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German Pages 242 Year 2014
Walburga Hülk Bewegung als Mythologie der Moderne
Image | Band 33
Walburga Hülk (Prof. Dr.) lehrt Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen. Ihre Forschungsschwerpunkte sind der Dialog von Künsten und Wissenschaften, Literarische Anthropologie, Medienästhetik sowie Kulturkritik.
Walburga Hülk
Bewegung als Mythologie der Moderne Vier Studien zu Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry
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Inhalt
Vorwort | 7 I. Baudelaire: Die Erfindung der modernité | 15 II. Flaubert: Helden im stand-by oder Lehrjahre in Croisset | 55 III. Taine: Wissen und Traum in der Moderne | 91 IV. Valéry: Philosoph und Dichter des ingenium | 151 Stay there … keep moving ahead … | 205 Literaturverzeichnis | 207 Personenregister | 229 Abbildungsverzeichnis | 233
Vorwort
Des formes nées du mouvement, il y a un passage vers les mouvements que deviennent les formes, à l’aide d’une simple variation de la durée PAUL VALÉRY1 Es gibt einen Übergang von den Formen, die aus der Bewegung entstehen, zu den Bewegungen, in die aufgrund einfacher Abwandlung der Dauer die Formen geraten2
Das Faszinationsmuster Bewegung hat sich sicherlich nicht erst in den europäischen Metropolen der Jahrhundertwende 1900 herausgebildet. Aber zweifellos ist es so, dass in dieser Zeit der hochtourigen Moderne Beschleunigung, Geschwindigkeit und Flüchtigkeit die Wahrnehmungsdisposition namentlich des Großstadtmenschen bestimmten und Phänomene der Bewegung und Dynamik alle Lebensbereiche prägten und veränderten.3 So wurde der moderne Mensch zu demjenigen, der, wie Max Burckhard – Jurist und Direktor des Wiener Burgtheaters – 1899 schreibt, „die Bewegungstendenz gegenüber der Beharrungstendenz“ verkörpert.4 Die nachfolgenden vier Studien zeichnen exemplarisch Bewegungsmuster nach, die sich in Künsten, Medien und Wissenschaften entfalteten und behaupteten, als Schwung und Wirbel, Elastizität und Elan begrifflich und metaphorisch, stilistisch und formal in Erscheinung traten. Es sind intellektuelle und ästhetische Bewegungsmuster, die wesentliche Grundbegriffe unserer Kultur – Identität, Gedächtnis, Imaginäres – und Prinzipien unseres Kunstverständnisses – Gattung, Form, Schönheit – in Frage stellten und eine Vorstellung
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von Prozessualität vermitteln, die sich nicht zuletzt im Zeichen der neuen technischen Medien, vor allem der Kinematographie, durchsetzte. Und es sind ebenso Konzepte, die im Horizont eines Dekadenz- und Krisenbewusstseins Energien oder Resilienzsstrategien aufbieten, schöpferische Impulse erforschen und mobilisieren. Die nachfolgenden Studien konzentrieren sich auf Frankreich. Dort stellt sich der Zeitraum zwischen der „Erfindung“ der Moderne durch Charles Baudelaire und ihrer „Entgrenzung“ durch die sogenannten historischen Avantgarden – also die Zeit zwischen 1860 und den ersten Dekaden des 20. Jahrhunderts – als intellektuell und ästhetisch besonders prägnant dar. Denn es ist natürlich so, dass dieses Datum 1900, das in diesem Buch den Ton anschlägt, nicht allein dadurch interessant ist, dass es ein altes Jahrhundert verabschiedet und ein neues beginnen lässt – selbst wenn das Jahr 1900 mit der Pariser Weltausstellung pathetisch und spektakulär die Bilanz eines Jahrhunderts, Zäsur und Neubeginn feiert. Viel eher erscheint der Auftakt des 20. Jahrhunderts, wie Apollinaires Gedicht Zone aus dem Jahr 1900 in flüchtigen Impressionen andeutet, eingeschnitten zu sein in eine unbestimmte Dauer, eine unscharf begrenzte Übergangszeit. Dieser Eintritt in ein neues Jahrhundert trägt symbolisch alle Attribute der Unruhe, des Prekären und Faszinierenden einer neuen Zeit, die schon begonnen hat und andauert. Jeder synchrone, ja autoritäre Schnitt in den Fluss der Zeit ist freilich ein Konstrukt in heuristischer Absicht. Dieses ist getragen von der Hoffnung, dass eine Auffächerung von Bildern und Narrationen vergangenen Geschehens intensive diskursive Felder entbergen kann, die erlauben, in Bezug auf bestimmte Zeiträume von Schwellen- oder „Sattelzeiten“5 zu sprechen. Von einer Schwellenzeit gehen diese vier Studien mit Blick auf die Dekaden vor und nach 1900 aus, hier weniger im Sinne der politischen Geschichte als der Geschichte der Wahrnehmung, der Ästhetik und des Wissens. Diese intellektuelle Geschichte nämlich hat nicht nur teil an der historischen Ereignisfolge, sondern begründet die allgemeine Geschichte in erheblichem Maße, indem sie
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jene „sozialen Energien“6 verdichtet und freisetzt, die Impuls und Rhythmus gesellschaftlicher Dynamiken, imaginärer und praktizierter Kräfteverhältnisse und Inszenierungsformen sind. Diese These zu beglaubigen und in ihrem Zusammenhang interessante Geschichten zu erzählen, ist Anliegen des kleinen Buches. Die Modernediskussion ist so komplex geworden, dass die Konturen ihres Gegenstandes unscharf werden und die Einsetzungsereignisse und -diskurse je nach dem disziplinären Blickwinkel des Betrachters verschwimmen in der Zeit zwischen der Französischen Revolution und der Industrialisierung, einem langen 18. Jahrhundert, der Romantik, dem punktuellen Einsatz der modernité im französischen Second Empire und dem immer gleichen Ende, der „crise de l’esprit“7 und der europäischen Katastrophe des Ersten Weltkrieges.8 Die gleiche Unschärfe gilt für die Diskussion über das bewegte Bild, das zwar zuletzt als ein Effekt technischer Tricks des Kinematographen erscheint, aber lange zuvor in den bildenden Künsten imaginiert und erprobt wurde. Bereits Gotthold Ephraim Lessing sprach mit Blick auf die Laokoon-Gruppe von dem energetischen Potential der bildenden Künste, und für den Zeitraum 1900 ist es Paul Valéry, der aus dem Blickwinkel eigener Interessen in der Methode Leonardo da Vincis den Dynamismus der Künste entdeckte. So gesehen, ist Valéry ein früher Vertreter der heute aktuellen Bildwissenschaft, ein Zeitgenosse ihres anderen Ahnen, Aby Warburg, der das Faszinationsmuster Bewegung mit seinen Figuren Schwung, Wirbel, Elastizität formal in der italienischen Renaissance, im Manierismus und in außereuropäischen Ritualen erkannte.9 Und Valéry ist außerdem ein Beobachter der konzeptuellen und künstlerischen Entwicklungen, der technischen Experimente, mit denen seit der Romantik die Formen bewegter Körper und das bewegte Bild selbst zum Faszinationsmuster wurden, vom Panorama über das Diorama und die Chronophotographie bis hin zum Film.10 Schon diese Verwandtschaften, diese Fluktuation und Unschärfe zentraler begrifflicher und materieller Dispositionen von Bewegung gebieten Vorsicht im Hinblick auf die These tiefer kultureller Brüche, eine These, die folg-
