kampf mit sich und mit der Welt steht. In Manzonis Figurenuniversum steht sie für einen Zustand vor der Konversion: für innere Zerrissenheit, Entscheidungslosigkeit und Willensschwäche.261 Während Renzo im Laufe seiner Reise immer ohnmächtigeren Instanzen (und Natur) begegnet, steht Lucia in Gertrude einer Instanz zwischen Macht und Ohnmacht gegenüber. Im Zentrum der poetischen Rekonstruktion von Gertrudes Geschichte steht ihr falsches, vom Vater erzwungenes Klostergelübde. Ein erzwungenes Ja, das auf keinem Konsens, sondern ihrer schieren Präsenz beruht: La nostra infelice era ancor nascosta nel ventre della madre, che la sua condizione era già irrevocabilmente stabilita. Rimaneva soltanto da decidersi se sarebbe un monaco o una monaca; decisione per la quale faceva bisogno, non il suo consenso, ma la sua presenza. (PS, IX, 155)262
Schritt für Schritt zeichnet der Erzähler nach, wie der Principe padre zugunsten von Familienräson und Majorat der jüngsten Tochter sowohl Liebe als auch ein eigenes Wort verwehrt.263 Das Irritierendste an dieser Geschichte ist die Unentschlossenheit des Erzählers in der Bewertung dieser Geschichte, die mit der verbotenen Beziehung zu Egidio und einem Mord endet. Bis zum Klostereintritt ist die Rollenverteilung klar: Gertrude ist Opfer, der Täter ihr Vater. Aber mit dem Eintritt ins Kloster ändert sich die Bewertung ihres Verhaltens durch den Erzähler radikal und schlagartig. Gertrude wird eine Mitschuldige – analog zum Mitschuldigwerden der geständigen Piazza und Mora, die mit ihren Geständnissen weitere Opfer produzieren. In diesem Bruch des Erzähler-Urteils wurzelt die unabschließbare Diskussion um die Schuld Gertrudes.264 Ob femme
260Damit
zeigt er, mit Cornelia Vismann, dass Rechtsgeschichte immer auch Aktengeschichte ist (Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a. M.: Fischer 2000). 261Vgl. für Gertrudes Tragödie als augustinische Akrasie: Pierantonio Frare, Il potere della parola. Dante, Manzoni, Primo Levi, Novara: interlinea srl edizioni 2010, S. 47–80 („La parola che impedisce: Il principe padre e Gertrude (I promessi sposi, IX–X)“). 262„Unsere Unglückliche war noch im Mutterleib, als ihr Stand bereits unwiderruflich festgelegt worden war. Es blieb nur noch zu entscheiden, ob sie ein Mönch oder eine Nonne sein würde, eine Entscheidung, die zwar nicht ihrer Zustimmung, wohl aber ihrer Anwesenheit bedurfte.“ (S. 197 f.) 263Die Idee, die Liebe der Tochter durch väterliche Pädagogik zu unterbinden, verweist auf eine weitere Parallele zu Ann Radcliffes Confessional. Dort ist es der Marchese Vivaldi, der Vincentio im investigativen Gespräch von der Liebe zu Ellena abbringen will. 264Vgl. etwa Baldi, „La Signora di Monza“, S. 245: „Le cose cambiano dopo la monacazione. […] Quindi ora è colpevole […].“
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fatale oder christliche Tragödie des Willens, mir kommt es hier darauf an, dass Manzoni, indem er die Geschichte buchstäblich um einen rechtlich unentscheidbaren Sprechakt – das erzwungene Gelübde – zentriert, die Sprache als performative Macht in den Roman einführt. Damit wendet er ein Verfahren an, das dem aus Renzos Fluchtgeschichte, in deren Verlauf die Sprache devalorisiert wird, diametral entgegensteht. Gertrude ist dem Roman nach nicht schuldig, weil sie Sex hat (oder eine Mitschwester umbringt oder Lucia verrät), sondern weil sie das Falsche sagt. Das impliziert, dass das Richtige, der richtige Sex, die richtige Liebe gesagt, gestanden werden kann. In Fermo e Lucia setzt der Erzähler noch ausdrücklich darauf, Geltrudes falsches Gelübde, das als „solenne professione“ bezeichnet wird, in biblischer Diktion und erhabenem Stil als falsches Opfer zu entlarven: Il sacrificio fu consumato, il dono fu posto su l’altare, ma era di frutti della terra; la mano che ve lo aveva posto non era monda; il cuore non lo offriva; e lo sguardo del cielo non discese sovr’esso. (FL, II, IV, 203)265
Diese explizite Bezeichnung der Profess als unreines Opfer ging Manzonis frühem Korrekturleser Visconti zu weit. Er notiert am Rand des Manuskripts: „Troppo asceticismo: e per una monacazione con voti irrevocabili, con sanzione di legge civile!“266 Warum bemängelt Visconti eine übertriebene Askese? Offenbar findet er die Rhetorik, im verdoppelten Trikolon effektvoll gesteigert, übertrieben und geschmacklos, weil er darin einen hyperpastoralen Ton mithört, der einen Stand, der gesellschaftlich und juristisch sanktioniert ist, ‚zusätzlich‘ sakralisiert.267 Dabei verkennt er, dass es Manzoni gar nicht auf die Sakralisierung des Standes, sondern auf die des Sprechaktes ankommt. Manzoni beherzigt die Kritik, wie er den Großteil der Kritik seiner frühen Leser-Freunde Visconti und Fauriel beherzigt, und der Satz fällt in den Promessi sposi weg. Gleichzeitig verstärkt er aber den intendierten Effekt, indem er den Sprechakt nicht mehr als solchen bezeichnet (auch der Ausdruck „solenne professione“ fällt in der Endfassung weg), sondern ihn als erzwungene Antwort narrativ ausdifferenziert. Damit wird der Akteur des Gelübdes veruneindeutigt und die ‚Opferschuld‘ auf den Vater übertragen, wobei im Vergleich mit der Richter-Psychologie der Colonna Infame interessant ist, dass der Vater nicht als leidenschaftsunterworfen, sondern als absolut selbstbeherrscht dargestellt wird. Ein verführerischer Antichrist, der, ohne
265„Das
Opfer ward vollbracht, die Gabe wurde auf dem Altar niedergelegt, jedoch war sie eine irdische Frucht. Die Hand, die sie dargebracht hatte, war nicht rein; nicht das Herz brachte sie dar und der Blick des Himmels ruhte nicht auf ihr.“ 266Manzoni, Fermo e Lucia, hg. Chiari/Ghisalberti, S. 821. 267Visconti annotiert im Fortgang eine weitere Stelle als unangemessen „ascetico“, eine andere allerdings als gelungen ‚asketisch‘ (die Szene, in der Geltrude mit dem ‚Spürsinn der Schlange‘ zwei Mitschwestern als Komplizinnen für ihre Beziehung zu Egidio gewinnt): „Qui l’ascetismo [sic] è bellezza: di pensiero, di stile, di intimo accordo alle intenzioni religiose dello scrittore“ (ebd., S. 823).
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Folter und physische Gewalt, fast ausschließlich mit dem Versprechen der Straffreiheit auskommt und es schafft, dass mit Gertrudes Ja zum Kloster sein Wille Tat wird.268 Er reproduziert sein Geschlecht, ‚indem er Kinder zeugt und sich damit quält, sie in gleicher Weise zu quälen‘ („destinato […] a procrear cioè de’ figliuoli, per tormentarsi a tormentarli nella stessa maniera“, PS, IX, 155). Seine Entschlossenheit pflanzt in Gertrude das Gefühl einer ‚schicksalhaften Notwendigkeit‘ ein („il sentimento d’una necessità fatale“, PS, IX, 156). Als sie für den vorgeschriebenen Monat außerhalb des Klosters zu Hause ist, lastet dort ein ‚mysteriöser Fluch‘ („un anatema misterioso“, PS, IX, 161) auf ihr. Statt die Freiheit in der Familie, auf die sie sich gefreut hat, genießen zu können, macht man ihr das väterliche Schloss zu einer anderen Klosterhölle, aus der nur noch das echte Kloster befreien kann: „Il solo castello nel quale Gertrude potesse immaginare un rifugio tranquillo e onorevole, e che non fosse in aria, era il monastero, quando si risolvesse d’entrarci per sempre.“ (PS, IX, 164 f.)269 Gertrude wäre ein homo sacer, verflucht zum Opferdasein, abgeschnitten sogar von der letzten Hoffnung auf Rettung durch die Religion, würde sie nicht auch nach ihrem Klostereintritt weiter antworten und so das ‚unreine Opfer‘ selbst perpetuieren. So besteht das zweite Mittel der Fokussierung auf einen wirksamen Sprechakt darin, eine Symmetrie in ihrer Geschichte herzustellen, die aus der einmalig ausgesprochenen Bindung an den himmlischen Bräutigam eine Kette falscher Bindungen – zuerst an den Vater, dann an den Bösewicht Egidio – macht. Das entscheidende Mittel des Vaters liegt darin, die sexuelle Natur Gertrudes phallisch, inzestuös zu unterwerfen. Der Moment, den er sich endlich siegreich zunutze macht, ist der, in dem die emotional isolierte Gertrude den Pagen zum Ersatzobjekt ihres Begehrens wählt und in dem sie mit dem Papier, ‚auf das sie besser nichts geschrieben hätte‘, entdeckt wird. Eingesperrt in ihr Zimmer, schreibt Gertrude vier, fünf Tage später den Brief an den Vater, in dem sie sich zu allem bereit erklärt. Und im anschließenden Gespräch, das vom Erzähler als jener kritische Moment dargestellt wird, auf den ich gleich zurückkomme, fällt das erste Supplement des ‚wahren Gelübdes‘: das „‚Ah sì!‘“ (PS, X, 168) in direkter Rede, mehr Stöhnen als ausgesprochenes Wort, ein unwillkürlicher Akt erpresster Zuneigung,270 den der Vater perfide in das unumstößliche Gelübde umzumünzen weiß. Nach diesem abgerungenen Ja wird alles zu einer bloßen, verkehrten, 268Frare,
Il potere della parola, S. 61 f., macht darauf aufmerksam, dass schon in den Worten des Agnese und Lucia empfangenden Padre Guardian auf diese fatale, performative Macht Gertrudes angespielt wird: „Gran cervellino che è questa signora! […] Ma chi la sa prendere per il suo verso, le fa far ciò che vuole“ (PS, IX, 154). („Sonderbare Person, diese Signora! […] Aber wer sie zu nehmen weiß, erreicht von ihr, was er will.“ S. 196 f.) 269„Das einzige Schloß, in dem Gertrude sich eine ruhige und ehrenvolle Zuflucht vorstellen konnte und das kein Luftschloß war, war das Kloster, wenn sie sich entschließen würde, für immer dort einzutreten.“ (S. 210) 270Vgl. die Stelle: „,Ah sì!‘ esclamò Gertrude, scossa dal timore, preparata dalla vergogna, e mossa in quel punto da una tenerezza istantanea.“ (PS, X, 168) („,Ach ja!‘ rief Gertrude aus, geschüttelt von Angst, zermürbt von der Scham und in diesem Moment von einer plötzlichen Zärtlichkeit angerührt.“ S. 213)
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juristischen Formsache: vom Aufnahmegesuch vor der Äbtissin über das Prüfgespräch mit dem Nonnenvikar bis zum vermeintlichen Gelübde: Fu dunque fatta la sua volontà; e, condotta pomposamente al monastero, vestì l’abito. Dopo dodici mesi di noviziato, pieni di pentimenti e di ripentimenti, si trovò al momento della professione, al momento cioè in cui conveniva, o dire un no più strano, più inaspettato, più scandaloso che mai, o ripetere un sì tante volte detto; lo ripetè, e fu monaca per sempre. (PS, X, 183)271
Aus dem verzweifelten Liebesruf „‚Ah sì!‘“ ist ihr ‚Wille‘ geworden, den sie nach zwölf Monaten nur noch ‚wiederholt‘. Danach ist der Kampf um Bindung nicht zu Ende. Der Erzähler stellt ein zweites Mal fest, dass Gertrude das Trostmittel der Religion verwehrt ist. So kämpft sie weiter vergeblich gegen den symbolischen Vater und wiederholt ihre Antwort vor Egidio, dem „scellerato di professione“ („berufsmäßige[n] Übeltäter“, S. 236): „La sventurata rispose.“ (PS, X, 186)272 Was auf diese Antwort folgt, ist die symmetrische Steigerung dessen, was bereits nach der Unterwerfung unter den Vater folgte. Nach dem ersten „Ah sì!“ kann der Vater seine Strategie von Liebesentzug auf die Gewährung von Pseudo-Freiheiten umstellen: Gertrude darf ‚selbst entscheiden‘, ob man heute oder morgen ins Kloster fährt und wer ihre Patin sein soll. Sie erweist sich als gelehrsame Kreatur des Vaters, belügt gekonnt Äbtissin und Nonnenvikar und imitiert des Vaters Rachsucht, indem sie dafür sorgt, dass die Kammerzofe, die ihre Beziehung zum Pagen verraten hat, entlassen wird. Genau diese verbrecherischen Fähigkeiten baut Gertrude nach dem Einverständnis in die Beziehung mit Egidio aus: Sie genießt – kurze Zeit – eine falsche Zuneigung, sie lügt und betrügt. Und so wie sie sich noch vor dem Klostereintritt an der Kammerzofe gerächt hat, geht die Rache nun bis zum Mord an einer mitwissenden Nonne. So wird der gerechte Sprechakt der „solenne professione“ überwölbt von seinem Vorher („‚Ah sì!‘“) und Nachher („La sventurata rispose.“). Gertrudes fatales Ja wird formalistischer Selbstläufer. Dass es Manzoni auf diese sprechakttheoretische Kritik der ‚formalità‘ ankommt, zeigt jene radikal rechtskritische Stelle aus Fermo e Lucia, auf die Enrico Opocher in „Lo ‚scetticismo giuridico’ del Manzoni“ hingewiesen hat und die in den Promessi sposi wegfällt.273 In dem Moment, wo Gertrude aufgrund der Gesetzgebung für Ordensgelübde für eine Zeit nach Hause geschickt wird, sinniert der Erzähler über die prinzipielle und unausweichliche Fehlbarkeit rechtlicher ‚formalità‘. Demnach hat alle Rechtsanwendung zwei prinzipielle Schwachstellen:
271„[U]nd so wurde ihrem Wunsch entsprochen: Man geleitete sie mit Pomp ins Kloster, und sie nahm den Schleier. Nach zwölfmonatigem Noviziat voller Bedauern und Reue über das Bedauern kam der Tag des Gelöbnisses, also der Augenblick, da es galt, entweder ein Nein zu sagen, das noch befremdlicher, unerwarteter und skandalöser sein würde denn je, oder das Ja zu wiederholen, das sie schon so oft gesagt hatte. Sie wiederholte es und ward Nonne für immer.“ (S. 232) 272„Die Unglückselige antwortete.“ (S. 236) 273Vgl. Enrico Opocher, „Lo ‚scetticismo giuridico‘ del Manzoni“, S. 55 f.
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Accade talvolta che dove gli uomini hanno deciso che una cosa non può esser realmente fatta che nei tali e tali modi, la cosa si fa realmente in modi tutti diversi e che non erano stati preveduti. In questo caso, la cosa non vale, anzi non è fatta. E non andate a farvi compatire da un sapiente col volergli dimostrare che la è fatta; egli lo sa quanto voi; ma sa qualche cosa di più, vede nella cosa stessa una distinzione profonda; vede, e vi insegna che la cosa materialmente è fatta, legalmente non è. Dall’altra parte accade pure, che dopo essere stato dagli uomini predetto, deciso, statuito che, dove si trovino i tali e tali caratteri esiste certamente il tal fatto, si sono trovati altri uomini più accorti dei primi (cosa che pare impossibile eppure è vera) i quali hanno saputo far nascere tutti quei caratteri senza fare la cosa stessa. In questo secondo caso bisogna riguardare la cosa come fatta; e darebbe segno di mente ben leggiera e non avvezza a riflettere, o di semplicità rustica affatto colui che, ostinandosi ad esaminare il merito, volesse dimostrare che la cosa non è. (FL, II, II, 169)274
Im ersten Fall wird die Verfahrensweise festgelegt, wobei eine Sache erst dann Geltung erlangt, wenn bestimmte Verfahrenskriterien („modi“) erfüllt sind. Gleichzeitig werden dadurch aber ‚andere‘, nämlich materielle Fakten produziert: „la cosa materialmente è fatta, legalmente non è“. Im zweiten Fall – der für Geltrude in Anschlag gebracht wird – werden nicht Verfahrensweisen, sondern Eigenschaften („caratteri“) für die Geltung festgelegt. Die Sache gilt, wenn sie diese oder jene Eigenschaften besitzt. Dann aber, so der Erzähler, wird es immer Leute (wie etwa den Padre principe) geben, die die eigentliche Sache durch die Eigenschaften zu ersetzen wissen. Der Erzähler bricht diese Dekonstruktion des Rechts gleich wieder ab, um auf die Geschichte Geltrudes zurückzukommen, wobei er interessanterweise auf deren Notwendigkeit für die ‚noch umfangreichere Geschichte‘ „degli sposi promessi“ verweist.275 Im Prinzip könnte man in Gertrudes Fall auch die zuerst genannte formale Schwachstelle des Rechts sehen: Ihr Gelübde gilt nur materiell, aber nicht legal, weil das Kriterium des
274„Manchmal geschieht es, dass dort, wo die Menschen festgelegt haben, dass eine Sache nur in der einen oder anderen Weise wirklich gemacht werden kann, die Sache in Wirklichkeit auf eine ganz andere Art und Weise, die gar nicht vorgesehen war, gemacht wird. In diesem Fall gilt die Sache nicht, ja, wurde sie gar nicht gemacht. Ihr braucht euch dann nicht von einem Gelehrten bemitleiden lassen, indem ihr ihn zu überzeugen versucht, dass die Sache doch gemacht wurde, denn er weiß dies ebenso wie ihr. Aber er weiß noch mehr; er sieht in der Sache einen tiefgreifenden Unterschied; er sieht und belehrt euch darüber, dass die Sache zwar materiell gemacht, legal aber nicht gemacht worden ist. Andererseits passiert es hingegen, dass dort, wo die Menschen bestimmte Eigenschaften für die reale Existenz einer Sache vorhergesehen, festgelegt, statuiert haben, sich andere Menschen, noch cleverere als die ersten finden (was unmöglich scheint, aber wahr ist), welche es geschafft haben, all diese Eigenschaften zu erzeugen, ohne doch die Sache selbst zu machen. In diesem zweiten Fall muss man die Sache als gemacht ansehen. Und demjenigen, der sie hartnäckig prüfen und zeigen wollte, dass der Sachverhalt gar nicht vorliegt, würde Leichtsinn, ein Mangel an Reflexion, wenn nicht gleich eine bäuerische Einfalt unterstellt werden.“ 275Vgl. FL, II, II, 170: „[…] siamo per ora impegnati a raccontare quella [storia; D.S.] di Geltrude, in quanto ella è necessaria a conoscere la storia ancor più vasta degli sposi promessi.“ („[…] vorerst sind wir mit der Geschichte Gertrudes insoweit beschäftigt, als sie für die noch umfangreichere Geschichte der einander versprochenen Brautleute notwendig ist.“)
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Konsenses nicht erfüllt ist. Dafür aber will sich der Erzähler nicht entscheiden; er subsumiert den Fall unter der zweiten Kategorie: Das Gelübde hat Rechtsgeltung, ohne faktisch ‚gemacht‘ worden zu sein, ohne ein ‚materielles Faktum‘ zu implizieren. Einmal im Kloster, stört Geltrude die klösterliche Rechtsordnung, indem sie simuliert und statt mit dem eigenen Wort mit den falschen Worten des patriarchalischen Körpers spricht. Sie ist damit einmal mehr ein Gegenbild zu Renzo: Während es jenem nicht gelingt, mit seinen subjektiven Worten einen falschen, politischen Rechtskörper zu revolutionieren, trägt sie mit ihren falschpenetrierenden Worten zum weiteren Verfall dieses Rechtskörpers bei. Renzo ist bloße, männliche Natur, ein materielles Faktum ohne Recht, Gertrude dagegen ein (Zwangs-)Recht ohne Natur, zwischen Mann und Frau. Notwendig ist dieser Fall der Aushöhlung der Rechtsordnung für den Roman als Ganzes, weil Renzos und Lucias Eheschließung, ihr Ehegelübde (das auch am Ende nicht ausgesprochen werden wird!), eine formale und fiktive Evidenz erlangen soll. In Gertrudes Geschichte versagen alle Urteilsinstanzen, Religion276 und Vernunft277 eingeschlossen. So offen das Ende dieser historia calamitatum bleibt, so eindeutige Hinweise liefert der Erzähler doch für ihren Anfang. Verglichen mit der ‚unschuldigen‘ Lucia ist Gertrude, typologisch gesprochen, zwar wie eine Eva für Maria, allerdings mit dem entscheidenden Unterschied, dass zunächst nicht sie selbst gefehlt hat, sondern ihr väterlicher Schöpfer, der sie statt zur Religion zu einer ‚Larve‘ davon erzieht. Der Erzähler setzt nicht, augustinisch, auf eine Erbsünde Gertrudes, sondern isoliert, im Gegenteil, aus ihrer Geschichte eine natürliche, gnadenhafte, weibliche Sexualität, die der Vater in ein falsches Ja konvertiert. Während die Colonna Infame eine äußere Grenze der Romanfiktion markiert, indem sie den Richtern Willensfreiheit aufoktroyiert, wird Gertrudes Episode damit zu einer inneren Grenze, an der ein sexueller, passioneller Ursprung der Willensfreiheit erkundet wird. Gertrudes Satz „La sventurata rispose“, so wird bisweilen argumentiert, beziehe sich auf das „respondit mulier“ Evas in Gen 3, 2 und wie diese erliege Gertrude damit den Versuchungen des Fleisches.278 Das mag stimmen, aber anders als Eva hat Gertrude in dem Moment, wo sie Egidio antwortet, weder Kontakt zu ihrem Schöpfer noch zu einem Adam. Das Problem ist, dass ihr erstes Ja, ihr leidend-leidenschaftliches „‚Ah sì!‘“ – vielleicht das emphatischste Ja des Romans überhaupt – nur auf falsche Ohren stößt. Das Kloster wird Gertrude nicht als Ort himmlischen Glücks nahegebracht, sondern als Territorium, auf das sie als Äbtissin die irdische Macht und den Ruhm der Adelsfamilie auszudehnen hat. Gertrudina bekommt Nonnenpuppen zum Spielen,
276Das stellt der Erzähler ausdrücklich fest, die beiden wichtigsten Stellen (einmal vor, das andere Mal nach dem Klostereintritt) sind: PS, IX, 159 und PS, X, 183. 277Enrico Opocher kommentiert die zitierte Stelle wie folgt: „Qui non si tratta più del rapporto tra diritto e forza, ma, piuttosto, di un radicale limite del diritto come idea umana ed, anzi, come idea della ragione“ („Lo ‚scetticismo giuridico‘ del Manzoni“, S. 57). 278Vgl. Frare, Il potere della parola, S. 65, mit einem Verweis auf Kardinal Pietro Maffi, Conversazioni manzoniane col mio clero, Turin: Società editrice internazionale 1924, Bd. II, S. 57.
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und als sie mit sechs ins Kloster geschickt wird, wird sie in aller Komplizenschaft der erziehenden Nonnen mit Privilegien verwöhnt, die ihre Berufung zur Herrschaft anstacheln sollen. Im Kloster beginnt nun aber auch ihre Revolte, die der Erzähler mit dem Erwachen ihrer Sexualität, mit ihrem Frauwerden engführt. Im Kontakt mit den Schülerinnen, die nicht fürs Kloster bestimmt sind, entstehen Sehnsuchtsbilder von Hochzeiten, Unterhaltungen und Sommerfrischen (wie bei Renzo, als er die Adda überquert). Und fast wie nebenbei erfindet Manzoni die Pubertät: „Queste immagini cagionarono nel cervello di Gertrude quel movimento, quel brulichìo che produrrebbe un gran paniere di fiori appena colti, messo davanti a un alveare.“ (PS, IX, 157)279 Ähnlich wie bei Renzo hat die Naturmetaphorik, hier: der Strauß Blumen, der die Bienen verrückt macht, sexuelle Konnotationen. Mystifizierend evoziert der Erzähler eine Kraft der Pubertät: [E] s’inoltrava in quell’età così critica, nella quale par che entri nell’animo quasi una potenza misteriosa, che solleva, adorna, rinvigorisce tutte l’inclinazioni, tutte l’idee, e qualche volta le trasforma, o le rivolge a un corso impreveduto. (PS, IX, 158)280
Die erwachende Sexualität wird entnaturalisiert: Sie ist „potenza misteriosa“ und besitzt eine transformierende, konvertierende Kraft – die entweder zum Guten, Schönen verwandelt oder aber zumindest alles „a un corso impreveduto“ bringt.281 Zugespitzt zu einem Akt, dessen Urheber mystifiziert wird: Ist es Liebe oder 279„Diese Bilder erzeugten in Gertrudes Kopf jene Erregung, jenes wimmelnde Brausen, das ein großer Korb frisch geschnittener Blumen vor einem Bienenstock auslösen würde.“ (S. 201) Zum Vergleich noch einmal Renzo: „Renzo, in vece d’inquietarsene [vor dem Regen; Anm. D.S.], ci sguazzava dentro, se la godeva in quella rinfrescata, in quel susurrìo, in quel brulichìo dell’erbe e delle foglie, tremolanti, gocciolanti, rinverdite, lustre; metteva certi respironi larghi e pieni; e in quel risolvimento della natura sentiva come più liberamente e più vivamente quello che s’era fatto nel suo destino.“ (PS, XXXVII, 642) („Aber statt sich davor [vor dem Regen; Anm. D.S.] zu schützen, stürzte er sich genüßlich hinein, genoß die Erfrischung, das Rauschen, das rege Keimen der zitternden, triefenden, wieder grün und glänzend werdenden Gräser und Blätter. Er sog die Luft in vollen Zügen ein und empfand in dieser erlösenden Entladung der Natur gewissermaßen noch freier und lebhafter die erlösende Wendung, die sich in seinem Schicksal vollzogen hatte.“ S. 813) 280„[U]nd sie kam in jenes kritische Alter, in dem es scheint, als zöge eine geheimnisvolle Macht in die Seele ein, die alle Neigungen und Ideen erhöht, verschönert, verjüngt und manchmal auch verwandelt oder auf einen unvorhergesehenen Kurs bringt.“ (S. 202) 281Geradezu konträr ist die Erwähnung des ‚Dorngestrüpps der Sinnlichkeit‘ (vepres libidinum), das dem 16-jährigen Augustinus über den Kopf wächst und von seinem Vater zusätzlich angestachelt wird: „Quin immo ubi me ille pater in balneis vidit pubescentem et inquieta indutum adulescentia, quasi iam ex hoc in nepotes gestiret, gaudens matri indicavit, gaudens vinulentia, in qua te iste mundus oblitus est creatorem suum et creaturam tuam pro te amavit, de vino invisibili perversae atque inclinatae in ima voluntatis suae.“ („Im Gegenteil, mein Vater, wie er nun einmal war, erzählte, als er beim Bäderbesuch die Zeichen durchbrechender Mannesreife und den Drang meines jungen Leibes bemerkt hatte, voll Vergnügen der Mutter davon, als trüge er bereits auf den Enkel an, vergnügt in dem Rausche, in dem diese Welt Dich, ihren Schöpfer, vergißt und Dein Geschöpf statt Deiner liebt, trunken vom heimlichen Taumelwein ihres verkehrten und aufs Niederste geneigten Trachtens.“) Augustinus, Bekenntnisse, übers. Joseph Bernhart, München: Insel 1987 (1955), II, 3, 6.
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Gnade? Das ist schwer entscheidbar und mit Blick auf Lucia wird alles an dieser Unentscheidbarkeit hängen. Gertrudes zarte Pubertät gleicht jedenfalls dem, was Jean-Luc Marion als „phénomène érotique“ beschrieben hat und was sich sowohl durch eine erotische Eigenrationalität als auch durch eine Phänomenalität auszeichnet, die dem Subjekt vorgängig ist.282 Entscheidend für Gertrude ist, dass diese aktive Liebesfähigkeit, das Ja zur Liebeshingabe und zum Liebenkönnen, systematisch unterdrückt wird. Die väterliche Erziehung zu Überlegenheit, Macht und superbia richtet sich genau gegen diese Art von empfänglicher Affektivität, die sich in Gertrude deshalb nur als Traum und Realitätsflucht äußern kann: Ciò che Gertrude aveva fino allora più distintamente vagheggiato in que’ sogni dell’avvenire, era lo splendore esterno e la pompa: un non so che di molle e d’affettuoso, che da prima v’era diffuso leggermente e come in nebbia, cominciò allora a spiegarsi e a primeggiare nelle sue fantasie. S’era fatto, nella parte più riposta della mente, come uno splendido ritiro: ivi si rifugiava dagli oggetti presenti, ivi accoglieva certi personaggi stranamente composti di confuse memorie della puerizia, di quel poco che poteva vedere del mondo esteriore, di ciò che aveva imparato dai discorsi delle compagne; si tratteneva con essi, parlava loro, e si rispondeva in loro nome; ivi dava ordini, e riceveva omaggi d’ogni genere. (PS, IX, 158 f.)283
Es sind diese Luftschlösser, Phantastereien, aufgrund deren Gertrude bisweilen mit Flauberts Madame Bovary verglichen wird. „Compare già in lei una sorta di Bovary claustrale“, kommentieren Ezio Raimondi und Luciano Bottoni die Stelle.284 Der Vergleich hinkt aber, weil Gertrude anders als Madame Bovary nicht liest (bzw. weil sie nicht lesen darf); ihr Begehren wurzelt weder in profaner noch geistlicher Literatur, sondern in einer Natur, die durch das Gesetz des Vaters pervertiert wird. Dieser begegnet dem Aufbegehren der Tochter mit emotionaler Erpressung, einem Liebesentzug, den er so weit treibt, bis Gertrudes Wille und Natur nachgibt. Und so wird auch der kritische Moment – der Höhepunkt von Gertrudes sinnloser Rebellion, in dem sie dem Vater den fatalen Reuebrief schreibt – vom Erzähler (im exponierten ersten Satz des zehnten Kapitels) im Bild einer sich entfaltenden Natur gefasst:
282Jean-Luc Marion, Le phénomène érotique, Paris: Grasset 2003. – „Puis-je aimer, moi le premier?“, ist die erste Frage des Liebenden. 283„Was Gertrude in ihren Zukunftsträumen bis dahin am meisten angeschwärmt hatte, war der äußere Glanz und Pomp gewesen; nun begann sich in ihren Phantasien eine gewisse Weichheit und Zärtlichkeit, die sich vorher nur schwach und nebelhaft darin geregt hatte, zu entfalten und in den Vordergrund zu treten. Im verborgensten Winkel ihres Geistes hatte sie sich so etwas wie eine prächtige Zufluchtsstätte geschaffen, in die sie sich vor den gegenwärtigen Dingen zurückzog; dort empfing sie imaginäre Personen, die sich seltsam zusammensetzten aus wirren Kindheitserinnerungen, aus dem wenigen, was sie von der äußeren Welt sehen konnte, und aus dem, was sie den Reden ihrer Gefährtinnen entnommen hatte; mit diesen Larven unterhielt sie sich, stellte Fragen und antwortete in ihrem Namen, erteilte Befehle und nahm Huldigungen entgegen.“ (S. 202 f.) 284Alessandro Manzoni, I promessi sposi, hg. Ezio Raimondi und Luciano Bottoni, Mailand: Principato 1987, S. 169.
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Vi son de’ momenti in cui l’animo, particolarmente de’ giovani, è disposto in maniera che ogni poco d’istanza basta a ottenerne ogni cosa che abbia un’apparenza di bene e di sacrifizio: come un fiore appena sbocciato, s’abbandona mollemente sul suo fragile stelo, pronto a concedere le sue fragranze alla prim’aria che gli aliti punto d’intorno. Questi momenti, che si dovrebbero dagli altri ammirare con timido rispetto, son quelli appunto che l’astuzia interessata spia attentamente e coglie di volo, per legare una volontà che non si guarda. (PS, X, 167)285
Die Seele im Zustand der Latenz gleicht einer auf einem zerbrechlichen Stengel hin- und herwiegenden Blüte, die bereit ist, ihren Duft dem kleinsten Windhauch hinzugeben. Anders als für Pascals denkendes Schilfrohr, das noch die größte Naturkatastrophe übersteht, weil es denken kann, stellt für diese Blume, die agiert, indem sie duftet, jede Naturbewegung eine Bedrohung dar.286 Der Erzähler teilt sein ganzes Mitleid mit der so vergewaltigten, um ihre Natur/Gnade gebrachten Heranwachsenden. Gertrudes Sexualität wird nicht verdammt, sondern ist eine Voraussetzung für die Subjektwerdung. Das zeigt sich in den liebevollen Antonomasien des Erzählers – „povera innocentina“ (PS, IX, 157) oder „la poveretta“ (PS, IX, 161) –, aber auch in der eindeutigen Verurteilung des Vaters, die bis zur Klammeranmerkung geht, in der ihm der Vatername abgesprochen wird: „Il principe (non ci regge il cuore di dargli in questo momento il titolo di padre) […]“ (PS, X, 167).287 Ihr falsches, verzweifeltes Liebesgeständnis „‚Ah sì!‘“, ab dem sie mitschuldig wird, löscht die Liebesmacht nicht aus, sondern lässt sie lediglich ins Illegale, ‚Materielle‘, in falschen Sex, Mord und Verrat kippen.
Latente Liebe. Gertrude – Lucia Gertrude ist, wie bereits erwähnt, nur ein halber Schedoni, nur ein halber Bösewicht oder, wie man mit erneutem Bezug auf Ann Radcliffes aufklärerische Phantastik sagen könnte, eine Furcht erregende Erscheinung, die sich nicht rational erklären lässt und den Blick auf eine Dimension des Unrechts, wenn man so will, des Bösen, freigibt, die es im Romanuniversum Radcliffes nicht gibt. Es ist hilfreich, sich hier 285„Es gibt Augenblicke, in denen die Seele, besonders bei jungen Menschen, so empfänglich ist, daß der kleinste Anstoß genügt, um alles von ihr zu erreichen, was einen Anschein von Güte und Opfer hat – wie eine eben erblühte Blume sich weich auf ihrem zerbrechlichen Stengel wiegt, bereit, ihren Duft dem ersten Lufthauch zu überlassen, der sie umspielt. Diese Augenblicke, die von den anderen mit scheuer Ehrfurcht bewundert werden sollten, sind genau die, auf welche der eigennützige Scharfsinn lauert und die er im Fluge ergreift, um sich einen Willen gefügig zu machen, der nicht auf der Hut ist.“ (S. 212) 286„L’homme n’est qu’un roseau, le plus faible de la nature, mais c’est un roseau pensant. Il ne faut pas que l’univers entier s’arme pour l’écraser; une vapeur, une goutte d’eau suffit pour le tuer. Mais quand l’univers l’écraserait, l’homme serait encore plus noble que ce qui le tue puisqu’il sait qu’il meurt et l’avantage que l’univers a sur lui, l’univers n’en sait rien. Toute notre dignité consiste donc en la pensée. C’est de là qu’il faut nous relever et non de l’espace et de la durée, que nous ne saurions remplir. Travaillons donc à bien penser: voilà le principe de la morale.“ (Pascal, Pensées, Fragm. 186 (Le Guern)/347 (Brunschvicg), S. 161.) 287„Der Fürst (wir bringen es nicht übers Herz, ihn hier Vater zu nennen)“ (S. 212).
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noch einmal die grundsätzlichen, d. h. poetologischen und nicht nur motivischen Anleihen zu vergegenwärtigen, die Manzoni beim englischen terrorist novel writing288 nehmen konnte. Die Originalität von Radcliffes Phantastik, die sich vor allem von jener M. G. Lewis’ absetzt, liegt in der Interiorisierung des Schreckens.289 Sie unterscheidet einen physisch wahrnehmbaren horror und Ekel, der durch Blut, Mord und Gewalt ausgelöst wird, von der unbestimmten Angst des terror, dem eine lösende, befreiende Wirkung zugeschrieben wird: Terror and horror are so far opposite, that the first expands the soul, and awakens the faculties to a high degree of life; the other contracts, freezes, and nearly annihilates them. I apprehend, that neither Shakspeare [sic] nor Milton by their fictions, nor Mr. Burke by his reasoning, anywhere looked to positive horror as a source of the sublime, though they all agree that terror is a very high one; and where lies the great difference between horror and terror, but in the uncertainty and obscurity, that accompany the first [sic], respecting the dreaded evil?290
Das Grauen wird – im Rückgriff auf Edmund Burkes Philosophical Enquiry into the Origin of Our Ideas of the Sublime and the Beautiful (1757) – in den Dienst hoher Literatur gestellt, es wird buchstäblich sublimiert und eröffnet einen Raum gesteigerter Empfindungsfähigkeit. Dieser Auffassung entsprechend erweist sich im Italian alles Gruselige und Furchteinflößende, jeder Schrei, jedes Geräusch und jede Spur von Gewalt am Ende als logisch nachvollziehbarer Baustein der Intrige, als explained supernatural. Der Büßermönch Schedoni, der sich von Vivaldis Mutter einspannen lässt, ist die böse Figur, die diese Intrige zusammenhält: Die Eheschließung wird möglich mit seiner allmählichen Entlarvung als Brudermörder und Verbrecher Conte di Bruno. Am Ende triumphiert die empfindsame, konjugale Liebe über das Böse (Büßermönchtum291, Inquisition, falsche Väter, Brudermörder und Verräter). Die Promessi sposi können damit
288So die zeitgenössische Bezeichnung, unter der die Romanmode boomte und die ein anonymer Schreiber 1797 für das Genre prägte. Erst in den 20er-, 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzte sich, unter Rückgriff auf Horace Walpoles Untertitel „A Gothic Story“ für seinen Roman The Castle of Otranto (1765) der Terminus Gothic Novel als literaturwissenschaftliche Beschreibungskategorie durch (Frank, „Ästhetik des Schreckens“, S. 161 f.). 289Vgl. das instruktive Nachwort von Norbert Miller, „Der befreiende Schrecken. Ann Radcliffe und der englische Schauerroman des 18. Jahrhunderts“, in: Ann Radcliffe, Der Italiäner oder: Der Beichtstuhl der schwarzen Büßermönche, München: Hanser 1973, S. 641–668. 290Ann Radcliffe, „On the Supernatural in Poetry“, The New Monthly Magazine and Literary Journal, Part I: Original Papers 16.1 (1826), S. 149 f.; zit. in: Frank, „Ästhetik des Schreckens“, S. 476 f. 291Das Klischee, nach dem das Kloster zum Wirkungsort und Hort des Verbrechens wird, ist noch in Padre Cristoforos Konversion präsent. Vgl. das geniale Gespräch, in dem der Conte zio beim Padre principale die Versetzung Padre Cristoforos erpresst: „,Già lei sa meglio di me che soggetto fosse al secolo, le cosette che ha fatte in gioventù.‘ ‚È la gloria dell’abito questa, signor conte, che un uomo, il quale al secolo ha potuto far dir di sè, con questo indosso, diventi un altro. E da che il padre Cristoforo porta quest’abito…‘“ (PS, XIX, 327) („,Nun, dann wißt Ihr gewiß auch besser als ich, was für einer er in seinem weltlichen Leben gewesen war und was für hübsche Sachen er in seiner Jugend angestellt hat.‘ ‚Es ist der Ruhm dieser Ordenstracht, Herr Graf, daß ein Mann, der im weltlichen Leben von sich reden gemacht haben mag, in ihr ein anderer wird. Und seit Pater Cristoforo diese Kutte trägt …‘“, S. 414.)
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auf zwei Ideen zurückgreifen: auf den Plot der Eheschließung und auf die Idee, eine Liebes- als Schreckensgeschichte zu erzählen. Während Radcliffe das Böse allegorisiert bzw. in Schedoni personifiziert und domestiziert, um die eheliche Liebe zu universalisieren, allegorisiert Manzoni das (Ehe-)Recht, um die PaarLiebe als Liebesgemeinschaft zu universalisieren. Der Hauptunterschied liegt, etwas krude formuliert, darin, dass Radcliffes Erzähler aufklärerisch-empfindsam-naturrechtlich argumentieren und ein wahres Happyend feiern kann, während Manzonis Erzähler auf eine transzendente rechtsbegründende Instanz der Liebe zielt. Aber es ist aufschlussreich, dass er offenbar gerade für diese transzendente Rechtsbegründung auf eine Poetik des interiorisierten Schreckens setzt. Und dass er die männliche Figur aus dieser Poetik herausnimmt. Anders als Vivaldi, der von Schedonis Schergen an die Inquisition in Rom ausgeliefert wird und sich am Ende als der erweist, der sich mehr als Ellena vom Aberglauben terrorisieren ließ,292 wird Renzo überhaupt nicht in einen solchen inneren terror der Angst und der unbestimmten Bedrohung geschickt. Renzo flieht, während Lucia ausgeliefert wird; er lernt eine andere Welt kennen – die historische, politische Geschichte, in der er knapp dem Galgen entkommt. Die Romanfiguren sind poetologisch gegendert. Das wurde von der Forschung bislang kaum ausdrücklich als konsequentes Verfahren erkannt. Eine Ausnahme ist Verina R. Jones, die in Renzo und Lucia zwei komplementäre Heldentypen entdeckt, einen Märchenhelden in Renzo (in Anlehnung an Vladimir Propps M ärchen-Morphologie) und eine „eroina gotica“ in Lucia, die sie aus der Parallellektüre mit Radcliffes Italian entwickelt.293 Genau an dieser Stelle ist anzuknüpfen mit der Frage, wie und ob eine solche von Jones als paradox konstatierte Komplementarität poetologisch funktioniert. Denn entscheidend scheint mir, dass die beiden Heldentypen – Märchenheld (resp. pikaresker, antiepischer oder auch Sterne’scher, Swift’scher, Defoe’scher Abenteurerheld) und ‚Schauerheldin‘ – nur dichotomisch entfaltet werden, um sie in einen neuen Paar-Protagonisten, in das ‚Ehepaar‘, und damit in einen neuen Roman transformieren zu können. Jones erkennt in der Lösung von Lucias Keuschheitsgelübde das Zaubermittel von Renzos Geschichte: „[I]l mezzo fatato offerto dal donatore è lo scioglimento di Lucia dal voto di verginità“.294 In Lucias Schauergeschichte sieht sie dann aber 292Vgl.
das Gespräch zwischen Vivaldi und Schedoni am Ende des Romans: Vivaldi fragt: „Did you believe that an anonymous adviser [der von Schedoni geschickte Mönch Nicola di Zampari; Anm. D.S.] could have more influence with me than my affection, or that I could be terrified by such stratagems into a renunciation of its objects?“ Und Schedoni antwortet: „I believed […] that the disinterested advice of a stranger might have some weight on you; but I trusted more to the impression of awe, which the conduct and seeming foreknowledge of that stranger where adapted to inspire in a mind like your’s; and I thus endeavoured to avail myself of your prevailing weakness [nämlich seine „susceptibility“ fürs Abergläubische; Anm. D.S.].“ (Radcliffe, The Italian, S. 397.) 293Verina R. Jones, Le ‚Dark Ladies‘ manzoniane e altri saggi sui „Promessi sposi“, Rom: Salerno Editrice 1998, S. 109–120 („Tra storia, fiaba e romanzo nero: Il viaggio nei Promessi sposi“). 294Ebd., S. 113.
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eine Subversion dieser Märchen-Struktur, wobei ihr die physische Entzauberung der Figur durch die bergamaskischen Landsleute, die partout keine Schönheit in dieser ‚principessa‘ entdecken können, als Hauptargument dient. Ich möchte im Folgenden dagegen argumentieren, wie Märchen und Schauerroman in der zu Recht als zentral erkannten Übergabe-Szene im XXXVI. Kapitel poetologisch fusioniert werden. Der Schauerroman subvertiert die Märchen-Struktur nicht, vielmehr überschreibt oder inkorporiert seine Wirkungsästhetik die des Märchens. Die Innenwelt Lucias, intertextuell auf eine Poetik der Angsterzeugung konzentriert, generiert oder produziert die Außenwelt Renzos, welche dieser wiederum – mit Radcliffes Unterscheidung von psychischem terror und physischem horror zu sprechen – als ‚bloß äußeren‘, sichtbaren Horror der physischen Welt wahrnimmt, als Unrechtsregime (Hunger, Pest und Krieg), gegen das er indessen immun ist, weil er Lucia empfängt. Lucias terror ist der Schlüssel des Romans, der Renzos profane curiositas und seine anti-epischen Revolten hervorbringt oder, theologisierend, rechtfertigt und erlöst. Die symptomatischste Stelle in dieser Hinsicht ist Renzos oben beschriebene Überquerung der Adda: Sein Weg ist permanente Rückwendung, Entfernung von Lucia und Annäherung an die Natur, bis er die Stimme der Geliebten im Mailänder Pestlazarett hört.295 Was hat das alles mit Gertrude zu tun? Und noch einmal die Frage: Was tut Gertrude, wenn sie Lucia verrät? Nun, Gertrude steht zwischen den Welten, zwischen Geschichte und Fiktion, Macht und Ohnmacht, zwischen Unrecht und Recht; der Erzähler bricht ihre Geschichte ab, um ein zweifelhaftes Recht ihres Handelns in den Raum des Romans zu stellen. Das hat dazu geführt, dass viele in ihrer Episode den literarischen Höhepunkt des Romans sehen.296 Und dass sich ihre Figur als ausgelagertes Buch,297 als Oper, Theater und Kino verselbständigt hat. Mit ihrer Beziehung zu Egidio, der „uno de’ più stretti ed intimi colleghi di scelleratezze“ (PS, XX, 341),298 keines Andern als des Innominato ist, stellt Gertrude das Verbindungsglied zu jener Macht dar, der Renzo nie
295Vgl.
seine entscheidende Abwehr des Schreckens bei der Flussüberquerung: „A un certo punto, quell’uggia, quell’orrore indefinito con cui l’animo combatteva da qualche tempo, parve che a un tratto lo soverchiasse. Era per perdersi affatto; ma atterrito, più che d’ogni altra cosa, del suo terrore, richiamò al cuore gli antichi spiriti, e gli comandò che reggesse.“ (PS, XVII, 294; Herv. D.S.) („An einem bestimmten Punkt schien das vage Schaudern, das undeutliche Grauen, mit dem er seit einer Weile kämpfte, ihn zu übermannen. Er war nahe daran, allen Mut zu verlieren, aber noch erschrockener über sein eigenes Erschrecken als über alles andere, rief er sich die alten Lebensgeister ins Herz zurück und befahl ihnen standzuhalten.“ S. 373; Herv. D.S). 296Vgl. z.B. Moravia, „Alessandro Manzoni o l’ipotesi di un realismo cattolico“, S. 326: „La storia della Monaca di Monza fu sempre giustamente lodata come una delle parti più belle de I Promessi Sposi“. – Allerdings schreibt Moravia diese Schönheit als Korruption und Dekadenz fest. 297Vgl. die entsprechenden Kapitel aus Fermo e Lucia als Roman auf Deutsch: Alessandro Manzoni, Die Nonne von Monza, übers. von Heinz Riedt, München: Nymphenburger Verlagsanstalt 1966. 298„einer der engsten und vertrautesten Spießgesellen des Ungenannten“ (S. 433).
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begegnet und an die Lucia ausgeliefert wird. Bei ihrer Begegnung mit Lucia ist wichtig, dass eine Diskrepanz in der Informiertheit entsteht: Lucia weiß nicht, ‚wem‘ sie begegnet, während der Leser ihr Mysterium als fehlgeleitete sexuelle Potenz – und ungebüßte Schuld – eröffnet bekommt. Während nach der Trennung des Paares Renzos Geschichte realistisch erzählt und im gleichen Zug als ‚Märchen‘ (bloßer Text, écriture) profaniert wird, ist Lucias Geschichte ein phantastisch-allegorischer Roman, der als wahre Fiktion und reine parole sakralisiert wird.299 Gertrude eröffnet diese terrorist novel, wenn sie Lucia an die Bravi des Innominato ausliefert. Dabei wird die Spannung weniger dadurch gesteigert, dass der Leser sich nun ängstlich fragt, was mit Lucia passieren wird. Gesteigert, ja erzeugt wird die Spannung dadurch, dass sich mit dem Flashback von Gertrudes Geschichte unheimliche Ähnlichkeiten und Differenzen zu Lucia ergeben, so dass die Frage, die sich auftut, lautet: Was wird Lucia – im Gegensatz oder in Analogie zu Gertrude – tun? Fermo e Lucia weist diesen Chiasmus noch stärker in der vierbändigen Makrostruktur des Romans auf, welche in den Promessi sposi zugunsten der Paar-Equilibrierung aufgegeben wird. Das Ähnlichkeits- und Differenzverhältnis beginnt mit der minutiös konstruierten Parallelität der beiden Figurenporträts, die ganz auf die Frage konzentriert ist, worin eigentlich Lucias Hochzeitsschmuck, ihre ‚Bräutlichkeit‘, besteht.300 Lucia wird folgermaßen im II. Kapitel eingeführt: Lucia usciva in quel momento tutta attillata dalle mani della madre. Le amiche si rubavano la sposa, e le facevan forza perchè si lasciasse vedere; e lei s’andava
299Im
Sinne der in Del romanzo storico vorgetragenen Maxime „il vero solo è bello“: „L’arte è arte in quanto produce, non un effetto qualunque, ma un effetto definitivo. E, intesa in questo senso, è non solo sensata, ma profonda quella sentenza, che il vero solo è bello; giacchè il verosimile (materia dell’arte) manifestato e appreso come verosimile (materia dell’arte) manifestato e appreso come verosimile, è un vero, diverso bensì, anzi diversissimo dal reale, mau n vero veduto dalla mente per sempre o, per parlar con più precisione, irrevocabilmente: è un oggetto che può bensì esserle trafugato dalla dimenticanza, ma che non può essere distrutto dal disinganno.“ (Manzoni, Del romanzo storico, S. 298 f.) („Kunst ist Kunst, insofern sie nicht irgendeine Wirkung, sondern eine endgültige Wirkung hervorruft. Und in diesem Sinne verstanden ist die Redensart, ‚bloß das Wahrhafte sei schön‘, nicht allein vernünftig, sondern von tiefer Wahrheit – denn das Wahrscheinliche (in Sachen der Kunst), das als wahrscheinlich kenntlich gemacht und aufgefaßt worden ist, ist ein Wahrhaftes, das zwar von dem Wirklichen verschieden, sogar sehr verschieden ist, aber doch ein Wahrhaftes, das der Geist für immer oder, um genauer zu sprechen, in unwiderruflicher Weise erschaut hat; es ist ein Gegenstand, der wohl durch Vergessen verloren gehen, nicht aber durch bessere Erkenntnis zerstört werden kann.“ Übers. Arens, S. 357.) 300Vgl. hierzu vor allem Verina R. Jones, „Manzoni’s Dark Ladies“, Romance Studies 19 (1991), 37–52 (auf Italienisch in: Dies., Le Dark Ladies manzoniane, Kap. VII, S. 90–108); und dies., „Lucia and her Sisters: Women in Alessandro Manzoni’s I promessi sposi“, in: Zygmunt G. Barański, Shirley W. Vinall (Hg.), Women and Italy. Essays on Gender, Culture, and History, New York: St. Martin’s Press 1991, S. 209–223. – Die Argumentation zielt auf eine Mythologisierung und katholische Ideologisierung Lucias (qua Annäherung an Borromeo), die nicht zuletzt durch negative Frauenfiguren verstärkt würden. Neben Gertrude wird die plündernde Frau in Mailand erwähnt, die mit dem geklauten Mehl diabolisch schwanger geht, sowie Tonis Gattin, die als Lügnerin profiliert wird, nur um Lucias (kurz zuvor erwähnte) Aufrichtigkeit deutlicher zutage treten zu lassen.
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schermendo, con quella modestia un po’ guerriera delle contadine, facendosi scudo alla faccia col gomito, chinandola sul busto, e aggrottando i lunghi e neri sopraccigli, mentre però la bocca s’apriva al sorriso. I neri e giovanili capelli, spartiti sopra la fronte, con una bianca e sottile dirizzatura, si ravvolgevan, dietro il capo, in cerchi moltiplici di trecce, trapassate da lunghi spilli d’argento, che si dividevano all’intorno, quasi a guisa de’ raggi d’un’aureola, come ancora usano le contadine nel Milanese. Intorno al collo aveva un vezzo di granati alternati con bottoni d’oro a filigrana: portava un bel busto di broccato a fiori, con le maniche separate e allacciate da bei nastri: una corta gonnella di filaticcio di seta, a pieghe fitte e minute, due calze vermiglie, due pianelle, di seta anche’esse, a ricami. Oltre a questo, ch’era l’ornamento particolare del giorno delle nozze, Lucia aveva quello quotidiano d’una modesta bellezza, rivelata allora e accresciuta dalle varie affezioni che le si dipingevan sul viso: una gioia temperata da un turbamento leggiero, quel placido accoramento che si mostra di quand’in quando sul volto delle spose, e, senza scompor la bellezza, le dà un carattere particolare. (PS, II, 38)301
Im Gegensatz zu Gertrudes berühmter verfallener, verblühter Schönheit („bellezza sbattuta, sfiorita e […] scomposta“, PS, IX, 149) ist Lucia von einer „modesta bellezza“. Auf ihrem Antlitz („viso“) zeichnen sich „varie affezioni“ ab: gemäßigte Freude, leichte Unruhe, stille Betrübnis – Gefühle, welche ihre Schönheit nicht beeinträchtigen („senza scompor la bellezza“). So stehen sich gefasste, geordnete und aufgebrochene, ungeordnete Schönheit gegenüber. Lucias Gefühle haben ein Pendant in Gertrudes Affekt heischendem Blick, dessen Beschreibung bei Lucia ganz ausgespart wird. Gertrudes Blick oszilliert zwischen durchdringender „investigazione superba“ und ausweichendem Wegschauen. Lucia dagegen schützt ihren Blick, indem sie den Ellenbogen vors Gesicht hält („facendosi scudo alla faccia col gomito“). Während Gertrudes Blick keine eindeutige Zielrichtung hat, stellt sich bei Lucia die Frage, ob sie und wie sie jemanden sehen wird. Lucias „carattere particolare“ hat in der Beschreibung Gertrudes als „monaca singolare“ ein Echo. Ihre Besonderheit wird durch ihren Gesichtsausdruck verstärkt und bildet, so wird betont, keinen Kontrast zu ihrem
301„Lucia trat gerade aus der Tür, festlich herausgeputzt von ihrer Mutter. Die Freundinnen umdrängten sie und stießen einander beiseite, um sie zu sehen, und sie wehrte sich gegen den Andrang mit der etwas schroffen Bescheidenheit der Bäuerinnen, indem sie sich die Ellbogen schützend vor das Gesicht hielt, den Kopf auf die Brust senkte und die langen schwarzen Brauen zusammenzog, während der Mund sich jedoch zu einem Lächeln öffnete. Das dichte schwarze Haar war über der Stirn durch einen feinen weißen Scheitel geteilt und am Hinterkopf kunstvoll in mehrfachen Flechten verschlungen, in denen lange silberne Nadeln staken, die fast wie die Strahlen einer Aureole den Kopf umstanden, ein bei den Bäuerinnen im Mailändischen noch heute üblicher Schmuck. Um die Hals trug sie ein Band mit Granatsteinen und Goldfiligrankugeln, darunter ein Mieder aus geblümtem Brokat, dessen Ärmel geteilt und mit schönen Bändern geschmückt waren, einen knielangen Faltenrock aus Florettseide, rote Strümpfe und bestickte, ebenfalls seidene Schuhe. Außer diesem besonderen Schmuck des Hochzeitstages hatte Lucia noch den alltäglichen einer unaufdringlichen Schönheit, die jedoch nun hervorgehoben und gesteigert wurde durch die verschiedenen Gefühle, die sich auf ihrem Antlitz malten: Freude, gedämpft durch eine leichte Unruhe und jene stille Traurigkeit, die sich hin und wieder auf den Gesichtern von Bräuten zeigt und ihnen, ohne ihre Schönheit zu schmälern, einen besonderen Charakter verleiht.“ (S. 52)
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Hochzeitsschmuck, zum „ornamento particolare del giorno delle nozze“.302 Gertrudes Singularität dagegen entsteht, wie bereits gesehen, vor allem durch den Kontrast zu ihrem Klosterhabit. Die Ordnung ihres „vestire“ wird von innen und außen gesprengt: Ihre schwarzen Haare schauen hervor (wohingegen Lucias ebenso schwarzen Haare kunstvoll gescheitelt und geflochten sind) und ihre Taille ist auf weltliche Art geschnürt.303 Wenn Lucia mit den Worten „usciva in quel momento tutta attillata dalle mani della madre“ (Herv. D. S.) eingeführt, der Hochzeitschmuck also auf die Mutter zurückgeführt wird, verweist Gertrudes Taille („la vita attillata con una certa cura secolaresca“, PS, IX, 150, Herv. D. S.) demgegenüber subtil auf die Gewaltausübung des Vaters. Lucia und Gertrude sind wie zwei Päckchen: das eine noch unangetastet, schön verpackt und einen schönen Inhalt versprechend; das andere, schon aufgerissen und wieder zusammengeschnürt, mit Spuren eines Inhalts, den man lieber nicht haben will. Für den Leser, der diese beiden bis ins letzte Detail analogen Portraits liest, wird Lucia spätestens jetzt zu einem Geheimnis: Worin besteht Lucias Schönheit? Wovor schützt sie sich? Wen schaut sie (nicht) an? Welchem terrore ist sie ausgeliefert? Alessandro Bosco hat mit Verve gegen die vermeintliche Unschuld und Keuschheit Lucias angeschrieben und argumentiert, dass Manzoni die Figur im Sinne von Foucaults Sexualitätsdispositiv sexualisiere. Er betont „l’importanza dell’elemento sessuale per la decifrazione del personaggio“, zeigt den erotischen Subtext auf, der beide Figuren verbinde, und sieht in Lucias Keuschheitsgelübde nichts Anderes als das Geständnis ihrer weiblichen Sexualität.304 Damit widerspricht er zu Recht der hartnäckig in der Kritik sich haltenden Meinung, Gertrude und Lucia verkörperten zwei konträre ‚Weiblichkeiten‘: ‚eros‘ einerseits
302Verina
Jones macht darauf aufmerksam, dass in Lucias bäuerlichem Brautschmuck auf Carlo Portas Tetton (‚Großbusige‘), Geliebte des Schuhflickers Marchionn, gekappt um die erotischen Implikationen, angespielt wird. In der Verbindung des biblischen Intertexts („nigra sum sed formosa“, Hld. 1, 4) mit Portas realistischer und anti-petrarkistischer Liebeslyrik sieht sie eine Herausforderung des literarischen Kanons (nach dem Lucia blond sein müsste). Gertrude hingegen sei dem Kanon entsprechend als femme fatale modelliert. (Jones, „Manzoni’s Dark Ladies“, S. 48 f.) 303Vgl. PS, IX, 150: „Nel vestire stesso c’era qua e là qualcosa di studiato o di negletto, che annunziava una monaca singolare: la vita era attillata con una certa cura secolaresca, e dalla benda usciva sur una tempia una ciocchettina di neri capelli; cosa che dimostrava o dimenticanza o disprezzo della regola che prescriveva di tenerli sempre corti, da quando erano stati tagliati, nella cerimonia solenne del vestimento.“ („Sogar in der Kleidung lag hier und da etwas Gesuchtes oder Nachlässiges, das auf eine recht eigenwillige Nonne hindeutete: Die Taille war mit einer fast mondänen Sorgfalt geschnürt, und vom Stirnband fiel eine schwarze Locke auf die Schläfe, was entweder Unachtsamkeit oder Mißachtung der Regel verriet, da diese vorschrieb, das Haar stets kurz zu tragen, nachdem es bei der feierlichen Einkleidungszeremonie geschoren worden war.“ S. 192) 304Alessandro Bosco, „Il segreto di Lucia“, in: Tatiana Crivelli (Hg.), Selvagge e Angeliche. Personaggi femminili della tradizione letteraria italiana“, Leonforte: Insula 2007, S. 165–180; hier: S. 168. Ferner: Ders., Il romanzo indiscreto. Epistemologia del privato nei Promessi Sposi, Macerata: Quodlibet 2013.
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und ‚pudore‘ andererseits.305 Allerdings ist nicht ausgemacht, dass diese Sexualisierung, wie Bosco weiter mit Foucault argumentiert, als Affirmation von bürgerlichen und familienideologischen Zwecken erklärt werden muss. Gertrude und Lucia figurieren nicht Hysterikerin und treue Gattin, sondern eine Macht, die die männliche Hegemonie außer Kraft setzt – Gertrude im Kloster als Macht des Unrechts, Lucia ‚draußen‘ als Macht eines gerechten Rechts.306 In der Konfrontation mit Gertrude wird Lucia von Angst in Schrecken versetzt. Und damit beginnt ihr Prozess der ‚Konversion‘, denn die Angst, symbolisiert in der ostentativ abwehrenden Geste ihres Arms, ist – analog zu Renzos Wut – ihr Hauptproblem. Seit Don Rodrigo versucht hat, sie auf dem Weg zur Spinnerei zu verführen, um die Wette mit seinem Vetter Attilio zu gewinnen, ist diese Angst ihre Begleiterin. Seit diesem Moment vermeidet sie es, alleine zu sein, denn „le strade mi facevan tanta paura“ (PS, III, 41; „[sie] hatte […] solche Angst vor den Straßen“, S. 56). In Lucias Geschichte geht es darum, diese Angst, mit Rudolf Otto, in ein mysterium tremendum et fascinans umzuwandeln.307 Lucia teilt diese Angst, „peccato carnale proprio del corpo“,308 mit Gertrude, die entweder aus Angst vor dem Vater oder Angst vor Egidio handelt. In ihren gemeinsamen Gesprächen kommen sie dem aufzusuchenden Grund dieser Angst sehr nahe. So entsteht im Kloster von Monza – während Don Rodrigo den Innominato um Hilfe bittet, Lucia zu entführen, und während Renzo in Mailand zu einem gesuchten Verbrecher wird – eine zerbrechliche Freundschaft zwischen den beiden Frauen. Gertrude lässt Lucia in ihr Sprechzimmer kommen, um sich von ihr trösten zu lassen und um ihrerseits Trost zu spenden. Sie teilen ihr Schicksal, Leidende zu sein. Weil Gertrude weiß, dass Lucia von Don Rodrigo verfolgt wird, traut sie sich, ihr den ‚reinen‘ Teil ihrer Verfolgungsgeschichte („una parte (la parte netta)“, PS, XVIII, 313) zu erzählen, d. h. wie sie vom Vater zum Klostereintritt gewungen wurde. Für Lucia erklärt sich damit das seltsame Verhalten der Nonne. Sie reagiert mit Mitleid, traut sich aber nicht, auf die ‚neugierigen Fragen‘ Gertrudes zu Don Rodrigos Verführungen einzugehen:
305So
der Kommentar von Raimondi/Bottoni in Manzoni, I promessi sposi, S. 199 und – in Bezug auf die Gespräche zwischen Gertrude und Lucia, auf die ich gleich eingehe – S. 337. 306Bosco liest nur Lucia ‚mit Foucault‘, nicht aber Renzo. Täte er das, würde er auf die fundamentale Ohnmacht der männlichen Hauptfigur stoßen. Da er aber dessen (politische, ökonomische) Handlungsfähigkeit nicht in Frage stellt, kommt er zum Ergebnis, dass es Lucia als innere Moralinstanz ist, die Renzos zukunftsoffenes, universelles Expansionsprojekt ‚bremst‘ und in nationale Schranken verweist. Damit macht er den Roman zu der Nationalfiktion, die der Text doch immer schon sprengt, und beachtet zu wenig, dass Manzonis Epistemologie des Privaten zugleich eine Epistemologie des Öffentlichen ist. (Vgl. das Kapitel „Alle frontiere dei Promessi sposi. L’idillio impossibile e la nazione“, in: Bosco, Il romanzo indiscreto, S. 205–228.) 307Vgl. OMC, XII, 137 f., wo Paulus an die Philipper (Phil 2, 12) zitiert wird: „La Chiesa non consiglia la speranza, ma la comanda. Essa dice a tutti di operare la salute con timore e tremore […]; ma dice anche che Dio è fedele, e non permetterà che sieno tentati oltre il loro potere [Kor 10, 13].“ 308Ezio Raimondi, Il romanzo senza idillio, S. 189.
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Si schermiva anche, quanto poteva, dal rispondere alle domande curiose di quella, sulla storia antecedente alla promessa […]. Era perchè alla povera innocente quella storia pareva più spinosa, più difficile da raccontarsi, di tutte quelle che aveva sentite, e che credesse di poter sentire dalla signora. In queste c’era tirannia, insidie, patimenti; cose brutte e dolorose, ma che pur si potevan nominare: nella sua c’era mescolato per tutto un sentimento, una parola, che non le pareva possibile di proferire, parlando di sè; e alla quale non avrebbe mai trovato da sostituire una perifrasi che non le paresse sfacciata: l’amore! (PS, XVIII, 313)309
Hier fällt das unaussprechbare Wort, das der Erzähler von Fermo e Lucia ausdrücklich aus dem Roman verbannen will, mit großem Ausdruck: „amore“ mit Ausrufezeichen. Die bemerkenswerte Stelle ersetzt und konzentriert die Gespräche über Don Rodrigos Nachstellungen, die dort noch ausführlicher geschildert werden.310 Nun ist überhaupt nicht ausgemacht, wie die Kritik das überwiegend behauptet, dass Lucia zu Recht schweigt, während Gertrude eine schuldhafte curiositas an den Tag legt. Vielmehr handelt es sich schlicht um ein intimes Gespräch, in dessen Zentrum eine beiderseits unausgesprochene Liebe steht. Gertrudes Neugier muss nicht durch eine perverse Erotik motiviert sein (was für eine Lust sollten ihr Lucias Bekenntnisse denn verschaffen?), viel naheliegender scheint ein Drang nach Selbsterkenntnis:311 Sie erkennt, dass Lucia ihrem Verführer widerstanden hat und immer noch am Neinsagen ist, während sie ein fatales Ja ausgesprochen hat. Also will sie von Lucia wissen, wie sie das gemacht hat bzw. wie sie das macht. Was in Fermo e Lucia als einziges, langes und erstes Gespräch geschildert ist, wird in den Promessi sposi zu einem dauerhaften Verhältnis verstetigt, so als kreisten ihre Gespräche permanent um das ausgesparte Thema der Liebe. Während sich Gertrude meist von Lucias „amorevolezza“ trösten lässt, missfällt ihr ihre Scham („pudore“) manchmal umso mehr, so heißt es weiter im Text, „per un altro verso“ (PS, XVIII, 313; „aus einem anderen Grunde“, S. 398). Welchen anderen Grund sollte das Missfallen haben als jenen, das abweichende Verhalten verstehen zu wollen? Nun gibt Lucia das Geheimnnis ihres Neinsagens nicht preis und gerät damit selbst in Verdacht, jemandem etwas zu schulden. Sie verharrt in ihrem Schutz – in „[s]i schermiva“
309„Sie vermied auch, so gut sie konnte, auf Gertrudes neugierige Fragen über die Vorgeschichte ihrer Verlobung zu antworten […]: Der armen Unschuld erschien diese Geschichte peinlicher und schwieriger zu erzählen als alles, was sie von der Signora gehört hatte und jemals glaubte hören zu können. Die Geschichten der Signora handelten von Tyrannei, Arglist und Leiden, von häßlichen und schmerzhaften Dingen, über die man jedoch sprechen konnte; durch ihre Geschichte zog sich ein Thema, ein Gefühl, ein Wort, das ihr, wenn sie von sich sprach, unaussprechlich erschien und für das sie nie eine Umschreibung gefunden hätte, die ihr nicht schamlos vorgekommen wäre: Liebe!“ (S. 397) 310Vgl. FL, II, VI, 226–230. 311Auf diesen Grund von Gertrudes Neugierde hat Enzo N. Girardi hingewiesen. Sie offenbare „un bisogno di ripercorrere nella storia di un’altra, innocente, la sua stessa storia, forse nell’inconscia speranza di individuare il punto esatto del loro divergere: l’uno verso il rifiuto reciso, l’altra verso l’accettazione progressiva del male.“ Frare zitiert diese „intuizione“ Girardis in einer Fußnote, „che non ha avuto il rilievo che a me [Frare; D.S.] pare meriti“. (Alessandro Manzoni, I promessi sposi, hg. Enzo N. Girardi, Turin: Petrini 1982, S. 153; zit. in: Frare, Il potere della parola, S. 69.)
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wird das „s’andava schermendo“ ihres ersten Auftritts aufgegriffen – und in der Unmöglichkeit, über sich selbst zu sprechen. Der „povera innocenza“ scheint ihre Geschichte zu ‚dornig‘ („spinosa“), in ihrem ‚parlare di sè‘ spart sie das Wichtigste aus und ihr Schutz wird als defiziente Selbsterkenntnis lesbar. Paolo Valesio überträgt, von Lucias ‚schermirsi‘ und der zitierten Stelle zur ausgesparten Liebe ausgehend, die rhetorische Strategie der ‚reticentia‘ Lucias auf den Erzähler und Romanschreiber und macht ihm daraus den Vorwurf, an der Herausforderung des Liebesromans gescheitert zu sein: „Avendo evocato un contesto cristiano, l’autore poi se ne schermisce, poiché non affronta in esso l’azione dell’amore, come nesso/ duello di Eros e Agape. […] [L’]autore non si confronta / scontra con il tema dell’amore colpevole“.312 Valesio stellt dieses Scheitern mit Bitternis fest, weil Manzonis Roman in seiner ‚Abschirmung‘ von der erotischen Liebe die ganze italienische Literatur des 19. Jahrhunderts (und darüber hinaus) gespalten habe: „Ecco la ferita, o fenditura, che segna la tentazione tragica (la tentazione del rifiuto, del ritrarsi) nella narrativa italiana.“313 Es ist, als werfe er dem Roman einen Vertragsbruch vor, der das Gemeinschaftsversprechen der Liebe zerstört. Zwar ist richtig, dass die Promessi sposi ihre ganze Wirkung vor dem Hintergrund des Auslassens des sexuellen Liebesaktes entfalten. Aber muss man darin, statt Weigerung und Rückzug, nicht den schärfsten Angriff überhaupt auf das Gegensatzpaar von Eros und Agape sehen? Gegen die Anklage eines Risses kann eigentlich nur eine Lektüre helfen, die nicht nur den Schließungen, sondern auch den Öffnungen (dem ‚Versprechen‘) des Textes nachgeht. Die Begegnung zwischen Lucia und Gertrude stellt dabei eine Scharnierstelle dar. In dieser Begegnung, so suggeriert der Text, entsteht für Lucia eine Notwendigkeit zu sprechen, d. h. ihre Liebespotenz zu aktuieren.
Lucias voto. Konversion als Irrtum Nicht nur in der gerade zitierten Stelle über die Gespräche der beiden Frauen wird Lucia als „povera innocenza“ bezeichnet. Von Romanbeginn an ist Lucia ein Aushängeschild des Topos der verfolgten Unschuld. Aber warum soll Lucia unschuldig sein? Vor dem Hintergrund der pessimistischen Anthropologie, die in Manzonis Texten allenthalben zum Ausdruck kommt, ist die Frage mehr als berechtigt.314 312Valesio,
„Lucia, ovvero la ‚reticentia‘“, S. 155 und S. 157 – Einspruch gegen Valesio erhebt der manzonista Giorgio Petrocchi, „Postille per Lucia“, Filologia e critica 13 (1988), S. 425–428. 313Ebd., S. 170. – Die harte Disqualifizierung des Textes erinnert stark an Franco Corderos Sanktion der Colonna Infame. Manzoni polarisiert, weil er an der Grenze zwischen Literatur und anderen Diskursen operiert. 314Auch Schulze, „Alessandro Manzonis verfolgte Unschuld“, fragt nach dem Grund für Lucias Unschuld, allerdings nicht in einem a nthropologisch-rechtlichen Kontext. Er weist darauf hin, dass das (Radcliffe’sche) Motiv die Abwandlung des Scott’schen mittleren Helden zum niedrigen Heldenpaar ermögliche (in Anlehnung an Augustin Thierrys Zwei-Völkertheorie). Das ist, wie ich glaube, richtig. Aber dass Manzoni Lucia deshalb so insistent als ‚povera innocenza‘ markiere, um damit den idyllischen Intertext der Pastorale abzuwehren, scheint mir eine unbefriedigende Antwort, zumal die Problematik der Idylle so oder so bestehen bleibt.
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Hellmuth Petriconi hat in Die verführte Unschuld in einem großen Bogen von Lucretia und Verginia bis zum Gretchen Fausts einen entscheidenden diskursiven Umbruch in der Topik ausgemacht: Erst mit der Säkularisierung und näherhin mit Rousseau und Richardson werde die Unschuld der Jungfrau zu einem physischen und moralischen Attribut; erst in der Aufklärung werde aus einem politischen (oder komischen) Motiv ein Instrument bürgerlicher Sozialdisziplinierung.315 Manzoni scheint durch Renzo und Lucia den gleichen großen Bogen zu vollziehen, was allerdings nicht ohne Brüche und Probleme funktioniert. Er knüpft einerseits an das antike und vormoderne Paradigma an, nach dem die illegitime Verführung einer Frau – nachträglich – den Umsturz der politischen und/oder rechtlichen Ordnung legitimieren soll; andererseits sexualisiert er Lucias ‚Unschuld‘, die sich als physische und tugendhafte erst erweisen muss. In Del romanzo storico rekapituliert Manzoni die Wirksamkeit vor allem des römischen Modells: C’era, tanto nell’epoca greca, quanto nella latina, una donna, cagione, in quella, d’un grande avvenimento, in questa d’una gran mutazione. […] Lucrezia, matrona, moglie d’uno de’ patrizi romani […] formanti una perpetua unità dominatrice, era la vittima per cui rimaneva santificato il passagio dall’aristocrazia coi consoli: e non era una memoria a abbandonarsi all’arbitrio fecondo delle fantasie.316
Manzoni attestiert den Römern ein wirksames, aber leider ungerechtes kollektives Gedächtnis: Die Herrschaft basiert auf dem Opfer der Frau, aber die Lucia seines Romans darf auf keinen Fall geopfert werden: Sie wird weder vergewaltigt noch begeht sie Selbstmord wie Lucrezia noch wird sie vom Vater getötet wie Verginia, in deren Opfertod der gewaltsame Geburtsakt des römischen Rechtssystems entsühnt wird.317 Lucia soll es außerdem anders machen als Gertrude, die fast einer patria potestas geopfert wird. Gleichzeitig wirft der Vergleich mit Rom die Frage auf, welche Gemeinschaft, welche „perpetua unità dominatrice“ Manzonis Roman eigentlich vor Augen hat. Und hier kommt man auf keine andere ‚Herrschaftseinheit‘ als das Ehepaar, alles andere – Italien, Nation, Kirche, Republik oder Monarchie – bleibt Versprechen. Das letzte Romankapitel ist in dieser Hinsicht unmissverständlich: Die dortige E xil-Gemeinschaft besteht aus dem oikos Renzos und Lucias und aus neidischen Nachbarn; eine darüber hinausgehende Einheit ist nicht in Sicht: kein Pfarrer, keine Kirche, keine Justiz, weder ein Nominato noch
315Hellmuth
Petriconi, Die verführte Unschuld, Hamburg: De Gruyter & Co 1953. Del romanzo storico, S. 322. („Sowohl im griechischen wie im lateinischen Epos war eine Frau Ursache, hier eines großen Ereignisses, dort einer großen Veränderung. […] Die „matrona“ Lucrezia […], Frau eines der römischen Patrizier, die […] eine dauernde Herrschaftseinheit bildeten, war das Opfer, durch das der Übergang von einer Adelsherrschaft mit Königen zu der absoluteren Adelsherrschaft der Konsuln geheiligt blieb – und dies war keine Überlieferung, die man der furchtbaren Willkür der Einbildungskraft freigeben konnte.“ Übers. Arens, S. 390) 317Vgl. hierzu Marie Theres Fögen, Römische Rechtsgeschichten. Über Ursprung und Evolution eines sozialen Systems, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 22003 (2002), S. 61–124 („Verginia – Appius Claudius Decemvir. Vom Ursprung des Rechts“). 316Manzoni,
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ein Innominato. Die Rechtsfigur der Ehe ist irreduzibel oder, wie Manzoni wahrscheinlich sagen würde, sie lässt sich nicht als Geschichte, ‚storia‘, darstellen. Es geht nicht, wie in der römischen Geschichte, um eine nachträgliche Begründung der Gemeinschaft, sondern um eine Gründung im Hier und Jetzt. Aber wie jede Gründung kommt auch diese nicht ohne Gewalt aus. An die Stelle des einen Helden treten zwei Helden, Junge und Mädchen vom Dorf, ‚gente di nessuno‘. Unschuldig sind sie eigentlich beide, was sich auch darin zeigt, wie Renzo zu einer buchstäblich von der Justiz verfolgten Unschuld wird. So spricht Padre Cristoforo in seinem Gespräch mit Don Rodrigo einmal auch von „due innocenti“ (PS, VI, 88; „zwei Unschuldige“, S. 116), wenngleich das Epitheton sonst Lucia vorbehalten ist.318 Aber entgegen dem konsensuellen Prinzip der Eheschließung fällt bei Renzo das Ja als rechtskonstitutiver Akt aus. Psychoanalytisch gesprochen versagt bei ihm die Verschiebung des Triebziels: Statt das sakramentale Gesetz der Ehe zu sanktionieren, unterwirft er sich, selbst ganz Natur, einer bloßen Natur. Nachdem die ‚unschuldige‘ Einheit des Paares so im Lauf des Romans zugunsten einer Prädominanz der weiblichen Figur gespalten wird, hängt der gewaltsame Akt der figuralen (Ehe-) Rechtsbegründung wesentlich am Ja Lucias. Genau hier greift der Roman auf die moderne Variante des Topos’ der verfolgten Unschuld zurück, die sich sexuell und moralisch (bzw. rechtlich und religiös) bewähren – und befreien – muss. Dabei liefert nicht der Horror physischer Gewalt, in den Rousseaus oder Richardsons Heldinnen geschickt werden, das Vorbild (Verzicht, Vergewaltigung, Anorexie und/oder Tod), sondern der terrore der Radcliffe’schen Heldinnen, der sich am Ende in eine ebenso vernünftige wie glückliche Ehe auflöst. Wie der Roman das Paar spaltet, spaltet er auch, eskalierend, seinen Antagonisten und ‚Rechtsanfechter‘: Für Renzo wird aus der Bedrohung Don Rodrigos (gegen den er aufgrund des Standesunterschieds ohnehin keine Chance hätte) zuerst eine Anfechtung durch die anonyme Institution der Justiz und dann eine Anfechtung durch eine pestverseuchte Natur. Für Lucia hingegen steigert sich die Anfechtung von Don Rodrigo über den Innominato (der in exakter Analogie zu Renzo ein ‚namenloses‘ Unrecht personifiziert) bis zu einer – schaurig-schrecklichen – Verführung durch die Religion.319 Schematisch sieht der asymmetrische Rechtskampf, den der Roman inszeniert, so aus:
318Lucia wird im Roman achtmal als „povera innocente“ bezeichnet und fünfmal als „innocente“. Vgl. die Online-Konkordanz der Promessi sposi, II Edizione Intra Text CT, Èulogos 2007 (zit. nach: http://www.intratext.com; 26.02.2016). 319Die Verdoppelung Don Rodrigo – Innominato wird immer wieder angesprochen in der Kritik, aber nicht wirklich erklärt. Macchia spricht von einer digressiven Auflösung des Don Giovanni-Motivs bei Manzoni, ohne eine Persistenz (oder Latenz) des Themas im Roman selbst zu behaupten: „Il terzetto Don Giovanni, Zerlina, Masetto (un aristocratico e due contadini, promessi sposi) corrisponde perfettamente a quello di Don Rodrigo, Lucia, Renzo. Ma come il paesaggio è cambiato! […] Il rapimento di Lucia è la trama di un oscuro complotto, è un ,tristo piano‘ cui partecipano tanti personaggi, quasi si trattasse di rapire un grande di Spagna. La sala illuminata per una gran festa è divenuta un monastero, come nei romanzi neri.“ (Macchia, Tra Don Giovanni e Don Rodrigo, S. 16.)
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Lucias Verführung durch die Religion, die einer irrtümlichen Konversion gleichkommt, ist der letzte Teil meiner Ehegeschichte der Promessi sposi gewidmet. Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Lucia von Anfang an als „povera innocente“ bezeichnet wird: Das Epitheton markiert weniger ein Tugend- als ein Rechtsideal.320 Unschuldig ist Lucia nicht, weil sich der ‚Falsche‘ ihrer Sexualität ermächtigen will, sondern weil sich in ihrer sexuellen, weiblichen Unschuld das Recht selbst verbirgt. „Wer von euch ohne Sünde ist, werfe als erster einen Stein auf sie“, heißt es bei Johannes (Joh 8, 7); auf eine solche Unschuld, Sündenlosigkeit, die es erlaubt, Recht zu sprechen und zu urteilen, zielt Lucias sublime und sublimierte Sexualität. Konversion des Innominato und Lucias ‚voto‘ gehen Hand in Hand. Nach ungefähr einem Monat Aufenthalt im Kloster, wird Lucia vom Hauptbravo des Innominato, dem Nibbio, in einer Kutsche auf dessen Burg entführt (XX. Kapitel). Dort trifft sie auf eine diabolische Figur außerhalb des Rechts. In Fermo e Lucia noch als Conte del Sagrato und historische Figur markiert, bleiben in der Endfassung zwar die Hinweise des Erzählers auf historische Quellen bestehen, aber der Graf wird titel- und namenlos, eine mythische Tyrannei des Rechtlosen, die im Roman auf wundersame, ‚providentielle‘ Weise konvertiert wird.321 Ripamonti zitierend, führt der Erzähler den Innominato als jemanden ein, der „essendo de’ primi tra i grandi della città, aveva stabilita la sua dimora in una campagna, situata sul confine; e lì, assicurandosi a forza di delitti, teneva per niente i giudizi, i giudici, ogni magistratura, la sovranità“ (PS, XIX, 333).322 Der Namenlose ist unbelangbar und unberechenbar, mal setzt er sich für jene ein, die im Unrecht
320Vgl. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink, „Die verfolgte Unschuld und ihre Advokaten – zur Rhetorik und öffentlichen Wirkung empfindsamer Rede im Frankreich des 18. Jahrhunderts“, in: Klaus P. Hansen (Hg.), Empfindsamkeiten, Passau: Wissenschaftsverlag Richard Rothe 1990, S. 121–135, der den juridischen Kontext des Topos’ aufarbeitet und dabei auf die nicht weniger interessante Figur des „avocat sensible“ stößt. Dabei stehen die „Mémoires judiciaires“ im Zentrum, mit denen Rechtsanwälte, Juristen und Schriftsteller die Rehabilitierung von Justizopfern (nicht selten gefallenen (Haus-)Mädchen) betrieben. Zahlreiche Aufklärer, darunter Voltaire („Affaire Calas“), Diderot (La Religieuse), Robespierre („Affaire Cléreaux“), haben so ihren Ruf als „défenseurs de l’innocence opprimée“ befestigt. 321Die Kritik hat Francesco Bernardino Visconti identifiziert, der seinem verbrecherischen Lebenswandel – vielleicht, weil er irgendwann auf Kardinal Borromeo gestoßen ist – abgeschworen haben soll (vgl. die Hinweise hierzu in Manzoni, I Promessi Sposi, hg. Stella/ Repossi, S. 868 f.). Im Roman nennt der Erzähler Rivolas Vita di Federico Borromeo und Ripamontis Historia patriae als Quelle. 322„[Jemand, der; Anm. D.S.] wiewohl einer der ersten unter den Großen der Stadt, sein Domizil auf dem Lande errichtet hatte, auf einem Berg an der Grenze; und der dort, verschanzt und seine Macht durch Verbrechen befestigend, Gerichtsurteile und Richter, Behörden und den Souverän mißachtete“ (S. 422).
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sind und durch ihn Recht erlangen, mal für jene, die Recht haben und keinen anderen Fürsprecher als ihn haben. Seine Burg steht „sul confine“, zwischen Mailand und Venedig, das ist wichtig, wie Manzoni in einem Brief an Cantù festhält.323 Während also Renzo nach seiner Mailänder Festnahme in ein geographisches Exil nach Bergamo flüchtet, wird Lucia in ein juridisches Exil entführt. Auf dem einzigen Weg durch das Tal, das zur Burg des Innominato führt, passiert man ein Wirtshaus („una taverna“), auf dessen Wirtshausschild vorne und hinten eine Sonne prangt, welches aber trotzdem von allen nur das Wirtshaus „Malanotte“ genannt wird. Es bildet damit den Gegensatz zur Mailänder „Osteria della luna piena“, in der Renzo sich den ersten Rausch seines Lebens holt. Lucia wird das Lokal „Malanotte“ natürlich nicht betreten und irgendwie davonkommen; sie erlebt die böse Nacht in ihrem Inneren. Als Don Rodrigo (im XX. Kapitel) den Innominato mit der Bitte aufsucht, die Entführung in die Hand zu nehmen, notiert dieser sich rasch Lucias Name auf einem Zettel – ganz wie der Spitzel in der Mailänder Osteria darauf aus ist, Renzos Namen in Erfahrung zu bringen.324 Die Parallelen von Renzos Flucht und Lucias Entführung drücken sich im Text außerdem in der konträren Funktion aus, die der Natur dabei zugeschrieben wird. Die Straße, auf der Renzo Richtung Mailand läuft, liegt tief zwischen zwei Böschungen und der Blick auf die Stadt tut sich ihm nur auf, weil er sich in die vom Regen aufgeweichte Natur begibt. Und darin gleicht die Straße exakt jener, auf die Lucia von Gertrude geschickt wird, um sie zur Beute der Bravi des Innominato zu machen: „Quella strada era, ed è tutt’ora, affondata, a guisa d’un letto di fiume, tra due alte rive orlate di macchie, che vi forman sopra una specie di volta.“ (PS, XX, 345)325 Statt wie Renzo einen Schritt aus der flussbettartigen Straße herauszutun und Natur zu erblicken, steht für Lucia die Kutsche der Entführer bereit, in die sie von den Schergen des Namenlosen gezerrt wird. Einmal darin, fragt der Erzähler: „Chi potrà ora descrivere il terrore, l’angoscia di costei, esprimere ciò che passava nel suo animo?“ (PS, XX, 346)326 Die melodramatische Spannungssteigerung327 entspricht ganz der Gothic Novel. Aber wo Ellena, gleichfalls entführt, immer wieder im Anblick einer erhabenen Natur Kraft schöpft
323„Per
l’aequa potestas quidlibet audendi ho trasportato il suo castello nella Valsassina“ (Manzoni an Cesare Cantù, undatiert, vermutlich 1831/1832; zit. in: Manzoni, I Promessi Sposi, hg. Stella/Repossi, S. 1024). 324„Prese l’appunto del nome della nostra povera Lucia, e licenziò don Rodrigo, dicendo: ,tra poco avrete da me l’avviso di quel che dovrete fare‘.“ (PS, XX, 341) („Er notierte sich den Namen der armen Lucia und entließ Don Rodrigo mit den Worten: ‚In Kürze werdet Ihr von mir hören, was Ihr zu tun habt.‘“ S. 432) 325„Diese Straße verlief und verläuft noch heute wie ein Flußbett zwischen zwei hohen Böschungen voller Strauchwerk, dessen Zweige sich oben zu einer Art Gewölbe zusammenfügen.“ (S. 439) 326„Wer könnte nun ihr Erschrecken und ihre Angst beschreiben oder ausdrücken, was in ihrer Seele vorging?“ (S. 440) 327Raimoni/Bottoni sprechen von einer „tipica risorsa della scrittura melodrammatica“ (Manzoni, I promessi sposi, S. 376).
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und ihre Fähigkeit, „to act with firmness“,328 zurückerlangt, überwindet Lucia ihre Todesangst nicht mit ‚natürlichen Mitteln‘, sondern im Opfer ihrer Sexualität. Manzoni besetzt Radcliffes Schauer-Poetik, in der die Natur eine zentrale Rolle zur Erweiterung der Wahrnehmungsfähigkeiten einnimmt, strategisch um. Nachdem Ellena ins Kloster von San Stefano entführt worden ist, ist sie zwar eingesperrt, kann sie von einem kleinen Turmzimmer aus hin und wieder den Blick auf eine Natur erheischen, die sie durchhalten lässt und ihr, mit Manzoni, „rassegnazione“ verschafft: To Ellena, whose mind was capable of being highly elevated, or sweetly soothed, by scenes of nature, the discovery of this little turret was an important circumstance. Hither she could come, and her soul, refreshed by the views it afforded, would acquire strength to bear her, with equanimity, thro’ the persecutions that might await her. Here, gazing upon the stupendous imagery around her, looking, as it were, beyond the awful veil which obscures the features of the Deity, and conceals Him from the eyes of his creatures, dwelling as with a present God in the midst of his sublime works; with a mind thus elevated, how insignificant would appear to her the transactions, and the sufferings of this world!329
Ellenas empfindsame Seele, erhoben durch den Blick auf eine erhabene Natur, durchdringt den schrecklichen Schleier der Göttlichkeit; sie verweilt in naturreligiöser Gottesschau und lässt irdische „transactions“ und „sufferings“ hinter sich. Manzonis Lucia hingegen schaut den verborgenen Gott nicht in einer deistischen Naturkontemplation. Sie greift zu anderen Waffen, zu Rosenkranz und Gebet, wobei es darum geht, den sprachlosen Schrecken und einen unartikulierten Schrei in Worte zu übersetzen. Als sie die vom Innominato beauftragte alte Dienerin in Empfang nimmt, heißt es: „e benchè il luogo selvaggio e sconosciuto, e la sicurezza de’ suoi guardiani non le lasciassero concepire speranza di soccorso, apriva non ostante la bocca per gridare; ma vedendo il Nibbio far gli occhiacci del fazzoletto, ritenne il grido“. (PS, XXI, 353)330 Das XXI. Kapitel, Kapitel der Nacht des Innominato und der Nacht Lucias, ist dramaturgisch so aufgebaut, dass die Konversion des Ersteren exakt mit Lucias ‚voto‘ koinzidiert. „Ed ecco, appunto sull’albeggiare“ (PS, XXI, 367; Herv. D. S.), just als es zu dämmern beginnt, gerade als Lucia eingeschlafen ist, hört der Innominato „uno scampanare a festa lontano“ (PS, XXI, 367), ein festliches Glockengeläut aus der Ferne, mit dem das Kirchenvolk für den Besuch des Mailänder Kardinals Borromeo zusammengerufen wird und das nun auch ihn selbst anzieht. Lucia wirkt in dieser Nacht wie ein Heilsmedium und eine G nadenmittlerin auf den Innominato, „in atto di chi dispensa grazie e
328Racliffe,
The Italian, S. 70. S. 90 f. 330„[U]nd obwohl ihr die wilde und einsame Gegend und die Selbstsicherheit ihrer Wächter keinerlei Hoffnung auf Hilfe ließen, öffnete sie den Mund, um zu schreien. Als sie jedoch den Nibbio bedeutsam das Taschentuch heben sah, hielt sie den Schrei zurück.“ (S. 448) 329Ebd.,
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consolazioni“ (PS, XXI, 366). Damit wird sie zum ersten Mal im Roman aktiv, sie spricht Worte, die etwas bewirken und die am nächsten Tag zu ihrer Freilassung führen. Allerdings ist von zwei verschiedenen Sprechakten – mit diametral entgegengesetzter Wirkung – in dieser Nacht die Rede: Ihr flehendes „,[…] Dio perdona tante cose, per un’opera di misericordia!‘“ (PS, XXI, 357; „,[…] Gott vergibt so vieles für ein Werk der Barmherzigkeit!‘“ S. 453) verfolgt den Innominato durch die Nacht hindurch, eine weibische Neugier packt ihn (eine „curiosità da donnicciola“, PS, XXI, 363) und die Worte wirken am Ende nicht mehr wie eine Bitte auf ihn, sondern wie ein Selbstbefehl „con un suono pieno d’autorità“ (PS, XXI, 366). Damit lösen sie das entscheidende Ja im Konversionsprozess des Innominato aus, der allerdings – wie der Text betont – bereits vor der Begegnung mit Lucia einsetzt. Zweimal aber wird er mit einem gebieterischen Nein in seinem Inneren daran gehindert, Lucia in seine Burg zu holen: „un no imperioso“ (PS, XX, 350), „un altro no interno più imperioso del primo“ (PS, XXI, 355; „ein weiteres Nein! in seinem Innern, noch gebieterischer als das erste“, S. 450), ein zweimaliges Nein, das erst beim dritten Mal, mit Lucias „Dio perdona …“, zu einem Ja, einem „suono pieno d’autorità“ wird. Den nach außen heilsbringenden Worten korrespondiert Lucias Keuschheitsgelübde, das sie, zusammengekauert in einer Ecke der Burgkammer, in einem Zwischenzustand von Alptraum und panischer Verzweiflung vorbringt: Si ricordò di quello che aveva di più caro, o che di più caro aveva avuto; giacchè, in quel momento, l’animo suo non poteva sentire altra affezione che di spavento, nè concepire altro desiderio che della liberazione; se ne ricordò, e risolvette subito di farne un sacrifizio. S’alzò, e si mise in ginocchio, e tenendo giunte al petto le mani, dalle quali pendeva la corona, alzò il viso e le pupille al cielo, e disse: „o Vergine santissima! Voi, a cui mi sono raccomandata tante volte, e che tante volte m’avete consolata! Voi che avete patito tanti dolori, e siete ora tanto gloriosa, e avete fatti tanti miracoli per i poveri tribolati; aiutatemi! fatemi uscire da questo pericolo, fatemi tornar salva con mia madre, Madre del Signore; e fo voto a voi di rimaner vergine; rinunzio per sempre a quel mio poveretto, per non esser mai d’altri che vostra.“ (PS, XXI, 362)331
Lucia verspricht, Jungfrau zu bleiben und auf ihre Liebe zu Renzo zu verzichten. Mit diesem Selbstopfer stellt sie sich selbst als das größte Hindernis für die Eheschließung mit Renzo in den Weg. Erst in der Endfassung des Romans wird
331„Sie erinnerte sich an das, was sie am liebsten hatte – oder vielmehr am liebsten gehabt hatte, denn in diesem Moment konnte ihre Seele kein anderes Gefühl als Angst und kein anderes Verlangen als das nach Befreiung empfinden. Sie erinnerte sich daran und beschloß sofort, es zu opfern. Sie erhob sich auf die Knie, faltete die Hände vor der Brust, während sie den Rosenkranz zwischen den Fingern hielt, hob die Augen zum Himmel und sagte: ,O Allerheiligste Jungfrau! Du, der ich mich so oft befohlen habe und die du mich so oft getröstet hast, du, die du so viele Schmerzen erlitten hast und nun so glorreich bist und so viele Wunder für die armen Bedrängten getan hast: Steh mir bei! Errette mich aus dieser Not, führe mich wohlbehalten zu meiner Mutter zurück, o Mutter des Herrn, und ich gelobe dir, Jungfrau zu bleiben, ich verzichte für immer auf meinen armen Liebsten, um nie jemand anderem als dir allein zu gehören.‘“ (S. 458 f.)
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das Keuschheitsgelübde unmissverständlich als ‚voto‘ markiert.332 Während die Worte, die den Innominato adressieren, irdische Macht in Recht verwandeln, schließt Lucia sich mit ihrem ‚voto‘ aus einer solchen irdischen (Ehe-)Rechtsordnung aus. Aufgrund dieses Gelübdes wird ihre Figur immer wieder als Sprachrohr Manzonis und (je nach Lektüreperspektive) als figurales, spirituelles oder ideologisches Zentrum aufgefasst. Danach erweise sich in der Szene des ‚voto‘ ihre Funktion als figura Christi, die gleichzeitig die figurale Dimension der Ehe in den Promessi sposi offenbare: Renzo und Lucia als Hypostase der mystischen Union zwischen Christus und seiner Kirche. Lucia ist in dieser Perspektive eine wesentlich statische Figur; von Anfang an trägt sie als Braut Christi (und nicht Renzos!) jene „valori puri“ in sich, die sich in ihrem Gelübde offenbaren: „Lucia esprime insomma la dimensione sacerdotale della vita, quella per cui ogni cristiano è sacerdote in quanto sia chiamato a rendere testimonianza del Cristo, sia oralmente sia nei fatti“, schreibt Enzo Noè Girardi.333 Ganz ähnlich, nur lapidarer, Salvatore S. Nigro: „Ma se Renzo ha imparato e continua a imparare, nulla ha imparato e nulla può imparare Lucia; per lei la verità sapienzale non è una conquista, è una dote da trasmettere.“334 Giuseppe Fornari geht so weit, Lucias ‚voto‘ als kulturanthropologisches Modell zur Überwindung gesellschaftlicher Gewalt zu propagieren. Mit Girards Sündenbockmechanismus erklärt er die Gewaltspirale, die die Promessi sposi schulbuchartig entfalteten, um sie durch Lucias freiwilliges Liebesopfer schlagartig zu beenden.335 Alle diese Lektüren essentialisieren das Opfer in der weiblichen Figur, welche Funktion ihm im Einzelnen dann auch attribuiert wird. Das ist aus zwei Gründen problematisch: Zum einen fokussiert Manzonis Roman, wie ich zu zeigen versucht habe, eine juridische Perspektive, in deren Zentrum nicht die Bestätigung einer Opfertheorie, sondern ein Urteil steht, das die Unterscheidung von ‚wahren‘ und ‚falschen‘ Opfern möglich machen soll. Die Gemeinschaft, die der Roman verspricht, soll, so utopisch, märchen- oder romanhaft sie wirken mag, nicht auf dem Opfer, sondern auf einem Freispruch des Individuums gründen, mit Jean-Luc Nancy könnte man sagen: auf einem „caractère commun de nos e xistences“.336 Zum anderen können die Lektüren, die Lucias Opfer in den Mittelpunkt stellen, nicht wirklich erklären, warum der Roman so weitergeht, wie er weitergeht. Padre Cristoforo annulliert im XXXVI. Kapitel Lucias Gelübde. Warum aber inszeniert der Roman einen juridischen Sprechakt, der in einer ebenso förmlichen wie intimen Art und Weise wieder annulliert wird? Beharrt man auf der Zentralität des ‚voto‘, kann man die Fortsetzung der Romanfiktion nur mittels eines interpretatorischen Sprungs
332Vgl.
hierzu detaillierter Vf., „Europäische Eherechtsfiktionen“. Struttura e personaggi dei Promessi sposi, S. 69 und 70. 334Nigro, La tabacchiera di don Lisander, S. 154. 335Giuseppe Fornari, „Il voto di Lucia. Desiderio e espiazione nei Promessi sposi“, Nuova corrente 53 (2006), 229–264. 336Jean-Luc Nancy, La Communauté désavouée, Paris: Galilée 2014, S. 11. 333Girardi,
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plausibel machen. Man weicht auf eine niedrigere oder höhere, jedenfalls aber andere Figurativitätsebene aus. Der ‚voto‘ kann dann Lucias ganze Geschichte uninteressant machen, weil ihre Bedeutung ohnehin klar ist (so die Tendenz bei Nigro). Oder man wechselt von der Makroebene des Textes auf die Figurenebene und Lucias Geschichte erhält, bei aller Statik, mit der Lösung des ‚voto‘ einen (quasi minimalen) Entwicklungsaspekt: Lucia muss lernen, dass es nicht nur um sie selbst geht in diesem Opferungsvorgang (so Girardi, auch Baldi). Oder aber man erklärt den ‚voto‘, wie Fornari es tut, als Performativum, das im Roman – v. a. in der Konversion des Innominato und dem Überleben Lucias – gewirkt und seinen Zweck erfüllt hat und deshalb wieder gelöst werden kann.337 Wie auch immer, die Ambivalenz von Lucias seltsamem Gelübde lässt sich nicht wegdiskutieren. Der positiven Gründungsgewalt der ‚parole‘, die sich im Gelübde ausdrückt, steht eine negative Gewalt gegenüber, die die Reversibilität einer solchen ‚wirksamen‘ ‚parole‘ behauptet. Lucias ‚voto‘ ist ein Irrtum, der als voluntaristischer Akt, Pseudo-Konversion und rechtlich bindendes Opfer dargestellt wird. „Si ricordò“, sie erinnert sich, heißt es zweimal in der oben zitierten Stelle, an das, was sie am liebsten hat, an ihre Liebe zu Renzo, und beschließt, sie zu opfern, „risolvette subito di farne un sacrifizio“. Dieses Opfer wird in der intimen Förmlichkeit des Gebets ausgestaltet: kniend, mit gefalteten Händen, die gleichzeitig den Rosenkranz halten, adressiert Lucia die Jungfrau Maria im Gebet: „fo voto a voi di rimaner vergine“. Kaum weniger feierlich (und ohne jeden Alibi-Verweis auf eine vermeintliche Quelle oder einen anonymen Autor) schildert der Erzähler die Folgen dieses entschlossenen Aktes: Lucia legt sich den Rosenkranz um den Hals, „come un’armatura della nuova milizia“ (PS, XXI, 362; „als wäre er […] eine Rüstung der neuen Miliz“, S. 459), sie wird ruhig – „sentì […] una certa tranquillità“ – und fällt in einen tiefen Schlaf, „un sonno perfetto e continuo“ (PS, XXI, 363). Eine solche psychologische, rituelle und spirituelle Entschiedenheit fehlt in Fermo e Lucia komplett. Dort steht die Szene ganz im Zeichen einer hysterischen „febbre violenta“, der die Protagonistin quasi erliegt, indem sie „il voto, o quello che a Lucia parve tale“ ausspricht. Weit davon entfernt, danach in einen Schlaf der Erleichterung zu fallen, verbringt sie den Rest der Nacht „in un letargo febbrile“ (FL, II, X, 306). Während die frühe Fassung eine passionelle Fehlhandlung und den Selbstausschluss aus der Ehegemeinschaft betont, behauptet die Endfassung einen selbstbeherrschten Akt sexueller Sublimierung. Egal, was überwiegt, die versprochene Jungfräulichkeit bringt Lucia in den für Manzoni so typischen Zustand des Hin- und Hergerissenseins zwischen den Passionen: Ihr Nach-der-(Pseudo-)Konversion erweist sich als ein Vor-der-Konversion. Daniela
337Vgl. Fornari, „Il voto di Lucia“, S. 263: „E affinché tale unione si attui, affinché si compia il matrimonio figurale tra Renzo e Lucia quale segno sensibile di un amore sovrasensibile, occorre che il voto di Lucia venga sciolto, non perché non fosse valido, ma perché ha adempiuto al suo scopo, e ha realizzato se stessa nella rinuncia che Lucia ha realizzato […].“ – Unweigerlich fragt man sich, warum der Text dann auf dem „perché non fosse valido“ so sehr insistiert.
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Brogi hat darauf hingewiesen, dass dieser Zustand in der Endfassung nicht nur abgeschwächt, sondern vor allem um die liebespassionellen Konnotationen gebracht wird.338 Strukturell unterscheidet sich ihr Zustand ab dem fatalen Gelübde in nichts mehr von der Zerrissenheit Gertrudes, die zwischen Jasagen und Reue hin- und hergeschüttelt wird. Im Haus der Schneidersfamilie, wo sie nach ihrer Befreiung untergebracht ist, beginnen Lucias Gewissenskonflikte. Ausgelöst werden diese Schuldgefühlte interessanterweise durch ihren „istinto di pulizia e di verecondia“ (PS, XXIV, 410; „ihr Bedürfnis nach Reinlichkeit und Anstand“ S. 519), aufgrund dessen sie ihre durcheinandergebrachte Frisur wieder ordnen will. Als sie die gelösten Zöpfe wieder feststeckt, berühren ihre Finger – quasi an Stelle des Schmucks, der ihren Kopf am Tag der geplanten Hochzeit wie eine Aureole umgibt – ausgerechnet den Rosenkranz, den sie sich in der Burg des Innominato um den Kopf gehängt hatte. Und so überfällt sie die quälende „memoria del voto“: „oh, povera me, cos’ho fatto!“ (PS, XXIV, 410; „‚O weh, was hab ich getan!‘“ S. 520) Ma non appena l’ebbe pensate, ne risentì come uno spavento. Le tornarono in mente tutte le circostanze del voto, l’angoscia intollerabile, il non avere una speranza di soccorso, il fervore della preghiera, la pienezza del sentimento con cui la promessa era stata fatta. E dopo avere ottenuta la grazia, pentirsi della promessa, le parve un’ingratitudine sacrilega, una perfidia verso Dio e la Madonna; le parve che una tale infedeltà le attirerebbe nuove e più terribili sventure, in mezzo alle quali non potrebbe più sperare neppur nella preghiera; e s’affrettò di rinnegare quel pentimento momentaneo. (PS, XXIV, 410)339
Lucia wird vom Schauder des Bedauerns ihrer Tat ergriffen und bedauert ihr Bedauern – wie Gertrude, von der es im IX. Kapitel heißt: „Si pentiva poi d’essersi pentita, passando così i giorni e i mesi in un’incessante vicenda di sentimenti contrari.“ (PS, IX, 160)340 Auch Lucia wiederholt ihr Ja zur Jungfräulichkeit – „rinnovò il voto“ (PS, XXIV, 411) – um dem mysterium tremendum Herr zu bleiben. Das Eingeständnis ihrer Reue käme ihr gotteslästerlich vor: „un’ingratitudine sacrilega, una perfidia verso Dio e la Madonna“. Während der Erzähler der Promessi sposi die Aufmerksamkeit des Lesers auf Lucias neues, exklusives Gottesbündnis lenkt, denkt die Lucia von Fermo e Lucia noch nicht an Frevel und Sakrileg, sondern – irdischer, fokussiert auf das Begehren Renzos – an ‚Versuchung‘ und ‚Verbrechen‘:
338Vgl.
Brogi, Il genere proscritto, S. 95–103. kaum hatte sie diese Worte gedacht, zuckte sie erschrocken zusammen. Alle Umstände des Gelübdes fielen ihr wieder ein: ihre unerträgliche Angst, das Fehlen jeder Hoffnung auf Hilfe, die Inbrunst ihres Gebets, die Tiefe und Ernsthaftigkeit des Gefühls, mit dem sie das Versprechen abgelegt hatte. Dieses Versprechen jetzt zu bedauern, nachdem sie die erbetene Gnade erhalten hatte, kam ihr wie eine lästerliche Undankbarkeit, ein Verrat an Gott und an der Madonna vor. Ihr schien, daß eine solche Treulosigkeit neues, noch schlimmeres Unglück über sie bringen müßte, in dem sie dann auch vom Gebet nichts mehr erhoffen könnte, und so beeilte sie sich, ihr momentanes Bedauern zu widerrufen.“ (S. 520) 340„Danach bereute sie, es bereut zu haben, und so verbrachte sie Tage und Monate in ständigem Wechsel widerstreitender Gefühle.“ (S. 204) 339„Doch
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Lucia non confessava a se stessa d’esserne pentita, mal lo era […]. L’invincibile di tutte le difficoltà, l’amaro di tutte le privazioni, l’inestricabile di tutti gl’impacci le pareva che venisse dal non poter essere di Fermo; con lui tanti inconvenienti sarebbero svaniti, e tutti gli altri sarebbero divenuti tollerabili! ma il pensiero di Fermo era per lei una tentazione, quasi un delitto, e doveva sempre rispingerlo. (FL, III, III, 368)341
Lucias Gewissenskonflikte werden hier nicht nur anders begründet, sondern auch anders vermittelt. Während der Erzähler der Promessi sposi sich als ausschließlich intern fokussierender Komplize einer Figur darstellt, die heroisch, gegen alle Anfechtung, göttlichem Gesetz treu bleibt, distanziert sich in Fermo e Lucia ein extern fokussierender Erzähler von einer Lucia, die sich ihr irdisches Begehren nicht eingestehen will – vielleicht zu unrecht, vielleicht aber auch nicht. Der Zwiespalt zwischen Recht und Unrecht des ‚voto‘ wird in der Endfassung vom Innern der Figur auf das Verhältnis zwischen einer das Recht behauptenden Figur und dem Leser übertragen. In Fermo e Lucia erklärt der Erzähler direkt im Anschluss an die wiedergegebene Stelle dem Leser, dass Lucia nicht wusste, dass ihr Gelübde gar nicht gültig sein konnte … Genau diese Information wird in der Endfassung – spannungssteigernd – bis zum XXXVI. Romankapitel zurückgehalten, um sie dort als intrigenlösendes Handlungselement in die zentrale Szene des Wiedersehens im Mailänder Lazarett einzubauen.
Die Lösung des Gelübdes, rechtskritisch In Fermo e Lucia erhält der Leser, wie gesagt, die Information über die Ungültigkeit des ‚voto‘ als Vorabinformation des Erzählers: La poveretta non era istrutta abbastanza per conoscere che quella promessa fatta in una agitazione febbrile, senza meditazione, quasi senza piena coscienza non era un voto; e che ella già legata con una promessa solenne a Fermo non aveva il diritto di sciogliere senza consenso e senza colpa di lui, un legame già stretto da due volontà libere e concordi; e ignorava anche i mezzi, che la religione la quale consacra i voti dell’uomo, offre per liberarlo dai voti, quando il loro adempimento invece d’essere una occasione di maggior bene, divenga un ostacolo. (FL, III, III, 369)342
341„Lucia gestand sich nicht ein, es [das Gelübde; Anm. D.S.] zu bereuen, aber so war es; […] es schien ihr, dass das Unüberwindbare all ihrer Schwierigkeiten, die Bitterkeit aller Entbehrungen, das Unentwirrbare aller Verwicklungen daher rührten, nicht Fermo angehören zu können; mit ihm hätten sich so viele Unannehmlichkeiten aufgelöst und alle anderen wären hinnehmbar geworden! Aber der Gedanke an Fermo stellte eine Versuchung für sie dar, fast ein Verbrechen, und sie musste ihn immer unterdrücken.“ 342„Die Arme war nicht ausreichend gebildet, um zu wissen, dass dieses Versprechen, das sie in einer fieberhaften Erregung, ohne Überlegung und quasi ohne volles Bewusstsein gegeben hatte, gar kein Gelübde war. Und dass sie, weil sie bereits durch ein feierliches Versprechen mit Fermo verbunden war, nicht das Recht hatte, ein bereits von zwei freien und übereinstimmenden Willen geschlossenes Band ohne sein Einverständnis und ohne seine Schuld zu lösen. Ferner kannte sie auch die Mittel nicht, welche die Religion, die die Gelöbnisse des Menschen konsekriert, anbietet, um ihn von den Gelöbnissen zu befreien, wenn ihre Erfüllung zu einem Hindernis statt zum Anlass eines größeren Gutes wird.“
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Die Hinfälligkeit von Lucias vermeintlichem Gelübde wird streng kirchenrechtlich erklärt und auch das heute geltende Corpus Iuris Canonici würde den Fall wohl kaum anders einschätzen.343 Für das Objekt des Versprechens gilt unter anderem, dass es physisch und moralisch durchführbar sein muss und dass es „non soltanto sia onesto, ma anche migliore dell’opposto, pertanto il voto ha, propriamente parlando, per oggetto un bene migliore (‚votum dicitur esse de bene meliori‘)“.344 Genau diese beiden Bedingungen sind, wie im Zitat deutlich wird, nicht gegeben. Lucia, „la poveretta“, handelt ohne „piena coscienza“, außerdem ist sie bereits durch die Verlobung mit Fermo gebunden, welche im Gegensatz zu ihrem privaten Keuschheitsgelübde sogar ein feierliches, d. h. öffentliches Gelübde („promessa solenna“) darstellt. Andrea Drigani führt als dritten Zweifel die thomistische Bestimmung an, nach der Gelübde Gott adressieren müssen, während Lucia sich an die Jungfrau Maria wendet. Allerdings gehen hier die theologischen Meinungen auseinander, und es gäbe, so Drigani, auch Autoren, die die Jungfrau und die Heiligen als vermittelnde Adressaten anerkennten.345 Selbst wenn das privates Gelübde Wirkung haben sollte – die Endfassung des Romans entschließt sich zumindest im Punkt von Lucias Zurechnungsfähigkeit für diese Variante –, gäbe es doch kirchenrechtliche „mezzi“, es unter bestimmten Bedingungen wieder zu lösen. Ihr ‚voto‘ könnte gelöst werden, weil er kein „maggior bene“, sondern ein „ostacolo“ darstellt.346 Im Übrigen ist Lucias Gelübde weder mit einem Klostergelübde (‚professione‘) zu verwechseln noch mit einem Gelübde, das den Klostereintritt verspricht. Nach ihrem ‚voto‘ wünscht sich Lucia nur noch, zu ihrer Mutter heimkehren zu dürfen und so, möglichst weit weg von Renzo, der Liebesversuchung widerstehen zu können. Der Roman greift schlicht die volksfromme Tradition des Votivopfers auf, das der Gläubige meist in einer Notsituation darbringt. Nur ist es bei Lucia so, dass sie in ihrer Votivgabe zu hoch greift. Im Unwissen um die möglichen Abhilfen kämpft sie nun um ihr psychisch-spirituelles und kirchenrechtliches ‚Überleben‘ – ganz analog zu Renzo, der unterdessen vor der irdischen Justiz flüchtet.347 Sie begreift ihr Versprechen
343Das gilt auch für Gertrudes Geschichte vor dem Klostereintritt, in der das auf dem Tridentinischen Konzil festgelegte Aufnahmeverfahren religiöser Kongregationen minutiös eingehalten wird. Vgl. hierzu den Stellenkommentar des Kanonikers Andrea Drigani, Il mantello della giustizia. Il diritto secondo la Chiesa nei Promessi sposi, Firenze: Libreria Editrice Fiorentina 2011, auf den ich mich im Folgenden beziehe. 344Vgl. Drigani, Il mantello della giustizia“, S. 39. 345Ebd., S. 54. 346Vgl. c. 1196 des Codex Iuris Canonici (1983), der die Dispens von privaten Gelübden regelt (zit. nach: http://www.vatican.va; 03.03.2016). 347Lektüren, die Lucias Sprechakt als bloß vernünftigen, utilitaristischen Tauschhandel erklären, greifen hier tatsächlich zu kurz. Vgl. z.B.: Pasqualino, Andò, Volpe, „Dialogo col soprannaturale“, S. 212: „Anche il piccolo baratto che Lucia tenta con la Madonna è, dopotutto, un ragionevole tentativo.“ – Ein Einspruch dagegen bei Francesco di Ciaccia, La parola e il silenzio. Peste, carestia ed eros nel romanzo manzoniano, Pisa: Giardini Editori e Stampatori 1987, S. 261: „L’esperienza di Lucia non è morale, come alcuni han creduto, sghignazzando sulla scempiaggine del voto e digrigrando i denti sulla solennità del suo scioglimento; l’esperienza di Lucia è teologale, e soltanto apparentemente è casistica spicciola, per la quale alcuni lettori si sono indignati […].“
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ganz im thomistischen Sinne als eine Art Selbstbefehl: „Votum est promissio Deo facta de aliquo quod sit Deo acceptum“.348 Ein Gelübde ist das Versprechen einer Sache, die von Gott angenommen wird. Der Votant befiehlt sich selbst, die versprochene Sache zu übergeben. In Lucias Fall wird der Selbstbefehl zu einem Kampf: Sie muss ihr Verlangen nach Renzo unterdrücken und verleugnen, um die Möglichkeit der Übergabe ihrer versprochenen Sache aufrechtzuerhalten. Das private Gelübde nimmt sie ähnlich und doch ganz anders in die Pflicht wie Renzo, dem in Mailand – nicht unter dem Einfluss der Angst, sondern von Alkohol – ‚nur‘ sein Name entschlüpft ist. Lucias irrtümliches Gelübde hat ein fatales, sakrales und rechtliches Gewicht, während Renzos körperliche und verbale Einmischung in die Mailänder Politik nur eine temporäre Namensänderung (‚Antonio Rivolta‘) und ein temporäres Exil mit sich bringen. Selbst als er beim zweiten Besuch in Mailand das Messer in die Höhe hält, um sich den Mob vom Hals zu halten, rettet ihn sein starker und flinker Körper vor der mörderischen Tat – auf diese Parallele hat Enzo N. Girardi hingewiesen: „Lucia, insomma, in quel momento terribile [in der Nacht ihres Gelübdes; Anm. D. S.], ha pensato solo a se stessa; in questa prospettiva, non ha fatto, a ben pensarci, cosa diversa da quanto ha fatto Renzo minacciando, coltello alla mano, la folla ignorante ed isterica.“349 Renzos ‚natürliche‘ Kampfmittel zielen in der Hauptsache auf das eigene Überleben, auf ein Subjekt, das davon träumt, sich selbst schreiben zu dürfen; Lucias Kampfmittel ist die Negation des Körpers, der sexuelle Verzicht, der – folgenreicher – die parole der Eheschließung verhindert. In den Osservazioni sulla morale cattolica verteidigt Manzoni Keuschheitsgelübde und Askese gegen Sismondi just als Waffe gegen die menschliche Verderbtheit: Che se l’impudicizia può metter radice ne’ cori, malgrado il voto di verginità, e la gola, malgrado l’assistenze, vorrà dire che tanta è la corruttela dell’uomo, che i mezzi stessi proposti dall’Uomo-Dio non la estirpano totalmente; che sono bensì armi per poter vincere, ma che non dispensano dal combattere: ma chi potrà supporre che ci possano essere de’ mezzi migliori? (OMC, XVI, 177)350
Auch wenn die Mittel, die Christus vorgeschlagen hat, nicht ausreichen, die Schlechtigkeit des Menschen zu besiegen, so bleiben sie immer noch die besten Mittel des Kampfes. Schon bei ihrem ersten Auftritt als Braut, die sich gegen die Außenstehenden abschirmt, wird auf Lucias ‚kämpferische Bescheidenheit‘
348Thomas
von Aquin, Summa Theologiae, II–II, q. 88, a.2; zit. in: Drigani, Il mantello della giustizia, S. 38. 349Girardi, Struttura e personaggi dei Promessi Sposi, S. 78. 350„Denn, wenn ‚die Unkeuschheit Wurzel fassen kann in den Herzen‘ trotz des Gelübdes der Jungfräulichkeit und die Gaumenlust trotz der Enthaltsamkeitsübungen, so besagt dies eben: die Verderbnis des Menschen ist so groß, daß selbst die von dem Gott-Menschen vorgeschlagenen Mittel nicht zureichen, sie völlig auszurotten; diese sind freilich Waffen, durch welche man siegen kann, aber sie ersparen den Kampf nicht. Wer wollte jedoch annehmen, daß es bessere Mittel zu diesem Zweck geben könnte?“ (Übers. Arens, S. 267)
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angespielt: „lei s’andava schermendo, con quella modestia un po’ guerriera delle contadine“ (PS, II, 38). Dieser ‚alte‘ Brautschmuck wird in der Nacht ihrer Entführung durch den Rosenkranz ersetzt, den sie sich „come un’armatura della nuova milizia“ (PS, XXI, 362) um den Hals legt. Was aber passiert nun genau im XXXVI. Kapitel der Promessi sposi? Und inwiefern kann man von einer Verrechtlichung sprechen? Padre Cristoforo erhebt im Mittel einer hegelianisch anmutenden Negation der Negation Lucias parole in die Potenz einer rechtsetzenden, instituierenden Gewalt. Ich überspringe hier die Etappen von Lucias weiterem Weg von der Schneidersfamilie im Dorf (bei der Burg des Innominato) über ihren Aufenthalt bei Don Ferrante und Donna Prassede (die beide von der Pest dahingerafft werden), bis sie, selbst an der Pest erkrankt, im Pestlazarett ankommt. Lucias Reiseradius ist kleiner als der Renzos, entscheidend aber ist für die vorliegende Argumentation, dass Renzo einsame und vereinsamte Freunde trifft (vor allem den nicht namentlich genannten Dorffreund, bei dem er zweimal zu Gast ist), während Lucia zwei exemplarischen Paaren begegnet. Der Schneider und seine Frau repräsentieren das gute, einfache und wahrhaft karitative Paar, während die bürgerliche „coppia d’alto affare“ (PS, XXV, 433; „vornehme[ ] Ehepaar“, S. 549) in Mailand die negative Karikatur eines Ehepaars darstellt: Donna Prassedes Fehler besteht nicht nur in ihrem Versuch, Lucia zum Klostereintritt bewegen zu wollen, sondern in ihrer generellen Einbildung, „di prender per cielo il suo cervello“ (PS, XXV, 435; „ihr Hirn für den Himmel zu halten“, S. 552). Und Don Ferrante glaubt noch im Angesicht des eigenen Todes durch die Pest, kurz vor dem naturwissenschaftlichen Erweis von deren Nicht-Existenz zu stehen (PS, XXXVII, 653 f.).351 Donna Prassedes falsche Religion und Don Ferrantes falsche Naturauffassung stellen damit eine negative Wiederholung der Konstellation des Protagonisten-Paares dar. Im Pestlazarett von Mailand findet Renzo Lucia wieder, die, wie er, von der Pest geheilt ist und nun Pestkranke pflegt. Bezeichnend ist, dass Lucias Pestkrankheit nur ganz kurz erwähnt wird (PS, XXXVI, 627), während sie bei Renzo viel ausführlicher als körperliche Immunisierung ausgewiesen wird (PS, XXXIII, 571). Dieser Umstand lässt sich dadurch erklären, dass die existentielle Anfechtung (terrore), für die die Pest steht, sie eben nicht immun macht, sondern sie allererst affizierbar macht. Im Pestlazarett befindet sie sich auf dem Höhepunkt ihres Kampfes gegen (oder: ihrer Prüfung durch) eine unerbittliche Religion, welche die Treue zum einmal, egal unter welchen Umständen, gegebenen Wort einfordert. Renzo erkennt, wie bereits erwähnt, Lucia zuerst an ihrer Stimme, an ihren Worten: „‚Paura di che?‘ diceva quella voce soave“ (PS, XXXVI, 627; „‚Wovor denn Angst?‘ sagt sie gerade sanft“, S. 794). Die Worte implizieren eine doppelte Adressierung: Vor dem Hintergrund von Lucias noch nicht gelöstem ‚voto‘ sind es jungfräulich-karitative Worte, die sich an den pestkranken Mitmenschen richten, der vor dem Gewitter über der
351Vgl. zu diesen Paaren Danelon, Né domani, né mai, S. 187–220 sowie Girardi, Struttura e personaggi dei Promessi Sposi, S. 133–142, der die Kritik an der bürgerlichen Paar-Variante als zentral für den ganzen Roman erachtet.
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung
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Stadt Angst hat. Gleichzeitig adressieren diese Worte implizit bereits Renzo und mahnen jene „fiducia in Dio“ an, die Lucia am Ende des Romans als Quintessenz ihrer Geschichte herausstellen wird. Nach kurzer Wiedersehensfreude kommt es zum unvermeidlich konfliktuellen Gespräch. Verzweifelt fleht sie den Geliebten an: „‚Ma, per amor del cielo, per l’anima vostra, per l’anima mia, non venite più qui, a farmi del male, a … tentarmi. […]‘“ „‚Per carità, Renzo, per carità, per i vostri poveri morti, finitela, finitela; non mi fate morire … […]‘“ (PS, XXXVI, 631 und 632).352 Sie schickt ihn zu Padre Cristoforo, der ihm alles erklären soll. Dieser erklärt Renzo aber gar nichts, sondern kehrt gemeinsam mit ihm – und einem Korb in der Hand („con la sporta in braccio“, PS, XXXVI, 635) – zu Lucia zurück, um der Sache auf den Grund zu gehen. Penetrant weist der Erzähler darauf hin, dass sich das Gewitter über dem Pestlazarett nun bedrohlicher denn je mit Blitz und Donner ankündigt. Padre Cristoforo fragt Lucia, ob sie sich ihm wie früher ‚anvertrauen‘ will: „,[…] Siete voi disposta a confidarvi in me, come altre volte?‘“ (PS, XXXVI, 636). Was folgt, ist aber keine Beichte, kein Geständnis, sondern irgendetwas dazwischen, ein seltsames Gespräch, ein uneingestehbares Geständnis,353 das zum eigentlichen Kern der Eheschließungsfiktion der Promessi sposi wird. Es handelt sich um die formelle Rücknahme einer Sache, die Lucia versprochen hatte zu übergeben, ohne den Sprechakt des Versprechens selbst zu annullieren. Man muss sich hier noch einmal die rechtskritische Stelle aus Fermo e Lucia vor Augen halten, wo der Erzähler über die Entscheidungskriterien reflektiert, mit denen sich bestimmen lässt, in welchen Fällen eine Sache rechtmäßig oder nur materiell existiert bzw. stattgefunden hat: Accade talvolta che dove gli uomini hanno deciso che una cosa non può esser realmente fatta che nei tali e tali modi, la cosa si fa realmente in modi tutti diversi e che non erano stati preveduti. In questo caso, la cosa non vale, anzi non è fatta. E non andate a farvi compatire da un sapiente col volergli dimostrare che la è fatta; egli lo sa quanto voi; ma sa qualche cosa di più, vede nella cosa stessa una distinzione profonda; vede, e vi insegna che la cosa materialmente è fatta, legalmente non è. Dall’altra parte accade pure, che dopo essere stato dagli uomini predetto, deciso, statuito che, dove si trovino i tali e tali caratteri esiste certamente il tal fatto, si sono trovati altri uomini più accorti dei primi (cosa che pare impossibile eppure è vera) i quali hanno saputo far nascere tutti quei caratteri senza fare la cosa stessa. In questo secondo caso bisogna riguardare la cosa come fatta; e darebbe segno di mente ben leggiera e non avvezza a riflettere, o di semplicità rustica affatto
352„,Aber bei allen Heiligen, bei deiner und meiner Seele, komm nicht mehr hierher zurück, hör auf, mir wehzutun, hör auf, mich … zu versuchen. […]‘“ „,Um Gottes Willen, Renzo, um deiner armen Toten willen, hör auf damit, hör auf! Das bringt mich noch um … […]‘“ (S. 800 und 802). 353Diesen Ausdruck bringt Alessandro Bosco für Lucias Gelübde (also nicht für die Lösung desselben) in Anschlag, wobei er in Lucias (interpretationsbedürftiger) Sexualität das nicht Eingestandene sieht (Bosco, Il romanzo indiscreto, S. 89). Ich würde dagegen sagen, dass es (gerade) nicht um die Enthüllung einer Sexualität, sondern um eine uneingestehbare, sexuelle Gemeinschaft geht, die sich in der Szene der Lösung eines Gelübdes enthüllt (einer Szene, die in Boscos Lektüre keine strategische Funktion einnimmt).
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colui che, ostinandosi ad esaminare il merito, volesse dimostrare che la cosa non è. (FL, II, II, 169)354
Alle rechtlichen „formalità“ haben entweder materielle oder legale Abgründe. Gertrudes Ordensgelübde subsumierte der Erzähler als Fall einer prekären, aber legalen Simulation. Aber was für eine ‚Sache‘ wird Lucias wieder aufgelöstes Gelübde am Ende gewesen sein? Der Dialog, der sich über zwei Seiten (PS, XXXVI, 636 f.) erstreckt, fusioniert moraltheologische, subjektive Argumente mit juridischen. Er kommt einer privatrechtlichen Aufklärung gleich, wobei am Ende – bei aller rechtlichen Aufgeladenheit der Szene – in die Schwebe gebracht wird, welcher (Sprech-)Akt bzw. welche (Sprech-)Akte eigentlich genau destituiert, restituiert und/oder instituiert werden sollen: Padre Cristoforo vergewissert sich zuerst, dass Lucia im Unwissen dessen gehandelt hat, dass sie bereits gebunden war. Ja, es ist so, Lucia bestätigt ihr Unwissen. Eigentlich könnte er damit bereits an dieser Stelle das ganze Problem lösen und Lucia einfach die frohe Nachricht verkünden, dass ihr Gelübde nichtig ist, weil sie ihre „volontà“ bereits Renzo versprochen hat. Aber Padre Cristoforo fragt weiter: Er will wissen, ob das Gelübde in irgendeiner Weise öffentlich geworden ist: „,[…] Ma ditemi; non vi siete mai consigliata con nessuno su questa cosa?‘“ (PS, XXXVI, 636; „,[…] Aber sag mir: Hast du nie jemanden über diese Sache zu Rate gezogen?‘“ S. 806) Nein, Lucia hat sich seither noch niemand Anderem anvertraut. Ferner geht es darum, ob das Gelübde der einzige Grund sei, der sie davon abhält, das Renzo gegebene Verlobungsversprechen einzuhalten. Ja, ist hier die Antwort, verbunden mit heftigster Röte, die ihr ins Gesicht steigt („il suo viso […] fiorì tutt’a un tratto del più vivo rossore“, PS, XXXVI, 636). Damit weiß Cristoforo offenbar genug und er schlägt die Entbindung von dem Gelübde vor, was Lucia erneut – und zum letzten Mal – in einen terrore stürzt: Sie hat der Jungfrau das Versprechen („la promessa“) doch mit ganzem Herzen gegeben („proprio di cuore“) und eine Rücknahme wäre doch Sünde („peccato“)? Woraufhin Padre Cristoforo antwortend ‚handelt‘:
354Vgl. bereits oben Abschn. 3.3: Lucia im Prozess der Sakralisierung („Zwischen Akt und Sprache. Zur Frage der Schuld“): „Manchmal geschieht es, dass dort, wo die Menschen festgelegt haben, dass eine Sache nur in der einen oder anderen Weise wirklich gemacht werden kann, die Sache in Wirklichkeit auf eine ganz andere Art und Weise, die gar nicht vorgesehen war, gemacht wird. In diesem Fall gilt die Sache nicht, ja, wurde sie gar nicht gemacht. Ihr braucht euch dann nicht von einem Gelehrten bemitleiden lassen, indem ihr ihn zu überzeugen versucht, dass die Sache doch gemacht wurde, denn er weiß dies ebenso wie ihr. Aber er weiß noch mehr; er sieht in der Sache einen tiefgreifenden Unterschied; er sieht und belehrt euch darüber, dass die Sache zwar materiell gemacht, legal aber nicht gemacht worden ist. Andererseits passiert es hingegen, dass dort, wo die Menschen bestimmte Eigenschaften für die reale Existenz einer Sache vorhergesehen, festgelegt, statuiert haben, sich andere Menschen, noch cleverere als die ersten finden (was unmöglich scheint, aber wahr ist), welche es geschafft haben, all diese Eigenschaften zu erzeugen, ohne doch die Sache selbst zu machen. In diesem zweiten Fall muss man die Sache als gemacht ansehen. Und demjenigen, der sie hartnäckig prüfen und zeigen wollte, dass der Sachverhalt gar nicht vorliegt, würde Leichtsinn, ein Mangel an Reflexion, wenn nicht gleich eine bäuerische Einfalt unterstellt werden.“ (Eigene Übers.)
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung
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„Peccato, figliuola?“ disse il padre: „peccato il ricorrere alla Chiesa, e chiedere al suo ministro che faccia uso dell’autorità che ha ricevuto da essa, e che essa ha ricevuta da Dio? Io ho veduto in che maniera voi due siete stati condotti ad unirvi; e, certo, se mai m’è parso che due fossero uniti da Dio, voi altri eravate quelli: ora non vedo perchè Dio v’abbia a voler separati. E lo benedico che m’abbia dato, indegno come sono, il potere di parlare in suo nome, e di rendervi la vostra parola. E se voi mi chiedete ch’io vi dichiari sciolta da codesto voto, io non esiterò a farlo; e desidero anzi che me lo chiediate.“ „Allora …! allora …! lo chiedo“; disse Lucia, con un volto non turbato più che di pudore. Il frate chiamò con un cenno il giovine, il quale se ne stava nel cantuccio il più lontano, guardando (giacchè non poteva far altro) fisso fisso al dialogo in cui era tanto interessato; e, quando quello fu lì, disse, a voce più alta, a Lucia: „con l’autorità che ho dalla Chiesa, vi dichiaro sciolta dal voto di verginità, annullando ciò che ci potè essere d’inconsiderato, e liberandovi da ogni obbligazione che poteste averne contratta“. (PS, XXXVI, 637)355
Das Irritierendste an dieser Passage ist, dass die Aufhebung des Gelübdes als eine Gabe inszeniert ist. Padre Cristoforo löst Lucias Zustand passioneller Zerrissenheit, indem er ihr ‚ihr Wort zurückgeben‘ will: „rendervi la vostra parola“.356 Der Sprechakt des Jungfräulichkeitsgelübdes wird nicht für nichtig erklärt, sondern transformiert. Padre Cristoforo bringt Lucias ‚formalità‘ damit in das fragile Gleichgewicht zwischen einer legalen und materiellen Faktizität. Andrea Drigani führt zwar die kanonische Unterscheidung zwischen dubium iuris und dubium facti für solche Fälle an, in denen über eine fluctuatio mentis inter opposita zu urteilen sei, legt sich in seiner Kommentierung allerdings nicht fest, was für einen Irrtum bzw. welche Irrtümer Padre Cristoforo im konkreten Fall nun ausräumt.357 Die Lösung des Gelübdes erklärt er am Ende damit, dass unter Bonifatius VIII. im 13. Jahrhundert festgelegt worden sei, dass ohnehin nur feierliche Gelübde
355„,Sünde, meine Tochter?‘ sagte der Pater. ,Sünde, sich an die Kirche zu wenden und ihren Diener zu bitten, Gebrauch von der Autorität zu machen, die er von ihr empfangen hat und die sie von Gott empfangen hat? Ich habe mit angesehen, wie ihr beide zusammengeführt worden seid, und wahrlich, wenn ich jemals den Eindruck hatte, daß zwei Menschen von Gott vereint worden sind, dann bei euch. Daher vermag ich nicht einzusehen, daß Gott euch jetzt wieder getrennt haben wollte. Und ich preise ihn dafür, daß er mir, unwürdig, wie ich bin, die Macht gegeben hat, in seinem Namen zu sprechen und dir dein Wort zurückzugeben. Und wenn du mich bittest, daß ich dich von diesem Gelübde entbinde, werde ich nicht zögern, es zu tun, ja ich wünsche mir, daß du mich darum bittest.‘ ‚Also dann … also dann … dann bitte ich Euch darum‘, sagte Lucia mit einer jetzt nur noch von Scham verwirrten Miene. Der Pater winkte Renzo herbei, der in der entferntesten Ecke stand, um von dort aus als aufmerksamer Beobachter (eine andere Rolle konnte er ja nicht spielen) den Dialog zu verfolgen, der ihm so viel bedeutete; und als der junge Mann hinzugetreten war, sprach der Greis mit erhobener Stimme zu Lucia: ‚Kraft der Autorität, die mir die Kirche verliehen hat, entbinde ich dich vom Gelübde der Jungfräulichkeit, indem ich aufhebe, was darin an Unbedachtem gewesen sein mag, und dich von jeder dadurch eingegangenen Verpflichtung befreie.‘“ (S. 807 f.) 356Während die ‚Lösungsworte‘ „vi dichiaro sciolto dal voto di verginità …“ in Fermo e Lucia und I promessi sposi fast identisch sind, gibt es diese Formulierung nur in der Endfassung, ebenso wie das „desidero anzi che me lo chiediate“. 357Drigani,
Il mantello della giustizia, S. 66.
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3 Manzoni – Recht und Roman
auch juridische Verpflichtungen nach sich ziehen. Padre Cristoforos Akt hätte damit keine rechtliche, sondern nur moraltheologische Relevanz: Insbesondere Pfarrer im karitativen Dienst seien mit der kirchlichen Autorität ausgestattet, private Gelübde aus berechtigten Gründen zu lösen. Anders Francesco di Ciaccia: Er sieht juridische Implikationen des Moraltheologischen und weist auf eine existentielle Notwendigkeit des Gelübdes für Lucia hin: „Per Lucia, infatti, rinnegare un atto ‚sincero‘ equivale a non poterne porre un altro, in questo caso l’atto elicito di amore.“ Padre Cristoforo löse diese Aporie, indem er nicht den Sprechakt für nichtig erkläre, sondern nur seinen Inhalt: „Perciò, egli conferma la validità coscienziale dell’atto del voto: non toglie nulla ad esso: mal o distingue dal suo contenuto: è l’oggetto – nella fattispecie, la ‚verginità‘ intenzionata – ad esser posto in discussione.“358 Mit Di Ciaccia ist wohl darin übereinzustimmen, dass Padre Cristoforo tatsächlich einen dubium iuris aus dem Weg räumt. Er erklärt nicht das Gelübde für ungültig, sondern die Verpflichtungen, die daraus resultieren: „vi dichiaro sciolta del voto di verginità, annullando ciò che ci potè essere d’inconsiderato, e liberandovi da ogni obbligazione che poteste averne contratta“. Allerdings glaube ich, dass dabei weniger eine subjektive Existentialität Lucias als die Existentialität des (Liebes-)Paares als Gründungsfigur für die Gemeinschaft auf dem Spiel steht. Padre Cristoforo restituiert nicht Lucias Willen („volontà“), nach dem sie sich Renzo hingeben will, sondern vielmehr ihr weibliches Wort, Renzo nehmen zu wollen. Ginge es primär um die Restitution einer ‚absoluten Aufrichtigkeit‘ („sincerità“) Lucias, wovon Di Ciaccia ausgeht, wäre Renzos Anwesenheit in dieser Szene dysfunktional und voyeuristisch. Das Gespräch müsste unter vier Augen statthaben. Tatsächlich entspricht die Dramaturgie der Szene aber einer kryptisch verschobenen und einseitigen Eheschließungsszene, die bekanntermaßen aus drei Akten besteht: Der Pfarrer, minister der Zeremonie, erfragt den Ehekonsens der Gattin. Diese antwortet mit der Deklaration ihres Ehekonsenses, und nachdem auch der Gatte das Gleiche gefragt worden ist, erklärt der Pfarrer als qualifizierter Zeuge im dritten Schritt das Paar zu einer sakramentalen und rechtlichen Einheit. Ganz analog dazu fordert Padre Cristoforo im vorliegenden Gespräch Lucia dazu auf, die Entbindung von ihrem ‚voto‘ zu erbitten. Lucia stammelt zwar in ihrer Replik, aber faktisch bringt sie das Erfragte hervor. Und im letzten Schritt vollzieht der Pater ihre Entbindung von den Pflichten des Gelübdes. Die Analogie wird exponiert, indem Cristoforo, bevor er die Auflösung vollzieht, nun Renzo, der die ganze Zeit in einer Ecke gestanden hat, herbeiwinkt und aus der einseitigen Adressierung Lucias eine doppelte an das Paar macht. Durch die Negation der Verpflichtung zu Jungfräulichkeit, „vi dichiaro sciolta del voto di verginità“, klingt damit die Affirmation des Ehebundes nach tridentinischer Vorgabe hindurch: „Ego vos in matrimonium coniungo, in nomine Patris et Filii et Spiritus Sancti“.359
358Di
Ciaccia, La parola e il silenzio, S. 266. oben Abschn. 2.1: Säkularisierung der Ehe? Sakramentalität und Rechtsprechung („Sichtbarkeit oder: paulinisches mysterium“). 359Vgl.
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung
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Dieser negativ-rechtliche Teil der Szene wird gleichsam sakramental besiegelt durch die anschließende Ansprache Padre Cristoforos an das Paar. Er übergibt Lucia als persönliches Vermächtnis das Holzschächtelchen mit jenem „pane del perdono“, das er einst vom Bruder dessen, den er getötet hat, als Zeichen der Versöhnung in Empfang genommen hatte. Der Romanerzähler inszeniert eine poetische Übertragung der priesterlich-eucharistischen und gemeinschaftsstiftenden Funktion des Paters auf das Ehepaar, das einen neuen Gemeinschaftskörper begründet. „qui dentro c’è il resto di quel pane … il primo che ho chiesto per carità; quel pane, di cui avete sentito parlare! Lo lascio a voi altri: serbatelo; fatelo vedere ai vostri figliuoli. Verranno in un tristo mondo, e in tristi tempi, in mezzo a’ superbi e a’ provocatori: dite loro che perdonino sempre, sempre! Tutto, tutto! e che preghino, anche loro, per il povero frate!“ (PS, XXXVI, 638)360
In Fermo e Lucia ist es, wie oben schon erwähnt, Renzo, der, nachdem er im Angesicht des pestkranken Don Rodrigo Vergebung geschworen hat, Padre Cristoforos ‚Reliquie‘ in Empfang nimmt. In der Endfassung ist es Lucia, die das Brot, nachdem ihre parola Recht stiftenden Status erhalten hat, empfängt: „E porse la scatola a Lucia, che la prese con rispetto, come si farebbe d’una reliquia.“ (PS, XXXVI, 638 f.)361 Es ist nur konsequent, die Zusammenführung des Paares als eine der letzten Handlungen des an der Pest erkrankten Padre Cristoforo zu inszenieren. Seine Hingabe an die Gemeinschaft ist nur dadurch begründet, dass er einmal einen Menschen umgebracht hat, und sein ganzes Begehren zielt darauf, diese Gewalt, Gewalt eines nur scheinbar unschuldigen Kirchen-Corpus, zu unterbrechen. Sein Brot der Vergebung ist „il primo che ho chiesto per carità“; Renzo und Lucia sollen dagegen eine Gemeinschaft begründen, die von Anfang an aus einer passionellen Liebesquelle schöpft. Das negierte Gelübde substituiert den begründenden Sprechakt des Paares. Mit dieser zentralen Wende endet das XXXVI. und drittletzte Kapitel des Romans.
Communauté inavouable Die Eheschließung als Wende, mit der ein neuer, gewaltfreier Gemeinschaftskörper begründet werden soll, entspricht jenem ‚ganz poetischen‘ Akt des Autors, den Manzoni in Del romanzo storico als Ausweg aus einer Geschichte beschrieben hat, die keine heroischen Stoffe mehr aufzubieten hat: „Nel romanzo 360„,Hier drinnen ist der Rest jenes Brotes … des ersten, das ich als Almosen einst erbat, ihr werdet davon gehört haben. Ich hinterlasse es euch. Bewahrt es auf und zeigt es euren Kindern. Sie werden in eine traurige Welt kommen und in traurige Zeiten, mitten unter die Hoffärtigen und die Aufwiegler. Sagt ihnen, daß sie immer vergeben sollen, immer und alles, alles! Und daß auch sie für den armen Pater beten sollen.‘“ (S. 809) 361„Er reichte das Kästchen Lucia, die es ehrfürchtig entgegennahm, als handle es sich um eine Reliquie.“ (S. 809)
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3 Manzoni – Recht und Roman
storico, il soggetto principale è tutto dell’autore, tutto poetico, perchè meramente verosimile“.362 Der mit poetisch-fiktiven Mitteln instituierte Gemeinschaftskörper kehrt die übliche, paulinische Figuralität des Ehepaares um. Nicht der Mann ist hier das Haupt und die Frau der Leib des ehelich verbundenen Gemeinschaftskörpers. Sie ordnet sich nicht unter, während ihm die Aufgabe des Liebens zufällt. Sondern eher andersherum: Lucia wäre das Haupt, Adressatin und Hüterin dieses Ehe-Kultes. Sie liebt weiblich-männlich wie Christus, während Renzo sich männlich-weiblich, leib-haftig diesem Haupt unterordnet. Das ist eine theologisch wie rechtsphilosophisch unerhörte Rollenumkehrung. So findet sich beispielsweise auch in Antonio Rosminis Del bene del matrimonio cristiano (1847) die traditionelle Metapher des Mannes als Haupt der privaten ‚Ehe-Kleinkirche‘: quei due divenuti un solo pel matrimonio possono di più prestare congiuntamente un solo culto a Dio; il quale conviene principalmente che sia prestato dall’uomo, siccome capo, insieme colla sua sposa, siccome corpo di lui.363
Nun bildet Manzoni in seinem Roman einen solchen matriarchal rollenverkehrten corpus mysticum, „culto cristiano a Dio“, nicht ab, er beschränkt sich darauf, ihn zu versprechen. Nicht zuletzt klingt die Verkehrung am Ende noch einmal in Renzo und Lucias Kindern an: Als erstes wird ein Mädchen geboren und „potete credere“ (PS XXXVIII, 672; „man kann sicher sein“, S. 853), dass man ihr den Namen Maria gab. Während das Produkt des rollenverkehrten Paar-Körpers ironisiert wird, zeichnet sein Werden, seine fiktionale Bildung eine romaneske écriture aus, die sich ihrem differentiellen Charakter stellt. Ganz ähnlich wie Maurice Blanchot von einer uneingestehbaren Gemeinschaft spricht, die nur in ihrem Mangel beschreibbar und habbar ist,364 erzählen die Promessi sposi eine paradoxe Geschichte des Paares als eine Geschichte der Trennung und Spaltung. Was uneingestehbar bleibt in diesem Liebesroman, ist der Grund, das Recht, die Verbindlichkeit der dargestellten Gemeinschaft. Nicht zufällig bleibt eine Darstellung der Eheschließung als feierlicher Austausch des Paar-Konsenses im Roman auch aus. Was bleibt, ist ein Versprechen am Abgrund der Trennung. In ihrer Replik auf Renzos negative Bildungssumme spricht Lucia dieses Abgründige des Versprechens ironisch aus. Ginge es um die Lehre, die aus ihrer Geschichte zu
362Manzoni,
Del romanzo storico, S. 364. („Im historischen Roman ist der Hauptgegenstand ganz vom Verfasser, ganz dichterisch, weil bloß wahrscheinlich.“ Übers. Arens, S. 446) 363Antonio Rosmini, „Del bene del Matrimonio cristiano“ (1847); in: Ders., Del matrimonio, hg. Remo Bessero Belti (= Opere di Antonio Rosmini, Bd. 30), Roma: Città Nuova Editrice 1977, S. 339–353; hier: S. 348. („[D]ie beiden, die durch die Ehe eins geworden sind, können Gott mit einem einzigen Kult dienen; wobei es wesentlich darauf ankommt, dass dieser Dienst vom Mann, gleichsam Haupt, zusammen mit seiner Braut, die gleichsam sein Körper ist, erbracht wird.“ Eigene Übers.) 364Maurice Blanchot, La communauté inavouable, Paris: Minuit 1983. – Auch Blanchot entfaltet eine solche negative Gemeinschaft in der Figur der unmöglichen, intimen Zweierbeziehung von Mann und Frau.
3.3 Lucia im Prozess der Sakralisierung
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ziehen wäre, läge diese dann nicht darin, „‚che il mio sproposito sia stato quello di volervi bene, e di promettermi a voi […]‘“ (PS, XXXVIII, 673)?365 Die Ehe soll weder ein neues Gesetz begründen, noch stellt sie eine Garantie für eine gelingende Gemeinschaft dar. Das wird spätestens deutlich, wenn der Erzähler bei der Darstellung der Mailänder Pest im XXXII. Kapitel Ripamonti zitiert, der die desaströse Zerrüttung des Gemeinwesens in den Pestzeiten beschreibt: Non del vicino soltanto si prendeva ombra, dell’amico, dell’ospite; ma que’ nomi, que’ vincoli dell’umana carità, marito e moglie, padre e figlio, fratello e fratello, eran di terrore: e, cosa orribile e indegna a dirsi! la mensa domestica, il letto nuziale, si temevano, come agguati, come nascondigli di venefizio. (PS, XXXII, 557)366
Wenn Pest und Unglück wüten, wird selbst das „letto nuziale“ zu einer tödlichen Falle. Und genau solche Zeiten prophezeit Padre Cristoforo bekanntermaßen den Kindern der Brautleute: „[v]erranno in un tristo mondo, e in tristi tempi, in mezzo a’ superbi e a’ provocatori“. An diesem Pessimismus lässt sich nicht rütteln. In den Promessi sposi gibt es keine Gesellschaft und kein Volk (popolo), keine funktionierenden Institutionen, weder Familien, Korporationen noch Kongregationen. Nur zweimal im ganzen Roman fällt das Wort società – und das im Roman eines Autors, der seine ‚Bildung‘ maßgeblich der ‚sociabilité‘ der französischen Aufklärungsgesellschaft. Im ersten Kapitel heißt es von Don Abbondio, dass er von klein auf gelernt hatte, sich in der Gesellschaft wie ein Tongefäß („un vaso di terra cotta“) unter vielen Eisengefäßen („molti vasi di ferro“) zu bewegen (PS, I, 19). Der Roman beginnt mit dem grundsätzlichen Antagonismus von Unterdrückern und Unterdrückten und er endet mit ihm: Renzo und Lucias Dorf ist in der Nähe von Lecco, wo eine spanische Garnison stationiert ist, „che insegnavan la modestia alle fanciulle e alle donne del paese“ (PS, I, 8; „die den Mädchen und Frauen des Ortes Bescheidenheit beibrachten“, S. 14). Und am Ende landen die beiden im bergamaskischen Exil, wo man die aus dem Mailändischen Zugezogenen nur ‚baggiani‘ (‚Tröpfe‘) nennt und wo Renzo und Lucia das erste Dorf gleich wieder verlassen, weil die Dörfler von Lucias vermeintlicher Schönheit enttäuscht sind. Das Exil bringt nicht eine neue Heimat, sondern nur ein neues Exil, in dem Gleichheit und Gerechtigkeit sich wieder nur als ein Traum erweisen. Am besten bringt dies bereits der Marchese ins Bild, der seine Burg für das Hochzeitsfest der ‚Sposi‘ zur Verfügung stellt, sich selbst dann aber für das Festmahl mit Don Abbondio in einen getrennten Raum zurückzieht. Demut hat er, so erklärt der Erzähler, „quanta ne bisognava per mettersi al di sotto
365„,[D]ass mein Fehler darin bestanden hätte, dich liebgehabt und mich dir versprochen zu haben.‘“ (S. 854) 366„Nicht nur der Nachbar, der Freund, der Gast wurde verdächtigt, sogar die vertrautesten Namen, die engsten Bande der menschlichen Liebe, Mann und Frau, Vater und Sohn, Bruder und Bruder, flößten Schrecken ein. Und – grausig und schändlich, es auszusprechen! – den häuslichen Tisch, das eheliche Bett fürchtete man wie einen Hinterhalt, wie ein Giftmischernest.“ (S. 707)
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di quella buona gente, ma non per istar loro in pari“ (PS, XXXVIII, 667; „so viel […] wie nötig war, um sich unter jene guten Leute zu stellen, aber nicht so viel, um sich mit ihnen gleichzustellen“, S. 847). Die Entscheidung, für den Roman der Gemeinschaft das Liebespaar zur zentralen Figur zu erheben, impliziert zwar gerade nicht Kommunion, Verschmelzung der Einzelnen zu einem Ganzen, aber – das scheint mir entscheidend – ein Recht und die Notwendigkeit, die nicht gleichen Einzelnen in Beziehung zueinander zu bringen. In diesem Postulat einer Beziehung der Individuen und der Geschlechter als Recht des Romans und Recht des Paares (nicht: der Nation) geht Manzonis Roman einen Sonderweg in der europäischen Romangeschichte. Dabei ist wichtig festzuhalten, dass es nicht um die Zuschreibung und Festschreibung von Geschlechterrollen geht. In Fermo e Lucia gibt es hierzu eine aufschlussreiche Stelle, an der es heißt: „tutte queste quistioni di paragone tra l’un sesso e l’altro, non saranno mai messe in chiaro, e nè pure ben poste fin che gli uomini soli ne tratteranno ex professo negli scritti: giacchè essi peccano tutti verso le donne o di galanteria adulatoria, o di ostilità grossolana“ (FL, II, IV, 198).367 Um falsches Lob und falschen Tadel von Männern, falsche Zu-Schreibungen zu vermeiden, geht es eher um ein Schreiben mit einem anderen Geschlecht, in dem das eigene zu sich finden könnte. Solange das Paar das Ziel des Romans ist, kann die Gründungsgewalt der Gemeinschaft in einem Geschlechtertausch sublimiert werden. In meiner Romanlektüre habe ich zu zeigen versucht, wie die Überwindung der Ehehindernisse in einer exakten Symmetrie und Analogisierung der Kontrahenten erfolgt. I promessi sposi schreiben den Roman der Gemeinschaft gewissermaßen als Roman eines Geschlechtertausches. Beziehungshaftigkeit wird auf diese Weise zu einer sowohl individuellen als auch kollektiven Angelegenheit. Ontologisiert wird hier nicht das Paar, sondern die Relationalität, die in seiner Figuralisierung entsteht. Im Kontakt mit ihren Kontrahenten ‚opfern‘ sowohl Renzo als auch Lucia ihr ‚Geschlecht‘. Aus Renzo wird eine ‚Frau‘, die sich ihrer Natur hingibt; aus Lucia ein ‚Mann‘, der sich über seine Natur erhebt. In der geschlechtlichen Differenz, die der gespaltene Erzähler in Renzo und Lucia performiert, entfaltet sich die Paar-Poetik des Romans, die zwar keinen Gemeinschaftskörper, aber doch einen Textkörper hervorbringt. Der Prozess der Paar-Bildung tritt an die Stelle des Rechtes und der Gemeinschaft und legitimiert den Roman. Nach seinem Zusammenkommen gibt es – außer den Roman – eigentlich nichts mehr. Es gibt keine neue Rechtsform – weder der Ehe noch des Staates – und vielleicht sogar nicht einmal mehr das Paar, das sich in der Familie objektiviert. Auch Goethes literarische Ehe-Experimente loten, wie im Folgenden zu sehen sein wird, politische Macht- und Herrschaftsverhältnisse aus. Auch hier geht es um den Umgang mit historischer und fiktionaler Gründungsgewalt. Während
367„All diese Fragen, die der Vergleich der beiden Geschlechter aufwirft, werden nie geklärt werden oder auch nur richtig gestellt werden, solange die Männer sie in ihren Schriften nur förmlich behandeln. Denn sie machen alle den Fehler, dass sie den Frauen gegenüber entweder schmeichelnde Galanterie oder plumpe Feindseligkeit an den Tag legen.“
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I promessi sposi die Antwort in einem uneingestehbaren Roman suchen, wird in Goethes Texten mit verschiedenen Antworten experimentiert, die sich zugleich in verschiedenen ‚Gattungen‘ präsentieren. Dabei münden die Formversuche in einen Roman (der Wahlverwandtschaften), der ein Eigenrecht behauptet und der in einem verdoppelten Paarverhältnis weniger auf einen Ausgleich literarischer und rechtlicher Verfahren als auf deren Zuspitzung setzt.
4
Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Ein durchgreifender Advokat in einer gerechten Sache, ein durchdringender Mathematiker vor dem Sternenhimmel sind beide gottähnlich.*
Anders als bei Rousseau und Manzoni lässt sich aus Goethes Texten kein einheitlicher, wenn auch noch so widersprüchlicher Ehe-Begriff, dafür aber eine Entwicklung des Begriffs herauslesen. Goethe experimentiert mit der Ehe, um sich implizit, ‚symbolisch‘ mit dem staatspolitischen Ereignissen der Revolution auseinanderzusetzen. Texte wie die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), Herrmann und Dorothea (1797) und Die Wahlverwandtschaften (1809) „transponieren das politische Geschehen in überschaubare Historienminiaturen, in denen erotische Leidenschaften die in der Revolution ausbrechenden ‚Naturkräfte‘ spiegeln sollen und in denen Entsagungsschwüre und Ehebünde als Gegengewalt zur revolutionären ‚Naturgewalt‘ konzipiert sind.“1 Auch seinen eigenen, Rousseaus Dienstmädchen-Ehe nicht unähnlichen Ehebund stilisierte Goethe zu solch einem Entsagungsbund. Er heiratet Christiane Vulpius nach sechzehn Jahren unehelichen Zusammenlebens und fünf Tage nach der Einnahme seines fürstlichen Hauses am Weimarer Frauenplan durch französische Revolutionstruppen. Das Paar wird nach einer Sondergenehmigung Carl Augusts vom Oberkonsistorialrat und Hofprediger Günther, Nachfolger Herders, am 19. Oktober 1806 in der Sakristei der Weimarer Jakobskirche getraut. Seinem Freund Karl Ludwig von Knebel berichtet Goethe, dass er den Trauringen das Datum der Schlacht von Jena-Auerstedt, 14. Oktober 1806, eingravieren lassen habe. Er datiert die
1Nils
Reschke, „Zeit der Umwendung“. Lektüren der Revolution in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften, Freiburg: Rombach 2006, S. 10. *Goethe, „Zur Naturwissenschaft“, WA II, 11 (1893), S. 138; zit. in: Eugen Wohlhaupter, Dichterfürsten, Bd. 1, Tübingen: Mohr 1953, S. 173.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0_4
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Ehe zurück und inszeniert sie, ganz wie sein epischer Herrmann, als politische Defensivaktion. Wohingegen er seine Ehe ohne Trauschein in den 1790er Jahren in einem Brief an Schiller noch als revolutionäre Befreiung dargestellt hatte: „Heute erlebe ich auch eine eigne Epoche, mein Ehstand ist eben 8 Jahre und die französische Revolution 7 Jahre alt“.2 Dass der förmliche Eintritt in den Stand der Ehe auch mit Besitzstandswahrung und der Hoffnung darauf, endlich das herzogliche Haus am Frauenplan überschrieben zu bekommen, zu tun hat, verschweigt der Hofdichter.3 Ebenso, dass er vielleicht eine vermeintlich letzte Gelegenheit nutzen wollte, unter landesherrlicher – und nicht napoleonischer – Gesetzgebung zu heiraten. Das biographische Epos wird um eine historisch offenbar nicht nachweisbare Anekdote ergänzt, nach der Christiane ganz mit Goethes Dorothea verschwimmt: Die Gattin habe dem Dichter in der Nacht des Überfalls ‚das Leben gerettet‘, so wie die Magd Dorothea Kriegsplünderer mit dem Säbel abgewehrt hat.4 Angesichts der handfesten, privatrechtlichen Implikationen von Goethes Heirat scheint es mir unverständlich, dass diese bisweilen immer noch als eine ‚Errungenschaft bürgerlicher Freiheiten‘ dargestellt wird, die mit dem Einrücken der Franzosen möglich geworden sein soll.5 Die vor allem in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten entwickelte Figur der ‚Entsagung‘ – das ‚Ja-alsNein‘ – ist nicht nur affektpolitisches Kompensations-, sondern auch Rüstungsprogramm, wenn es auch von den Texten ebenso kritisch entworfen wie hinterfragt wird. Der eherechtliche Diskurs im engeren Sinne spielt eigentlich erst in den Wahlverwandtschaften (1809), dort aber eine alles überragende Rolle. Vor allem Feinheiten des damaligen Scheidungsrechtes sind hier von zentraler Bedeutung. Insgesamt lässt sich sagen, dass Goethe mit dem allegorisch-politischen Potential der Ehe experimentiert, indem er das Eherecht als Modalität eines variablen und
2Goethe
an Schiller am 13. Juli 1796; zit. in: Reschke, „Zeit der Umwendung“, S. 19. hierzu ausführlich Peter J. Swartz, After Jena. Goethe’s Elective Affinities and the End of the Old Regime, Lewisburg: Bucknell University Press 2010 (insb. das zweite Kapitel: „Why Did Goethe Marry When He Did?“, S. 40–51). 4Siehe Sigrid Damm, Christiane und Goethe. Eine Recherche, Frankfurt a. M./Leipzig: Insel 1998, S. 327–343. Der Lebensrettungsmythos wieder wie selbstverständlich und unreflektiert aufgegriffen bei: Rüdiger Safranski, Goethe. Kunstwerk des Lebens. Biographie, München: Hanser 2013, S. 476: „In dieser Situation, als ihm (Goethe) die Soldateska buchstäblich auf den Leib rückte, zeigte sich Christiane besonders tüchtig und geistesgegenwärtig. Sie erhob ein großes Geschrei und brachte einige handfeste Leute, die sich in Goethes Haus geflüchtet hatten, dazu, die betrunkenen und bewaffneten Kerle aus Goethes Schlafgemach hinauszudrängen.“ 3Vgl.
5So
etwa bei Gerhard Müller, „‚Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden‘ – Gesellschaftlicher Umbruch und Reformpolitik als zeithistorischer Hintergrund des Romans Die Wahlverwandtschaften“, in: Helmut Hühn (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“. Werk und Forschung, Berlin/New York: De Gruyter 2010, S. 349–365; hier: S. 352.
4.1 Von der Ehe-Novellistik der Ausgewanderten zur Herrschaftsutopie
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dynamischen poetologischen Selbstbezuges fungieren lässt. Goethe praktiziert, knapper, die Ehe als Binde- und Scheidekunst. Gleichzeitig zeichnet sich in der Chronologie der Bearbeitung des Themas eine gattungsmäßige Entwicklung ab: Beginnen die Experimente mit der kleinen Form der Novelle – einer Gattung aus dem romanischen Bereich mit engem Bezug zum Recht –, so bewegen sie sich über die hybride Form des Epos’ zur großen Form des Romans hin. Auf ähnliche und doch ganz verschiedene Weise wie Manzoni gelangt Goethe damit über die Ehe zu einem modernen Roman, der ein Eigenrecht behauptet. Sind es in Manzonis Roman Ehehindernisse, die einer Paar-Bildung entgegenstehen und überwunden werden müssen, blockieren in Goethes Roman der Wahlverwandtschaften Scheidungshindernisse dauerhaft die Paar-Bildung.
4.1 Von der Ehe-Novellistik der Ausgewanderten zur Herrschaftsutopie Revolutionäre Leidenschaften und gestörte Ehen Goethes hermetisches Märchen, das die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795) beschließt, endet mit der Herstellung einer Königsherrschaft, die auf „die Kraft der Liebe“ zurückgeführt wird.6 Mit ihr werden nicht nur Naturgewalten gebändigt, sondern auch die unter ihr bestehenden Ehen erneuert, wie der Alte mit der Lampe – wundersam verjüngt und seine ebenso verwandelte Gattin glücklich umarmend – feststellt: „von heute an ist keine Ehe gültig, die nicht aufs neue geschlossen wird“ (UA, 1112). Schillers Horen, für die Goethe seine N ovellen-Sammlung beiträgt, stehen bekanntlich im Zeichen der entfesselten Revolution. Benannt ist die Zeitschrift nach den Zeus-Töchtern Eunomia, Dike und Eirene, den Göttinnen für Ordnung, Recht und Frieden.7 Der politischen Krise und gesellschaftlichen Unordnung soll mit dem Ausschluss tagespolitischer Aktualität und mit ästhetischer Erziehung beigekommen werden. Schiller will, so schreibt er in der Einladung und Ankündigung der Horen, „alles verbieten, was sich auf Staatsreligion und politische Verfassung bezieht“.8 Goethe antwortet darauf mit dem Gattungsexperiment der Novelle, in der das
6Johann
Wolfgang Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 9: Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. Wilhelm Voßkamp und Herbert Jaumann, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992, S. 993–1119; hier: S. 1111. Im Folgenden mit der Sigle UA und Seitenangabe direkt im Text belegt. 7Vgl. Sigrid Bauschinger, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: Paul Michael Lützeler, James E. McLeod (Hg.), Goethes Erzählwerk. Interpretationen, Stuttgart: Reclam 1985, S. 134–167; hier: S. 135. 8Schiller, „Ankündigung“, in: Schillers Werke, Bd. 4: Schriften, Frankfurt a. M.: Insel 1966, S. 135; zit. in: Bauschinger, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, S. 136.