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lich hier auch nur als Fluchtpunkt die Fragestellungen begleitet, wo nicht herausfordert. Denn Entscheidungen zugunsten der Konstruktion und Rahmung eines Gegenstandes sind zwingend, um den Blick zu schärfen und überhaupt die Durchführung einer Untersuchung zu ermöglichen. Und so obliegen die folgenden Studien selbst jenem unentrinnbaren Widerspruch zwischen der unablässigen und gleichgültigen Bewegung allen Lebens und dem Zwang zur Form, der im Mittelpunkt der Zeit- und Bewusstseinsphilosophie Henri Bergsons, seiner erstaunlichen Medienkritik wie auch der modernen Künste und Medien insgesamt steht. Um also einen Anfang zu machen, setzt auch in diesem kleinen Buch die Bewegung der Moderne ganz klassisch, nachgerade stereotyp ein: mit Baudelaires Diagnose der Flüchtigkeit, Vorläufigkeit und Kontingenz des modernen Lebens und seiner neuen Formel von Schönheit, die zu gewinnen ist aus der Flüchtigkeit der Erscheinungen und einer innervativen, hochgereizten Imagination. So ist die Formbildung oder Morphogenese, die zur conditio sine qua non, zum neu gestellten Problem und zur Herausforderung der Künste wurde, gekoppelt an die Diagnose der energetischen Wahrnehmungsdisposition, und diese Kombination ist ein Schlüssel für Vorstellungen von Kreativität, Gedächtnis und Wissen. Die Art und Weise, wie diesbezügliche Metaphern und Bilder sich zu Baudelaires Lebzeiten und zum Jahrhundertende hin poetisch und wissenschaftlich entwickelten, erscheint aus heutiger Sicht und mit dem Wissen unserer Zeit als aufregendes Programm. Wahrnehmung und Form sind in den vier Studien die stets wieder aufgerufenen Suchbegriffe für die Betrachtung einer Schwellenzeit, die geprägt ist von einem neuen paragone, einem Wettstreit der Künste mit der maßgeblichen Aufgabe, Bewegung darzustellen, Schwung, Wirbel, Elastizität in der Spannung von Form und Formauflösung. Der Wettstreit ist, wie es schon die Kunstvergleiche des 16. und 18. Jahrhunderts waren, nicht nur Zeichen eines Konkurrenzbewusstseins, sondern zugleich Reflexion auf die „wechselseitige Erhellung der Künste“11 und nun auch verstärkt ein intensiver Dialog der two cultures12, der Na-
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turwissenschaften und der Geisteswissenschaften. Und dieser Dialog ist insofern bemerkenswert, als sich im hier diskutierten Zeitraum die Geistes- und Naturwissenschaften im akademischen Feld entschieden ausdifferenzierten. Wenn aber Werner Heisenberg, rückblickend auf den Horizont der „neuen Physik“ des frühen 20. Jahrhunderts – also seiner eigenen – sagen konnte, dass „[man] wahrscheinlich ganz allgemein sagen [darf], daß sich in der Geschichte des menschlichen Denkens oft die fruchtbarsten Momente dort ergeben haben, wo zwei verschiedene Arten des Denkens sich getroffen haben“13, dann dürfen diese kleinen Studien getrost seiner Anregung folgen und in diesem Sinne einige jener aufregenden Ideen zur Bewegung ausfalten, von denen die Künstler und Wissenschaftler vor und nach der Jahrhundertwende 1900 fasziniert waren. Im Zentrum der hier vorgelegten Betrachtungen stehen Baudelaire, Flaubert, Taine, Valéry: vier Akteure der französischen Moderne, die das intellektuelle und formale Faszinationsmuster Bewegung seit der Mitte des 19. Jahrhunderts in unterschiedlichen Graden der Geschwindigkeit, Dynamik und Energie, von der Intensität eines Wirbels bis zur Nullstufe der Regungslosigkeit, durchdacht und zum Ausdruck gebracht haben. Untersucht werden Konzepte, Metaphoriken und Formen von Bewegungsmustern, in denen auf ganz unterschiedliche Weise die Mobilität der modernité wahrnehmungstheoretisch konstruiert und ästhetisch inszeniert wird. Gelesen werden Texte, die literarisch, kunsttheoretisch, philosophisch und wissenschaftsgeschichtlich interessant sind; sie werden in Bezug gesetzt zu alten und neuen Künsten und im Gesamttableau geben sie Aufschluss über Tendenzen der Formbildung und Formreflexion, über Stilfragen und Rätselfragen – wie jene nach den Gesetzen der künstlerischen Kreativität. So sind auch weitere, im Titel nicht genannte Vertreter der Künste und Wissenschaften, der Kunstkritik, der Philosophie und der Soziologie in diesen Studien gegenwärtig: Platon und Tintoretto, Leonardo und Nietzsche, Balzac und Bergson, Poe und Proust, Zweig und Warburg, Boccioni und Delaunay, Mosso und Marey – und nicht nur sie. Die imaginären und mate-
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riellen Geschichten, die sie alle verbinden, die Suchprogramme, denen sie folgen, sind Facetten durchaus heterogener, mehr aber noch wahlverwandter Diskurse über Bewegung, Schwung, Wirbel, Elastizität. Die Künste und die Wissenschaften vom Menschen trafen sich in den Jahrzehnten vor und nach 1900, so zeigt es ein Gang durch Schreibstätten, Ateliers und Laboratorien, im Wettstreit um die Epistemologie und Ästhetik der bewegten Formen, und sie notierten als Dilemma, dass noch die flüchtigste Erscheinung oder das Ephemere – ein Augenblick, ein Gedankenblitz, ein Lichtstrahl, ein Wellenschlag – vom Bewusstsein fixiert, im Bild geformt werden muss, um überhaupt wahrgenommen, erinnert oder erahnt zu werden. Die im Folgenden nachgezeichneten Gestaltungen und Spekulationen sind kulturwissenschaftlich relevant; sie erzählen oder definieren, sind zuweilen schillernd und dilettantisch, und sie umspannen eigensinnig Stile und Problemfelder, die im Kunstbetrieb und in Universitäten normalerweise getrennt waren. Valéry bezeichnete Bewegung als „neue Mythologie“ und Erkenntnis als Formbildung: „Nouvelle mythologie / les formes en mouvement / connaître c’est former.“14 Und so kann der Blick auf das Faszinationsmuster, ja die „Mythologie“ einer langen Jahrhundertwende hoffentlich einen Eindruck vermitteln vom Wissen und vom Traum der Bewegung 1900.
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ANMERKUNGEN 1
Paul Valéry: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci. 1894“, in: ders., Œuvres, édition établie et annotée par Jean Hytier, Bd. 1, Paris 1957, 1154-1199, hier 1169.
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Valéry: „Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci“, ins Deutsche übers. von Karl August Horst, in: ders., Werke, hg. von Jürgen SchmidtRadefeldt, Bd. 6: Zur Ästhetik und Philosophie der Künste, Frankfurt a. M. 1995, 7-61, hier 26.