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Auszuschließende narrativ und am Ende ‚märchenhaft‘ eingeschlossen wird.9 Im „Donner der Kanonen“ (UA, 1000), in den Geräuschen der Gespenster und der berühmten Schreibtisch-Explosion, von denen die Erzählungen berichten, manifestiert sich das Unerhörte buchstäblich und lautstark sowohl auf Erzähl- als auch auf Rahmenebene. Etymologisch verweist der Gattungsbegriff der Novelle womöglich weniger auf die ‚kleine Neuheit‘ aus dem altprovenzalischen novela und Diminutiv zu nova als vielmehr auf die Novellae, die im Iustinianischen Corpus Iuris Civilis diejenigen neuen Einzelgesetze bezeichnen, welche die kodifizierte, kaiserliche Gesetzgebung (Institutiones, Digesten und Codex Iustinianus) nach und nach ergänzten.10 In einem Vergleich von Goethes Unterhaltungen mit Boccaccios Decameron vertritt Chenxi Tang die Ansicht, dass die einzelnen Novellen durch eine Rechtskritik verbunden seien, die insbesondere gegen ein Völkerrecht (ius gentium) gerichtet sei, das von den Revolutionsbefürwortern als Kriegsrecht verstanden worden war.11 Nach Tang favorisiere Goethe, anders als Hobbes, „a model of lawful order and sociability beyond sovereign authority“,12 in dessen Zentrum der Verzicht auf individuelle Freiheit (‚Entsagung‘) stehe. Dem ist grundsätzlich zuzustimmen, allerdings hinzuzufügen, dass die Kritik am naturalisierten Völkerrecht nicht nur eine ästhetisch-sittliche, sondern selbst eine rechtliche Volte hat. Indem die Novellen um die Figur der Ehe kreisen, wird aus dem staats- und völkerrechtlichen Problem ein zivilrechtliches, wobei die Reformierbarkeit des Ehebandes (vinculum matrimonii) ins Spiel gebracht wird. Revolution, Rahmenerzählung, die sechs erzählten Novellen sowie das Märchen als siebte, die Novelle gleichsam sprengende Erzählung stehen in einem trickreichen Beziehungsgeflecht, das Politik und Individuum, Allgemeines und Besonderes, Reales und Imaginäres immer wieder ineinanderspielen lässt.
9Zu
Gelingen oder Scheitern dieses narrativen Therapieprogramms und zu seinem Verhältnis zu Schillers Vorgaben s. den Kommentar von Voßkamp/Jaumann in: Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. dies., S. 1555–1557. Cornelia Zumbusch hat Goethes Ausgewanderten als ein Modell der Immunisierung gelesen, das auf dem Kalkül eines gezielten Einschlusses der äußeren Bedrohung beruhe (Cornelia Zumbusch, Die Immunität der Klassik, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2014 (12011), S. 300–319). 10Vgl. hierzu Helmut J. Jacobs, „novella, nouvelle, novela – Genese, Dilemma und Möglichkeiten einer Begriffsgeschichte der romanischen Kurznarrativik“, in: Christoph Strosetzki (Hg.), Literaturwissenschaft als Begriffsgeschichte, Hamburg: Meiner 2010, S. 145–160; hier: S. 152. Anhand der frühen, italienischen Novellensammlung Novellino weist er nach, dass der „Autonomisierungsprozess, der vom lateinischen Exemplum zur volkssprachigen Novelle führt, inhaltlich, funktional und in Bezug auf den Gattungsbegriff Novelle selbst aufs engste mit der Wiederentdeckung des römischen Rechts im Mittelalter und in der Institutionalisierung der Rechtswissenschaft“ verbunden ist (S. 150). 11Chenxi Tang, „The Transformation of the Law of Nations and the Reinvention of the Novella: Legal History and Literary Innovation from Boccaccio’s Decameron to Goethe’s Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, Goethe Yearbook 19 (2012), 67–92. 12Ebd., S. 81.
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So wie sich in den Diskussionen der kleinen Gesellschaft, die sich vor den Revolutionstruppen auf das im Rechtsrheinischen gelegene Gut zurückzieht, die Bedrohung des Gemeinwesens auf der Ebene der (adligen) Familie wiederholt, so spiegeln die Geschichten diese Bedrohung in den Motiven von Gespenstern, Leidenschaften und Entsagung. Die Instabilität der Herrschaftsverhältnisse prägt auch den kleinen, vaterlosen Exil-Oikos, den die Baronesse von C. als ‚treffliche Hausmutter‘ und ‚Führerin‘ provisorisch regiert.13 Seine Mitglieder sind die Tochter Luise, die um ihren in der alliierten Armee kämpfenden Bräutigam fürchten muss, der ältere Sohn Friedrich, der revolutionär gesinnte Vetter Karl sowie, neben Kammerdienern und -dienerinnen, der Hofmeister des Sohnes Friedrich und der Abbé als Hausfreund der Familie. Als die Familie des Geheimrates von S. zu Besuch ist, kommt es zum Eklat: Nach einem heftigen Streit zwischen dem ungestümen Karl und dem das ‚alte System‘ verteidigenden Geheimrat reist dieser samt Frau und Tochter wieder ab. Die Baronesse reagiert – selbst leidenschaftlich entbrannt – mit einer Art Notverordnung auf das, wie sie findet, grundsätzlich männliche Problem zerstörerischer Leidenschaftlichkeit. Sie verbietet die kontroverse Kommunikation des Zirkels zugunsten einer affektgedämpften Geselligkeit, in der nur „dasjenige“ gesagt werden darf, „was der andere schon denkt“ (UA, 1007): Laßt alle diese Unterhaltungen, die sich sonst so freiwillig darboten, durch eine Verabredung, durch Vorsatz, durch ein Gesetz wieder bei uns eintreten, bietet alle eure Kräfte auf lehrreich, nützlich und besonders gesellig zu sein, und das alles werden wir – und noch weit mehr als jetzt, benötigt sein, wenn auch alles völlig drunter oder drüber gehen sollte. Kinder versprecht mir das. (UA, 1010)
Aber erst der Abbé – interessanterweise die geistliche Instanz der unvollständigen Familie – wandelt das Geselligkeitsgebot der Baronesse in ein ‚gespenstisches‘ Erzählprogramm um, wobei das Gesetz, die Affekte auszuschließen, zu einem Gebot, über Affekte zu erzählen, umformuliert wird. Im Namen der novella, rechtlicher und literarischer Novellistik, setzt der Abbé auf eine kathartische Wirkungsästhetik, die mit den „Privatgeschichten“ Kontingenz und Unordnung der „Weltbegebenheiten“ (UA, 1013) beherrschbar machen soll. Alle Geschichten handeln von den „Empfindungen“ – im Gegensatz zu den (Ehe-)Gesetzen, könnte man hinzufügen – „wodurch Männer und Frauen verbunden oder entzweiet, glücklich oder unglücklich gemacht, öfters aber verwirrt als aufgeklärt werden“ (UA, 1014). Entweder verhindern die Leidenschaften das Zustandekommen einer Ehe
13Auf
den fehlenden Vater verweist ausdrücklich auch: Clemens Pornschlegel, Der literarische Souverän. Studien zur politischen Funktion der deutschen Dichtung, Freiburg: Rombach 1994, S. 129. Er leitet daraus (mit Bezug auf Friedrich Kittler) den Konnex von „mütterliche[m] (oder kernfamiliale[m]) Familienregime“ und Dichtertum ab, der an die Stelle des alten Hausvaters trete. Dabei übergeht er aber die Instanz des Abbé und die Tatsache, dass die Baronesse als Witwe ja eben nicht die private (Haus–)Mutterfunktion einnimmt.
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oder sie ‚verwirren‘ eine bestehende Ehe (durch den Ehebruch) oder aber sie führen durch jene leitmotivartige ‚Entsagung‘, die im Gebot der selbstbeherrschten Geselligkeit auch den Figuren der Rahmenerzählung auferlegt wird, in rechtlich suspekte Eheverhältnisse. In der ersten Geschichte ist die neapolitanische Sängerin Antonelli auf der Suche nach einem Freund, der ihr, anders als ein Liebhaber, keine vollständige „Aufopferung“ (UA, 1020) abverlangen würde. Dem Genueser Bürger, auf den sie trifft, macht sie einen entsprechenden Antrag, der vom Erzähler, dem Abbé, aber sogleich als unwahrscheinlich diskreditiert wird: „Nur leider überlegt man bei Bedingungen die man eingeht, nicht immer, ob sie möglich sind.“ (UA, 1019) Der Genueser erweist sich denn auch nicht nur als jener eifersüchtige Liebhaber, den die Antonelli nicht haben wollte, sondern gar als so hartnäckig, dass er die Sängerin noch nach seinem Tod mit einer geisterhaften, nächtlich wiederkehrenden Stimme verfolgt. Der Abbé deutet dies als Beleg dafür, „daß man auch jenseit des Grabes Wort halten könne“ (UA, 1028). Die dauerhafte Verbindung des Paares war unmöglich (oder gespenstisch), entweder weil die Sängerin mit ihrem ‚Privatvertrag‘ verkennt, was eine dauerhafte Verbindung ermöglicht (gänzliche Aufopferung), oder aber weil der Genueser verkennt, dass auch Privatverträge Gültigkeit (und Aufopferung) implizieren könnten. Dem Sohn der Baronesse, Friedrich, wird die Gespensterstimme zum Anlass, seinerseits eine Spukgeschichte zu erzählen, die implizit um einen (noch) nicht zustande gekommenen Ehevertrag kreist: Im Schloss eines Edelmanns spukt es. Im Umkreis der Haustochter, die schon „einige Freier um sie“ (UA, 1028) abgewiesen hat, kommt es zu einem rätselhaften Pochen, das erst aufhört, als der Vater dem Mädchen „schwur“ (UA, 1029), es im Fall weiteren Pochens zu Tode zu prügeln. Anders als in der ersten Geschichte erfährt man hier ansatzweise, wie die Zuhörer den geisterhaften Ton zu erklären versuchen. Luise sieht in dem Mädchen „das eigne[ ] Gespenst“, das sich einen Spaß erlaubte, während Fritz vorschlägt, den Geist entweder als Schutzgeist des Mädchens oder aber als Stimme des Liebhabers zu identifizieren, der die Tochter habe rauben wollen. Ausgerechnet der revolutionsaffine Karl bedauert eine Unentscheidbarkeit zwischen den verschiedenen Wahrscheinlichkeiten der Geschichte. Von ihm stammen dann die beiden folgenden Geschichten, in denen es um außereheliche bzw. ehebrecherische Leidenschaft geht. Beides sind Nacherzählungen aus den Memoiren des Marschalls Bassompierre (1579–1646). Als Geschichten aus einer Vormoderne, der die Idee der Liebesehe fremd war, erzählen sie, so könnte man mit dem Abbé sagen, von „alte[n] Bekannte[n] […] in einer neuen Gestalt“ (UA, 1016). Eine verheiratete Krämersfrau verführt den Marschall, erwirkt eine erfüllte Liebesnacht im Bordell und – fast – ein zweites Treffen im Haus einer Tante. Statt dort indessen noch einmal auf die schöne Krämerin zu stoßen, die von sich sagt, „außer meinem Mann und Euch [niemandem] zu Willen gewesen“ (UA, 1034) zu sein, findet der Marschall im fraglichen Haus ein Strohbett in Flammen und zwei nackte Leichen auf dem Tisch vor. Der Marschall flieht, offensichtlich weil er vermutet, dass die Frau der Pest zum Opfer gefallen ist, ohne danach jemals mehr über sie in Erfahrung bringen zu können. Während hier die Bedeutung des Liebesakts und Ehebruchs
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in die Schwebe einer für den Mann heilsamen ‚Pest‘ gebracht wird, bringt die zweite der Bassompierre-Anekdoten die unerhörte Reaktion einer Ehegattin ins Spiel: Als sie von den regelmäßigen Treffen ihres Mannes mit einer Geliebten auf seinem Sommerhaus erfährt, begibt sie sich eines Tages dorthin, um den im Bett Schlafenden schweigend ihren Schleier zu Füßen zu legen. Bei der Geliebten löst der Schleier solches Entsetzen aus, dass sie die Verbindung löst. Der Schrecken verwandelt sich insofern in einen Segen, als die Geliebte den legitimen Töchtern des Marschalls Geschenke hinterlässt, die von den Nachkommen als „Ursache manches glücklichen Ereignisses“ (UA, 1036) begriffen werden. Beide EhebruchGeschichten machen aus der Ehe, die in den ersten beiden Geschichten gar nicht zustande kommt und im gespensterhaften Knall verhindert bleibt, nun ein Rätsel von Bindung und Bruch. Erst im Ehebruch – sei es der im nackten Paar oder der im bräutlichen Schleier versinnbildlichte – scheinen die Geschichten eine verborgene Wahrheit zu erhalten.14
Ehegatten und Rechtssubjekte Die ‚Entsagung‘, die den Rahmenfiguren als Kommunikationsregel von Anfang an auferlegt ist, wird ausdrücklich erst im letzten Geschichten-Paar – in der den Cent nouvelles nouvelles (um 1460) entlehnten Prokurator-Novelle und in der Ferdinand-Novelle (neben dem Märchen die einzige, für die es keine spezielle Textvorlage gibt) – auch auf der Ebene der Erzählhandlungen entfaltet. Fast unbemerkt scheint dabei geblieben zu sein, dass sich die beiden letzten Novellen von den vorherigen auch dadurch unterscheiden, dass nur in ihnen ganz gezielt ein rechtliches Vokabular eingeführt wird. Meist wird argumentiert, dass sich in den ‚Entsagungsehen‘ der letzten beiden Novellen ein Plädoyer für die bürgerliche Ehe als ‚innenpolitisches‘ Konfliktlösungsangebot ausdrücke.15 Mit dem aufgebotenen 14Vgl.
hierzu Neumann, der in den B assompierre-Novellen die „aporetische[ ] Konstellation“ von „Allianzprinzip und Blutprinzip“ abgebildet sieht (Gerhard Neumann, „Die Anfänge deutscher Novellistik. Schillers Verbrecher aus verlorener Ehre – Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, in: Wilfried Barner, Eberhard Lämmert, Norbert Oellers (Hg.), Unser Commercium. Goethes und Schillers Literaturpolitik, Stuttgart: Cotta 1984, S. 433–460; hier: S. 450). Bauschinger sieht in der Krämerin die bedingungslose Liebe und im Schleier der Bassompierre-Gattin das Motiv der Entsagung, das erst die beiden nachfolgenden Novellen voll entfalten, vorweggenommen (Bauschinger, „Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, S. 148–150). Tang liest beide Geschichten als Appell zur Entsagung, ignoriert dabei aber komplett die Frage nach dem weiblichen Begehren (Tang, „The Transformation of the Law of Nations“, S. 83 f.). 15Vgl. etwa Pornschlegel, Der literarische Souverän, S. 137: „Goethes Novellenkranz ist nun ganz offensichtlich so komponiert, daß er den Prozeß dieses Zusammenfalls [von Pflicht/Gesetz und Neigung/Liebe; Anm. D. S.] oder der schönen Verinnerlichung des Gesetzes, das tendenziell aufgehoben wird in freiwilliger Entsagung, – und zwar von der kruden Sinnlichkeit der Natur (des ersten Novellenpaares) über das tödliche Selbstopfer (des zweiten Paares) hin zur glücklichen Sozialisierung (des dritten Paares) – in kontinuierlicher Steigerung oder stetiger Verlagerung nach innen vorführt.“
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Rechtsdiskurs, der ironischerweise gerade kein eherechtlicher, sondern ein sachenund familienrechtlicher ist, lässt sich aber zeigen, dass die Novellen mit höchst fragwürdigen (Ehe-)Rechtsverhältnissen enden, und dies sicher nicht erst für die modernen Leser. Besonders deutlich wird das in der Geschichte aus den Cent nouvelles nouvelles, wo Goethe die Akzente genau dadurch verschiebt, dass er an entscheidender Stelle Rechtsbegriffe einführt.16 Einen schon fünfzigjährigen, sehr reichen und viel gereisten See- und Handelsmann überfällt plötzlich die Sehnsucht nach unvergänglicheren Gütern als Gold und materielle Reichtümer. Er will heiraten und findet mit Hilfe seiner Schiffsgesellen auch bald das schönste Mädchen der Stadt. Fast ein Jahr lang lebt das Paar in häuslicher Glückseligkeit, aber noch bevor sich ein Kind ankündigt, packt den Handelsmann erneut das Fernweh. Um dem drohenden Ehebruch seiner erst sechzehn- bzw. siebzehnjährigen Gattin vorzubeugen, ersinnt er sich ein ungewöhnliches Mittel: Für den Fall, dass sie den Freuden der Liebe nicht mehr entsagen könne, erlaubt er ihr den Ehebruch, allerdings nur mit einem ehrenund tugendhaften Liebhaber. Der Fall tritt ein, das schöne Mädchen sucht sich einen ehrenwerten Prokurator („clerc“17) aus, der gerade das Studium der Rechte abgeschlossen hat. Und während in der französischen Textvorlage dieser Umstand nur dazu dient, den gesellschaftlichen Rang des Liebhabers abzusichern, wird in der Goethe’schen Version aus dem Liebhaber eine explizit juridische (und nicht: moralische) Instanz, die auf die Gattin einwirkt. Der junge Rechtsgelehrte will zwar, kann sich aber der Dame nicht hingeben, weil er der Muttergottes ein Entsagungsgelübde getan hat, das ihn noch zwei Monate bindet.18 Er schlägt ihr
16Theodore
Ziolkowski, „Goethe’s Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten: A Reappraisal“, Monatshefte 50 (1958), 57–74, verweist in seinem Vergleich der Prokurator-Novelle mit der Vorlage aus den Cent nouvelles nouvelles lediglich auf „an expressly moralizing conclusion to the story“ (S. 69), erwähnt den rechtlichen Kontext und seine Modifikationen aber gar nicht. Hinweise auf die Verschiebung zum Rechtlichen finden sich bei Hans J. Rindisbacher, „Procurator or Procreator: Goethe’s Unterhaltungen as Ironic Genre Praxis“, Goethe Yearbook 7 (1994), 62–84; allerdings ist seine These, nach der der impotente Ehemann durch einen seinerseits impotenten Prokurator ersetzt werde, nicht wirklich nachvollziehbar. 17Vgl. die 100. Novelle der Ausgabe Les Cent nouvelles nouvelles, o. Hg., Paris: Garnier 1866, S. 403–424. 18Aufschlussreich ist dabei die Tatsache, dass nach der französischen Textvorlage der Student in Bologna wegen einer Studentenrebellion angeklagt und verhaftet wurde. Im Gefängnis tut er das Gelübde, um ungeschoren aus der Affäre herauszukommen. Nach eigenem Bekunden sei er als Unschuldiger in sie verwickelt worden. Goethe unterschlägt diesen Grund, um den Prokurator nicht in eine rechtliche Grauzone zu bringen, und macht eine krankheitsbedingte Notlage zum Anlass des Gelübdes: „In der größten Not und unter den heftigsten Schmerzen tat ich der Mutter Gottes ein Gelübde […].“ (UA, 1053) Auch Rindisbacher, „Procurator or Procreator“, S. 74, weist auf diesen Unterschied und die damit verbundene Parallelisierung von Gatte und Prokurator hin. Beide entpflichten sich zeitweilig vom Geschlechtsverkehr, um ihre ‚Krankheit‘ abzuwehren.
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deshalb eine geteilte Askese von Keuschheit, Gebet, Wasser und Brot vor, um die Frist zu verkürzen. Bei der jungen Frau führt die strenge und grotesk überzeichnete Fastenkur an eine äußerste, körperliche Grenze, die der Text zugleich als krisenentscheidend und „völlige Genesung“ präsentiert (UA, 1056). Die Genesung läge, das wird immer wieder hervorgehoben, darin, dass die Gattin die Selbstbeherrschung lernt, bevor es zum Ehebruch kommt. „Sie haben mich fühlen lassen“, lässt sie dankbar ihren Fast-Liebhaber wissen, „daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsre heißesten Wünschen von uns zu entfernen.“ (UA, 1056) Im Anschluss an eine offenkundig falsche Lektüre Schillers ist in dieser moralischen Entsagung ein Hauptunterschied zur NovellenVorlage gesehen worden, wo – nach Schiller – „bloß die zeitig erfolgte Rückkehr des Alten das Glück der Kur“19 besiegelt hätte. Das ist ein Irrtum, denn auch in den Cent nouvelles nouvelles handelt es sich bereits um eine ‚moralische‘ Entsagung vor der Rückkehr des Ehemannes, von der die Geschichte überhaupt nicht mehr berichtet. Was sich in Goethes Lektüre wandelt, ist lediglich der Status der treuen Gattin: Während die frühneuzeitliche Novelle das patriarchale Recht des Ehemannes auf den Besitz der Ehefrau durch das zufällig-novellistische Bündnis von Gatte und Liebhaber de- und restabilisiert, zielt Goethes Variante auf einen rechtlich veränderten Status der Frau. Sie ist es, die (im Gegensatz zum Erzähler der Cent nouvelles nouvelles) das letzte Wort in der Novelle hat. Dabei ‚billigt‘ sie ihren Ehemann, der „großmütig genug [war], seine Rechte der Foderung der Natur hintan zu setzen“; ins Recht aber setzt sie den Prokurator, dem sie fortan ihr „ganzes Dasein […] schuldig“ sei (UA, 1056). Als neue, politische Gattin prophezeit sie ihm den römischen Ehrenrechtstitel eines pater patriae: „Sie werden mehr als der erste Staatsmann und der größte Held den Namen Vater des Vaterlands verdienen.“ (UA, 1057) Die rechtlichen Ergänzungen, die der Erzähler den Prokurator – gegen sein frühneuzeitliches Vorbild – in ironischer Absicht machen lässt, bestehen darin, die prophylaktisch-moralischen Vorgaben des abreisenden Ehemannes zu einem Akt der Unterbrechung eines Vertragsverhältnisses zu machen:20 denn es ist gewiß, daß ein solcher, der ein junges Weib zurück läßt um ferne Weltgegenden zu besuchen, als ein solcher anzusehen ist, der irgend ein anderes Besitztum völlig derelinquiert [aufgibt; Anm. D. S.] und durch die deutlichste Handlung auf alles Recht daran Verzicht tut. Wie es nun dem ersten besten erlaubt ist eine solche völlig ins
19Schiller
an Goethe, 20. März 1795; zit. in: Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. Voßkamp/Jaumann, S. 1522. Schiller irrt bereits in seiner Annahme, dass es sich bei der Vorlage um eine Novelle von Boccaccio handelt. Womöglich hatte er einen ganz anderen Prätext vor Augen. Die irrtümliche Einschätzung findet sich reproduziert bei Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 311. 20Darauf verweist auch Tang, „The Transformation of the Law of Nations“, S. 85.
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Freie gefallene Sache wieder zu ergreifen; so find ich um so mehr natürlich und billig, daß eine junge Frau, die sich in diesem Zustande befindet, ihre Neigung abermals verschenke […]. Tritt nun aber gar, wie hier, der Fall ein, daß der Ehemann selbst, seines Unrechtes sich bewußt, mit ausdrücklichen Worten seiner hinterlassenen Frau dasjenige erlaubt, was er ihr nicht verbieten kann; so bleibt gar kein Zweifel übrig, um so mehr, da demjenigen kein Unrecht geschieht, der es willig zu ertragen erklärt hat. (UA, 1051 f.)
Mit der derelictio wird die Frau zu einer „ins Freie gefallene[n] Sache“ und der bevorstehende Ehebruch als rechtskonformer Akt in Aussicht gestellt. Dem sexuellen Verzicht der Frau geht ein rechtlicher Verzicht des Mannes voraus. Damit aber verschiebt sich der Zweck der Askese von eherechtlicher Treue zu einer Rechtspflicht gegen sich selbst. In der Entsagung verhindert die Gattin ihre erneute Verdinglichung durch einen Anderen und konstituiert sich selbst – im Sinne Kants – als sittliches Rechtssubjekt: „Sie haben mich mir selbst erhalten; Sie haben mich mir selbst gegeben, und ich erkenne, daß ich mein ganzes Dasein von nun an ihnen schuldig bin.“ (UA, 1056)21 Nicht als Ehegattin, sondern ‚in eigener Person‘ trägt sie am Ende ihre kleine, staatstragende Rede vor, in der die durch den Rechtsgelehrten bewerkstelligte und selbst praktizierte Disziplinierung des Geschlechtstriebes zum obersten Staatszweck erhoben wird. Goethes Novelle politisiert das Eherecht: Die rechtliche Infragestellung der Unauflösbarkeit der Ehe durch den Prokurator destabilisiert das Eheverhältnis auf privatrechtlicher Ebene, damit es durch die keusch ‚gewordene‘ Frau als staatsrechtliche Pflicht restabilisiert werden kann.22 Der ‚vereidigte‘ Prokurator und die ‚gattenlose‘ Gattin der Novelle spiegeln damit auch das Paar-Verhältnis zwischen dem Abbé (dem Weltgeistlichen) und der verwitweten Gattin, die auf der Ebene der Rahmenhandlung gemeinsam die moralische Norm der Novellen ‚novellieren‘.
21Mit
Ulpian bestimmt Kant das honeste vive als die erste (von drei) grundlegenden Rechtspflichten: „1. Sei ein rechtlicher Mensch (honeste vive). Die rechtliche Ehrbarkeit (honestas iuridica) besteht darin: im Verhältnis zu Anderen seinen Wert als den eines Menschen zu behaupten, welche Pflicht durch den Satz ausgedrückt wird: ‚Mache dich anderen nicht zum bloßen Mittel, sondern sei für sie zugleich Zweck.‘ Diese Pflicht wird im Folgenden als Verbindlichkeit aus dem Rechte der Menschheit in unserer eigenen Person erklärt werden (Lex iusti).“ (Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten (1797), Erster Teil, „Allgemeine Einteilung der Rechtspflichten“, hg. Bernd Ludwig, Hamburg: Meiner 1998, S. 45 f.) 22Fragwürdig bleiben der Status und die Intentionen des Handelsmannes. Rindisbacher spekuliert, dass seine Abreise durch sexuelle Impotenz und Hoffnung auf stellvertretende Vaterschaft motiviert sein könnte („Procurator or Procreator“, S. 71 f.) Diese Hoffnung wird durch die staatstragende Sublimierung durchkreuzt. Aber bereits sein Heiratsbegehren oszilliert zwischen den Wünschen nach Besitzvermehrung, -erhaltung, -veredelung und -vererbung. In seinem nicht stillbaren Begehren rückt er in die Position des Ehebrechers und wäre überdies mit Goethes 1796 entstandener Idylle Alexis und Dora in Verbindung zu bringen.
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Die zweite der beiden Entsagungsnovellen des Abbé ist der ersten insofern komplementär, als nicht eine keusch-entsagende Gattin, sondern ein keusch-entsagender Gatte – Ferdinand nämlich – zum Hauptsprachrohr avanciert. Im Zentrum dieser Eheanbahnungsgeschichte steht die Emanzipation des Sohnes von der väterlichen Gewalt. Auch hier geht es um Unrecht und Recht, allerdings nicht im Verhältnis von Ehebruch und Treue, sondern im Verhältnis eines Verstoßes gegen das väterliche Recht zu bürgerlicher Freiheit. Seine Liebe zu Ottilie, einem der schönsten und reichsten Mädchen der Stadt, ist für Ferdinand mit einer ökonomisch aufwendigen Brautwerbung verbunden, die ihn umso mehr in Kalamitäten bringt, als er vom Vater finanziell an einer kurzen Leine gehalten wird. Die Tatsache, dass der Vater selbst den Haushalt nachlässig führt, sowie ein – von jenem selbst ererbter – „Trieb den Augenblick zu genießen“ (UA, 1059) führen dazu, dass er das elterliche Recht als ‚Zufall‘ in Frage zu stellen beginnt. Ferdinand versteht nicht, dass Eltern, die sich selbst Genuss erlauben, diesen den Kindern versagen: „[…] mit welchem Rechte tun sie es? Und wie sind sie zu diesem Rechte gelangt? Soll der Zufall allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt?“ (UA, 1063) „Mit diesen und andern Sophistereien über Besitz und Recht“, beschäftigt sich der Sohn laut Erzähler, d. h. vor allem mit der „Frage, ob man ein Gesetz oder eine Einrichtung, zu denen man seine Stimme nicht gegeben, zu befolgen brauche, und in wiefern es dem Menschen erlaubt sei im Stillen von den bürgerlichen Gesetzen abzuweichen“ (UA, 1064). Ein defekter Schreibtischverschluss – der Zufall also – führt prompt dazu, dass Ferdinand beginnt, den Vater zu bestehlen, um die Geliebte beschenken zu können. Ottilie erfährt – wiederum durch einen Zufall – von der Illegalität der Geschenke, will, dass Ferdinand sie zurücknehme, doch an Stelle einer Rückgabe erfolgt eine Verlobung, die, da ohne elterliche Einwilligung, ebenso illegal ist: Er erklärte ihr, daß er ohne sie nicht leben könne noch wolle; er bat sie ihm ihre Neigung zu erhalten, und beschwur sie ihm ihre Hand nicht zu versagen, sobald er versorgt und häuslich eingerichtet sein würde. Sie liebte ihn, sie war gerührt, sie sagte ihm zu, was er wünschte, und in diesem glücklichen Augenblicke versiegelten sie ihr Versprechen mit den lebhaftesten Umarmungen und mit tausend herzlichen Küssen. (UA, 1066)
In der Abwesenheit der Verlobten (und also in Abwesenheit des Inzitamentums der Leidenschaftlichkeit) setzt die Umkehr des Sohnes ein:23 Ferdinand erkennt sein „Verbrechen durch eigene Kraft“ (UA, 1070) und beschließt, die Handelsreise, auf die ihn der Vater schickt, dafür zu nutzen, das Diebesgut heimlich wieder zurückzuerstatten. Fast scheitert die Wiedergutmachung, doch dank mütterlicher Geduld und Intuition kommt es zur Aussöhnung mit dem Vater, an deren Ende der Plan wirtschaftlicher Unabhängigkeit und die Aussicht auf Ottilie als „glänzende
23Die
Erzählung versäumt es auch nicht, auf das biblische und „paradoxe Wort“ hinzuweisen, „daß die Gottheit selbst an einem zurückkehrenden Sünder mehr Freude habe, als an neun und neunzig Gerechten“ (UA, 1071).
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Schwiegertochter“ (UA, 1076) steht. Voreilig unterbricht Luise, die Braut unter den Zuhörern, die Erzählung an dieser Stelle, um zu bekunden, dass sie ihr sehr gefalle, weil hier jemand von sich aus, und nicht von außen dazu gedrängt, einem persönlichen Wunsch entsage. Aber entsagt Ferdinand bis hierher überhaupt einem Wunsch? Handelt es sich nicht eher um die Wiedergutmachung eines rechtlichen Vergehens, welche schließlich mit der Erfüllung aller seiner Wünsche – bürgerlicher Freiheit, Liebesehe und treuer Verbindung zur Familie – belohnt wird? Oder sollte Luise mit ihrem Kommentar auf den geheimen Wunsch Ferdinands, Gesetze (inklusive das väterliche) zu übertreten, zurückverweisen, und dies gar in einer kritisch-ironischen Absicht? An der Frage hängt das Problem des Endes der Geschichte, das Luise nun einfordert. Als der Abbé beteuert, dass die Geschichte „wirklich schon aus“ (UA, 1077) sei, setzt sie dem die Unterscheidung von „Entwickelung“ und „Ende“ entgegen. So liefert der Abbé das „Schicksal [s] eines Freundes“ (UA, 1077) nach, das Luise in ihrer Deutung vermutlich bereits ‚schleierhaft‘ geahnt hat. Ferdinand erinnert Ottilie an ihr Verlobungsversprechen. Diese hat aber keine Lust, dem Geliebten zur Hausstandsgründung aufs Land zu folgen, worauf ein letzter Brief – faktisch eine Lösung des Ehegelöbnisses – folgt. Ottilie gibt Ferdinand „sein Wort“ zurück, „ohne sein Herz ganz los zu lassen“ (UA, 1079). So heiratet Ferdinand das namenlose, „gute natürliche Mädchen“ (UA, 1079),24 das er auf seiner Handelsreise bereits als ideale Hausfrau kennengelernt hat. Die Geschichte fokussiert am Ende nicht das neue, eheliche Verhältnis des Paares, sondern die innovative Pädagogik, in die der junge Hausvater seinen offensichtlich weiterhin piksenden Liebesaffekt umwandelt. Seinen Kindern verlangt er willkürliche Verzichtleistungen ab, um ihnen eine „Enthaltsamkeit“ anzutrainieren, die nicht immer, aber „zur rechten Zeit“ (UA, 1080) – also vornehmlich in der hohen und revolutionären Zeit persönlicher und nationaler Partnerwahl – ausgeübt werden soll. Die Baronesse honoriert und politisiert Ferdinands hausväterliches Regiment denn auch gleich, „denn so komme auch in einem Reiche alles auf die exekutive Gewalt an; die Gesetzgebende möge so vernünftig sein als sie wolle, es helfe dem Staate nichts, wenn die ausführende nicht mächtig sei.“25 (UA, 1080) Tatsächlich eskamotiert Ferdinands Ehe nichts anderes als eine väterliche Willkürherrschaft, die jenseits jeden positiv-vernünftigen Rechts steht. Seine Maßnahmen sind ebenso absurd, wie ihr Erfolg zweifelhaft bleibt: „es fehlte nicht
24Sigrid
Bauschinger weist darauf hin, dass sie „die einzige Frauenfigur in allen Geschichten der Unterhaltungen ist, die nicht ausdrücklich als schön bezeichnet wird“ („Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten“, S. 156). 25Markus Hien erkennt in diesem Kommentar der Baronesse einen Hinweis auf das Reichskammergericht des Alten Reichs, das Goethe in Dichtung und Wahrheit als an sich gute Institution würdigte, welchem allerdings keine Mittel zu effektiver Wirksamkeit an die Seite gestellt seien (Altes Reich und Neue Dichtung. Literarisch-politisches Reichsdenken zwischen 1740 und 1830, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 396 f.).
4.1 Von der Ehe-Novellistik der Ausgewanderten zur Herrschaftsutopie
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an Arten und Unarten in seinem Hause. Er schien über alles gleichgültig zu sein und ließ ihnen eine fast unbändige Freiheit“ (UA, 1079). Goethes einzige selbst komponierte Novelle ist – im Gegensatz zu den historisch und literarisch überlieferten Gespenstergeschichten, Marschallsmemoiren und (Gesetzes-)Novellen – zyklisch und anti-novellistisch. Ihr Ende schließt nahtlos an den Anfang an, an dem Ferdinand das Recht seiner Eltern in Frage stellt. Seine dort gestellten Fragen lassen sich nun an ihn richten: Wie ist er zu seinem Recht gelangt? Und: „Soll der Zufall allein entscheiden, und kann das ein Recht werden, wo der Zufall wirkt?“ (UA, 1063) Am Schluss ist man keinen Schritt weiter, nur dass man es nicht mehr mit einem realen, sondern mit einem symbolischen Vater und internalisierten Gesetz zu tun hat.26 Das letzte Novellen-Paar wiederholt so noch einmal das Rätsel, wie eine durch weiblich-revolutionäre Gewalt entfachte Leidenschaft in ein Gleichgewicht der Geschlechter resp. Nationen gebracht werden kann. Während die Prokurator-Novelle in der Figur der Gattin für eine legislative Instanz plädiert, setzt die letzte Novelle in der Figur des Gatten auf die Exekutive. Der rechtliche Diskurs, der in den beiden letzten Novellen vermeintlich Ordnung schafft, bringt ironischerweise kein Ehepaar, sondern entweder eine Gattin oder einen Gatten hervor, wobei beider Askesepraktik ebenso absurd ist, wie verfassungsrechtlich konträre Konsequenzen aus ihr gezogen werden. Der aporetische Befund wiederholt sich auf der Ebene der Mikro-Gesellschaft der Rahmenerzählung. Hier stehen sich die Baronesse und der Abbé, die Stelle der väterlichen Autorität ersetzend, als gleichsam legislative und exekutive Gewalt gegenüber. Die Frage nach dem Schicksal der Exil-Gemeinschaft stellt sich in doppelter Weise. Zum einen verrätselt die Rahmenerzählung die Zukunft der adligen Familie: Erfährt man als Leser nichts über den verstorbenen Gatten der Baronesse (ist er ein Opfer der Revolution geworden?), so bangt man mit Luise um einen Bräutigam, der im Krieg ist. Dazu fragt man sich, was es mit dem Sohn Friedrich auf sich hat, wenn dieser – an das Vermächtnis der Geliebten aus der Bassompierre-Anekdote anknüpfend – behauptet, einen ähnlichen „Talisman“ (UA, 1037) im Haus der Familie zu verwahren, welcher ihm nach dem Tod des Vaters vermacht worden sei. Schließlich erhält das Geschwisterpaar mit seinen königlich-preußischen Eigennamen die Konnotation eines (inzestuösen) Königspaares, das zugleich auf den Jüngling und die Lilie, das königliche Paar des Märchens, hindeutet. Zum anderen aber bewirkt der Ausschluss der politischen Tagesaktualität einen Deutungskonflikt zwischen den Zuhörern, der in den Positionen der Baronesse und des Abbé zugespitzt wird. Der von der Baronesse
26Vgl.
hierzu auch Andreas Gailus, „Poetics of Containment: Goethe’s Conversations of German Refugees and the Crisis of Representation“, Modern Philology 100 (2003), 436–474; hier: 473. Tang, „The Transformation of the Law of Nations“, S. 86, übergeht, indem er Ferdinands Pädagogik als Heilmittel für die Krise der ‚Weltordnung‘ liest, diese Tatsache einer Internalisierung der Souveränität.
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
eingangs aufgestellten Forderung lehrreicher und nützlicher Unterhaltung steht das Deutungsverbot des Abbé entgegen.27 Am zweiten Tag (d. h. vor der vierten und ersten Novelle des Abbé), ab dem erst die Baronesse an der Erzählgemeinschaft teilnimmt, wird die Diskussion noch einmal aufgegriffen. Sie wendet sich gegen Geschichten „nach Weise der Tausend und Einen Nacht“ (UA, 1037) und fordert, wenn schon die Gegenstände frei gewählt werden dürften, wenigstens eine adäquate „Form“, welche „uns einen stillen Reiz weiter nachzudenken“ hinterlasse (UA, 1038). Der Abbé indes plädiert – einvernehmlich mit dem revolutionären Karl (!) – dafür, „daß wir ohne Forderungen genießen“ (UA, 1081), und bereitet so sein bzw. des Erzählers Märchen vor, das, wie der Abbé sagt, „an nichts und an alles erinnert“ (UA, 1081), das opernhaft, melodramatisch, trivialisierend und popularisierend die Unterscheidung zwischen Gegenstand und Form aufheben, und sich damit als über alle Normativität erhabene ästhetische Norm instituieren soll. Indem der Abbé gegen die normative Erzählung die Norm der Erzählung setzt, verschmilzt er als Erzählinstanz zugleich mit dem Erzähler der Unterhaltungen. Das Märchen sprengt deren Rahmenerzählung: Es beendet sie souverän und unkommentiert. Dies geschieht dadurch, dass die Novellen, die nur Ehe-Dilemmata, den Mangel eines validen Eherechtes und den Verzicht als je individuelle Lösung vorführen, nun in die Utopie einer staatspolitischen Liebesehe und das ästhetische Gebilde einer unabschließbaren Deutbarkeit überführt werden. Zugleich an alles und nichts erinnernd, zugleich „bedeutend und deutungslos“,28 illustriert es in einem souverän poetisches Recht setzenden Akt eine Obsoleszenz aller Deutung. Semantisch lässt sich das Märchen auf den Minimalnenner der Regeneration einer Gesellschaftsordnung bringen. Ein reißender Strom, verzauberte Dinge und Wesen machen Wechsel- und Austauschverhältnisse unmöglich. Könige sind begraben und harren, samt ihres Tempels, einer Wiederauferstehung und einer erneuerten Brücke, die den Verkehr zwischen den Flussufern wieder ermöglichen soll. Dank der freiwilligen Selbstopferung einer ‚grünen Schlange‘, die sich als Brücke anbietet, und unter der Führung des ‚Alten mit der Lampe‘ wird die ‚schöne Lilie‘ von ihrem Fluch, mit ihren Berührungen zu töten, befreit und in einer Krönungszeremonie mit dem ‚Jüngling‘ vereint. In einem reichstheologisch unterfütterten Ritual wird an der Stelle eines deformierten und aus metallischem Amalgam bestehenden, ‚vierten‘ Königs das junge Herrscherpaar durch „die Kraft der Liebe“ eingesetzt, welche, wie der Alte „lächelnd“ hinzufügt, nicht „herrscht“, sondern „bildet“ (UA, 1111). Mit dem millenaristisch-mythisch-märchenhaften Herrscherpaar erübrigt sich jede Ehepolitik zugunsten einer poetischen
27„[M]an
soll keine meiner Geschichten deuten!“ (UA, 1016) Brief vom 27. Mai 1796 an Wilhelm von Humboldt spricht Goethe von der „schweren Aufgabe, zugleich bedeutend und deutungslos zu sein“ (zit. im Kommentar von Goethe, Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, in: Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. Voßkamp/Jaumann, S. 1558).
28Im
4.1 Von der Ehe-Novellistik der Ausgewanderten zur Herrschaftsutopie
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(Re-)Generation und einer Inthronisierung des Dichters als weiser Ratgeber der monarchischen Ordnung. Das (monarchische) Paar wird zwar zur utopischen Möglichkeitsbedingung gesellschaftlicher Erneuerung,29 aber die Restitution der Ordnung hängt nicht an ihm selbst, sondern am Opfer der Schlange und am Geleit durch den Alten, der prophetisch das „Es ist an der Zeit“ verkündet. Aufschlussreich bleibt, dass es die u. a. an die französischen Bourbonen erinnernde Frau und Lilie ist, die als paarungs- und berührungsgestört vorgestellt wird, stirbt doch alles Lebendige, was sie berührt, und wird alles Tote von ihr verlebendigt. Im Selbstopfer der Schlange wird also nicht zuletzt die Bedrohung weiblichrevolutionärer Leidenschaft gebändigt. Auf ähnliche Weise schreibt Goethe in seinem Epos Dorothea, die mit einem Revolutionär verlobt ist, eine verinnerlichte Revolution zu, die in der Ehe mit Herrmann gebändigt wird. Die Vermählung, die einer „Kraft der Liebe“ geschuldet sein soll und den Zustand des Gleichgewichts, des Rechts und des Friedens wiederherstellt, beruht nicht auf einer leidenschaftlichen Liebe zwischen Lilie und Jüngling, sondern vielmehr auf der vom Alten angewiesenen Liebesopferleistung aller Mitglieder der Gemeinschaft: „ein einzelner hilft nicht, sondern wer sich mit vielen zur rechten Stunde vereinigt“ (UA, 1103).30 Es handelt sich nicht um einen neuen Akt der Liebe, sondern um eine restaurative Kraft, die neben den Herrscherinsignien des „Reich[s] unserer Väter“ als vierte Kraft bezeichnet wird, „die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht“ (UA, 1111). Das Märchen transformiert den politisch-ästhetischen Konflikt (das vermeintliche Gesetz des Ausschlusses) in ein unabschließbares allegorisches Spiel, dessen Enträtselung auf ewig Versprechen bleibt, genau so, wie die staatspolitische Liebes- und Friedensehe utopisch versprochen wird. Während die Novellen den Leser – insbesondere in den beiden letzten Geschichten – zu Rechtskonformität ermahnen, bilden bzw. anreizen wollen, wählt das Märchen eine prophetisch-verführerische Sprechweise, die diese Rechtskonformität im ästhetischen Genuss bzw. in einer ‚Vermählung‘ von Text und Leser überschreitet.31 Kein Wunder also, dass es an Spekulationen über das
29Vgl.
zum Märchen als poetische Utopie v. a.: Katharina Mommsen, „,Märchen des Utopien‘. Goethes Märchen und Schillers Ästhetische Briefe“, in: Jürgen Brummack, Gerhart von Graevenitz u. a. (Hg.), Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte. Festschrift für Richard Brinkmann, Tübingen: Niemeyer 1981, S. 244–257. 30Wolf Kittler betont diesen Aspekt, wenn er schreibt, dass am Ende des Märchens die „bürgerliche Liebe“ triumphiere. Im harmonischen Zusammenspiel aller Kräfte der Natur werde die (Paar–)Liebe zur „Vermittlungsinstanz zwischen dem Reich der Väter und dem idealen politischen Zustand“ (Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie. Heinrich von Kleist und die Strategie der Befreiungskriege, Freiburg: Rombach 1987, S. 161). 31Vgl. hierzu Bernd Witte, der die Poetik des Märchens als individuell-dichterische ‚Opfergabe‘ für einen individuell-selbsttätigen Leser profiliert („Das Opfer der Schlange. Zur Auseinandersetzung Goethes mit Schiller in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten und im Märchen“, in: Barner, Lämmert, Oellers (Hg.), Unser Commercium, S. 460–484).
226
4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Produkt eines solch totalisierenden (Ehe-)Bundes von Anfang an nicht gemangelt hat. Goethe fand offenbar selbst Gefallen daran, allegorische Schlüssel seiner Leser zu sammeln. Während zeitgenössische Auslegungen eher sittlich-moralische Allegorien entzifferten (Einbildungskraft, Vernunft, Sinnlichkeit etc.),32 wucherten im 19. Jahrhundert nationalstaatliche und deutschnationale Varianten. Der Titel von Hermann Baumgarts 1875 erschienener Märchen-Deutung ist bereits Programm: Goethe’s Märchen, ein politisch-nationales Glaubensbekenntnis des Dichters.33 In einer „wahrhaft prophetischen Vision“, heißt es da tautologisch, würden „Kräfte der Nation“ geweckt, die „das Werk der Erlösung und Wiedergeburt der Nation zur glorreichen Vollendung bringen“.34 Egal, in welchem ‚Reich‘ man die Umfunktionierung des ‚Es war einmal‘ des Märchens zur utopischen Zukunft deutend arretiert,35 für den vorliegenden Zusammenhang wesentlich ist, dass diese Herrschaft nicht durch das Herrscherpaar hergestellt, sondern von ihm lediglich repräsentiert wird.36 In Herrmann und Dorothea wird Goethe noch einmal auf das prognostische Potential des Eherechts zurückgreifen und aus der kleinen Form des Märchens ein ‚großes Epos‘ machen, das sich als anschlussfähiger an die gesellschaftliche Realität erweisen wird.
4.2 Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis) Bevor es aber um diesen literarischen Coup Goethes geht (seinen zu Lebzeiten nach dem Werther erfolgreichsten), soll am Beispiel von Novalis’ staatsphilosophischer Schrift Glauben und Liebe oder Der König und die Königin37 aufgezeigt werden, wie radikal die romantischen Konzeptionen einer Auffassung
32Vgl.
das auf 1816 datierte Manuskript mit der Zusammenstellung dreier Auslegungen in: Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. Voßkamp/Jaumann, S. 1116 f. 33Hermann Baumgart, Goethe’s Märchen, ein politisch-nationales Glaubensbekenntnis des Dichters, Königsberg: Hartungsche Buchdruckerei 1875. 34Ebd., S. 40. 35Vgl. hierzu Hien, Altes Reich und Neue Dichtung, S. 390–401 („Translatio pacis in Goethes Märchen“), der darauf hinweist, dass die nationale Vereinnahmung dazu geführt habe, dass die reichstheologischen Bezüge zu vernachlässigt wurden. 36Wolf Kittler fasst das so zusammen: „Anstelle des Liebesglücks tritt die Vernunft von Staat und Ehe.“ (Die Geburt des Partisanen aus dem Geist der Poesie, S. 162.) 37Im Folgenden zit. nach der Ausgabe: Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. Hans-Joachim Mähl und Richard Samuel, Bd. 2, München: Hanser 1978. – Der Text erschien unter Mitwirkung Friedrich Schlegels zusammen mit den Widmungsgedichten Blumen im Juni- und Juli-Heft des Jahres 1798. Ein dazugehöriger dritter Teil, die Politischen Aphorismen, wurden zensiert und nicht in den Jahrbüchern publiziert.
4.2 Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis)
227
der Ehe als einer rechtlichen Institution widersprechen. Zugleich wird dabei das Paar, die ‚Paarung‘ und ein emphatischer, organischer Begriff von Gemeinschaft zum zentralen Reflexionsgegenstand. Adrian Daub spricht deshalb von einer „Metaphysics of Marriage“, die Institutionalisierbarkeit ausschließt und die er zugleich im Namen einer Kritik der modernen Institution Ehe samt ihrer Reformversuche vorbringt.38 Novalis’ Philosophem der Ehe markiert eine Grenze für die Darstellbarkeit sowohl des Paares als auch der Gemeinschaft. Mit seiner 1798 in den Jahrbüchern der Preußischen Monarchie unter Friedrich Wilhelm III. erschienenen Fragmenten-Sammlung reagiert Novalis, wie Wolf Kittler gezeigt hat, nicht zuletzt auf Goethes Märchen. So bezieht sich das Gedicht „Es ist an der Zeit“ aus den die Aphorismensammlung einleitenden Widmungsgedichten Blumen direkt auf die neuerrichtete Brücke und Tempel des Märchens: Glänzend steht nun die Brücke, der mächtige Schatten erinnert Nur an die Zeit noch, es ruht ewig der Tempel nun hier, Götzen von Stein und Metall mit furchtbaren Zeichen der Willkühr Sind gestürzt und wir sehn dort nur ein liebendes Paar – An der Umarmung erkennt ein jeder die alten Dynasten, Kennt den Steuermann, kennt wieder die glückliche Zeit.39
Während bei Goethe der Jüngling in einer feierlichen Investitur die Herrscher-Insignien der drei vorangegangenen Könige (Schwert, Zepter und Eichenkranz) überreicht bekommt, und so das Erbe des Väterreiches antritt, bricht Novalis‘ „liebendes Paar“ radikal mit diesem Erbe, und aus den alten Königen werden „Götzen von Stein und Metall mit furchtbaren Zeichen der Willkühr“. „So wird“, kommentiert Kittler das Gedicht, „die Liebe, die für Goethe nur eine Macht unter anderen Mächten war, zum wichtigsten Movens der politischen Utopie“.40 Goethes Metapher des Königspaares für die utopische Restitution monarchischer Ordnung verwandelt Novalis in das reale Königspaar Friedrich Wilhelm III. und Luise, aber – wie im Folgenden deutlich werden soll – zugleich in die performative Figur eines transzendentalen Paares bzw. einer transzendentalen Paarung, welche an die Stelle politischer Souveränität und staatlicher Gesetzgebung treten soll. Die politische und ästhetische Bewertung von
38Adrian
Daub, Uncivil Unions. The Metaphysics of Marriage in German Idealism and Romanticism, Chicago/London: The University of Chicago Press 2012. Ausgehend von Kant und Fichte bilden Novalis (S. 105–147), Friedrich und Dorothea Schlegel, Sophie Mereau und Jean Paul seine Hauptbezugspunkte. 39Novalis, Glauben und Liebe, S. 288. 40Kittler, Die Geburt des Partisanen, S. 162. Vgl. im Anschluss an ihn auch: Ethel Matala de Mazza, Der verfasste Körper. Zum Projekt einer organischen Gemeinschaft in der Politischen Romantik, Freiburg: Rombach 1999, S. 141 f.
228
4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Novalis’ ausgerechnet in einem Amtsblatt erschienenen Schrift fällt nach wie vor unterschiedlich aus. Man schwankt im Wesentlichen zwischen der Würdigung einer progressiven Monarchie-Kritik und der Kritik einer totalisierenden Gemeinschaftstheorie und Biopolitik.41 Statt hier der einen oder anderen Position das Wort zu reden, soll die Frontenbildung und andauernde Aktualität von Novalis’ Aphorismen – im Anschluss an Daubs Fokussierung auf eine Ehe-Metaphysik – damit erklärt werden, dass sie das Paar zum Politikum erheben.42 Es geht hier nicht um einen fiktionalen Gesellschaftsentwurf, der die eheliche Verbindung von König und Königin als Gründungsereignis abbilden würde. Vielmehr geht es um einen gattungsmäßig entgrenzten ‚Roman‘ – Fragmente oder auch ‚ein Stück progressiver Universalpoesie‘ –, dessen Autor vermittels des abzubildenden, königlichen Paares aktiv, prokreativ an einer politischen und ästhetischen ‚Verfassung‘ des Volkes arbeitet. Die Aphorismensammlung setzt ein mit dem Problem der Sichtbarmachung des Staates. Bereits hier tritt eine Analogie zur Ehe zutage, deren Sichtbarmachung und Repräsentierbarkeit von Anfang an Eherechtler beschäftigt hat. Rüdiger Campe hat anschaulich illustriert, wie die unter Friedrich Wilhelm III. initiierten Jahrbücher der Preußischen Monarchie mit ihren Kabinettsordern, Verzeichnissen von Kultur- und Wohltätigkeitsveranstaltungen, von Beförderungen und Entlassungen, Geburts- und Sterbestatistiken, kulturgeographischen Bulletins und panegyrisch-dichterischen Einlagen im Rahmen einer systematischen Politik der Sichtbarmachung und Zentralisierung der neuen preußischen Monarchie zu verorten sind.43 In Fragment 6 wird das Problem auf den Punkt gebracht: „Ein großer Fehler unserer Staaten ist es, daß man den Staat zu wenig sieht. Überall sollte der Staat sichtbar, jeder Mensch, als Bürger characterisiert seyn. Ließen sich nicht Abzeichen und Uniformen durchaus einführen?“44 Aber die Aphorismen weisen nicht nur auf das Problem hin, sondern leisten zugleich einen Beitrag zu seiner Lösung, indem sie nämlich bereits im Doppeltitel Glauben und Liebe oder Der König und die Königin, sodann in den einleitenden Widmungsgedichten ein neues Bild der königlichen Herrschaft aufrufen. Es ist das Bild des in Liebe vereinigten Paares, das die Gedichte zeichnen und das im Folgenden
41Vgl.
hierzu Oliver Kohns, „Der Souverän auf der Bühne. Zu Novalis‘ politischen Aphorismen“, Weimarer Beiträge 54 (2008), 25–41. Kohns schlägt sich der Seite der ersteren zu und arbeitet eine „Politik der Repräsentation“ (S. 26) heraus, die auf Staatsbürger und Monarch gleichermaßen ziele. 42Rüdiger Campe hat Novalis’ Aphorismen jüngst interessanterweise als Kritik am Schmitt’schen Begriff des Politischen in Anschlag gebracht. Die Gemeinsamkeit der Konzepte liege in der Überblendung von Konservatismus und radikalem Konstruktivismus. Schmitts Freund-FeindUnterscheidung steht dabei Novalis‘ (vermeintlich nur ästhetischer) Paar-These diametral entgegen. (Rüdiger Campe, „Is ‚the Political‘ a Romantic Concept? Novalis’s Faith and Love or The King and Queen with Reference to Carl Schmitt“, in: The Oxford Handbook of Carl Schmitt, hg. Jens Meierhenrich und Oliver Simons, Nov. 2014, S. 1–16; http://www.oxfordhandbooks.com.) 43Vgl. Campe, „Is ‚the Political‘ a Romantic Concept?“, S. 4 f. 44Novalis, Glauben und Liebe, S. 295.
4.2 Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis)
229
immer wieder aufgegriffen wird. „Ein wahrhaftes Königspaar ist für den ganzen Menschen, was eine Constitution für den bloßen Verstand ist.“45 Die Ersetzung des souveränen Monarchen durch ein königliches, weil sich liebendes Paar ist in der politischen Philosophie neu und unerhört. Novalis’ König regiert nicht allein, sondern als Paar. Und als Paar repräsentiert es den Staat als Ganzes. Vorbildlich ist der königliche oikos nicht, weil die Königin (vielleicht im Gegensatz zur realen Luise) dem König als ideale Mutter und Hausfrau den Rücken fürs Regieren freihalten und damit die alleinige Herrschaft des Königs über sein Reich ermöglichen würde; der Hof ist vielmehr vorbildlich, weil Königin und König in diesem oikos zu jener idealen Einheit verschmelzen, die zugleich die polis repräsentieren soll. Novalis überträgt die paulinische Unterscheidung zwischen Gesetz und Liebe und die damit verbundene Metapher des corpus Christi auf den preußischen Staat und präsentiert den königlichen Liebesbund als mystischen Stiftungsakt einer spirituellen Gemeinschaft, in der Monarchie und Republik ununterscheidbar werden: „Der ächte König wird Republik, die ächte Republik König seyn.“46 Die Provokation dieser Paar-Metapher – nicht nur für die klassische Souveränitätstheorie oder für Carl Schmitts sogenannte politische Theologie, sondern auch für jede heutige politische Philosophie – liegt darin, die Intimität des Paares zum politischen Funktionsprinzip der Gemeinschaft zu machen. Novalis stellt nicht, wie teilweise behauptet worden ist, die Königin statt des Königs in den Mittelpunkt,47 noch scheint es ihm darauf anzukommen, das Ideal einer bürgerlichen Kleinfamilie zu propagieren, vielmehr radikalisiert er in seiner Paar-Metapher den Subjektbegriff tout court. Was im Königspaar sichtbar gemacht werden soll, ist eine pure Relationalität, aus der – einer magischen, märchenhaften und liebesrevolutionären Operation gleich – der „poëtische Staat“48 entstehen soll. Sichtbar machen wollen die Aphorismen keine herrschaftliche Identität, sondern eine Differenz in der Einheit. ‚Der König‘, der in Fragment 18 als „höhergeborne[r] Mensch“ und „absolute[r] Mittelpunct“49 entworfen wird, erfüllt seine Funktion nur als und im Paar. Im Text ersetzt dieses Paar die einzelne Person des Königs immer wieder. So etwa in Fragment 24: „Wird nicht der König schon durch das innige Gefühl Ihres Werts zum König?“50 Oder in Fragment 34: „Der König und die Königin beschützen die Monarchie mehr, als
45Ebd.,
S. 292. S. 296. 47Vgl. etwa Kittler, Die Geburt des Partisanen, S. 163, der von einer Zentrierung auf „die Gestalt der mütterlich liebenden Frau“ und von einer „eindeutig matriarchalische[n] Phantasie“ spricht. 48Der Begriff fällt nicht in Glauben und Liebe, sondern in den Vermischten Bemerkungen, der Urfassung der Blüthenstaub-Aphorismen, welche 1798 in der Zeitschrift Athenäum erschienen sind (vgl. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, hg. Mähl/Samuel, Bd. 2, S. 282). 49Novalis, Glauben und Liebe, S. 294. 50Ebd., S. 296. 46Ebd.,
230
4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
200,000 Mann.“51 So wie Novalis der Königin „häuslichen Wirkungskreis im Großen“ als eine „Kanzlei“ mit ihrem Mann als „erste[m] Minister“52 an der Seite vorschlägt, so entwirft er für den König eine „praktisch-politische Akademie im Staate“, deren junge Männer von ihm nichts anderes als „[p]ersönliche Liebe“53 zu lernen haben. Die Ausdehnung des Häuslich-Privaten auf das ganze Territorium und alle Institutionen machen aus dem Staat ein öffentliches Staatsschauspiel, jenen „Theaterstaat“54, der von der liebenden Personalunion König und Königin erfunden, aufgeführt und betrachtet wird. Was bedeutet die Sichtbarkeit des königlichen Herrscherpaares nun für den Begriff der Ehe? Nun, sie wird zu einem performativen, faktisch unrealisierbaren, utopischen Rechtsbegriff, der nur in actu, nicht aber de facto realisiert werden kann. Im Fragment 36, in dem u. a. Friedrich Wilhelm I. scharf dafür kritisiert wird, den preußischen Staat wie eine „Fabrik“ verwaltet zu haben, heißt es am Ende: „Uneigennützige Liebe im Herzen und ihre Maxime im Kopf, das ist die alleinige, ewige Basis aller wahrhaften, unzertrennlichen Verbindung, und was ist die Staatsverbindung anders, als eine Ehe?“55 Mit realhistorischer privatrechtlicher Ehegesetzgebung, derjenigen des Preußischen Landrechtes etwa, welche von väterlichen, ehelichen und elterlichen Verpflichtungs- und Eigentumsverhältnissen, vom Vollzug der Ehe durch einen Priester etc. handelt, hat diese staatspolitische Ehe-Auffassung nicht viel zu tun. Vielmehr geht in ihr eine Verbuchstäblichung christlicher Eucharistie (in der ehelichen Vereinigung) mit einer bemerkenswerten Refiguralisierung der fleischlichen Vereinigung des Paares zu einem ‚fiktiven Staat‘ einher. An die Stelle eines Opferungsgeschehens treten die Begriffe von ‚königlicher Hochzeit‘, ‚Vermählung‘, ‚Verheiratung‘ als Initiationsformeln, die eine „Zeit des ewigen Friedens“56 begründen sollen. Die Verwandlung der „königliche[n] Vermählung in einen ewigen Herzensbund“ wird als „Wunder der Transsubstantiation“57 bezeichnet. Analog zu sichtbaren Orden, Uniformen, Zier und Schmuck sollen „glückliche[ ] Ehen“58 im Staat häufiger und mit „jeder Trauung […] eine bedeutungsvolle Huldigungszeremonie der Königin“59 eingeführt werden. Die Ehe, so scheint es, wird im Bild einer körperlichen Vereinigung, die auf alle Staatsbürger übergreift, beschworen. Gleichzeitig erhält dieses Bild eine belebende Funktion; die „Tropen und Räthselsprache“ der Aphorismen machen 51Ebd.,
S. 300. S. 297. 53Ebd., S. 302. 54So Kohns, „Der Souverän auf der Bühne“, S. 26, mit Bezug auf Martin Schierbaum, Friedrich von Hardenbergs poetisierte Rhetorik. Politische Ästhetik der Frühromantik, Paderborn u. a.: Schöningh 2002. 55Novalis, Glauben und Liebe, S. 301. 56Ebd., S. 293. 57Ebd., S. 304. 58Ebd., S. 297. 59Ebd., S. 299. 52Ebd.,
4.2 Exkurs: Romantische Paarung, Transzendierung der Ehe (Novalis)
231
aus den toten Buchstaben des Gesetzes einen „Geist“, der „alle Menschen wie ein paar Liebende zusammen schmelzen“ wird.60 „So könnte“, heißt es in Fragment 30, „durch diese beständige Verwebung des königlichen Paars in das häusliche und öffentliche Leben, ächter Patriotism entstehen“.61 Diese Fiktion universeller Verschmelzung steht zwischen Rousseaus Gesellschaftsvertrag, in dem sich alle Vertragsschließenden zu einem ‚moi commun‘ vereinen, einerseits und Kants Ehedefinition, nach der der gegenseitige Geschlechtsbesitz eine einzige „moralische Person“ bildet, andererseits. Novalis’ König, der nur dazu da ist, alle Menschen „thronfähig“62 zu machen, ist eine Art Ich-Kommune, die Reinhard Brandt schon in Kants Eherecht angelegt sieht: Wenn sich alle erotisch interessierten Partner mit allen anderen in einen wechselseitigen Sachbesitz ihrer Personen begeben und jeder oder jede sich eben dadurch als freie Person wiedergewinnt, dann wird sie durch die assoziierten Partner im wechselseitigen Gebrauch nicht verletzt, weil alle in der Ich-Kommune, dem „moi commun“, eine rechtliche Einheit bilden und niemand da ist, dem oder der sich jemand als anderer oder als anderem hingäbe. Da sträuben sich dem Kantianer die Haare, die Anhänger Rousseaus sind überrascht, der Eherechtler denkt nach.63
Die Geschlechtermischung, der bei Kant durch die Reproduktion als objektivem Ehezweck ein Riegel vorgeschoben wird, scheint bei Novalis’ qua tropischer Liebe thronfähig gemachten Bürgern nicht mehr systematisch ausgeschlossen zu sein. Im zur gleichen Zeit wie Glauben und Liebe entstandenen Allgemeinen Brouillon heißt es: „Eine Ehe sollte eigentlich eine langsame, continuirliche Umarmung, Generation – wahre Nutrition – Bildung eines Gemeinsamen, harmonischen Wesens seyn? Selbstbildung, Selbstbetrachtung ist Selbstnutrition, Selbstgeneration.“64 Die Analogisierung des Geschlechtsaktes mit dem Vorgang des Essens, die auf der Stufenleiter von ‚körperlich‘ bis ‚seelisch‘ wiederum in beide Richtungen durchgespielt wird,65 mündet, auch im Allgemeinen Brouillon, in die ausdrückliche Infragestellung der Geschlechterrollen: Empfangen ist das weibliche Genießen – Verzehren das Männliche. (Ein Säufer ist einer liederlichen Frau zu vergleichen.) Das Befruchten ist die Folge des Essens – es ist die umgek[ehrte] Operation – dem Befruchten steht das Gebären, wie dem Essen, das
60Ebd.,
S. 293. S. 299. 62Ebd., S. 294. 63Reinhard Brandt, „Kants Eherecht“, in: Maximilian Bergengruen, Johannes F. Lehmann, Hubert Thüring (Hg.), Sexualität – Recht – Leben. Die Entstehung eines Dispositivs um 1800, München: Fink 2005, S. 113–131; hier: S. 125 f. 64Novalis, Das allgemeine Brouillon, Mähl/Samuel, Bd. 2, S. 488. 65Vgl. hierzu auch ausführlich Matala de Mazza, Der verfasste Körper, S. 144–161, die u. a. mit einem Beispiel aus den Geistlichen Liedern die Engführung religiöser und erotischer Lust illustriert und diskursgeschichtlich die Bedeutung der Physiologie John Browns für Novalis’ ästhetisches ‚ Reiz(ungs)-Modell‘ nachzeichnet. 61Ebd.,
232
4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Empfangen entgegen. / Der Mann ist gewissermaaßen auch Weib, so wie das Weib Mann – entsteht etwa hieraus die verschiedne Schamhaftigkeit?66
Die Symbolisierung der Ehe im Bild fleischlicher und geistiger Paarung hat eine eminent politische Konsequenz: Sie entzieht der staatlichen Ehegesetzgebung ihren biopolitischen Hauptzweck. „Der Hauptzweck der Ehe ist die Erzeugung und Erziehung der Kinder,“ heißt es im ersten Paragraphen zur Ehe im Preußischen Landrecht.67 Physische Kindschaft spielt in Glauben und Liebe nun aber eine eigentümlich untergeordnete Rolle.68 Die elterliche Liebe des Königspaares wird nicht erwähnt; für die „Bildung eines Gemeinsamen“ des Staates ist einzig die Liebe zwischen König und Königin das Vorbild. Eine gesetzlich geregelte Ehe kann für die Verwirklichung des idealen ‚Staatsindividuums‘ deshalb lediglich ein Provisorium darstellen, das sich am Ende dank ‚Glauben‘ und ‚Liebe‘ erübrigt haben wird.69 Die ‚Ehe‘ wäre demnach weniger Gesetz als ein ebenso utopisches wie paradoxes Verfassungsrecht (eine ‚Staatsverbindung‘), welches das Staatsindividuum jenseits des Staates – quasi als buchstäblich ‚nationales‘ Subjekt – ‚gebiert‘. Eine Pointe von Novalis’ metaphorischem Gebrauch der Ehe läge demnach darin, in ihm jene fiktive Einheit und Gesamtheit zum Ausdruck zu bringen, die Benedict Anderson als konstitutiv für die ‚vorgestellte Gemeinschaft‘ der Nation herausgearbeitet hat.70 Trotzdem oder gerade deshalb ist Novalis’ Schrift im Prozess der deutschen Nationalisierung im 19. und 20. Jahrhundert marginalisiert worden, wofür noch Carl Schmitts polemische Romantik-Rezeption einsteht. Der bereits erwähnte Baumgart, der Goethes Märchen 1875 euphorisch als nationale Prophezeiung feiert, „kann nicht umhin“, am Ende zu spekulieren, ob der Mops, mit dem die schöne Lilie so herzlich spielt und „den der Jüngling so garstig findet“, „nicht ein humoristischsatirischer Hinweis auf die Anfänge der Romantik sein [sollte], die um die
66Ebd.,
S. 495. Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, hg. Hans Hattenhauer, Frankfurt a. M./Berlin: Alfred Metzner Verlag 1970; Zweyter Teil, Erster Titel, § 1, S. 345. 68Vgl. zu diesem Argument den Abschnitt „The Royal Couple and Its Product“ in Daub, Uncivil Unions, S. 123–129. 69Vgl. hierzu auch Michael Gamper: „Als traditionelle policeyliche Maßnahmen werden ihr zudem die Abschaffung der Bordelle und die Vermehrung der,glücklichen Ehen‘ zugeordnet, mithin also die Bändigung von Leidenschaft und Sexualität in einer traditionellen Institution, die erst im Idealzustand dank der titelgebenden Tugenden ‚Glauben‘ und ‚Liebe‘ keiner Regulierung mehr bedarf.“ („Kollektives ‚Leben‘ um 1800. Soziale (De–)Figuration bei Herder, Burke und Hardenberg“, in: Bergengruen, Lehmann, Thüring (Hg.), Sexualität – Recht – Leben, S. 67–88; hier: S. 86.) 70Benedict Anderson, Die Erfindung der Nation. Zur Karriere eines folgenreichen Konzepts, Frankfurt/New York: Campus Verlag 21996 (engl. Orig. 1983). Darauf verweist bereits Kohns, „Souverän auf der Bühne“, S. 28. Er zitiert in diesem Zusammenhang das 49. Fragment aus den Blüthenstaub-Aphorismen: „Das Volk ist eine Idee. Wir sollen ein Volk werden. Ein vollkommener Mensch ist ein kleines Volk. Ächte Popularität ist das höchste Ziel des Menschen.“ (Novalis, Blüthenstaub, hg. Mähl/Samuel, Bd. 2, S. 247.) 67Allgemeines
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
233
Mitte der neunziger Jahre schon sichtbarlich sich zu entwickeln begann“. „Wie dem auch sein mag“, schließt er, „in dem zu seiner Kraft gelangten, nationalen Staate ist für jene mystische Romantik der Kunst keine Stelle mehr.“71 In dem Moment, da der Nationalstaat sich politisch und rechtlich realisiert sieht, muss er für seine Ursprünge blind werden. Novalis, der für die rechtliche Institutionalisierbarkeit von Ehe und Recht kaum zu beanspruchen ist, gibt aber in den Blüthenstaub-Fragmenten zugleich den prophetischen Hinweis auf jenen poetischen Text, der dafür offenbar besser zu gebrauchen war: In der „Aufnahme, welche Herrmann und Dorothea im Allgemeinen gefunden hat“ sieht er ein „interessantes Symptom“ dafür, dass die Zeitgenossenschaft intuitiv in Goethe den „wahre[n] Statthalter des poetischen Geistes auf Erden“72 zu erkennen beginne. Diesem ‚interessanten Symptom‘ soll also nun nachgegangen werden.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung In keinem der hier untersuchten Texte wird die Ehe so sehr Nationalfiktion wie in Goethes Herrmann und Dorothea. Novalis‘ Einschätzung des kleinen Epos als ‚Symptom‘ ist in dieser Hinsicht nach wie vor aufschlussreich. Das poetische Experiment ist weniger deshalb ‚interessant‘, weil sich darin das Flüchtlingsmädchen Dorothea aus dem Linksrheinischen und der deutsche Wirtssohn Herrmann in der Rekordzeit eines Tages kennenlernen, verlieben und verloben, sondern es ist interessant, weil diese unerhörte – und damit erneut novellenhafte – Verbindung als ultimative Lösung nicht nur gesellschaftlicher, sozialer und politischer, sondern auch poetischer Antagonismen präsentiert wird. Goethes „Revolutionierung des Epos“ beruht auf einer umfassenden – sozialen, nationalen und ästhetischen – Redefinition des Gattungsbegriffs.73 Das Experiment laboriert ästhetisch und politisch an einem neuen ‚Gesetz der Gattung‘, dessen prekäre Neuheit darin besteht, die mit diesem Gesetz formierte Gemeinschaft als eine ‚nationale‘ zu versprechen.74 Literaturgeschichtlich gerettet hat es vermutlich die Tatsache, dass der Text nicht mit einer Ehe, sondern mit einer
71Baumgart,
Goethe’s Märchen, S. 128 f. Blüthenstaub, S. 279. 73Vgl. hierzu die konzisen Ausführungen von Yahya Elsaghe, „Säbel und Schere: Goethes Revolutionierung des Epos und die Rezeptionskarriere von Hermann und Dorothea“, Seminar 34 (1998), 121–136. 74„La question du genre littéraire n’est pas une question formelle: elle traverse de part en part le motif de la loi en général, de la génération, au sens naturel et symbolique, de la naissance, au sens naturel et symbolique, de la différence de génération, de la différence sexuelle entre le genre masculin et le genre féminin, de l’hymen entre les deux, d’un rapport sans rapport entre les deux, d’une identité et d’une différence entre le féminin et le masculin.“ (Jacques Derrida, „Force de loi“, in: Ders., Parages, Paris: Galilée 1986, S. 249–287; hier: S. 277.) Und es ist daran zu erinnern, dass Derridas „Force de loi“ aus einer Lektüre von Blanchots Un récit hervorgeht, und damit auch dessen Modell der ‚uneingestehbaren Gemeinschaft‘ berührt. 72Novalis,
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Verlobung (und nur vorläufigen Treue-Erklärung) endet. In der folgenden Textlektüre geht es aber darum zu zeigen, wie die Verlobungs- bzw. Eherhetorik das Scharnier für die Ambivalenz von ‚nationaler‘ Normativität und ‚ästhetischer‘ Auktorialität darstellt. Anders als es in den Novellen der Ausgewanderten der Fall ist, wird die Revolution in Herrmann und Dorothea einmal nicht mit zerstörerischer Leidenschaft und Ehebruch gleichgesetzt, sondern mit einer ‚Liebe‘, die der Gemeinschaft als Gesetz ihrer Bildung inkorporiert wird. Und anders als der Märchen-Erzähler, der – quasi als Karikatur eines Propheten – von der Erneuerung königlicher Herrschaft (und aller Ehen) kündet, ist es in Herrmann und Dorothea ein antik erneuerter, bürgerlicher Epiker, der in der Vermählung des bürgerlichen Ausnahme-Paares die neue Zeit selbst – unabhängig von einer politischen Regierung – anbrechen lässt. Aus den kleinen Fällen der Ausgewanderten, dem dort praktizierten „miniaturisierenden Erzählen“,75 wird der generisch prätentiösere Fall einer „poetische[n] Experimentalpolitik“,76 episch-monumentalisierendes Erzählen. Aufschlussreich für diese poetologische Programmatik ist die Elegie Herrmann und Dorothea, mit der Goethe das gleichnamige Epos in den Horen ankündigen wollte. Die Elegie nimmt gewissermaßen den Musenanruf vorweg, der im Epos selbst erst im neunten Gesang – kurz vor der „Verlobung“ – platziert ist. Der Dichter erbittet sich von der Muse Verjüngung, indem sie ihm einen besseren „Kranz“ als jenen, der einst Caesars Haupt schmückte, verleihen möge: Ach! Die Scheitel umwallt reichlich die Locke nicht mehr: Da bedarf man der Kränze, sich selbst und Andre zu täuschen; Kränzte doch Cäsar selbst nur aus Bedürfnis das Haupt. Hast du ein Lorbeerreis mir bestimmt, so lass’ es am Zweige Weiter grünen, und gib einst es dem Würdigern hin; Aber Rosen winde genug zum häuslichen Kranze; Bald als Lilie schlingt silberne Locke sich durch.77
Caesar soll, so berichtet es Sueton, als besonderes Privileg erwirkt haben, den Lorbeerkranz immer tragen zu dürfen, um sein kahles Haupt zu kaschieren. Wenn der neue Homeride Goethe nun statt des Lorbeerkranzes einen ‚häuslichen Kranz‘ aus Lilien und Rosen erbittet, verbirgt sich darin einerseits eine Herrscherkritik, die die schöne Kunst gegen eine politische Kunst der Täuschung ausspielt.78
75So
charakterisieren Jaumann/Voßkamp in ihrem Kommentar die Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (vgl. Goethe, Wilhelm Meisters theatralische Sendung. Wilhelm Meisters Lehrjahre. Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten, hg. dies., S. 1558). 76So Karl Eibl, „Anamnesis des ‚Augenblicks‘. Goethes poetischer Gesellschaftsentwurf in Hermann und Dorothea“, DVjs 58 (1984), 111–138; hier: 114. – Und wie man von poetischer Experimentalpolitik sprechen kann, so auch von politischer Experimentalpoetik. 77Johann Wolfgang Goethe, „Herrmann und Dorothea“, in: Ders., Gedichte. 1756–1799, hg. Karl Eibl, (=Bd. 1 der Frankfurter Ausgabe), Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2010 (1987), S. 622 f., vv. 16–22. 78Vgl. hierzu Elsaghe, „Säbel und Schere“, S. 123 f.
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Andererseits ist der Musenanruf so angelegt, dass er – in einer häuslichen Szene mit der Gattin am Herd und einem Knaben, der „spielend“ das Reis verbrennt – jene Dichter-Freunde mit einschließt, die für sein episches Projekt Pate stehen: „Gleichgesinnte, herein! Kränze! sie warten auf euch.“79 Vor allem zwei Gleichgesinnte will das lyrische Ich bei sich haben, mit denen zugleich auf die konzeptuell entscheidenden Intertexte von Herrmann und Dorothea angespielt wird: Friedrich August Wolf zum einen, der mit seiner Praefatio secunda ad Iliadem und den Prolegomena ad Homerum (beide 1795) die homerischen Epen als Produkt mehrerer Dichter vorstellte, und Johann Heinrich Voß, der nicht nur Homer in deutsche Hexameter übersetzte, sondern ab 1782 auch die bürgerliche Idylle Luise – im Stile Homers – schuf. Als „Kühn und befreiend“ wird die Wirkung Wolfs dargestellt, Voß wird als Begleiter beschworen: „Uns begleite des Dichters Geist, der seine Luise / Rasch dem würdigen Freund, uns zu entzücken, verband.“80 Die Dichter-Freunde Wolf und Voß werden für poetisch-nationale Familiengründung zusammengerufen: „Deutschen selber führ’ ich euch zu, in die stillere Wohnung, / Wo sich nach der Natur, menschlich der Mensch noch erzieht.“81 Aber trickreich bleibt in dieser Beschwörung offen, wer diese neue Familie, die sich als ‚deutsch‘ und als ‚gesunde[s] Geschlecht‘ ankündigt, recht eigentlich begründet. Das im Titel aufgerufene Paar Herrmann und Dorothea gerät mit dem weinselig über das ‚Menschliche‘ konversierenden Männerbund in ein ambivalentes Verhältnis, in dem Produkt und Produzent in eins fallen. Auch die schöne Kunst ist demnach eine, „sich selbst und Andre zu täuschen“. Die Ausgangsthese für die folgende Darstellung lautet daher, dass das Paar, das sich am Ende des Textes verlobt, das Produkt einer ästhetisch-‚epischen‘ Täuschung ist, mit der zwar sowohl absolutistische als auch revolutionäre Staatsverfassungen kritisiert werden, mit der aber im gleichen Zuge das Paar zugunsten einer männlichen Individuation bzw. Identitätsgewinnung verunmöglicht wird. Goethe macht, mit anderen Worten, das Paar zu einem ästhetischen Gesetz der Gattung und schließt es damit als ontologischen Bestandteil der Gemeinschaft aus. Notwendig ist hierfür zunächst ein genauer Blick auf die Luise von Voß, nicht nur, weil ihr das Motiv der Überraschungshochzeit entstammt, sondern auch, weil Herrmann und Dorothea in mehrerlei Hinsicht Voß’ patriarchales Gesellschaftskonzept familienpolitisch ‚verjüngt‘.
Ehe-Idylle und Patriarchat (Voß’ Luise) Voßens drei Idyllen „Das Fest im Walde“, „Der Besuch“ und „Der Brautabend“ bzw. „Die Vermählung“ sind einzeln bereits 1782 und 1783 in seinem Musenalmanach und Wielands Teutschem Merkur erschienen, bevor er sie 1795 79Goethe,
„Herrmann und Dorothea“, S. 623, v. 26. vv. 35 f. 81Ebd., v. 33 f. 80Ebd.,
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erstmals in Buchform unter dem Titel Luise publiziert.82 Goethes Herrmann und Dorothea erscheint nur zwei Jahre später, 1797. Und obwohl die Französische Revolution die Texte trennt, sind beide Texte ein literarischer Doppelerfolg. Schon 1795 schreibt ein Rezensent in der Allgemeinen Literatur-Zeitung über die Luise: „Die Fabel dieses handlungsvollen Gedichts ist höchst einfach, beynahe zu einfach zum Wiedererzählen, Voss hat aus der Heirath einer Landpredigerstochter eine Odyssee gemacht.“83 Wie Herrmann und Dorothea wurde auch die Luise im 19. Jahrhundert Hausbuch, Schullektüre und Nationalgut.84 Goethes homerischer „Zufallstreffer“85 profitiert vom Erfolg der Luise, die Texte werden zusammen gelesen, vergleichend rezensiert, und man ist Fan von Luise und Dorothea oder auch nur von einer, wie Ludwig Gleim etwa, der bei Luise bleibt und konstatiert: „Die andre nehme, wer da will!“86 Damit ist zugleich die Differenz dieser beiden so ähnlichen Texte angedeutet: In der Luise ist allein die weibliche Protagonistin titelgebend, während Goethe ganz auf das Paar setzt. Mit Voß’ Luise hält die Idylle Einzug ins bürgerliche Milieu. Die entscheidende Neuerung dessen, was als ‚bürgerliche Idylle‘ schulbildend wurde, liegt darin, eine empfindsame Liebeshandlung sowohl mit epischer, homerisch-hexametrischer als auch mit idyllischer Dignität auszustatten.87 Als Gegen- und Wunschbild zu einer fortschrittsbewussten und zugleich angstbesetzten Wirklichkeit zeichnet die Idylle die Vorstellung einer Ganzheit und Geschlossenheit aus, mit der eine als unsicher empfundene Zukunft kompensiert wird. Als charakteristische Merkmale der Idylle gelten gemeinhin eine zirkulär (statt chronologisch) organisierte Zeit-
82In
der jüngeren Forschung hat sich – gegen die „Vollendete Ausgabe“ von 1807 und die (mit dieser identischen) „Auswahl der lezten [sic] Hand“ von 1823 – eingebürgert, die Luise von Voß nach der ersten Buchausgabe von 1795 zu zitieren. Auf ihr beruht auch folgende Neuausgabe des Textes: Johann Heinrich Voß, Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, in: Ders., Ausgewählte Werke, hg. Adrian Hummel, Göttingen: Wallstein 1996, S. 36–94. – Die Version von 1807 ist erheblich länger und beinhaltet außerdem einen Anmerkungsapparat des Autors. Im Folgenden wird – jeweils mit Jahres-, Idyllen- und Versangabe – die Ausgabe von 1795 nach Hummel oder aber die Originalausgabe von 1807 zitiert: Johann Heinrich Voß, Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen. Vollendete Ausgabe, Tübingen: Cotta 1807. – Die dritte Idylle trägt 1795 den Titel „Brautabend“, 1807 „Die Vermählung“. 83[Rezension zu:] „Königsberg, b. Nicolovius: Luise, ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, von Joh. Heinrich Voss […]“, Allgemeine Literatur-Zeitung 158/2 (1795), 500–504; hier: 501. 84Vgl. Heidi Ritter, „Resonanz und Popularität der Luise im 19. Jahrhundert“, in: Andrea Rudolph (Hg.), Johann Heinrich Voß. Kulturräume in Dichtung und Wirkung, Dettelbach: Röll 1999, S. 215–236. 85So Friedrich Sengle, „Luise von Voß und Goethes Hermann und Dorothea“, in: Gerd Rötzer, Herbert Walz (Hg.), Europäische Lehrdichtung. Festschrift für Walter Naumann zum 70. Geburtstag, Darmstadt: Wiss. Buchgesellschaft 1981, S. 209–223; hier: S. 222. 86Ludwig Gleim an Johann Heinrich Voß. 23. Januar 1798; zit. in: Johann Wolfgang Goethe, Wirkungen der Französischen Revolution 1791–1797, hg. Reiner Wild, ( =Bd. 4.1 der Münchner Ausgabe), München: Hanser 1988, S. 1089. 87Vgl. Helmut J. Schneider, „Idylle und bürgerliches Epos“, in: Hans Albert Glaser (Hg.), Deutsche Literatur. Eine Sozialgeschichte, Bd. 5, Reinbek: Rowohlt 1980, S. 130–143.
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lichkeit sowie die „Präsenz einer überschaubaren egalitär organisierten Gruppe“ mit dem zentralen Topos des locus amoenus.88 Gleichzeitig macht sie die Idee der Gleichheit zu einer hochpolitischen, gleichsam protomarxistischen Gegenbild zur bestehenden Gesellschaftsordnung. In der Idylle passiert – eigentlich – nichts: Die kleine Gesellschaft lebt statisch in Glück und Liebe; sie konstituiert sich im Gegensatz zu Wandel, Krise, Konflikt und Handlung. Noch heute ist die Ehe – bzw. der schon dem Wortsinn nach statische ‚Ehestand‘ – ein typisches Idyllenklischee, das sich in Jean-Pauls berühmter Definition der Idylle als „epische Darstellung des Vollglücks in der Beschränkung“,89 vermutlich am bündigsten zusammengefasst findet. Nun wird Voß’ Luise aber offenbar von Anfang an gerade nicht als handlungsarm, sondern als „handlungsvolle[s] Gedicht“ von epischen Ausmaßen rezipiert.90 Was hier in die Idylle ‚episch‘, überraschend als Handlung einbricht, ist nichts Anderes als die vermeintlich statische Ehe selbst. Voß verbindet das Genre der Idylle, in dem normalerweise ohne Heirat getanzt, gesungen und gespielt wird, mit einem neuen Gesetz der Ehe. Das Homerisieren und die Eheschließung sind aufs Engste miteinander verbunden. Neuere Lektüren der Luise brechen den ‚idyllischen Bann‘ bereits seit einiger Zeit;91 mir geht es im Folgenden darum zu zeigen, wie der Text insgesamt einer aufklärerisch-empfindsamen Strömung zuzurechnen ist, die im Phantasma der Jungfräulichkeit und gegen ständische Strukturen eine bürgerlich-patriarchale Ordnung vorantreibt. Dabei steht weniger die Beziehung des Ehepaars als eine inzestuöse Beziehung zwischen Vater und Tochter auf dem Spiel. Dass Voß’ Luise eine patriarchalische Ordnung idealisiert, lag im Übrigen bereits den zeitgenössischen Lesern auf der Hand. So ist etwa in einer Rezension aus dem Jahr 1798 zu lesen: „Der Rec. gesteht unverholen, daß die patriarchalische Einfalt, die
88Vgl.
Nina Birkner, York-Gothart Mix, „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Idyllik im Kontext von Antike und Moderne. Tradition und Transformation eines europäischen Topos, Berlin/Boston: De Gruyter 2015, S. 1–13; hier: S. 4. 89Jean-Paul, „Vorschule der Ästhetik nebst einigen Vorlesungen in Leipzig über die Parteien der Zeit“, in: Ders., Werke, Abt. I, Bd. 5, hg. Norbert Miller, München 1963, S. 258; zit. in: Birkner, Mix (Hg.), Idylle im Kontext, S. 5. 90Renate Böschenstein spricht Luise zum Beispiel jede Handlung ab: „Luise selbst, jeder Handlung bar, da sie die Stufen einer völlig unbehinderten Liebe schildert, blieb grundsätzlich von der größeren Gattung geschieden; doch sie deutete eine neue Möglichkeit an, diese in der Gegenwart zu verwirklichen“ (Renate Böschenstein-Schäfer, Idylle, Stuttgart: Metzler 21977 (1967), S. 101). – Dieses Urteil scheint nur durch den teleologischen Erwartungshorizont – Goethe hat das erfüllt, was sich bei Voß andeutete – erklärbar. 91Das beginnt im Prinzip mit Sengles „Luise von Voß und Goethes Hermann und Dorothea“; vgl. ferner: Brigitte Peucker, „Female Body, Textual Body: Nature, Art, and Property in Voss’s Luise“, in: James A. Parente, Richard Erich Schade (Hg.), Studies in German and Scandinavian Literature after 1500. A Festschrift for George C. Schoolfield, Columbia: Camden House 1993, S. 94–100; Gerda Riedl, „Hochzeit in der literarischen Idylle. Ein exemplarischer Vergleich von Johann Thomas’ Lisille (1663) mit Johann Heinrich Voß’ Luise (1795)“, Daphnis 27 (1998), 655– 684; Irmgard Wagner, „Hermann und Dorothea in the Context of Kant and Voß: A Question of Peace and Patriarchy“, Goethe Yearbook 9 (1999), 166–185.
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sich in dem Vossischen Gedichte so mannichfaltig und schön offenbart, ihn mit stärkern Banden anzieht, als das bunte Leben des Göthischen […].“92 Damit ist im Prinzip die These Irmgard Wagners vorweggenommen, nach der Herrmann und Dorothea als Angriff auf Voß’ patriarchale Ordnung zu lesen sei.93 Die drei Idyllen beginnen und enden mit einem Fest. Mit einem „Fest im Walde“ feiert die niederdeutsche Pastorenkleinfamilie den 18. Geburtstag der einzigen Tochter Luise. Der Hofmeister Walter, sein Schüler Karl und dessen Schwester, die gräfliche Freundin Amalia, begleiten die Gesellschaft. Über die Herkunft Walters, seine Familie und darüber, wie er zu Luise gekommen ist, erfährt man nichts; es ist einfach klar, dass der Jüngling als „anderer Pfarrer von Grünau“94 die Nachfolge des ‚Väterchens‘ antreten wird – so jedenfalls prophezeit es der alte Weber, den die kleine Gesellschaft im Wald trifft.95 Amalias Mutter, die Gräfin, ist verwitwet; der männliche Adel wird völlig aus dem Text herausgehalten.96 Die Kinder werden vorausgeschickt, während die Eltern mit dem geliehenen Kahn über das Wasser nachkommen. Im Spaziergang durch den Wald, beim Kaffee-Picknick auf polsterndem ‚Moose‘ und beim üppigen Mahl am Seeufer verschmelzen Natur, Liebesglück und göttliche Ordnung miteinander. Luise ist die erotische Natur, durch die der priesterliche Vater-Gatte sein natürliches und göttliches Gesetz verkündigen kann und soll. Unüberlesbar, fast pornographisch, entwickelt der Text in der ersten Idylle eine parallele Erotik von Natur und Pfarrerstochter.97 So lässt der Erzähler unmittelbar auf die Schilderung der Schönheit des Mädchens dieses selbst innehalten, um es die üppig sich entfaltende, erregte und erregende Frühlingsnatur selbst sagen bzw. seufzen zu lassen: „O wie es wühlt, weitschauend mit
92[Rezension
zu:] „Herrmann und Dorothea von J.W. von Göthe. Auch unter dem Titel: Taschenbuch für 1798. Berlin, bey Vieweg dem ältern. 174 Seiten“, Neue allgemeine deutsche Bibliothek, Bd. 44/1 (1799), 29–31; hier: 31. 93Irmgard Wagner, „Hermann und Dorothea in the Context of Kant and Voß: A Question of Peace and Patriarchy“, Goethe Yearbook 9 (1999), 166–185. 94Voß, Luise (1807), I, 257. 95Goethe wird diese asymmetrische Familienkonstellation übernehmen, aber umdrehen: Herrmann ist der einzige Sohn, der mit einer familienlosen Dorothea verheiratet werden soll. 96Im freundschaftlichen Verhältnis zwischen Pfarrers- und Grafenfamilie wird in der Regel Voß’ aufklärerisches Anliegen einer Angleichung von Bürgertum und Adel verwirklicht gesehen. Biographisch wird es mit Voß’ Freundschaft mit Friedrich Leopold Graf zu Stolberg in Verbindung gebracht, die mit dessen Konversion zum Katholizismus (1800) ein abruptes Ende fand. Voß schrieb noch 20 Jahre später polemisch gegen die Konversion des Freundes (1819 erscheint die Schrift Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier?). Biographisch gesehen ist es also kein Zufall, dass gerade im Verlauf der Luisen-Bearbeitung betont wird, dass der Graf verstorben ist. Vgl. Justin Stagl, „Vossens Luise als patriotische Tugendlehre“, Saeculum 57 (2006), 101–114; hier: S. 109. 97Vgl. hierzu Helga Kraft, „Idylle mit kleinen Fehlern. Zwei Frauen brauch ich, ach, in meinem Haus. Luise von Voß und Stella von Goethe“, in: Dies., Elke Liebs (Hg.), Mütter – Töchter – Frauen. Weiblichkeitsbilder in der Literatur, Stuttgart: Metzler 1993, S. 73–89.
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grünlichem Dampf durch den Rocken!“98 Die Kinder pflücken – statt Holz für das Lagerfeuer zu sammeln – Erdbeeren: „geschwollene[n] Beeren“, „röther wie Scharlach“, mit ‚würzigem‘ „Gedüft“.99 Im Erdbeerfeld erhält Luises „rosiger Mund mit ätherischem Odem“100 vom Jüngling Walter einen Kuss, den der Text unmissverständlich als symbolische Entjungferung konnotiert: „sie entschlüpfte dem Arm, und brach ein unscheinbares Blümchen“.101 Beim anschließenden Picknick wird die topische Verbindung von Natur und Erotik mit Vorträgen von Pfarrer und (Noch-)Hofmeister Walter ergänzt, durch die deutlich wird, wie Väter und Söhne die ungestüm schießende Natur disziplinieren, indem sie ihr ein göttliches Gesetz verleihen. Der Pfarrer schwingt sich zu den Seelen „höherer Kraft“ auf und wähnt sich in der Gesellschaft „mit Petrus, / Moses, Konfuz und Homer, dem liebenden, und Zoroaster, / Und, der für Wahrheit starb, mit Sokrates, auch mit dem edeln / Mendelssohn! Der hätte den Göttlichen nimmer gekreuzigt!“102 Walter stimmt ein mit einer passenden Replik und man erfreut sich „im vertraulichen Wechselgespräche“.103 Parallel zur Entstehung des sexuell-erotischen Bandes zwischen Braut und Bräutigam erzählt die erste Idylle damit das geistige Zueinanderkommen zwischen Brautvater und Schwiegersohn. Und es ist bezeichnend, dass aus dem ‚vertraulichen Wechselgespräch‘ der frühen Ausgabe später eine „treuliche[ ] Herzensergießung“104 wird. Dem Geburtstag Luisens folgt in der zweiten Idylle ein „Besuch“ Walters, in der dritten Idylle dann der Tag der Vermählung. Dreimal versammelt sich die gleiche kleine Gesellschaft, dreimal ist von der Ehe die Rede. Während ein ‚nahtloser‘ Übergang zwischen erster und zweiter Idylle über die saisonale Kontinuität – den Maitag – geschaffen wird, ist es im Übergang zur dritten Idylle die Tageszeit, die eine zeitliche Kontinuität suggeriert. Tatsächlich muss zwischen der ersten und zweiten Idylle mindestens ein Jahr vergangen sein, denn aus dem Hofmeister ist der „Bräutigam“ und ein „hochwohlehrwürdiger Pastor“ des hochfreiherrlichen Gutes Seldorf geworden.105 Zwischen erster und zweiter Idylle hat damit auch eine – vom Text ausgesparte – Verlobung stattgefunden. Der Pfarrer träumt am Morgen dieses Besuchstages zwar schon, wie er die Trauungsworte spricht, und auch Luise, die verschlafen hat, schwindet in der Schlaflosigkeit „der Gedank‘ [an den Bräutigam] in des lieblichen Traumes Betäubung“.106 Trotzdem liegt zwischen der zweiten und dritten Idylle wiederum ein größerer
98Voß,
Luise (1795), I, 136. Luise (1795), I, 168, 146 und 170. 100Voß, Luise (1795), I, 156. 101Voß, Luise (1795), I, 160. 102Voß, Luise (1795), I, 344–347. 103Voß, Luise (1795), I, 376. 104Voß, Luise (1807), I, 452. 105Vgl. Voß, Luise (1795), II, 48–50. 106Voß, Luise (1795), II, 233. 99Vgl. Voß,
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Zeitraum, da der ‚Brautabend‘ an einem Oktobertag stattfindet.107 Der Text evoziert den nach logischen Gesichtspunkten mindestens eineinhalb Jahre umfassenden Zeitraum damit als eine traumartige, bräutliche, idyllische Zeit von der Blüte bis zur Ernte.108 Diese Zeit erhält mit ‚Luise‘ ein Bild, das die Herrschaft des pater familias in der Tochter und Gattin als fruchtbringendes Eigentum spiegelt.109 Eine ‚dritte‘, sei es kirchliche, staatliche oder juristische Instanz, welche die Ehe schließt, entfällt in Voß’ Luise. Die Luise kündet, so könnte man sagen, von jener empfindsamen Zivilbürgerreligion, die bei Rousseau vom Konflikt zwischen Gesellschaftsvertrag und Ehe durchzogen bleibt bzw., wie in der Nouvelle Heloïse, als Krise mit tödlicher Bedrohung entworfen wird. Diese Ordnung ist insofern vorrevolutionär, als nicht die nationalstaatliche Abgrenzung (von den ‚Franken‘, die in Herrmann und Dorothea ins Zentrum rückt) die entscheidende Rolle spielt, sondern die Abgrenzung von einem konfessionellen (ebenso orthodox-protestantischen wie katholischen) Gegner, der sich vom Adel in den Dienst nehmen lässt. Die idyllisierende Instituierung des Patriarchats wird bewerkstelligt, indem das Erwartungsschema Verliebt-Verlobt-Verheiratet in den drei Idyllen vom Vater narrativ gesteuert wird:110 Dieser schickt das Paar zum Sich-Verlieben los (erste Idylle), prüft und belehrt den Bräutigam – in auffälliger Abwesenheit der Braut – in der zweiten Idylle, um die Tochter am Ende als von ihm selbst bereits ‚kopulierte‘ Braut dem Stellvertreter zu übergeben (dritte Idylle). Die dritte Idylle endet damit, wie Luise und Walter sich nach der vorgezogenen Hochzeitsfeier in das von der Mutter hergerichtete Brautbett zurückziehen; dabei macht es eigentlich keinen Unterschied mehr, ob Luise mit dem Pfarrer von Seldorf nun einen neuen Hausstand gründen oder ob der neue Sohn als neuer Pfarrer von Grünau gleich im Haus des Schwiegervaters wohnen bleiben wird.111 Was in diesem vorbildlichen Pfarrhaus als bürgerliches Wunschbild aufscheint, ist die Möglichkeit einer universell-patriarchalen Beherrschung und Ökonomisierung von Frau und Natur. Voß’ sozialutopischer Landpfarrer hat es geschafft, die ärmliche, düstere und verrauchte Stube des Pfarrhauses in einen respektablen Ort der Repräsentation zu verwandeln.112 Die Natur wird zum Ort der Wertschöpfung; so erklärt der Pfarrer Walter, wie viel Gewinn sein ehemals verwilderter Garten inzwischen einbringt, so dass man sich in diesem Hause nicht nur all die aufgezählten heimischen kulinarischen Köstlichkeiten, sondern auch den in der Luise vielbeschworenen
107Vgl. Voß,
Luise (1795), III, 697. hierzu auch Peucker, „Female Body, Textual Body“, S. 98. 109Vgl. Voß, Luise (1795), III, 298–300: „[G]eh an der Hand des Jünglinges, welcher von nun an / Vater und Mutter dir ist! Sei ihm ein fruchtbarer Weinstock / Um sein Haus“. 110Irmgard Wagner stellt fest: „The venerable patriarch controls the narrative structure“ („Hermann und Dorothea in the Context of Voß and Kant“, S. 171). 111Gerda Riedl macht darauf aufmerksam, dass Voß, dichterisch raffiniert, eine „Nachgeschichte des Hochzeitsfestes […] in die retrospektiv eingeholte Vorgeschichte des Brautelternpaares“ verlege – ein Motiv, das auch Goethe aufnimmt und mit dem eine zyklische Zeit erzeugt wird („Hochzeit in der literarischen Idylle“, S. 676). 112Vgl. Voß, Luise (1795), III, 1–16. 108Vgl.
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Kaffee leisten kann.113 Walter steht ganz auf dieser Linie, wenn er dem zukünftigen Schwiegervater ein gewaltiges „türkisches Rohr“ (das über „die Scheitel [r]aget“) und „ächte[n] Virginiaknaster“ als Gastgeschenk und Symbol universell beherrschbarer – selbst orientalischer – ‚Natur‘ überreicht.114 Symbolisch bringt er sich damit freilich um die Potenz als Ehegatte. Der Pfarrer erwidert die Gabe in der dritten Idylle mit keiner anderen Gegengabe als Luise. Allerdings ist die idyllische „Verklärung der Dinge“115 als patriarchal verordnete an mehr als einer Stelle brüchig; sie tendiert zu einer „gespenstische[n] Gegenständlichkeit“,116 die durch den Anschein des Wirklichen und nicht zuletzt Juristischen, realistisch und rechtlich, gebannt werden soll.117 Die titelgebende Tochter Luise markiert dabei den brüchigen, idyllisch-scheinhaften Grund, der das patriarchale Eheschließungsrecht ebenso begründet wie – auf fast jeder Textseite – bedroht. Schon Friedrich Sengle ist die Unwahrscheinlichkeit der überraschenden Eheschließung aufgefallen, allerdings nur, um sie für die weitere Argumentation als „sozialgeschichtliche Frage“ auszuschließen.118 Auf der Ästhetisierung des Eherechts beruht aber die ganze Kunst, die Idylle nicht als Utopie, sondern als naturgegebene Gesetzmäßigkeit erscheinen zu lassen. Auf dem schmalen Grat zwischen eherechtlicher Konformität und Abweichung begründet der Text seine patriarchalische Frauen-, Ehe-, Politik-, Religions- und Dichtungsauffassung. Man kann die Überraschungstat des Pfarrers von Grünau mit jenem „Naiven der Überraschung“ in Verbindung bringen, von dem Schiller in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795) spricht und das er von einem „Naiven der Gesinnung“ abgrenzen will.119 Die vorgezogene Trauung ist weder ganz 113Vgl. zu dieser Gesellschaftskritik und Sozialutopie Günter Häntzschel, Johann Heinrich Voß. Seine Homer-Übersetzung als sprachschöpferische Leistung, München: Beck 1977, S. 250–253. Außerdem auch Peucker, „Female Body, Texutal Body“, S. 96 f. 114Vgl. Voß, Luise (1795), II, 183–191. 115Vgl. Sengle, „Luise und Hermann und Dorothea“, S. 211. 116Vgl. hierzu Uwe C. Steiner: „,Gespenstische Gegenständlichkeit‘. Fetischismus, die unsichtbare Hand und die Wandlungen der Dinge in Goethes Herrmann und Dorothea und in Stifters Kalkstein“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 74 (2000), 627–653. 117Vgl. bereits bei Böschenstein den Hinweis auf eine zu prüfende Beziehung zwischen dem von Voß erzeugten idyllischen „Innenraum“ „zur Raumbeschreibung des realistischen Romans“ (Böschenstein, Idylle, S. 101). 118„Die sozialgeschichtliche Frage, was die plötzlich angesetzte volkstümliche Hochzeit im Pfarrhause – statt im Schloß! – bedeuten mag, lassen wir beiseite, weil uns an dieser Stelle die Erzählstruktur und die didaktische Darbietungsform interessieren soll“ („Luise und Hermann und Dorothea“, S. 212). 119„Bei dem Naiven der Überraschung muß die Person moralisch fähig sein, die Natur zu verleugnen; bei dem Naiven der Gesinnung darf sie es nicht sein, doch dürfen wir sie uns nicht als physisch unfähig dazu denken, wenn es als naiv auf uns wirken soll.“ (Friedrich Schiller, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Ders., Werke und Briefe, hg. Otto Dann u. a., Bd. 8: Theoretische Schriften, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1992; S. 706–810; hier: S. 712.) Schiller erwähnt Voß’ Luise ferner im Abschnitt zur Idylle in einer Fußnote und zählt sie, „obgleich nicht durchaus von sentimentalischen Einflüssen frei“, „ganz zum naiven Geschlecht“, das nur mit „griechischen Mustern verglichen werden“ dürfe (S. 774).
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Überraschungs- noch ganz Gesinnungstat; der Pfarrer – im Prinzip eine kindlichkindische Kreatur seiner Frauen und Domestiken – traut das Paar „wider Wissen und Willen“120 in einem Moment affektiv-ästhetischer Überwältigung. Die erste eherechtliche Abweichung besteht darin, dass der Text keine Verlobung erwähnt – vermutlich weil eine solche die Anwesenheit von Walters Familie impliziert hätte. Formaljuristisch bewegt sich Voß damit ganz im Rahmen der neuen Ehegesetzgebung. So stellt das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 klar: „Es ist nicht nothwendig, daß vor jeder Ehe ein förmliches Ehegelöbniß hergehe.“121 Die zweite Idylle „Der Besuch“ ersetzt ein Verlobungsritual, in dem etwa ein Verlöbnisvertrag aufgesetzt oder Ringe ausgetauscht würden, durch die Übergabe des ‚türkischen Rohres‘ an den Brautvater.122 Die zweite Auffälligkeit liegt in der überraschenden Haustrauung. Nach geltender Kirchenordnung stellte die Kirche den regulär vorgeschriebenen Ort für die Eheschließung dar. Die Landesobrigkeit genehmigte Ausnahmen,123 allerdings wurde in diesen Fällen die sog. Copulationssteuer fällig, die sich praktisch nur ein vermögendes Bürgertum oder der Adel leisten konnte.124 Eine Ausnahme von der Ausnahme war, wie Zedlers Universallexicon zu entnehmen ist, offenbar Preußen, wo Haustrauungen sehr verbreitet waren.125 In Vossens Luise ereignet sich die Haustrauung nun aber weder als besondere Gepflogenheit noch als gewährter Ausnahmefall, sondern als Überraschung und unvorhergesehener Zwischenfall. So zersplittert und dezentral die
120Ebd.,
S. 712. Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Zweyter Teil, Erster Titel, § 81,
121Allgemeines
S. 348. 122Dass zuvor doch Verlobungsringe ausgetauscht worden sind, erfährt der Leser nachträglich in der dritten Idylle bei der Trauung, nach welcher der Pfarrer die Worte spricht: „Kinder, gebt euch die Hand; die gewechselten Ringe der Treue / Habt ihr seit der Verlobung bereits in Liebe getragen“ (Voß, Luise (1795), III, 335). 123Vgl. Art. „Trauung“, Johann Heinrich Zedlers Grosses Vollständiges Universallexicon aller Wissenschafften und Künste. 1731–1754; zit. nach: www.zedler-lexikon.de (26.04.2016): „HausTrauung, ist eine Priesterliche Copulation zweyer verbundener Personen, so in der Braut, oder des Bräutigams-Hause, oder an einem andern bequemen Orte, auf absonderliche Vergönstigung und Zulassung der hohen Landes-Obrigkeit vollzogen wird.“ 124Vgl. Art. „Trauung“, in: Johann Georg Krünitz, Oekonomische Encyklopädie, oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft, 1773–1858, Bd. 187 (von 1845); zit. nach: www.kruenitz1.uni-trier.de (26.04.2016): „Gewöhnlich geschieht die Trauung in der Kirche, als dem eigentlichen Orte der gottesdienstlichen Handlungen, jedoch ist dieses nicht durchaus nothwendig, sondern sie kann auch im Hause der Brautleute von dem Geistlichen geschehen, wofür aber die Copulationssteuer, wo sie an die Kirche entrichtet wird, größer ist.“ 125„In denen Preußischen Landen ist wegen der Haus-Trauung dißfalls andere Verfassung. Es ist die Haus Trauung einem jedweden in allen Städten der Königlichen Preußischen Lande, absonderlich in Berlin, erlaubet, so daß man auch daselbst fast gar niemanden mehr in denen Kirchen trauen siehet. Wie kostbar es in verschiedenen andern Landen ist, wenn man die Erlaubniß erhalten will, sich im Hause trauen zu lassen, das ist zur Genüge bekannt.“ (Art. „Trauung“, in: Zedler, Universallexicon, S. 282 f.)
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Ehegesetzgebung im damaligen Reich auch gewesen ist – das kleine Territorium des Bistums Lübeck mit dem Mittelpunkt Eutin war mit der Grafschaft, später dem Herzogtum Oldenburg verbunden –, eine spontane Haustrauung dürfte in der aufgeklärt-absolutistischen Umgebung undenkbar gewesen sein und hätte einer obrigkeitlichen Sondergenehmigung bedurft.126 Angesetzt ist die Trauung eigentlich für den Tag nach dem „Brautabend“, also außerhalb der Idylle!127 Weitere Details zur geplanten Hochzeit werden seltsamerweise ausgespart. Man erfährt vor allem nicht, warum im Schloss geheiratet werden sollte – sicherlich weil damit der Adel, der delegitimiert werden soll, wieder ins Spiel käme. Auch von einer Grünauer Kirche ist im ganzen Text nicht die Rede, stattdessen wird der kleinen Gesellschaft die Natur zum „Tempel der Gottheit“.128 Wie kommt es also zum Vorziehen der Trauung in der dritten Idylle, und was ‚passiert‘ hier? Die dritte Idylle setzt ein mit einem neuerlichen, spontanen Besuch der Gräfin mit ihren Kindern Amalia und Karl. Die adlige Tochter Amalia zieht sich mit Luise in die Kammer zurück; sie bedauert den Verlust ihrer Freundschaft durch Luisens Übergang ins Ehejoch.129 Luise wiegelt ab – „Ein Jüngferchen streubet sich minder, / Und ein anderes mehr; doch folgen sie alle nicht ungern“130 –; sie zeigt Amalia ihr schönes Brautkleid, woraufhin diese den „Tand aussinn[ ]t“,131 den Brautschmuck Luise probehalber anzulegen. Sechzig Hexameter lang beschreibt der Erzähler dann, wie Luise unter der fachkundigen Anleitung der adligen Freundin sich in das skulpturale Bild einer klassischen griechischen Schönheit verwandelt. Zur Krönung überreicht ihr Amalia ein „Gehenk, noch warm vom Busen der Freundin“,132 mit ihrem Namen im Anhänger, das zugleich als Vermächtnis und Abschied von der Mädchenfreundschaft präsentiert wird. Walter, der just in diesem Moment die Kammer betritt, blickt Luise sprachlos,
126Dank an dieser Stelle an Martin Grieger von der Johann-Heinrich-Voß-Gesellschaft für seine historischen Auskünfte zum Eherecht und zu den wechselnden Herrschaftsverhältnissen im damals (einzigen) reformierten Fürstbistum Lübeck. 127Vgl. Amalia in der dritten Idylle: „Aber wir sollten doch sehn, wie es aussieht, wann dich der Vater / Morgen bei uns antraut, in dem stattlichen Ehrengewande“ (Voß, Luise (1795), III, 131 f.). 128Voß, Luise (1795), I, 430. Einmal allerdings wird die Kirche erwähnt, nämlich als der Pfarrer sich an seine eigene Trauung erinnert, bezeichnenderweise nicht als der Ort glücklicher Vermählung, sondern von schmerzlicher Erinnerung an den Verlust der Kinder, die seine Ehe ihm brachte: „Wann mein Gang zur Kirch’ an der blumigen Gruft mich vorbeiführt!“ (Voß, Luise (1795), III, 182) – Die ‚blumige Gruft‘ wirkt wie eine Paraphrase des Jean-Paul’schen ‚Vollglücks in der Beschränkung‘. 129Vgl. Voß, Luise (1795), III, 109–111: „Männer küssen nicht mehr mit Bescheidenheit, oder erröthend; / Herrisch umarmt die Gattin der Herr Gemahl, und zerküßt ihr, / oft mit stechendem Kusse, die Wängelein, wenn es ihm einfällt“. 130Voß, Luise (1795), III, 117 f. 131Voß, Luise (1795), III, 134. 132Voß, Luise (1795), III, 191.
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„wie ein ländlicher Mann“133 an, der im Herbst von der Frucht des selbst gepflanzten Apfelbaums überwältigt wird. Bei ihm mündet der Anblick der Braut nur in einen ‚langen und bebenden‘ Kuß, dem Vater in der Stube aber wird Luises Anblick zum Ernstfall der Ehe. Sein spontan ausbrechender Monolog ist bereits eine Trauung und setzt ein mit: „Gottes Segen mit dir, holdseliges, allerliebstes / Töchterchen“,134 geht über in Selbstreflexion: „Wunderbar regt sich mein Herz beim Anblick einer geschmückten / Jungen Braut“135 und mündet in die Rezitation von Bibelversen. Es handelt sich um die von Luther in seinem Traubüchlein empfohlenen Bibelworte aus dem ersten Buch Mose und dem Matthäusevangelium, die ihm in diesem Moment unwillkürlich entfahren, gleichsam als Trost für den drohenden Verlust, der in seinem Wortlaut im gleichen Zuge Abwehr dieses Verlustes ist: „Vater und Mutter / Soll verlassen der Mensch, daß Mann und Weib sich vereinen“.136 Damit lässt der Pfarrer väterliches und göttliches Gesetz buchstäblich ineinsfallen; rhetorisch heißt es am Ende des Monologs: „Mutter, was sagst du? / Soll ich sie traun? Nicht besser ja ist der morgende Tag uns!“137 Die Antwort besteht in einem empfindsamen Tränenerguss aller Beteiligten: „laut weinte, die Händ’ auffaltend, die Mutter; / Laut auch weinte Luis’, und barg an dem Vater das Antlitz; / Auch der Bräutigam weint’; es weint’ Amalia seitwärts“.138 Der Monolog des Pfarrers markiert damit einen Moment, dessen Vorder-Trauung schon ein Nach-der-Trauung ist, bzw. einen Moment, auf den auch in regulären Trauungen das Traubekenntnis folgt. Und so schließt der Pfarrer folgerichtig mit der Erfragung des Konsenses an: Walter antwortet „freudig“, Luise „leise“, und nur hier fallen ein einziges Mal die vollen Namen von Braut und Bräutigam: Anna Luise Blum und Arnold Ludewig Walter. Danach folgt, noch einmal kirchenordnungsgemäß, ein Trausegen: Der Pfarrer legt seine Hand auf die Hände des Paares und vollzieht die copulatio, das Zusammensprechen des Paares, mit den zentralen, aus Matthäus 19 stammenden Worten: „Euch hat der Vater im Himmel / Beide zusammengefügt; kein Mensch vermag euch zu scheiden“.139 Selbst den Segen, den Luther in die gottesdienstliche Liturgie eingeführt hat, packt Voß in drei Hexameter, die die wunderbare Amalgamierung von biblischer und homerischer Gründungserzählung im deutschen Vers sinnfällig machen:
133Voß,
Luise (1795), III, 210. Luise (1795), III, 261. 135Voß, Luise (1795), III, 270. 136Voß, Luise (1795), III, 295 f. Vgl. 1. Mose 2, 24 (wieder aufgegriffen in Mt 19, 5): „Darum wird ein Mann einen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.“ – Bibelstellen werden in diesem Kapitel zit. nach: Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2000. 137Voß, Luise (1795), III, 305. 138Voß, Luise (1795), III, 306–308. 139Voß, Luise (1795), III, 340. 134Voß,
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Segn’ und behüt’ euch der Herr! Der Herr erleuchte sein Antliz Gnädig euch! es erhebe der Herr sein Antliz, und geb’ euch Seinen Frieden allhier, und dort in Ewigkeit! Amen.140
Die Braut jedenfalls ist ‚erschrocken‘ angesichts dieser vom Vater unwillkürlich vollzogenen Zeremonie. Dabei unterweist dieser sie zusätzlich, dass die Trauung – wiewohl durch „Mädchenkünste“141, wie der Pfarrer sagt, initiiert – volle Rechtsgültigkeit besitze: Richtig getraut, das bist du, mein Töchterchen! Wollte nunmehr dich Selber der Herr Generalsuperintendent aus den Formeln, Die dich verstrickt, loswinden; getrost antwortet’ ich also: Würdigster Herr Generalsuperintendent, ich verharre Voll Ergebenheit stets Ihr ganz gehorsamer Diener; Aber ich nehme mir doch die Erlaubnis, Sie zu versichern, Daß nach meinem Erachten die Kinderchen richtig getraut sind.142
In der peniblen eherechtlichen Rechtfertigung zeigt sich, wie undurchsichtig das Motiv für die vorgezogene Trauung im Text bleibt.143 Unwahrscheinlich wahrscheinlich, gleicht die Trauung in ihrer formelhaften Wortwörtlichkeit einem effet de réel (und damit all den anderen zeitgenössischen realistischen Objekten, die in der Luise gegessen, getrunken und konsumiert werden). Das paradoxe Ereignis, um das der Text kreist, ist die väterlich-inzestuöse Selbstermächtigung mittels ästhetischer Überwältigung. Der Pfarrer nimmt dem Bräutigam das Recht der copulatio und entjungfert sie noch vor der Brautnacht. Es ist die Gräfin, die dies offen ausspricht, wenn sie sagt: Du scheinst mir traurig, mein Töchterchen, daß du so plözlich [sic] Durch den bösen Papa den Kranz vom Haupte verlierest, Den, wie ein Rosenmädchen, du stets getragen mit Anstand.144
Der Schein des Rechts, mit dem die Usurpation des pater familias überspielt wird, entsteht aus dem geschliffenen Vers des Homer-Übersetzers Voß, der zeitlose Geltung beanspruchen darf. So ist es kein Zufall, wenn der Pfarrer den zukünftigen Schwiegersohn, weil er sein Glas nicht ordentlich klingen lässt, mit dem „neuern / Dichterschwarm[s] ungeschlifne[n] Hexameter“145 vergleicht. Im
140Voß,
Luise (1795), III, 342. Luise (1795), III, 382. 142Voß, Luise (1795), III, 386–392. 143Wenn der Hausvater sich anschließend beim ‚siebzigjährigen Weber‘, der zum Musizieren eingetroffen ist, nach „Einwendungen wider die Hochzeit“ (Voß, Luise (1795), III, 747) erkundigt, entkräftet er im Nachhinein pro forma noch den potentiellen Einwand, dass mit der vorgezogenen Trauung die Frist zur Einreichung von Ehehindernissen unrechtmäßig unterschritten worden sein könnte. 144Voß, Luise (1795), III, 595–598. 145Voß, Luise (1795), I, 528 f. 141Voß,
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weiblich-phantasmatischen Signifikanten ‚Luise‘ soll der sterile, männlich-homosoziale Hexameter fruchtbar gemacht werden. Macht in der Ilias die kriegerische Eroberung, in der Odyssee die Heimkehr des Gatten den Helden, so in der Luise die symbolische Vermählung von weiblicher Jungfräulichkeit mit männlicher Verskunst. Voß verewigt konsequenterweise in der Luise nicht etwa seine eigene Gattin Ernestine oder eine Tochter, die er (neben seinen vier Söhnen) vielleicht gern gehabt hätte, sondern seine eigene Dichterstimme. Schon beim Geburtstag im Wald soll der Gesang erschallen, „welchen im Frühling / Unser Freund in Eutin hier dichtete“,146 und in der dritten Idylle ist selbstreferentiell ausdrücklich von jenem Gesang die Rede, „den unser Voß in Eutin uns / Dichtete!“.147 Der Pfarrer ermuntert Luise beim Geburtstagsfest im Wald zum Singen, lässt sie bezeichnenderweise aber eben nicht allein singen: „Jener sprachs; da begann mit steigender Röthe die Jungfrau / Sanft den Gesang; ihn verstärkte, mit Macht einstimmend, der Vater.“148 Luise hat zwar eine Stimme, die aber für zu schwach erklärt wird, um alleine zu klingen. „Nicht zu heiß dich gesungen, mein Töchterchen! Alles mit Maße“,149 mahnt die Mutter sie ausgerechnet kurz vor der Brautnacht.150 In den verschiedenen Titeln für die dritte Idylle spiegelt sich die zunehmende Zentralität und Prekarität der voßischen ‚Hochzeit‘: Im Erstdruck (im Teutschen Merkur) von 1794 erscheint sie bezeichnenderweise noch unter der Überschrift „Luise. An Schulz“ – das ist Voß’ Komponistenfreund, der in der Luise auch mehrfach erwähnt wird. Im ersten Buchdruck von 1795 heißt die letzte Idylle dann „Der Brautabend“; erst die sogenannte vollendete Ausgabe von 1807 macht daraus endgültig „Die Vermählung“ – von patriarchalischem Recht und weiblicher Jungfräulichkeit.151
Vom Schlafrock … Voß’ Luise wird leider nie als work in progress gelesen.152 Dabei liegen zwischen der Publikation der einzelnen Idyllen in Zeitschriftenform 1783/84 und der 146Voß,
Luise (1795), I, 384 f. Luise (1795), III, 616 f. 148Voß, Luise (1795), I, 388 f. 149Voß, Luise (1795), III, 836. 150Riedl, „Hochzeit in der literarischen Idylle“, S. 682, weist darauf hin, dass Luise – im Gegensatz zur barocken Lisille – eine eigene Stimme hat, verfolgt diesen Aspekt aber nicht weiter. 151Über eine unterritoriale ‚Vermählung‘ von Recht und Schönheit schreibt Cornelia Vismann: „Es ist verführerisch, diesen unterritorialen Anfang des Rechts in Harmonie als einen Anfang vor dem der Gewalt des Rechts zu denken.“ (Das Schöne am Recht, Berlin: Merve 2012, S. 38) – Das in der Luise eingesetzte (Ehe–)Recht ist mit dem Pfarrer von Grünau freilich weder orts- noch namenlos … 152Grund dafür ist die m. E. falsche Entscheidung, die erste Buchfassung von 1795 als ‚historisch wirksame‘ und ‚ästhetisch gelungenste‘ zu restituieren. Das beginnt, soweit ich sehe, bei Helmut J. Schneider, der in seiner Anthologie für den Abdruck der ersten Idylle auf die Ausgabe von 1795 rekurriert und in seinem Nachwort darauf hinweist: „Die Luise wird von Fassung zu Fassung aufgeschwellt […].“ („Die sanfte Utopie“, in: Ders. (Hg.), Idyllen der Deutschen, Frankfurt a. M.: Insel 1978, S. 399.) Vgl. ferner Böschenstein, Idylle, S. 101; Stagl, „Vossens Luise als patriotische Tugendlehre“, S. 103 f. 147Voß,
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sogenannten „vollendeten Ausgabe“ 1807 die Französische Revolution, die Säkularisation des Bistums Lübeck, zu dem Eutin gehörte, aber eben auch Goethes bürgerliche Idylle Herrmann und Dorothea, die nicht nur ohne adliges Personal auskommt, sondern auch den Pfarrer seiner Vorrangstellung beraubt. Im oft gemachten Vergleich der beiden Texte wird dann ein fragiler Legitimationsprozess übersehen, der die sakralisierte Aufklärungsinstanz im Text und im Paratext immer fragwürdiger macht. Der ‚vollendeten‘ Ausgabe von 1807 fügt Voß einen Anmerkungsapparat bei, der aus botanischen und ökonomischen Erläuterungen zum im Text erwähnten Obst- und Gemüseinventar besteht, aber auch aus philologisch-etymologischen Ergänzungen, die den Text als deutungsbedürftig und -würdig erscheinen lassen. Er monumentalisiert seinen Text – nicht ohne Erfolg, war die Neuausgabe des Textes doch von zahlreichen Rezensionen begleitet, die vor allem den sittlichen und erzieherischen Wert der Idylle hervorhoben.153 Andererseits arbeitet der Text sich an dem problematischen Mädchenbündnis ab, auf dem die Überwältigung des pater familias beruht. Auf der Textoberfläche inszeniert die Luise ein Modell, nach dem sich väterliche Macht weiblicher Unterwerfung verdankt. Das zeigt sich intertextuell an der alttestamentlichen Schirmherrschaft, unter die Walter und Luise am Ende der Idyllen gestellt werden. Jakob und Rahel am Brunnen zeigt die „eichene Lade“, aus der die Mutter das Bettzeug für die Hochzeit packt. Ihr ist außerdem jener „stattliche Bräutigamsschlafrock, / Fein von Kattun, kleeröthlich, mit farbigen Blumen gesprenkelt“154 entnommen, den Goethe in Herrmann und Dorothea in weiteren Umlauf bringen wird. Rahel ist die jüngere und schönere Schwester Leas, die Jakob ehelichen will und deren Stammmutterrecht in der alttestamentlichen Erzählung äußerst ambivalent bleibt (1. Mose 28–29). Der Vater der Töchter, Laban, verfügt zunächst, dass Jakob (nach geltendem Recht) die älteste Tochter, Lea, heiraten soll; nur aufgrund seiner Hartnäckigkeit erhält Jakob Jahre später Rahel zur zweiten – und bevorzugten – Gattin. Rahel bezahlt die Bevorzugung mit einem doppelten Unglück: Sie bleibt viele Jahre unfruchtbar und verliert bei der Geburt ihres zweiten Sohnes das Leben. „Als ihr aber das Leben entwich und sie sterben musste, nannte sie ihn Ben-Oni, aber sein Vater nannte ihn Ben-Jamin“, heißt es in 1. Mose 35, 18.155 Rahel-Luise verkörpert insofern die Figur einer
153Man
lobt in der Überarbeitung „das hohe Gesetz des Anstandes, des Schicklichen“. Der Rezensent der Zeitung für die elegante Welt empfiehlt zur Bildung und Verfeinerung der Sitten eine vergleichende Lektüre der Fassungen in den „höhern Schulanstalten“ ([Rezension zu:] „Voßens Luise“, Zeitung für die elegante Welt 8/5 (1808), Sp. 33–38; hier: Sp. 34 f. – Das Publikum teilt sich in eine pro-voßische, klassizistisch-patriarchal-aufklärerische (Gleim) und eine pro-goethesche, r omantisch-progressiv-aufklärungskritische Fraktion (Schlegel, Humboldt). 154Voß, Luise (1795), III, 872 f. 155Zu den Namen Ben-Oni und Ben-Jamin ist im Kommentar der Lutherbibel vermerkt: „d. h. Sohn meines Unglücks bzw. Sohn des Glücks“.
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Mutter, die sich mit ihrem Tod für die patrilineare Genealogie aufopfert. Nun vertieft Voß’ im Zuge der Textumarbeitung interessanterweise den biblischen Bezug zu Rahel und bringt damit Luises jungfräuliche Unschuld und ihre schwesterliche Beziehung mit der adligen Amalia in ein moralisches Zwielicht. Die gräfliche Tochter Amalia ist in der Luise eine Tochter, die wie die erstgeborene Tochter Lea zugunsten Luises entthront werden soll.156 Sie verkörpert das adlige, verführerische Recht der Schönheit, das es auf Luise zu übertragen gilt.157 In der zweiten Idylle hat Amalia nicht nur die Idee, die Braut probehalber zu schmücken, sie bringt in der Form eines prächtigen Talars auch den Bräutigamsschmuck mit: Einen Talar voll Würde, zur Festsamarie, bring’ ich, Schön, von gewässertem Taft, mit eigenen Händen genähet; Zwölf Halstücher und Hemd’, und zwölf brabantische Befchen.158
Erst in der späten Fassung wird daraus ein von ihr selbst genähtes Gewand, das ihr „Laiin“ nur deshalb so gut gelingen konnte, weil Luise sie komplizenhaft unterstützte: „Heimlich stahl mir Luise das Vorbild aus dem Gewandschrank / Ihres Papa’s, wie Rahel die häuslichen Götter des Laban“.159 Das patriarchalische Paradies wird gestört, indem Amalia und Luise zusammen jener Götter-Diebstahl unterstellt wird, den nach biblischem Text Rahel allein begeht und dessen genealogische Funktion den Exegeten traditionell Rätsel aufgegeben hat.160 Voß’ scheinbar klare Aufteilung der Weiblichkeit in eine falsche, gekünstelte (die List Amalias) und eine richtige, bürgerlich domestizierte (die Jungfräulichkeit Luises) wird in
156Luther beschreibt das Verhältnis zwischen Rahel und Lea als ein typologisches: Lea verkörpere den äußerlichen, Rahel den inneren, glaubenden Menschen. Vgl. hierzu Sabine Hiebsch, Figura ecclesiae: Lea und Rahel in Martin Luthers Genesispredigten, Münster: LIT 2002. 157In seiner Rezension des von Voß herausgegebenen Musenalmanach für das Jahr 1776 kritisiert Wieland ein klischeehaftes Adelsressentiment bei Voß und seinen Freunden: „Diese Herren wünschen so sehr, daß endlich die teutsche Muse, als Hausfrau, die Gallische Zofe an den Höfen verdrängen möchte“. Vgl. Christoph Martin Wieland, [Rezension:] „Musenalmanach für das Jahr 1776“, Der Teutsche Merkur vom Jahr 1776, Jänner. 1776, S. 85–89; zit. in: Voß, Ausgewählte Werke, hg. Hummel, S. 368. 158Voß, Luise (1807), II, 434–436. 159Voß, Luise (1807), II, 439 f. 160Jakob flieht mit seiner Familie vor dem ungerechten Onkel und Schwiegervater Laban. Rahel stiehlt, ohne das Wissen Jakobs, das Privatheiligtum des Vaters und nimmt es mit auf die Flucht. Der erzürnte Vater verfolgt die Fliehenden und will die Beute zurückhaben. Rahel gelingt es, dass die Götterbilder unentdeckt bleiben, indem sie ihre Weiblichkeit (ihre Menstruation) als List einsetzt: „Rahel aber hatte den Hausgott genommen und unter den Kamelsattel gelegt und sich darauf gesetzt. Laban aber betastete das ganze Zelt und fand nichts. Da sprach sie zu ihrem Vater: Mein Herr, zürne nicht, denn ich kann nicht aufstehen vor dir, denn es geht mir nach der Frauen Weise. Daher fand er den Hausgott nicht, wie sehr er auch suchte.“ (1. Mose 31, 34 f.) – Luther selbst ist unschlüssig in seinem Kommentar und fragt, „obs auch recht gehandlet sey“. Vgl. Hiebsch, Figura Ecclesiae, S. 181–183.
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einem nun unterstellten, die männliche Autorität unterwandernden Frauenbündnis gestört. Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht auch, dass Luise in der frühen Textfassung noch das einzige Kind des Pfarrers ist, während sie später zur einzig überlebenden Tochter und gewissermaßen zu einem Ersatz für die männliche Erbfolge gemacht wird.161 Im Text wird sich der von Amalia gestiftete taftene Talar freilich weder gegen den berühmten Schlafrock, mit dem der Pfarrer von Grünau „hausväterlich prangend“162 eingeführt wird, noch gegen den von der Mutter überreichten Bräutigamsschlafrock durchsetzen. Voß unterstreicht das in einer Erläuterung, in der die Samarie als Amtskleidung der Geistlichen und ehemaliges „langes, von den Persern, wahrscheinlich in den Kreuzzügen, entlehntes Weibergewand“163 erklärt wird. Amalia macht Walter, der gerade seine erste Pfarrstelle angetreten hat, das prächtige (und verhasste) Amtsgewand zum Geschenk und „Beding’“, „Dass er den Schmuck anleg’, um recht amtsmäßig und ehrbar / Auszusehn.“164 Aber das Motiv wird nicht weitergeführt, die zweite Idylle endet damit, dass die aus ihrer Kammer stürmende Luise Walter in die Arme fällt. Stattdessen scheint es bereits auf die „Vermählung“ vorausdeuten zu wollen, bei der nicht Walter ‚amtsmäßig‘, sondern Luise ‚bräutlich‘ von Amalia geschmückt wird. Amalias bezwingender Auftritt in der zweiten Idylle wirkt wie ein Bündnis, in dem der Vater, Amalias List kühn, homerisch überbietend, tonangebend bleiben soll.165 Im (von Amalia entfachten) Pfeifenqualm wird der Pfarrer zu einem „Herrscher im Donnergewölk Zeus“,166 der durch das türkische Rohr griechischen Geist atmet und einen langen Monolog hält, der in der Vorwegnahme eines mutig-trauenden „Kraftwort[es]“ kulminiert: „Ob den Gebrauch die Agend’ anordnete, oder wir selber / Nach dem Bedarf, vorsichtig dem Heiligen Schönes vermählend“.167 So verraucht Amalias Geschenk buchstäblich in einer Umwölkung, die männlicheigenmächtig, weniger vorsichtig als autoritativ das Heilige mit dem Schönen vermählt. Voß scheinen bei der Durchsicht der zweiten Idylle insgesamt Zweifel gekommen zu sein, so offenbar auch jener, ob der Titel „Der Besuch“ womöglich weniger auf den des Bräutigams als auf jenen Amalias mit ihrem Geschenk – der Luises Präsenz in der Idylle ersetzt – beziehbar sein könnte. In der grammatisch
161Vgl. Voß,
Luise (1795), III, 281. Luise (1807), I, 5. 163Voß, Luise (1807), S. 343. 164Voß, Luise (1807), II, 444–446. 165Amalia bleibt in der paradoxen Rolle von Verführerin und Verbündeter. Die Übergabe ist seltsam zweideutig gestaltet: Amalia überreicht das Geschenk einem „staunenden“ und „beschämt[en]“ Walter, „und erklärt‘ ernsthaft das umhüllte Geheimnis, / Mit des Papa’s Beifall ankündigend, was ihm bevorstand“ (Voß, Luise (1807), II, 456–58). Der Vater scheint dem Einfall Amalias zuzustimmen, dass Walter zu seinem festlichen Besuchstag das neue Gewand anlegen muss. 166Voß, Luise (1807), II, 475. 167Voß, Luise (1807), II, 425 f. 162Voß,
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
auffälligen Wendung „Denn ihn gilt der Besuch doch eigentlich“168 hält die Mutter Amalia in der Version von 1795 davon ab, nach ihrer Ankunft zuerst Luise in der Kammer – vor Walter in der Stube – zu begrüßen. Ab dem Druck von 1801 ist dem Autor die Wendung bereits eine Erklärung wert: „Gelten für betreffen erfordert den vierten Fall: es gilt mein Leben, es gilt mich. Ein anderes ist: die Entschuldigung gilt mir, statt, ich lasse sie gelten. Unsere besten Schriftsteller erwogen diesen Unterschied nicht immer.“169 Im Anmerkungsapparat von 1807 wird daraus ein fünfseitiger philologischer Fachkommentar zum Lexem ‚gelten‘, der offenbar einzig dem Missverständnis vorbeugen soll, dass Autorität und Amtswürde des Bräutigams einem Geschenk weiblichen Adels geschuldet sein könnten.170 Auch hier versucht der Text mit dem Dilemma, das durch der Disziplinierung des weiblichen Einflusses entsteht, umzugehen. Dass das patriarchalische „Kraftwort“ die Idylle insgesamt in Frage stellt, zeigt schließlich die verfängliche Weiterentwicklung von Luises Reaktion auf die vorgezogene Trauung. Bereits in der frühen Version gibt Luise mit dem „Zorn“ des Vaters ein episches Stichwort: Vater, du böser Vater! dein Töchterchen so zu erschrecken! War das recht? Ich komme so ganz unschuldig und arglos, Und vermut’ in der Welt nichts weniger, als die Hochzeit! Aber mit einmal geräth er in Zorn; und eh ich mich umseh, Bin ich getraut! Du solltest doch Scherz verstehen, mein Vater!171
War der Zorn „recht“? In der frühen Version von 1795 bleibt die Frage offen, Luises Ausruf unkommentiert; später lässt Voß den Vater in epischer Adressierung antworten: „Drauf antwortetest du, ehrwürdiger Pfarrer von Grünau! / Töchterchen, lass gut seyn! Mir entfuhr in der Hizze die Unbill!“172 Der Zorn wird nicht nur legitimationsbedürftig, Voß will ihn gleichzeitig auch etymologisch ‚idyllisieren‘, indem er ihn in einer Fußnote von einem sachlich gerechtfertigten Zorn unterscheidet: „Zorn für Eifer und heftige Aufwallung, wie das griechische οϱγή.“173 Als affektive Unkontrolliertheit entschuldigt, offenbart er allerdings auch seine ‚orgiastische‘ und erotische Konnotation. Und auch mit der „Unbill“
168Voß,
Luise (1795), II, 240. Heinrich Voß, Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen, Königsberg: Nicolovius 1801, S. 138. 170Voß, Luise (1807), S. 337–342. – Die Ausgabe letzter Hand von 1823 behält den überlangen Kommentar bei, obwohl der grammatisch untypische Akkusativ aufgelöst ist in ein: „Denn ihm gilt der Besuch doch eigentlich“ (Johann Heinrich Voß, Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen. Auswahl der lezten [sic] Hand, Königsberg: Universitätsbuchhandlung 1823, II, 422; S. 140). Der Kommentar wird dadurch, wenn nicht überflüssig, so nahezu unverständlich. 171Voß, Luise (1795), III, 409–413. 172Voß, Luise (1807), III, 499 f. 173Voß, Luise (1807), S. 347. 169Johann
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
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stolpert der Philologe nur in die nächste Falle – der Begriff scheint wiederum in einer Anmerkung erläutert werden zu müssen: „Unbill“ bedeute „Unbilligkeit“. „Ein anderes ist das Unbild, wodurch etwas unförmiges, verkehrtes, seltsames, Misshandlung, Unthat, bezeichnet wird“.174 Auch in Grimms Wörterbuch wird auf die doppelte Etymologie ‚Unbild‘, deformitas, eidolon [!] einerseits und ‚Unbilligkeit‘, Unrecht, Ungerechtigkeit andererseits verwiesen. Wenn Voß die Bedeutung der väterlichen „Unbill“ als sittlich-rechtliche einzuhegen versucht, entlarvt er damit zugleich den Umstand, dass der Vater die Idylle sinnlich-objektiv, ästhetisch, deformiert und zu einem inzestuösen ‚Unbild‘ macht.
… zur Revolution Der für Walter ausersehene „stattliche Bräutigamsschlafrock, / Fein von Kattun, kleeröthlich, mit farbigen Blumen gesprenkelt“175 garantiert in der Luise Patrilinearität über den durch den fehlenden Sohn entstandenen genealogischen Bruch hinaus. Goethe hat das fetischistische Potential dieses Schlafrocks erkannt und macht ihn zum Ausgangspunkt seines epischen Experiments: Als der Flüchtlingszug am beschaulichen Städtchen vorbeizieht, packt die Frau des Wirts zum Goldenen Löwen unter anderer ‚Leinwand‘ „besonders den Schlafrock, mit indianischen Blumen, / Von dem feinsten Kattun, mit feinem Flanelle gefüttert“ zusammen. Er ist aus der Mode gekommen und bietet sich als Kleiderspende an.176 Schicksalhaft bringt er – im ersten, mit „Kalliope. Schicksal und Anteil“ überschriebenen Gesang – das epische Geschehen in Gang, denn weil die Mutter so lange kramt, trifft Herrmann, der mit den Gaben losgeschickt wird, nur noch auf die Nachhut der Flüchtlinge – und damit allererst auf den von Dorothea geführten und von zwei Ochsen gezogenen Wagen. Auf diesem befindet sich eine Wöchnerin, die Dorothea gerade entbunden hat, mit einem nackten Baby auf dem Arm. Und der Schlafrock kommt wie ein Wunder, wie ein Geschenk Gottes, das Dorothea ja selbst im Namen trägt. Sie dankt es mit den Worten: „der Glückliche glaubt nicht, / Daß noch Wunder geschehen; denn nur im Elend erkennt man / Gottes Hand und Finger, der gute Menschen zum Guten / Leitet. Was er durch Euch an uns tut, tu’ er Euch selber.“ (HD II, 50–53) Und damit verabschiedet sich der bis hierher viermal aufgerufene Schlafrock aus dem Goethe’schen Text. Er kleidet nun eine fremde, heimatlose Generation. Aber wird Dorothea wirklich die Gegengabe für Herrmanns Gabe des Schlafrocks sein?
174Voß,
Luise (1807), S. 347. Luise (1795), III, 872 f. 176Johann Wolfgang Goethe, Herrmann und Dorothea, I. Gesang, vv. 29–30. Im Folgenden – mit der Sigle HD, Gesang- und Versangabe – direkt im Text zit. nach der Ausgabe: Johann Wolfgang Goethe, Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. Waltraud Wiethölter, ( =Bd. 8 der Frankfurter Ausgabe), Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2006 (1994), S. 807–883. 175Voß,
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Welchen Bruch bedeutet die Aufgabe von Vossens Insigne der Patrilinearität? Was für eine Nachfolge tritt Herrmann mit dem ‚Geschenk‘ Dorotheas an?177 Goethe modifiziert, unter Beibehaltung der ‚Vermählung‘ als konfliktlösendes Moment, die voßische Familienkonstellation in programmatischen Aspekten: Wie Luise das einzig überlebende Kind des Pfarrers ist, bleibt Herrmann nach einer verlorenen Tochter für die Wirtsfamilie der einzige Sohn (vgl. HD VII, 66). Den Kernfamilienkosmos von Grünau mit klerikalem Zentrum, der vom Adel abgegrenzt wird, erweitert er zur rechtsrheinischen Kleinstadt mit bürgerlichem Zentrum, die sich im Mantel kollektiver Brautwerbung mit revolutionärer Weltpolitik auseinandersetzt. Über Dorotheas Familie erfährt man, wie über diejenige Walters, nichts; der Clou wird natürlich sein, dass sie keine ‚richtige‘ Jungfrau mehr ist, sondern schon einmal mit einem Revolutionsanhänger verlobt war. Anders als Walter gehört sie weder der Nachbarschaft noch dem Bürgerstand an; sie ist Magd und stammt aus dem ‚Linksrheinischen‘, aus dem deutschen Grenzgebiet, das von den Revolutionären besetzt worden ist. Herrmann möchte sich, was seinem Vater missfällt, exogam und unter Stand verheiraten. Anders als in der Luise, wo väterlich-geistiges Recht gleichsam mit vereinten Familienkräften (d. h. einer gehorsamen Mutter und einer etwas frechen Tochter) gegen die Macht des Adels durchgesetzt werden soll, geht es in Herrmann und Dorothea nicht um die einfache Abwehr der Revolution bzw. der falschen Schwiegertochter durch den Wirtsvater, sondern um eine Relativierung (oder: Equilibrierung) von nicht standesbedingten, sondern politisch bedingten (aber allesamt ‚bürgerlichen‘) Ansichten.178 Bei Voß entsteht der Familienkonflikt durch ein adliges Außen, durch das Einschleichen einer zweiten Tochter, die Amalia heißt. Bei Goethe ist der Konflikt als Konflikt zwischen Vater und Sohn der Kleinfamilie inhärent, und er wird, worauf gleich zurückzukommen sein wird, in der Frage einer ‚revolutionären‘ Verheiratung gedoppelt: Mit Dorothea droht die Revolution in ihren so schrecklichen wie schönen Bildern. Herrmanns Vater steht für den bürgerlich-ökonomischen Aufstieg: Er will, dass der Sohn eine „Braut mit schöner Mitgift“ (HD II, 170) heimführt, denn nur ökonomische Gleichheit garantiert eine stabile Beziehung zwischen den ungleichen Geschlechtern: „Nur wohl ausgestattet möcht’ ich im Hause die Braut sehn; / Denn die Arme wird doch nur zuletzt vom Manne verachtet, / Und er hält sie als Magd, die als Magd mit dem Bündel hereinkam“ (HD II, 183–185). Seine Auffassung beschränkt sich nicht auf
177Zur Beobachtung der Kleiderspende als Initialmoment des Epos’ vgl. bereits Hans Geulen, „Goethes Hermann und Dorothea. Zur Problematik und inneren Genese des epischen Gedichts“, Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1983), 1–20; hier: S. 4. Steiner spricht von der Leinwand als heimlichem Subjekt von Goethes Epos’ (vgl. „,Gespenstische Gegenständlichkeit‘“). Obwohl ich ihm weitgehend in seinen feinsinnigen Überlegungen folge, komme ich zu dem Fazit, dass Herrmann und Dorothea gegen die weiße Leinwand (leider, noch und vermutlich anders als in Stifters Kalkstein) als Protagonisten die Oberhand behalten. 178Vor allem Eibl, „Anamnesis des ‚Augenblicks‘“, betont das Gespräch und den Konsens, der in der Paarbeziehung symbolisiert werde.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
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die Erhaltung des Status quo, sondern zielt auf Verbesserung.179 Dem Sohn, der bei der Werbung um eine der reichen Nachbarstöchter gescheitert ist, wirft er vor, dass er „nicht höher hinauf will“ (HD II, 255). Herrmann soll ihm „nicht gleich […], sondern ein Beßrer“ werden, was ins Politische gewendet zur Maxime einer „Lust zu erhalten und zu erneuen“ führt (vgl. HD III, 5 und 7). Genau das ist der Kern des Konflikts, den die kleine Gesellschaft – ausgelöst durch die Koinzidenz von Revolutions- und Brautbegegnung – diskutiert und in einer kollektiven, um nicht zu sagen: epischen Anstrengung zwar nicht löst, aber in der Paarzusammenführung bannt. Herrmanns und Dorotheas Verlobungsreden, mit denen der Text im neunten und letzten, mit „Urania. Aussicht“ überschriebenen Gesang weniger endet als abbricht, sprechen ja nichts Anderes als noch einmal den Gegensatz von ‚erneuern‘ und ‚erhalten‘, von Neugestaltung (vgl. HD IX, 262–277) und „halten und dauern“ (HD IX, 300) aus. Während Voß in der Luise „die Zeitenflucht im Mikrokosmos der Objekte“180 kompensiert und den Schlafrock zum Phantasma einer ewigen, idyllischen Ehe-Ordnung macht, begegnet Goethe in Herrmann und Dorothea einem revolutionär verschärften und beschleunigten Gesellschaftskonflikt mit der Verdinglichung des Paares. Was in der Erzählung als ‚Überraschungshochzeit‘ inszeniert wird, ist ein nationales Paar-Phantasma, das seine Legitimität mit dichterischen Mitteln eskamotiert. In Herrmann und Dorothea findet am Ende keine „Vermählung“, sondern eine Verlobung statt, wodurch das vermeintlich geschlossene Ende wieder zu einem offenen Anfang wird, oder mit Goethe: wodurch „das Gedicht gegen sein Ende sich ganz zu seinem idyllischen Ursprung hinneigt“.181 So wird im Verlauf der revolutionären Umwälzungen der verschenkte Schlafrock durch die Verlobungsringe ersetzt, die am Ende ausgetauscht werden. Dass die begründende Funktion aber eigentlich nicht dem Paar, sondern nur seiner Bildung Bedeutung zugeschrieben wird, zeigt sich daran, dass nicht zwei, sondern drei Verlobungsringe im Spiel sind. Als Dorothea am Abend des denkwürdigen Sonntages heimgeführt wird und der Pfarrer ihr den Verlobungsring überstreifen will, entdeckt man den Ring des ersten Bräutigams, der den Moment der Verlobung ein letztes Mal retardiert. Herrmann bekommt für seine Kleiderspende am Ende nicht nur Dorothea selbst, sondern auch einen zusätzlichen Ring, der vielleicht für eine vorgängige, erste und unhaltbare Liebe steht und deren Wiedererreichbarkeit in der Schwebe bleibt. Ein zwar nicht ökonomischer Mehrwert der Ehe, wie der Vater es sich gewünscht hat, aber ein symbolischer Mehrwert der Gemeinschaft, der sie daran erinnert, dass sie auf einem Ausschluss beruht. Der Verlobungsring ist das Symbol für den Ursprung
179Vgl.
hierzu Stefan Willer, „Zur literarischen Epistemologie der Zukunft“, in: Nicola Gess, Sandra Janßen (Hg.), Wissensordnungen. Zu einer historischen Epistemologie der Literatur, Berlin/Boston: De Gruyter 2014, S. 224–260; hier: S. 246 f., der die Auffassung des Wirts mit dem modernen Konzept der Nachhaltigkeit in Verbindung bringt. 180Steiner, „,Gespenstische Gegenständlichkeit‘“, S. 633. 181Goethe an Schiller. 4. März 1797; zit. in: Goethe, Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. Waltraud Wiethölter, S. 1200.
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
einer idyllischen, unvordenklichen Gemeinschaft, welche die Erzählung durch Verstellung, ihr Titel im ‚und‘ zwischen Herrmann und Dorothea und die einzelnen Gesänge in ihren ‚Doppeltiteln‘ nur supplementieren können.
Hochzeit von Liebe und Revolution Der Wirtsvater ist kein Welt-, sondern ein Kleinstadtbürger. Das Elend der Flüchtlinge will er nicht sehen; „Neugier“ (HD I, 4) ist das Seine nicht. Das ‚Ehpaar‘ bleibt auf der Bank vor dem Haus sitzen, und nachdem die Hitze des Tages und die Erzählungen von Pfarrer und Apotheker ihm zusetzen, schlägt der Wirt den berühmten Rückzug ins „kühlere Sälchen“ (HD I, 160) vor, wo aber ein vorrevolutionärer Wein und die ‚Römer‘ umsummenden Insekten nur umso eindringlicher an die vermeintlich ausgeschlossene und bedrohliche Gegenwart anspielen (vgl. HD I, 159–170). Von einer Sorge umgetrieben, in der politische und private Motive verschwimmen, verdrängt der Wirt bei seinem Glas ‚echten Rheinweins‘ die Revolution, indem er sich den zeitlichen Zusammenfall eines baldigen Friedensschlusses mit der Hochzeit seines Sohnes vorstellt: Müde schon sind die Streiter, und alles deutet auf Frieden. Möge doch auch, wenn das Fest, das lang’ erwünschte, gefeiert Wird, in unserer Kirche, die Glocke dann tönt zu der Orgel, Und die Trompete schmettert, das hohe Te Deum begleitend, – Möge mein Herrmann doch auch an diesem Tage, Herr Pfarrer, Mit der Braut, entschlossen, vor Euch, am Altare, sich stellen, Und das glückliche Fest, in allen Landen begangen, Auch mir künftig erscheinen, der häuslichen Freuden ein Jahrstag! (HD I, 198–205)
Analog zur Mutter, die quasi die epische Handlung initiiert, nimmt der Vater am Ende des expositorischen ersten Gesangs deren Ende vorweg: Herrmanns und des Textes letztes Wort wird ‚Frieden‘ sein (wenn auch in konjunktivischer Form). In der Analogie von Friedens- und Eheschluss zeigt sich das formale Gesetz der Retardierung, das Goethe im Austausch mit Schiller als Charakteristikum epischer Dichtung ausweist. Der Rhapsode, so heißt es in Über epische und dramatische Dichtung, „wird nach Belieben rückwärts und vorwärts greifen und wandeln, man wird ihm überall folgen, denn er hat es nur mit der Einbildungskraft zu tun, die sich ihre Bilder selbst hervorbringt, und der es auf einen gewissen Grad gleichgültig ist, was für welche sie aufruft“.182 Des Vaters diffuse Friedensahnung kündigt nicht nur die glückliche Verbindung des Sohnes an, sie suggeriert zugleich, dass in ihr die tiefere Bedeutung eines politischen Friedensschlusses liegen könnte. Es geht also um das Bild einer Koinzidenz von Friedensschluss und Hochzeitsfest, das der Rhapsode episch-erzählend entwickelt und das sich im monumentalisierten Protagonisten-Paar mehr und mehr verdichtet. Buchstäblich 182Schiller/Goethe, Über epische und dramatische Dichtung, in: Schiller, Werke und Briefe, Bd. 8, hg. Otto Dann u. a., S. 1085–1087; hier: S. 1087.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
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zu klein wird die Tür sein, durch die Herrmann und Dorothea im letzten Gesang ins Wirtshaus schreiten: Aber die Tür’ ging auf. Es zeigte das herrliche Paar sich, Und es erstaunten die Freunde, die liebenden Eltern erstaunten Über die Bildung der Braut, des Bräutigams Bildung vergleichbar; Ja, es schien die Türe zu klein, die hohen Gestalten Einzulassen, die nun zusammen betraten die Schwelle. (HD IX, 55–60)
Es scheint, als kämen die beiden direkt aus der Kirche, wo sie, begleitet von einem Te Deum, eben vermählt worden sind. Tatsächlich steht die Verlobung samt letzten Verwicklungen noch aus, und im ganzen Text gibt es weder einen Friedensschluss noch ein Hochzeitsfest. Aber die Analogie, so könnte man sagen, ist das allgemeine Bild, für die das Paar einzustehen hat und dessen ‚Herausbildung‘ sich der Rhapsode vorgenommen hat. Wenn die verschiedenen Figuren im Text von Ehe und/oder Revolution sprechen, dann geht es immer um eine tautologische Kontingenzbewältigung durch das Kontingente. Leitmotivisch wird die Analogie von gesellschaftlicher Krise und Hochzeit nicht nur von verschiedenen Figuren im Text aufgegriffen, sondern auch als allegorisches Mittel eingesetzt, eine je unterschiedliche Einstellung zum Revolutionsgeschehen durch die Mitglieder der Mikrogesellschaft zum Ausdruck zu bringen. „Weil das Gute in der Moderne ohne das Böse nicht mehr zu haben scheint, bildet der Kerngedanke der Theodizee, die Figur des Bonum durch Malum, ein ironisches Leitmotiv des Epos“,183 stellt Uwe Steiner fest. Er formuliert zu Recht vorsichtig: ‚nicht mehr zu haben scheint‘ und verweist in einer Fußnote auf den sechsten Gesang, wo der Richter der Exilgemeinschaft mit seinen revolutionsaffirmativen Äußerungen die Figur „vom revolutionären Malum durch Bonum“184 umdreht. Als die „schönste Hoffnung“ (HD VI, 5) nämlich preist der Richter im Gespräch mit dem Pfarrer, der zusammen mit dem Apotheker losgeschickt worden ist, um die Braut zu prüfen, den verlorenen Ursprung der Revolution: Denn wer leugnet es wohl, daß hoch sich das Herz ihm erhoben, Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen, Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob, Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei, Von der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit! (HD VI, 6–10)
Man hat in diesen Worten des Richters eine für den Revolutionsgegner Goethe außergewöhnlich positive Einschätzung des revolutionären Aufbruchs gesehen.185 183Steiner,
„,Gespenstische Gegenständlichkeit‘“, S. 637.
184Ebd. 185Vgl.
hierzu insbesondere Gerhard Kaiser, „Französische Revolution und deutsche Hexameter. Goethes Hermann und Dorothea nach 200 Jahren. Ein Vortrag“, Poetica 30 (1998), 81–97; hier: 87 f.
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In religiösem Vokabular würdigt der selbst zu einem religiös-alttestamentlichen Gesetzgeber stilisierte Führer der Flüchtlingsgruppe186 die Revolutionsideale als pfingstliches Ereignis – „[d]a war jedem die Zunge gelös’t“ (HD VI, 38) –, welches erst durch ein „verderbtes Geschlecht“, das, statt das Gute zu schaffen, anfing, um „Herrschaft“ (vgl. HD VI, 40 f.) zu buhlen, entstellt wurde. Die vom Richter beschworene Kraft der Befreiung wird metaphorisch mit der Verwandlung kurzgeschlossen, die Herrmann nach der ersten Begegnung mit Dorothea ergreift und die der scharfsichtige Pfarrer bei seiner Rückkehr auch gleich erkennt: „Kommt Ihr doch als ein veränderter Mensch!“ (HD II, 6). Und noch bevor der als Brautwerber ausgesandte Pfarrer im sechsten Gesang auf den Richter stoßen wird, stellt auch der Vater, wieder nur halb wissend, eine ‚pfingstliche‘ Verwandlung bei seinem Jungen fest: „Wie ist, o Sohn, dir die Zunge gelös’t“ (HD V, 109). Während sich beim alles nur halb begreifenden Vater in der Analogie von Frieden und Hochzeit vor allem ein privater Wunsch artikuliert, bedient sich der Richter ihrer, um eine feine Differenz in der Bewertung der Revolution einzuführen: O, wie froh ist die Zeit, wenn mit der Braut sich der Bräut’gam Schwinget im Tanze, den Tag der gewünschten Verbindung erwartend! Aber herrlicher war die Zeit, in der uns das Höchste, Was der Mensch sich denkt, als nah und erreichbar sich zeigte. Da war jedem die Zunge gelös’t; es sprachen die Greise, Männer und Jünglinge laut voll hohen Sinns und Gefühles. (HD VI, 34–39)
Er vergleicht nicht, wie der Vater, das Ende des Revolutionskrieges mit einem Hochzeitstag, sondern den Anfang der Revolution mit dem Tanz der Verlobten, bevor sie in die Ehe eintreten. Mit „Terpsichore. Herrmann“ – der Muse des Tanzes gepaart mit dem männlichen Protagonisten des Epos’ – ist bezeichnenderweise der zweite Gesang überschrieben, in dem der ‚verwandelte‘ Herrmann von seiner karitativen Ausfahrt zurückkehrt. Ein neuer ‚Verlobungstanz‘ dessen, der sich bei den reichen Nachbarmädchen an der Musik der Zauberflöte blamiert hatte, würde für Herrmann demnach mit der Begegnung mit Dorothea einsetzen.187 Der Richter belässt es aber, vermutlich im Unterschied zu den Bürgern der namenlosen Kleinstadt, beim Vergleich: Die Zeit der Verlobung ist der noch ‚herrlicheren Zeit‘ revolutionär-pfingstlicher Offenbarung nur vergleichbar, ersetzen kann sie sie nicht. Erst die Ehe wäre die angemessene Metapher für die Paradoxie einer
186Vgl.
den Pfarrer in V, 223–227: „Sagt mir, Vater, Ihr seid gewiß der Richter von diesen / Flüchtigen Männern, der Ihr sogleich die Gemüter beruhigt? / Ja, Ihr erscheinet mir heut’ als einer der ältesten Führer, / Die durch Wüsten und Irren vertriebene Völker geleitet. / Denk‘ ich doch eben, ich rede mit Josua oder mit Moses.“ 187Wie gebrochen dieser Tanz ist, zeigt Kristina Mendicino, „ Break-Dance. (Ein Schritt von Homer und Rousseau zu Goethe)“, in: Christian Moser, Linda Simonis (Hg.), Figuren des Globalen. Weltbezug und Welterzeugung in Literatur, Kunst und Medien, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, S. 302–313.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
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andauernden, rechtlich eingehegten ‚Hochzeit‘, aber das Problem der ‚verderbten‘ Generation der Revolutionäre ist, so fährt der Richter fort, dass sie das Gesetz zerstörten: […] Das wütende Tier ist ein besserer Anblick. Sprech’ er doch nie von Freiheit, als könn’ er sich selber regieren! Losgebunden erscheint, sobald die Schranken hinweg sind, Alles Böse, das tief das Gesetz in die Winkel zurücktrieb. (HD VI, 77–80)
Eheschließung bzw. Gesetzesbegründung werden so zu gleich paradoxen Gründungsereignissen, die das, was sie begründen sollen, voraussetzen. In diesem Punkt trifft sich, worauf auch Kristina Mendicino hinweist, Goethe mit Rousseau.188 Während nun die ‚kleinen Parallelgeschichten‘ der Ausgewanderten Ehe und Gesetz immer wieder an den Leidenschaften zerschellen lassen, probiert Goethe in der ‚großen Parallelgeschichte‘ von Herrmann und Dorothea die Liebesrevolution. Symptomatisch ist, dass der Begriff der Leidenschaft, der in den Unterhaltungen unzählige Male fällt und immer wieder zum Auslöser des Übels erklärt wird, in Herrmann und Dorothea nie auftaucht.189 Die Liebesbegegnung dieser Protagonisten scheint die Leidenschaft einzuschließen, allerdings immer nur in einer analogischen Funktion. Entscheidend sind nicht die Begegnungen der beiden, ihre Gespräche, ihr Flirt oder gar ihre Liebesbekundungen. Entscheidend ist immer die soziale Bedeutung, die dieser Begegnung von allen Beteiligten beigemessen wird. Das letzte Wort in der Bewertung dieser Bedeutung hat – mit den beiden Schlussreden – das Paar selbst, interessanterweise nicht die juristische Instanz des Textes, der ‚Richter‘, der als Vorsteher einer orts- und namenlosen Gemeinschaft zwischen den Gemeinschaften steht, seien diese nun deutsch oder französisch, befreundet oder verfeindet. Ausgerechnet die juristische Instanz hat – ähnlich wie Mittler im Roman der Wahlverwandtschaften – als letzten Rat nur „Glück und Zufall“ (HD VII, 180) parat. Das jedenfalls legen die letzten, prophetischen Worte nahe, die der Richter Herrmann im siebten Gesang mitgibt: Wer nur eine Sache erwirbt, Rinder, Pferde oder Schafe, der prüft auf ‚Tausch und Handel‘; wer hingegen ‚den Menschen‘ aufnimmt, von dem „Alles“ abhängt, setzt sich der Kontingenz, „Glück und Zufall“, aus. Genau das tue Herrmann, dafür lobt er ihn und prophezeit ihm zwar nicht die Erneuerung der ganzen Kleinstadt, aber die der Familie: „so lang’ sie [Dorothea; D. S.] der Wirtschaft sich annimmt“,
188Vgl. ebd., S. 304: „Das Fest der freien Republik und der Festtanz künftiger Ehepartner kommen wieder zusammen in Goethes Herrmann und Dorothea (1797) – einem hexametrischen Epos, das wie die Tänze Rousseaus und Hephaistos’ zugleich idyllisch und kriegerisch ist: Einerseits handelt es von der Verlobung Herrmanns und Dorotheas, andererseits von dem durch die Französische Revolution ausgelösten Krieg, der zu dem ersten Treffen des Paars führt (und die Möglichkeit eines stabilen Ehelebens bedroht).“ 189Mit der Ausnahme der Wendung „[l]eidenschaftlich Geschrei“ (HD IX, 193), die der Vater ironisch just nach dem tränenreichen Liebesgeständnis Dorotheas verwendet, um seinem Verdruss Ausdruck zu verleihen.