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Dazu zuletzt Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914, München/Wien 2009, s.a. Hartmut Rosa: Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne, Frankfurt a. M. 2005.
4
Zit. in Rolf Grimminger: Literarische Moderne. Europäische Literatur im
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Reinhart Koselleck: Einleitung zu Geschichtliche Grundbegriffe, ders./Otto
19. und 20. Jahrhundert, Reinbek bei Hamburg 1995, 12. Brunner/Werner Conze (Hg.), Stuttgart 1972, 8 Bde., hier Bd. 1, XIII; ders.: „‚Neuzeitދ. Zur Semantik moderner Bewegungsbegriffe“, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Industrielle Welt, XX: Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, 264-300. 6
Stephen Greenblatt entwickelt diesen mittlerweile ebenso geläufigen wie vielfach strapazierten Grundbegriff des New Historicism in seinem Hauptwerk, Shakespearean Negotiations. The Circulation of Social Energy in Renaissance England, Berkeley/Los Angeles 1988 sowie in: Learning to Curse, New York 1987, dt.: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Berlin 1991.
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Valéry: „La Crise de l’esprit“, in: ders., Œuvres, Bd. 1, 988-1014. Zur Veranschaulichung von Komplexität, Widersprüchlichkeit und Unbestimmtheit der Begriffe „Moderne“ und „Modernität“ – in ihrer Bestimmung auch abhängig von unterschiedlichen Fächerkulturen – reicht bereits ein Blick auf die entsprechenden Artikel in den großen Handbüchern: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Geschichtliche Grundbegriffe, Ästhetische Grundbegriffe.
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Georges Didi-Huberman: L’Image survivante. Histoire de l’art et temps des fantômes selon Aby Warburg, Paris 2002; vgl. ebenso erhellend Ulrich Raulff: Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003.
10 Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, ins Deutsche übers. von Heinz Jatho, Frankfurt a. M. 2002, ders.: Suspension of Perception. Attention, Spectacle and Modern Culture, Cambridge MA/London 1999. 11 Oskar Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste. Ein Beitrag zur Würdigung kunstgeschichtlicher Grundbegriffe, Berlin 1917. 12 Charles Percy Snow: The Two Cultures and the Scientific Revolution, New York 1959. 13 Werner Heisenberg: Physik und Philosophie, Berlin 21963, 156f. 14 Bibilothèque nationale de France, Mss. N.a.fr. 19140, zit. in: Paul Valéry: 1894. Carnet inédit dit „Carnet de Londres“, hg. von Florence de Lussy, Paris 2005, 14. In der Folge abgekürzt mit Carnet.
I. B AUDELAIRE : D IE E RFINDUNG
DER MODERNITÉ
Baudelaire liest Poe, besucht die erste Pariser Weltausstellung und skizziert die Nervenkunst
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Abb. 1: Portrait de Baudelaire par Nadar, 1855-59 Jouir de la foule est un art2
Die Menge zu genießen, ist eine Kunst3
Niemand, der sich befasst mit den kulturellen Aspekten der „Verwandlung der Welt“ im 19. Jahrhundert4, kann sich vorbei schleichen an Baudelaire, und auch nicht an seinem kleinen Text von 1863 über den „Maler des modernen Lebens“, Le Peintre de la vie moderne, der zum Kanon, fast schon zu den Gemeinplätzen der Studien zum 19. Jahrhundert gehört und trotzdem immer wieder staunenswert ist. Er ist Teil der umfangreichen kunstkritischen Schriften, die Baudelaire mit dem Salon de 1846 für „le public nouveau qui se presse à la porte“5 beginnen lässt, ein Publikum, das sich in diesen Jahren erstmals nicht mehr ausschließlich als eingeschworener akademischer Kreis präsentiert, sondern das sich als Massenpublikum vor den Ausstellungssälen, Museen und Kunsthallen aufstellt. Der späte Text, vier Jahre nach dem prominenten Salon de 1859 entstanden, ist die Essenz der mehr als 15 Jahre
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währenden Tätigkeit des Dichters als Kunstkritiker und zugleich die poetologische Quintessenz seines Œuvres, denn die Fleurs du Mal und der Spleen de Paris ebenso wie Les Paradis artificiels und die Journaux intimes waren zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen und großenteils publiziert. Le peintre de la vie moderne ist das unaufgeregte Gründungsmanifest der ästhetischen Moderne. Im Vergleich mit den unzähligen Manifesten, die seit dem 19. Jahrhundert Konjunktur hatten und manchmal für helle Aufregung sorgten – wie z.B. Marinettis Manifeste du futurisme, am 20. Februar 1909 auf der Titelseite der bürgerlichen Zeitung Le Figaro veröffentlicht –, ist es besonnen und luzide, undogmatisch und gelassen. Seine Grundfigur nämlich ist der Flaneur. Sein Gegenstand ist ein ästhetisches, deutlich physiologisch fundiertes Such- und Erkennungsprogramm, welches das Wissen vom Menschen und die Kunst im Zeichen von Alltäglichkeit, Bewegtheit und Geschwindigkeit reflektiert und dem Künstler selbst Schnelligkeit und Geistesgegenwart abverlangt: „[…] mais il y a dans la vie triviale, dans la métamorphose journalière des choses extérieures, un mouvement rapide qui commande à l’artiste une égale vélocité d’exécution.“6 „[…] doch im gewöhnlichen Leben, im täglichen Wandel der Außenwelt liegt schon eine derart schnelle Bewegung, daß sie den Künstler zu einer gleich raschen Ausführung nötigt.“7
Erstmals wird in Le peintre de la vie moderne der Begriff der modernité prägnant ausgeführt, nachdem Edgar Allan Poe ihn 1840 in The Man of the Crowd skizziert hatte und er für Baudelaire, den Bewunderer und Übersetzer Poes, selbst zum Impuls seiner Dichtungen geworden war. In Le Peintre de la vie moderne wird der Begriff im Rahmen der Kunst- und Kulturkritik systematisiert. Er wird diagnostisch auf die Wahrnehmungsdisposition des modernen Menschen und programmatisch auf die Gegenstände und die Formen moderner Kunst ausgerichtet und zielt ab auf eine neue Schönheit, die theoretisch zu begründen
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ist durch eine vernünftige und historische Theorie des Schönen. Eine solche stellt sich dem normativen Schönheitsbegriff ganz und gar entgegen, denn sie ist eine „théorie rationnelle et historique du beau, en opposition avec la théorie du beau unique et absolu.“8 Diesem Schönen zugrunde liegt, als zwingende Begabung, als Energie und Methode, die hier mit einer Majuskel versehene „Imagination“, die Baudelaire im Anschluss an Poes Begriff der Einbildungskraft9 bezeichnet als „reine des facultés“: „Mystérieuse faculté que cette reine des facultés ! Elle touche à toutes les autres; elle les excite, elle les envoie au combat. Elle leur ressemble quelquefois au point de se confondre avec elles, et cependant elle est toujours bien ellemême, et les hommes qu’elle n’agite pas sont facilement reconnaissables à je ne sais quelle malédiction qui dessèche leurs productions comme le figuier de l’Évangile. Elle est l’analyse, elle est la synthèse […]. Elle est la sensibilité…“10 „Welch seltsame Fähigkeit, diese Königin der Fähigkeiten! Sie steht mit allen anderen in Verbindung; sie spornt an, schickt sie in den Streit. Sie gleicht ihnen manchmal so sehr, daß sie mit ihnen verschmilzt, und doch ist sie immer sie selbst, und die Menschen, die ohne sie auskommen müssen, sind leicht erkennbar an ich weiß nicht welchem Fluch, der ihre Hervorbringungen ausdörrt wie den Feigenbaum im Evangelium. Sie ist die Analyse, sie ist die Synthese […]. Sie ist die Sensibilität…“11
Als „reine des facultés“ oder auch als „faculté cardinale (sa richesse ne rappelle-t-elle pas des idées de pourpre“ 12) wird die „imagination“ in der Investitur einer Königin inszeniert und hebt sich durch ihren Glanz ab von pathologischen Mustern der Einbildungskraft. Solche nämlich formulierte das 19. Jahrhundert seit der Romantik in Fülle, indem die künstlerische Inspiration als Effekt oder Randerscheinung unterschiedlicher geistiger Störungen, „maladies mentales“ oder „maladies nerveuses“, gedeutet wurde und dies in einem transdisziplinären Diskurs medizinischer, psychologischer und kunstkritischer Herkunft.13
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Baudelaires Konzept der erregenden „imagination“, die eine Gabe ist, aber auch plötzlich hervorspringen kann aus Gereiztheit, Extravaganz, Exzentrik, lässt physiologische und experimentalpsychologische Vorstellungen und Erprobungen des Imaginären erahnen, die wenig später Aufsehen erregten – so Hippolyte Taines Begriff der „faculté maîtresse“ oder William James’ „stream of thought“14. Sie alle lösen sich ab von Mustern des Pathogenen und begreifen die Einbildungskraft als energetischen Prozess, als wirkende Kraft. Baudelaire sah eine solche Einbildungskraft schon verwirklicht in der Person und den Schriften Edgar Allan Poes, „[L]’homme aux facultés suraiguës, l’homme aux nerfs relâchés, l’homme dont la volonté ardente et patiente jette un défi aux difficultés, celui dont le regard est tendu avec la roideur d’une épée sur les objets qui grandissent à mesure qu’il les regarde“.15 „Der Mensch mit den aufs äußerste verfeinerten Fähigkeiten, der Mensch mit den erschlafften Nerven, der Mensch, dessen glühender und geduldiger Wille allen Schwierigkeiten trotzt, dessen Blick starr wie ein Schwert auf Gegenstände gerichtet ist, die unter diesem Blick immer größer werden.“16
Baudelaires Konzept der „Imagination“, physiologisch grundiert, findet sich wieder in radikalen Dichtungs- und Kunstprogrammen des frühen 20. Jahrhunderts, z.B. Valérys und Boccionis, die Wahrnehmung und Erinnerung, Wünsche und Träume, die Welt der inneren Bilder überhaupt unter den Leitgedanken einer konstruktivistischen und dynamischen Kreativität fassen. Zuletzt findet sich hier der Impuls innervativer und mobiler, spannungsreicher, ja agonaler Formgebung, wie er sich im Programm der historischen Avantgarden noch einmal artikuliert. In Le Peintre de la vie moderne führt Baudelaire die Idee einer „Imagination“ durch, die nicht nur abgegrenzt ist von pathologischen inneren Bildern, sondern sich ebenso systematisch unterscheidet von dem, was
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„fantaisie“ hieß. War „fantaisie“ begriffsgeschichtlich lange die Bezeichnung für Phantasie und Einbildungs- oder Vorstellungskraft gewesen, so hatte sie doch bis zum 19. Jahrhundert längst einen Bedeutungswandel erlebt und verblasste gleichsam gegenüber der „imagination“, später auch dem „imaginaire“ als den Begriffen, die fortan den Raum und die Wirkungsweise der inneren Bilder bezeichneten.17 Baudelaire unterscheidet klar die „fantaisie“ als Laune, Caprice oder Einfall – ganz im Sinne auch des verspielten frühen Rimbaud-Gedichts Ma Bohème (Fantaisie) von 1870 – von jener „imagination“, die er allererst streng formuliert als geistige Operation und schöpferische Kraft, als Energie, Traum und Kalkül. Im vierten Kapitel des Salon de 1859 über die Herrschaft der Einbildungskraft, „Le gouvernement de l’imagination“, notiert Baudelaire eine Bemerkung, die ihn beunruhigt habe, eine „ligne qui m’inquiétait“18 aus dem 1848 in London erschienenen Buch The Night Side of Nature der Engländerin Catherine Growe: „By imagination, I do not simply mean to convey the common notion implied by that much abused word, which is only fancy, but the constructive imagination, which is a much higher function, and which, in as much man is made in the likeliness of God, bears a distant relation to that sublime power by which the Creator projects, creates, and upholds his universe.“
Baudelaire übersetzt im Folgenden „fancy“ mit „fantaisie“ und „constructive“ mit „créatrice“ und er kommentiert den spirituellen, doch „exzellenten“ Impetus Catherine Growes, die er nicht ohne Herablassung als „cette excellente Mrs. Growe“ bezeichnet, mit der Bemerkung, er habe stets ihre Bereitwilligkeit zu glauben bewundert, „de qui j’ai toujours admiré et envié la faculté de croire […].“19 Und so konturiert er selbst die „reine des facultés“ als schöpferische Kraft jenseits metaphysischer oder spiritueller Einflüsse, und noch da, wo er sich besinnt auf die Philosophie der universellen Korrespondenzen, die von Leibniz und den deutschen Romantikern, zuletzt von Swedenborg und Fourier, vertreten worden war20, setzt er zugleich auf
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Selbstbeobachtung und Selbstexperimentation. Ebenso rigoros wie riskant werden diese vor allem in Les Paradis artificiels ausgeführt. Vermittelt über die präzise (Selbst-)Beobachtung von Rauscherfahrungen durch Drogen und Alkohol und durch die Abgrenzung von diesen „künstlichen Paradiesen“ – Praktiken des neuro-enhancement sozusagen – erscheint die experimentelle dichterische Selbstpraxis fortan als Kern der Nervenkunst und des gesamten Kunstprogramms.21 Dichten, so kann man verkürzt sagen, ist für Baudelaire ein Rausch, der sich einer doppelten Selbstkonstituierung verdankt: Traum, Begabung, Begehren zum einen, Kalkül, Übung und Arbeit zum anderen. Einen solchen Schaffensrausch, hochromantisiert und selbstdisziplinarisch gleichermaßen, können heutige kreative „workaholics“ zweifellos gut verstehen: „Pour guérir de tout, de la misère, de la maladie, de la mélancolie, il ne manque absolument que le Goût du Travail […] Plus on veut, mieux on veut. Plus on travaille, et plus on veut travailler. Plus on produit, plus on devient fécond.“22 „Um von allem geheilt zu werden, von Elend, Krankheit und Trübsinn, fehlt einzig die Lust an der Arbeit […] Je mehr man will desto besser will man. Je mehr man arbeitet, desto besser arbeitet man und desto mehr will man arbeiten. Je mehr man hervorbringt, desto fruchtbarer wird man.“23