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4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
werde er „[n]icht die Schwester vermissen, noch Eure Eltern die Tochter“ (vgl. HD VII, 174–185). Auch die Eltern Herrmanns beziehen die Revolution auf ihre private ‚Familienrevolution‘. Der Mutter wird sie (im zweiten Gesang) zum Anlass, sich der eigenen Ehe als einer Figur des Bonum durch Malum zu erinnern: Ihre Verbindung verdankt sie zwar keinem politischen Übel, aber einer Naturkatastrophe, dem Feuer nämlich, das vor zwanzig Jahren, einem „Sonntag wie heute“ (HD II, 113), die ganze Stadt in Brand gesetzt hatte. Über den „Trümmer[n] des Hauses und Hofes“ kam da der benachbarte Wirtssohn an, um sie zu freien. Daraus wurde eine der deutsch-französischen Ehe Herrmanns und Dorotheas vergleichbare Nachbarsehe,190 die nicht in erster Linie Familienglück, sondern gesellschaftlichen Mehrwert versprach. Soll der Vater doch damals zu seiner Braut gesagt haben: „Siehe, das Haus liegt nieder. Bleib hier, und hilf mir es zu bauen, / Und ich helfe dagegen auch deinem Vater an seinem.“ (HD II, 147 f.) Vor der Neugründung der Familie, vor den eigenen Kindern dieser Ehe stand der Wiederaufbau des Städtchens. Der Mutter, die den werbenden Kuss des nachbarlichen Freiers zuerst abgelehnt hatte, erschloss sich der gemeinschaftliche Sinn ihrer Verbindung allerdings erst nach dem Eintritt in die Ehe: „Doch ich verstand dich nicht, bis du zum Vater die Mutter / Schicktest und schnell das Gelübd der fröhlichen Ehe vollbracht war.“ (HD II, 149 f.) Die politische Instrumentalisierung der Ehe wird im wiederaufgegriffenen Topos des Sonnenaufgangs unterstrichen. Wie der Richter die Kunde von den Menschenrechten als einen „erste[n] Glanz der neuen Sonne“ (HD VI, 8) bezeichnet, erinnert die Mutter ihren historischen Sonntagmorgen mit dem Heiratsantrag in der Katastrophe als einen Morgen, an dem die Sonne „wieder / Herrlicher […] als je“ (HD II, 127 f.) aufging. So nimmt die Ehe der Eltern – und nehmen die Worte der Mutter im Text – nicht nur Worte des Richters, sondern auch die zukünftige Verbindung von Herrmann und Dorothea – und deren textbeschließende Worte – vorweg. Bilden in den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten Pest und krankhafte Leidenschaft die Hintergrundmetaphorik für eine Revolution, die abgewehrt werden muss, so sorgt in Herrmann und Dorothea eine intertextuell weit ausgreifende Isotopie von Liebe, Feuer, Pfingsten für die ästhetische und politische Produktivität einer ebenso weit ausholenden ‚Revolution‘. Der durch und in die Ehe initiierten Mutter fällt denn auch – zusammen mit dem Pfarrer – die Hauptfunktion in der episch-kollektiven Gemeinschaftserneuerung zu. Darin wiederholt sich ein weiteres Charakteristikum der Ausgewanderten: Mutter und Pfarrer wiederholen in überbietender Weise die Paar-Konstellation von Baronesse und Abbé aus der dortigen Rahmenhandlung. In ihrer Funktion als Ehefrau und Mutter lobt sie den Sohn, der es auch heute wagt, „zu frein im Krieg und über den Trümmern“ (HD II, 157). Aus der latenten – und nicht zuletzt latent sexuellen – Vater-Tochter-Beziehung, die Voß’ K leinfamilien-Idylle durchzieht, wird
190Also eine jener Nachbarsehen, die sowohl in der Idylle Alexis und Dora als auch in der Novelle von den wunderlichen Nachbarskindern der Wahlverwandtschaften einen Widerhall hat.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
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bei Goethe eine Mutter-Sohn-Beziehung, mit der eine politische Großfamilienvision insinuiert wird. Das Kernfamilien-Dispositiv, mit dem in der Goethezeit nach Friedrich Kittler das Allianzprinzip durchbrochen wird, um biologische Mutterschaft und literarische Autorschaft kurzzuschließen, greift in Herrmann und Dorothea gewissermaßen nicht als Masternarrativ, sondern sekundär.191 Die Stimme der Mutter hat für einmal die Funktion, in Herrmann eine Gatten-Autorität zu wecken, die erst zusammen mit Dorotheas vermännlichter Gattinnen-Stimme eine ‚epische‘ Ur-Autorschaft vor der Schrift simuliert. Wilhelm von Humboldt, der Goethes Hexameter-Epos zum Studienobjekt einer klassisch-ästhetischen Norm erhob, die gegenüber ihren Gegenständen indifferent, ‚gleich gültig‘ ist, störte bekanntlich der unmütterliche, amazonische Zug Dorotheas. Und deshalb illustriert er die „schlichte Einfalt“ und „natürliche Wahrheit“, die das Gedicht seiner Meinung nach auszeichnet, bezeichnenderweise an einem eigenen kleinen Abschnitt über die Liebe der Mutter. An Dorotheas buchstäblich revolutionärer Liebe ließ sich eine solche ‚Natürlichkeit‘ offenbar nicht ohne Weiteres ablesen.192
Apotropäische Paarung In der vermeintlichen Ersetzung einer ambivalenten Revolution durch die Liebesverbindung liegt eine doppelte List. Zum einen bleibt das, was oberflächlich als Liebe auf den ersten Blick zwischen den Protagonisten erscheinen mag, bei aller Hindernisbeseitigung eine einseitige Angelegenheit. Das Motiv der Brautwerbung gerät zu einer apotropäischen Bannung (revolutionärer) Liebe, mündet aber eben nicht in den Austausch eines gegenseitigen Liebesversprechens. Zum anderen ersetzt die Liebeswerbung die Revolution gar nicht, vielmehr bricht sie mit Dorotheas revolutionären Schlussworten, die nicht mehr die ihren sind, wieder ein, und das vermeintlich Ausgeschlossene erweist sich als inkorporiertes Drittes. Ich wende mich zunächst dem ersten Aspekt zu, um im anschließenden Abschnitt genauer auf die Verlobung und die Schlussreden einzugehen. Dem politischen Konflikt der Französischen Revolution korrespondiert der Generationenkonflikt auf der Ebene der Wirtsfamilie. Allein in der Tatsache, dass Goethe das Wirtshaus zum Zentrum der Gesellschaft macht, ist die Problematik von Tausch und Zirkulation angezeigt. „Aller Anfang ist schwer“, kommentiert der Vater die Erinnerung der Mutter an ihre schwere Hausgründung zu Zeiten des Stadtbrandes, „am schwersten der Anfang der Wirtschaft. / Mancherlei Dinge bedarf der Mensch, und alles wird täglich / Teurer; da seh’ er sich vor, des Geldes 191Vgl. insb. „Der Muttermund“ in: Friedrich Kittler, Aufschreibesysteme 1800 · 1900, München: Fink 42003 (1985), S. 35–86 sowie ders., Dichter · Mutter · Kind. Deutsche Literatur im Familiensystem 1760–1820, München: Fink 1991. 192Vgl. Wilhelm von Humboldt, Aesthetische Versuche. Erster Theil. Ueber Göthes Herrmann und Dorothea, in: Ders., Werke in fünf Bänden, Bd. 2: Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik. Die Vasken, hg. Andreas Flitner und Klaus Giel, Darmstadt: WBG 2010, S. 125–356; hier: S. 210 bzw. S. 210–214.
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mehr zu erwerben“ (HD II, 166–168). Der Vater wünscht sich eine reiche Braut, weil er auf Geldwirtschaft setzt. Mit Geld lässt sich die Wirtschaft nicht nur ‚erhalten‘ und ‚erneuern‘, sondern auch gegen Schaden absichern, indem man zum Beispiel „Kanäle“ baut, um dem nächsten „Feuer sogleich beim ersten Ausbruch“ zu wehren (HD III, 31). Als „Bauherr“ (HD III, 33) war der Wirt schon sechsmal im Rat. Das Geld erlaubt den Wandel, macht den Menschen zum Bürger, den Wirt zum Goldenen Löwen zu einem Bauherrn der größeren Wirtschaft des Städtchens. Herrmann ist demgegenüber rückschrittlich und fixiert auf den Gebrauchswert der Dinge, was der Vater auch bitter beklagt: Wenig Freud’ erleb’ ich an dir! Ich sagt’ es doch immer, Als du zu Pferden nur und Lust nur bezeigtest zum Acker. Was ein Knecht schon verrichtet des wohlbegüterten Mannes, Tust du; indessen muß der Vater des Sohnes entbehren, Der ihm zur Ehre doch auch vor andern Bürgern sich zeigte. (HD II, 246–250)
Herrmann fehlt buchstäblich der bürgerliche Gemeinsinn. Er kümmert sich um die Pferde, weil sie ihm Mobilität erlauben, um die Äcker, weil sie Frucht einbringen, um die Wirtschaft, weil sie ihn erhält, aber nicht weil das alles auch der Gemeinschaft dient. Der Konflikt artikuliert sich zunächst als ein ökonomischer: Während der Vater – quasi progressiver als der Sohn – aristotelisch für Gelderwerbskunst einsteht, steht der Sohn auf der Seite des alten Modells der oikonomia, das eine Verpflichtung, die Eltern zu ehren, einschließt (vgl. HD IV, 159–180). Am Ende des Textes wird sich der Konflikt sowohl diskursiv vom Ökonomischen zum Politischen als auch zugunsten des Sohnes verschoben haben. Herrmanns altes Ökonomiedenken wird sich als politischer Fortschrittsglaube, des Vaters Erwerbsdenken als politisch überholt erweisen. Auslöser wie auch Lösung des Konflikts stellt Dorothea dar, die mit ihrer Person einen Wert in die Familie einbringt, der sowohl Tausch- als auch Gebrauchswert ist. Sie verwandelt Herrmanns Hausökonomie in Bürgersinn und sie erhält das Haus als Mutter. Das Gottesgeschenk Dorothea tritt in Goethes Epos an die Stelle eines Wunders, das statt einer Restitution der göttlichen Ordnung eine ganz immanente Verwandlung des Übels in ein kollektives Menschengut bewirkt. In kollektiver, anthropozentrischer Selbsttäuschung, so könnte man sagen, wird aus dem Gottes- ein Menschengeschenk. Der „edle verständige“ Pfarrer, „die Zierde der Stadt, ein Jüngling näher dem Manne“ (HD I, 78 f.), übernimmt in dieser säkularen Transsubstantiation die Rolle des Hauptagenten.193 In der Unbestimmtheit seiner Person – man erfährt weder etwas über seinen Zivilstand noch über seine Amtstätigkeit – nimmt er die sinistre Funktion Mittlers aus den Wahlverwandtschaften vorweg. Eingeführt wird er mit den Worten:
193So weit ich sehe, ist Uwe Steiner der Einzige, der auf die „mephistophelische[n] Züge“ des Pfarrers hinweist. Er ist es, der Dorothea ‚versucht‘ und ihr auf diese Weise das Liebesgeständnis abringt („,Gespenstische Gegenständlichkeit‘“, S. 637).
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Dieser kannte das Leben, und kannte der Hörer Bedürfnis, War vom hohen Werte der heiligen Schriften durchdrungen, Die uns der Menschen Geschick enthüllen und ihre Gesinnung; Und so kannt’ er auch wohl die besten weltlichen Schriften. (HD I, 80–83)
Der Pfarrer braucht keine Wahrheit und keinen Gott mehr, weil er „vom hohen Werte“ der heiligen Schriften bereits durchdrungen ist. Im anthropozentrischen Umspannen der ‚heiligen‘ mit den ‚weltlichen‘ Schriften verweist er auf jene Verdichtung der Zeiten in einer revolutionären Gegenwart, von der der Richter im fünften Gesang berichten wird: Wahrlich unsere Zeit vergleicht sich den seltensten Zeiten, Die die Geschichte bemerkt, die heilige wie die gemeine. Denn wer gestern und heut’ in diesen Tagen gelebt hat, Hat schon Jahre gelebt: so drängen sich alle Geschichten. (HD V, 229–232)
Ähnlich wie der Richter leitet der Pfarrer aus der Verschärfung der historischen Krise ein dezisionistisches Postulat ab. Als der Vater von der Mutter über die Brautwahl Herrmanns in Kenntnis gesetzt wird und zunächst nur schweigt, springt der Pfarrer in die Bresche: […] der Augenblick nur entscheidet Über das Leben des Menschen und über sein ganzes Geschicke; Denn nach langer Beratung ist doch ein jeder Entschluß nur Werk des Moments, es ergreift doch nur der Verständge das Rechte. (HD V, 57–60)
Im Preisen des Augenblicks der Entscheidung als Kontingenzbewältigungsstrategie wird der Glaube seinen Inhalten gegenüber indifferent und wird Wahrheit von Verstellung ununterscheidbar. Der Pfarrer setzt darauf, dass der Mensch es in der Hand hat, unabhängig von der Grundlage Gutes zu schaffen. Damit beraubt er sich, was der Text vielleicht auch nahelegen will, seiner Existenzberechtigung in der bürgerlichen Gesellschaft; und gleichzeitig verschweigt er, dass er selbst ganz anders, nämlich mit Kalkül und Verstellung, handelt. Man könnte Goethes Pfarrer als eine parasitäre Variante des Bürgers sehen, der seine Funktion nur dadurch erhält, dass er die Menschen und die Paare der Gesellschaft zuführt (oder kritischer: sie ihr ausliefert).194 Das Motiv der unerhörten Brautwerbung, in der die Verstellung an die Stelle eines echten (Ehe-)Hindernisses tritt, fand Goethe bekanntlich in Gerhard Gott-
194Bei Hans Geulen firmiert der Pfarrer als „Vertreter einer schon philiströs gewordenen Aufklärung“ („Goethes Hermann und Dorothea“, S. 5). Gerhard Kaiser beschreibt ihn so: „Der Pfarrer ist ein milder Aufklärer, der offensichtlich neben der Bibel die Popularphilosophen, vielleicht auch Rousseau, im Bücherschrank hat. Er bedient sich mehr des Raisonnements als der Predigt, mehr der psychologisch-indirekten Lenkung seiner Schäfchen als des Gebots und betätigt [sic] eine Humanitätsreligion („Französische Revolution und deutsche Hexameter“, S. 85).
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lieb Günther Göckings Vollkommene[r] Emigrations-Geschichte Von denen aus dem Ertz-Bißthum Saltzburg vertriebenen Und größtentheils nach Preussen gegangenen Lutheranern (Frankfurt/Leipzig 1731).195 In einem Brief an Heinrich Meyer preist Goethe die glückliche Trouvaille: „Der Gegenstand selbst ist äusserst glücklich, ein Sujet, wie man es in seinem Leben vielleicht nicht zweimal findet.“196 Es ist die kurze, etwa zwei Seiten umfassende Anekdote einer Salzburger Magd, die auf ihrer Flucht „wunderbarlich verheyrathet ward“.197 Beim Durchzug durch das Öttingische fällt sie einem reichen Bürgerssohn auf. Er gibt vor, sie als Magd ansstellen zu wollen. Dem Vater berichtet er, die lang gesuchte Braut gefunden zu haben. Nach einem vergeblichen Versuch unter Mithilfe von Freunden und des herbeigeholten Predigers, den Sohn von dieser Wahl abzubringen, wird ihm konzediert, das Mädchen doch dem Vater vorzuzeigen. Nicht in die List des Sohnes eingeweiht, fragt dieser es naiv, wie ihm ihr Bräutigam gefalle, woraufhin dieses sich vom ‚Foppen‘ und ‚Äffen‘ des Vaters brüskiert zeigt. Anders als in Herrmann und Dorothea bestätigt der Vater aber sogleich das fragliche Anliegen, und der Sohn entdeckt dem Mädchen die wahre Ursache seines Werbens: „Er habe ein hertzliches Verlangen, sie zu heyrathen.“198 Daraufhin nimmt das Mädchen – ohne dass wie bei Dorothea Tränen flössen – den Heiratsantrag an. Und am Ende kommt es zum Wunder: Das Ehe-Pfand, das der Sohn ihr übergibt, erwidert sie mit einem Mahl-Schatz von zweihundert Dukaten, den sie aus ihrer Brust zieht. „Folglich war die Verlobung richtig“, schließt die Geschichte, „[h]at man wol nicht Ursache bey solchen Umständen voller Verwunderung auszurufen: Herr, wie gar unbegreiflich sind deine Gerichte, und wie unerforschlich deine Wege?“199 Das Risiko, die glaubensflüchtige, fremde Magd zu freien, wird ökonomisch kompensiert. Die Anekdote firmiert bei Göcking, der selbst Prediger und mit der Ansiedlung der Salzburgischen Flüchtlinge betraut war, als eine unter vielen erbaulichen Geschichten, mit der eine gelungene Integration aufgezeigt wird. Nicht zuletzt affirmiert das König Friedrich Wilhelm I. gewidmete, dokumentarische Werk dessen religiöse Toleranzpolitik. Goethe macht also aus einem kleinen Wunder der Bewahrung ein kleines Epos der Erneuerung. Ich habe die Geschichte, von der meist nur die zweihundert Dukaten erwähnt werden (die bei Goethe zweideutig durch die ‚Liebe‘ und/oder den Verlobungsring des ersten Bräutigams ersetzt werden), deshalb ausführlicher wiedergegeben, um ihr gegenüber die ungleich schwächere Position Herrmanns profilieren zu können. Der Bürgerssohn in Göckings Quelle tritt dem Vater auf
195Zitiert
nach: Joseph Schmidt (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Hermann und Dorothea. Erläuterungen und Dokumente, Stuttgart: Reclam 1970, S. 65–68. 196Goethe an Heinrich Meyer am 28. April 1797; zit. in: Schmidt (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Hermann und Dorothea, S. 83. 197Göcking, Vollkommene Emigrations-Geschichte; zit. in: Schmidt (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Hermann und Dorothea, S. 66. 198Ebd. 199Ebd., S. 67.
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Augenhöhe entgegen und macht seinen eigenen Willen von Anfang an geltend. Es handelt sich hier kaum um einen Generationenkonflikt, kaum um eine Scham des Sohnes, kaum um mangelnden Mut oder um eine halb ungewollte Verstellung. Schiller scheint aber just diese Schwäche Herrmanns im Blick gehabt zu haben, als er an Goethe schrieb: „Ihr Hermann hat wirklich eine gewiße Hinneigung zur Tragödie, wenn man ihm den reinen strengen Begriff der Epopee gegenüber stellt. Das Herz ist inniger und ernstlicher beschäftigt, es ist mehr pathologisches Interesse als poetische Gleichgültigkeit darinn […].“200 Tragisch oder nicht, Herrmann ist jedenfalls kein epischer Held, er hat die Götter (noch) nicht auf seiner Seite, erst die Begegnung mit dem Gottes- oder Göttergeschenk Dorothea bringt seine ‚Individuation‘ in Gang.201 Kein Geringerer als der seelen- und schriftkundige Pfarrer erkennt diese Veränderung Herrmanns als Erster, mit „scharfen Blicken“ und „dem Auge des Forschers, der leicht die Mienen enträtselt“ (HD II, 2 und 4), schon bei dessen Eintritt ins Zimmer, noch bevor er überhaupt ein Wort gesagt hat. Aber worauf beruht die Veränderung? Von einer erotischen Liebesbegegnung kann, jedenfalls nach dem Bericht Herrmanns, nicht die Rede sein.202 Vielmehr steht die erste Begegnung ganz im Zeichen jener dritten – karitativen und gesellschaftlichen – Instanz, aus deren Bedeutungshorizont die Paarbeziehung im ganzen Text nicht entlassen wird. Herrmann schenkt Dorothea nicht sein Herz, sie macht lediglich sein Herz sprechen – ob zum Guten oder zum Schlechten, das lassen ja noch seine pathetisch-patriotischen Schlussworte offen. Bei aller kunstvollen Beschreibung Dorotheas lässt der Text das Attribut physischer Schönheit aus. Dorothea geht „mit starken Schritten“ und leitet „klüglich“ den schwerfälligen Ochsenwagen (HD II, 24 und 26). Herrmann leitet aus ihrem karitativen Tun einen Gerechtigkeitssinn ab und vertraut ihr seine weiteren Gaben zur Verteilung an. Sie hat demzufolge den Heldencharakter, den er bis zum Schluss nicht hat und den er nur in der apotropäischen Eroberung Dorotheas behaupten kann. Während der Bürgerssohn bei Göcking nach Hause geht und seinem Vater unumwunden erklärt, dass er eine Braut gefunden habe, „die ihm sehr wohl gefiele“,203 weitet sich bei
200Schiller
an Goethe, 26. Dezember 1797, in: Ders., Werke und Briefe, hg. Otto Dann u. a., Bd. 12: Briefe II. 1795–1805, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 2002; S. 356. 201Vgl. Eibl, „Anamnesis des ‚Augenblicks‘“, S. 121, der mit Blick auf Herrmanns Konflikt mit dem Vater schreibt: „Hermann und Dorothea ist, neben anderem, die Geschichte einer Individuation“. Die Asymmetrie in dieser Selbst- und Paarerfahrung problematisiert er allerdings nicht. 202In Herrmann und Dorothea sozialgeschichtlich dem Motiv der ‚Liebesheirat‘ nachzuspüren, scheint mir insofern auch problematisch. Vgl. hierzu Jürgen Kost, „Die Fortschrittlichkeit des scheinbar Konventionellen. Das Motiv der Liebesheirat in Goethes Hermann und Dorothea“, Goethe-Jahrbuch 113 (1996), 281–286. 203Göcking, Vollkommene Emigrations-Geschichte; zit. in: Schmidt (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Hermann und Dorothea, S. 66.
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Herrmann die Brautwerbung, da er selbst versagt, zum Gemeinschaftsprojekt aus.204 Dabei gewinnt er, wie der Richter der Exilsgemeinde, die Züge eines mosaischen Stammvaters, allerdings weniger positive als negative.205 Der Vater wirft ihm vor, immer der „Unterste“ (HD II, 253) in der Schule gewesen zu sein; bevor ihm durch Dorothea die Zunge gelöst wurde, war sie „[l]ange Jahre gestockt“ (HD V, 110). Mit Herrmanns Unvermögen, seinen Willen zu artikulieren, weitet sich das Unternehmen in die „Geschichte“, in „die heilige wie die gemeine“ aus: „Er kennt nur Adam und Eva“ (HD II, 228), spottete man im reichen Nachbarhaus, wo Herrmann glücklos um das Minchen warb und als Tamino verlacht wurde. Just in diese mehr oder weniger idyllische Vorzeit katapultiert sich Herrmann im vierten Gesang, unter den musischen Schutz von Flötenspiel gestellt.206 In der Aussprache mit seiner Erzund Naturmutter an der Grenze des Wirtsanwesens, unter dem Birnbaum, der schon jenseits der Stadtgrenze liegt,207 verstellt sich der Sohn in der Reaktion auf den Bruch mit dem Vater zuerst als homerischer Krieger – Ja, mir hat es der Geist gesagt, und im innersten Busen Regt sich Mut und Begier, dem Vaterlande zu leben Und zu sterben und Andern ein würdiges Beispiel zu geben. (HD IV, 95–97)
– um dann unter mütterlichem Einfluss „halbwahre[r] Worte[ ]“ und „halber Verstellung“ (HD IV, 136) entlarvt zu werden und im Zuge seines berühmten Geständnisses – „ich entbehre der Gattin“ (HD IV, 196) – zugleich den diskursiven Sprung von den weltlichen zu den heiligen Schriften zu tun: Denn es löset die Liebe, das fühl’ ich, jegliche Bande, Wenn sie die ihrigen knüpft; und nicht das Mädchen alleine Lässet Vater und Mutter dahinten, wenn sie dem Mann folgt,
204Auch bei Göcking spielen die Freunde und der Prediger eine Rolle, allerdings nur in einem Satz, nur um dem Sohn die Braut auszureden und nur in einem Gespräch, das der Heimführung der Braut vorausgeht: „Als nun der Vater nebst seinen Freunden und dem herzugeholten Prediger sich lange vergeblich bemühet hatte, ihm solches aus dem Sinn zu reden, es ihm aber endlich doch zugegeben; so stellete dieser seinem Vater die Saltzburgerin dar.“ (Ebd.) Bei der anschließenden Verlobung im Hause des Vaters werden Freunde und Pfarrer nicht mehr erwähnt. 205Zu den Parallelen zwischen Herrmann und Moses vgl. Karin Schutjer, „German Epic / Jewish Epic: Goethe’s Exodus Narrative in Hermann und Dorothea and ‚Israel in der Wüste‘“, The German Quarterly 80 (2007), 165–184. – Sie zeigt, wie Goethes Nationalismus-Kritik und die These einer modernen, entwicklungsfähigen Nation mit Antijudaismus erkauft wird: „Hermann und Dorothea employs its Exodus analogy to suggest the possibility of an integrative, adaptive modern German cultural consciousness, while „Israel in der Wüste“ reads out of the Exodus story a highly negative prefiguration of a volatile modern Judaism. Indeed I show that this essay of biblical criticism amounts to a barely concealed polemic against Jewish emancipation“ (S. 166). 206Der vierte Gesang trägt den Doppeltitel „Euterpe. Mutter und Sohn“. 207Zur symbolischen Topographie von Wirtshaus, Kleinstadt, Exildorf und linksrheinischer Großstadt vgl. v. a. die Ausführungen bei Maria Lypp, Ästhetische Reflexion und ihre Gestaltung in Goethes ‚Hermann und Dorothea‘, Stuttgart: o. V. 1969; S. 36–66 („Der Raum“).
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Auch der Jüngling er weiß nichts mehr von Mutter und Vater, Wenn er das Mädchen sieht, das einziggeliebte, davonziehn. (HD IV, 219–223)
Hermann zitiert in seinem Gespräch mit der Mutter unter dem Birnbaum aus dem ersten Buch Mose: „Darum wird ein Mann einen Vater und seine Mutter verlassen und seiner Frau anhangen, und sie werden sein ein Fleisch.“ (1. Mose 2, 24). Das sind zugleich die Worte, mit denen der Pfarrer von Grünau seine Tochter unwillkürlich traut: „Vater und Mutter / Soll verlassen der Mensch, daß Mann und Weib sich vereinen“. Herrmann spricht die biblischen Worte dagegen als Wunsch aus; ein zweiter Adam zu sein, wird ihm zu einem Wunschbild, für dessen Realisierung er auf die Hilfe der anderen angewiesen ist. Seine Liebe zu Dorothea ist der Glaube, von dem das Wohl der kleinen Gesellschaft abhängt. In der Abhandlung „Israel in der Wüste“, die parallel zu Herrmann und Dorothea entsteht und in der Goethe die alttestamentliche Exodus-Erzählung philologisch analysiert, filtert Goethe bekanntermaßen den Konflikt zwischen Unglauben und Glauben als deren Hauptthema heraus.208 Gleichzeitig problematisiert er in seiner Schriftanalyse den ‚Charakter‘ Moses’, der ihm für den eines Gesetzgebers zu roh und ungeschliffen vorkommt. Glaubwürdiger wird Goethe dieser Charakter erst durch eine Kritik der historischen Fakten.209 Herrmanns ‚Verstelltheit‘ gleicht ganz dieser mosaischen ‚Ungeschliffenheit‘, deren gesetzgebende Dignität es herauszustellen gilt. Dafür wird im vierten Gesang die List der Mutter auf den Plan gerufen: „wir bedürfen der Freunde, die jetzo bei ihm [dem Vater] noch versammelt / Sitzen; besonders wird uns der würdige Geistliche helfen“ (HD IV, 248 f.). Durch die List, für den Sohn den Segen des Vaters zu erschleichen, rückt Herrmanns Mutter in die Rolle der alttestamentlichen Stammmutter Rebekka, Frau Isaaks, die ihrem jüngeren Sohn Jakob (an Stelle Esaus) zum Erstgeborenensegen verhilft.210 Goethe knüpft damit exakt an das von Voß zitierte Stammelternpaar Jakob und Rahel an, das – wie Herrmann und Dorothea – an einem Brunnen zueinanderfindet. Das alttestamentliche Narrativ überblendet Goethe mit einem homerischen Feldzug.211 Als ironische ‚Kundschafter‘ – Brautwerber – werden 208Johann Wolfgang Goethe, „Israel in der Wüste“, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, Bd. 3: West-östlicher Divan. Teil I, hg. Hendrik Birus, Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag 1994, S. 229–247. 209Goethe vermutet, dass der Zug durch die Wüste nur zwei statt vierzig Jahre gedauert habe, und nur so wird ihm Moses’ Charakter erklärlich: „Aber freylich wird ein solches Bild ganz entstellt, wenn wir einen kräftigen, raschen Thatmann, vierzig Jahre ohne Sinn und Noth, mit einer ungeheuren Volksmasse, auf einem so kleinen Raum, im Angesicht seines großen Zieles, herum taumeln sehen. Bloß durch die die Verkürzung des Wegs und der Zeit, die er darauf zugebracht, haben wir alles Böse, was wir von ihm zu sagen gewagt, wieder ausgeglichen und ihn an seine rechte Stelle gehoben.“ (Goethe, „Israel in der Wüste“, S. 247.) 210Auch Schutjer, „German Epic / Jewish Epic“, S. 181, Fußnote 24, verweist auf die intertextuelle Parallele zu Jakob und Rebekka (1. Mose 27, 5–27). 211Vgl. hierzu Goethes Brief an Schiller vom 19. April 1797: „Ich studiere jetzt in großer Eile das alte Testament und Homer, lese zugleich Eichhorns Einleitung ins erste und Wolfs Prolegomena zu dem letzten“; zit. in: Schutjer, „German Epic / Jewish Epic“, S. 167.
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der Apotheker und der Pfarrer ins Lager der Auswandernden losgeschickt, um das Mädchen zu ‚prüfen‘. Wiederholt ersetzen die homerischen Antonomasien „Gefährten“ und „Späher“ ihre Bezeichnung als Brautwerber, wodurch die Braut zur militärischen Trophäe wird.212 Der fünfte und mittige, im Zeichen von Polyhymnia und Weltbürger stehende Gesang erscheint mit dem Entschluss der Aussendung der Freunde als Höhepunkt und Wende des Epos’. Die Mutter preist den Tag der Brautwahl: „Nun ist er kommen der Tag“ (HD V, 46) – eine Wendung, die ganz an das „Es ist an der Zeit“ des Alten aus dem Märchen der Ausgewanderten erinnert. Und der Sohn traut sich nun, nachdem die bürgerliche Abordnung für ihn freit, dem Vater gegenüber den kühnen Wunsch des Besitzes der Braut als glückliches Produkt des Krieges zu bezeichnen: Sollte nicht auch ein Glück aus diesem Unglück hervorgehn, Und ich, im Arme der Braut, der zuverlässigen Gattin, Mich nicht erfreuen des Kriegs, so wie Ihr des Brandes Euch freutet? (HD V, 105–107)
Auf den Vater machen diese plötzlichen, männlichen Worte des Sohnes Eindruck. So lässt der epische Erzähler ihn „bedeutend den Mund auf[tun]“ und ausrufen: „Wie ist, o Sohn, dir die Zunge gelös’t“ (HD V, 108 und 109). Herrmanns Verwandlung und die Revolution, die der Richter mit dem Pfingstereignis vergleicht, werden auf diese Weise in eine metaphorische Analogie gebracht. In den fünften und sechsten Gesang fallen auch die beiden, sich fast wörtlich wiederholenden Beschreibungen Dorotheas, die in dieser Wiederholung ein episches Stilcharakteristikum inszenieren. Das erste Mal beschreibt Herrmann die unvergleichliche „Bildung“ (HD V, 167) des Mädchens, das zweite Mal der Apotheker, der es „aus vielen hundert“ (HD VI, 125) ausfindig macht. Dorothea ist anmutig, wohlgebildet, vor allem aber ordentlich und sauber gekleidet. Sie trägt einen roten Latz, ein schwarzes Mieder, ein Hemd und einen blauen Rock. Hier klingen die Farben der Trikolore an, damit auch bereits ihre männliche Tat, Kriegseindringlinge mit dem Säbel abgewehrt zu haben (vgl. HD VI, 104–118). Und ebenfalls damit ihre Verlobung mit einem Revolutionär. Was aber ambivalent bleibt in dieser „Bildung“, sind ‚Glauben und Liebe‘ der Protagonistin. Anders als bei dem Mädchen aus Göckings Quelle, das nicht nur unerwartetes Geld, sondern zuvörderst den rechten Glauben aus dem Exil in die Ehe einbringt, bleiben die Überzeugungen der aus dem revolutionären Grenzgebiet flüchtigen Dorothea buchstäblich in der Schwebe. Der Richter erklärt rückblickend, dass sich im „muntere[n] Tanz […] um die neue Standarte“ die Nachbarn vermischt hätten. Das
212Bereits Yahya A. Elsaghe, Untersuchungen zu ‚Hermann und Dorothea‘, Bern u. a.: Lang 1990, konstatiert: „Die ‚Prüfung‘ des ‚Mädchens‘ soll ironisch zur militärischen Exkursion stilisiert werden“ (S. 113). Im Kapitel „Eine mutmaßliche Ilias-Adaption“ (S. 111–129) geht er insbesondere den Ähnlichkeiten mit der sog. Dolonie nach, jener Episode aus dem zehnten Buch der Ilias, in dem Diomedes und Odysseus ins trojanische Lager ausgesendet werden, wo sie (ziemlich brutal) Rhesos und zwölf Thrakier töten.
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linksrheinische deutsche Gebiet ist von den Franken quasi friedlich eingenommen worden, bis sich ein ‚verderbtes Geschlecht‘ um die Vorherrschaft zu streiten begann. Es wird ‚zurückerobert‘, die ‚Franken‘ fliehen (vgl. HD VI, 52–65), warum fliehen dann aber auch die Deutschen? Die Franken ziehen sich mit furchtbarer Gewalt zurück, was aber auch „in unsern Männern die Wut“ (HD VI, 66) zu rächen schürte, wie der Richter erklärt. Als Dorothea Plünderer mit Gegengewalt abwehrt, wehrt sie längst nicht mehr die eine Seite gegen die andere, sondern rohe Gewalt in einem Alle-gegen-Alle ab.213 Es ist also absolut unklar, welcher ‚Grund‘ hinter Dorotheas ebenso karitativer wie kriegerischer Tatkraft steckt. Herrmann kann sich die Frage nach diesem Grund aber auch nicht stellen, weil nur der Pfarrer über den Richter von der „schönen Tat“ (HD VI, 104) Dorotheas erfährt. Dieser aber ist aufgrund des Berichts nur umso mehr von Herrmanns Wahl überzeugt. Wenn der Apotheker das Mädchen das zweite Mal beschreibt, erkennt er sie ironischerweise nicht an der ihm von Herrmann gegebenen Beschreibung, sondern an einem anderen „deutliche[n]“ Zeichen (HD VI, 136): „ich erkenne genau den alten Kattun und den blauen / Küssenüberzug wohl, den ihr Herrmann im Bündel gebracht hat“ (HD VI, 133 f.), vermeldet er dem Pfarrer in ihrer gemeinsamen Mauerschau auf die Flüchtlingsgruppe. Ihre übrigen Attribute werden dann nur ironisch-pflichtgemäß wiederholt (vgl. HD VI, 137–147). An dieser epischen Parodie kann man nicht nur ablesen, wie der Apotheker die Brautwerbung als schon begonnenes Tauschgeschäft wahrnimmt. Dorotheas stofflich und farblich geordnete ‚Bildung‘ wird zudem als Dingsymbol profiliert, das den Sohn besser kleiden wird, als der altmodische Schlafrock mit den indianischen Blumen den Vater kleidete. Wenn Herrmann, der am Brunnen vor dem Dorf auf die ‚Späher‘ wartete, trotz deren eindeutiger Befunde noch ‚selbst freien‘ will, statt Dorothea gemeinsam mit den Freunden gleich heimzuholen, dann heißt das nicht, dass nun, wie es der auf die Liebesdichtung verweisende Titel („Erato. Dorothea“) suggerieren könnte, ein unvermittelter Austausch zwischen den beiden statt-
213Zum Hinweis auf die Trikolore in ihrer Kleidung siehe Gerhard Kluge, „Hermann und Dorothea. Die Revolution und Hermanns Schlußrede – zwei ‚schmerzliche Zeichen‘“, GoetheJahrbuch 109 (1992), 61–68; hier: 62. Auf die Unentscheidbarkeit der Fronten im Grenzgebiet weist m. W. nur Mendicino, „Break-Dance“, S. 308, hin. Schutjer, „German Epic / Jewish Epic“, S. 170, zeigt die gleiche Unentscheidbarkeit anhand des alttestamentlichen Intertexts auf: Steht der Richter für Moses, die Rheinüberquerung für den Durchzug durchs Rote Meer, rückten die Franzosen in die Rolle der Ägypter; steht er für Josua, würde mit dem Rhein der Jordan überquert, mit Deutschland das Gelobte Land betreten, wo die auserwählten Israeliten wieder nach dem Gesetz der Eroberung handeln sollten. – Gerhard Kaiser weist darauf hin, dass Goethe insofern retrospektiv idyllisiert, als die Rheingrenze 1797 bereits überschritten war. Insgesamt scheint die Fiktion schlicht unwahrscheinlich zu sein; zumindest habe ich nirgends von einer historischen Fluchtbewegung der rheinischen Zivilbevölkerung im Zuge des ersten Revolutionskrieges gelesen. Flüchten mussten vielmehr die Anhänger des Ancien Régime, d. h. vor allem der Adel. Entsprechend dieser historischen Realität handelt es sich beim Rahmenpersonal der Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten um eine adlige Familie, deren männliches Haupt vielleicht bereits Opfer der Revolutionäre geworden ist.
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fände. Ihre zweite Begegnung bleibt ebenso getrübt wie das Wasser im Dorf, das durch die Flüchtlinge verunreinigt wurde (vgl. HD VII, 28–36). Herrmann freit Dorothea nun selbst, aber eben – wie der Bürgerssohn aus der Vorlage – als Magd und nicht als Ehefrau. Während jener aber die List aus dem Kalkül heraus anwendet, die Braut damit überhaupt zum Mitgehen zu bewegen, dominiert bei Herrmann die Angst vor mangelnder Gegenseitigkeit: „Jedoch ihr von Liebe zu sprechen, / Wär’ ihm unmöglich gewesen; ihr Auge blickte nicht Liebe, / Aber hellen Verstand, und gebot verständig zu reden.“ (HD VII, 50–52).214 So lässt sich Dorothea ausdrücklich als Magd werben – „[d]ingen möchtet Ihr mich als Magd für Vater und Mutter“ (HD VII, 76) – und antwortet in den berüchtigten „Dienen lerne bei Zeiten das Weib“-Versen (HD VII, 114–128) demzufolge auch nicht als Liebende, sondern als Magd und potentielle Hausfrau und Mutter. Der Besitz der Magd macht Herrmann zum Herrn; diesen Übergang inszenieren der siebte und achte Gesang Schritt für Schritt.215 Setzt der siebte Gesang mit dem berühmten homerischen Gleichnis ein, in dem Herrmann Dorothea wie eine optische Sonnenuntergangstäuschung (HD VII, 1–7) wahrnimmt – als „Traum“ (HD VII, 8) nämlich und als „Scheinbild“ (HD VII, 11) –, beginnt der folgende Gesang symmetrisch mit einer Beschreibung aus der Perspektive des Epikers, die das Paar nun als Einheit erscheinen lässt. Wurde Dorothea zuvor als Trugbild der Sonne aus der Wahrnehmung Herrmanns heraus präsentiert, so gehen nun beide – in nullfokalisierter Perspektive – „entgegen der sinkenden Sonne / Die in Wolken sich tief, gewitterdrohend, verhüllte“ (HD VIII, 1 f.). Die Heimkehr der „hohen Gestalten“ (HD VIII, 8) steht im Zeichen des drohenden Gewitters, ganz ähnlich wie in den Promessi sposi das Wiedersehen im Pestlazarett von einem Gewitter begleitet wird. Aber während dort Renzo und Lucia ihre je verschiedene ‚Gewittererfahrung‘ machen, trotzt in Herrmann und Dorothea ein heroisiertes Paar aller Naturgewalt. Dorotheas Stolpern steht am Ende dieses vorletzten Gesanges, der das Paar „Herrmann und Dorothea“ kombiniert mit der Muse der tragischen Dichtung, Melpomene, im Titel trägt: „es knackte der Fuß, sie drohte zu fallen“ (HD VIII, 90). Worauf immer man dieses ‚ahndungsvolle‘ (vgl. HD VIII, 4) Geräusch beziehen mag – auf Dorotheas erste Verlobung, auf Herrmanns symbolische Entjungferung der Jungfrau oder auf den bevorstehenden Ehebruch der Braut –, das ‚natürliche Stolpern‘ der Frau ist notwendig, um das so ungleiche Paar überhaupt als Marmorstatue antikisieren zu können:
214Teilweise
wird als Grund für Herrmanns Zaudern der Verlobungsring angegeben, der schon an Dorotheas Finger steckt. Aber der siebte Gesang lässt keinen Zweifel daran, dass Herrmann sich auch ohne Ring nicht getraut hätte; er wird erst ganz am Schluss erwähnt: „Ach! und den goldenen Ring erblickt’ er am Finger des Mädchens“ (HD VII, 101). 215Steiner spricht beim Tisch des Wirtshauses, der ‚fest auf vier Füßen‘ steht, von einem Übergangsobjekt im Sinne Winnicotts. Insofern als Dorothea an die Stelle der Mutter tritt, die sie wieder werden soll, ist sie das Übergangsobjekt. Vgl. Steiner, „‚Gespenstische Gegenständlichkeit‘“, S. 631.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
269
Eilig streckte gewandt der sinnige Jüngling den Arm aus, Hielt empor die Geliebte; sie sank ihm leis’ auf die Schulter, Brust war gesenkt an Brust und Wang’ an Wange. So stand er, Starr wie ein Marmorbild, vom ernsten Willen gebändigt, Drückte nicht fester sie an, er stemmte sich gegen die Schwere. Und so fühlt’ er die herrliche Last, die Wärme des Herzens, Und den Balsam des Atems, an seinen Lippen verhauchet, Trug mit Mannesgefühl die Heldengröße des Weibes. (HD VIII, 91–98)
Das Paar wird ekphrastisch fusioniert. Herrmanns mangelnder Heroismus wird im Stolpern der Frau kompensiert.216 Im Auffangen der Strauchelnden empfängt er weibliche „Schwere“ und „herrliche Last“, die sich als „Mannesgefühl“ auf ihn überträgt und ihn zu einem Träger weiblicher „Heldengröße“ (HD VIII, 98) macht.217
Verlobung als Berührung von Gegensätzen Dem Stolpern Dorotheas entspricht im neunten und letzten Gesang – „Urania. Aussicht“ – ihr erpresstes Liebesgeständnis als kollektive Trophäe. Es ist der Pfarrer, der im letzten Gesang dafür sorgt, dass sich das Gesetz der Kernfamilie erfüllt und Herrmann nicht nur eine Magd, sondern seine Gattin erhält.218 Wie in Göckings Quelle ‚foppt‘ der Vater Dorothea unwillentlich bei der Ankunft des Paares im Wirtshaus. Dadurch fliegt der unausgesprochene Plan Herrmanns auf, und Dorothea ruft aus: „Traun! zu solchem Empfang hat mich der Sohn nicht bereitet“ (HD IX, 93). Statt die wahren Motive nun aber offenzulegen, steigert der Pfarrer – in der Quelle abwesend – die „spöttischen Worte[ ]“ (HD IX, 88) des Vaters zu „versuchenden Worten“ (HD IX, 112). Er rügt Dorothea für ihre Empfindlichkeit und provoziert dadurch das sogenannte Liebesgeständnis: Ja, des Vaters Spott hat tief mich getroffen: nicht, weil ich Stolz und empfindlich bin, wie es wohl der Magd nicht geziemet, Sondern weil mir fürwahr im Herzen die Neigung sich regte Gegen den Jüngling, der heute mir als ein Erretter erschienen. (HD IX, 147–150)
Die Herzensneigung wird zu einer Angelegenheit, für die Dorothea sich schämt und die Herrmanns Scham mangelnder Männlichkeit kompensiert. Goethe sexualisiert die Anekdote, die bei Göcking lediglich eine moralische und eine ökonomische Pointe hat. Während die Magd dort nur eine Lüge aus dem Weg geräumt 216Hehn nennt das Fehltreten Dorotheas „ein Spiel des Schicksals, das Amor selbst mit sinnvoller List gefügt zu haben scheint“ und „das dem Jüngling noch vor der Verlobung das Glück schafft die Geliebte ans Herz drücken zu können“ (Hehn, Über Goethes Hermann und Dorothea, S. 82). 217Dies übersieht m. E. Hans Geulen, wenn er statt einer bloßen ‚Heimholung‘ der Braut von einem Bund sprechen möchte, der „von diesem [dem Paar] selber hervorgebracht“ („Goethes Hermann und Dorothea“, S. 15) werde. 218Vgl. hierzu Kittler, Dichter · Mutter · Kind, S. 14: „Am Kernfamiliensystem, das sie voraussetzen, propagieren und einfleischen, haben die literarischen Texte der Goethezeit ihr Gesetz.“
270
4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
haben will, sorgt der diabolische Pfarrer, indem er Dorothea ein höllisches Dienstverhältnis perhorresziert, für eine existentielle Eskalation dieser Lüge. „Denn der Handschlag bestimmt das ganze Schicksal des Jahres, / Und gar vieles zu dulden verbindet ein einziges Jawort“ (HD IX, 116 f.), so provoziert er Dorothea. Dass sie deshalb einen Rückzieher macht und ihrem ‚Liebesbekenntnis‘ den Entschluss „wieder hinweg“ zu gehen folgen lässt, ist daher nur plausibel.219 Bei Herrmann aber führt der herausgekitzelte „stille[ ] Wunsch“ (HD IX, 166) der Braut nun aber gerade nicht zu einem reziproken Sprechakt, zu jenem Liebesgeständnis, das er nur zurückhielt, weil er in Dorotheas Augen „nicht Liebe“ (HD VII, 51) erblickte. Von Herzensneigung Dorothea gegenüber ist bei ihm nicht die Rede; er lässt sich in seiner Klarstellung gerade einmal zu den Worten hinreißen: „ich kam, um deine Liebe zu werben“ (HD IX, 216). Keine romantische, gegenseitige Liebe also, sondern eine Transaktion, in der es um den Wechsel der Positionen und die chiastische Umkehrung von weiblicher Stärke und männlicher Schwäche geht.220 In dem Moment, da der Vater Dorothea umarmt und die Frauen weinend schweigen (vgl. HD IX, 236–238), scheint – fast wie in Voß’ Luise – alles empfindsam geklärt und die patriarchalische Idylle wiederhergestellt. Das Übel der Französischen Revolution wird im Gut einer deutschen Ehe gebannt. Zwar beugt der Text doppelt einer solchen Indienstnahme des Paares für die nationale Identitätsstiftung vor – dadurch, dass eine Verlobung und keine Eheschließung stattfindet und dass Dorothea sich als Braut eines Revolutionärs erweist –, aber die soziale Instrumentalisierung des Paares lässt sich nicht wegdiskutieren. Goethe lässt, anders als Voß den Pfarrer von Grünau, seinen Pfarrer das Paar nicht trauen, aber verloben, womit er zwar kein Recht der Ehe, aber eine menschliche Machbarkeit von Recht suggeriert. Zwielichtig antwortet er auf Herrmanns letzte Aufforderung, „das Ganze“ zu vollenden und die Verwicklung aufzuklären: Welche Klugheit hätte denn wohl das schöne Bekenntnis Dieser Guten entlockt, und uns enthüllt ihr Gemüte? Ist nicht die Sorge sogleich dir zur Wonn’ und Freude geworden? (HD IX, 208–210)
219Eibl,
„Anamnesis des ‚Augenblicks‘, S. 123, stilisiert Dorotheas Rückzieher in Anlehnung an Lessing zu einem „opus supererogatum“, zu einer „Tat, die über die normalen ethischen Forderungen hinausgeht“ und die Dorothea „als Person sichtbar, […] ebenbürtig, wenn nicht überlegen“ mache. Dabei ignoriert er völlig, dass dieses ‚Werk‘ durch eines erkauft ist, das jede ‚normale ethische Forderung‘ unterschreitet. 220Nils Reschke zitiert bezüglich der Figur Ottilies aus den Wahlverwandtschaften folgende Sätze Goethes zum Verhältnis der Geschlechter: „Der Mann soll gehorchen, das Weib soll dienen. Beide streben nach der Herrschaft. Jener erreicht sie durch Gehorchen, diese durch Dienen. Gehorchen ist dicto audientem esse; dienen heißt zuvorkommen. Jedes Geschlecht verlangt von dem andern, was es selbst leistet, und erfreut sich dann erst: der Mann, wenn ihm das Weib gehorcht (was er selbst thut und thun muß); das Weib, wenn ihr der Mann dient, zuvorkommt, aufmerksam, galant und wie es heißen mag ist. So tauschen sie in der Liebe ihre Rollen um; der Mann dient, um zu herrschen, das Weib gehorcht, um zu herrschen.“ (Goethe mit Friedrich Wilhelm Riemer im August 1807, in: Goethes Gespräche, hg. Woldemar Freiherr von Biedermann, 10 Bde., Leipzig 1889–1896; hier: Bd. 2, S. 184; zit. in: Reschke, „Zeit der Umwendung“, S. 193.)
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
271
Anders als Voß’ Pfarrer, der die rechtskonforme Anwendung der Agende für sich beansprucht, handelt Goethes Pfarrer nicht als institutioneller Vertreter, sondern als Freund, bürgerlicher Ratgeber und alchemistischer Verwandlungskünstler. Je nach Situation preist er den Wandel oder die Kontinuität – in diesem Fall eine Kontinuität der Familie, die Differenzen vergessen macht: Er nimmt die Ringe der Eltern, um sie den Kindern mit folgenden Worten zu übertragen: „noch einmal sei der goldenen Reifen Bestimmung, / Fest ein Band zu knüpfen, das völlig gleiche dem alten“ (HD IX, 243 f.). Eigenmächtig schafft er ein Verlobungsritual, dessen Ursprünglichkeit durch bloße visuelle Evidenz – statt etwa umständlicher Worte aus der Heiligen Schrift – erzeugt wird. Victor Hehn attestiert dem Text daher, ähnlich wie schon Wilhelm von Humboldt, eine ‚reine Menschlichkeit‘ und Unabhängigkeit von positiver Religion: Die positive Religion hat in diesem Gedicht voll reiner Menschlichkeit keine Stelle gefunden. Nur einmal trifft sie in einer vorübergehenden Andeutung auf, wo des Tedeums am Friedensfeste erwähnt wird; der Vater wünscht, Hermann möchte dann auch mit der erwählten Braut vor den Altar treten. Die Religion ist hier also nicht getrennt von dem schönsten Inhalt des Menschenlebens und seinen reichsten Momenten, der Friedensfeier und der Ehestiftung, Momente, die so reich sind, daß alle Lebenskraft, die die Kirche noch besitzt, ihr von dorther zufließt und sie an ihnen parasitisch ihr Dasein fristet.221
Die Naturalisierung der Religion impliziert eine Naturalisierung der Ehe. Hehn problematisiert den Unterschied von Verlobung und Ehe nicht, wie selbstverständlich geht es für ihn um das Werden eines bürgerlichen Ehebundes: Allein die romantische subjektive Liebe als solche zu schildern war hier überhaupt des Dichters Zweck nicht, sondern eine werdende Ehe. Er wollte in einem ruhigen Gemälde die Art und Weise darlegen, wie in einer unverdorbenen bürgerlichen Welt auf unbefangen menschlichem Wege das Institut der Ehe sich verwirklicht und von Geschlecht zu Geschlecht sich erneut.222
Hehns nationalliterarische Würdigung von Herrmann und Dorothea geht nahtlos in eine Ideologisierung der Ehe über. Der Gymnasialprofessor und Schulmann Leo Cholevius, der 1863 seine Aesthetische und historische Einleitung nebst fortlaufender Erläuterung zu Goethe’s Hermann und Dorothea erklärtermaßen verfasste, um „der deutschen Jugend“ die „vaterländische[ ] Poesie“223 nahezubringen, meint gar, den Übergang von der Verlobung zur Trauung am Text selbst festmachen zu können: „Die Verlobung geht ganz in die Form der Trauung über, bei welcher der Geistliche dem Bräutigam und der Braut das Ja-Wort abfordert, und der Apotheker, dessen Dienste bei der Brautwerbung verschmäht wurden,
221Victor
Hehn, Ueber Goethes Hermann und Dorothea, Stuttgart: Cotta’sche Verlagsbuchhandlung 1893, S. 112 f. 222Ebd., S. 96. 223Leo Cholevius, Ästhetische und historische Einleitung nebst fortlaufender Erläuterung zu Goethes Hermann und Dorothea, Leipzig: B.G. Teubner 1863, S. IV.
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erhält jetzt wenigstens die Genugthuung, daß ihm das Amt eines Zeugen übertragen wird.“224 Hier tritt der Philologe ganz in die Fußstapfen von Goethes epischem Pfarrer, der Differenzen nivelliert, um ganz pragmatisch ein nationalpatriotisches Band, das die Bürger eint, behaupten zu können. Das Band, das Herrmann und Dorothea knüpfen, gleicht dem ihrer Eltern aber natürlich nicht „völlig“. Anders als der Vater heiratet Herrmann kein Mädchen aus der kleinstädtischen, sondern allenfalls aus der nationalen Nachbarschaft. Und anders als jener heiratet er keine Jungfrau, sondern eine Braut, die bereits verlobt war. Eherechtlich hallt in der Mischung von Verlobungs- und Trauungsritual die Frage nach dem Anfang einer Ehe wider, und man könnte an das Konzept der ‚Verlöbnisehe‘ erinnern, das protestantische Eherechtler einführten, um ein familiäres Konsensprinzip gegen die ehekonstitutive Funktion der Geistlichkeit zu behaupten.225 Mit dem Verlobungsring des Revolutionärs erweist sich Dorothea nicht nur als religiöse, sondern auch als politische Trophäe. Beim Anblick des Rings ruft der Pfarrer aus: „Wie? du verlobest dich schon zum zweitenmal? Daß nicht der erste / Bräutigam bei dem Altar sich zeige mit hinderndem Einspruch!“ (HD IX, 254 f.) Dorotheas Antwort besteht in der „Erinnrung“ (HD IX, 256) an die Trennung von ihrem ersten Bräutigam – eine Erinnerung, die paradoxerweise an die Stelle eines auf die Zukunft bezogenen Verlobungsversprechens tritt. Dieser Rede – Prosopopoeia eines Abwesenden – mit dem Grundtenor notwendiger Trennung in Zeiten des Wandels setzt Herrmann sein (etwas kürzeres) nationales und patriotisches Manifest entgegen, das auf „der schönen Güter Besitztum“ (HD IX, 301) gründet und das den Text beschließt, ohne dass Erzähler oder Rhapsode sich noch einmal als Vermittlungsinstanz einschalten würden. Die konträren Schlussplädoyers für Wandel („alle Güter sind trüglich“, HD IX, 289) und Kontinuität („[w] ir wollen halten und dauern“, HD IX, 300) offenbaren, wie die zuvor geleistete PaarBildung und -Vereinigung mit der Wiedereinführung einer Differenz konterkariert wird. Dorothea spricht am Ende nicht als sie selbst, sondern als eine bereits Verwandelte und als ‚halber Mann‘. Gegen die schwächere Bezeichnung ‚Verlobter‘ unterstreicht der Ausdruck ‚erster Bräutigam‘ eine Wiederholbarkeit und Revidierbarkeit von Ehe-, Bundes- und/oder Friedensschlüssen.226 Die im Zeichen der Sternkunde (Urania) gegebene „Aussicht“ des letzten Gesangs ‚verlobt‘ momenthaft zwei konträre Positionen; die Schlussreden inszenieren ein Paradox.227 Der Revolutionär predigt eine politische Religion mit endzeitlichen Zügen: 224Ebd.,
S. 267. oben Abschn. 2.1: Säkularisierung der Ehe? Sakramentalität und Rechtsprechung („Vom heiligen Stand zum Staatszweck“). 226Je nach Perspektive können Dorothea und der erste Bräutigam also auch als allegorische Ehebrecher betrachtet werden: Dorothea, weil sie mit Herrmann die Ideale ihres ersten Mannes verrät, der erste Bräutigam, weil er seine Braut für die Revolution sitzen gelassen hat. 227So auch Wagner, „Hermann und Dorothea in the Context of Kant and Voß“, S. 182: „Goethe’s ending leaves two opposites unreconciled. Dorothea’s message stands juxtaposed with Hermann’s contradiction, offering not closure but a paradox. The truth of this paradox is that the future remains open; Goethe does not presume to predict how long patriarchy, or men’s infatuation with war will prevail.“ 225Vgl.
4.3 Herrmann und Dorothea. Epische Verstellung
273
Lebe glücklich, sagt’ er. Ich gehe; denn Alles bewegt sich Jetzt auf Erden einmal, es scheint sich Alles zu trennen. Grundgesetze lösen sich auf der festesten Staaten, Und es lös’t der Besitz sich los vom alten Besitzer, Freund sich los von Freund; so lös’t sich Liebe von Liebe. […] Nur ein Fremdling, sagt man mit Recht, ist der Mensch hier auf Erden. Mehr ein Fremdling als jemals, ist nun ein jeder geworden. Uns gehört der Boden nicht mehr; es wandern die Schätze; Gold und Silber schmilzt aus den alten heiligen Formen; Alles regt sich, als wollte die Welt, die gestaltete, rückwärts Lösen in Chaos und Nacht sich auf, und neu sich gestalten. Du bewahrst mir dein Herz; und finden dereinst wir uns wieder Über den Trümmern der Welt, so sind wir erneute Geschöpfe, Umgebildet und frei und unabhängig vom Schicksal. (HD IX, 262–277)
Aus dem geschichtlichen Befund eines endzeitlichen, gesetzeslosen und chaotischen Zustandes leitet der Revolutionär (zumindest für seine Braut) witzigerweise eine Art säkularisierte Liebesreligion ab, die gegenwärtigen Genuss im Zeichen verlorener Liebe anmahnt. Herrmann kontert angesichts solch universellen Schwankens mit einer sakralisierten Ökonomie, einer Verteidigung von Heim, Haus und Nation: Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung Fortzuleiten, und auch zu wanken hierhin und dorthin. Dies ist unser! so laß uns sagen und so es behaupten! Denn es werden noch stets die entschlossenen Völker gepriesen, Die für Gott und Gesetz, für Eltern, Weiber und Kinder Stritten und gegen den Feind zusammenstehend erlagen. Du bist mein; und nun ist das Meine meiner als jemals. (HD I, 304–311)
Direkter kann die umworbene und erworbene Liebe der Gattin kaum auf die Liebe des Volkes der Deutschen übertragen werden.228 Als allegorischer ersetzt der Ehebund die aufgelösten Grundgesetze und begründet eine Gemeinschaft, die sich auf ein gemeinsames Territorium (und weniger auf eine gemeinsame Vergangen-
228Die beiden Schlussreden werden naturgemäß verschieden interpretiert. Die ganze neuere Forschung zum Text wertet entweder gegen die einseitige nationalistische Rezeption die Rede des Revolutionärs auf (vgl. v. a. Peter Morgan, „The Polarization of Utopian Idealism and Practical Politics in the Idyll. The Role of the First ‚Bräutigam‘ in Goethe’s Hermann und Dorothea“, The German Quarterly 57 (1984), 532–545). Oder sie betont den dialogischen Aspekt der beiden Reden; oder sie geht auf die Schlussreden gar nicht mehr ein. Kluge, „Hermann und Dorothea“, schlägt zum Beispiel vor, beide Reden – als theoretische Einsicht in die und praktische Konsequenz aus der Revolution – quasi ‚reformlogisch‘ miteinander zu verbinden.
274
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heit) beruft.229 Aus dem Besitz der Frau, der Grenze des Familienbesitzes, wird der Besitz eines neuen Territoriums, die neue Grenze des deutschen Volkes. „Am Schlusse des Gedichts“, formuliert Victor Hehn prägnanter als manch andere moderne Textexegeten, „spricht er [Herrmann] eine standhafte patriotische Gesinnung aus, aber nur weil der gewonnene Besitz eines geliebten Weibes ihn mit der Empfindung des Eigentums überhaupt erfüllt hat“.230
‚Rein Menschliches‘ – zwischen ästhetischer und nationaler Norm Das politisch-ästhetische Experiment von Herrmann und Dorothea liegt in der Totalisierung des Paares als pars pro toto für die Gemeinschaft; seine nationale und chauvinistische Vereinnahmung braucht hier nicht mehr im Detail nachgezeichnet werden.231 Gezeigt werden sollte, wie die ‚epische‘ und die ‚eheliche‘ Form experimentell enggeführt und dadurch eine ebenso ästhetische wie politische Normativität erzielt wird. Zwar wird Eherecht als ‚homerisches Recht‘ nicht behauptet, aber mit jeder Zeile suggeriert.232 In Dorothea werden Religion und Politik interiorisiert, so dass für eine gelungene Ehe- und Friedensstiftung nur noch Dichter, Mütter und Kinder notwendig scheinen. Literatur wird zur umfassenden, (national-)literarischen Bildungsanstalt, die Staatspolitik im Idealfall überflüssig macht. Genau in diesem Sinne, als unerhörte, neue ‚Volkskunst‘, wurde der Text von Wilhelm von Humboldt, August Wilhelm Schlegel und anderen Zeitgenossen begriffen. Schiller hatte die Idee, den Text im Volksbrauchtum zu verankern: „Ich wünschte in allem Ernst, es kämen in dieser speculationsreichen Zeit einige gute Köpfe auf den Einfall, ein Gedicht, wie unser Hermann und Dorothea ist, von Dorf zu Dorf auf Kirchweihen und Hochzeiten zu recitieren und so die alte Zeit der Rhapsoden […] zurückzuführen“.233 Und Goethes Mutter schreibt dem Sohn, dass der Pastor Hufnagel seinen Text für Trauungen heranziehe: „Hufnagel ist so ganz davon belebt, daß er bei Kopulationen und wo es nur möglich ist, Gebrauch davon macht … Er behauptet, so hättest Du noch gar nichts geschrieben.“234 Für Wilhelm von Humboldt wird Herrmann und Dorothea zu einem Einzelfall, an 229Vgl. den Beginn von Herrmanns Rede: „Desto fester sei, bei der allgemeinen Erschüttrung, / Dorothea, der Bund!“ (HD IX, 299 f.) 230Hehn, Ueber Goethes Hermann und Dorothea, S. 90. 231Vgl. hierzu Heinz Helmerking, Hermann und Dorothea. Entstehung, Ruhm und Wesen, Zürich: Artemis 1948; Paul Michael Lützeler, Hermann und Dorothea (1797), in: Ders., McLeod (Hg.), Goethes Erzählwerk, S. 216–265. 232Vgl. zum Verhältnis von Epos, Recht und Religion bei Homer Joachim Harst, „,Homerisches Recht‘. Eid, Ehe und Verbindlichkeit im griechischen Epos“, in: Christian Hiebaum, Susanne Knaller, Doris Pichler (Hg.), Recht und Literatur im Zwischenraum. Aktuelle inter- und transdisziplinäre Zugänge, Bielefeld: transcript 2015, S. 225–257. 233Zit. in: Schmidt (Hg.), Johann Wolfgang Goethe. Hermann und Dorothea, S. 101 und 104. 234Catharina Elisabeth Goethe an Goethe am 4. Dezember 1798; zit. in: Goethes Werke. Gedichte und Epen II, Bd. 2 (Hamburger Ausgabe), hg. Erich Trunz, München: Beck 172005, S. 739.
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dem sich das ‚Wesen‘ von (National-)Kunst und (National-)Dichter gleichermaßen bestimmen lässt. Und zu einem Anlass dafür, eine der ersten Monographien über einen literarischen Text zu verfassen. „Kunst“, schreibt er, sei „die Fertigkeit, die Einbildungskraft nach Gesetzen productiv zu machen“.235 Weder der anekdotische Fund bei Göcking noch handlungstechnische Feinheiten sind ihm eine Erwähnung wert, stattdessen feiert er die abstrakte Hoch-Zeit eines ‚Menschengeschlechts‘, das sich künstlerisch und national von anderen ‚Geschlechtern‘ abhebt, indem es den Ursprung Homer direkt zu beerben scheint und sich gegenüber anderen ‚culturellen‘ Depravationen als überlegen erweist, indem es sich selbst schafft. Imaginationskraft von Werk, Dichter und Leser fusionieren in einer „vollkommne[n] Objectivität und Gesetzmässigkeit“, deren Ausdruck Herrmann und Dorothea sein sollen: Dadurch gelangt er [der Dichter; Anm. D. S.] zu der einen und hohen Objectivität, die wir nun stufenweis beschrieben haben; dadurch nöthigt er unsre Einbildungskraft, nicht bloss überhaupt bildend zu verfahren, nicht bloss überhaupt sinnliche Gestalten hervorzurufen, sondern ununterbrochen fort allein an der Erzeugung des Einen Gegenstandes zu arbeiten, der ihn selbst begeistert, und sich mit ihm nur durch die vollendete Darstellung dieser Einen Form zu befriedigen.236
Die ‚Eine Form‘ ist Gattung und Generation im stärksten Sinn: „Die fortschreitende Veredlung unsres Geschlechts, geleitet durch die Fügung des Schicksals, macht also, in einer einzelnen Begebenheit dargestellt, den Stoff unsres Gedichts aus.“237 Statt eines vorausgesetzten Rechts herrscht „in dem ganzen Gedicht der schöne Geist der Billigkeit“, und Abschnitt für Abschnitt formuliert der Kunstphilosoph die alt-neuen ‚Gesetze‘ der bürgerlichen Epopee,238 die zugleich jene des „Deutsche[n] Geschlecht[s] und am Schluss unsres Jahrhunderts“239 sind. Als initiales Handlungsmoment benennt Humboldt den Augenblick, in dem Herrmann Dorothea erblickt und seine (wohl equilibrierte) Leidenschaft entfacht wird. Die Wahrnehmung der ‚Jungfrau‘ ersetze das Eingreifen der Götter und das Wunderbare des antiken Epos’. Darin stimmt er mit Schlegel überein, der – als Romantiker – expliziter „die Liebe“ als Substitut für den Mythos benennt: „Der große Hebel, womit in unsern angeblichen Schilderungen des Privatlebens, Romanen und Schauspielen, meist Alles in Bewegung gesetzt wird, ist die Liebe.“240 Schlegel profiliert diese Liebe in genau 235Humboldt,
Ueber Göthes Herrmann und Dorothea, S. 138. S. 210. 237Ebd., S. 309. 238Vgl. ebd., S. 310–321: höchste Sinnlichkeit, durchgängige Stetigkeit, Einheit, Gleichgewicht, Totalität und pragmatische Wahrheit. Zur Kritik an Humboldts (und Goethes) bürgerlicher Ideologie in Herrmann und Dorothea vgl. Christa Bürger, „Hermann und Dorothea oder: Die Wirklichkeit als Ideal“, in: Barner, Lämmert, Oellers (Hg.), Unser Commercium, S. 485–505. 239Humboldt, Ueber Göthes Herrmann und Dorothea, S. 304. 240August Wilhelm Schlegel, „Goethes Hermann und Dorothea (1798)“; zit. in: Johann Wolfgang Goethe, Hermann und Dorothea, Frankfurt a. M.: Insel 1976, S. 125–156. 236Ebd.,
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jener sozialen, karitativen Dimension, die die Gemeinschaft als Ganzes affiziert: Sie sei nicht „romanhafte Leidenschaft“, sondern „biedre, herzliche Neigung, auf Vertrauen und Achtung gegründet, und in Eintracht mit allen Pflichten des thätigen Lebens“, ein „Wunderbares, wie es in einem Epos aus unsrer Zeit einzig stattfinden darf; nämlich nicht ein sinnlicher Reiz für Neugier, sondern eine Aufforderung zur Theilnahme, an die Menschheit gerichtet“.241 Für Humboldt wie für Schlegel liegt in dieser ‚epischen‘ Liebe die Plötzlichkeit der männlichen Entscheidung begründet, der gegenüber Dorotheas Neigung nur noch Geständnis sein kann. Und lässt man Herrmanns Schlussrede als letzte Worte des Textes gelten, sind sie gar patriarchalischer als die unwillkürlichen Trauworte von Voß’ Hauspfarrer, der sich vom Schmuck der Tochter – und nicht von ihrer ‚tätigen Liebe‘ – überwältigen ließ.242 Mit den militärischen Erfolgen gegen Napoleons Armee, aber auch mit der fortschreitenden Kapitalisierung und Industrialisierung verschiebt sich die ästhetische Popularisierung des Textes endgültig zur nationalen. Wilhelm Heinrich Riehl beschwört im dritten und letzten Band seiner Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik gegen Sozialisierung, Industrialisierung, Frauen- und Lumpenproletariat ein ‚Haus der Nation‘, das den Frauen wieder zu ihrem rechten Platz im kleinen Haus des ‚Ganzen Hauses‘ verhelfen will. Er plädiert für eine Emanzipierung der Frau durch die Politisierung der Familie und zitiert die notorische, potentiell dialektische Passage über das ‚Weib‘ aus Herrmann und Dorothea: Das deutsche Haus baut sich auf wie die gothische Kirche: von Innen nach Außen. So wird aus dem Innern der Familien heraus die Stellung von Mann und Weib wieder ins Loth gebracht werden müssen. Dann wird auch wieder herrlich erfüllt werden, was so wunderbar schön von dem Beruf der Frauen gesagt hat und was ich den ächten deutschen Frauen zur Erbauung, den modernen Damen aber zum Trutz als den rechten Zimmermannsspruch hierhersetzen will, da ich nun den letzten Balken zum äußeren Fachwerk meiner Familie aufgeschlagen: „Dienen lerne bei Zeiten das Weib nach ihrer Bestimmung; Denn durch Dienen allein gelangt sie endlich zum Herrschen, Zu der verdienten Gewalt, die doch ihr im Hause gehöret. Dienet die Schwester dem Bruder doch früh, sie dienet den Eltern, Und ihr Leben ist immer ein ewiges Gehen und Kommen, Oder ein Heben und Tragen, Bereiten und Schaffen für Andre. Wohl ihr, wenn sie daran sich gewöhnt, daß kein Weg ihr zu sauer Wird und die Stunden der Nacht ihr sind wie die Stunden des Tages, Daß ihr niemals die Arbeit zu klein und die Nadel zu fein dünkt, Daß sie sich ganz vergißt und leben mag nur in Andern!“243
241Ebd.,
S. 145. diesem Punkt würde ich deshalb Irmgard Wagner („Hermann und Dorothea in the Context of Kant and Voß“), die Goethes Text als Provokation von Voß’ patriarchalischem Entwurf liest, widersprechen. 243Wilhelm Heinrich Riehl, Die Naturgeschichte des Volkes als Grundlage einer deutschen Social-Politik, 3. Band: „Die Familie“, Stuttgart: Cotta 61862 (1854), S. 112. 242In
4.4 Die Wahlverwandtschaften: Darstellung der Herstellung von (Ent-)Scheidung
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Mochte Goethe sein ‚Wirtshaus‘ noch progressiv gegen die ‚Franken‘ errichtet haben, wird es mehr und mehr zum restaurativen Haus in einem Staat, der ökonomisch aus den Fugen gerät. Der Text wird von Feuilletonisten, Wissenschaftlern, Politikern und Schulmännern benutzt, um Recht und Ordnung als Ordnung der Geschlechter herzustellen. In Vergessenheit gerät darüber, dass das politisch-ästhetische Experiment selbst schon nach dem Kriterium des Erfolgs und ökonomischer Logik durchgeführt wurde. Schiller schreibt Goethe ein Vierteljahr nach dem Erscheinen des Textes: „In Hermann und Dorothea habe ich, was das Material betrifft, den Deutschen einmal ihren Willen getan, und nun sind sie äußerst zufrieden. Ich überlege jetzt, ob man nicht auf eben diesem Wege ein dramatisches Stück schreiben könnte? das auf allen Theatern gespielt werden müßte und das jedermann für fürtrefflich erklärte, ohne daß es der Autor selbst dafür zu halten brauchte.“244 Der Ehe- als Friedensbund ist Experiment geblieben, vermutlich ohne dass sein Autor daran glaubte. Und statt eines vergleichbaren Theaterstücks ist ein Roman herausgekommen, der zwar noch einmal mit der Ehe experimentiert, aber nur um zu zeigen, dass Paarbeziehungen mit der Ordnung der Gesellschaft nicht zu versöhnen sind.
4.4 Die Wahlverwandtschaften: Darstellung der Herstellung von (Ent-)Scheidung Goethes Roman ist ein Diskurspalimpsest, in dem Wissen – chemisches, mythologisches, botanisches, architektonisches, rechtliches, politisches, religiöses – auf geradezu schwindelerregende Weise mit den ‚Privatgeschichten‘ der Romanfiguren verflochten ist.245 In der folgenden Lektüre gehe ich von einer Privilegierung des rechtlichen Diskurses aus. Die Ehe bzw. das Eherecht, so meine Ausgangsthese, erhält – im Sinne von Goethes ‚symbolischer‘ Technik, Bilder und Geschichten ‚parallel‘ zu erzählen – die Funktion einer reflexiven Instanz, die der Text in der Form des Romans fiktionalisiert. Vermutlich erklärt diese poetische und rhetorische Verschiebung die – seit Benjamins berühmtem Satz „Der Gegenstand der Wahlverwandtschaften ist nicht die Ehe.“ – in der Literatur zu den Wahlverwandtschaften einfach nicht enden wollende Polemik darüber, ob der Roman nun von der Ehe handle oder nicht.246 Vermutlich erklärt sie auch die Tatsache, dass dem Rechtsdiskurs im Roman immer noch zu selten Aufmerksamkeit geschenkt wird, weil sie nämlich die Frage von rechtlichem und ästhetischem
244Goethe
an Schiller, ohne Datum zitiert in: Lützeler, „Hermann und Dorothea (1797)“, S. 217. hierzu Gabriele Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen. Paradigmen und Aporien ihrer Inszenierung in Goethes Wahlverwandtschaften, Freiburg i. Br.: Rombach 2003. 246Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften (1924), in: Ders., Gesammelte Schriften, Bd. I.1, hg. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 1980 (1974), S. 123–201; hier: S. 131. 245Vgl.
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Urteil unauflösbar miteinander verquickt.247 Dabei fällt das Lexem ‚recht/Recht‘ allein 17 Mal im ersten Kapitel und im ganzen Roman über sage und schreibe 160 Mal auf 260 Seiten verteilt.248 Der eherechtliche Diskurs spielt auf unterschiedlichen Ebenen eine Rolle, was ihn, beispielsweise mit der chemischen oder mythologischen Bedeutungsebene verglichen, dafür prädestiniert, der Romanhandlung eine ‚symbolische‘, Individuelles und Kollektives vermittelnde Bedeutung zuzuschreiben. Erstens sprechen die Figuren, wenn sie über die Ehe sprechen, über ihre eigenen Lebensentwürfe, so etwa Charlotte und Eduard im ersten Romankapitel, wo sie beraten, ob der Freund Otto aufgenommen werden soll. Zweitens diskutieren sie aber auch auf abstrakte Art über die Ehe als Rechtsinstitut. Man denke etwa an das Gespräch, das Charlotte und Eduard mit dem befreundeten Grafen und der Baronesse führen und in dem der Graf Gesetzesvorschläge zur Relativierung der Unauflöslichkeit der Ehe vorträgt.249 Drittens provoziert die Romanhandlung selbst die Frage nach dem Recht: Die Geschichte ähnelt einem krimiartigen Ehekrieg, der immer wieder als tragisch bezeichnet worden ist und der mit einer verwitweten Gattin endet, die nach dem eigenen Sohn ihre Pflegetochter Ottilie und
247In den drei wichtigen jüngeren Sammelbänden zu den Wahlverwandtschaften widmet sich seltsamerweise kein Beitrag ausdrücklich dem juristischen Diskurs im Roman. (vgl. Norbert Bolz (Hg.), Goethes Wahlverwandtschaften. Kritische Modelle und Diskursanalysen zum Mythos Literatur, Hildesheim: Gerstenberg 1981; Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen; Hühn (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“). Auch in Klaus Lüderssen (Hg.), ‚Die wahre Liberalität ist Anerkennung‘. Goethe und die Jurisprudenz, Baden-Baden: Nomos 1999, sucht man die Wahlverwandtschaften vergeblich. Zum Rechtsdiskurs in diesem Roman (und auch für die folgenden Ausführungen) zentral sind dagegen die drei Arbeiten von Uwe Diederichsen, „Goethes Wahlverwandtschaften – auch ein juristischer Roman?“, Goethe-Jahrbuch 118 (2001), 142–157; Ders., „Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, Neue Juristische Wochenschrift 57 (2004), 537–544; Ders., „Goethes Wahlverwandtschaften und die staatliche Ehegesetzgebung in der Neuzeit“, in: Sibylle Hofer, Diethelm Klippel, Ute Walter (Hg.), Perspektiven des Familienrechts. Festschrift für Dieter Schwab zum 70. Geburtstag am 15. August 2005, Bielefeld: Gieseking 2005, S. 41–67. Vgl. außerdem bereits die kleine Studie von Andreas Bloch, „Goethes Die Wahlverwandtschaften (von 1809) – die Ehe im Werk und in der Wirklichkeit“, FamRZ 40/12 (1993), 1409–1413; und jüngst: Julia S. Happ, „Attractio electiva duplex als fatale Romanpoetik. Eherechts- und Scheidungsexperimente in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Yvonne Nilges (Hg.), Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 91–105 (in der Diederichsens Vorarbeiten aber leider nicht berücksichtigt werden). 248Nach einer Treffersuche in der Digitalversion der Wahlverwandtschaften auf http://archive.org/ stream/diewahlverwandts02403gut/7wahl10.txt (06.09.2016). 249Vgl. Johann Wolfgang Goethe, Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. Waltraud Wiethölter, (=Bd. 8 der Frankfurter Ausgabe), Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch 2006 (1994), Kap. I.10 (im Folgenden – mit der Sigle W, Teil-, Kapitelund Seitenangabe – direkt im Text zitiert). – Es geht um die Vorschläge, eine Ehe zunächst nur für fünf Jahre zu schließen und erst ab der dritten Ehe das Kriterium der Unauflöslichkeit einzuführen. Der Vorschlag zur Befristung von Ehen findet sich bei dem Aufklärer Étienne-Gabriel Morelly (1717–1778), vgl. Schwab, Grundlagen und Gestalt der staatlichen Ehegesetzgebung, S. XY.
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ihren Ehemann als Liebespaar begräbt.250 Scheitert Eduards und Charlottes Ehe damit zu Recht oder zu Unrecht? Was bedeutet es, wenn am Schluss des Romans „die Liebenden [Eduard und Ottilie] neben einander“ ruhen und „Friede“ „über ihrer Stätte [schwebt]“ (W II.18, 529)? Über wen wird entschieden, über die Toten, die Überlebenden, über alle? Wird überhaupt entschieden oder vielmehr eine Entscheidung suspendiert? Ein Blick auf die Wahlverwandtschaften-Philologie zeigt, dass diese Fragen irgendwie beliebig beantwortbar zu sein scheinen. Das heißt aber, dass der Roman keine Ehe, sondern die Darstellung einer Ehe darstellt. Als Roman erzählen sie damit – ähnlich wie Manzonis I promessi sposi – weniger von einem ‚realistischen‘ als einem ‚rechtlichen‘ Ursprung des modernen Romans. In einer Mischzone zwischen Recht und Literatur angesiedelt, lässt sich Goethes Roman als „Darstellung der Herstellung der Entscheidungen“251 begreifen, die zugleich mehr und weniger als ‚dargestellte Wirklichkeit‘ (Auerbach) sein will.252 Dass es gerade auf dieser dritten Ebene um eine autopoetische Funktion des Rechts und der Poetik geht, deutet Goethe in einem Brief an Karl Friedrich von Reinhard an, wenn er ihm vor dem Hintergrund des Skandalerfolgs seines Romans schreibt: „Das Gedichtete behauptet sein Recht, wie das Geschehene.“253 Die juridische Perspektivierung des Romans wird erst zusammen mit der wie in den Novellen der Ausgewanderten und Herrmann und Dorothea metaphorischen Funktion der Ehe deutlich. ‚Ehe‘ ist die potentiell Kontinuität und Bruch harmonisch verbindende Ordnung, die der Revolution, die mit Vergangenheit und Besitz radikal bricht, versuchsweise entgegengesetzt wird. Obwohl auch für die Wahlverwandtschaften bereits gezeigt worden ist, wie mit jeder Figur, fast jedem Ereignis oder Vorfall auf den politischen Kontext der Revolution angespielt wird,254 bleibt die Frage, warum der Roman Revolutions- und Eheroman sein soll, warum er – wie auch Rousseaus Nouvelle Héloïse – als Ehe- und Ehebruchroman gelesen werden kann, warum seine Versuchsanordnung genau so und nicht anders ist: ein
250In
der Unterscheidung der ersten beiden Ebenen lehne ich mich an Diederichsen, „Wahlverwandtschaften und Ehegesetzgebung“, S. 47, an. 251Damit nehme ich eine Rechtsdefinition von Ino Augsberg auf, die er in Absetzung von Luhmanns Autopoiesis-These entwickelt: Ino Augsberg, „Recht als autopoetisches System. (Gesetz und Gestell)“, in: Hiebaum u. a. (Hg.), Recht und Literatur im Zwischenraum, S. 135–154; hier: S. 145. 252Vgl. hierzu auch Auerbachs Anmerkungen zu Goethe im zweiten Teil des Schiller-Kapitels: „Als Ergebnis bleibt, daß Goethe die Wirklichkeit des ihm zeitgenössischen Lebens niemals dynamisch, niemals als Keim werdender und zukünftiger Gestaltungen dargestellt hat. Wo er sich mit den Tendenzen des 19. Jahrhunderts befaßt, da geschieht es in allgemeinen Betrachtungen, und diese sind fast immer wertend, überwiegend mißtrauisch und ablehnend.“ (Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen/Basel: Francke 91994 (1946), S. 419.) 253Goethe an Karl Friedrich von Reinhard am 31. Dezember 1809; zit. in: Goethe, Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. Wiethölter, S. 982. 254Vgl. Reschke, „Zeit der Umwendung“.
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Partnertausch, der nicht zustande kommt, eine Scheidungsvermeidung statt (weder einfacher noch doppelter) Ehe- und Staatsgründung.255 Diese Fragen soll die folgende, eherechtliche und rechtskritische Lektüre begleiten, mit der Hypothese, dass der Roman – im Anschluss an Rousseaus Nouvelle Héloïse256 und radikaler – das Paar aller gemeinschaftsstiftenden Funktion beraubt.257 Ich schließe damit bewusst an Benjamins kontroverse Romankritik an, derzufolge Goethe den „Wahrheitsgehalt“ des Textes dem bloßen Schein der Schönheit (d. h. Ottilies profanem Märtyrerbild) ausgeliefert habe. Die dem Roman eingelagerte Novelle von den Nachbarskindern bilde das Zentrum, an dem sich ein transzendenter Ehe-Begriff ablesen lasse. Ob die Novelle als Antithese des Romans oder ‚nur‘ als Variation der Haupthandlung aufzufassen sei, ist eine seither weiterhin kontrovers diskutierte Frage in der Wahlverwandtschaften-Philologie. Nicht nur in den Wahlverwandtschaften, auch in Benjamins Wahlverwandtschaften-Essay markiert die Ehe einen „blinden Fleck“,258 der Irritation, Abwendung oder das Überlesen als Reaktion hervorgerufen hat. In Benjamins dialektischem Verfahren ist die Ehe zwar nicht Zentrum von Goethes Roman, aber aus der Peripherie eines ‚Reinen‘, das Benjamin „nächste menschliche Verbundenheit“ nennt und dem er die Kraft zuerkennt, „in der Ehe […] buchstäblich auch sein Metaphorisches zu machen“259 leitet er die Ehe als eine Synthese ab, die Sigrid Weigel in den Begriffen von ‚Treue‘ und ‚übernatürlichem Leben‘ beschrieben hat und die ich im Folgenden als ein Recht des
255Reschkes
übergeordnete These einer Transformierung der „sozialpsychologischen Konflikte im Übergang von der Kulturordnung der maskulin-paternal codierten Feudalgesellschaft zur Kulturordnung der feminin-maternal codierten bürgerlichen Gesellschaft“ („Zeit der Umwendung“, S. 34) bleibt unbefriedigend, weil sie nicht auf die Romanhandlung bezogen wird, und damit das Verhältnis zwischen Geschlechterordnung und Geschlechtercodierung unklar bleibt. Wenn aber der staatspolitische Konflikt von Herrschaft und Unterordnung gegendert wird, kommt man um die Frage, ob und wie er gelöst wird, nicht herum. 256Vgl. hierzu Anneliese Botond, Die Wahlverwandtschaften. Transformation und Kritik der neuen Héloïse, Würzburg: Königshausen & Neumann 2006. 257Auch Wolf und Friedrich Kittler argumentieren mit Foucault und Lacan dahingehend, dass es keinen Verkehr der Geschlechter geben kann. Dafür steht das vom Roman verdrängte Paar Ottilie und der Hauptmann als symbolische Mutter und Beamter des preußischen Verwaltungsstaates. Das Auslassen dieser Konstellation unterminiert das scheinbar chemische Experiment von Anfang an. Vgl. Wolf Kittler [in Anspielung auf Goethes berühmte Äußerung Friedrich Wilhelm Riemer gegenüber], „Goethes Wahlverwandtschaften. Sociale Verhältnisse symbolisch dargestellt“ und Friedrich A. Kittler, „Ottilie Hauptmann“, beide in: Bolz (Hg.), Goethes Wahlverwandtschaften, S. 230–259 und S. 260–275. Während der Text, indem er von Ottilie und dem Hauptmann schweigt, die bürgerliche (Ehe-)Machtordnung verkündet, würde ich eher sagen, dass er noch sie – die arbeitsteilige Ordnung von Müttern und Staatsdienern – zu Grabe trägt. 258Dieser Feststellung Sigrid Weigels („Treue, Liebe, Eros. Benjamins Lebenswissenschaft in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Helmut Hühn, Jan Urbich, Uwe Steiner (Hg.), Benjamins Wahlverwandtschaften. Zur Kritik einer programmatischen Interpretation, Berlin: Suhrkamp 2015, S. 174–194; hier: S. 174) ist nur zuzustimmen. Die Abwendung vom ‚Theologen‘ des Wahlverwandtschaften-Essay durchzieht leitmotivisch etwa den Band von Bolz (Hg.), Goethes Wahlverwandtschaften. 259Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 189.