Intuition und Disziplin, Inspiration und Hygiene, Ekstase und Arbeit gehen also hier eine Wechselwirkung ein, die, so exerzieren es die Paradis artificiels, das Dichten unterscheidet vom unkontrollierbaren Abgleiten in dionysische Verfasstheiten durch Opium, Haschisch und Alkohol.24 Der „poetische Zustand“ nämlich, in den der Dichter verfällt, ist allererst eine cura sui, eine technologie de soi oder eben eine Anthropotechnik, die gegen die Hysterisierung des romantischen Künstlers und ebenso gegen den Hang zum Verlust der Selbstkontrolle und die Liebe zur Dekadenz und Nervenschwäche gesetzt ist.25 Baudelaire entwirft hier solcherart auf frappierende Weise Ideen, die ein paar Jahre später, und dann immer wieder, von Physiologie und experimentel-
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len Psychologen im Zusammenhang der Erforschung der schöpferischen Kraft weiterentwickelt werden – als ein Suchprogramm, welches das Geheimnis der Kreativität aufspürt und Schriftsteller, Künstler, zuletzt auch Sportler zu seinen Probanden macht.26 Das nämlich ist das eigentliche Interesse Hippolyte Taines, der vor allem als Literaturhistoriker einer Geschichte der englischen Literatur und – vielfach unzureichend verstandener – Mentor des Naturalismus bekannt ist. Das treibt William James an, dessen Bruder Henry unumstritten ein Meistererzähler abgründiger psychischer Systeme ist, und es findet sich ebenso bei Charles Féré und Marie Jaël, die ihre Theorien zur Mobilität von Körper und Einbildungskraft im Dialog mit Musikern – und hier nicht von ungefähr in Abgleichung mit der intrinsischen Musik Camille Saint-Saëns’ – entwickelten.27 Baudelaire studiert die Emergenz der modernen, bewegten und flüchtigen Schönheit an der bildenden Kunst, und in dem unakademischen, kaum beachteten und schon alten Constantin Guys erkennt er den Maler zeitgenössischer Sitten, einer „peinture des mœurs du présent“28. Dessen Format ist nicht das Tafelbild, sondern die beiläufige Skizze, das rasche Aquarell, die massentaugliche Zeitungsillustration. Wenn letztere ein Beispiel für den Dialog von Text und Bild in der Frühzeit der Massenmedien ist, so treffen Guys’ Bildtechniken zugleich generell auf Baudelaires Suche nach dichterischen Formen, die geeignet sind, die modernité des großstädtischen Alltagslebens sichtbar werden zu lassen. Denn das Inzitament seiner eigenen „imagination“, die nach Gestalt drängt, ist bekanntermaßen die Großstadt.
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Abb. 2: Guys, Promenade
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1850, als Baudelaire, vom Impuls seiner Kunstkritik ausgehend, anfing zu dichten, hatte die Einwohnerzahl von Paris gerade die Grenze von einer Million überschritten und war damit, in der üblichen Terminologie, nach London die zweite europäische Metropole. London und Paris waren nicht nur die Epizentren der politischen Ordnung und des nationalen Kräftemessens, sondern auch Brennpunkte einer neuen Wahrnehmungsdisposition, die erst Poe, dann Baudelaire konzis ins Bild setzte, lange bevor Georg Simmel sie 1903 in Die Großstädte und das Geistesleben stadtsoziologisch und stadtpsychologisch als „Steigerung des Nervenlebens“ umschrieb. Beide Hauptstädte inszenierten sich in diesem Jahrzehnt als Weltstadt, zuerst London 1851 mit der ersten Weltausstellung, dann Paris 1855, als deutliche Antwort auf den ewigen Erzfeind, mit der ersten einer Reihe von Weltausstellungen, die bis zum Jahre 1937 Höhepunkte und Krisen des Nationalismus und wesentliche Etappen der Globalisierung und des Kolonialismus dokumentieren. Für Baudelaire wird die erste Pariser Weltausstellung zu einem aufreizenden Symbol der modernen – und fatalen – europäischen Fortschrittsidee und zugleich eine stupende Demonstration der Verlagerung künstlerischer Vitalität in andere Weltregionen, die Europa nicht beerben, sondern Neues schaffen, eine ganz andere „Moderne“:
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„La vitalité se déplace, elle va visiter d’autres territories et d’autres races; et il ne faut pas croire que les nouveaux venus héritent intégralement des anciens, et qu’ils reçoivent d’eux une doctrine toute faite. Il arrive souvent (cela est arrivé au Moyen Age) que, tout étant perdu, tout est à refaire.“30 „Dann [...] wandert die Lebensenergie, begünstigt andere Himmelsstriche und andere Rassen; und man soll nicht glauben, daß die Neugekommenen das gesamte Erbe der Alten antreten und eine in allen Stücken fertige Lehre von ihnen übernehmen. Oft geschieht es (wie dies im Mittelalter der Fall war), daß, weil alles verloren ging, alles neu zu erschaffen ist.“31
Die Fortschrittsidee und der technisch-industrielle „progrès“ zeichnen jedoch besonders intensiv die visuelle Ordnung und schlagen durch auf die geistige und sinnliche Grundausstattung des modernen Menschen. Die Weltausstellung, wie zuvor der erste kunstkritische Salon, gibt Baudelaire Anlass zu einer Polemik gegen die, wie er betont, schon von Heinrich Heine verlachten „professeurs-juges“, die sich als Hüter der akademischen Kunst und Kultur aufspielten. Im düsteren und gemeinen Fanal, im „fanal obscur“, „fanal perfide“32 der Fortschrittsideologie sieht er deren Herrschaft in grotesker Weise „amerikanisiert“33, auf die Spitze getrieben. Gegen eine Ordnung oder gar von Autoritäten auferlegte Hierarchie der Kulturen setzt Baudelaire stattdessen die Varietät der Welt und die Vielfalt ihrer Erscheinungen, die sich gerade im „Bizarren“ und damit auch im Vitalismus der fremden, großenteils kolonialisierten, doch eigensinnigen Kulturen und jenseits von Verlusterfahrungen der europäischen Moderne ausdrücken. So ist es die Weltausstellung, „cette belle Exposition“34, die ihn nicht nur erinnert an seine Reise in die Länder am Indischen Ozean, sondern zugleich auch auftrumpfen lässt gegen kanonische Begriffe des Schönen und gegen die klassischen, ruhigen Formen der „lächerlichen“ Winckelmann-Epigonen.35 Tatsächlich erkennt Baudelaire so auch, wie nach ihm Taine, Nietzsche und Warburg, dass die Kunst der Antike selbst keinesfalls einfältig, allfällig und erbaulich war. Und es ist auch die Weltausstellung von 1855, die ihm diesen kunsttheoretischen Impuls vermittelt,
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die ihn Vielfalt, Varietät von Form und Ausdruck sowie einen bizarren Vitalismus wahrnehmen und mitteilen lässt, die gegen die kulturell dominante Idee des unilinearen Fortschritts gerichtet sind: „Le beau est toujours bizarre“36. Ein akademischer Besucher der Ausstellung, so heißt es weiter, habe hier seine Not, zurechtzukommen mit der Fremdheit und Wucht der Eindrücke, die ihm kraftvoll widerstehen oder despotisch in sein Auge eindringen. Was in Le Peintre de la vie moderne mit den Figuren des Rekonvaleszenten, des Kindes, des Primitiven auftritt als Wahrnehmungsdisposition der curiositas, der Erwartung, des Staunens, ist die Vorbedingung von Erkenntnis und schöpferischer Kraft. Die Kultur des unverfälschten, barbarischen Blicks, erprobt und durchgeführt im dynamischen Kräftefeld von Künstler, Kunstgegenstand und Betrachter und sodann in den Blickfeldern der großstädtischen Schneisen und Kreuzungen, scheint angeregt durch die Erfahrung der Alterität, die der Mann von Welt zuvor, als es noch keine Weltausstellungen gab, allenfalls auf Reisen erlebte: „Ces formes de bâtiments, qui contrariaient d’abord son œil académique (tout peuple est académique en jugeant les autres, tout peuple est barbare quand il est jugé), ces végétaux inquiétants pour sa mémoire chargée des souvenirs natals, ces femmes et les hommes dont les muscles ne vibrent pas suivant l’allure classique de son pays, dont la démarche n’est pas cadencée selon le rythme accoutumé, dont le regard n’est pas projeté avec le même magnétisme, ces odeurs qui ne sont plus celles du boudoir maternel, ces fleurs mystérieuses dont la couleur profonde entre dans l’œil despotiquement, pendant que leur forme taquine le regard […]; toute cette vitalité inconnue sera ajoutée à sa vitalité propre; quelques milliers d’idées et de sensations enrichiront son dictionnaire de mortel […], la vitalité se déplace, elle va visiter d’autres territoires et d’autres races.“37 „Diese Formen der Gebäude, die seinem akademischen Auge zuerst ein Ärgernis waren (jedes Volk ist akademisch, wenn es die andern beurteilt; jedes ist barbarisch, wenn die andern ihrerseits es beurteilen), diese unheimliche Pflanzenwelt, im Vergleich zu den ihm geläufigen Gewächsen seiner Heimat, diese Frauen und diese Männer, deren Muskeln sich nicht nach der klassischen Art
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seines Landes regen, deren Gangart nicht dem ihm gewohnten Rhythmus folgt, deren Blick nicht die gleiche Anziehungskraft auf ihn ausübt, diese geheimnisvollen Blüten, deren tiefe Farbe sich den Augen aufdrängt, während ihre Gestalt den Blick verwirrt […]; all diese unbekannte Lebenskraft wird seiner eigenen Lebendigkeit hinzugefügt; einige tausend Vorstellungen und Empfindungen werden sein Diktionär eines Sterblichen bereichern […], die Lebensenergie wandert, begünstigt andere Himmelsstriche und andere Rassen […].“38
1859 erschien Charles Darwins Essay on the Origin of Species, dem vor wenigen Jahren zum 150-jährigen Jubiläum eine außergewöhnliche, einem wissenschaftlichen Werk selten zuerkannte öffentliche und mediale Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Dieses Buch über die unendliche und unabsehbare Diversität der schönsten und wunderbarsten Formen des Lebens konnte Baudelaire also 1855 noch nicht kennen, wenn er es überhaupt je kennenlernte. Er selbst freilich entwickelte parallel seinen Gedanken der Vielfalt des Lebendigen als Grundbedingung von Leben überhaupt, „La variété, condition sine qua non de la vie“39. Während er durch die Pavillons und Straßen der Weltausstellung von 1855 wanderte, sah er diese Vielfalt in den überraschenden Exponaten und Spektakeln für ein großes Publikum repräsentiert, und er nahm sie selbst zum Anlass einer Kulturkritik40. Europa nämlich sah er affiziert durch eine Krise, durch materiellen Fortschritt und Dekadenz, während sich die Vitalität verlagert hätte – eine Idee, die in teilweise ähnlichen Worten 1919 in Paul Valérys La Crise de l’esprit41 noch einmal erscheint. Die Entdeckung der Diversität und der Bewegung des Lebens, „le mouvement de la vie“42 verbindet Baudelaire auch mit Balzac, den er in dem Text über die Weltausstellung, eine Anekdote erzählend, bewundernd in Szene setzt. In dieser Anekdote, die wie alle Anekdoten aus dem Leben dieses Genies gern willkommen ist – „qui n’écouterait avec respect toutes les anecdotes si petites qu’elles soient, qui se rapportent à ce grand génie“43 –, betrachtet Balzac versonnen ein Winterbild dürftigen Lebens. Er sieht Eisnebel, ärmliche Hütten, schmächtige Bauern und ein kleines Haus, aus dem dünner Rauch aufsteigt:
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„‚Que c’est beau! Mais que font-ils dans cette cabane? A quoi pensent-ils, quels sont leurs chagrins? les récoltes ont-elles été bonnes? ils ont sans doute des échéances à payer?ǥ Rira qui voudra de M. de Balzac. J’ignore quel est le peintre qui a eu l’honneur de faire vibrer, conjecturer et s’inquiéter l’âme du grand romancier!“44 „‚Wie schön das ist! Aber was tun sie in dieser Hütte? woran denken sie? was haben sie für Sorgen? ob die Ernte gut war? Sicher sind da Wechsel fällig geworden!ދ Lache wer will über Herrn von Balzac. Ich weiß nicht, welcher Maler die Ehre gehabt hat, das Gemüt des großen Romanciers zu bewegen.“45
Es muss ein Bild gewesen sein, aus dem Balzac einen „Typus“ hätte kondensieren können. Und obwohl es so gar kein Bild im Sinne der modernité gewesen zu sein scheint, hatte es scheinbar eine Energie geladen, die seine Einbildungskraft in Bewegung, seine Nerven in Unruhe versetzte, einen physiologischen Impuls („faire vibrer, conjecturer et s’inquiéter l’âme“) aussandte für eine dynamisierte, sich verzweigende Formbildung als Indiz der schönen und farbigen Vielfalt und Komplexität des Lebens und seiner unendlich spiralförmigen Bewegung: „le beau multiforme et versicolore, qui se meut dans les spirales infinies de la vie.“46 Es ist der Blick eines bewundernswürdigen Naiven, „avec son adorable naïveté“47, vergleichbar der unverstellten Einbildungskraft eines Bauern, von dem Baudelaire im Salon de 1859 erzählt48, und es ist diese grundsätzliche Dynamik des Sehens und der Imagination, die in Baudelaires Augen Balzacs große Narration trägt und leitet, mit dem Anspruch, die Dramatik und Offenheit eines enormen, mobilen Gesellschaftssystems darzustellen. Auch hier sind Neugier und Methode die Voraussetzung des künstlerischen Schaffens. Methode heißt hier die Zuhilfenahme und Anverwandlung von Verfahren der Klassifikation, die es den Naturwissenschaften erlaubten, die Komplexität, Fülle und Beweglichkeit des Lebendigen zu beobachten, zu ordnen und zu begreifen.