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ontologischen Status’ des Paares bezeichnen würde, das Goethes Roman mit seiner Darstellung bestreitet.
Vom Versuch zum Fall Während Goethe in seinem Epos den Bürger und das Wirtshaus zum Zentrum des sozialen Wandels macht, geht es im Roman um die ‚Anstalten‘ des Adels. Die beiden literarischen Experimente korrelieren Epos, Bürgertum, Happyend einerseits, Roman, Adel, Scheitern andererseits; hier wie dort sind es die Leidenschaften, die die Handlung – und den sozialen Wandel – in Gang setzen. Während in Herrmann und Dorothea durch den dosierten Einschluss des Revolutionären und die topographische Abgrenzung vom gefährlichen Außen (jenseits des Rheines) ein zwar fragiles, aber neues, ‚deutsches‘ Wirtshaus in Aussicht gestellt wird, treibt in den Wahlverwandtschaften eine unabwendbare Revolution im Innern des adligen Hauses ihr Unwesen.260 Die Frage nach der Hereinnahme des Dritten stellt sich im Roman vom ersten Kapitel an, und der Erzähler unternimmt es von Anfang an, diese Hereinnahme in das Zeichen einer unguten Notwendigkeit zu stellen. Eduard und Charlotte sind beide verwitwet und haben, nachdem sie der Pflicht der adligen Vernunftehe genügt haben, ihre Jugendliebe in einer zweiten Ehe verrechtlicht. Charlotte resümiert die Bedingungen des Zustandekommens ihrer ‚Nachsommerehe‘, lässt dabei aber Vieles im Ungewissen, nicht zuletzt die Hochzeit selbst. „Wir liebten einander als junge Leute recht herzlich; wir wurden getrennt“ (W I.1, 275). Beide Partner mussten von den Eltern arrangierte Vernunftehen eingehen: Eduard mit einer älteren, reichen Frau, Charlotte mit einem gleichfalls wohlhabenden und angesehenen Mann. Ihre zweite Ehe beruht nun aber nicht auf einem spontanen, gegenseitigen Einverständnis, vielmehr hat sich Charlotte Eduard gefügt: Wir wurden wieder frei; du früher, indem dich dein Mütterchen im Besitz eines großen Vermögens ließ; ich später, eben zu der Zeit, da du von Reisen zurückkamst. […] Du drangst auf eine Verbindung; ich willigte nicht gleich: denn da wir ohngefähr von denselben Jahren sind, so bin ich als Frau wohl älter geworden, du nicht als Mann. Zuletzt wollte ich dir nicht versagen, was du für dein einziges Glück zu halten schienst. (W I.1, 275)
Charlotte willigt in die Ehe ein, obwohl sie sich zu alt fühlt und obwohl sie erwogen hatte, ihre Nichte Ottilie statt sich selbst mit Eduard zu verheiraten (W I.2, 282). Um das Projekt des zweisamen Glücks leben zu können, gibt sie Luciane, ihre Tochter aus erster Ehe, und ihre Nichte und Pflegetochter Ottilie zur Erziehung in die Pension. Rechtlich gesehen beruht die zweite Ehe auf dem Prinzip der Eheschließungsfreiheit. Der Rückblick auf die kaum ein Jahr alte neue Ehe wird durch Eduards Wunsch ausgelöst, den gerade stellungslosen Freund 260Während Hegel für Herrmann und Dorothea das Stichwort des ‚Hintergrundes‘ und des ‚Hineinspielens‘ der Revolution gegeben hat, ist die Einordnung der Funktion des Politischen in den Wahlverwandtschaften viel problematischer. Reschke spricht von einem Text über die Revolution und einem Text der Revolution (vgl. seine Diskussion über das Politische in der Einleitung von „Zeit der Umwendung“, S. 13–39). Vielleicht wäre, vorsichtiger, eher vom Text einer Revolution zu sprechen.
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Otto, den Hauptmann, auf dem Schloss aufzunehmen. So wie er Charlotte schon zur Ehe überreden musste, muss Eduard sie nun ein weiteres Mal überreden. Charlotte ist gegen die Aufnahme des Hauptmanns, da sie eine Störung ihrer Ordnung befürchtet; Eduard hingegen erhofft sich eine Beschleunigung und Neubelebung ihrer Ordnung. Der Roman beginnt mit einem Ehekrach, den Charlotte in einer „allgemeinen Bemerkung“ (W I.1, 274) als genderbedingte Kollision zweier unterschiedlicher ‚Rechte‘ andeutet: Die Männer denken mehr auf das Einzelne, auf das Gegenwärtige, und das mit Recht, weil sie zu tun, zu wirken berufen sind; die Weiber hingegen mehr auf das was im Leben zusammenhängt, und das mit gleichem Rechte, weil ihr Schicksal, das Schicksal ihrer Familien, an diesen Zusammenhang geknüpft ist, und auch gerade dieses Zusammenhängende von ihnen gefordert wird. (W I.1, 274 f.)
Wenn hier von zwei gleich gültigen Rechten die Rede ist – dem männlichen der (einzelnen) Tat und dem weiblichen des (genealogischen) Zusammenhangs –, dann stellt sich die Frage, wie diese zwei Rechte im Fall ihrer Ehe zusammenwirken und was hier als das ‚Ganze‘ und das ‚Einzelne‘ betrachtet wird. Eherechtlich verweist der Dissens über die Aufnahme des Hauptmanns auf die Frage der Ehezwecke. Beide haben sich zwar vom alten Eherecht ihrer Eltern emanzipiert, aber das neue Ziel, das sie sich gesteckt haben, ist unklar: Um Kinder scheint es angesichts Charlottes fortgeschrittenen Alters nicht mehr zu gehen. Der Romaneingang zeigt die Eheleute bei verschiedenen Tätigkeiten im Garten. Eduard propft Baumstämme, wobei ausgespart wird, welche neuen Blumen oder Früchte hervorgebracht werden sollen. Charlotte ist mit dem Bau der Mooshütte und der Neuanlage des Schlossparks beschäftigt, wobei beide uneins darüber sind, ob die Hütte nur für sie zwei oder auch noch „für einen Dritten“ oder gar „für ein Viertes“ (W I.1, 272) passend sein soll.261 In den bisherigen Vorsätzen – Müßiggang, Reise-Archivierung und Schlosserneuerung – war das Paar konsensfähig: Alles war nach dem Willen des von klein auf verzogenen Eduard gegangen, ohne Charlottes weiblichem ‚Recht‘, aufs Ganze zu denken, offenbar zu widersprechen. Nach Charlotte wollte das Paar nur sich „selbst leben“ (W I.1, 275), wobei sie – ihre eigene ‚allgemeine Bemerkung‘ über die Geschlechter zweideutig aufnehmend – „das Innere“ übernahm, Eduard hingegen „das Äußere und was ins Ganze geht“ (W I.1, 275). Aber mit ihrem Einwand gegen den Dritten fühlt sich Eduard „zum erstenmal widersprochen“ (W I.2, 279). Seine Überredungskünste führen bei Charlotte nicht zum bloßen Einverständnis, sondern zu einem „Geständnis“ (W I.2, 280), d. h. der Formulierung eines Gegen-Wunsches, nämlich dem, die im Pensionat unglückliche Pflegetochter Ottilie ihrerseits ins Schloss zu holen. So kommt es zu jenem Versuch, den die Beteiligten im weiteren Handlungsverlauf als chemischen Verwandlungsprozess thematisieren. Man könnte ihn als einen Ehereformversuch der beiden Adligen ansehen, in dem sie das Prinzip beiderseitigen Konsenses auf die Probe stellen. Obwohl nach den ersten beiden Romankapiteln noch kein justiziabler Fall vorliegt, hat man es längst mit der Darstellung eines Falls zu tun, der sehr wohl mit 261Vgl. auch Ernst Osterkamp, der ausgehend von einer Lektüre des ersten Romankapitels das Motiv der Einsamkeit verfolgt („Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Hühn (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“, S. 27–45).
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Recht zu tun hat. Denn ahnt der Leser nach Charlottes „ahndungsvoll[en]“ (W I.1, 277) Bedenken nicht auch bereits, dass der Fall dazu bestimmt ist, gnadenlos den Bach hinunter zu gehen? Der allwissende, mit einem „wir“ anhebende Erzähler stellt mit der Frage nach dem Dritten in medias res eine Szene vor Augen, die nach einer Entscheidung verlangt. Mittler, der als „Eheberater avant la lettre“262 und „eine der merkwürdigsten Gestalten der Weltliteratur“263 bezeichnet worden ist und just im zweiten Kapitel seinen ersten grotesken Auftritt hat, stellt dabei weniger eine Entscheidungshilfe als vielmehr die Wiederholung des Problems auf der Ebene der Figur dar. Die Entscheidungshilfe, die Charlotte von ihm erbittet, verweigert er mit den Worten: „Ist denn hier ein Streit? […] Glaubt Ihr, daß ich in der Welt bin, um Rat zu geben?“ (W I.2, 285) Weil noch kein Rechtsfall vorliegt, will Mittler nicht eingreifen. Im eigenen Namen vertritt er, der „früherhin Geistlicher gewesen“ (W I.2, 284) ist, die Stelle der Landeskollegien, die seit seinem scheint’s selbst erfundenen Vermittleramt „mit keinen Händeln und Prozessen“ (W I.2, 284) mehr behelligt werden. Rechtskunde studierte er, als er merkte, dass dies für sein Amt wichtiger als Theologie sei; und ein „Lotteriegewinst“ hat ihn unabhängig von der Landesgewalt gemacht. In Mittler wird der Bürger zu einem diabolischen Richter, ohne – wie noch der listige Pfarrer in Herrmann und Dorothea – Teil einer (Staats-)Kirche zu sein. Als Figur der Vermittlung, die erst dann vermitteln will, wenn die Entscheidung schon gefallen ist, verkörpert er nicht nur eine „Scheinjurisprudenz“,264 sondern auch das Darstellungsproblem jeglicher Ausdifferenzierung.265 Als er das zweite Mal im Roman auftritt und sein legendäres Plädoyer für die Unauflöslichkeit der Ehe als wesentlich ‚unbequemes‘ Recht vorbringt,266 nähert er sich den vier Hausgenossen wie
262David Wellbery, „Die Wahlverwandtschaften (1809)“, in: Lützeler, McLeod (Hg.), Goethes Erzählwerk, S. 294. 263Diederichsen, „Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, S. 539. 264Ebd. 265Vgl. hierzu Inka Mülder-Bach, „Symbolon – Diabolon. Figuren des Dritten in Goethes Roman Die Wahlverwandtschaften und Musils Novelle Die Vollendung der Liebe“, in: Gottfried Boehm, Gabriele Brandstetter, Achatz von Müller (Hg.), Figur und Figuration. Studien zu Wahrnehmung und Wissen, München: Fink 2007, S. 121–138. 266Vgl. W I.9, 338: „Wer mir den Ehstand angreift, rief er aus, wer mir durch Wort, ja durch Tat, diesen Grund aller sittlichen Gesellschaft untergräbt, der hat es mit mir zu tun; oder wenn ich ihn nicht Herr werden kann, habe ich nichts mit ihm zu tun. Die Ehe ist der Anfang und der Gipfel aller Kultur. Sie macht den Rohen mild, und der Gebildetste hat keine bessre Gelegenheit seine Milde zu beweisen. Unauflöslich muß sie sein: denn sie bringt so vieles Glück, daß alles einzelne Unglück dagegen gar nicht zu rechnen ist. Und was will man von Unglück reden? Ungeduld ist es, die den Menschen von Zeit zu Zeit anfällt, und dann beliebt er sich unglücklich zu finden. Lasse man den Augenblick vorübergehen, und man wird sich glücklich preisen, daß ein so lange Bestandenes noch besteht. Sich zu trennen gibt’s gar keinen hinlänglichen Grund. Der menschliche Zustand ist so hoch in Leiden und Freuden gesetzt, daß gar nicht berechnet werden kann, was ein Paar Gatten einander schuldig werden. Es ist eine unendliche Schuld, die nur durch die Ewigkeit abgetragen werden kann. Unbequem mag es manchmal sein, das glaub’ ich wohl, und das ist eben Recht. Sind wir nicht auch mit dem Gewissen verheiratet? das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte.“
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ein ungefähres Schema, das erst nach und nach zur Figur wird. Eduard erkennt die reitende Gestalt nicht recht und lässt sich vom Hauptmann „das Einzelne“ beschreiben, das dann zum Bild seines „Ganzen“ passt: „Die Figur kam näher und Mittler war es wirklich.“ (W I.9, 337) Der gleichzeitige Besuch des Grafen und der Baronesse, die eine außereheliche Beziehung pflegen, lässt ihn überstürzt wieder abreisen. Erst nachdem der Konfliktfall eingetreten und Eduard aufgrund seiner Leidenschaft zu Ottilie schon ausgezogen ist, taucht er wieder auf, um zu vermitteln. Eduard möchte, dass Mittler „Charlottens Einwilligung“ (W I.18, 389) in die Scheidung bewirkt. Das bringt den Ehe-Vermittler ins Stocken – „Mittler stockte“ (W I.18, 390) – ähnlich wie schon der Besuch von Graf und Baronesse, der mit einem langen Gespräch über die Ehe anhebt, die Gesellschaft in „eine Stockung“ (W I.10, 348) brachte. Wo seine juristischen Fertigkeiten gefragt wären, setzt Mittler auf den Aufschub, um im entscheidenden Moment potentiell jedes Ereignis als Recht zelebrieren zu können. Als er von Charlotte erfährt, dass sie schwanger ist, stellt er das Kind als die „beste Hoffnung“ dar, „die wir haben können“ (W I.18, 391). Mittler kommt immer nach dem Geschehen und stellt es als ‚unauflösliches‘ dar. „Er vertraute der lindernden vorüberziehenden Zeit“ (W II.15, 506); was aber nicht heißt, dass sich seine Strategie auf ein passives Aussitzen beschränkte. Vielmehr illustriert Mittler, wie in seinem ungefähren ‚Rechtsschema‘267 justiziable Fälle vom alltäglichen Fall von Leben und Tod ununterscheidbar werden. Zuverlässig ist er im letzten Kapitel, wo immer noch „kein Schritt zur Scheidung der Gatten geschehen“ (W II.18, 519) ist, wieder präsent, um diese revolutionäre Rechtsauffassung zur Darstellung zu bringen. Seine Ausführungen über den Ehestand ergänzt er nun um jene über die Schädlichkeit von Verboten, weil sie den Rechtsverstoß erst hervorbrächten. Mit seiner Kritik am sechsten Gebot – „Du sollst nicht ehebrechen“ – als „grob“ und „unanständig“ beschleunigt er den Tod Ottilies, deren „Gestalt“ sich beim Hören von Mittlers Worten „verwandelt“ (W II.18, 520 f.). Mit ihrem Tod erübrigt sich aber auch das Problem der Scheidung im Roman. Mittlers Figur stellt die Kontingenz von Rechtsordnungen dar, seien sie auch noch so konträr oder gar durch eine Revolution getrennt. Sein in dieser Hinsicht aufschlussreichster Akt im Roman ist die Taufe des Kindes Otto. Er übernimmt, ja vollendet das Amt des alten Geistlichen, der „mit einem Fuß schon im Grabe“ steht, erinnert sich seiner eigenen früheren „Amtsverrichtungen“ und gibt der Taufdarstellung eine neue Wendung, indem er beginnt, sich selbst „gegen das Ende des Akts, mit Behaglichkeit […] an die Stelle des Geistlichen zu versetzen“ (W II.8, 456 f.). In völliger Ausklammerung der problematischen Umstände, unter denen das ‚monströse‘ Kind zustande gekommen ist, preist er es mit den Worten
267Zum Schema im Verfassungsrecht als Beispiel für die Figuralität von Recht s. Fabian Steinhauer, „Figuren, Schemata, Schemen“, in: Ino Augsberg, Sophie-Charlotte Lenski (Hg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts. Annäherungen zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft, München: Fink 2012, S. 43–58.
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des alten Juden Simeon, der Christus erblickte (vgl. Lk 2, 25–35), als den neuen „Heiland dieses Hauses“ (W II.9, 458) Und lässt damit zugleich die alte Geistlichkeit in den Tod fahren: „Und Sie, mein würdiger Altvater, können nunmehr mit Simeon sprechen: Herr laß deinen Diener in Frieden fahren; denn meine Augen haben den Heiland dieses Hauses gesehen.“ (W II.9, 458) Mittler zitiert die Worte, um Eduards und Charlottes ‚restaurierte‘ Ehe als neue Heilsordnung zu preisen, und wendet dabei ein Zitat an, dessen Rhetorizität im politischen Kontext bereits entlarvt war. Es ist Teil jenes dichten intertextuellen Geflechts der Wahlverwandtschaften, das den privaten Ehereformversuch immer wieder vor den Hintergrund revolutionärer Gesellschaftsveränderung stellt.268 Insbesondere Edmund Burke entwaffnete in den Reflections on the Revolution in France (1790) seinen revolutionsfreundlichen Gegner Richard Price dadurch, dass er ihm vorhielt, die von ihm zitierten biblischen Worte, mit denen er die Revolution messianisch überhöhte, doch nur jenem Vorläufer gestohlen zu haben, der schon 150 Jahre zuvor mit demselben Nunc Dimittis den Prozess gegen Karl I. rechtfertigen wollte. Das vermeintlich erlösende Kind der Revolution desavouiert Burke als monströse facies hippocratica. Der Prozess gegen Karl I. wiederum wird von Ottilie in Erinnerung gerufen, um ihre (nach Charlottes Ansicht unbotmäßige) Dienstfertigkeit – als gleichsam unwillkürliche Reaktion auf revolutionäre Entmachtung – zu rechtfertigen. Wenn der Romanerzähler Mittler die Zwittergestalt Ottos, die Ehe und Bruch buchstäblich verkörpert, „mit Behaglichkeit“ als neuen Heiland des Hauses verkünden lässt, ebnet er nicht nur den Unterschied zwischen Recht und Rechtsverstoß ein und bringt den binären Code zwischen Recht und Unrecht ins Schwanken.269 Er mimt das Recht, er stellt es in seinen Worten aus. Als „hinfällige Figur des Rechts“270 zeigt er, wie jedes Ereignis als normativ dargestellt werden kann (die Geburt Ottos als biblische Erfüllung), aber auch, wie jede Norm als falsche Norm entlarvt werden kann (sei es das biblische Ehebruch- oder gar das Tötungsverbot). Die Beurteilung der Wirkung(en) dieser Rechtsmimesis Mittlers in den Wahlverwandtschaften hängt davon ab, was für ein Verständnis von Ehe, Eherecht und Recht man hat. Charlotte jedenfalls ist „unzufrieden“ „über Mittlern“: „Sein rasches Wesen brachte manches Gute hervor, aber seine Übereilung war Schuld an manchem Mißlingen. Niemand war abhängiger von augenblicklich vorgefaßten Meinungen als er.“ (W I.18, 392) Wie der Romanerzähler die Leser mit seinem Romanauftakt zwischen Versuch und Fall in dem destabilisiert, was man das Rechtsgefühl nennen könnte, so destabilisiert Mittler seine Figuren in diesem Gefühl. Folgerichtig mündet sein Ehestands-Monolog in die Feststellung einer essentiellen (Un-)Bequemlichkeit nicht nur der Ehe, sondern des menschlichen Daseins schlechthin: „Sind wir nicht auch mit dem Gewissen
268Vgl.
hierzu Reschke, „Zeit der Umwendung“, S. 146–161 („Mittler, revolutionsbezogen“). hierzu, mit Bezug auf Luhmanns Rechtsbegriff, nach dem das Recht Konflikte vermeidet, indem es sie antizipiert, Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 328 f. 270Joseph Vogl, „Mittler und Lenker: Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Ders. (Hg.), Poetologien des Wissens um 1800, München: Fink 1999, S. 145–160; hier: S. 150. 269Vgl.
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verheiratet? das wir oft gerne los sein möchten, weil es unbequemer ist als uns je ein Mann oder eine Frau werden könnte.“ (W I.9, 338)
Eskalationen Man kann nun fragen, ob aus dem Versuch im Romanverlauf eigentlich ein justiziabler Fall wird. Dabei spielt die für den Roman so typische, gegenläufige Bewegung von Haupthandlung und Nebenhandlung(en), die auch als Oppositionspaar von Erzählen und Wissen, narrativer Dezentrierung und Rahmung beschrieben worden ist, eine zentrale Rolle.271 Das kuriose Ergebnis ist, dass eine solche Justiziabilität auf der Ebene der Ehe aus- bzw. nur latent bleibt, während sie in anderen Rechtsgebieten wie dem Staatsrecht, Strafrecht und öffentlichen Recht immer virulenter wird.272 Werfen wir, um dies aufzuzeigen, noch einmal einen Blick auf den Handlungsverlauf: Der Hauptmann kommt (W I.3, 287) und beginnt, mit seinem kameralistischen Wissen Eduards Gut zu vermessen und neu zu ordnen. Nachdem Charlotte durch Briefe aus der Pension erfährt, dass Ottilie ihre Prüfungen nicht bestanden hat, wird auch sie aufgenommen. Und auch Ottilie nimmt Einfluss auf die Ordnung des Hauses. Durch ihre dienstbeflissene Art wirkt sie ausgleichend und bringt eine „angenehme Bewegung“ (W I.6, 314) in die Hausgesellschaft. Während sich die baulichen und landschaftlichen Veränderungen nun gemeinschaftlich auf den Bau eines Lusthauses konzentrieren, wird aus den „wechselseitigen Neigungen“ der vier Protagonisten eine ‚gärende‘ „Leidenschaft“ (W I.7, 321). Die Grundsteinlegung des neuen Lusthauses steht symbolisch bereits unter der Ägide von Ottilie, zu der sich Eduard immer mehr hingezogen fühlt. Als der befreundete Graf und die Baronesse auf Besuch sind, kommt es zu jener unerhörten Liebesnacht zwischen Eduard und Charlotte, in der „die Einbildungskraft ihre Rechte über das Wirkliche“ behauptet und die Ehegatten, entbrannt in überkreuzter Leidenschaft zu den aufgenommenen Freunden, ein Kind zeugen, Otto, der dann auch groteskerweise die Gesichtszüge von Ottilie und dem Hauptmann tragen wird. Für Eduard wird das Kind, das gegen die leiblichen Eltern zeugt, zum Produkt eines „doppelten Ehbruch[es]“ (W II.13, 492) und stärksten Argument für seine Trennung von Charlotte und Verbindung mit Ottilie. Ein ‚Recht der Einbildungskraft‘, ein „ungeheures Recht“ der „Gegenwart“, das den Beischlaf am Tage für Eduard zu einem „Verbrechen“ macht (vgl. W I.12, 353), sowie eine Liebe, die „allein Recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr“ zunichtemacht, spielen in dieser zentralen Romanszene auf engstem Raum zusammen (vgl. W I.12, 354). In verschlechterter Stimmung findet das Richtfest für das Lusthaus statt, bei dem es zu einem Dammbruch 271Vgl. hierzu insb. den Beitrag von Gerhard Neumann, „Wunderliche Nachbarskinder. Zur Instanzierung von Wissen und Erzählen in Goethes Wahlverwandtschaften“, in: Brandstetter (Hg.), Erzählen und Wissen, S. 15–40. 272Vgl. Diederichsen, „Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, S. 544. Er bezeichnet die „Jurisprudenz“ als zentrale „Symbolik“ des Romans.
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der zusammengelegten Seen, zum Unfall eines fast ertrinkenden Jungen und zu Eduards Liebeserklärung an Ottilie kommt. Der Hauptmann verlässt das Gut, um die durch den Grafen vermittelte neue Stelle anzutreten; Eduard zieht in den Krieg, wobei im Dunkeln bleibt, für und gegen wen er dabei kämpft. Am Ende des ersten Romanteils steht die Nachricht von Charlottes Schwangerschaft, am Anfang des zweiten Teils ein neuerlicher Aufschub der Handlung durch die Ankunft weiterer dritter Figuren auf dem nunmehr männerlosen Schloss: des Architekten, Charlottes Tochter Luciane, des Gehülfen aus dem Mädchenpensionat. Bis Otto (im achten Kapitel des zweiten Teils) geboren wird, führen ihre Besuche zu Unternehmungen und Erörterungen, welche jeweils von den aphoristischen Tagebucheinträgen Ottilies begleitet werden, die der Erzähler in die Romankapitel einfügt (vgl. W II.2; II.3; II.4; II.5; II.7). Alle drei – der Architekt, die leibliche Tochter und der Pädagoge – prägen, wie schon der Hauptmann und Ottilie, das Hauswesen mit neuen Tendenzen und Entwicklungen. Während sich unter dem Einfluss des Architekten die Gutsveränderungen zum Ausbau jener Seitenkapelle der Kirche hin verschieben, in der am Ende Otto, Eduard und Ottilie begraben werden, unterbricht Lucianes Antrittsbesuch mit ihrem Bräutigam „wie ein brennender Kometenkern“ (W II.4, 413) die Veränderungen an Haus und Anwesen. Der Gehülfe, der den Architekten nach Weihnachten ablöst, möchte, unterstützt vom Grafen und der Baronesse, seine ehemalige Schülerin Ottilie heiraten, um mit ihr gemeinsam den Vorstand der Mädchenpension zu übernehmen. Otto wird geboren, seine Sorge übernimmt „vorzüglich“ (W II.9, 461) Ottilie, und die beiden Frauen ziehen in das nun fertiggestellte Lusthaus ein. Der Frühling stellt sich ein, in der Hausherrin Charlotte erwacht eine neue „Lust zu bauen und zu schaffen“ (W II.10, 465). Ein neuer Gast, der rastlose englische Lord, der ganz an den Milord Édouard aus Rousseaus Nouvelle Heloïse erinnert, trifft mit einem Begleiter ein und erinnert die Frauen mit der Geschichte der wunderlichen Nachbarskindern peinlich an die abwesenden Männer. Der vom Krieg zurückgekehrte Eduard will unterdessen den (inzwischen zum Major beförderten) Freund zu Charlotte schicken, um deren Einwilligung in die Scheidung zu erwirken (W II.14, 496–499), ein Vorhaben, das durch das Ertrinken Ottos durchkreuzt wird. Ottilie lässt das Kind ins Wasser fallen. Nach diesem ungeheuren „Fall“ (W II.14, 497) willigt Charlotte endlich in die Scheidung ein, doch für die von Schuldgefühlen geplagte Ottilie ist bereits klar: „Eduardens werd’ ich nie!“ (W II.14, 500) Otto wird „als das erste Opfer eines ahndungsvollen Verhängnisses“ (W II.15, 501) in der Kapelle bestattet. Ottilies Entschluss, als Pensionsvorsteherin tätig Buße zu tun, erfährt durch ein letztes Zusammentreffen mit Eduard eine tödliche Wendung. Sie schweigt und hungert sich zu Tode und wird, wie Otto und wie Eduard, der ihr dilettantisch hinterherstirbt, im Gewölbe der Kapelle zu Grabe gelegt. Zwei eherechtliche Aspekte, auf die ich im folgenden Abschnitt zurückkomme, bleiben in Suspense: zum einen die Frage, ob ein Ehebruch stattgefunden hat, zum anderen die Frage, was es mit der Scheidung auf sich hat. Zunächst aber ist festzuhalten, wie dieser Suspense des Eherechtlichen weitere Rechtsfragen und Rechtsverstöße hervortreibt und wie das in Frage stehende Herrschaftsrecht des Landadelshauses zu einer Metapher für die Auseinandersetzung mit der politischen Ordnung von Recht und Herrschaft wird. Während Charlotte
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insbesondere ins Friedhofsrecht involviert wird, geht es bei Eduard um ein verwaltungswissenschaftlich vermitteltes Staatsrecht. Und während der Hauptmann aus dem Verdacht eines Rechtsbruches fein herausgehalten wird, steuert Ottilie auf das tragische Vergehen einer fahrlässigen Tötung zu. Zuerst ist das Rechtsinstitut der Bestattung zu nennen, das den Roman strukturell einrahmt.273 Bereits im zweiten Kapitel des ersten Teils – beim ersten Besuch Mittlers, dem Charlotte und Eduard „über den Kirchhof“ entgegengehen – erfährt der Leser, dass Charlotte den Friedhof in einen „angenehme[n] Raum“ (W I.2, 283) umgestaltet hat: Die Grabdenkmäler sind entfernt und an der Kirchenmauer „[d]en Jahren nach“ (W I.2, 283) in einer Reihe wieder aufgerichtet worden. Mit welchem Recht sie das tut, erklärt der Erzähler nicht. Nach dem Preußischen Landrecht sind die Kirchfriedhöfe Eigentum der Kirchengesellschaften.274 In Paragraph 764 heißt es: „Die Anlegung neuer Begräbnißplätze soll nur aus erheblichen Ursachen, und nur unter Einwilligung der geistlichen Obern, so wie der Polizeyvorgesetzten des Orts, statt finden.“ Selbst wenn die Verordnungen in dem fiktiven mitteldeutschen Fürstentum des Romans etwas anders gewesen sein sollten, wird zu Beginn des zweiten Romanteils doch deutlich, dass Charlotte vermutlich nicht alle notwendigen Einwilligungen für ihre Friedhofsreform eingeholt hat. Denn hier macht „ein junger Rechtsgelehrter“ die Rechte einer benachbarten Familie geltend. Die Kirchenstiftung, für die einst ein Familiengrabmal eingerichtet worden war, soll widerrufen werden, „weil die Bedingung unter welcher dieses bisher geschehen, einseitig aufgehoben und auf alle Vorstellungen und Widerreden nicht geachtet worden“ (W II.1, 396). Wie der Fall ausgeht, erfährt man nicht. Stattdessen entspinnt sich zwischen dem Architekten und Charlotte die Diskussion über eine angemessene Gedächtniskultur, die Charlotte am Ende auf eine Beziehungskultur zwischen den Lebenden – „Völker gegen ihre trefflichsten Fürsten, Nationen gegen ihre vorzüglichsten Menschen“ (W II.2, 399) eingeschlossen – überträgt und ausweitet. Gleichzeitig kann man spekulieren, dass die Überschreitung der Friedhofsordnung mit der Grablege Ottos, Ottilies und Eduards am Romanschluss fortgesetzt wird, legt doch der Paragraph 184 des Preußischen Landgesetzes ausdrücklich fest: „In den Kirchen, und in bewohnten Gegenden der Städte, sollen keine Leichen beerdigt werden.“275 Hauptakteurin dieser Bestattungsmaßnahmen ist Charlotte als weibliche Vertreterin des alten Adels. Mit der Bestattung Ottos und der „Liebenden“ (W I.18, 529) in dem Sakralbau verwaltet sie den genealogischen Zusammen-
273Vgl.
Diederichsen, „Goethes Wahlverwandtschaften – auch ein juristischer Roman?“, S. 143; ders., Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, S. 544, Fußn. 74. 274Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Zweyter Teil, Eilfter Titel, § 183–190 und § 761–765, S. 549 und S. 568. 275Ebd., § 184, S. 549.
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hang des Adels nach dem Tode, der sich zugleich auf eine seltsame Kleinfamilie verschoben hat, in der Ottilie, die Waise und Besitzlose, mit der biologischen Mutter Charlotte konkurriert.276 Dass Charlottes Maßnahmen nicht nur rechtlich fragwürdig, sondern auch fragil sind und unter weiterem Überschreitungsverdacht stehen, zeigt die Tatsache, dass sie die Exklusivität des Familiengrabes – wie im Fall der benachbarten Adelsfamilie – ausgerechnet durch „ansehnliche Stiftungen“ „für Kirche und Schule, für den Geistlichen und den Schullehrer“ (W II.18, 529) erwirkt. Denkt man ferner noch an den Architekten, der beim Umbau der Kapelle mit einer „Sammlung von mancherlei Waffen und Gerätschaften“ aufwartet, die in diversen Gräbern der Vergangenheit gefunden worden waren und nun baukulturell genutzt werden sollen, so möchten einem bei der Verewigung der toten Liebesfamilie wahrlich Zweifel kommen. Charlottes problematischen „Anstalten“ im Bereich der Friedhofsordnung, die den kirchlichen Gesellschaften untersteht, korrespondiert Eduards Verwicklung als Gutsherr ins sowohl private als auch öffentliche Recht. Bereits im ersten Romankapitel legt Eduard dar, dass er den Hauptmann nicht zuletzt aufgrund seines administrativen Sachverstands bei sich haben will. Für die Umsetzung von Charlottes ‚bedenklichem‘ Plan, „die Güter künftig [selbst] zu verwalten, sobald die Jahre der gegenwärtigen Pächter verflossen sind“ (W I.1, 274), sei man, so Eduard, auf einen Fachmann angewiesen. Der Hauptmann wirkt dann auch, wie schon mehrfach festgestellt worden ist, modernisierend auf die Gutsherrschaft ein.277 Eduard müsse Leben und Geschäft trennen, meint der Hauptmann; ein Rat, der bei Eduard nicht ankommt und spätestens mit Ottilies Ankunft ganz verhallt. Nicht zufällig stellt der Rechtshistoriker Uwe Diederichsen im sechsten Kapitel des ersten Romanteils die Koinzidenz von Ottilies Ankunft und einer „verborgene[n] Jurisprudenz“ fest.278 Wo Ottilie ihre außerordentliche Dienst-
276Vgl. hierzu auch Marko Kreutzmann, „Goethe als Gesellschaftskritiker. Zur Symbolisierung sozialen Wandels in den Wahlverwandtschaften“, in: Hühn (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“, S. 327–347; insb. S. 337: „In Goethes Roman ist es, ähnlich wie bei Adam Müller, stets das weibliche Element, welches die Kontinuität der adeligen Genealogie verbürgt.“ 277Vgl. Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 270 f., der den Offizier Friedrich Eberhard von Rochow, der die Einführung von Volksschulen und die Einrichtung von Armenanstalten vorantrieb, als Vorbild anführt. In der überarbeiteten Version des Textes (in: Ders., Dichter · Mutter · Kind, S. 119–148) führt er als besseres Modell Carl Ferdinand Freiherr von Müffling an: Müffling war ehemaliger preußischer Generalfeldmarschall, danach im Dienst Carl Augusts und maßgeblich beteiligt an dessen Reformpolitik und dessen, zeitgleich mit Goethes Roman (1809) entstehender, Constitution der vereinigten Landschaft der herzoglich Weimar- und Eisenachischen Lande. Zu Müffling als Vorbild für den Hauptmann vgl. außerdem Müller, „Gesellschaftlicher Umbruch und Reformpolitik“, S. 349–365. Eine Diskussion beider möglicher Vorbilder findet sich bei Schwartz, After Jena, S. 86–91. 278Die Analyse von Diederichsen, „Goethes Wahlverwandtschaften – auch ein juristischer Roman?“ beschränkt sich exemplarisch auf das Kapitel I.6 des Romans.
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barkeit mit der ihr zu Ohr gekommenen Anekdote über Karl I. von England rechtfertigt, dessen vom Stöckchen gefallenen Knopf, als er vor Gericht stand, niemand aufheben wollte, da schreiten Eduard und der Hauptmann das Gutsterrain ab und überlegen, wie dieses zu einer „ins Große gehende[n] Anstalt“ (W I.6, 316) verbessert werden könnte. Damit parallelisiert Goethe in diesem Kapitel Staats- und Verwaltungsrechtliches. Der Weg zwischen Schloss und Dorf soll begradigt werden. Gegen das Hochwasser des Baches sollen künftig nicht mehr die bunten Einzelmaßnahmen der Dorfbewohner schützen, sondern eine einheitliche „Mauer im Halbkreis“, die zusammen mit dem neuen Weg den „schönsten Raum“ (W I.6, 316) herstellen würde. Während der Feudalherr Eduard sich zur Umsetzung des Bauvorhabens fronrechtlich auf die Pflicht der Untertanen bezieht, Hand- und Spanndienste zu leisten – „[w]ollten die Leute mit Hand anlegen, so würde kein großer Zuschuß nötig sein“ (W I.6, 316) –, hält der Hauptmann, unterstützt von Charlotte, Eduard zu einem moderneren, ökonomischen und kameralistischen Wirtschaften an, bei dem „eins ins andre greift“ (W I.6, 319). So sollen die Steine, die man für die Mauer braucht, aus dem Ausbau von Charlottes unbequemem Weg zur Mooshütte hoch gewonnen werden. Der Hauptmann versucht, den willkürlich herrschenden und nur zu befehlen gewohnten Altadligen Eduard gewissermaßen verwaltungsrechtlich zu mäßigen. Eduards Herrschaft kann sich nicht mehr auf Gottes Gnaden, allenfalls noch auf Liebes Gnaden stützen. „Ich mag mit Bürgern und Bauern nichts zu tun haben, wenn ich ihnen nicht geradezu befehlen kann“, stellt er fest (W I.6, 316). Von einem Wolmar und einer Julie, die ihre Untergebenen durch Emotionalisierung binden, kann bei Eduard nicht die Rede sein. Selbst der Hauptmann stimmt ihm darin zu, dass letztlich das „eigentlich gemeinsame Gute […] durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden“ (W I.6, 317) muss. Was den Damm- und Wegebau angeht, hat Eduard aber nur noch ein bereits umstrittenes Guts- und Patrimonialrecht auf seiner Seite.279 Und auch im Bereich des Armenwesens, das im gleichen Kapitel zu Sprache kommt, muss der Hauptmann ihn mit seinen neuen Pflichten vertraut machen (ohne freilich direkt Bezug auf die Gesetzgebung zu nehmen). Eduard wehrt ungehalten einen Bettler ab, der daraufhin sein Recht als Bettler einklagt, nach dem er „wie jeder andere unter dem Schutze Gottes und der Obrigkeit stehe“ (W I.6, 317). Auf den Vorschlag des Hauptmanns hin richtet man unverzüglich und unter Einbeziehung der „ländliche[n] Polizei“ (W I.6, 317) an beiden Enden des Dorfes eine auf einem Fonds beruhende Armenkasse ein. Das aber entspricht nur den (bereits unter der Herzogin Anna Amalia) eingeführten Rechtsvorschriften, durch die Stadt und Dorf zur Armenpflege verpflichtet wurden.280 Über die (haus-)wirtschaftliche Tätigkeit nähern sich Charlotte und
279Mehr rechtliche Details dazu bei Diederichsen, „Goethes Wahlverwandtschaften – auch ein juristischer Roman?“, S. 149, Fußn. 22. 280Vgl. etwa Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Zweyter Teil, Neunzehnter Titel, „Von Armenanstalten, und anderen milden Stiftungen“, S. 663 ff.; ferner: Diederichsen, „Goethes Wahlverwandtschaften – auch ein juristischer Roman?“, S. 146–149.
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der Hauptmann an; so sah es bereits Goethes Schema für das sechste Kapitel vor: „Ottilie kommt. / Die beiden Frauen schließen sich aneinander. / Die beiden Männer handeln immerfort gemeinsam. / Größeres Parkwesen in Bewegung gebracht. / Dadurch Annäherung Charlottens zum Hauptmann.“281 Charlotte ist überdies diejenige, die entgegen der traditionellen Rollenverteilung die Finanzen verwaltet, weil das Haushalten Eduards nicht ist (vgl. W I.6, 319). So geht die Gutsverwaltung mehr und mehr in Charlottes und des Hauptmanns Hände und in ein „wechselseitiges Wohlwollen“ (W I.6, 319) der beiden über. Zwischen ihnen entsteht eine Art von Geschäftsbund. Trotzdem gerät, nachdem Eduards Leidenschaft zu Ottilie entbrannt ist, das Gut zunehmend „under financial stress“,282 was Eduard aber kaum kümmert, da sich das Ziel seines Begehrens komplett auf Ottilie – die Besitzlose – verlagert. Um den Bau des Lusthauses zu finanzieren, beschließt man, das „Vorwerk“ (ein dem Schloss zugehöriges kleines Gut) zu verkaufen. Der Hauptmann hätte es lieber nur verpachtet, aber Eduard will, dass es verkauft und von den Raten der Lusthausbau finanziert wird (vgl. W I.7, 324 f.). Für seine Begriffe schreiten die Bauarbeiten immer noch zu langsam voran; es ist eine jener Stellen, an denen der Roman ins dramatische Präsens springt: „In Eduards Gesinnungen, wie in seinen Handlungen ist kein Maß mehr. Das Bewußtsein zu lieben und geliebt zu werden treibt ihn ins Unendliche.“ (W I.13, 360) So kommt es zu weiteren rechtlich einschneidenden Konsequenzen. Es wird ein Kredit aufgenommen, der mit den Zahlungsraten vom verkauften Vorwerk finanziert werden soll. Dieses „ließ sich“, so fügt der Roman lakonisch hinzu, „fast ohne Verlust, durch Zession der Gerechtsame tun“ (W I.13, 360). Was Goethe hier in Juristensprache wie beiläufig erwähnt, betrifft das Anwesen in seinen Grundrechten. Die Gerechtsame sind die mit der adligen Grundherrschaft verbundenen Eigentums- und Herrschaftsrechte.283 D. h. dass Eduards Gut erst durch die Abtretung von gutsherrlichen Vorrechten kreditwürdig wird. Hierfür wird ein spezieller Tauschvertrag – Geld gegen Rechte – abgeschlossen, der in der Rechtssprache als Cession bezeichnet wird.284 Eduard, von dem es im Roman heißt, dass er als „das einzige, verzogene Kind reicher Eltern“ es nicht gewohnt war, „[s]ich etwas zu versagen“ (W I.2, 278), verzichtet – gegen die Etymologie seines Namens von ahd. ‚ōt‘ für ‚Besitz‘285 – auf
281Vgl.
das Schema zit. in: Goethe, Werther. Wahlverwandtschaften. Kleine Prosa. Epen, hg. Wiethölter, S. 975. 282Schwartz, After Jena, S. 68. 283Vgl. den kurzen Hinweis bei Kreutzmann, „Goethe als Gesellschaftskritiker“, S. 343. 284Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Erster Theil, Eilfter Titel, § 377, S. 141: „Die Handlung selbst, wodurch das abzutretende Recht dem Andern wirklich übertragen wird, wird Cession genannt.“ 285Vgl. Wolf Kittler, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 230.
292
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seine Adelsrechte. Der Verzicht geht bis zum Bruch mit der Familiengenealogie, und am Ende des ersten Romanteils, kurz bevor Eduard in den Krieg zieht, setzt er Ottilie als Gutserbin ein: „Mit allen Förmlichkeiten setzte er sein Testament auf: es war ihm eine süße Empfindung, Ottilien das Gut vermachen zu können. Für Charlotten, für das Ungeborne, für den Hauptmann, für seine Dienerschaft war gesorgt.“ (W I.18, 392) Ob das nur in einem Satz erwähnte Testament formal und inhaltlich Rechtsgültigkeit beanspruchen kann, ist schwer zu entscheiden.286 Kann er das mit dem Abtritt von adligen Privilegien bereits ‚verbürgerlichte‘ Gut einfach Ottilie vermachen, obwohl er mit Charlotte (noch) verheiratet ist und sich gerade ein männlicher Nachfahre ankündigt? Während das Erbrecht im Römischen Recht und auch im napoleonischen Code civil auf dem Prinzip der Testierfreiheit – der freien Bestimmbarkeit der Erben – beruht, herrscht im deutschen Recht die blutsverwandtschaftliche Sukzession ab intestat. Mit der Testierfreiheit, einer Vererb- und Verkaufbarkeit von Land, sollte die Macht des Besitzadels zugunsten bürgerlicher Freiheiten eingeschränkt werden. Für das sächsische Erbrecht gilt: Obgleich jedem Erblasser die Wahl seiner Erben freisteht, so findet doch in sofern eine Einschränkung Statt [sic], daß er die nächsten Blutsverwandten ohne hinreichenden Grund nicht gänzlich ausschließen kann. Die Einsetzung dieser Personen wenigstens in einen Theil der Erbschaft wird, im Gegensatze der eben abgehandelten willkührlichen Einsetzung, die notwendige, der zu hinterlassene Antheil der Pflichttheil, und der dazu Berechtigte Pflichttheil- oder Notherbe genannt.287
Der Hinweis im Roman darauf, dass für Charlotte und das Ungeborene gesorgt worden sei, könnte zwar bedeuten, dass Eduards Testament im Rahmen erbrechtlicher Vorschriften ist. Aber trotzdem bleibt die Enterbung des leiblichen Kindes rechtlich zweifelhaft. Sie lässt vermuten, dass mit Eduards „Liebesdespotismus“288 und mit seinem Testament eine metaphorische Reflexion über die Ablösbarkeit und Austauschbarkeit von verschiedenen (Erb-)Rechtsordnungen intendiert ist. Man hat Eduard über den von Ottilie aufgerufenen Karl I. mit dem Typus des absolutistischen Herrschers in Verbindung gebracht. Aber nicht nur seine Erbpolitik zeigt, dass sich der ‚Absolutismus‘ in seiner Figur mit dem Moment eines ‚revolutionären‘, napoleonischen Vatermordes verbindet.289 Das wird bereits am Romananfang klar, wo Eduard mit dem Pfropfen beschäftigt ist, das Neues aus Altem hervorbringen soll. Ferner zeigt sich der Bruch mit dem väterlichen Erbe auch in den „Pappeln und Platanen“, die Eduards Vater aus dem Schlossgarten
286Auf Uwe Diederichsen kann man sich in diesem Punkt nicht stützen, weil er die erbrechtliche Frage, obwohl er auf wirklich viele Rechtsbereiche eingeht, leider nicht stellt. 287Adolph Karl Heinrich von Hartitzsch, Darstellung des im Königreiche Sachsen geltenden Erbrechts, Leipzig: Gerig’sche Buchhandlung 1830, S. 47. 288Vgl. Peter von Matt, Liebesverrat. Die Treulosen in der Literatur, München: Hanser 1989. 289Zum Vatermörder-Motiv ausführlich das erste ‚Eduard‘-Kapitel in Reschke, „Zeit der Umwendung“, S. 41–73.
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entfernen ließ und die Eduard „rettete“, indem er sie selbst ans Ufer des mittleren Teichs umpflanzte (W I.3, 289). Im Zuge der Vorbereitungen zum Richtfest darf Eduard noch „das wunderbarste Zusammentreffen“ dieser „Baumpflanzung“ mit dem „Jahr von Ottiliens Geburt“ feststellen (W I.14, 367). Aber spätestens der Dammbruch beim Richtfest zeigt, dass es sich um wahrlich unglückliche Revolutionsbäume handelt, löst sich der Damm „unter dem Drängen und Treten der immer zunehmenden Menge“ doch ausgerechnet „unter den Platanen“ (W I.15, 369). Charlottes Verstoß gegen die Friedhofsordnung und Eduards rechtlich suspektes Testament sind aber nichts gegen den Rechtsverstoß, auf den Ottilie zusteuert. Goethe beschreibe, so Uwe Diederichsen, „das Unglück auf dem See, bei dem Eduards und Charlottes Kind ertrank, mit juristischer Akribie als fahrlässige Tötung“, und gestalte es damit zu einer „manifesten Straftat“290 aus. Der Kindstod fällt zeitlich mit Eduards Rückkehr aus dem Krieg zusammen.291 Ottilie, die „anmutige Penserosa“, die Otto „eine andre Art von Mutter“ (W II.11, 482) geworden ist, wird am Teich von Eduard überrascht, wo es das erste Mal zum Austausch von „entschiedene[n], freie[n] Küsse[n]“ kommt (W II.13, 493). Weil es spät geworden ist und Charlotte sie und das Kind zu Hause erwartet, besteigt sie mit dem Kind den Kahn, um den Weg zum Lusthaus zurück abzukürzen: Sie springt in den Kahn, ergreift das Ruder und stößt ab. Sie muß Gewalt brauchen, sie wiederholt den Stoß, der Kahn schwankt und gleitet eine Strecke Seewärts. Auf dem linken Arme das Kind, in der linken Hand das Buch, in der rechten das Ruder, schwankt auch sie und fällt in den Kahn. Das Ruder entfährt ihr, nach der einen Seite, und wie sie sich erhalten will, Kind und Buch, nach der andern, alles ins Wasser. Sie ergreift noch des Kindes Gewand; aber ihre unbequeme Lage hindert sie selbst am Aufstehen. Die freie rechte Hand ist nicht hinreichend sich umzuwenden, sich aufzurichten; endlich gelingt’s, sie zieht das Kind aus dem Wasser, aber seine Augen sind geschlossen, es hat aufgehört zu atmen. (W II.13, 494)
So das Protokoll292 des Erzählers, ein nicht nur realistisches, sondern auch ikonographisch aufgeladenes Protokoll. Denn Ottilie mit Kind und Buch stellt natürlich eine entstellte Madonnenfigur dar. Während Maria mit dem Kind – normalerweise in der rechten Hand – und dem Buch – normalerweise in der linken Hand – in
290Diederichsen,
„Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, S. 542 f. den ersten Satz im zwölften Kapitel des zweiten Teils: „Der Hauptzweck des Feldzugs war erreicht, und Eduard mit Ehrenzeichen geschmückt, rühmlich entlassen.“ (W II.12, 483). Der ‚Nebenzweck‘ des Krieges bleibt freilich doppeldeutig. Wenige Zeilen später heißt es aus Eduards Mund an die Adresse des Majors: „Du […] hast längst begriffen, daß sie [Ottilie; Anm. D.S.] es ist, die mich in diesen Feldzug gestürzt hat. […] Ottilie soll der Preis sein, um den ich kämpfe; sie soll es sein, die ich hinter jeder feindlichen Schlachtordnung, in jeder Verschanzung, in jeder belagerten Festung zu gewinnen, zu erobern hoffe.“ (W II.12, 483 und 484) 292Vgl. zu dem Begriff auch Friedrich Kittler: „Der Roman ist das Protokoll einer Nötigung nach Plan und Neigung, Beamtenethos und Mütterlichkeit, die über dem Grab eines Barons ihren stummen Sieg feiert. Der Protokollant aber feiert nicht mit.“ („Ottilie Hauptmann“, S. 271.) 291Vgl.
294
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der klassischen Ikonographie eine Vermittlungsfigur für die Botschaft des christlichen Erlösers darstellt, ist diese Bedeutung bei Ottilie schon dadurch entstellt, dass es sich bei dem Buch, in dem sie gelesen hat, um eines von denen handelt, „die ein zartes Gemüt an sich ziehen und nicht wieder los lassen“ (W II.13, 491). Unversehens denkt man an Rousseaus Roman Nouvelle Héloïse, den Ottilie in diesem Moment nicht nur liest, sondern unbewusst reinszeniert. Schon bevor Eduard auftaucht, ist sie von der verführerischen Lektüre abgelenkt und unaufmerksam. Ihre Schuld an dem ‚Unfall‘ wird umso stärker unterstrichen, als dieser mit dem Dammbruch beim Richtfest kontrastiert, bei dem der Hauptmann just durch vorsorgliche Maßnahmen und persönlichen Einsatz einem ins Wasser gefallenen Knaben das Leben retten konnte. Unvorsichtigkeit und unerlaubtes Verhalten sind die beiden strafrechtsdogmatischen Kriterien, die den Tatbestand der fahrlässigen Tötung bestimmen.293 Ottilies Unvorsichtigkeit ist durch die vorausgehende Lektüre- und Liebesszene bedingt, von der ihr noch das Herz klopft, die Füße schwanken und die Sinne „zu vergehen drohn“ (W II.13, 494). Buch und Kind hält sie bezeichnenderweise beide in der linken Hand, das Ruder in der rechten, und am Ende fällt „alles“ ins Wasser. Obwohl der Begleiter des englischen Lord Ottilie als „schöne[ ] Schifferin“ (W II.11, 480) bezeichnet, hatte Charlotte sie offenbar ausdrücklich davor gewarnt, mit dem Kind in den Kahn zu steigen. Wenige Kapitel zuvor im Roman heißt es von Charlotte, dass sie „deshalb einige Besorgnis“ (W II.10, 465) umtreibt. Wenn Ottilie trotzdem den Weg übers Wasser nehmen will, nur um pünktlich zum Abendessen zurück zu sein, bewegt sie sich juristisch auf buchstäblich verbotenem Terrain und macht sich der ungewollten, fahrlässigen Tötung schuldig.294 Die „andre Art von Mutter“ Ottilie hat nicht nur keinen Sinn für das Kind, das sie auf dem Arm hält, sie tötet es sogar. Vor einem realistischen Erwartungshorizont müsste das ‚chemische Experiment‘ nun eigentlich in ein strafrechtliches Ermittlungsverfahren übergehen, müsste ein ‚echter‘ Vertreter der Rechtspflege spätestens hier einmal auftauchen. Charlotte hatte bereits gegen den vermeintlich wahlverwandtschaftlichen Doppeltausch der Elemente in der Gleichnisrede ihr Veto eingelegt und Naturnotwendigkeit von Wahl geschieden wissen wollen, denn „Gelegenheit macht Verhältnisse wie sie Diebe macht“ (W I.4, 304). An unwillentliche Mörder(innen) mochte sie in dem Moment sicher noch nicht gedacht haben, aber mit ihrer Bemerkung antizipiert sie eine Logik der Rechtsübertretung, in die sie selbst bereits verstrickt ist. Obwohl die Straftat in Ottilies verbotener Handlung mit juristischem Feinsinn manifest gemacht wird, gibt es auf der Handlungsebene des Romans keine rechtsprechende
293Vgl.
Diederichsen, „Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, S. 542. zitiert diesbezüglich die Rechtsvorschrift Dig. 48, 19, 38 aus dem römischen Recht: „Demjenigen, der eine verbotene Handlung begeht, werden strafrechtlich alle Folgen zugerechnet, die das Delikt mit sich bringt […] (versanti in re illicita imputantur omnia, quae sequuntur ex delicto)“ (Detlef Liebs, Lateinische Rechtsregeln und Rechtssprichwörter, München: Beck 1982; zit. in: Diederichsen, „Die Wahlverwandtschaften als Werk des Juristen Goethe“, S. 543). 294Diederichsen
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Instanz. Stattdessen, man weiß es, eskaliert im Roman die Rede vom (tragischen) Schicksal, vom Mythos und von dämonischen Kräften.
Scheidungsverhinderung Charlottes sittliche Bedenken gegen den Inhalt der Gleichnisrede lenken die Aufmerksamkeit schon früh auf die zentrale Frage der Scheidung. Auf Eduards Einschätzung hin, dass Verhältnisse erst interessant würden, „wenn sie Scheidungen bewirken“, kritisiert sie das „traurige Wort“ und entgegnet, dass es ihrer Zeit weniger an „Scheidekünstler[n]“ als vielmehr an „Einungskünstler[n]“ bedürfe (vgl. W I.4, 303). So ist also auf das Eherecht zurückzukommen. Dabei zeigt sich, dass die hypothetische Eheschließungsfreiheit Eduards und Charlottes durch das materielle Eherecht, v. a. durch das Scheidungsrecht in Frage gestellt wird. Bereits Benjamin formulierte, dass Goethe „jene Kräfte zeigen [wollte], welche im Verfall aus ihr [der Ehe; Anm. D. S.] hervorgehn.“295 Allerdings fokussiert er seine Analyse dann nicht auf die umwegige Darstellung rechtlicher Details, sondern auf ein zerstörerisches Potential, das er in dieser Darstellung sieht. Das Scheidungsrecht des preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 ist zum „Symbol einer ‚freieren‘ Scheidungsregelung geworden“.296 Es erweiterte die sogenannten absoluten Scheidungsgründe wie Ehebruch, bösliche Verlassung, Nachstellung nach dem Leben etc., die auch das protestantische Eherecht kannte, um die unüberwindliche Abneigung, die bei gegenseitiger Einwilligung zu einer richterlichen Trennung der Ehe führen konnte. Demnach konnten kinderlose Ehen nach beiderseitigem Einverständnis geschieden werden.297 Das heißt allerdings nicht, dass das Allgemeine Landrecht so liberal wie das französische, revolutionäre Scheidungsrecht war und eine prinzipielle Scheidungsfreiheit vorsah. Dieses wurde vielmehr als unerhört empfunden. Wielands 1805 pünktlich zum Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation erscheinende Novellensammlung Das Hexameron von Rosenhain legt davon ein beredtes Zeugnis ab. Und liefert mit der zweitletzten Novelle „Freundschaft und Liebe auf der Probe“ zugleich eine der Vorlagen für Goethes Wahlverwandtschaften. Sie erzählt von zwei Ehepaaren, die einen Partnertausch ausprobieren, aber nur, um am Ende dankbar und eines Besseren belehrt wieder in die Ausgangskonstellation zurückzukehren. Schauplatz der Novelle ist die deutsche Provinz unter „Französischer 295Benjamin,
Goethes Wahlverwandtschaften, S. 130. Blasius, Ehescheidung in Deutschland 1794–1945. Scheidung und Scheidungsrecht in historischer Perspektive, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1987, S. 30. 297Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Zweyter Teil, Erster Titel, § 716: „Ganz kinderlose Ehen können auf den Grund gegenseitiger Einwilligung getrennt werden, sobald weder Leichtsinn oder Uebereilung, noch heimlicher Zwang an einer oder der andern Seite zu besorgen ist.“ – Die Spannung zwischen der ‚Ursache‘ (so die Überschrift zu den aufgeführten Scheidungsgründen) der Scheidung – „unüberwindliche Abneigung“ – und dem im Paragraphen ausgeführten „Grund gegenseitiger Einwilligung“ verweist auf die Schwierigkeit, das eheliche Verhältnis zu definieren. 296Dirk
296
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Botmäßigkeit“,298 und ausdrücklich wird auf das revolutionäre Scheidungsrecht Bezug genommen: Zu gutem Glück erschien in Frankreich um eben diese Zeit das berüchtigte Gesetz, welches die Unauflöslichkeit der Ehe aufhob, und die Scheidungen so leicht und willkürlich machte, als es der Leichtsinn und Wankelmut des lebhaftesten Volkes auf dem Erdboden nur immer wünschen konnte. Eine Menge übel zusammengejochter oder einander überdrüssiger Ehepaare eilten, was sie konnten, von dieser Freiheit Gebrauch zu machen, und die Beispiele getrennter Ehen wurden in kurzem in den größern Städten so häufig, daß die Furcht vor dem öffentlichen Urteil niemanden mehr abschrecken konnte, zu tun was sein Herz gelüstete. Diese fast täglich vorfallenden Ehescheidungen waren eine Zeit lang der beliebteste Gegenstand der Unterhaltung in Gesellschaften. Auch unsre beiden Freunde sprachen gern und öfters über das neue Gesetz; und wiewohl Mondor die Sache in einem ernsthaftern Lichte betrachtete als Raymund, so stimmte er am Ende doch immer, mit einem Seufzer, dem letztern bei, der dieses Gesetz, insofern es nur nicht zu sehr mißbraucht würde, für das heilsamste unter allen hielt, an welchen die Revolution so fruchtbar war.299 Die Novelle wird dann einen Fall schildern, in dem das Gesetz dann doch „zu sehr mißbraucht“ wurde und der zeigt, dass die Scheidungsfreiheit die Paare in den Irrtum führen kann. Mit anderen Worten bedeutet dies, dass das Schuldprinzip nicht aufgegeben werden kann. Und so galt es auch im preußischen Allgemeinen Landrecht weiterhin: Auch bei einer Scheidung aufgrund unüberwindlicher Abneigung musste gerichtlich ein schuldiger Teil festgestellt werden, der wider den Willen des andern auf der Scheidung beharrte und der mit Scheidungsstrafen zu rechnen hatte.300 Goethes Wahlverwandtschaften spielen außerdem nicht in Preußen, sondern in einem anonym bleibenden kleinen Fürstentum in Mitteldeutschland. Wenn man davon ausgeht, dass dieser kleine Staat Ähnlichkeiten mit dem Herzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach aufweist, so ist interessant festzustellen, dass dessen Eherecht diesen neuen Scheidungsgrund nach preußischem Recht nicht übernommen hatte.301 Trotzdem gab es Scheidungen, auch in Sachsen, 298Christoph Martin Wieland, „Freundschaft und Liebe auf der Probe“, in: Ders., Das Hexameron von Rosenhain (1805), München: dtv weltliteratur 1983, S. 95–121; hier: S. 95. 299Ebd., S. 108 f. Zur (narratologischen) Funktion von Wielands Novelle für die Wahlverwandtschaften stellt Klaus Manger fest: „[Goethe] findet bei Wieland wohl ein Erzählmodell vor, das seinerseits schon auf die Unterhaltungen reagiert hat, das Goethe jetzt jedoch nicht nur überbietet, sondern für die Radikaldimension seines aus der mündlichen Erzähltradition herausgetriebenen Erzählens nutzt“ („Goethes Wahlverwandtschaften – neu gelesen“, in: Hühn (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“, S. 49–65; hier: S. 53). 300Vgl. Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794, Zweyter Teil, Erster Titel, § 718 b, S. 368 f. 301Vgl. Diederichsen, „Wahlverwandtschaften und Ehegesetzgebung“, S. 63; von Hartitzsch, Darstellung des im Königreiche Sachsen geltenden Erbrechts, S. 336, führt unter den nicht allgemein anerkannten Scheidungsgründen lediglich unversöhnlichen Hass an; vom Grund gegenseitiger Einwilligung ist nicht die Rede.
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297
über die dann der Herzog als oberster Kirchenherr zu entscheiden hatte. Praktiziert wurden Scheidungen vor allem im höheren Bürgertum und im Landadel, insbesondere auch im Umfeld der Romantiker; im Hochadel und im Bauern- oder niederen Bürgerstand konnte man sie sich weder finanziell noch sozial leisten.302 Die Handlung der Wahlverwandtschaften zeichnet sich nun aber dadurch aus, dass sowohl eine Scheidung als auch eine Rückkehr in die alte Eheordnung ausbleibt.303 Aber warum? Karl Leydecker vertritt (gegen Tony Tanner) die These, dass nicht der (imaginäre) Ehebruch, sondern die Scheidungsvermeidung das zentrale „structural feature of the narrative“304 darstelle. Goethe vermeide die Darstellung der Scheidung, um im Blumenberg’schen Sinne mythisch mit einem Modernitätsproblem, das nicht rationalisiert werden könne, umzugehen.305 Dabei sei nicht wesentlich, warum die Scheidung ausbleibe, sondern nur, dass sie ausbleibe. So sehr mich die These überzeugt, nach der die Scheidungsvermeidung narrativ strukturbildend ist, so wenig kann ich mich damit zufrieden geben, die Frage nach dem Grund für diese Vermeidung aufzugeben. Warum findet keine Scheidung, aber auch keine Neugründung statt? Warum endet der Text mit zwei schuldbeladenen Frauen, von denen die eine einen „verkappte[n] Selbstmord“306 begeht und die andere geschäftstüchtig überlebt? Und mit zwei Männern, von denen der eine einen lächerlich-profanen Liebestod stirbt und der andere kommentarlos verabschiedet wird? Am Ende ist Charlottes und Eduards Ehe – durch dessen Tod – ja geschieden; Eduards Baronie ist zum „Strafraum“307 geworden, d. h. es wird eine (Ent-)Scheidung hergestellt und – vom Erzähler – dargestellt. Aber wie und warum kommt es dazu? Zunächst ist gegen den durch die chemische Gleichnisrede suggerierten gleichmäßigen Tausch von vier Elementen festzuhalten, dass die ‚gärende Leidenschaft‘ nur durch ein Element, nämlich durch die narzisstische Subjektivität Eduards bedingt ist. Der Erzähler lässt dies Eduard selbst gegen Charlotte einwenden, die sich dazu ‚verführen‘ ließ, das Gleichnis auf ein „Paar Vettern“ zu übertragen, welche ihr gerade „zu schaffen machen“: „Hier wird freilich nur von Erden und Mineralien gehandelt“, belehrt er sie, „aber der Mensch ist ein wahrer Narziß; er bespiegelt sich überall gern selbst; er legt sich als Folie der ganzen
302Vgl. hierzu Christoph Lorey, Die Ehe im klassischen Werk Goethes, Amsterdam: Rodopi 1995, S. 23–32; ferner Kreutzmann, „Goethe als Gesellschaftskritiker“, S. 334, der u. a. aus einem Brief Achim von Arnims an Bettina Brentano vom 5. November 1809 zitiert: „Nirgends finden sich mehr Ehescheidungen als unter diesen Klassen [dem Landadel; Anm. D.S.].“ 303Vgl. etwa das Fazit von Julia Happ, „Attractio electiva duplex als fatale Romanpoetik“, S. 104: „Anstatt eines zu erwartenden juristischen Scheidungsprozesses werden Ottilie und Eduard durch quasi-mythische Todesurteile in der Fiktion geopfert.“ 304Karl Leydecker, „The Avoidance of Divorce in Goethe’s Wahlverwandtschaften“, Modern Language Review 106 (2011), 1054–1072; hier: 1066. 305Vgl. ebd., S. 1070: „Goethe chose to avoid the representation of divorce“. 306Osterkamp, „Einsamkeit und Entsagung in Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 44. 307Kittler, „Ottilie Hauptmann“, S. 272.
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Welt unter.“ (W I.4, 300) Im Prinzip wird bereits mit dieser Aussage die Möglichkeit eines zweisamen Weltverhältnisses bestritten. Die eherechtliche Störung von Charlottes und Eduards Verhältnis wird bekanntlich durch die Ankunft des Grafen und der Baronesse ausgelöst, welche die Freunde nicht nur der Geselligkeit wegen besuchen, sondern auch (oder vielleicht sogar nur) darum, weil sie auf dem Landgut ihre außereheliche Liebesbeziehung pflegen wollen und können. Der Graf und die Baronesse sind beide verheiratet; kurz zuvor heißt es im Roman dazu: „Eine doppelte Ehe war nicht ohne Aufsehn gestört; man dachte an Scheidung. Bei der Baronesse war sie möglich geworden, bei dem Grafen nicht.“ (W I.9, 336) Warum sie bei der Baronesse möglich war, erfährt man nicht. Aber beim erneuten Besuch im zweiten Romanteil erscheint das Paar als Braut und Bräutigam, denn „des Grafen Gemahlin“ war verstorben und „sobald es die Schicklichkeit nur erlaube“ (W II.5, 425), wolle man heiraten. Ihre ehebrecherische Liebesnacht im ersten Romanteil jedenfalls fällt zusammen mit Eduards und Charlottes imaginärem Ehebruch. Für beide bedeutet der Beischlaf, der in Gedanken mit Ottilie bzw. dem Hauptmann vollzogen wird, ein mit ihrer Ehe konkurrierendes neues Recht der Liebe. Am anderen Morgen treten sie – „beschämt“ und „reuig“ – nicht voreinander, sondern vor „de[n] Hauptmann und Ottilien“. „Denn so ist die Liebe beschaffen“, kommentiert der Erzähler sybillinisch, „daß sie allein Recht zu haben glaubt und alle anderen Rechte vor ihr verschwinden“ (W I.12, 354). Die sexuell entfesselte, neue Einbildungskraft führt nicht nur zu einer zunehmenden Entrealisierung des Romangeschehens (man denke nur an das monströse Produkt Otto), sondern auch zu einer Spaltung von Eduards und Charlottes Eheverständnis.308 Unmittelbar nach der seltsamen Nacht ziehen beide unterschiedliche Konsequenzen aus ihrem ‚Verbrechen‘. Statt die mit Charlotte und dem Hauptmann geplante Kahnfahrt zu unternehmen, zieht es Eduard aufs Schloss zurück, wo Ottilie mit der Abschrift des Vertrags für den Verkauf des Vorwerks beschäftigt ist. Beim Anblick der Abschrift erkennt er, wie Ottilies Schrift sich mehr und mehr der seinen angeglichen hat. Das ist ihm der Beweis ihrer Liebe: „Um Gotteswillen! […] Du liebst mich! rief er aus“ (W I.12, 355). Und von diesem Moment an ist ihm die Welt „umgewendet“ (W I.12, 356), eine Rückwendung zu Charlotte unmöglich. Die Schrift, in der die seine mit Ottilies Schrift verschmolzen ist, wird ihm nun zur „Folie [seiner] ganzen Welt“. Zur gleichen Zeit begibt sich Charlotte auf eine Kahnfahrt mit dem Hauptmann, die unverkennbare Ähnlichkeiten mit jener Fahrt über den Genfer See hat, die in Rousseaus Nouvelle Héloïse Julie und
308Als „Knoten des Stücks“ bezeichnete Friedrich Heinrich Jacobi (in einem Brief an Friedrich Köppen vom 12. Januar 1810) den imaginären Ehebruch: „Desto ärgerlicher und ekelhafter wird der doppelte Ehebruch durch Phantasie, der den Knoten des Stücks ausmacht. Dieses Göthesche Werk ist durch und durch materialistisch oder, wie Schelling sich ausdrückt, rein physiologisch. Was mich vollends empört, ist die scheinbare Verwandlung am Ende der Fleischlichkeit in Geistlichkeit, man dürfte sagen: die Himmelfahrt der bösen Lust.“ (Zit. in.: Heinz Härtl (Hg.), „Die Wahlverwandtschaften“. Eine Dokumentation der Wirkung von Goethes Roman 1808–1832, Göttingen: Wallstein 2013, S. 113.)
4.4 Die Wahlverwandtschaften: Darstellung der Herstellung von (Ent-)Scheidung
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Saint-Preux unternehmen.309 Bei Rousseau schwört Julie, die schon mit Wolmar verheiratet ist, ihrem Geliebten Saint-Preux ein weiteres Mal ab: „que ce soit la derniere fois qu’ils [nos cœurs; Anm. D. S.] auront parlé sur ce ton“ (NH, IV, XVII, S. 521). Auch Charlotte schwört dem Hauptmann ab, der sie allerdings weniger zu leidenschaftlicher Zweisamkeit als zu autonomer Selbstregierung überreden will: Er rühmte die guten Eigenschaften des Kahns, daß er sich leicht mit zwei Rudern von Einer Person bewegen und regieren lasse. Sie werde das selbst lernen, es sei eine angenehme Empfindung manchmal allein auf dem Wasser hinzuschwimmen und sein eigner Fähr- und Steuermann zu sein. (W I.12, 357)
Charlotte fällt bei diesen Worten „die bevorstehende Trennung aufs Herz“ (W I.12, 357). Nachdem der Hauptmann ihr einen Kuß, den sie fast erwidert, auf die Lippen gedrückt hat, ruft sie aus: „Sie müssen scheiden, lieber Freund, und Sie werden scheiden.“ (W I.12, 358) Sie will die Trennung vom Geliebten, um die Scheidung vom Ehemann zu vermeiden. Und die Parallele mit Rousseaus Julie geht weiter, wenn sie abends, im ehelichen Schlafzimmer, ihren Ehebund mit Eduard erneuert: […] schnell ergriff sie eine seltsame Ahndung, ein freudig bängliches Erzittern, das in fromme Wünsche und Hoffnungen sich auflöste. Gerührt kniete sie nieder, sie wiederholte den Schwur den sie Eduarden vor dem Altar getan. Freundschaft, Neigung, Entsagen gingen vor ihr in heitern Bildern vorüber. Sie fühlte sich innerlich wieder hergestellt. Bald ergreift sie eine süße Müdigkeit und ruhig schläft sie ein. (W I.12, 358 f.)
Wie bei Julie von einem nur einseitig von ihr getanen Eheschwur die Rede ist, erneuert auch Charlotte ihren Ehebund ohne den Gatten; und auch Charlotte entsagt dabei einem Anderen.310 Aber während es sich bei Rousseau um einen liturgisch-feierlichen Akt in der Öffentlichkeit, um eine Eheschließung und den Gründungsakt von Clarens handelt, dient Charlottes ‚Schwur‘ offensichtlich nur noch ihrer eigenen Wiederherstellung: „Sie fühlte sich innerlich wieder hergestellt.“ Es ist bezeichnend, dass sie anders als Julie, die sich nach ihrer Eheschließung zum Beten zurückzieht, von einer süßen Müdigkeit ergriffen wird und ruhig einschläft. Der missliche Geschlechtsakt führt also bei Eduard gewissermaßen zum Konzept der Liebesehe mit Ottilie und bei Charlotte zur Vernunftehe mit Eduard. Karl Leydecker spricht deshalb von einer ‚metaphorischen Scheidung‘ Eduards von Charlotte und einer ‚unwillkürlichen Wiederverheiratung‘ Charlottes mit Eduard.311 Wo in Rousseaus Roman die Liebesehe im weiblichen Treuebekenntnis zur volonté générale umgeschrieben wird, kollidieren
309Vgl.
hierzu auch Botond, Die Wahlverwandtschaften, S. 37–39. oben Abschn. 2.3: Zwei oder Viele. Rousseau zwischen Gesellschafts- und Ehevertrag („Julie als personifizierter Gemeinwille“). 311Leydecker, „The Avoidance of Divorce“, S. 1062. 310Vgl.
300
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in den Wahlverwandtschaften zwei Vertragsauffassungen, in denen es nicht um die Konstitution der Gesellschaft, sondern um Selbstkonstitution zu gehen scheint. Während Rousseau das Gemeinschaftsproblem zwischen dem Paar und den Vielen entfaltet, erscheint es bei Goethe als Dilemma zwischen der Eins und der Zwei, zwischen Individuum und Paar. Ob Eduards oder Charlottes Eheauffassung Recht beanspruchen kann, lässt Goethes Roman offen. Juristisch-eherechtlich schreit die Situation nach einer gerichtlichen Lösung, zumal sie raffiniert auf den ‚neuen‘ Scheidungsgrund der unüberwindlichen Abneigung abhebt, der, zumindest solange Otto noch nicht geboren bzw. sobald er wieder gestorben ist, greifen könnte. Noch einfacher wäre es freilich gewesen, schlicht eine landesherrlich sanktionierte Entscheidung greifen zu lassen. Aber weil mit der Ehe just diese politische Entscheidungsmacht und rechtsbegründende Gewalt mit in Frage gestellt wird – das zeigt die Hereinnahme ganzer Rechtsbereiche, die im Zeichen revolutionärer Umwälzung stehen – kann es keine (Ent-)Scheidung, sondern nur deren Darstellung geben. Zwei Parteien müssen zustimmen in einem Vertrag. Und was die Wahlverwandtschaften behaupten, ist, dass Zustimmungen niemals auf Konsens, sondern immer auf einseitigen Einwilligungen beruhen. Gerechtigkeit im Paar, einvernehmliches Handeln oder, mit Benjamin, einen „göttlichen Moment im Logos“ sei es der Ehe oder der Gesellschaftsverfassung gibt es nicht. Die Scheidungsfrage wird nicht nur aufgeschoben, sie wird transformiert.312 Nachdem der Konflikt zunächst durch Bauaktionismus verdrängt wird,313 kommt es, nachdem der Hauptmann das Gut für seine neue Stellung (und mögliche Heirat) verlassen hat, aber noch bevor die Schwangerschaft Charlottes bekannt wird, zu einer Schein-Aussprache zwischen Charlotte und Eduard (vgl. W I.16). Beide wissen, dass eine Entscheidung fallen muss, beharren aber jeweils auf dem eigenen Recht. Statt aber die Entscheidung einfach aufzuschieben, geben sie dem Konflikt eine neue Wendung, indem sie das Konflikt-Setting durch eigenmächtige Entschlüsse verändern. Charlotte, „die darauf ausging etwas Entscheidendes zu tun, ergriff sogleich die Gelegenheit, als Eduard nicht unmittelbar widersprach, die Abreise Ottiliens […] auf die nächsten Tage festzusetzen.“ Eduard, dem es beim Gedanken an eine Trennung von Ottilie „schaudert[ ]“, beschließt, Charlottes Entschluss durch die eigene Flucht zu durchkreuzen: „Er schien ihr die Sache ganz zu überlassen; allein schon war innerlich sein Entschluß gefaßt.“ (W I.16, 376) Statt ein juristisches Scheidungsverfahren darzustellen, bewirken die Figuren, die
312Benjamin
hat auf die „poetische[ ] Technik“ des Romans verwiesen, die Goethe dann als das Recht seines Romans ebenso behauptet wie verschlüsselt habe (Goethes Wahlverwandtschaften, S. 152). 313Beim Bau des Lusthauses werden nicht nur Schulden angehäuft. Man nimmt darüber hinaus ein scheinbar revolutionäres Fest in Kauf, das mit dem Dammbruch zu einem buchstäblichen Richtfest wird.
4.4 Die Wahlverwandtschaften: Darstellung der Herstellung von (Ent-)Scheidung
301
beide nicht als alleinige Kläger erscheinen und den Schein des Konsenses wahren wollen, dass der Konflikt sich nun anders darstellt.314 Beide, Eduard und Charlotte, handeln nun in dem Schein (oder Wahn), ihr jeweiliges Recht des (Ehe-)Rechtes eigenmächtig durchsetzen zu können. Sieht man in ihrer Ehekrise eine abstrakte Rechtskrise, könnte man sagen, dass Rechtsbegründung und Rechtserhaltung in ihr auseinandertreten. Während Eduard mit seinen Stratagemen auf die (Neu-)Gründung setzt, setzt Charlotte auf die Erhaltung dessen, was nicht mehr ist. Eduard zieht in ein Gehöft auf dem eigenen Gutsterritorium ein und pflegt – bis er von der Schwangerschaft Charlottes erfährt – eine imaginäre Liebesgemeinschaft mit Ottilie. Mittler erzählt er von dem „Kontrakt“, den er bisweilen im Traum mit Ottilie unterschreibt: „da ist ihre Hand und die meinige, ihr Name und der meinige, beide löschen einander aus, beide verschlingen sich.“ (W I.18, 387) Es reicht ihm, sich und sie im eigenen, rechtmäßigen Besitz zu wissen. So hatte er seinen Auszug gegenüber Charlotte an die Bedingung geknüpft, dass Ottilie das Schloss nicht verlassen dürfe: „Außer dem Bezirk deines Schlosses, deines Parks, fremden Menschen anvertraut, gehört sie mir und ich werde mich ihrer bemächtigen.“ (W I.16, 377) Damit grenzt Eduard sein Territorium als ein Eheschließungsvertragsgebiet ein, innerhalb dessen er nur mit Charlotte entscheiden kann, außerhalb dessen die PaarRechte aber unwirksam werden. Das erinnert an das mittelalterliche Recht eines foris maritagium, das von einem Feudalherrn eingeräumte Recht, demzufolge ein Leibeigener jemanden aus einem fremden Herrschaftsgebiet heiraten durfte.315 Victor Hugo zum Beispiel lässt in Notre-Dame de Paris seinen Gringoire, der eine (platonische) Schein-Ehe mit Esmeralda eingegangen ist, feststellen: „Notre mariage fut un vrai forismaritagium. Je suis resté dehors.“316 Gringoire hat Esmeralda nicht ‚richtig‘ besessen, d. h. beschlafen, und so interpretiert er diese Ehe ironisch als eine, die nach einem untypischen, fremden Eheschließungsrecht geschlossen wurde. Goethes Eduard nun führt mit seiner Bedingung eine Grenze zwischen der Ehe als einem Unterwerfungsverhältnis und als konsensuellem (Vertrags-)Verhältnis ein. Gänzlich phantastisch-mittelalterlich-archaisch wird der
314Zum
Verfahrensbegriff in Recht und Literatur vgl. Anselm Haverkamp, „Met-hodos, Setzung nicht durch Gewalt: Verfahren in Literatur und Recht – Anhand von Shakespeares Kaufmann von Venedig“, sowie Katrin Trüstedt, „Nomos and Narrative: Zu den Verfahren der Orestie“, beide in: Augsberg, Lenski (Hg.), Die Innenwelt der Außenwelt der Innenwelt des Rechts, S. 27–42 bzw. S. 59–77. 315Vgl. L’Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, hg. Denis Diderot und Jean le Rond d’Alembert, Bd. 7, Paris: Le Breton u. a. 1757, S. 171: „FORMARIAGE ou FEUR-MARIAGE, (Jurisp.) est le mariage qu’un homme ou femme de condition servile, contracte sans la permission de son seigneur, ou même avec sa permission, lorsque le mariage est contracté avec une personne franche, ou d’une autre seigneurie & justice que celle de son seigneur, ou hors la terre sujette à son droit de main-morte.“ 316Victor Hugo, Notre-Dame de Paris. 1482, hg. Benedikte Andersson, Paris: Gallimard (folio classique) 2009, S. 558.