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Der Fluktuation, dem Beiläufigen und Flüchtigen der gegenwärtigen Welt eine adäquate, dynamische Gestalt zu geben, das hatte auch Baudelaire selbst sich zum Ziel gesetzt. Die Realisierung einer solchen, noch unbekannten Form war das poetologische Suchprogramm, das ihn durch die unterschiedlichen Laboratorien seiner dichterischen Praxis führte: die Kunstkritik, die Selbstexperimentation durch Rauschmittel, die Erfahrung der intensiven großstädtischen Gegenwart, „la qualité essentielle de présent.“49 Paris avancierte in diesen Jahren zur Hauptstadt einer neuen visuellen Ordnung, einer „spectacular reality“, wie sie Vanessa R. Schwartz in ihrem Buch Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-de-Siècle Paris50 beschrieben hat. Die metaphorisch „Arterien“ genannten topographischen Achsen dieser optischen Kultur sind von nun an, durch die stadtarchitektonischen Maßnahmen Haussmanns, die rasant gebauten, großen Boulevards. Sie bringen eine neue Öffentlichkeit hervor, die über die breiten Straßen flutet und flaniert, auf den zum Boulevard gerichteten Caféstühlen sitzt und bald in die großen Kaufhäuser strömt, deren Warenästhetik seit der Finanzkrise des Jahres 2009 vielleicht an einem Scheideweg steht. Diese Leute sind Teil der großstädtischen „foule“, jener Menge der zum Publikum eines Spektakels versammelten Privatleute, die Schaulust und Lust am Gesehen-Werden, curiositas und Selbstdarstellung zum Kern eines neuen Lebensstils machen. Sie sind nicht nur die Adressaten der großen Zeitungen, Theater, musichalls, sondern auch das Material des „modernen Malers“, das er zum einen aus der ästhetischen Distanz beobachtet. Sie sind aber zum anderen die Masse, in die er immer wieder eindringt, um aus der Doppelbewegung von Assimilation und Distanzierung eine neue Art des Sehens zu gewinnen, die nicht mehr zentralperspektivisch angeordnet ist. Vielmehr nimmt sie den Künstler immer wieder hinein in die Bewegung des Gegenstands und lässt ebenso, wie später, 1912, ein berühmtes Bild Umberto Boccionis zeigt, die Straße in das Haus, ja in das Gehirn des Betrachters eintreten.
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Abb. 3: Boccioni, Visioni simultanee, 1911/1912
Der Künstler ist fortan „embedded“, ein großer Liebhaber des Incognito, „grand amoureux de la foule et de l’incognito“52. Wenn er sein Bad in der Menge nimmt, ist er affiziert von der Gegenwärtigkeit, Energie und anmutig wogenden Bewegung seines Gegenstandes. „La foule est son domaine, comme l’air est celui de l’oiseau, comme l’eau celui du poisson. Sa passion et sa profession, c’est d’épouser la foule. Pour le parfait flâneur, pour l’observateur passionné, c’est une immense jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l’ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l’infini. Etre hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi, voir le monde, être au centre du monde et rester caché au monde, tels sont quelquesuns des moindres plaisirs de ces esprits indépendants, passionnés, impartiaux, que la langue ne peut que maladroitement définir. On peut aussi le comparer, lui, à un miroir aussi immense que cette foule; à un kaléidoscope doué de conscience, qui, à chacun de ses mouvements, représente la vie multiple et la grâce mouvante de tous les éléments de la vie. C’est un moi insatiable du non-moi, qui, à chaque instant, le rend et l’exprime en images plus vivantes que la vie elle-même, toujours instable et fugitive.“53
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„Die Menge ist sein Bereich, wie die Luft der des Vogels, das Wasser der des Fisches ist. Seine Leidenschaft und sein Beruf ist es, sich mit der Menge zu vermählen. Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl, in dem Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen. Draußen zu sein, und sich doch überall zu Hause fühlen; die Welt zu sehen, mitten in der Welt zu sein, und doch vor der Welt verborgen zu bleiben, solcherart sind einige der geringsten Vergnügungen dieser unabhängigen, leidenschaftlichen, unparteiischen Geister, die näher zu bezeichnen der rechte Ausdruck fehlt. Auch mit einem Spiegel läßt er sich vergleichen, ebenso unabsehbar wie diese Menge selbst; oder mit einem Kaleidoskop, das mit Bewußtsein ausgestattet wäre und das uns jedes Mal, wenn man es schüttelt, das Leben in seiner Vielfalt und die bewegliche Anmut aller Lebenselemente erblicken läßt. Er ist ein Ich, das unersättlich nach dem Nicht-Ich verlangt, und dieses in jedem Augenblick wiedergibt, es in Bildern darstellt, die lebendiger sind als das immer unbeständige und flüchtige Leben selbst.“54
Baudelaire skizziert hier die Theorie der modernen Wahrnehmungsdisposition, deren Organ das „œil interminable“ ist. Jacques Aumont hat dieses unablässig bewegte Auge vorgeschlagen zur Charakteristik filmischen Sehens.55 Aber dieses unersättliche, bewegte Auge ist auch schon das weit geöffnete und zugleich nach innen gekehrte Organ des Flaneurs, ein eye wide shut, mit dem er, hellwach und zugleich träumend, die Außenwelt absorbiert. Dieses Auge ist noch dort wachsam, wo der Flaneur im Ozean der Menge verschwindet. Hier, wie dann 1896 in Gustave le Bons Psychologie des foules und bereits zuvor in Balzacs La Fille aux yeux d’or, findet sich die Metapher der Menschenmenge als stürmisches Meer, die wie kaum eine andere die Wucht und unendliche Bewegung ins Bild setzt. Der „Maler des modernen Lebens“ als Flaneur ist solcherart ganz jener abgeschotteten Blasiertheit entgegengesetzt, die der Dandy als Schutzschild gegen die überraschenden und übermächtigen Eindrücke des modernen Lebens einsetzt. Der Flaneur setzt sich stattdessen dem Faszinosum der Großstadt aus, die ihm erscheint wie eine Naturgewalt, und viel energischer
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noch als der Romancier, den Stendhal betrübt einen Spiegel durch den Schmutz des gegenwärtigen Lebens tragen lässt, wird Baudelaires Dichter selbst zu einem immensen Spiegel, der begierig die Vielfalt und die bewegte Grazie aller Elemente des Lebens einfängt. Es ist nicht zufällig, dass Baudelaire hier metaphorisch Instrumente einsetzt, die die „spectacular reality“, die Bewegtheit der Formen und die visuelle Disponiertheit des Mannes der Menge anzeigen: Spiegel und Kaleidoskop gehören hierher und sind, abgesehen von ihrer Relevanz für die Technik- und Mediengeschichte56, immer wieder mediale Metaphern für die Bewegung, Turbulenz und Reflexivität der Moderne. Die Faszinationskraft der „foule“ hatte Baudelaire nicht nur bei Poe, sondern interessanterweise auch in der Malerei entdeckt. Noch bevor er die Menschenmenge zum Inzitament seiner Dichtungen machte und Constantin Guys als Figur des modernen Malers und des Mannes der Menge formte, findet sich dieser Initialgedanke bereits in seinem Exposé zur Weltausstellung 1855, das zeitgleich mit den Fleurs du Mal entstanden ist. In diesem Text formuliert er seine berühmte