302
4 Zwischen Märchen und Roman – Goethes Ehe-Experimente
Rechtskampf zwischen Eduard und Charlotte, als sich Otto ankündigt, denn die Nachricht irritiert Eduard schwer: Was von dem Augenblick an in der Seele Eduards vorging würde schwer zu schildern sein. In einem solchen Gedränge treten zuletzt alte Gewohnheiten, alte Neigungen wieder hervor, um die Zeit zu töten und den Lebensraum auszufüllen. Jagd und Krieg sind eine solche für den Edelmann immer bereite Aushülfe. (W I.18, 392)
Otto, das Kind, dem Charlotte offenbar Leben schenken soll, würde seiner und Charlottes Ehe die Evidenz ihres – und nicht seines und Ottilies – Eherecht Sichtbarkeit und Evidenz verleihen. Diesem souveränen Recht, Leben zu geben, kann er nur noch ein souveränes Gegenrecht, ein Recht über den Tod, entgegensetzen. Und wenn er in den Krieg zieht, erscheint fabulös die Frage nach seinem „Feldherrn“ auf, von dem man nicht mehr erfährt, als dass „unter seiner Anführung […] der Tod wahrscheinlich und der Sieg gewiß“ sei (W I.18, 393). Auf welcher Seite kämpft Eduard? Auf der Seite des Herzogs Carl August oder Napoleons? Auch wenn die Niederlage von Jena-Auerstedt im Vierten Koalitionskrieg – und die Eheschließung Goethes – bei Erscheinen des Romans gerade drei Jahre zurücklag: Wenn die Subjekte, um deren Unterwerfung es geht, nicht mehr Bettler oder Bürger, sondern Ottilie (oder ‚die Frau‘ oder ‚das Begehren‘) heißen, wird die Frage aufgeworfen, ob Eduard mit Ottilie nicht ein freies und gleiches Subjekt unterwerfen will, das wie ein ‚anderer Napoleon‘ zurückschlägt. Eine Frage, auf die ich weiter unten noch einmal zurückkomme und die zugleich neues Licht auf jenen unglücklichen Strang der Quellenforschung zu den Wahlverwandtschaften wirft, der im Dreierverhältnis zwischen Georg Forster, dessen Gattin Therese und deren zweitem Gatten Ludwig Ferdinand Huber einen Schlüssel für den Roman sehen will.317 Der Aufschub der Scheidung setzt sich im zweiten Romanteil fort. Nachdem ein ‚Scheidungsgericht‘ zuerst durch die eigenmächtigen Entschlüsse der beiden Streitparteien selbst substituiert worden ist, wird das Setting nun ein weiteres Mal verändert. Die Veränderung geht nun mit einem selbstreflexiven Hinweis des Erzählers einher. So setzt der zweite Romanteil mit dem Hinweis darauf ein, dass
317Goethe hat Therese Hubers (auto–)biographische Darstellung dieses Verhältnisses gelesen, welche sie der Edition von Hubers Werken beifügte: L. F. Huber’s Sämtliche Werke seit dem Jahre 1802 nebst Seiner Biographie, Tübingen: Cotta’sche Buchhandlung 1806. Sicher sind diese ‚Verhältnisse‘ also irgendwie in die Wahlverwandtschaften eingeflossen, aber sicher nicht so, wie sie Detlef Rasmussen rekonstruiert. („Georg Forsters Mainzer Zirkel und Goethes Wahlverwandtschaften. Ehe, Liebe und Scheidungsverweigerung als Themen gegenständlicher Dichtung“, in: Ders. (Hg.), Goethe und Forster. Studien zum gegenständlichen Dichten, Bonn: Bouvier 1985, S. 80–149.) Er versteigt sich zu der Behauptung, Huber und Therese hätten Forster, um eine Scheidung durchzusetzen, zu seinem (tödlich endenden) Weg nach Paris buchstäblich gezwungen. Ottilie liest er als Antithese einer mörderischen Therese und heroische Variante der Scheidungsverweigerung: „Erst durch die Übertragung einer Charaktereigenschaft Forster/Eduard [‚Scheidungverweigerung‘; Anm. D.S.] auf Ottilie konnte Goethe […] den Gang des Romans zum tragischen Ende hinlenken“ (S. 145).
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303
nun wie „in der Epopöe“ die „Hauptfiguren“ zurück- und Stellvertreterfiguren an ihren „Platz“ treten (W II.1, 394). Das majestätische Erzähler-Wir verschiebt dabei gleichzeitig die Kriterien für das Leserurteil: Es lenkt die Aufmerksamkeit nicht auf die Frage nach Recht oder Unrecht dieser Stellvertretung, sondern darauf, ob die Stellvertreter „uns“ Lesern wie ihm „gleichfalls […] des Lobes und Preises würdig“ (W II.1, 394) erscheinen. Das herrenlose Gut stellt sich nun vor allem unter dem Aspekt der Verwaltungspraxis dar. Während Eduard einen stellvertretenden Krieg (für Ottilie und für sein Recht) führt, verwaltet Charlotte das gemeinsame Gut unter Mithilfe des Architekten und des Pädagogen. In ihrer transitorischen, den Konflikt überbrückenden Darstellung der Baronie verhandeln die Zurückgebliebenen – auf verschiedenen diskursiven Ebenen – die gleiche Frage eines Rechts der Subjekte auf- und übereinander, die auch Eduard und Charlotte in ihren Konflikt geführt hat. Und jedes ihrer Gespräche, jede ihrer Darstellungen steuert auf einen binären Code von Recht und Unrecht zu.318 Egal, ob Charlotte mit dem Rechtsgelehrten über die rechte Friedhofs- und Gedächtniskultur spricht, ob ihre Tochter kometenhaft in das Gut einfällt oder ob sie mit dem Gehülfen über die rechte Erziehung, Geschlechterauffassung und Generationenordnung diskutiert, immer erweisen sich die unterbrechenden Gespräche in ihrer Zuspitzung auf Richtig oder Falsch als Wiederholungen von Charlottes und Eduards (Ehe-)Rechtskonflikt. Aber mehr noch: Ihre nachahmende Nach-Stellung des Konflikts bleibt nicht folgenlos für den Ehekonflikt selbst; sie wirkt vielmehr auf den Grundkonflikt zurück. Die Nach-Stellung transformiert den Sachverhalt der Verhandlung, in der mehr und mehr Eduards Geliebte Ottilie als Stellvertreterin ins Zentrum rückt. (Charlottes ‚Geliebter‘ dagegen, der Hauptmann, wird herausgehalten.) Otto wird geboren, durch ihn erhält Charlotte „einen neuen Bezug auf die Welt und auf den Besitz“ (W II.10, 463). Die Frauen beziehen das Lusthaus, und Charlotte hofft auf die Restitution der Vierergemeinschaft. Nachdem sie zuerst erwogen hatte, Ottilie mit dem Gehülfen zu verheiraten, so scheint ihr nun „eine Verbindung des Hauptmanns mit Ottilien nicht unmöglich“ (W II.10, 464). So wie sie – dank des neuen Lebens Otto – denkt, dass eine Eingemeindung des Paares Ottilie und Hauptmann unter ihrer und Eduards Paar-Herrschaft möglich sei, so denkt Eduard – dank seines Kampfes in absentia –, dass eine Eingemeindung des Hauptmanns und Charlottes unter seiner, mit Ottilie verschmolzener Liebesgewalt möglich sei. Man sollte meinen, dass das zwei analoge Pläne, analoge Positionen, zwei gleich mögliche Wendungen seien. Aber interessanterweise weist der Text Charlottes Plan zwar als Wunsch und Hoffnung, aber weder als realitätsenthoben noch widerrechtlich aus. Eduard indessen hat sein siegreicher Feldzug – ein Sieg über die Lebenden außerhalb seines Eheterritoriums – „an entschiedenere Schritte gewöhnt“, und im Gespräch mit dem
318Vgl. Charlottes Zustimmung zur Zusammenlegung der Teiche noch im ersten Romanteil: „Bei diesen Arbeiten und Vorsätzen konnte sie nicht genug das Verfahren des Architekten loben.“ (W I.17, 381) Ferner Ottilie im Gespräch mit dem Gehülfen: „Ich preise Sie glücklich, daß Sie bei Ihren Zöglingen ein richtiges Verfahren anwenden können.“ (W II.7, 446)
304
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Hauptmann, der mit einer „klugen Wendung“ „die Form, den Geschäftsgang zur Sprache“ bringt – also Scheidungshindernisse wie Otto anmahnt –, fordert er nun offen die Rechtsübertretung: Durch Überlegung wird so etwas nicht geendet; vor dem Verstande sind alle Rechte gleich, und auf die steigende Waagschale läßt sich immer wieder ein Gegengewicht legen. Entschließe dich also, mein Freund, für mich, für dich zu handeln, für mich, für dich diese Zustände zu entwirren, aufzulösen, zu verknüpfen. (W II.12, 487)
Das nächtliche ‚Recht der Einbildungskraft‘, das sich gegen die Ehe durchsetzte, weil es einmal gleiche Akte suggerierte, und gegen das Charlotte ihren Schwur setzte, wirkt bei Eduard weiter. Für Eduard ist selbstmächtige Liebe Pflicht und Gesetz, und deshalb bedeutet ihm der neue Bund mit Ottilie die ‚Buße‘ seines Verbrechens, sich einmal nicht selbst Gesetz gewesen zu sein.319 Wenn er in seiner Einbildungskraft, die sich „alles nicht als möglich, sondern als schon geschehen“ (W II.13, 489) denkt, den Major zu Charlotte schickt, dann weniger, damit dieser Charlottes Scheidungseinwilligung erwirkt, sondern vielmehr, damit er ihr den zu seinem neuen Bund dazugehörigen Heiratsantrag macht. Er selbst eilt zur gleichen Zeit zu Ottilie am See, um ihr seinen Antrag zu machen: „Er bitte sie um ihre Einwilligung.“ (W II.13, 492) Ottilie gibt ihre Einwilligung unter der Bedingung, dass Charlotte die ihre gibt: „Ich bin die Deine, wenn sie es vergönnt; wo nicht, so muß ich dir entsagen.“ (W II.13, 493) Alle müssen einwilligen, um die Gewalt von Eduards Liebe zu dissimulieren. Diese bricht sich dann aber im Tod des Kindes doch Bahn. Das experimentelle Scheidungsgericht bringt nun, nachdem ein Urteil zunächst durch die Entschlüsse der beteiligten Parteien selbst, dann durch den Auftritt von Nebenfiguren ersetzt worden ist, Ottilie in einer neuen Rolle auf die Bühne. Gleichzeitig ist der Rollenwechsel mit der Wiederholung des Falles (imaginärer Ehebruch) verbunden. Diese letzte Stufe von Goethes rechtlich-literarischem Ersetzungsverfahren bringt die Scheidung.
Der Fall Ottilie: zweierlei Recht und asymmetrischer Schein Das Rätselhafte des Textes, das schon seine zeitgenössische Leserschaft irritierte, wird von Ottilies sonderbarem Rollenwechsel ausgelöst. Die Diskussion um Mythos und Tragik, die ein fester Bestandteil der Wahlverwandtschaften-Philologie ist, wurzelt in ihrer Figur.320 Als common sense 319Vgl. Eduard im Gespräch mit Ottilie am See: „Warum soll ich das harte Wort nicht aussprechen: dies Kind ist aus einem doppelten Ehbruch erzeugt! es trennt mich von meiner Gattin und meine Gattin von mir, wie es uns hätte verbinden sollen. Mag es denn gegen mich zeugen, mögen diese herrlichen Augen den deinigen sagen, daß ich in den Armen einer andern dir gehörte; mögest du fühlen, Ottilie, recht fühlen, daß ich jenen Fehler, jenes Verbrechen nur in deinen Armen abbüßen kann!“ (W II.13, 492) 320Vgl. Helmut Hühn, „Ein ‚tragischer‘ Roman? Überlegungen zu einem Romanexperiment“, in: Ders. (Hg.), Goethes „Wahlverwandtschaften“, S. 149–173; Alexander Honold, „Benjamins Konzept des Tragischen“, in: Hühn, Urbich, Steiner (Hg.), Benjamins Wahlverwandtschaften, S. 128–173.
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hat sich die Auffassung eines tragischen Romans ohne Tragik herauskristallisiert. Mythische Verstricktheit der Figuren, S chein-Freiheit des Handelns, zwecklose Entsagung der Pseudo-Helden: Ohne metaphysischen Rückhalt, sang- und klanglos geht die bürgerlich-moderne Welt, statt überhaupt erst zu entstehen, ebenso vorhersehbar wie unausweichlich dem Untergang entgegen. Ottilie, die aus Fahrlässigkeit Otto tötet und mit dem eigenen Tod dafür bezahlt, die so tragische Heldin par excellence wird, dadurch aber keine alternative Welt mehr ermöglicht, steht im Zentrum dieser Deutung. Seiner Feststellung, dass die Ehe „in keinem Sinne Zentrum des Romans sein“ könne, stellt Benjamin einige Seiten vorher den Satz über Ottilie an die Seite: „Und doch steht sie im Zentrum des Romans.“321 In ihr sieht er einen ‚unreinen‘, aber schönen Gegenpart zum übrigen mythischrechtlosen Romangeschehen, den er – gegen Goethe – um die Figur der „Hoffnung auf Erlösung, die wir für alle Toten hegen“322 ‚kunstkritisch‘ ergänzt. Ich möchte einen Schritt hinter diese große Deutung zurückgehen und versuchen, Ottilie nicht als Inbegriff des schönen Scheins gegen den Rest des Romans, sondern als einen anderen Fall von Entscheidung zu profilieren, der den unlösbaren Konflikt des Paars in die weibliche Figur Ottilies introjiziert. Statt um die Gegenüberstellung von Mythos und schöner Kunst geht es mir um die Gegenüberstellung von zwei ähnlichen, aber doch verschiedenen Verfahren, wie Recht dargestellt werden kann. In zwei divergierenden Eheauffassungen liegt Charlottes und Eduards Konflikt. Zwei gleiche Gültigkeit beanspruchende Ordnungen, über die keiner der beiden allein entscheiden will, auch wenn Eduard so tut, als hätte seine Einbildungskraft schon entschieden. Der Scheidungskonflikt entspringt keinem justiziablen Tatbestand; mit dem ‚imaginären Ehebruch‘ beginnt er gewissermaßen literarisch, um dann ein kontroverses Ehescheidungsrecht mimetisch darzustellen. Ottilies Fall steht in einem chiastischen Verhältnis zu diesem Scheidungsfall. Ihr Fall beginnt rechtlich mit dem Straftatbestand der Tötung, dessen Folgen dann aber nicht als rechtliches Strafverfahren, sondern als literarisch-mythisch-religiöses Verfahren bis zu ihrem Tod nach-gestellt – gemimt – werden. Der Unfall des Kindstodes, nach den Worten des Majors ein ‚ungeheurer Fall‘, wird von den Figuren unterschiedlich gedeutet. Für den Major ist er ein „Opfer“, das zum „allseitigen Glück“ nötig schien (W II.14, 498), und er stellt sich schon neue, rechtmäßigere Kinder auf Ottilies und auf seinem eigenen Schoß vor. Für Eduard ist der Fall eine „Fügung“, „wodurch jedes Hindernis an seinem [Herv. D. S.] Glück auf einmal beseitigt wäre“ (W II.14, 499). Für Charlotte ist es ein Fall des „Schicksal[s]“, durch den sie schuldig geworden ist und der sie zur Scheidungseinwilligung zwingt: „Ich willige in die Scheidung. Ich hätte mich früher dazu entschließen sollen; durch mein Zaudern, mein Widerstreben habe ich das Kind getötet.“ (W II.14, 497) Für Ottilie – und nur für sie – ist der Unfall ein „Verbrechen“, das sie aus ihrer Bahn schreiten und die eigenen Gesetze brechen ließ.
321Benjamin, 322Ebd.,
Goethes Wahlverwandtschaften, S. 189 bzw. S. 178. S. 200.
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Sie will es büßen, indem sie Eduard entsagt: „Eduardens werd‘ ich nie!“ (W II.15, 500) In ihrer Rolle als Verbrecherin wird sie zu einer Antagonistin Eduards, der für die Recht-Fertigung seines (Ehe-)Gesetzes auf Ottilie unmöglich verzichten kann. Auch er nimmt sich nach der sonderbaren Liebesnacht als Verbrecher wahr: „die Sonne schien ihm ein Verbrechen zu beleuchten“ (W I.12, 353), ein Verbrechen, das er in den Armen Ottilies büßen wollte. Auffälligerweise distanziert sich der Erzähler in der indirekten Wiedergabe von Eduards Selbsteinschätzung, während er Ottilies direkte Rede unkommentiert lässt: „Auf eine schreckliche Weise hat Gott mir die Augen geöffnet, in welchem Verbrechen ich befangen bin.“ (W II.14, 500) Imaginärer Ehebruch und faktische Tötung geraten als analoge, aber verschiedene Rechtsfälle in ein Verhältnis zueinander. Das erinnert nicht nur an Manzoni, dessen Ehefiktion der Promessi sposi gleichfalls – wenn auch mit konträrem Ergebnis – auf der reflexiven Überblendung von imaginären und faktischen Verbrechen beruht. Das erinnert aber auch an die späte Spur, die Goethe Joseph Stanislaus Zauper gegenüber angedeutet hat: „Wahlverwandschaften. Der sehr einfache Text dieses weitläufigen Büchleins sind die Worte Christi: Wer ein Weib ansieht ihrer zu begehren pp. Ich weiß nicht, ob irgend jemand sie in dieser Paraphrase wiedererkannt hat.“323 Die Worte aus dem Matthäusevangelium stehen im Zusammenhang mit dem neuen Gesetz, das Jesus zu verkünden gekommen ist: „Ihr habt gehört, dass gesagt ist: ‚Du sollst nicht ehebrechen.‘ Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren, der hat schon mit ihr die Ehe gebrochen in seinem Herzen. Wenn dich aber dein rechtes Auge zum Abfall verführt, so reiß es aus und wirf’s von dir.“ (Mt 5, 27–29) Während das Alte Testament eine materielle Gesetzgebung für den Ehebruch kannte, für die die äußere Sichtbarkeit und Hörbarkeit des Verbrechens die Kriterien für die Urteilsfindung bildeten, wird der Ehebruch im Neuen Testament zu einem inneren, individuellen Verstoß, für dessen Sanktionierung es keinen positiv-rechtlichen Maßstab gibt.324 Ottilie nun
323Goethe
an Joseph Stanislaus Zauper am 7. September 1821; zit. in: Härtl, „Die Wahlverwandtschaften“. Eine Dokumentation, S. 270. 324Vgl. hierzu 5. Mose 22, 22–27: „Wenn jemand dabei ergriffen wird, dass er einer Frau beiwohnt, die einen Ehemann hat, so sollen sie beide sterben, der Mann und die Frau, der er beigewohnt hat; so sollst du das Böse aus Israel wegtun. / Wenn eine Jungfrau verlobt ist und ein Mann trifft sie innerhalb der Stadt und wohnt ihr bei, so sollt ihr sie alle beide zum Stadttor hinausführen und sollt sie beide steinigen, dass sie sterben, die Jungfrau, weil sie nicht geschrien hat, obwohl sie doch in der Stadt war, den Mann, weil er seines Nächsten Braut geschändet hat; so sollst du das Böse aus deiner Mitte wegtun. / Wenn aber jemand ein verlobtes Mädchen auf freiem Felde trifft und ergreift sie und wohnt ihr bei, so soll der Mann allein sterben, der ihr beigewohnt hat, aber dem Mädchen sollst du nichts tun, denn sie hat keine Sünde getan, die des Todes wert ist; sondern dies ist so, wie wenn jemand sich gegen seinen Nächsten erhöbe und ihn totschlüge. Denn er fand sie auf freiem Felde und das verlobte Mädchen schrie und niemand war dar, der ihr half.“ Das Problem von Sicht- und Hörbarkeit des Ehebruchs und die Verschiebung der topographischen Ordnung von Stadt, freiem Feld und Tempel sind überzeugend ausgeführt bei Tony Tanner, Adultery in the Novel, Contract and Transgression, Baltimore/London: Johns Hopkins University Press 1979, S. 18–24.
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handelt in ihrem Fall (der fahrlässigen Tötung) individuell, ja man könnte sagen, souverän, losgelöst von einer materiellen Gesetzgebung. Ihr Entschluss macht sie zu einem Subjekt, das das erste Mal in seinem Leben nicht dienstfertig ist, sondern sich selbst – für ein scheinbar höheres Gesetz – entscheidet:325 [S]ie war von ihrer frühen Einschränkung, von ihrer Dienstbarkeit entbunden. Durch ihre Reue, durch ihren Entschluß fühlte sie sich auch befreit von der Last jenes Vergehens, jenes Mißgeschicks. Sie bedurfte keiner Gewalt mehr über sich selbst; sie hatte sich in der Tiefe ihres Herzens nur unter der Bedingung des völligen Entsagens verziehen, und diese Bedingung war für alle Zukunft unerläßlich. (W II.15, 502)
Ottilies Entschluss ist zwar einer, dessen Bedeutung in den letzten Kapiteln bekanntlich die letzte Wendung zum Tod (oder mit Ernst Osterkamp: zum „verkappte[n] Selbstmord“) erhält, der aber, das scheint mir an dieser Stelle zentral, ein Entschluss bleibt, gegen den Eduard machtlos ist. Verstanden als Buße und selbstgerechter Akt, der an die Stelle der richterlichen Entscheidung (im Fall fahrlässiger Tötung) tritt, hat Ottilies Entscheidung eine rechtsetzende Gewalt, die Eduards Liebesgewalt nicht nur analog, sondern ihr als subjektiv-autonome Entscheidung überlegen ist. Wo das intersubjektive Recht in der Latenz verharrt, spricht Ottilie – scheinbar auch über die anderen – Recht.326 Bevor es darum gehen soll, wie der Roman am Ende die Unterscheidung von imaginären und faktischen Verbrechen zum Einsturz bringt, und dabei eine ungleiche Verlustrechnung aufmacht, möchte ich zumindest kurz andeuten, wie im Paar von Eduard und Ottilie leitmotivisch nicht nur ein Geschlechterkonflikt, sondern auch und gerade politische und nationale Legitimät dargestellt wird. Das führt noch einmal zurück zur Frage, ob Eduard in Ottilie nicht einen ‚anderen Napoleon‘ unterwerfen will. Ottilie unterscheidet sich von Anfang an kategorial von den anderen Figuren dadurch, dass sie ohne Eltern, ohne Besitz und außerdem eine Generation jünger ist.327 Als Charlottes ‚Pflegetochter‘ wirft sie viele Fragen auf, die sämtlich unbeantwortbar bleiben: Ist sie als „Nichte“ Charlottes (W I.1, 275) und Tochter von deren „werteste[r] Freundin“ (W I.2, 281) mit Charlotte verwandt oder nicht? Ist sie wirklich wie Eduard und Charlotte adliger Herkunft oder doch bürgerlich?328 Und ist sie am Ende gar die Tochter Eduards, ein Ver-
325Nach
Benjamin handelt Ottilie nie, sie ist und bleibt „vollkommene[ ] Passivität“. Dem entsprechend sieht er in Otto ausschließlich ein „Produkt der Lüge“, das „zum Tode verurteilt ist“ (Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, S. 173 und 138). 326Diederichsen scheint auf diesen rechtlichen Charakter von Ottilies Entsagung in einer Fußnote hinzuweisen: „Auch die Verklärung von Ottilie und Eduard am Schluß des Romans unterhält eine bemerkenswerte Beziehung zur Jurisprudenz“ („Wahlverwandtschaften und Ehegesetzgebung“, S. 44, Fußn. 13). 327Vgl. hierzu insbesondere Wolf Kittler, „Goethes Wahlverwandtschaften“, S. 235. 328Obwohl es ist nicht sicher ist, wird bei Ottilie meist davon ausgegangen, dass auch sie adlig ist. Vgl. beispielsweise Bloch, „Goethes Die Wahlverwandtschaften (von 1809)“, S. 1411: „Der Major und Ottilie sind geringerer Abstammung [als Eduard und Charlotte; Anm. D.S.], vielleicht sogar bürgerlich.“
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dacht, den verschiedene Stellen des Romans nahelegen?329 Eingeführt wird Ottilie in der Geste der Untertänigkeit: Das erste, was sie macht, ist, sich Charlotte „zu Füßen“ zu werfen und „ihre Knie“ zu umfassen (W I.6, 311). Ihre Dienstfertigkeit, Passivität und Rezeptivität kontrastiert mit der Geste des Bettlers, auf den Eduard bezeichnenderweise zweimal im Roman trifft. Sie verlangt nichts als das Verlangen selbst und stellt sich so Eduards Begehren entgegen.330 In seinem Brief aus dem Pensionat bringt es der Gehülfe auf den Punkt: „[I]ch habe nie gesehen, daß Ottilie etwas verlangt, oder gar um etwas dringend gebeten hätte. Dagegen kommen Fälle, wiewohl selten, daß sie etwas abzulehnen sucht was man von ihr fordert.“ (W I.5, 310) Ihre ostentative Passivität provoziert Eduards ostentative Aktivität. Unwillkürlich schleust sie Freiheit und Gleichheit in die von Interessenkonflikten geprägte Gutsordnung ein und wird damit zum Gegenpol von Eduards Willkürherrschaft. Ähnlich wie Dorothea in Goethes Epos konnotiert sie das Fremde, die andere Nation, das Französische – beim Französischreden blüht Ottilie auf –, die Menschenwürde, das Individuelle und nicht Subsumierbare. Ihre Namenspatronin, die blind geborene und wieder sehend gewordene Heilige Odilia, verweist auf kein Gottesgeschenk mehr, das sich ein deutscher Herrmann einverleiben könnte, sondern auf eine mittelalterliche Legende, die in der Straßburgischen Grenzregion zwischen Deutschland und Frankreich spielt und die in den Wahlverwandtschaften mit großem Aufwand auf eine profane Bedeutung zurechtgestutzt wird. Nur zusammen ergäben Eduard und Ottilie eine legitime, geschlechter- und nationenübergreifende Revolution, die die Gegensätze vereint. In ihrem Nichtzusammenkommen aber verweisen sie nur auf die Ambivalenz eines korsischen Generals, der es gewagt hat, sich zum kaiserlichen Kopf einer Revolution zu machen. Und auf einen Autor, der diesem historischen Fall, der auch ihn zwang zu handeln, einen anderen, fiktiven Fall entgegensetzt. So steht der Architekt am offenen Sarg von Ottilie und betrachtet die entseelte Leiche auf die gleiche Weise, wie er als Nebenfigur in den lebenden Bildern den um Almosen bittenden, geblendeten Belisar betrachtet hatte: Auch hier war etwas unschätzbar Würdiges von seiner Höhe herabgestürzt; und wenn dort Tapferkeit, Klugheit, Macht, Rang und Vermögen in einem Manne als unwiederbringlich verloren bedauert wurden; wenn Eigenschaften, die der Nation, dem Fürsten, in entscheidenden Momenten unentbehrlich sind, nicht geschätzt, vielmehr verworfen und
329Reschke, „Zeit der Umwendung“, S. 73, der ausführt, dass „die These von der realen Vaterschaft Eduards nicht bewiesen, aber eben auch nicht gänzlich zurückgewiesen werden kann“. 330Zur medien- und sprachtheoretischen Funktion Ottilies vgl. Heike E. Brandstädter, Der Einfall des Bildes. Ottilie in den „Wahlverwandtschaften“, Würzburg: Königshausen & Neumann 2000. Ottilies mediale und sprachliche Differenz, der man freilich nicht in aller Konsequenz folgen muss, illustriert Brandstädter in immer wieder eindringlichen Lektüren. Vgl. etwa den Satz „Ein Wagen der Ottilien brachte war angefahren.“ (W I.6, 311), der als revolutionärer Einbruch in die Narration gelesen wird: „Der Wagen kam nicht angefahren, und er war auch nicht abgefahren. Sondern der Wagen war angefahren: so als könnte er gar nicht mehr aufgehalten werden: so als ließe die Geschichte sich jetzt nicht mehr anhalten: so als würde erst jetzt die Geschichte beginnen.“ (S. 55)
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ausgestoßen worden: so waren hier so viel andere stille Tugenden, von der Natur erst kurz aus ihren gehaltreichen Tiefen hervorgerufen, durch ihre gleichgültige Hand schnell wieder ausgetilgt: seltene, schöne, liebenswürdige Tugenden, deren friedliche Einwirkung die bedürftige Welt zu jeder Zeit mit wonnevollem Genügen umfängt und mit sehnsüchtiger Trauer vermißt. (W II.18, 526)
Ottilies Entsagung könnte das letzte Wort des Romans sein. Man könnte meinen, dass ihre subjektive Entscheidung das agonale Rechtsschema von Eduard und Charlotte überwindet. Dass sie wie eine Märtyrerin gegen ein Unrechtssystem zeugt und ein wahres Recht, ein einheitliches Rechtsverfahren vertritt. Aber der Roman endet eben nicht im martyrologischen Schema. Ein letztes Mal werden die Zufälle so geordnet, dass die Herstellung einer (Ent-)Scheidung entstellt wird. Nach Ottilies Abreise zur Pension kommt es in einem Wirtshaus zu einem letzten Treffen zwischen ihr und Eduard. Mit der ihr eigenen Geste der Ablehnung erneuert sie ihre Entsagung: Sie drückte „die flachen, in die Höhe gehobenen Hände zusammen, führte sie gegen die Brust, indem sie sich nur wenig vorwärts neigte, und sah den dringend Fordernden mit einem solchen Blick an, daß er von allem abzustehen genötigt war, was er verlangen oder wünschen mochte.“ (II.16, 511) Gegen ihren Entschluß, in der Form einer vita activa als Pensionsvorsteherin tätig Buße zu tun, kehrt sie auf Eduards und Charlottes Gut zurück, um dort verstummend und verhungernd zu sterben. Damit verändern sich sowohl die Ursache als auch der (Rechts-)Status ihrer Entsagung.331 Nicht mehr das ‚Verbrechen‘ der fahrlässigen Tötung, sondern ihre Leidenschaft, ihre Anhänglichkeit an Eduard lösen nun die modifizierte Entsagung aus. Aus der Entscheidung, die die anderen involviert hätte, wird eine, die nur noch sie betreffen soll. „Ein strenges Ordensgelübde“, schreibt Ottilie in ihrem Abschiedsbrief an die Freunde, „welches den der es mit Überlegung eingeht, vielleicht unbequem ängstiget, habe ich zufällig, vom Gefühl gedrungen, über mich genommen. […] Duldet mich in eurer Gegenwart […]; aber mein Innres überlaßt mir selbst.“ (W II.17, 515) Was den Grund für das „Ordensgelübde“ angeht, scheint sie nun mit dem ‚zufälligen‘ Vom-Gefühl-gedrungen-Sein selbst auf Eduard zu verweisen. Schwieriger sieht es mit dem Status ihres erneuerten Gelübdes aus. „Ein feindseliger Dämon“, heißt es hierzu am Anfang von Ottilies Brief, „der Macht über mich gewonnen, scheint mich von außen zu hindern, hätte ich mich auch mit mir selbst wieder zur Einigkeit gefunden.“ (W II.17, 514) Welchen Status hat die tödliche Entsagung? Einen mythisch-dämonischen, tragischen, rechtlichen oder ästhetischen?332 Wie ist Ottilies Todes-Urteil zu beurteilen? Wie stirbt sie? 331Die veränderte Qualität von Ottilies Entsagung, die mit ihrer letzten Begegnung mit Eduard eintritt, betont auch Zumbusch, Die Immunität der Klassik, S. 355. 332Benjamin liest, um die erzählerische Leistung Goethes zu profilieren, die Figur Ottilies dezidiert anti-tragisch – als schönen Schein einer spezifisch modernen Schuldverstrickung. In ihrer Entsagung sieht er, vermutlich mit Freud, einen Todestrieb am Werk. (Benjamin Goethes Wahlverwandtschaften, S. 176.) Zum Freud-Bezug vgl. Weigel, „Treue, Liebe, Eros“, S. 181– 183; ferner: Honold, „Benjamins Konzept des Tragischen“, der ausführt, warum der Begriff des Tragischen in den Wahlverwandtschaften ein „wenig willkommener […] Gast“ und „Fremdkörper“ (S. 151) ist, obwohl sein Einbeziehen eigentlich zwingend erforderlich wäre.
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Vor dem hier eingeschlagenen, rechtskritischen Hintergrund der Lektüre wird man sagen können, dass der Roman die Problematik des Urteils in der Figur Ottilies noch einmal zuspitzt, ohne sie zu aufzulösen. Ein Punkt ist in der neuerlichen Zuspitzung aber aufschlussreich: Ottilie entscheidet mit ihrem Tod zwar immer noch auch den Scheidungsfall, aber nicht mehr als Rechtssubjekt, das sich innerhalb der agonalen Rechtsordnungen befände. Während ihre erste Entsagung dem Status einer richterlichen Entscheidung gleichkommt, nähert sich ihre zweite einer Selbstjustiz an, die über sich selbst richtet. Die Todesentscheidung ist mit jenem „heimlichen Gericht“ identisch, das Mittler als „willkürlich[e]“ (W II.18, 520) Bestrafung dem verbietenden sechsten Gebot des Dekalogs vorziehen würde und das er mittelbar – indem seine Rede auf Ottilies Ohren trifft – ja auch herbeiführt.333 Wer immer dieses Urteil letztlich verantwortet, Ottilie – und nur sie – trifft eine naturalisierte, mythisch-archaische Gesetzgebung, der sie, außerhalb einer Gemeinschaft, die auf einem vermittelnden und konfliktlösenden Recht basiert, unterworfen ist. Zwar wird man einwenden können, dass auch Eduard stirbt. Aber das Bild der profanierten Heroin und Märtyrerin Ottilie kann Eduard bloß schlecht und dilettantisch imitieren; seine „Natur“ widersetzt sich der Mythisierung, er bleibt gewissermaßen zwischen zwei Verfahrensordnungen hängen.334 In Ottilies Sterben verdichten sich die mythisch-literarisch-religiösen Intertexte und verbreiten einen ‚schönen‘ Schein tödlichen Rechts: noch einmal die Madonna, nun mit Kind und Köfferchen (statt Buch); noch einmal Rousseaus Julie, nun als scheinbar wundertätig Sterbende; noch einmal Echo, die, von Narziss verschmäht, nun gleichsam rollenverkehrt zurückschlägt. Dagegen bleibt Eduards Sterben intertextuell stumm: „Endlich fand man ihn tot.“ (W II.18, 528) Nicht das Wunder gilt es an seiner Seite zu bannen, sondern den Selbstmord. Das machen, um Charlottes Verdacht auszuräumen, Mittler und der Arzt dann auch mit der bewährten, „sittlichen“ und „natürlichen“ Methode (W II.18, 528). Noch das letzte Bild, das Paar unter dem Gewölbe der Kapelle, ist von dieser Asymmetrie geprägt. Eduard, den man an die Seite von Ottilies schöner Sarg-Linie legt (mit Ottos Sarg über und dem Köfferchen unter ihr), ruht „außer der Reihe“.335
333Uwe
Diederichsen zitiert die Worte Mittlers vom ‚heimlichen Gericht‘ in einer Fußnote und verweist auf die dadurch entstehende Nähe der Kritik an der willkürlichen Hinrichtung Karls I. zur Figur Ottilies: „Dieselbe Unrechtmäßigkeit trifft auch Ottilie!“ („Goethes Wahlverwandtschaften – auch ein juristischer Roman?“, S. 156, Fußn. 46). 334Wenn es von Eduard heißt, „sein Schicksal ist ausgesprochen durch die Tat [der Ersetzung seines gravierten Glases durch ein ähnliches; Anm. D.S.]“ (W II.18, 528), und wenn seine Askese als Schein-Askese und Nachahmung gekennzeichnet wird, desolidarisiert sich der Erzähler zugunsten Ottilies von ihm. Bettina von Arnim schrieb Goethe bekanntermaßen: „Du bist in sie verliebt, Goethe […]; jene Venus ist dem brausenden Meer deiner Leidenschaft entstiegen“ (Bettina von Arnim, Goethes Briefwechsel mit einem Kinde, hg. Walter Schmitz, Sybille von Steinsdorff, Frankfurt a. M.: o. V. 1992, S. 311; zit. in: Judith Reusch, Zeitstrukturen in Goethes Wahlverwandtschaften, Würzburg: Königshausen & Neumann, 2004, S. 66.) 335Brandstädter, Der Einfall des Bildes, S. 192.
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Zusammenfassend zeigt sich, dass die Wahlverwandtschaften zweierlei Rechte inszenieren, und dabei Literatur und Recht in ein chiastisches Verhältnis zueinander bringen. Eduards rechtlicher Freispruch und Ottilies ästhetischer Schuldspruch verunmöglichen nicht nur die Vorstellung von der Ehe als Gründungsmetapher für die Gemeinschaft. Sie setzen Goethes vorausgegangene Ehe-Experimente ebenso fort, wie sie sich einem Konzept von deutscher Nationalliteratur widersetzen.336 Und sie verweisen auf einen gegenstrebigen, agonalen Anfang des modernen Romans, in dem sich ‚klassische‘ und ‚romantische‘, ‚realistische‘ und ‚poststrukturalistische‘ Verfahren kreuzen. Ottilie präfiguriert die Figur der Ehebrecherin, die im realistischen Ehebruchroman mehr und mehr ins Zentrum rückt. Was die Figur des Paares angeht, ist das, bei aller künstlerischen Notwendigkeit, ein autoritärer, patriarchaler und, wenn nicht tragischer, so doch ärgerlicher Ausschluss des ‚ewigen Weiblichen‘ aus der Gemeinschaft. Im realitätsdefizitären Eduard und der figuralisierungsbedürftigen Ottilie fällt das Scheinrecht der Wahlverwandtschaften mit einem streitbaren Recht des Romans zusammen.
336Vgl.
hierzu ausführlich Reschke, „Zeit der Umwendung“, S. 165–205.
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Romane vor Gericht – Notre-Dame de Paris und Madame Bovary
Inspirons, s’il est possible, à la nation l’amour de l’architecture nationale.*
Victor Hugos 1832, kurz nach der Juli-Revolution erschienener Roman Notre-Dame de Paris. 1482 knüpft wie Manzonis I promessi sposi an Scotts Vorbild des historischen Romans an. Betrachtet man allein die Handlung, muss man allerdings feststellen, dass Hugos Roman keine Eheschließung schildert, sondern eine Hinrichtung. Esmeralda, die vermeintliche Zigeunerin, wird wegen Mord und Hexerei angeklagt und am Ende auf der Pariser Place de Grève gehängt. Nicht zuletzt aufgrund seiner zahlreichen Reinszenierungen ist der Roman im kollektiven Gedächtnis aber nicht unter der Kategorie Kriminalroman, sondern als Liebesmelodram verankert. Sein Erfolg gründet in der Melodramatisierung von Verbrechen und Strafe. Das unterscheidet ihn von den bislang hier untersuchten Texte, die zwar alle Liebes- und Schulddiskurs engführen, aber eben nicht so weit gehen, den sexualisierten Tötungsakt zum zentralen Telos des Textes zu machen. Im Gegenteil zielt Manzoni mit seiner Paar-Poetik auf eine relationale Handlungsmacht, die just jenseits von Verbrechen und Strafe angesiedelt sein soll. In Rousseaus Roman bleibt die Gewalt des Vaters ungesühnt und Julies Tod bricht als Unfall ein; Herrmann und Dorothea kaschiert das gewaltsame Moment in Herrmanns Brautnahme als epische List. Nur in Ottilies und Eduards ‚Liebestod‘ kündigt sich die melodramatische Geste der Vereinigung der Liebenden im Tod als ein Eigenrecht des Romans an, dem aber ein Realitätsprinzip entgegengestellt bleibt. Hugos Roman soll – zusammen mit Flauberts Madame Bovary – am Ende dieser Untersuchung stehen, weil hier sozusagen die Schnittstelle von Eheund Ehebruchroman und ein Kippen in der Darstellungsform skizziert werden
*Victor Hugo, Notre-Dame de Paris. 1482, hg. Benedikte Andersson, Paris: Gallimard (folio classique) 2009, S. 64. – Der Roman wird im Folgenden nach dieser Ausgabe mit der Sigle ND, Buch-, Kapitel- und Seitenangabe zitiert.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0_5
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kann. Denn noch Flaubert, der mit Madame Bovary einen bis ins kleinste Detail ausgearbeiteten, ästhetischen Schuldspruch gegen Hugos Roman vorbringt, folgt doch dem romantischen Skript, dass am Ende zwei in den Tod gehen.1 Hugos poetologisches Verfahren weist große Ähnlichkeiten mit demjenigen Manzonis auf. Wie dieser in seiner Lettre à M. Chauvet konzipiert auch Hugo in der zwei Jahre vor Notre-Dame de Paris geschriebenen Préface de Cromwell den Roman der Zukunft als eine Verschmelzung von Epos und Drama.2 Bereits 1823 schwärmt Hugo in einer Rezension von Scotts Quentin Durward: „[…] il restera un autre roman à créer, plus beau et plus complet encore selon nous. C’est le roman à la fois drame et épopée, pittoresque mais poétique, réel mais idéal, vrai mais grand, qui enchâssera Walter Scott dans Homère.“3 Notre-Dame de Paris ist demnach solch ein neuer Homer, in den Scott eingelassen ist. Tatsächlich ist vieles ‚eingelassen‘ in diesen langen, stilistisch holprigen und groben Text, der von einem prätentiösen Wir eingeleitet wird, das am Ende hinter der melodramatischen Geste von Esmeraldas und Quasimodos Vereinigung im Tode monumental verstummt. Beschreibungen, geschichtsphilosophische Reflexionen, Dialoge, Massen-, Fest-, Folter-, Hinrichtungs- und Liebesszenen alternieren in rasantem Tempo. An Stelle von Reflexion und Konzentration ist die Poetik von Notre-Dame de Paris von hastigen Registerwechseln und dramatisch zugespitzten Szenen bestimmt, in der die politischen Gegensätze im großen Gefühl aufgehen. Der spätmittelalterliche Kontext unter dem Kapetinger Ludwig XI., dem ersten, institutionalisierten „roi très chrétien“ der Franken, kondensiert sich in einem fiktiv-überhistorischen und revolutionären Moment – 1482 (ein Jahr vor Ludwigs Tod) –, der nicht nur die gesamte Neuzeit bis zur gegenwärtigen JuliRevolution 1830 in sich trägt, sondern zugleich ein romanhaftes und romantisches Versprechen des Neuanfangs enthält. Allerdings scheint die historische Rekonstruktion jeglicher Rationalität zu entbehren. Als Leser fragt man sich ständig, wie die historischen Tableaus des Romans, seine Abweichungen von
1Vgl.
Edi Zollinger, Arachnes Rache. Flaubert inszeniert einen Wettkampf im narrativen Weben: Madame Bovary, Notre-Dame de Paris und der Arachne-Mythos, München: Fink 2007. 2Die Lettre à M. Chauvet, eine Antwort Manzonis auf den Vorwurf, seine Tragödie Il conte di Carmagnola verstoße gegen die klassischen Regeln, erscheint erstmals (auf Französisch) 1823 bei Bossange unter dem Titel: Le Comte de Carmagnola et Adelghis, Tragédies d’Alexandre Manzoni, traduites de l’italien par M.-C. Fauriel; Suivies d’un article de Goethe et de divers morceaux sur la Théorie de l’Art dramatique. Sie nimmt den erst mit Stendhals Racine et Shakespeare (1823–1825) und Hugos Préface de Cromwell und Hernani (1830) ausbrechenden Romantik-Streit vorweg. Trotzdem ist sie in Frankreich quasi wirkungslos geblieben, was auf Manzonis Umfeld der Idéologues zurückgeführt wird, welches unter Konsulat und Kaiserreich kulturell und politisch bereits entmachtet war. Zur Lettre à M. Chauvet vgl. Vf., „Bessere Tragödien, besseres Italienisch? Alessandro Manzonis Lettre à M. Chauvet (1820–1823)“, ersch. in: Andreas Keller, Stefan Willer (Hg.), Selbstübersetzung als Wissenstransfer / Self-Translation as Transfer of Knowledge, Berlin: Kadmos 2020. 3Victor Hugo, „Sur Walter Scott“, in: Ders., Notre-Dame de Paris, hg. Andersson, S. 725.
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der Realgeschichte und die fiktiven Hauptfiguren – keine dörflich-bäuerlichen „gente di nessuno“ wie bei Manzoni, sondern ein deformierter Zigeunersohn und eine scheinbare Zigeunerin – eigentlich zusammenhängen. Zwar ist die Handlung tief in der Geschichte Frankreichs verankert. So signalisieren die Verheiratung des Dauphins, mit der sie einsetzt, und die Niederschlagung des Aufstands der „truands“, mit der sie endet, überdeutlich eine Auseinandersetzung mit dem Konflikt zwischen Monarchie und Republik. Aber wie dieser Konflikt auf der Figurenebene verquickt, vermittelt oder gar gelöst werden soll, bleibt schleierhaft. Wo Manzoni geschichtspessimistisch an der Trennung von Fiktion und Historie gelegen ist, zielt Hugos optimistische Geschichtsvision auf eine ‚wirkliche‘ Vermengung der Bereiche. Lukács Modell, nach dem ein männlicher, mittlerer Held zwei rivalisierende, politische Lager befriedet, greift hier nicht, so dass der Roman in seiner Abhandlung Der historische Roman (1955) auch nicht erwähnt wird.4 Immer wieder wird in Bezug auf den Roman stattdessen von der Kathedrale als eigentlichem Zentrum des Romans gesprochen. Vom Monument aus Stein ist es bis zum Nationalsymbol und Paris-Roman nicht mehr weit.5 Jacques Seebacher spricht vom Kippen des historischen Romans in die Geschichtsphilosophie und von einem ‚leeren Zentrum‘. Daran anknüpfend möchte ich vom Triumph der ‚nationalen‘ Figur sprechen, welcher aus dem Eroberungssturm des Dichters auf das jungfräuliche Zeichen hervorgeht. Bereits Michelet hat in seiner Histoire de France du Moyen Âge die Wucht des Werkes (an-)erkannt. Er verzichtet dort auf eine Beschreibung der Pariser Kathedrale, weil sich, so schreibt er, bereits ein Anderer diesem Monument mit einer solchen Löwenpranke eingeschrieben hätte, dass niemand mehr es zu berühren wage.6 Die wichtigste ‚Waffe‘ in diesem literarischen Eroberungskampf ist die Metapher der Ehestiftung. Hugos Roman ist, so weit ich sehe, der letzte, in dem die Eheschließungsform als ausdrückliches Darstellungsprinzip für eine komplexe Handlung fungiert. Wenn Madame Bovary und Charles Quasimodo und Esmeralda einander in vielen Details ähneln, liegt der Hauptunterschied darin, dass Flaubert nicht die Eheschließung, sondern die Verlaufsform der Ehe zum Darstellungsprinzip macht.
4Georg
Lukács, Der historische Roman, Berlin: Aufbau-Verlag 1955. Lukács’ Konzept wendet sich gegen die Romantik, deshalb findet nur der späte Hugo, namentlich Quatrevingt-treize (1874), Erwähnung (vgl. S. 276 f.). 5Karlheinz Stierle, Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München: Hanser 1993, S. 520–544 („Romantische Phantasmagorie und Stadtmythos: Victor Hugos Notre-Dame de Paris“). 6„Je voulais du moins parler de Notre-Dame de Paris. Mais quelqu’un a marqué ce monument d’une telle griffe de lion, que personne désormais ne se hasardera d’y toucher. C’est sa chose désormais, c’est son fief, c’est le majorat de Quasimodo. Il a bâti, à côté de la vieille cathédrale, une cathédrale de poésie, aussi ferme que les fondemens de l’autre, aussi haute que ses tours.“ (Jules Michelet, Histoire de France, Bd. II, Buch IV, Paris: Hachette 21835, S. 686.).
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5.1 Dynastische Brautnahme Das erste der elf Bücher ist Exposition und mise en abyme des Romans gleichermaßen. Im dramatischen Modus wird dem Leser der Anfang eines Theaterstücks vor Augen gestellt, mit dem zugleich das Motiv der königlichen Brautnahme eingeführt wird. Nach dem Abbruch des Stückes und dem Auftritt Esmeraldas scheint sich dieses Motiv in eine Bräutigamsnahme zu verkehren, um ganz am Ende des Romans als Brautopfer der Esmeralda reinszeniert zu werden. Hugos Roman bringt, mit anderen Worten, keinen Freud’schen Vatermord auf die Bühne, der eine männliche Herrschaft begründet, sondern einen symbolischen Muttermord, der eine Gemeinschaft von mütterlich-gerechten Söhnen rechtfertigen soll.7 Man schreibt den 6. Januar 1482, den Hugo zum Tag eines dreifachen Festes macht: Das Fest der Epiphanie („fête des rois“) koinzidiert mit dem Karneval („fête des fous“), auf dem Quasimodo zum Narrenpapst und karnevalesken Gegen-König gewählt wird. Dieses Doppelfest wiederum wird mit einem Hochzeitsfest avant la lettre verschmolzen, denn zwei Tage vor dem 6. Januar ist die flämische Gesandtschaft eingetroffen, um die Heiratsverträge zwischen Marguerite de Flandre und dem französischen Dauphin zu besiegeln.8 Aus diesem Anlass soll auf dem grünen Marmortisch des Palais de Justice ein allegorisches Stück des Dichters Pierre Gringoire zur Aufführung kommen; ein Stück, das allerdings nicht über den Prolog und das erste Roman-Buch hinauskommt und das in der Folge des Romans von der ‚echteren‘ Geschichte Esmeraldas und Quasimodos abgelöst wird. Wie der ganze Roman ist bereits das Theaterstück von Aufschub, von Störungen und Unterbrechungen geprägt, die durch diejenigen Vertreter des Volkes, die gleichzeitig zur Darstellung kommen sollen, ausgelöst wird. Es trägt den Titel Le bon jugement de madame la vierge Marie, und neben Jupiter und der erwarteten Jungfrau Maria treten vier allegorische Gestalten auf – Noblesse, Clergé, Marchandise und Labour –, von denen man erfährt, dass sie für ihren gemeinsamen „dauphin d’or“ (ND, I.II, 92) auf der Suche nach der schönsten Gattin der Welt sind. Verglichen mit den alteuropäischen Staatsheiraten wirkt diese Brautwerbung insofern revolutionär, als hier nicht der regierende Machthaber, der König, sondern die Stände als Repräsentanten der Gesellschaft freien.9 Es ist
7„[D]isons
que l’écartement de ce système d’amours paternelles commence à construire le vertige de la malédiction maternelle.“ (Jacques Seebacher, „Le système du vide dans NotreDame de Paris“, Littérature 5 (1972), 95–106; hier: 101 f.) 8Vgl. ND, I.I, 67. 9Vgl. hierzu Michael Stolleis, „Staatsheiraten im Zeitalter der europäischen Monarchien“, in: Gisela Völger, Karin von Welck (Hg.), Die Braut. Geliebt, verkauft, getauscht, geraubt. Zur Rolle der Frau im Kulturvergleich, Bd. 1, Köln: Rautenstrauch-Joest-Museum 1985, S. 274–279; sowie ders., „Die Prinzessin als Braut“, in: Joachim Bohnert u. a. (Hg.), Verfassung – Philosophie – Kirche. Festschrift für Alexander Hollerbach zum 70. Geburtstag, Berlin: Duncker & Humblot 2001, S. 45–57.
5.1 Dynastische Brautnahme
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bemerkenswert, wie Ludwig XI., der mächtige und die Monarchie konsequent zentralisierende König in Notre-Dame de Paris an den Rand gedrängt wird. Nur zwei Auftritte hat er – einen Besuch inkognito bei Claude Frollo in V.1 und den Aufenthalt in der Pariser Bastille, in X.5, von wo aus er die Niederschlagung des Sturms auf Notre-Dame befehlen wird. Hier, im ersten Buch, wo es um die Zukunft des Thronfolgers geht, ist er abwesend. Zwischen störenden Studenten und Bettlern, zwischen neu eintreffenden Hofrepräsentanten und dem Grölen des Publikums sorgt der selbst anwesende Dichter Gringoire mühsam für die Fortsetzung seines Stückes: Die Göttin Venus taucht auf, erhebt Anspruch auf den königlichen Dauphin und will ihn gerade mitnehmen – „c’est-à-dire, sans figure, épouser monsieur le dauphin“ (ND, I.IV, 113) –, als eine Nebenbuhlerin erscheint: „une jeune enfant, vêtue de damas blanc et tenant en main une marguerite (diaphane personnification de mademoiselle de Flandre)“ (ND, I.IV, 113). Die junge Marguerite will gegen Venus um den Dauphin kämpfen, was lakonisch vom Erzähler als „[c]oup de théâtre und péripétie“ (ND, I.IV, 113) bezeichnet wird. An diesem Punkt wird die Bedeutung des Titels plausibel, denn neben Jupiter wird nun die Heilige Jungfrau auf die Bühne gerufen, die mit ihrem „bon jugement“ den Konflikt lösen soll. Dazu wird es aber nicht kommen, weil der ungeduldige, flämische Jacques Coppenole nun endgültig die lustige Narrenpapstwahl statt des öden, allegorischen Stückes einfordert. Gringoires Dichtwerk wird abwechselnd als ‚mystère‘, ‚moralité‘, aber eben auch als ‚épithalame‘, Braut- und Hochzeitslied, bezeichnet. In seiner fragmentarischen Darstellung suggeriert es die Umkehrung der Brautnahme in eine konfliktuelle Bräutigamsnahme. Venus und Marguerite sollen statt dem Urteil Jupiters demjenigen der „sainte Vierge“ unterstellt werden. Die Staatsehe wird so nicht nur zu einer Angelegenheit der Volksvertreter, sondern auch zu einer Rechtsfrage, die – zugespitzt zur Opposition von antiker Erotik und christlicher Caritas von Anfang an zugunsten der keuschen Jungfrau entschieden zu sein scheint. Damit suggeriert das Stück auch eine Umkehrung des Geschlechterverhältnisses: Jungfräuliche Mütterlichkeit soll sich gegen leidenschaftlich-gewaltförmige Väterlichkeit durchsetzen. Der ‚Dauphin‘ soll, indem er eine keusche Braut erhält, ein keuscher Gatte werden. Der Wechsel der Geschlechterrollen drückt sich außerdem in den vier Standesallegorien aus: Adel („Noblesse“) und Bürgertum („Marchandise“) werden als ausdrücklich weibliche, Klerus („Clergé“) und Arbeiterschaft („Labour“) als männliche Allegorien markiert.10 Damit verkehrt sich auch das Verhältnis einer traditionell als männlich konnotierten Monarchie
10„Le
sexe des deux allégories mâles était clairement indiqué à tout spectateur judicieux par leurs robes moins longues et par la cramignole qu’elles portaient en tête, tandis que les deux allégories femelles, moins court-vêtues, étaient coiffées d’un chaperon.“ (ND, I.II, 91 f.)
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mit einer weiblichen Kirche.11 Aber das allegorische Urteil der Heiligen Jungfrau bleibt aus, der Dauphin und die weiße Marguerite werden in den beiden letzten Kapiteln des ersten Buches, „Quasimodo“ (I.V) und „Esmeralda“ (I.VI), buchstäblich durch neue Titelhelden ersetzt. Mit dem Ausbleiben des Urteilsspruches in Gringoires Mysterienspiel bleiben auch Verlobung und Hochzeit (zunächst) aus, und das karnevaleske Spektakel verharrt in der Ambivalenz von Fest und Gewalt, von Befreiung und Verurteilung.
5.2 Scheinehen Esmeralda ersetzt die Heilige Jungfrau nicht einfach, vielmehr ist sie eine exakte Mischung aus Venus und ‚Marguerite‘, aus Erotik und Caritas, und als solche, wie genauer zu zeigen ist, auch treue Gattin und Ehebrecherin in einem. Hat bereits die hässliche Fratze Quasimodos zur Ablenkung vom Mysterientheater beigetragen, so bewirkt ihr Tanz und ihre ganze Erscheinung endgültig sein Ende.12 Esmeralda zieht die Aufmerksamkeit aller, namentlich der männlichen Protagonisten auf sich. Sie wird zum Zentrum der Verführung, und nacheinander verfallen sie ihr alle – Gringoire, Quasimodo, Frollo, Phœbus –, ohne sie wirklich erobern zu können. In ihrer Charakterisierung als fremd-orientalische Schönheit scheut der Text weder Klischee noch Aufwand. Esmeralda ist so schön und anziehend, wie Quasimodo hässlich und abstoßend ist. Im Namen trägt sie die Kostbarkeit eines Edelsteins, wenn an der Kette, die sie trägt, auch nur grüne Glasperlen klimpern. An ihrer Seite hat sie die Ziege Djali. Esmeralda mutet andalusisch, persisch, ägyptisch, zigeunerhaft an; Gringoire, der Dichter, vergleicht sie mit einer Nymphe, Göttin, Bacchantin, mit einem chimärischen Luftwesen und einer himmlischen Kreatur. Nicht mehr, wer – wie im Mysterienstück – den königlichen Dauphin, sondern wer Esmeralda ehelichen darf, ist im Roman die Frage. Eine Frage, die der Text erst im allerletzten Romankapitel zugunsten Quasimodos entscheiden wird. An keiner Stelle spielt eine persönliche Paarbeziehung auch nur die geringste Rolle in diesem Roman, der insgesamt ein dunkles, zugiges, kaltes, schmutziges und ausnahmslos öffentliches Paris zum Schauplatz hat. Erotik ist, wie Victor Brombert schon festgestellt hat, das konsequente Substitut für politische Macht in Notre-Dame de Paris: „Power as eros and eros as power – each is the obverse of each other“.13 Im Prinzip entspricht diese Überblendung von Eros
11Vgl.
hierzu Michel Butor, „Les romans de Hugo“ (Vorlesung an der Université de Genève 1978/1979), abrufbar unter: https://mediaserver.unige.ch (06.04.2017). 12Vgl. hierzu ausführlich Sabine Narr, Die Legende als Kunstform. Victor Hugo, Gustave Flaubert, Émile Zola, München: Fink 2010, wo insbesondere die Legende der Hl. Agnes als Intertext für den Roman herausgearbeitet wird. 13Victor Brombert, Victor Hugo and the Visionary Novel, Cambridge, Mass. u. a.: Harvard University Press 1984, S. 49–85 („The Living Stones of Notre-Dame“); hier: S. 62.
5.2 Scheinehen
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und Polis exakt jener allegorischen Spekulation, anhand derer Doris Sommer die nationale Gründungsmacht der lateinamerikanischen Romane des 19. Jahrhunderts darlegt.14 Dass der Roman ausdrücklich auf einen politischen Eros zielt, der vom Erzähler auf eine unwahrscheinliche, eben melodramatische Weise umgelenkt werden muss, zeigt sich in einer konsequenten Verbiegung oder: Verfehlung des sexuellen Aktes zugunsten einer ostentativen Allegorisierung bzw. (ehe-)rechtlichen Metaphorisierung. Die Ehe ist auch insofern eine rein machtpolitisch-gesellschaftliche Frage im Roman, als die Männer Gringoire, Quasimodo, Frollo, Phoebus jeweils für diejenigen Stände – Bürgertum, Arbeiterschaft, Kirche und Adel – einstehen, die auch das einleitende, allegorische Mysterium bereits auf die Bühne gebracht hat. Der erste, der Esmeralda zum Schein heiratet, ist Gringoire, Dichter, Philosoph und Bürger des juste milieu. In der Nacht nach dem Karnevalsspektakel wird er von den „truands“ in den Wunderhof („la cour des miracles“) entführt und vor ein Gericht gestellt, das von drei subalternen Königen präsidiert wird.15 Weil er die absurde Prüfung, die ihm für die Aufnahme in das Volk der Briganten auferlegt wird, nicht besteht, soll er gehängt werden. Im letzten Moment erscheint Esmeralda, die ihn durch eine Scheinheirat rettet (‚un mariage à la cruche cassée‘, vgl. ND, II.VI, 158–179). Die Ehe wird nach Zigeuner-Brauch mit dem Zerbrechen eines Kruges geschlossen. Der in vier Stücke zerbrochene Krug bedeutet eine Bindung auf vier Jahre: eine platonische Ehe auf Zeit. Gringoire freut sich auf eine Hochzeitsnacht; so legt es bereits der Titel des anschließenden Kapitels „Une nuit de noce“ (ND II.VII, 180–191) nahe. Aber seine Annäherungsversuche werden von Esmeralda mit einem Messer abgewiesen; und die andauernde Werbung Gringoires erwidert das Luftwesen mit einem gehauchten „Phœbus“. In den Sonnenhauptmann und berittenen Bogenschützen der königlichen Garde, Phœbus de Châteaupers, der sie in der gleichen Nacht vor der Entführung durch Claude Frollo und Quasimodo gerettet hat, ist sie unsterblich verliebt. Gringoire aber ist eine sonderbare Zwischenfigur des Romans. Als Dichter des allegorischen Epithalamion hat er gleichsam das Drehbuch für die Verheiratung in der Hand, gleichzeitig ist er Beobachter, Alter Ego des Erzählers, der in vielen Szenen Perspektiventräger der Handlung ist, aber auch eine Figur, die in die Handlung
14Vgl.
Doris Sommer, Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley/Los Angeles/London: University of California Press 1991, S. 50: „The romantic affair needs the nation, and erotic frustrations are challenges to national development.“ 15Vgl. ND, II.VI, 168: „Tu es devant trois puissants souverains: moi, Clopin Trouillefou, roi de Thunes, successeur du grand coësre, suzerain suprême du royaume de l’argot; Mathias Hungadi Spicali, duc d’Égypte et de Bohême, ce vieux jaune que tu vois là avec un torchon autour de la tête; Guillaume Rousseau, empereur de Galilée, ce gros qui ne nous écoute pas et qui caresse une ribaude.“
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involviert ist.16 Jacques Seebacher hat Gringoires unklare Rolle zwischen histoire und discours mit der Unterbrechung der Entstehungsgeschichte durch die JuliRevolution erklärt.17 Nach dem ursprünglichen Plan sollte am Ende er und nicht Esmeralda hängen; der Dichter hätte demnach für den Ausgleich der politischen Kräfte gesorgt. Mit der Revolution, so Seebacher, wandelt sich Gringoire indessen zu einer sinistren Figur am Rand, zu einem Vertreter der kompromisslerischen, bürgerlichen Orléans-Anhänger. Tatsächlich ist Gringoire die einzige Figur, die zweimal angeklagt wird – zuerst von den truands und dann, als diese die Kathedrale stürmen wollen, auch vom König – und trotzdem jeweils mit dem Leben davonkommt. Für die melodramatische Haupthandlung bedeutet dies, dass er eskapistisch aus ihr verschwindet. Gringoire, der Mysteriendichter, endet als Tragödienschreiber, „[il] fait une fin tragique“ (ND, XI.III, 695). Er weiß von Vornherein, dass das Spektakel für alle Hauptbeteiligten tödlich ausgehen wird. Schon als die Narrenpapstwahl seinem Stück die Show stiehlt, verdeckt er sein Gesicht mit den Händen, um dem drohenden Opfer (Esmeraldas) nicht zusehen zu müssen – wie Agamemnon, der sich auf dem Portrait des Malers Thimantes das Gesicht mit einem Mantel verhüllt, um das Opfer der Iphigenie nicht ansehen zu müssen.18 Claude Frollos Mahnung, dass Gringoire, den Esmeralda doch vor dem Strang der truands gerettet hat, ihr gegenüber nun auch verpflichtet sei, sie vor dem Strang des Königs zu retten, schlägt er aus dem Wind: „N’épouse pas toujours qui fiance“ (ND, X.I, 560) – wer sich verlobt, heiratet nicht unbedingt. Er rettet nicht Esmeralda, sondern die Ziege Djali. Und während der Roman über die Ablösung der Architektur durch den Buchdruck philosophiert und im gleichen Zuge dem toten Stein von Notre-Dame neuen Geist einhauchen will, vollzieht Gringoire die umgekehrte Bewegung von der Dichtung zur Architektur, vom lebendigen Mysterium zur toten Tragödie.19 Der erste aber, der Esmeraldas Liebe um jeden Preis erobern will, ist der Hüter der toten Kathedrale, Claude Frollo – die Verführerfigur des Romans, schauerromantischer Mönch, Faust, Don Juan und Alchimist vor dem Herrn. Erst sein Brautraub, seine mit Quasimodo versuchte Entführung Esmeraldas, bringt die Handlung als politische und poetische Transgression in Gang. Erst sein maßloses
16Durch
seine Perspektive wird der Leser im zweiten Buch vom Palais de Justice zur Place de Grève geführt; mit ihm gelangt man in die Pariser Unterwelt und wird Zeuge der versuchten Entführung Esmeraldas. Zusammen mit Claude Frollo ist er bei Esmeraldas Hexenprozess anwesend (VIII.I), und im zehnten Buch wird er von Frollo dazu gedrängt, bei der Rettung Esmeraldas aus der Kirche mitzuwirken. 17Jacques Seebacher, „Gringoire, ou le déplacement du roman historique vers l’histoire“ (1975), in: Ders.: Victor Hugo ou le calcul des profondeurs, Paris: PUF 1993, S. 155–166. 18„Gringoire cacha son visage de ses deux mains, n’ayant le bonheur d’avoir un manteau pour se voiler la tête, comme l’Agamemnon“. (ND, I.IV, 115) 19Im Gespräch mit Claude Frollo erklärt er: „J’ai d’abord aimé les femmes, puis des bêtes. Maintenant j’aime des pierres.“ (ND, X.I, 553)
5.2 Scheinehen
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Begehren bewirkt das Kippen des Karnevals- und Fast-Hochzeitsfestes in einen Volksaufstand. Lustfeindlich, wissens- und machthungrig versucht Dom Claude, der Architektur der entvölkerten Kathedrale das Rezept für das alchimistische Große Werk abzuringen.20 In seiner Alchimistenkammer, die er sich hoch oben in einem der Kirchtürme eingerichtet hat, betreibt er seine Forschungen und ritzt, abgelenkt von den Gedanken an Esmeralda, dabei auch jenes ΑΝÁΓΚΗ (fatum, Schicksal) in die Wand, auf das der Romanautor laut Vorwort sein ganzes Buch gebaut hat (vgl. ND, VII.IV, 388–405). Nachdem die Entführung Esmeraldas misslungen ist und Frollo außerdem erfahren hat, dass diese in Phœbus verliebt ist, stellt der Kirchenmann den beiden als gespenstischer „moine bourru“ nach. Im Bordell der Falourdel, wo die beiden absteigen, beobachtet er die Liebenden von einem Nebenzimmer aus. Der voyeuristische Akt erregt ihn, und er vollendet ihn auf symbolische Weise, indem er unmittelbar vor dem Geschlechtsakt eindringt, Phœbus einen Dolch in den Rücken rammt und aus dem Fenster flüchtet. Statt Phœbus’ Sperma fließt Blut, das die keusche Jungfrau zwar nicht entjungfert, aber zur Hexe und zum Sündenbock für eine nicht begangene Tat macht. Über die ohnmächtig gewordene Esmeralda, die man wenig später neben dem blutüberströmten Hauptmann findet, raunt man: „C’est une sorcière qui a poignardé un capitaine.“ (ND, VII.VIII, 438) Esmeralda wird festgenommen, und die letzten drei Roman-Bücher sind der Frage gewidmet, ob, wie und durch wen sie vor dem Galgen bewahrt werden kann. Frollos Begehren ist durch ihre Auslieferung an die politische Macht keineswegs gestillt. Noch biblische dreimal versucht er Esmeralda und stellt sie vor die Wahl, sich ihm oder dem Galgen zu ergeben.21 Dreimal entscheidet sich Esmeralda, Frollos ‚schwarze Sonne‘, für die helle Sonne Phœbus. Frollo weiß, dass er als Mann der Kirche, der ein Keuschheitsgelübde abgelegt hat, Esmeralda nicht heiraten kann. Sein Eroberungsversuch ist versuchter Ehebruch, Herausforderung der politischen und göttlichen Ordnung. Kurz vor der dramatischen, dritten und letzten Verführungsszene warnt Gringoire den Archidiakon: „L’adultère est une curiosité de la volupté d’autrui …“ (ND, XI, I, 653) – es ist, so weit ich sehe, das einzige Mal, dass der Begriff des Ehebruchs im Roman fällt. Strukturell ist Frollo der Haupt-Antagonist Esmeraldas, insofern auch Protagonist des Romans, den Quasimodo am Ende ersetzen wird. In den schaurig-grotesken Verführungsszenen zeigt sich, wie Hugo den Scott’schen
20Zum
alchimistischen Diskurs in Hugos Roman vgl. Denis Augier, „L’Or et l’émeraude: sur la signification alchimique de Quelques Personnages de Notre-Dame de Paris.“ Romanic Review 89 (1998), 199–206; Valentini Brady-Papadopoulou, „The Sun, the Moon and the Sacred Marriage: An Alchemical Reading of Notre-Dame de Paris“, L’Esprit créateur 22 (1982), 11–17. 21Das erste Mal im Gefängnis nach ihrer Folter (ND, VIII.IV), das zweite Mal auf der Place de Grève, wo Frollo Esmeralda kurz vor der Vollstreckung des Urteils scheinbar die Beichte abnimmt (und dann von Qusimodo gerettet wird) (ND, VIII.VI), das dritte Mal, als er zusammen mit Gringoire Esmeralda dem Zugriff der königlichen Truppen entzieht und sie auf dem Weg zur Place de Grève ein letztes Mal vor die Wahl ihres Lebens oder seiner Seele stellt (ND, XI.I).
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historischen Roman auf eine ganz ähnliche Weise mit Elementen aus der Gothic Novel vermischt, wie Manzoni dies in den Promessi sposi tut. Claude Frollo entspricht gewissermaßen Manzonis Innominato, mit dem Unterschied, dass jener nicht bekehrt, sondern besiegt wird. Neben Gringoire und Esmeralda, Frollo und Esmeralda gibt es auch zwischen Phœbus und Esmeralda eine verfehlte Ehe. Der Hauptmann, der die Logik der zentralistischen Monarchie Frankreichs vorwegnimmt, will Esmeralda natürlich nicht heiraten, sondern nur sexuell besitzen. Die Verführungsszene im Bordell der Kupplerin Falourdel präsentiert der Erzähler als homerische Kriegsund Liebeslist, in der die Götter-Ehe von Zeus und Hera anklingt. Bevor der Beobachter Frollo die Liebesszene durchkreuzt, bemüht der Erzähler ‚den guten Homer‘, der im 14. Buch der Ilias die von Hera eingefädelte Verführung ihres Gatten mit goldenen Wolken vor der Öffentlichkeit schützt.22 Aber zuvor verdirbt Esmeralda die Liebesszene mit einem unvermittelten Heiratsantrag fast selbst. Für Phœbus ist sie bereit, ihr Keuschheitsgelübde, gegen das ihr das Wiederfinden ihrer Mutter versprochen wurde,23 zu brechen. Mit dem ‚Ausdruck unendlicher Liebe‘ („avec une expression d’amour infinie“) fleht sie Phœbus an: „instruis-moi dans ta religion“. Und auf dessen verständnislose Nachfrage, was sie mit ‚seiner Religion‘ am Hut habe, lautet ihre Antwort: „C’est pour nous marier“ (NH, VII. VIII, 435). In Phœbus liebt Esmeralda aber bekanntlich den falschen. Mit ihm lässt sich keine Antike wiederbeleben, auch er ist nur eine tragisch-groteske Parodie davon. Am Ende heiratet er die blonde Lilie, Fleur-de-Lys, und restauriert damit eine von Anfang an diskreditierte Monarchie: „Phœbus de Châteaupers aussi fit une fin tragique, il se maria.“ (ND, XI.III, 695)
5.3 Quasimodos Hochzeit Neben all den verfehlten Ehen bleibt im letzten Kapitel Quasimodos Hochzeit, „Mariage de Quasimodo“ (ND, XI.IV, 697). Aber auch sie ist, wie der Text selbst sagt, eine einseitige und asymmetrische Angelegenheit. Michel Butor hat betont, wie Hugos Roman sich insgesamt, im Gegensatz zu seinem Vorbild der Kathedrale, durch Asymmetrie auszeichnet.24 Das Buch besteht aus ungeraden elf Büchern, als wäre ihm die symbolische Ganzheit der Zwölf gewaltsam vorenthalten worden. Frollo, der nach der Rettung Esmeraldas durch Quasimodo im
22Homer,
Ilias, XIV, 341 ff., übers. Johann Heinrich Voß, München: dtv 2002. durch Gringoire erfährt der Leser, dass Esmeraldas Amulett mit den smaragdgrünen Glassteinen, das den kleinen Babyschuh („le petit soulier“) enthält, von der Zigeunerin stammt, die sie aufgezogen hat. Es ist mit dem Versprechen verbunden, die Mutter (die den zweiten Schuh hütet) wiederzufinden – unter der Bedingung, dass Esmeralda ihre Keuschheit bewahrt (vgl. ND, II.VII, 187 und ND, VII.II, 380 und Esmeralda selbst in der Wiedererkennungsszene ND, XI.I, 666). 24Butor, „Les romans de Hugo“. 23Vermittelt
5.3 Quasimodos Hochzeit
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Fieberdelirium durch die Stadt streift, halluziniert aus der Silhouette der Häuserfassaden einen riesigen, schwarzen Obelisken, der mit dem Turm des Straßburgers Münsters und jenem zweiten Babel-Turm verglichen wird, der auch im Kapitel über Notre-Dame das architektonische Zukunftssymbol ist (ND, IV.I, 200). Mit der Spitze halluziniert er, was der Kathedrale fehlt; mit seinem Handeln versucht er, die Spitze zu ersetzen. Quasimodos deformierter Körper schließlich verkörpert die deformierte Kathedrale: Sie ist sein ‚Haus‘, sein ‚Vaterland‘ und ‚Universum‘, mit dem er nach und nach verschmilzt.25 Als er auf der Place de Grève gefoltert wird, beschreibt Jean Frollo seinen Buckel als einen orientalischen Dom und seine Beine als verdrehte Säulen.26 Gewaltsam ist Quasimodo von Frollo mit dem Gebäude bzw. mit dessen größter Glocke, Marie, verheiratet worden, auch wenn diese ihn taub gemacht hat.27 Zwar warnt der geschwätzige Erzähler davor, der Leser möge die Figuren („les figures“), mit denen er Quasimodos Einheit mit der Kathedrale beschreibe, nicht ‚wörtlich‘ nehmen.28 Man tut es aber natürlich trotzdem. Und bemerkt dann, dass die Kathedrale inzestuös als Mutter und als Ehefrau, vor allem aber als schlechte Mutter und Ehefrau dargestellt wird. Erst Esmeralda erlöst ihn aus diesem steinernen Gefängnis. Quasimodos und Esmeraldas ausdrücklich figurale Ehe schildert damit nicht das Zustandekommen eines Ehepaares, sondern eines Sohnes mit seiner wahren Mutter. Esmeraldas Eros verwandelt Quasimodo im Verlauf des Romans in einen treuen Sohn, der der Mutter bis ins Grab folgt. Quasimodo indessen bewirkt nichts in Esmeralda, sie bleibt dumm auf den blöden Phœbus fixiert, was ihre Rettung verunmöglicht. Ihr Opfer ist der typisch melodramatische Aufschub des weiblichen Begehrens, das ‚Schicksal‘, das nach dem Sinn-Sturm auf die Kathedrale von Notre-Dame noch übrig bleibt.29 Esmeralda ist eine märchenhafte Schöne, die zwar das Biest verwandelt, selbst aber für ihre Liebe bestraft wird. Der Fluch, nicht lieben und nicht handeln zu dürfen, der in dem Märchen-Roman über die Männer verhängt ist, verwandelt sich durch Esmeraldas fehlgehenden Eros, durch ihr unfreiwilliges Opfer, in eine männlich-karitative Handlungsmacht. Das mag erklären, warum Notre-Dame de Paris im Deutschen zu einem Glöckner von Notre-Dame und im Englischen zum Hunchback of Notre-Dame geworden ist. Im Text zeigt sich dieser Umstand
25Vgl.
ND, IV.III, 246 ff. drôle d’architecture orientale, qui a le dos en dôme et les jambes en colonnes torses“ (ND, VI.IV, 344). 27Vgl. ND, IV.IV, 255: „Or, donner la grosse cloche en mariage à Quasimodo, c’était donner Juliette à Roméo.“ 28„Il est inutile d’avertir le lecteur de ne pas prendre au pied de la lettre les figures que nous sommes obligé d’employer ici pour exprimer cet accouplement [!] singulier, symétrique, immédiat, presque consubstantiel, d’un homme et d’un édifice.“ (ND, IV.III, 247) 29Vgl. hierzu Armin Schäfer, Bettine Menke, Daniel Eschkötter, „Einleitung“, in: Dies. (Hg.), Das Melodram. Ein Medienbastard, Berlin: Theater der Zeit, S. 7–17; hier: S. 14. 26„[U]ne
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vor allem in der trickreichen Identitätsmaskerade, die der Leser ab der Mitte des Romans zu durchschauen beginnt, wo die Bürgersfrau Mahiette die Geschichte der Sachette, büßende Klausnerin in einer Zelle der Tour-Roland, rekapituliert (ND, VI.III, 317–240). Nicht Esmeralda ist das Zigeunerkind, sondern Quasimodo. Er ist der (deformierte) Fremde, das hässliche Zigeunerkind, das seine Eltern nach der Geburt loswerden wollten. Der Säugling wurde der aus dem ‚königlichen‘ Reims stammenden Paquette de Chantefleurie von den Zigeunern untergeschoben, die im Gegenzug deren auf den sprechenden Namen Agnès getaufte Tochter aus der Wiege entführten. Quasimodo, die hässliche Missgeburt gelangt über den Erzbischof von Reims nach Notre-Dame, wo ihn Claude Frollo adoptiert hat. In der Kirche aufgefunden am Sonntag nach Ostern, Quasimodogeniti, am Tag der neugetauften, christlichen Kinder, die – wie es im ersten Petrusbrief heißt30 – nach der unverfälschten, geistigen Milch verlangen sollen, tauft Frollo das Findelkind kurzerhand nach diesem buchstäblich ungefähren Namen. Er ist das ungefähre Kind, aus dem ein wahrer Mensch, mindestens aber ein echter Franzose werden soll. Esmeralda dagegen ist das Kind einer Prostituierten, die durch die Geburt ihrer quasi-heiligen Agnès zur vorbildlichen Mutter bekehrt wird. Die Entführung der Tochter treibt die Mutter in den Wahnsinn. Als „Sachette“ verflucht sie aus ihrem „Trou aux rats“ heraus die eigene Tochter als Angehörige jener fremden Zigeuner, die ihr das Kind geraubt haben. Die rasende Mutter, die ihre Tochter verkennt, hat für den Handlungsverlauf die Funktion einer self fulfilling prophecy und einer verkehrten Annuntiatio, die unmittelbar nach dem Moment der Wiedererkennung und endgültigen Auslieferung Esmeraldas auch ihr, der leiblichen Mutter, das Leben kosten wird. Der Familienroman zweier, vertauschter Findelkinder tritt damit als zentraler Handlungsknoten an die Stelle des im ersten Buch entworfenen Motivs der Brautwerbung. Der Konflikt gruppiert sich um die männliche Familie Claude Frollos, der zunächst seinen Bruder Jean, dann Quasimodo als zweites Kind adoptiert, und um die weibliche Familie der Paquette de Chantefleurie und Esmeralda.31 Zwar sterben am Ende (bis auf Gringoire und Phœbus) alle, das ist wahr, aber an die Stelle des bösen Adoptivvaters Frollo wird die sich unfreiwillig opfernde Esmeralda als neue, geistig-mütterliche Milch verheißende (Adoptiv-)Mutter treten. Dass es sich auch bei der Paar-Entwicklung bzw. Paar-Transformation wie im ganzen Roman um eine schräge, asymmetrische Transformation handelt, offenbart auch die Handlungskonstellation. Die erste berühmte, als imitatio Christi gestaltete Transformation Quasimodos findet im Kapitel „Une larme pour une goutte d’eau“ (ND, VI.IV, 341–351) statt. Verurteilt von einer blinden Justiz, wird Quasimodo für die versuchte Entführung Esmeraldas am Pranger gefoltert. In drastischem Realismus wird ein geschundener und gequälter Quasimodo beschrieben, an dem sich eine schaulustige Menge ergötzt. Sein erbärmliches
301
Petrus 1, 2. Sabine Narr, Die Legende als Kunstform, S. 93 f., inszeniert der Roman damit einen typisch tragischen Konflikt. 31Nach
5.3 Quasimodos Hochzeit
325
Flehen „À boire!“ (ND, VI.IV, 351) – grotesk, beteuert der Text an der Stelle – wird, nachdem er es zweimal wiederholt, von niemand Anderem erhört als von Esmeralda, die auf den Pranger steigt und ihm ihre Trinkflasche reicht. Bevor er trinkt, rührt Quasimodo die Geste zu einer dicken Träne, vielleicht zur ersten seines Lebens. Eine Passionsszene inmitten barbarischer Perversion, „ce spectacle était sublime“ (ebd.), und ab diesem Moment ist Quasimodo in Esmeralda verliebt. Aber er entbrennt nicht in fleischlicher Begierde nach ihr, die karitative Tat rührt nur sein Herz, er wird gewissermaßen mit christlicher Nächstenliebe von Esmeralda befruchtet. Zwei Bücher später, als Esmeralda wegen Hexerei wiederum auf der Place de Grève verurteilt werden soll, erhält Quasimodo die Gelegenheit, als Neugeborener zu handeln und sich an seiner Wohltäterin zu revanchieren. In letzter Sekunde rettet er Esmeralda, heroisch und mit übernatürlichen Kräften, vom Schafott weg und bringt sie ins Kirchenasyl von Notre-Dame. In dieser neuerlichen Peripetie, diesem neuen Glückswechsel, geschieht das Wunder, dass Quasimodo, der Ausbund von Hässlichkeit, schön – und mächtiger als die königliche Justiz – wird: Il était beau, lui, cet orphelin, cet enfant trouvé, ce rebut, il se sentait auguste et fort, il regardait en face cette société dont il était banni, et dans laquelle il intervenait si puissamment, cette justice humaine à laquelle il avait arraché sa proie, tous ces tigres forcés de mâcher à vide, ces sbires, ces juges, ces bourreaux, toute cette force du roi qu’il venait de briser, lui infime, avec la force de Dieu. (ND, VIII.VI, 505)
In Quasimodo, der Wasser von Esmeralda – wahre Milch – gekostet hat, beginnt nun das Volk, das noch nicht reif für die Revolution ist, Gestalt zu werden.32 Um seine Rolle weiß er selbst freilich nur halb, vor allem bleibt er noch so taub, dass er wenig später – noch ein Glückswechsel – die in der Kathedrale Gerettete fatalerweise auch gegen die truands verteidigt, welche Esmeralda doch nur, wie er selbst, vor dem Galgen retten wollen. Aber immerhin schafft er es mit seiner neuen, moralischen Schönheit, Esmeraldas Tod aufzuschieben und zudem, sich selbst zu befreien. Als er, wie sein Ziehvater Frollo, hoch oben von einem der Türme von Notre-Dame aus die Hinrichtung Esmeraldas auf der Place de Grève beobachtet, kommt es zum entscheidenden Befreiungsschlag. Quasimodo ist eine Kreatur
32Das
Volk ist in Hugos Roman, ähnlich wie bei Manzoni, ambivalent besetzt. Es verfügt nicht über die (revolutionäre) Gegenkraft, um sich gegen die Unterdrückung durchzusetzen. Die Unterwelt der truands figuriert auch nicht das kommende Recht, sondern ist lediglich ein Abklatsch der herrschenden Ungerechtigkeit. Im Roman wird es mit einem monströsen Bienenstock und einer Kleiderkammmer, einem Vestiarium, verglichen, in dem sich Diebe, Mörder und Prostituierte nach Belieben verkleiden: „[un] immense vestiaire, en un mot, où s’habillaient et de déshabillaient à cette époque tous les acteurs de cette comédie éternelle que le vol, la prostitution et le meurtre jouent sur le pavé de Paris.“ (ND, II.VI, 163) – Im Gespräch mit dem König, der in der Bastille vom Sturm der truands auf die Kathedrale unterrichtet wird, erklärt der flämische Gesandte Jacques Coppenole ausdrücklich: „[C]’est que l’heure du peuple n’est pas venue“ (ND, X.V, 632).
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Frollos, wie einem Hund ist er ihm ergeben, und noch als er hinter Frollo auf die Turmbalustrade steigt, heißt es über ihn: „L’archidiacre et l’égyptienne se heurtaient dans son cœur.“ (NH, XI.II, 687) Aber als er sieht, wie der Priester angesichts des konvulsivischen Erstickungstodes der Erhängten in ein dämonisches Lachen verfällt, schubst er ihn – ohne Hass, wie betont wird33 – von der Balustrade in den Tod. Es geht darum, Esmeralda ein letztes Mal vor dem visuellen Penetrationsversuch Frollos zu retten. Quasimodo könnte dem an einem Vorsprung Hängengebliebenen die Hand reichen und ihn retten, aber sein (einziges) Auge hängt an der Place de Grève, an Esmeralda. Und genau an der Stelle, wo kurz zuvor noch das Gelächter des Priesters erschallte, läuft Quasimodo nun ein Tränenrinnsal die Wangen hinunter: „un long ruisseau de pleurs coulait en silence de cet œil qui jusqu’alors n’avait encore versé qu’une seule larme.“ (ND, XI.II, 691) Knapp zwei Jahre nach den Vorfällen findet man in den Gewölbekellern der Hinrichtungsstätte Montfaucon zwei eng umschlungene Skelette, eines mit einem Amulett um den Hals, das andere mit einer verbogenen Wirbelsäule und zwei verschieden langen Beinen. Und mit den beiden letzten Sätzen des Romans wird Quasimodo zu einem Liebenden, der keusch und treu bis zum Tod liebt: „L’homme auquel il [das Skelett; D. S.] avait appartenu était donc venu là, et il y était mort. Quand on voulut le détacher du squelette qu’il embrassait, il tomba en poussière.“ (ND, XI, IV, 700) So zerfällt das Paar in zwei ungleiche Teile – zeichentheoretisch könnte man sagen, in den allegorischen Signifikanten ‚Notre-Dame‘ und sein Signifikat ‚legitimer Sohn‘. Während sich Quasimodos hässliche Fremdheit in den Staub verwandelt, aus dem alle Menschen gemacht sind, bleibt die geopferte, französische Schönheit ein hartes, totes Skelett. Wie an allen Ecken und Enden trickst der Text auch in dieser allegorischen, ‚ehelichen‘ Hauptverwandlung: Der fremde Ursprung Quasimodos (der ein bisschen an den Russen Wolmar aus der Nouvelle Héloïse denken lässt) ist ein Motiv, das der Text nicht konsequent entwickelt, vielmehr wird es mit seiner Hässlichkeit, die ihn ‚wild‘ und böse werden ließ, überschrieben: „Il était méchant en effet, parce qu’il était sauvage, il était sauvage parce qu’il était laid“ (ND, IV.III, 249 f.). Demgegenüber findet Esmeralda erst tot zu ihrem mütterlichen Ursprung zurück. Ihr Begehren verrät sie, statt sie zu erlösen. In der Leitmetaphorik des Textes führt es die Mücke direkt in das Netz der Spinne.34 Esmeralda stirbt ja nicht, weil eine Unrechtsjustiz sie verurteilt oder weil sie bei der kleinsten Folter gleich alles gesteht, sondern weil sie an ihrer verbotenen Liebe zum gott- und königsgleichen Phœbus festhält und damit selbst die Aufmerksamkeit der Wachen auf sich zieht. „Phœbus! à moi, mon Phœbus!“ (ND, XI.I, 674), ruft sie aus der Klause, als sie die Stimme des
33Vgl.
die Stelle wenige Seiten zuvor: „Cependant tel était son respect du prêtre, la reconnaissance, le dévouement, l’amour pour cet homme avaient de si profondes racines dans son cœur, qu’elles résistaient, même en ce moment, aux ongles de la jalousie et du désespoir.“ (ND, XI.II, 686). 34Vgl. hierzu Zollinger, Arachnes Rache, S. 101–110.
5.4 Herstellung und Darstellung
327
Hauptmanns vernimmt, und durchkreuzt damit ‚ehebrecherisch‘ sowohl das kurze Glück der Wiedervereinigung mit ihrer Mutter als auch deren Versuch, die Tochter zu retten. Während die anderen Figuren immer in Situationen gebracht werden, in denen sie richtig oder falsch entscheiden müssen, wird Esmeralda in das Dilemma zweier Treuepflichten gebracht: keusche, mütterliche Liebe oder erotische Liebe zu Phœbus. Indem sie für die Letztere stirbt, wird der Treuebruch an der ‚Familie‘ verhindert und die Möglichkeit von Treue, der allegorische Rest ihrer Liebe – ihre Knochen samt Glasperlenkette und die Steine von Notre-Dame –, in Quasimodos ‚Heirat‘ nach dem Tode monumental aufrechterhalten.35
5.4 Herstellung und Darstellung Ironischerweise entspricht Hugos machtpolitisch progressiv gemeinte, romantische Ästhetik und visionäre Republik auf eherechtlichem Gebiet ziemlich genau jener restaurativen und patriarchalischen Ehepolitik, die sich auch unter dem Bürgerkönig Louis-Philippe nicht änderte: Die Ehe ist, noch einmal mit Portalis, ein ‚contrat essentiellement indissoluble‘; dieser Vertrag instituiert nicht in erster Linie ein (ungleiches) Paar, sondern die Staatsraison bzw. den Staat.36 Eine Scheidung kann es, mit De Bonald, nicht geben, weil sie den Staat ‚dekonstituieren‘ würde.37 Der Ehebruch allerdings wird nicht wieder zu jenem „cas royal“38 gemacht, als der er im Ancien Régime behandelt wurde. Im napoleonischen Strafgesetzgebuch firmiert er unter den Sittendelikten. Nach wie vor kann er (außerhalb des ehelichen Hauses) nur vom Mann zur Anzeige gebracht werden.39 Der Mann, der den Treuebruch zur Anzeige bringt, signalisiert in der
35So
kann Karl Hölz Esmeraldas Liebe zu Phœbus auch im Sinne der bürgerlichen Ehemoral (einer Frau, die den Mann macht) interpretieren (Karl Hölz, „Der interessierte Blick auf die Fremdkultur. Das Bild der ‚Zigeuner‘ in Hugos Notre-Dame de Paris“, Romanische Forschungen 114 (2002), 271–294; insb. 289 ff.). 36Die vormoderne, juristische Spezialliteratur zu den Staatsheiraten subsumiert die Matrimonia Principum unter den Staatsaktionen. Sie unterliegen nicht nur väterlicher Gewalt, sondern auch der Staatsräson und gehören zu den taciteischen arcana imperii (vgl. Michael Stolleis, „Die Prinzessin als Braut“, S. 51). 37S.o. Abschn. 2.2: Band der Teilung. Die revolutionäre Gesetzgebung („Eheschließungspraxis: Fest, Gesetz, Ursprung“). 38Schon 1778 äußert sich der Jurist Fournel hierzu kritisch: „Presque tous les Auteurs rangent l’Adultere au nombre des cas royaux dont la connoissance est interdite aux juges des Seigneurs. Je crois qu’il n y a pas de danger à admettre cette opinion, parce qu’en général une accusation de cette importance seroit exposée à être mal conduite dans une Justice de Seigneurs; mais abstraction faite de cette considération, je ne trouve point de fondement à l’avis qui fait de l’Adultere un cas royal.“ (Jean-François Fournel, Traité de l’adultère, considéré dans l’ordre judiciaire, Paris: Bastien 1778, S. 37 f.) 39Nach dem napoleonischen Strafgesetzbuch droht der Ehebrecherin eine Gefängnisstrafe zwischen drei Monaten und zwei Jahren; den mitbeteiligten Ehebrecher kann die gleiche Strafe (plus 100 bis 2000 Francs Geldstrafe) nur dann treffen, wenn seine Tat in flagranti oder schriftlich bewiesen ist (vgl. Art. 336–339, Code pénal de l’empire français (1810), Paris: Prieur u. a. 1810, S. 51).
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5 Romane vor Gericht – Notre-Dame de Paris ...
staatstheoretischen Logik, dass nicht nur die patria potestas, sondern auch die Staatsräson verletzt worden ist.40 In der Möglichkeit, die Verurteilung jederzeit rückgängig machen zu können, ist ein Ehebruch-Prozess auch ein Bewährungsprozess für den Gatten, dem die Möglichkeit der Begnadigung eingeräumt wird. Noch Balzacs Physiologie du mariage von 1829, drei Jahre vor Notre-Dame de Paris erschienen, greift ironisch das Ratgeber-Genre auf, in dem Ehemänner vor der Schmach des cocu bewahrt werden sollen. Der Ehemann Victor Hugo greift bezeichnenderweise nicht zum Mittel der Anklage seiner Frau Adèle, die, während er am Roman schreibt, eine amouröse Beziehung mit Sainte-Beuve pflegt.41 Es geht ihm um eine andere Art der Ehebruchverhinderung. Während Gesetz und Sitte auseinanderklaffen – auch das ein typisch Balzac’scher Topos –, während Recht und Ordnung ihre Notwendigkeit verloren haben, scheint das unfreiweillige Liebesopfer Esmeraldas, das Quasimodo imitiert, die Leser und Leserinnen über den Verlust von Recht und Ordnung hinwegzutrösten. Das unbedingte Begehren seiner Figur Esmeralda wird zum Grenzfall einer Allegorie, zu einer Ausdrucksmacht, die suggeriert, dass sie sich königlichen Urteilen ebenso wie falschen Gesetzen widersetzt. Dass sich Handlung und Ausdruck in Hugos Roman letztlich nicht in Übereinstimmung bringen lassen, zeigt nichts schöner als seine multimedialen Relektüren in Film, Oper und Musical, die sich zwar in der Ostentation des Affekts, aber eben nicht in der Imitation des Plots an ihr Vorbild halten. Bereits der Titel changiert: Louise Bertins Oper, für die Hugo selbst das Libretto schrieb, wird 1836 unter dem Titel La Esmeralda aufgeführt. In der deutschen und englischen Übersetzung des Romans tritt Quasimodo in die Rolle des Titelhelden. Als ein Roman, der von Anfang an mit Illustrationen auf den Markt kommt, begleitet er auch die Filmgeschichte von Anfang an. Auf die erste Stummfilm-Version, La Esmeralda, aus dem Jahr 1906 folgen über 30 Verfilmungen.42 In Wallace Worsleys The Hunchback of Notre-Dame von 1923 finden ausgerechnet Phœbus und Esmeralda am Ende zueinander, während Quasimodo beim Anblick der Liebenden vor Gram stirbt. William Dieterle lässt dagegen in seiner spektakulären und aufwendigen Verfilmung The Hunchback of Notre-Dame (1939) Esmeralda und Gringoire
40Das
Risiko, sich zu kompromittieren, ist im alten Komödien-Motiv des cocu prominent geworden. Fournels Traité de l’adultère (1778) ist nicht zuletzt als Anleitung für die Männer gemacht, nicht die Schmach einer Anklage und womöglich gar den Freispruch der Frau erleiden zu müssen. 41Vgl. die für K lassiker-Ausgaben obligatorische „Vie de Victor Hugo“ in: Hugo, Notre-Dame de Paris, hg. Andersson, S. 709. 42Vgl. die Filmographie in Delphine Gleizes (Hg.), L’œuvre de Victor Hugo à l’écran. Des rayons et des ombres, Laval: Les Presses de l’Université Laval 2005, S. 243–265.
5.4 Herstellung und Darstellung
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zueinanderkommen und Quasimodo am Ende verzweifelt zu einem der Wasserspeier von Notre-Dame sagen: „Why was I not made of stone, like thee?“ Sicher nicht zufällig werden allein in der französischen Produktion Jean Delannoys, Notre-Dame de Paris (1956), Anthony Hopkins und Gina Lollobrigida in den Rollen Quasimodos und Esmeraldas nicht vor dem tödlichen Ende verschont. So dass man sagen kann, dass außerhalb des nationalen Kontextes gerade das allegorische Zentrum des Textes – das Opfer der jungfräulichen Braut – modifiziert und als variabler Affekt ausgestellt wird. Als Nationalroman funktioniert Notre-Dame de Paris aber nur unter der Prämisse einer (sei es auch noch so konstruierten) Notwendigkeit der Allegorie. Man hat Hugos Roman zu Recht schon immer als eine Einlösung der in der Préface de Cromwell entfalteten, ausdrücklich romantischen Poetik einer Verbindung von Sublimem und Groteskem verstanden. Das in einen sublimen, weiblichen Signifikanten und ein groteskes, männliches Signifikat ‚halb‘ zerfallende Skelett-Paar illustriert jene dramatische Durchdringung der Geschichte, die Hugo dort einfordert: „Comme Dieu, le vrai poëte est présent partout à la fois dans son œuvre. Le génie ressemble au balancier qui imprime l’effigie royale aux pièces de cuivre comme aux écus d’or.“43 Göttlich, wie ein Münzpräger, der der kleinsten Kupfermünze wie dem Écu aus Gold das Portrait des Königs einprägt, prägt Hugo seinem schrägen Paar das Bildnis königlicher Souveränität ein. Ubiquitär präsent drückt er dem ungleichen Paar den Stempel einer Verfehlung, eines Delikts, auf, das von seinem Urteil und seiner Strafe ununterscheidbar wird. Jacques Seebacher sieht in dieser Restsymbolik, in die die historischen Desymbolisierungsprozesse getrieben werden, ein Charakteristikum von Hugos Romanpoetik insgesamt.44 Es ist diese Tendenz, aus dem Darstellungs- ein Herstellungsverfahren zu machen, die Tendenz, mit den Romanfiguren ein wahreres Recht als das wirkliche zu postulieren, die Flauberts Madame Bovary-Projekt antreibt und die dazu führt, dass in diesem Roman kein Urteil über die Protagonistin, aber über den Romanautor gesprochen werden soll. Wo Hugo eine Allegorie schafft, die Notre-Dame de Paris heißt und ein Recht nach dem Unrecht verspricht, imitiert Flaubert diese Allegorie als singuläre Madame Bovary, die diesen Rechtsanspruch dementiert. Hugos Gerichtsszene und Todesstrafe der Vergangenheit wird bei Flaubert das, was bei Manzonis Frauen ausgeschlossen wurde, was bei Rousseaus Julie noch Unfall und bei Goethes Ottilie ‚nur‘ fahrlässige Tötung war: ein Fall von Selbstmord und Selbstjustiz. Flauberts berühmter Autoranspruch, formuliert in der
43Victor
Hugo, „Préface de Cromwell“, in: Ders., Théâtre complet I, hg. Jean-Jacques Thierry und Josette Mélèze, Paris: Gallimard 1963, S. 409–454; hier: S. 437 f. 44„Là, se trouve, je crois bien, l’origine de ce qui est probablement la théorie générale de Hugo en matière d’histoire, à savoir qu’il n’y a pas de différence entre le crime et le châtiment. Qu’il n’y a pas véritablement de crime qui ne soit à lui-même son propre châtiment.“ (Jacques Seebacher, „Le symbolique dans les romans“ (1986), in: Ders., Victor Hugo ou le calcul des profondeurs, S. 203–220; hier: S. 209).
330
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Korrespondenz mit Louise Colet, schließt dabei direkt an Hugos „Préface de Cromwell“ an: L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et visible nulle part. L’art étant une seconde nature, le créateur de cette nature-là doit agir par des procédés analogiques: que l’on sente dans tous les atomes, à tous les aspects, une impassibilité cachée et infinie.45
Wo Hugo als Literaturgott allem, was durch seine Hände geht, das Prägezeichen seiner Souveränität eingravieren will,46 nimmt Flaubert das Bild des unsichtbaren Gottes in Dienst, dessen Schöpfungsmacht verborgen, impassible, impartial und impersonnel bleiben soll.47 Wo Hugo sichtbar, monumental eine figurale Ehe stiftet, wird die Ehe als figurales Zentrum von Madame Bovary zugunsten männlicher Keuschheit konsequenz ausgehöhlt.48 Nicht die Eheschließung bildet das den Roman rahmenden Narrativ, sondern das Scheitern Charles’, als Schüler, Arzt, liebender Gatte und Vater Teil jener Gesellschaft zu werden, für die Ehe und Familie die tragende Institution darstellen sollen. Und dieses Scheitern des Gatten, das den Anfang und das Ende des Romans bildet, erhält seine figurale Grundierung von Emmas eheruinösen Aktivitäten her, von einer Passion, die bis zum Tod geht. Charles’ und Emmas Eheschließung wird in einem einzigen Satz abgehandelt, der in seiner Lakonik ganz an Don Abbondios Verheiratung der Brautleute erinnert: „La mairie se trouvant à une demi-lieue de la ferme, on s’y rendit à pied, et l’on revint de même, une fois la cérémonie faite à l’église.“49 Und obwohl dieser Satz in der breiten Schilderung des Hochzeitszuges und des legendäre 16 Stunden dauernden Festessens fast verschwindet,50 hat er es in sich: In aller Rechtskonformität erfolgt zuerst die Zivilehe auf dem Bürgermeisteramt, danach die Trauung vor dem Altar. Der feierliche, doppelte Trauungsakt
45Gustave
Flaubert, Brief an Louise Colet (9. Dezember1852), in: Ders., Correspondance, hg. Jean Bruneau und Yvan Leclerc, 3 Bde., Paris: Gallimard 1973–2007; hier: Bd. 2, S. 204. 46In der Fassade von N otre-Dame, die zur Initiale H wird, macht Hugo die Kathedrale zu einem Monument seines Namens. 47Vgl. Takashi Kinouchi, „Flaubert et Hugo: d’une esthétique à l’autre“, Flaubert, „Style, Poétique, Histoire littéraire“ (27.02.2014); https://flaubert.revues.org/2203#ftn2 (28.02.2017). 48Zum Ehebruch als ubiquitäre und unhintergehbare Erbsünde vgl. Barbara Vinken, Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer 2009, insb. S. 132–140. 49Gustave Flaubert, Madame Bovary, hg. Jacques Neefs, Paris: Librairie Générale Française 2008, S. 87. – Im Folgenden mit der Sigle MB und Seitenangabe zitiert. Renzos und Lucias Eheschließung wird in folgendem Satz zusammengefasst: „Venne la dispensa, venne l’assolutoria, venne quel benedetto giorno: i due promessi andarono, con sicurezza trionfale, proprio a quella chiesa, dove, proprio per bocca di don Abbondio, furono sposi.“ (PS, XXXVIII, 667). 50In der berühmten Hochzeitstorte hallt im Übrigen, wie Edi Zollinger gezeigt hat, Hugos architektonische Kritik des aktuellen Paris nach: groteske Zuckerbäckerwerke hier wie da, aber wo bei Hugo sich daraus die wahre Kathedrale herauskristallisieren soll, bleibt die große Allegorie für die neue Gemeinschaftsstiftung bei Flaubert aus (vgl. Zollinger, Arachnes Rache, 57–61).
5.4 Herstellung und Darstellung
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kontrastiert indes mit der Banalität eines Spaziergangs. Man geht zu Fuß und nicht etwa in einer prächtigen Hochzeitskutsche, obwohl die Gäste mit einem Haufen von Kutschen und Wagen angereist sind. Man geht zu Fuß hin, und man geht zu Fuß zurück. Vor allem aber wird die Eheschließung als Beginn einer Geschichte, die Mitte und Schluss verspricht, durch die Kreisstruktur des Satzes und des Weges, den er beschreibt, dementiert. Bürgermeisteramt, mairie, und Kirche, église, bilden zwar das erste und letzte Wort des Satzes, aber Anfang und Ende des beschriebenen Weges ist und bleibt der Bauernhof, la ferme des Bertaux, wo das Fest im nicht gerade feierlichen Wagenschuppen gefeiert wird. Vor dem Hintergrund von Hugos großer Ehe-Allegorie dreht sich bei Flaubert das Verhältnis von Herstellung und Darstellung der Ehe um. Die Möglichkeit eines Ehe-Schlusses und der Herstellung einer figuralen Bedeutung aus dem Zusammenkommen des Paares wird in der Darstellung von Emmas und Charles’ katastrophaler Ehe negiert. Wenn man sich den eherechtlichen Status Quo der Zeit und Hugos pseudo-romantische Eheschließungsvariante vor Augen hält, die ja aus der Darstellung einer Hinrichtung resultiert, ist das kein Wunder mehr. Emmas und Charles’ Paarsein wirkt wie eine Blackbox, in die der Erzähler Blicke wirft, die immer nur je getrennte Vorgänge, einen isolierten Teil, aber nie Gemeinsames spiegeln. Ihre Verlobung – das Wort fällt in diesem dritten Kapitel des ersten Teils natürlich nicht – ist ein besonders schönes Beispiel dafür. Charles’ Heiratsantrag, zu dem er sich so sehr durchringen muss, ist eine einzige Farce, denn der Père Rouault hat längst entschieden, dass er ihm seine Tochter geben wird, da er in Charles einen Schwiegersohn erkannt hat, der sich mit einer bescheidenen Mitgift zufriedenstellen lassen würde. So ist er es, der in dieser Antragsszene, die, wie so viele andere Szenen in Madame Bovary, ein romantisches Motiv verkehrt: Noch bevor Charles sich traut, um Emmas Hand anzuhalten, gibt der alte Rouault sein Einverständnis und weist den zukünftigen Schwiegersohn an, hinter einer Hecke auszuharren, bis er auch Emma um ihre Meinung gefragt haben würde. Das Klappern der Fensterläden, das Charles nach einer geschlagenen halben Stunde und weiteren 19 min von seinem Versteck aus beobachtet, ist das Zeichen für Emmas Einwilligung. Normalerweise müsste es andersherum sein: Der Bräutigam versteckt sich, weil seine Geliebte ihren Vater von der Liebesehe überzeugen muss; und heimlich gibt sie ihm ein Zeichen, dass die Aktion geklappt hat. Charles aber scheinen weder die falsche Rollenaufteilung noch die 49 min, auf die das Ja auf sich warten lässt, abzuschrecken. Wie in Notre-Dame de Paris hat man es mit einer asymmetrischen Ehe und einer asymmetrischen Verwandlung zu tun. Der Tag nach der Hochzeitsnacht zeugt bei Charles von einer vermeintlichen, bei Emma von einer ausgebliebenen Verwandlung: „Le lendemain, en revanche, il semblait un autre homme. C’est lui plutôt que l’on eût pris pour la vierge de la veille, tandis que la mariée ne laissait rien découvrir où l’on pût deviner quelque chose.“ (MB, 90) Charles wirkt wie eine begattete Jungfrau, obwohl er vorher nicht einmal Junggeselle, célibataire, sondern Witwer war. Aus Emma ist aber keine Gattin, épouse, geworden; als bloß Verheiratete, mariée, unterscheidet sie sich in nichts von der vierge, die sie am Vortag noch gewesen sein soll. Acht Jahre lang wird dieser Zustand einer
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verfehlten und einseitig eingebildeten Vereinigung andauern, bis Emma Bovary nach all ihren Versuchen, die ausgebliebene Verwandlung (durch Mutterschaft, Konsum, Ehebruch und Tod) zu kompensieren, die Ehe einseitig beendet. Wo Hugo die mittelalterliche Geschichte in eine Eheschließung münden lässt, die ein wahreres Recht als die ungerechte Wirklichkeit beansprucht, setzt Flaubert mit seiner (von Anfang bis zum Schluss erzählten) Ehe aus der Gegenwart einer ungerechten Wirklichkeit eine wahrere Wirklichkeit entgegen. Anders als Hugos Quasimodo, der durch Esmeralda zu einem potenten Helden wird, geht Charles in Flauberts Romanwirklichkeit bekanntlich mit Emma unter: „Elle le corrompait par delà le tombeau.“ (MB, 493) Also: keine Liebe über den Tod hinaus, sondern ein für das ganze Paar tödliches Begehren. Obwohl Charles ständig an Emma denkt, heißt es im allerletzten Kapitel, hört er nicht auf, sie zu verlieren. Dafür steht sein wiederkehrendes Traumbild, das noch einmal Hugo zitiert: Immer wenn er im Traum die Hände nach Emma ausstreckt, modert sie ihm unter den Händen weg: „elle tombait en pourriture dans ses bras“ (MB, 497). Die Allegorie entzieht sich: Liebe, Glück, Gemeinschaft und Gerechtigkeit sind nur im Entzug darstellbar. Aber ihre Macht bleibt ungebrochen. Heißt das nun, dass mit Madame Bovary der Eheroman in den Ehebruchroman kippt und sich sozusagen historisch erledigt? Nein, das heißt es nicht. So wie Darstellung und Herstellung zwei Verfahren sind, die Literatur und Recht miteinander verbindet, so hört die Wirklichkeitsdarstellung zumal des sogenannten Ehebruchromans nicht auf, auch Darstellung eines (Gegen-)Rechts zu sein. Entscheidend ist, dass die negative Bindungsmacht in Flauberts Roman von den zeitgenössischen Lesern als Skandal und Angriff nicht nur auf das herrschende Eherecht empfunden wurde. Flaubert brachte sein Roman, wie man weiß, vor allem einen Prozess ein. Die durch Pierre-Ernest Pinard vertretene Staatsanwaltschaft warf Flaubert, Laurent-Pichat (dem Herausgeber der Revue Française) und Pillet (dem Drucker) einen Verstoß gegen die Sitten und die kirchliche Moral vor.51 Anstelle eines faktischen Ehebruchs wird ein Ehebruch-Roman angeklagt. Durch Pinards rhetorisch geschliffene Anklagerede zieht sich die These der Souveränität einer Romanprotagonistin, die sich nicht nur der Herrschaft ihres Ehemannes, sondern allen gesellschaftlichen und religiösen Normen entzieht: „Qui peut condamner cette femme dans le livre?“ fragt er, um gleich selbst die Antwort darauf zu geben: „Personne.“52 Damit gibt er Emma Bovary jene allegorische Konsistenz als subjektive Souveränität, die jede Bindung voraussetzt und zugleich sprengt. Was er dem Roman vorwirft, die Tatsache, dass der Erzähler
51Zu
den Fakten vgl. die Dossiers bei Emmanuel Pierrat, Accusés Baudelaire, Flaubert, levezvous!, Brüssel: André Versaille éditeur 2010; Joseph Vebret, Madame Bovary. L’œuvre de Flaubert condamnée, Paris: Librio 2009; ferner: Joachim Gruber, „Gustave Flaubert: Madame Bovary und die guten Sitten“, in: Yvonne Nilges (Hg.), Dichterjuristen. Studien zur Poesie des Rechts vom 16. bis 21. Jahrhundert, Würzburg: Königshausen & Neumann 2014, S. 151–162. 52„Réquisitoire d’Ernest Pinard contre Madame Bovary“, zit.: in: Pierrat, Accusés Baudelaire, Flaubert, S. 137.
5.4 Herstellung und Darstellung
333
sich eines Urteils über die Protagonistin enthält, wird ihm zugleich zu seinem Freispruch verhelfen. Pinard greift nach und nach alle Instanzen auf, die im Fall Madame Bovarys hätten eingreifen müssen, im Roman aber versagen würden: an erster Stelle der Ehegatte, die öffentliche Meinung (vertreten durch Homais), der Priester Bournisien und der Autor an letzter Stelle. So kommt er am Ende nur auf eine Instanz außerhalb des Buches, die christliche Moral als jenes Band, das die Gesellschaft zusammenhält: Voilà la conclusion philosophique du livre, tirée non par l’auteur, mais par un homme qui réfléchit et approfondit les choses, par un homme qui a cherché dans le livre un personnage qui pût dominer cette femme. Il n’y en a pas. Le seul personnage qui y domine, c’est Mme Bovary. Il faut donc chercher ailleurs que dans le livre, il faut chercher dans cette morale chrétienne qui est le fond des civilisations modernes. Pour cette morale, tout s’explique et s’éclaircit.53
Nur er als (richtender) Leser habe diese „conclusion philosophique“ aus dem Buch ziehen können. Als Vertreter des Rechts sieht er in Madame Bovary eine reale Gefahr für die Gemeinschaft. Der Verteidiger Sénard wird die Neutralität des Autors, seine Urteilsverweigerung, dann zu einem Argument für den Freispruch umformulieren. Die Metapher der Ehe und des Ehebruchs sind zwei Seiten einer Medaille. Es ist die Geschichte einer Allegorie, die sich entzieht. Liebe, Glück, Gemeinschaft und Gerechtigkeit sind nur im Entzug darstellbar. Aber ohne die Figur des Paares lässt sich keine Gemeinschaft denken.
53Ebd.,
S. 138.
6
Schluss
Une seule timidité nous est commune: nous n’osons pas ouvertement avoir besoin les uns des autres.*
Mit literaturgeschichtlichen Überlegungen (‚Roman und Ehe‘), einem meta phorologischen Zwischenfazit (‚Ehe und Nation‘) sowie romantheoretischen Schlussfolgerungen (‚Paar und Gemeinschaft‘) soll im Folgenden der Bogen zum Anfang zurück geschlagen werden.
6.1 Roman und Ehe An Rousseaus Julie ou La Nouvelle Héloïse wurde der Umschlag eines zunächst theologischen, rechtlichen und philosophischen Diskurses in einen literarischen bzw. ‚imaginären‘ Diskurs festgemacht. In seinem Briefroman wird die Ehe erstmals zu einer öffentlichen, ‚zivilreligiösen‘ Angelegenheit oder, in anderen Worten, zu einem überindividuellen Institut, das gegen reale Zweierbeziehungen errichtet wird. Wenn Rousseau mit der Nouvelle Héloïse Richardsons Modell des Briefromans übernimmt, dann verschiebt er dessen ethisch-sittliche Funktionen auf eine politisch-öffentliche Bühne. Der sich in Großbritannien entwickelnde marriage plot, in dem das alltägliche Leben der bürgerlichen Protagonisten pädagogisch-didaktischer Literatur wird, setzt das Bewusstsein einer Nation im Sinne eines Nationalstaats voraus. Mit Rousseaus Übertragung des auf Affizierung und Emotionalisierung setzenden Briefroman-Modells in den französischabsolutistischen Kontext – und dies zudem aus einer helvetisch-republikanischen Perspektive, geht sowohl die Politisierung als auch die Allegorisierung der weiblichen Heldin einher. Julie als allegorische Ehestifterin – und empfindsame Fürsprecherin der volonté générale – wird zu einer diskursiv-literarischen *Colette,
Le Pur et l’Impur (11932), Paris: Hachette 2004, S. 146.
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0_6
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336
6 Schluss
Voraussetzung für den Roman der weiblichen Ehebrecherin des 19. Jahrhunders. Wo in Pamela und Clarissa das Ziel in der Schließung treuer und tugendhaften Ehen liegt, steht die Eheschließung bei Rousseau in der Mitte des Romans und bildet einen offenen Grund des Erzählens. In der Politisierung der weiblichen Protagonistin und der Übertragung privat-häuslichen Liebesglücks auf ein übergeordnetes Gemeinwohl liegt ein feministisches Wirkungspotential der Nouvelle Héloïse, das über die von Rousseau im Émile und in anderen Texten gemachten Äußerungen zu weiblicher und männlicher Erziehung in Vergessenheit geraten konnte, das indessen bei Leserinnen und Schriftstellerinnen wie Olympe de Gouges, Madame de Staël, Mary Wallstonecraft, Félicité de Genlis u. a. durchaus entfaltet worden ist.1 Der politische Eheschließungsroman, den die vorliegende Arbeit suchte und der mit Rousseaus Nouvelle Héloïse inauguriert wurde, verfolgte – trotz der im Titel propagierten Einzelprotagonistin – zwei gleichberechtigte, gleich ins (Ehe-)Recht gesetzte Figuren, wobei die Finalität dieser Paarbildung, die multiperspektivisch erzählt wird, offen und unerreicht bleibt. Das heterotopische Gemeinschaftsexperiment der ‚petite société‘ von Clarens bricht mit dem Unfall ihrer Hausmutter Julie, die nach der Rettung ihres Kindes aus dem See stirbt, ab. Der neue rousseauistisch modellierte marriage plot konkurriert im 18. und 19. Jahrhundert insbesondere mit dem Bildungsroman.2 Jüngst wurde für dieses Verhältnis der beiden verschiedenen literarischen Traditionen auf die Bedeutung der „Romantic Nation“ sowie die nationalen Unterschiede in der Entwicklung des modernen Romans hingewiesen.3 Während man sagen kann, dass Scott mit seinen Waverley-Romanen, die eine englisch-schottische Versöhnungsgeschichte mit einer gelungenen Heirat am Ende verbinden, ein nationales Identifikationsangebot bereitstellte, gelten insbesondere in der deutschen Romantik (männliche) Bildung und Ehe als einander ausschließende Narrative. Das „Romanhafte“ ist nach Hegel eine Verfallsform der romantischen Kunst, und die Bildung seines männlichen Protagonisten bricht mit dem Eintritt in das Joch der Ehe prosaisch ab.4 Goethes Wilhelm Meister, auf den Hegel seine Ausführungen in den Vorlesungen zur Ästhetik vielleicht insgeheim münzt, konnten deshalb im Goethe-Kapitel dieser Arbeit ausgespart werden. Bildung und Entwicklung finden in Wilhelm Meisters Lehrjahre (1795/1796) ein abruptes – und v. a. ironisches – Ende. Goethes Bildungsroman wird mit der wohlgemerkt nur angekündigten, aber nicht mehr dargestellten Doppelhochzeit von Wilhelm und Nathalie sowie Lothario
1Vgl.
Mary Seidman Trouille, Sexual Politics in the Enlightenment. Women Writers Read Rousseau, Albany: State University of New York Press 1997. 2Zur Unvereinbarkeit des Bildungsromans mit der fanzösischen Tradition vgl. Warning, „‚Éducation‘ und ‚Bildung‘“ und s. o. Abschn. 3.1: Poetik des Paares. 3Ian Duncan, „The Bildungsroman, the Romantic Nation, and the Marriage Plot“, in: Galvan, Michie (Hg.), Replotting Marriage in Nineteenth-Century British Literature, S. 15–34. 4Vgl. „Das Romanhafte“, in: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über Ästhetik. Erster und zweiter Teil, hg. Rüdiger Bubner, Stuttgart: Reclam 1971, S. 658 f.
6.1 Roman und Ehe
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und Therese mehr abgebrochen als abgeschlossen.5 Die Ehe fungiert hier als parodistisches Übersprungsmotiv, um – ähnlich wie in der Komödie – die Lösung von Rechts- und Normkonflikten zu überspielen. Als öffentliche Angelegenheit behandelt Goethe die Ehe nur, wenn es um die Reflexion über die gesellschaftlichen Zustände in der französischen Nachbarnation der deutschen Territorien geht, in der vorliegenden Untersuchung paradigmatisch an den chronologisch aufeinanderfolgenden Erzähltexten Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1795), Herrmann und Dorothea (1797) und Die Wahlverwandtschaften (1809) analysiert. In dem Moment, wo die Ehe so etwas Revolutionäres wie Freiheit und Gleichheit des Individuums verspricht, wird sie etwas Gefährliches, was sich vor allem im Gebrauch des Leidenschaftsbegriffs verfolgen lässt. In den Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten – Novellen von gebrochenen, scheiternden Ehen und der Bildung von seltsam deformierten ‚Entsagungsehen‘ – spukt neben dem Spuk (d. h. novellistischer Phantastik und Figuralität) immer wieder eine weibliche Leidenschaft, die im Experimentalepos begrifflich komplett ausgespart wird und die in den Wahlverwandtschaften wieder als problematischer Begriff auftaucht. Auch für den Bildungsbegriff liefert Herrmann und Dorothea eine Bedeutungsalternative, die einmal nicht auf das Individuum, sondern auf das Paar abzielt. Geht es im Wilhelm Meister um die Bildung des Selbst – „mich selbst, ganz wie ich da bin, auszubilden, das war dunkel von Jugend auf mein Wunsch und meine Absicht“6 –, so experimentiert das novellistische Epos mit der Bildung eines Paares, das sich den Lesern mit dem Auftakt des elften Gesangs als buchstäblich neues Bild präsentiert: „Aber die Thür gieng auf. Es zeigte das herrliche Paar sich“ (HD XI, 55). Ehe und Roman sind nach Goethe unvereinbar, aber in der Paar-Bildung von Herrmann und Dorothea wird immerhin die Amalgamierung von Ehe und Epos versucht. Das bürgerliche Paar Herrmann und Dorothea wird antikisiert, die beiden ‚hohen Gestalten‘ substituieren das Narrativ individueller Bildung und verweisen mit ihrem Verlobungsversprechen auf Hegels rechtsphilosophische Spekulationen über die monogame Ehe als ‚absolutes Prinzip‘ der Gemeinwesen und Moment ‚heroischer‘ oder ‚göttlicher‘ Staatsgründung.7 Statt in bürgerlichen Institutionen wie dem Theater oder einer Turmgesellschaft spielt Herrmann und Dorothea im kleinstädtischen Wirtshaus, dessen Heiratspolitik vom gefährlichen Wind
5Vgl.
hierzu jüngst Sebastian Meixner, der in erzähltheoretischer Perspektive von einem „Übersprung der Kausalketten im Schluss des Romans“ spricht (Narratologie und Epistemologie. Studien zu Goethes frühen Erzählungen, Berlin/Boston: De Gruyter 2019, S. 246–290; hier: S. 287). 6Johann Wolfgang Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre. Mit einem Nachwort von Günther Fetzer und (gekürzten) Anmerkungen der ‚Hamburger Ausgabe‘ von Erich Trunz, München: dtv klassik 71994 (1977), 5. Buch, 3. Kap., S. 311. 7S.o. Abschn. 2.1: Säkularisierung der Ehe? Sakramentalität und Rechtsprechung („Vom heiligen Stand zum Selbstzweck“).
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6 Schluss
revolutionärer Freiheit bedroht wird. Die vom Wirtssohn Herrmann eigenmächtig in die Hand genommene Brautwerbung mündet am Ende in die ‚Aussicht‘ (so der Titel des letzten Gesangs) der Ehe, auch wenn die formale Eheschließung nicht mehr explizit dargestellt wird. Die metonymische, territoriale Abgrenzung des ‚deutschen‘ Herrmann und seine Enthistorisierung in der ästhetischen ‚Urform‘ des homerischen Epos ermöglichen Goethe den Umgang mit einer Revolution, die weder kategorisch abgelehnt noch bedingungslos gutgeheißen wird. Herrmanns letzte Worte der Braut- und Landergreifung sollen das Übel der Revolution abwenden: „Nicht dem Deutschen geziemt es, die fürchterliche Bewegung / Fortzuleiten“ (HD I, 304 f.). Darin ist die Übertragung auf die deutsche (bürgerliche) Ehe und das nationalistische Potential des Textes angelegt, das sich im Laufe des 19. Jahrhunderts auch entfaltete. Insofern als Herrmann die aus dem rheinischen Grenzgebiet flüchtende Dorothea freit, wird das Paar hybridisiert; die fremde Bedrohung wird inkorporiert (symbolisiert im Aufeinanderstecken zweier Verlobungsringe), und mit der analogisch-metaphorischen Gestaltung des eherechtlichen Vokabulars – die Eheschließung als Friedensschluss – wird die unabgeschlossene politische Revolutionshandlung der Gegenwart als episches Narrativ eines Kollektivs erzählbar gemacht. Anders als im Roman liefert in Goethes kleinem Ehe-Epos nicht die Liebe, sondern der Krieg – bzw. die (epische) List als ihr kleinstädtisches Substitut – den Gegenbegriff zur Ehe. Eine formal entgrenzte, Liebe, Ehe und Kunst entdifferenzierende Darstellungsform findet sich demgegenüber im Umfeld der Frühromantiker, in Schlegels Konzept der romantischen Poesie als progressiver Universalpoesie bzw. in Novalis’ in dieser Arbeit als Exkurs vorgestellter staatsphilosophischer Schrift Glauben und Liebe oder Der König und die Königin (1798). Novalis weitet die Ehe von König und Königin zu einer universellen Gesellschaftsutopie aus, die in frappierender Nähe zu Benedict Andersons positiv valorisiertem Nationsbegriff einer souveränen und imaginären Gemeinschaft steht. Als Exkurs fungierte der Text im vorliegenden Zusammenhang deshalb, weil die Identifizierung von Ehe und Liebe bei Novalis, aber auch bei Friedrich Schlegel oder Clemens von Brentano nicht in den einen ‚Roman‘ als Form einer Mastererzählung, sondern – im Gegenteil – in einen literarischen Formverlust, in das ‚Fragment‘ mündet. Im romantisch-romanhaften Bruchstück schließt Novalis eine sprachliche Lücke für die ‚kommende Gemeinschaft‘ und imaginiert die Ehe als Allegorie der Nation: „was ist die Staatsverbindung anders, als eine Ehe?“ Geradezu als Anti-Roman erscheinen in diesem Problemzusammenhang von marriage plot und Bildung dann die Wahlverwandtschaften, wo die Unauflösbarkeit der Ehe jegliche Bildung und Entwicklung zu verhindern scheint. Die Wahlverwandtschaften dementieren ein individualrechtliches Eherecht, das auf der Freiheit von Eheschließung und Ehescheidung beruhen würde. Paarverbindungen, das ist das kategorische Fazit dieses ‚Scheidungsverhinderungsnarrativs‘, tragen nicht zur Bildung und Verbindung von Gemeinschaften bei, sondern sie zerstören diese. Das Eheschließungsmotiv, das, wenn auch nur verlegenheitshalber, die narrative Möglichkeit der Schließung eröffnet, verschwindet hier zugunsten einer narrativen Scheidungsverweigerung, deren Kehrseite ein ‚Eigenrecht des
6.1 Roman und Ehe
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Romans‘ ist, welches seine Logik als Gegenrecht zum bestehenden Recht, ja als Dekonstruktion des Rechts entfaltet wird, und welches geradezu als Romanverhinderung, als ‚Rückwärtserzählen‘, Ent-Bildung und Apotheose einer weiblichen Kunstallegorie namens Ottilie aufgefasst werden kann. Die romantische Nation ist literarisch unrealisiert geblieben, auch in Manzonis Roman I promessi sposi. Allenfalls an Madame de Staëls Corinne ou l’Italie (1807) wäre hier noch zu erinnern.8 Eine Ehe zwischen der kunstaffinen, selbstbewussten Corinne und dem schottischen Pair Lord Oswald Nelvil, die sich in einem bildungsutopisch aufgeladenen Italien ineinander verlieben, hätte in eine Gemeinschaft münden sollen, in der die Nation nicht auf dem Ausschluss ihrer weiblichen Mitglieder errichtet wird. Doch der schottische Lord schreckt zurück und heiratet statt der kunstambitionierten Corinne deren Schwester Lucile. Kunst und Leben der Protagonistin sind am Ende der Preis für die trivial-nationale Lösung des Konflikts in der Ehe. In Corinnes „dernier chant“ vor Oswald, Lucile und der Tochter Juliette hallt Julies ‚Schwanengesang‘ aus Rousseaus Nouvelle Héloïse wider und wird ein weiblich-romantisches Kunstopfer inszeniert, das sich der Kleinfamilie melancholisch, nostalgisch einprägt. Manzonis Romanprojekt und seine Neuerungsleistungen sind vor dem Hintergrund dieses europäischen Romankontextes einzuordnen. In den Promessi sposi wird die gesamte Handlung vom Eheschließungsnarrativ überdacht. Der Roman beginnt mit der Eheverhinderung, und die Eheschließung steht nicht wie bei Rousseau in der kompositorischen Mitte des Romans, sondern am Ende. Er stellt das Herzstück dieser Arbeit dar, weil mit ihm etwas gezeigt werden konnte, was ihn von den anderen hier besprochenen Texte unterscheidet: Erstens beschreibt der Roman eine Gemeinschaft, in dem die Frau weder geopfert noch allegorisch überhöht wird; zweitens wird die Form des Romans nicht als eine Form des Individuums, sondern als Form eines ‚Paar-Lebens‘ realisiert;9 und drittens wird das Paradigma der Nationalfiktion transzendiert, indem der Dritte Stand als Protagonist auftritt. Dadurch, dass Renzos und Lucias Hochzeit im Dorf nicht das allerletzte Wort des Romans ist und darauf noch das (ökonomisch motivierte) Exil ins Bergamaskische folgt, wird zwar eine Gemeinschaft gestiftet, aber keine, die in einer übergeordneten Körperschaft oder Nation aufgehen würde. I promessi sposi stellen also keine Nationalfiktion dar, das Dorf, aus dem die Protagonisten kommen, bleibt namenlos, der Antagonismus zwischen Unterdrückern und Unterdrückten bleibt am Ende des Romans bestehen, auch wenn den Protagonisten für einmal Recht widerfahren sein sollte. Es gibt keine Hinweise auf der Handlungsebene, die auf ein ‚italienisches Volk‘ als Ziel des Romanprojektes hindeuten würden. Die kleine Exil-Gemeinschaft, die am Ende des Romans entsteht, geht
8Ian Duncan beschreibt den Roman in der Dialektik zwischen dem englischen Nationalroman (mit marriage plot) und deutschem Bildungsroman. 9Vgl. Rüdiger Campe, „Form und Leben in der Theorie des Romans“, in: Armen Avenessian, Winfried Menninghaus, Jan Völker (Hg.), Vita aesthetica. Szenarien ästhetischer Lebendigkeit, Zürich: Diaphanes 2009, S. 193–212.
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6 Schluss
in keinem Konzept der Nation auf. Sie ist ebenso universell wie unsouverän und eine eminent bedrohte. Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass dem Romanende der dysphorische Beginn der Storia della colonna infame direkt gegenübergestellt ist. In der illustrierten Ausgabe von 1840 ist das kleine Familienglück mit Agnese, Renzo und Lucia und dem Kind auf der gleichen Doppelseite abgebildet wie das Bild des abgebrannten Hauses des Salbenschmierers Giangiacomo Mora, an dessen Stelle nun die Schandsäule zu sehen ist. Im Gegensatz zu Scotts WaverleyRomanen passen die Promessi sposi nicht in das Paradigma des Nationalromans. Das schließt eine nationalliterarische Rezeption des Textes nicht aus, im Gegenteil firmiert er bis heute unter den nicht gerade meistgeliebten italienischen Schullektüren. Mit der sprachlichen Überarbeitung des Romans in die toskanische Kunstversion trug Manzoni selbst ausdrücklich zu einer sprachlichen Normierung bei. Man kann darin eine Vermittlung von universell-literarischem Inhalt und nationalsprachlicher Ausdifferenzierung sehen. Statt der Geschichte einer Bildung des Individuums schreibt Manzoni, wie ich versucht habe zu zeigen, den Roman einer Paarwerdung als Rechtfertigung seiner Individuen. Der Sonderweg, den der italienische Roman hier geht, wurde als Engführung zweier Literaturbegriffe, die sich an den beiden Protagonisten spalten, beschrieben. In Renzo und Lucia werden nicht zuletzt intertextuelle Konflikte ausgetragen. Während Renzo ‚profaniert‘ wird – und mit ihm die Traditionslinie, die vom antiken Epos zum männlichen Bildungsroman führt – entwickelt sich in der Figur Lucias die Poetik eines weiblichen Liebesromans, deren uneingestandener Bezugspunkt die englische Gothic Novel (und insbesondere Ann Radcliffes The Italian or the Confessional of the Black Penitents) ist. Die sprachliche und politische Entmachtung der männlichen Hauptfigur wird durch die sprachliche und politisch-rechtliche Ermächtigung der weiblichen Hauptfigur kompensiert. Mit Lucias parole, der Bitte um die Entbindung vom unfreiwillig gegebenen Gelübde, behauptet sich gleichsam ein marriage plot, in dem die Ehe eine universelle Figur des Versprechens jenseits von nationalen Instrumentalisierungen darstellt. Wo die unendliche Scheidungsverhinderung in Goethes Wahlverwandtschaften durch die kunstapotheotische Stilisierung Ottilies den Roman ‚künstlich‘ abbricht, brechen die Promessi sposi nicht mit einer Selbstbehauptung des Romans, einem ‚Eigenrecht des Romans‘ ab, sondern schreiben sie dieses Versprechen wie in einem skeptischen Fade-out aus. Während männliche Autoren wie Rousseau, Goethe und auch Flaubert und Hugo die weiblichen Figuren allegorisieren, um damit literarische Autorität zu legitimieren, verzichtet Manzoni auf eine solch einseitige Allegorisierung. Statt Allegorisierung wäre im Fall Lucias eher von einer (uneingestandenen) Romantisierung zu sprechen, mit der – analog zur profanzweifelhaften Autorität Renzos, des notorischen Davonkommers der Geschichte – die Verbindlichkeit des Romans aufrechterhalten wird. Ähnlich wie die Wahlverwandtschaften reflektieren I promessi sposi in ihrem Thema den Status einer prekären Verbindlichkeit und verweisen sie auf einen gegenstrebigen Anfang des Romans im 19. Jahrhunderts.
6.2 Ehe und Nation
341
6.2 Ehe und Nation Mit der Frage, was eine Ehe sei, begann das rechtshistorische Kapitel dieser Arbeit. Zwischen Begriff und Metapher changierend, im Überschneidungsbereich von verschiedenen Diskursen angesiedelt (Religion, Politik, Recht, Ökonomie und Pädagogik), eine historisch und kulturell codierte Lebensform beschreibend, ging es mit Blick auf die für die Literatur zu untersuchende Funktion der Ehe vor allem darum, den metaphorischen Überschuss bzw. das aus einer zeitlich verschobenen Säkularisierung (oder ‚Profanierung‘) entstandene Bedeutungspotential herauszuarbeiten. Die Vorstellung, dass die Ehe noch etwas anderes darstellen könnte als einen natürlichen Fortpflanzungsverbund, wurde anhand des Christentums bzw. insbesondere der paulinischen Äußerungen im fünften Kapitel des Epheserbriefes (Eph 5, 21–33) verfolgt, wonach Mann und Frau als Bild für Christus und seine Kirche dargestellt werden. So sakralisierte die Kirche das Paar und die Ehe, wenn auch nicht als höchstes und ausschließliches Sakrament. Bis heute ist das Eherecht keine ausschließlich weltliche Angelegenheit, weswegen die säkularisierungsgeschichtliche Formel ‚Vom Sakrament zum Vertrag‘ (John Witte) – etwa in Analogie zur rechtssoziologischen These ‚From Status to Contract‘ (Henry Sumner Maine) – zu linear gedacht ist. Gerade die eherechtlichen Entwicklungen der letzten Jahre und die Debatte um die Öffnung der Ehe ‚für alle‘ spaltet die Rechtswissenschaften weiter darüber, inwieweit und in welcher Weise die Ehe ein Gegenstand von Rechtsnormen sein kann. Erneut spannen sich die Pole zwischen einem institutionell-überindividuellen und einem vertraglich-interindividuellen Eheverständnis auf.10 Wenn das Eheverständnis sich zugunsten von Individualisierung und Privatisierung gewandelt hat, führte das zugleich zu einer familienrechtlichen Ausdifferenzierung. Ehe und Familie driften auseinander, konsequenterweise wird inzwischen ein Familienrecht eingefordert, das ‚Realbeziehungen‘ statt starre Familienstände regelt.11 Mit der Marginalisierung der reproduktiven Funktion der Ehe und der Fokussierung der Zweierbeziehung, welche im Übrigen nicht nur ein Effekt emanzipatorischer Forderungen, sondern auch fortschreitender Reproduktionsmedizin ist, gerät das Konstrukt Ehe zunehmend unter Legitimationsdruck. Das verbindet sie mit der Nation. Die säkulare Zivilehe ist historisch betrachtet ein sehr junges Produkt, wobei die Französische Revolution eine katalysatorische, aber nicht universelle Rolle spielte: In Frankreich wurde am 20. September 1792 mit der ersten revolutionären Verfassung die obligatorische Zivilehe eingeführt. In
10Vgl.
das jüngst erschienene monographische Über-1000-Seiten-Werk zum deutschen Eherecht von Robert Battes, Eherecht, Berlin/Heidelberg: Springer-Verlag 2018. 11Vgl. Ingeborg Schwenzer, Vom Status zur Realbeziehung. Familienrecht im Wandel, BadenBaden: Verlagsgesellschaft 1987.
342
6 Schluss
Italien folgte – nach dem Intermezzo napoleonischer Herrschaft (1808–1815) – 1865 die obligatorische Zivilehe mit dem Codice Civile del Regno d’Italia, die allerdings so wenig erfolgreich war, dass man 1929 unter Mussolini auf die fakultative Eheschließung (‚Konkordatsehe‘) umstellte.12 1875 wurde im Deutschen Reich mit dem Personenstandsgesetz von 1875 die obligatorische Zivilehe (und zeitgleich auch die Ehescheidung) eingeführt.13 Zumindest in diesen Ländern besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen der Entstehung des (modernen) Staates und einer nationalen Ehegesetzgebung, und angesichts dieser Koinzidenz ist es erstaunlich, dass die politik- und geschichtswissenschaftliche Nationalismus-Forschung diesen Zusammenhang bislang nicht systematisch in den Blick genommen hat. Abgesehen von den USA, für die Nancy Cott Pionierarbiet geleistet hat, bleibt hier sowohl für die einzelnen Länder als auch in vergleichender Perspektive noch viel zu tun.14 Mit der Ehe lassen sich – analog zum Begriff der Nation – Gemeinschaftsbeziehungen regeln, die über biologisch-ethnische Verwandtschaft hinausgehen und die – im Begriff des Konsenses und freien Willens – als Grund- und Freiheitsrecht (jenseits von dynastischer Gewalt) deklarierbar sind. Wie die Ehe erlaubt die Nation eine Fusionierung von Populationen, das Vergessen von Zwang zugunsten eines gemeinsamen Willens, die Suggestion von Souveränität und die Abgrenzung von anderen Familien bzw. Nationen. So ging es im diskursgeschichtlichen ‚Scharnierkapitel‘ zu Rousseau darum, seine politische und literarische Fiktion (Contrat social und Julie ou la Nouvelle Héloïse) parallel zu lesen, um die Übertragung der Aporien der Vertragsfiktion auf die Ehefiktion der Nouvelle Héloïse herauszuarbeiten. Rousseau behandelt einmal die Vertragsfiktion des ‚contrat social‘, den Zusammenschluss verheirateter Männer, das andere Mal – im Roman der Nouvelle Héloïse – das, was er ‚mariage‘ bzw. ‚contrat civil‘ nennt. Geht es im Contrat social um die Außenperspektive der männlichen Akteure, die sich zu einem ‚moi commun‘ und einem Volkskörper zusammenschließen, so gründet die weibliche Akteurin Julie aus einer Binnenperspektive mit ihrem Ehemann Wolmar ein neues, noch namenloses Gemeinwesen (das fiktive ‚Clarens‘), das mehr als eine Familie, aber weniger als ein Staat ist – eine Art Versuchsnation. Julies Eheschließungsbrief in der Mitte des Briefromans15 inszeniert eine Willensbekundung – ‚Ja, ich will‘ –, mit der nicht nur ein Bräutigam adressiert wird, sondern fiktionsintern jener Mann, den sie ‚liebt‘, der Briefadressat Saint-Preux, und der in der Adressierung mit dem Mann schlechthin verschmilzt, und fiktionsextern jene Leser und Leserinnen, die mit dem Brief dazu
12Vgl.
Waldmann, Konkordatsehe, S. 27–31. (u. a.) Battes, Eherecht, S. 102. 14Nancy F. Cott, Public Vows. A History of Marriage and the Nation, Cambridge, Mass.: Harvard University Press 2002. 15Brief XVIII am Ende des dritten der insgesamt sechs Romanteile. 13Vgl.
6.2 Ehe und Nation
343
aufgefordert werden, das fiktiv-imaginäre ‚Ja‘ auch in ihrer Welt zu realisieren. Es ist bemerkenswert, dass sich die Revolutionäre zwar in ihrem Gesetzesbegriff auf Rousseau beziehen konnten – Gesetze sind Akte des Gemeinwillens („actes de la volonté générale“, CS, II, VI, 379) –, aber nicht in der Frage der Scheidungsfreiheit, denn die Ehe bleibt bei Rousseau unauflösbar. Faktenhistorisch bleibt das revolutionäre Eheschließungs- und Ehescheidungsrecht Dreh- und Angelpunkt der literarischen Thematisierung der Ehe ab den 1790er Jahren.16 Das Scheidungsrecht vom 20. September 1792 „Loi Qui détermine les causes, le mode & les effets du Divorce“ nennt unter den Scheidungsgründen als ersten das gegenseitige Einvernehmen („consentement mutuel“), als zweiten eine „incompatibilité d’humeur“, und erst danach folgen Gründe wie Straffälligkeit, Verbrechen, Sittenverstöße etc. In konsequenter Vertragslogik wurde es zeitgleich mit dem neuen Eheschließungsrecht verabschiedet – ebenfalls am 20. September 1792 und damit am Vortag der Ausrufung der Republik und der formellen Abschaffung der konstitutionellen Monarchie. Die Scheidungsfreiheit, die nur bis 1803 gelten sollte, war insofern radikaler als das neue Eheschließungsrecht, als mit ihr die gleichzeitig eingeführte Zivilehe als Grundrecht in Frage gestellt wurde. Verstanden als Eheschließungs- und Scheidungsfreiheit, die für alle Bürger gleich gelten sollte, verweist diese nur wenige Jahre geltende revolutionäre Ehegesetzgebung, die mit der Phase der Terreur zusammenfällt, sowohl auf das rechtliche Vakuum der Revolution als auch auf einen allegorischen Nullpunkt der neuen französischen Nation, die sich als souveräne neu setzte, neu gründete. Der gleiche Konsens, der die Bürger binden sollte, sollte sie auch voneinander entbinden können. Die französische Zivilehe wird zur rhetorischen Trope für die rechtliche Begründung der Nation, die nun nicht mehr als die Gesamtheit aller Untertanen des Herrschers, sondern als souveräner Volkskörper bestimmt wurde.17 Aus heutiger Perspektive überrascht die Bedeutung, die der Frage nach dem ‚Zivilstand‘ – zölibatär, ledig, verheiratet, verwitwet – beigemessen wurde. Es überrascht die Tendenz während der Revolution, die Heirat zu einer Bedingung für das politische Amt zu machen, ebenso wie das Phänomen der ca. 6000 verheirateten katholischen Priester, die als national und konfessionell sich bekennende Gruppe nach dem (Alb-)Traum der Revolution systematisch vergessen werden sollte. Im Nicht-Loswerden der begrifflich so schwer fassbaren Kollektividentität ‚Nation‘ wird es immer wichtiger, ihre metaphorische Konstruiertheit zu verstehen. Sieht man eine der Leistungen des modernen Nationenbegriffs
16S.o. Abschn. 2.2:
Band der Teilung. Die revolutionäre Ehegesetzgebung. hierzu Hans-Jürgen Lüsebrink, „L’Etat-Nation/Staatsnation. Zur frühmodernen Genese und postmodernen Infragestellung des Nationalen“, in: Rainer Hudemann, Manfred Schmeling (Hg.), Die ‚Nation‘ auf dem Prüfstand, Berlin: Akademie Verlag GmbH 2009, S. 3–16. 17Vgl.
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6 Schluss
darin, als Willensgemeinschaft die ‚alte‘ Abstammungsgemeinschaft und biologisch-ethnische Kriterien transzendieren zu können, so drängt sich die ‚freie‘, auf Konsens beruhende Ehe bzw. das Grundrecht der Eheschließungsfreiheit geradezu auf. Für Frankreich, Deutschland, Italien war die Zivilehe konstitutiver Bestandteil für das Zustandekommen des Nationalstaats als Rechtsnation. In Deutschland hat der Schutz der Ehe bis heute Verfassungsrang, was dazu führte, dass die Diskussion um die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Partner vor allem eine verfassungsrechtliche Debatte war.18 Die freie Eheschließung war – verglichen mit Bürgerkrieg, Terreur und Guillotine – sicher nicht die schlechteste Erfindung für das moderne Nation-Building. Leider ist sie sehr lange eine Allegorie geblieben, und erst in der Ehegesetzgebung des 20. Jahrhunderts setzte sich allmählich ein nicht mehr patriarchales, gerechteres Eheverständnis durch. Doch bereits Renan wies 1882 in seiner Rede „Qu’est-ce qu’une nation?“ auf die Notwendigkeit des Vergessens beim Zustandekommen einer Nation hin: „L’oubli, et je dirai même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la création d’une nation, et c’est ainsi que le progrès des études historiques est souvent pour la nationalité un danger.“19 Mag man im heutigen deutschen Eherecht etwa (noch) mehr sehen als die Fürsorgepflicht zwischen zwei Eheleuten (und ggf. ihren Kindern gegenüber), dann ist auch hier ein massives Vergessen im kollektiven Bewusstsein zu konstatieren. Die Erinnerung zum Beispiel daran, dass Männer noch vor 1976 das Recht hatten, die Erwerbstätigkeit ihrer Frau zu verhindern, oder dass es (dank eines traditionellen ius in corpus in der Ehe) erst seit 1997 möglich ist, eheliche Vergewaltigung als ein Verbrechen zu ahnden, verblasst erstaunlich schnell. Ebenso dass die Kirchen bis weit über die Mitte des 20. Jahrhunderts vor sog. Mischehen warnten. Ehen und Nationen wähnen sich oft irrtümlich im Recht, weshalb es geraten scheint, ihre rechtlichen Grundlagen zu überprüfen und anzupassen. Die hier untersuchten Eheschließungsfiktionen wurden nicht in dem Bestreben gelesen, Nationalliteratur zu rehabilitieren, sondern auf ihr Potential hin, ob sie diesbezüglich einen Beitrag zu leisten in der Lage sind. Manzonis I promessi sposi avancierten dabei insofern zu einem lektüreleitenden Schlüsseltext, als sich hier das Nationale und Universelle immer mehr als austauschbar erwiesen. Die Eheschließung von Renzo und Lucia ist gerade nicht eine Allegorie der Nation, sondern viel eher die Allegorie eines universellen (Freiheits-)Rechtes. Dass ein solch (allegorisches) Grundrecht nicht unbedingt Verfassungsrang haben muss, zeigt allein ein vergleichender Blick auf unterschiedliche Verfassungen der Welt. Nach Robert Battes finden sich Bestimmungen
18Nun
zusammengefasst bei: Ferdinand Wollenschläger, Dagmar Coester-Waltjen, Ehe für Alle. Die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare aus verfassungsrechtlicher und rechtsvergleichender Perspektive, Tübingen: Mohr Siebeck 2018. 19Ernest Renan, „Qu’est-ce qu’une nation?“, in: Ders., Qu’est-ce qu’une Nation? et autres écrits politiques, hg. Raoul Girardet, Paris: Imprimerie nationale Éditions 1996, S. 221–246; hier: S. 227.
6.3 Paar und Gemeinschaft
345
zu „Ehe, Familie und Kindern“ vor allem in „meist in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts nach Kriegen und sonstigen Umbrüchen entstandenen Verfassungen“ (wobei er allerdings nicht zwischen Ehe und Familie differenziert).20 Stellt man in Rechnung, dass die Verfassungssprache mehr begrifflicher Klarheit als rhetorischem decorum verpflichtet sein sollte, mag man/frau doch eher dem Verzicht auf den Verfassungsrang der Ehe zuneigen.21 Zumal – auch dies machten die Eheschließungsfiktionen deutlich – die Analogie von Ehe und Nation erst dann zu einem Ende käme bzw. zu Ende erzählt werden könnte, wenn auch ihr Ende, ihr künstlicher oder natürlicher Tod, die kriegerische, vertragsmäßige oder ‚einvernehmliche‘ Scheidung berücksichtigt würde. Doch dies tun die besprochenen Texte gerade nicht. Als romanhafte/romantische Gemeinschaftsgründung oder schicksalhafte Scheidungsverhinderung weisen sie lediglich auf das anhaltende (Konflikt-)Potential des Scheidungsnarrativs – in Film und Literatur ebenso wie im Eherecht – voraus.
6.3 Paar und Gemeinschaft Die Analogie von Ehe und Nation konnte nicht zu Ende erzählt werden in dieser Arbeit. Man könnte sagen, dass dies schlicht dem Umstand geschuldet ist, dass das Narrativ diskursgeschichtlich eben auch noch kein Ende hat. Aber wichtiger scheinen mir am Ende die literaturwissenschaftlichen Konsequenzen, die aus den Lektüren für einen Romanbegriff zu ziehen wären. Gemeinsames Merkmal der besprochenen Texte ist eine auktoriale Autorität, die dem gleichsam klassischen Paradigma des Romans des 19. Jahrhunderts, der ‚auktorialen‘ Gattung des realistischen Romans entgegensteht. Wenn man dieser Gattung mit Erich Auerbach weiterhin das Hauptattribut zuschreibt, Wirklichkeit darzustellen, lag der Einsatz dieser ‚heteronomen‘ Lektüren im Versuch, der jeweils dargestellten Wirklichkeit ein Recht, ein eigenes Recht, eine eigene Verbindlichkeit abzuringen. Als dargestellte Ehen, die nie verwirklicht wurden, und dargestellte Nationen, die es nie gegeben hat, habe ich Paare gesucht, die an der Stelle einer ‚kommenden Gemeinschaft‘ dargestellt sein könnten, die weniger das Wirkliche als das Mögliche figurieren. Paare, für die der reziproke Sprechakt des Konsenses konstitutiv ist. Ehe und Nation traten – in dieser Frage nach dem ‚dargestellten Recht‘ – immer wieder hinter den Begriffen von Paar und Gemeinschaft zurück.
20Battes,
Eherecht, S. 45. Vergleich das zufällig gewählte Beispiel der westafrikanischen Volksrepublik Benin von 1990: Im Art. 26 liest man hier statt Schutz von ‚Ehe und Familie‘ nur vom Schutz der Familie und, überraschenderweise, besonders vom Schutz von Mutter und Kind: „L’État assure à tous l’égalité devant la loi sans distinction d’origine, de race, de sexe, de religion, d’opinion politique ou de position sociale. L’homme et la femme sont égaux en droit. L’État protège la famille et particulièrement la mère et l’enfant. Il veille sur les handicapés et les personnes âgées.“ Vgl. Constitution de la République du Bénin (11.12.1990), zit. nach: http://fr.wikisource.org/wiki/ Constitution_de_la_République_du_Bénin (03.01.2020). 21Zum
346
6 Schluss
Bis hin zu Flaubert sind die Paarrelationen durch eine Ehe rechtlich eingerahmt, die diese entweder noch nicht oder nicht mehr ermöglichen. Ermöglicht werden sie also durch eine ‚Erzählinstanz‘, in diesem Fall durch männliche Autoren, die im potentiellen Ehepaar ihre schriftliche Verbindung zur Gemeinschaft der abwesenden Leser und Leserinnen nicht nur darstellen, sondern auch ‚verbindlich machen‘ bzw. legitimieren.22 Der Zivilstand spielt(e) im Zustandekommen von rechtlich verfassten Gemeinschaften nicht nur eine Rolle für Politiker oder Priester, sondern eben auch für (National-)Autoren, die sich mit ihrem Werk – und Leben – als verbindliche oder übergeordnete Mitglieder der Gemeinschaft darstellen – und herstellen. Wenn Goethe seiner langjährigen Beziehung mit Christiane Vulpius erst ‚nachträglich‘, 1806 (drei Jahre vor dem Erscheinen der Wahlverwandtschaften) einen festen rechtlichen Rahmen gibt, dann bekräftigt er damit nicht nur eine Verbindlichkeit, sondern auch jene Unausweichlichkeit der Ehe, von der die Wahlverwandtschaften erzählen sollten.23 Während sich nach Goethe Paare demnach subjektiv-auktorial herstellen lassen, bindet Manzoni, der als Ehemann schreibt, seine Paarbildung der Promessi sposi an das gegenseitige Versprechen. Wo wie bei Hugo eine Hochzeit von Esmeralda und Quasimodo jenseits des Lebens gefeiert wird, ist auch sein Autor von lebensweltlich gegebenen (Ehe-)Versprechen entbunden. Flaubert wiederum bindet seinen Ehebruch-Roman an eine enthaltsam-keusche Auktorialität. Im Roman, der keine Form hat, weil er eine ‚Lebensform‘ – zwischen Zweien und Vielen – sein will oder soll, stellen sich mögliche Wirklichkeiten folglich nicht nur dar, sondern her. Mit Julie, Wolmar, Herrmann, Dorothea, Eduard, Charlotte und Ottilie, Renzo, Lucia, Esmeralda, Quasimodo, Charles und Madame Bovary werden Figuren von frappierend unterschiedlicher Konsistenz ins literarische Leben gerufen. Bemisst man diese Figuren an ihrer Wahrscheinlichkeit, an ihrem ‚Realismus‘, versteht man sie nicht oder nur halb. Wer würde sich dann nicht erst einmal über eine Emma Bovary aufregen, der nichts recht ist und die mit nichts zufrieden ist? Oder über einen Quasimodo, der den Konstruktionscharakter als ‚Ungefähres‘ bereits im Namen trägt? Ihre Konsistenz bemisst sich vielmehr an ihrem Potential, diese Wahrscheinlichkeiten zu überschießen. In diesem Sinne erwiesen sich noch einmal die Promessi sposi als Ausnahme. Während das übliche Schema darin besteht, die weibliche Figur einseitig zu allegorisieren und Weiblichkeit zum Bindungsstoff zu machen, der Realbeziehungen sprengt,
22Für
diese Perspektive bleibt das Paradigma eines schriftlich-verbindlichen (Ehe-)Bruches weiterhin wichtiger als mündlich-unverbindliche Versprechen. Vgl. hierzu die auch gerade entstandene Arbeit von Joachim Harst, Universalgeschichte des Ehebruchs. Verbindlichkeit in Literatur und Philologie, ersch.: Göttingen: Wallstein 2020. 23Vgl. zu dieser Verbindlichkeitsfigur bei Goethe auch Harst, Universalgeschichte des Ehebruchs, S. 299 (priv. Skript).
6.3 Paar und Gemeinschaft
347
entwickelt Manzoni das, was ich eine Paar-Poetik genannt habe. Der Literaturbegriff wird intertextuell im Paar gespalten: Renzo als profaner Amor, Aeneas und Robinson Crusoe Herumirrender bleibt auf einen in Lucia nachgeahmten Roman angewiesen, der die entscheidende Lösung bringt. So dass man sagen kann, dass in den Promessi sposi nicht Weiblichkeit, sondern der Roman selbst allegorisiert und, wenn auch uneingestandenermaßen, implizit, legitimiert wird. Eine Paar-Poetik mag vielleicht romantisch anmuten. Aber zur Erkundung jener Gemeinschaften, die sich zwischen Individuum und Gesellschaft, innerhalb oder außerhalb des Großverhältnisses des Romans, aufspannen, hat sie es allemal verdient, berücksichtigt zu werden.
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Personenregister
A Agamben, Giorgio, 18, 19, 22 Amsdorff, Nikolaus von, 35 Anderson, Benedict, 4, 232 Aquin, Thomas von, 31 Aristoteles, 25 Auerbach, Erich, 2, 345 Austen, Jane, 9 B Baldi, Guido, 195 Balzac, Honoré de, 9, 55, 328 Battes, Robert, 344 Baumgart, Hermann, 226 Beauharnais, Joséphine de, 48 Beccaria, Cesare, 97 Beccaria, Giulia, 98 Bellarmin, Robert, 31, 32 Benjamin, Walter, 42, 62, 277, 280, 305 Bernhard, Jean, 34 Bernsen, Michael, 114 Bertin, Louise, 328 Biet, Christian, 47 Blanchot, Maurice, 8 Blondel, Enrichetta, 46, 85 Blumenberg, Hans, 1, 3, 17, 113, 297 Bodin, Jean, 62 Bonald, Louis de, 47, 55, 56, 327 Bonaparte, Napoleon, 11, 47–49, 53, 54, 302 Bora, Katharina von, 35 Borromeo, Federigo, 99, 116, 131, 154, 165, 192 Bosco, Alessandro, 184 Bourdaloue, Louis, 112 Brandt, Reinhard, 231 Brentano, Clemens von, 338 Brogi, Daniela, 91, 160, 195
Brombert, Victor, 318 Brontë, Emily, 10 Burke, Edmund, 179 Butor, Michel, 322 C Caesar, Gaius Iulius, 234 Cage, E. Claire, 54 Campe, Rüdiger, 91, 228 Carl August, Herzog von Sachsen-Weimar-Eisenach, 211, 302 Chaumette, Pierre-Gaspard, 45 Ciaccia, Francesco di, 204 Colet, Louise, 330 Conrad, Hermann, 31 Cordero, Franco, 106 Cott, Nancy, 5, 342 Cottret, Bernard, 83 Cottret, Monique, 83 D Danelon, Fabio, 88 Daub, Adrian, 227, 228 Defoe, Daniel, 180 Degola, Eustachio, 46 Delannoy, Jean, 329 Diderot, Denis, 156, 158, 162 Dieterich, Hartwig, 30 Donin de Champagneux, Luc-Antoine, 82 Drigani, Andrea, 198, 203 Duras, Marguerite, 8 E Eco, Umberto, 133, 152 Eliot, George, 10
© Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 D. Stöferle, Ehe als Nationalfiktion, Schriften zur Weltliteratur/Studies on World Literature 10, https://doi.org/10.1007/978-3-476-05658-0
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370 F Fauriel, Claude, 171 Ferrer, Antonio, 130–132 Fichte, Johann Gottlieb, 11, 41, 43 Fielding, Henry, 9, 121 Flaubert, Gustave, 313, 315, 329–332 Fornari, Giuseppe, 194, 195 Forster, Georg, 302 Foucault, Michel, 18, 19, 108, 184 Foucher, Adèle, 328 Frare, Pierantonio, 167 Freud, Sigmund, 316 Friedberg, Emil, 38 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen, 230, 262 Friedrich Wilhelm III., König von Preußen, 227, 228 G Garlati, Loredana, 103 Genlis, Félicité de, 336 Getto, Giovanni, 156 Girard, René, 121 Girardi, Enzo Noè, 194, 195, 199 Gleim, Ludwig, 236 Göcking, Gerhard Gottlieb Günther, 261–263, 266, 275 Goethe, Johann Wolfgang von, 211–214, 218–220, 223, 225–227, 232–236, 247, 251–255, 257–263, 265, 269–272, 274, 276, 277, 279–281, 290, 291, 293, 295–297, 300–302, 304–306, 308, 311 Gonin, Francesco, 97 Gouges, Olympe de, 50, 336 Gratian, 29 Grégoire, Henri, 46, 54 Grotius, Hugo, 32, 59 Günther, Wilhelm Christoph, 211 Guyon, Bernard, 65 H Hańska, Ewelina, 9 Hawthorne, Nathaniel, 9 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 2, 11, 42, 43, 119, 336 Hehn, Victor, 274
Personenregister Heidegger, Martin, 1 Herder, Johann Gottfried, 211 Hobbes, Thomas, 32, 59, 214 Hofmann, Hasso, 72 Homer, 92, 275 Hopkins, Anthony, 329 Huber, Ludwig Ferdinand, 302 Huet, Pierre-Daniel, 92 Hufnagel, Wilhelm Friedrich, 274 Hugo, Victor, 313–316, 321, 322, 327–332 Humboldt, Wilhelm von, 274, 276 J Jacqueminot, Jean-François, 49 James, Henry, 10 Jean-Paul, 237 Jones, Verina R., 180 K Kant, Immanuel, 11, 42, 43, 61, 116, 231 Karl I., König von England, 285, 290, 292 Kittler, Friedrich, 259 Kittler, Wolf, 227 Knebel, Karl Ludwig von, 211 Kullmann, Doris, 136 L Labédoyère, M. de, 65 Laurent-Pichat, Léon, 332 Levasseur, Thérèse, 81, 83, 84 Levi, Primo, 120, 123 Lewis, Matthew Gregory, 163, 179 Leydecker, Karl, 297, 299 Leyva, Marianna de, 98, 154 Locke, John, 32 Lollobrigida, Gina, 329 Lombardus, Petrus, 29 Louis-Philippe I., König der Franzosen, 327 Ludwig XI., König von Frankreich, 314, 317 Ludwig XVI., 49 Luhmann, Niklas, 3, 89 Luise, Königin von Preußen, 227, 229 Lukács, Georg, 2, 315 Luther, Martin, 11, 35–40, 47 Lykurg, 68
Personenregister M Macchia, Giovanni, 95 Maine, Henry Sumner, 341 Man, Paul de, 56 Manzoni, Alessandro, 85, 87, 89, 91–115, 117–119, 121, 124, 131, 135, 136, 144, 146, 152–158, 162, 163, 166–171, 173, 176, 179, 180, 184, 187–189, 191, 192, 194, 195, 199, 205, 206, 208 Marion, Jean-Luc, 177 Massillon, Jean-Baptiste, 112 Mastrocola, Paola, 169 Mesch, Walter, 61 Métral, Marie-Odile, 26, 27 Meyer, Heinrich, 262 Michelet, Jules, 315 Momigliano, Attilio, 129 Mora, Giangiacomo, 95–98, 100, 103, 104, 108, 109, 114, 154, 167, 170 N Nancy, Jean-Luc, 7–9, 194 Negri, Renzo, 99 Nencioni, Giovanni, 133 Nicolini, Fausto, 106 Nigro, Salvatore S., 121, 149, 150, 153, 194, 195 Novalis, 226–233 O Opocher, Enrico, 127, 173 Osio, Gian Paolo, 154, 155 Osterkamp, Ernst, 307 Otto, Rudolf, 185 P Padilla, Giovanni Gaetano, 100, 109 Parini, Giuseppe, 110 Pascal, Blaise, 112, 115, 117, 178 Pascoli, Giovanni, 123, 124 Pasolini, Pier Paolo, 94 Paulus, 22, 23, 36 Persius Flaccus, Aulus, 15 Petrarca, Francesco, 159 Petriconi, Hellmuth, 188 Peyrou, M. du, 83 Pfeiffer, Helmut, 62
371 Piazza, Guglielmo, 95, 96, 98, 100, 103, 104, 107–109, 114, 154, 167, 170 Pillet, Auguste-Alexis, 332 Pinard, Pierre-Ernest, 332 Portalis, Jean-Étienne-Marie, 47, 50, 83, 327 Prodi, Paolo, 25 Propp, Vladimir, 180 R Racine, Jean, 159 Radcliffe, Ann, 162–164, 178, 180, 192, 340 Raimondi, Ezio, 119, 129, 177 Reinhard, Karl Friedrich von, 279 Renan, Ernest, 344 Richardson, Samuel, 9, 188 Riehl, Wilhelm Heinrich, 276 Rienzo, Giorgio di, 95 Ripamonti, Giuseppe, 86, 146, 154, 165, 190, 207 Ritter, Joachim, 133 Robespierre, Maximilien de, 11, 51, 52 Ronsin, Francis, 44, 47 Rosa, Caterina, 100, 109 Rosière, M. de, 82 Rosmini, Antonio, 33, 206 Rougemont, Denis de, 6 Rousseau, Jean-Jacques, 56–63, 65, 68, 70–76, 80–84 Roux, Jacques, 83 S Scalia, S. Eugene, 144 Schiller, Friedrich, 212, 213, 219, 241, 277 Schlegel, August Wilhelm, 274, 275 Schlegel, Friedrich, 338 Schmitt, Carl, 229, 232 Schott, Clausdieter, 30 Schulz, Johann Abraham Peter, 246 Schwab, Dieter, 44 Sciascia, Leonardo, 99, 106 Scott, Walter, 314, 321, 336, 340 Scudéry, Madeleine de, 92 Sedgwick, Eve, 95 Seebacher, Jacques, 315, 320, 329 Sénard, Jules, 333 Sengle, Friedrich, 241 Servan, Joseph-Michel-Antoine, 82 Sismondi, Jean de, 199
372 Sohm, Rudolf, 38 Sommer, Doris, 4, 319 Spinola, Ambrogio, 104, 108 Staël, Germaine de, 336, 339 Stampa, Stefano, 86 Steiner, Uwe, 255 Sterne, Laurence, 153, 180 Sticotti, Agathe, 65 Stolleis, Michael, 99 Sueton, 234 Swift, Jonathan, 180 T Tang, Chenxi, 214 Tanner, Tony, 297 Thackeray, William Makepeace, 9 Théry, Irène, 47 V Valesio, Paolo, 187 Vergil, 92, 123 Verjus, Anne, 53 Verri, Gabriele, 98 Verri, Giovanni, 97 Verri, Pietro, 97, 98, 100–103, 105, 107, 110, 112, 156
Personenregister Vico, Giambattista, 92 Visconti, Ermes, 171 Visconti, Giovan Battist, 104 Voß, Johann Heinrich, 235–238, 240, 242, 244–251 Vulpius, Christiane, 211, 212, 346 W Wagner, Irmgard, 238 Wallstonecraft, Mary, 336 White, Hayden, 91 Wieland, Christoph Martin, 46, 235, 295 Witte, John, 36, 341 Wolf, Friedrich August, 235 Woolf, Virginia, 2 Worsley, Wallace, 328 X Xenophon, 25 Z Žižek, Slavoj, 53