Gegenüberstellung von Ingres, dem klassizistischen hochdekorierten Maler, und Delacroix, dem noch unverstandenen „Erfinder“ der modernen Kunst. Für das breite Publikum, das sich vor den Türen der Ausstellung drängelt, drapiert Baudelaire sprachlich die Bewegtheit der Formen und fasst die Quintessenz der Historienbilder Delacroix’ in den Worten „tumulte“ und „foule“ zusammen: „Voici Dante et Virgile, ce tableau d’un jeune homme, qui fut une révolution […] Parmi les grands tableaux, il est permis d’hésiter entre La Justice de Trajan et la Prise de Constantinople par les Croisés. La Justice de Trajan est un tableau si prodigieusement lumineux, si aéré, si rempli de tumulte et de pompe! L’empereur est si beau, la foule, tortillée autour des colonnes ou circulant avec le cortège, si tumultueuse, […] si dramatique ! [...] Mais le tableau des Croisés est si profondément pénétrant, abstraction faite du sujet, par son harmonie orageuse et lugubre ! quel ciel et quel mer ! tout y est tumultueux et tranquille, comme la suite d’un grand événement. […] toujours des drapeaux miroitants,
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ondoyants, faisant se dérouler et claquer leurs plis dans l’atmosphère transparente ! Toujours la foule agissante, inquiète, le tumulte des armes, la pompe des vêtements, la vérité emphatique du geste dans les grandes circonstances de la vie ! Ces deux tableaux sont d’une beauté essentiellement shakespearienne. L’Évêque de Liège, cette admirable traduction de Walter Scott, pleine de foule, d’agitation et de lumière […].“57 „Da haben wir Dante und Virgil, dieses Bild eines jungen Mannes, das seinerzeit eine Revolution bedeutete […] Unter den großen Bildern kann einem die Wahl schwerfallen: soll man sich für Trajans Gerechtigkeit oder für den Einzug der Kreuzfahrer in Konstantinopel entscheiden? Trajans Gerechtigkeit ist ein Gemälde von so wunderbarer Leuchtkraft, so luftig, so voller Bewegung und Gepräge! Der Kaiser ist so schön, die Menge, die sich um die Säulen rankt oder mit dem Gefolge einherzieht, ist so heftig bewegt […] so dramatisch! […] Aber das Gemälde der Kreuzfahrer, ganz abgesehen von seinem Gegenstand, ergreift einen derart bis ins Innerste, durch seine stürmische und düstere Harmonie! Was für ein Himmel und was für ein Meer! Alles dort ist aufgewühlt, wie nach einem gewaltigen Ereignis. […] Und überall diese schillernden, wallenden Fahnen, deren leuchtende Falten sich knatternd in der hellen Luft entrollen! Überall die unruhig tätige Menge, der Tumult der Waffen, die Pracht der Gewänder, die emphatische Wahrheit der Gebärde in den großen Lebensaugenblicken! Diese beiden Gemälde sind von wahrhaft shakespearischer Schönheit. […] Der Bischof von Lüttich, diese wunderbare Übersetzung Walter Scotts, voller Gewühl, Bewegung und Licht […].“58
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Abb. 4: Delacroix, La Justice 59
de Trajan, 1840
Abb. 5: Delacroix, La Prise de 60
Constantinople par les Croisés, 1840
Kein Zweifel, Baudelaire konstruiert hier, in Anlehnung an Stendhals 1823 in Racine et Shakespeare getroffene Unterscheidung von Klassik und Romantik, Delacroix als den großen ingeniösen Romantiker und als den Künstler, der Walter Scott aktualisiert und in ein anderes Medium übersetzt, Walter Scott als das romantische Vorbild, das auch Balzac für die formale Anlage seiner großen theatralischen, tumultuösen Narration vor Augen hatte. Und schon Balzac lieferte seinerseits eine verdeckte Ekphrasis des frühen Delacroix-Bildes von 1822, Dante et Virgile, und zwar im Eingangskapitel seines Romans La Fille aux yeux d’or von 1843-45, der wie die gesamte Trilogie Histoire des Treize dem stürmischen Maler gewidmet ist. Das Kapitel, „Physionomie parisienne“, entwirft ein Tableau der „nature sociale“, deren flammende Energie in der fast höllischen Färbung der Pariser Gesichter, einer „teinte presque infernale des figures parisiennes“61 physiognomisch erkennbar wird. Das Kapitel ruft nicht nur den großen Intertext der Comédie humaine, Dantes Divina Commedia, auf62 und verwandelt ihn Paris an. Der Erzähler lässt seinen Protagonisten, wie so viele andere junge Leute in der Literatur des 19. Jahrhunderts, aus der Provinz nach Paris kommen; hier lässt er ihn „von Bord gehen“ – „jeune homme frais débarqué de province“63 – und dann navigiert er ihn durch den infer-
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nalischen Machtkampf des Pariser Lebens, das ihm entgegenschlägt wie eine entfesselte Naturgewalt. Der Sturm, der die danteske Vorhölle durchtost und die Unentschlossenen und Lasterhaften („vili“) hin- und hertreibt, wird auch evoziert auf Delacroix’ Bild der Barke, in der Dante und Vergil den Styx überqueren: „Un des spectacles où se rencontre le plus d’épouvantement est certes l’aspect général de la population parisienne, peuple horrible à voir, […] Paris n’est-il pas un vaste champ incessamment remué par une tempête d’intérêts sous laquelle tourbillonne une moisson d’hommes que la mort fauche plus souvent qu’ailleurs et qui renaissent toujours aussi serrés, dont les visages contournés, tordus, rendent par tous les pores l’esprit, les désirs, les poisons dont sont engrossés leurs cerveaux ; non pas des visages, mais bien des masques : masques de faiblesse, masques de force, masques de misère, masques de joie, masques d’hypocrisie ; tous exténués, tous empreints des signes ineffaçables d’une haletante avidité ? Que veulent-ils ? De l’or, ou du plaisir?“64 „Von den Schauspielen, welche aller Schrecken Schrecken bergen, ist eines sicherlich das allgemeine Aussehen der Pariser Bevölkerung, eines Volkes […] grauenvoll anzuschauen. Ist Paris denn nicht ein unermeßliches weites Feld, das unaufhörlich aufgewühlt wird von einem Sturme von Begehrlichkeiten, unter dem ein reifes Ährenmeer aus Menschen, die der Tod hier öfter als anderswo abmäht, kreisend wirbelt, und welche immer, ewig gleich aneinander gedrängt, neu erstehen und deren verzogene, verzerrte Gesichter aus allen Poren den Geist, die Begierden und die Gifte ausdünsten, von denen ihre Gehirne geschwängert sind? … Oh, nicht Gesichter, aber Masken! Masken der Schwäche, Masken der Kraft, Masken des Elends, Masken der Freude, Masken der Heuchelei – und alle erschöpft und alle Abdruck der unauslöschlichen Zeichen einer keuchenden Gier!? Was wollen sie? ‚Gold … ދoder ‚Vergnügen‘?“65
Die Comédie humaine wird von hier aus und mit der Übertragung des Naturdramas auf das Drama der Kultur als ein intermedialer Resonanzraum angelegt. Bereichert um die Kategorie des Zufalls, des „hasard“, ist die Gesellschaft grundsätzlich offen und gemischt, fluktuierend und
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mobil. Die Zivilisation ist eine Oberfläche, unter der das intrinsische Begehren des Einzelnen, der Netzwerke und der Stämme („chaque tribu“66) in gleicher Weise operiert, wie es ein anderer Intertext, James Fenimore Coopers Lederstrumpf, für die nordamerikanische Wildnis, die Schneisen und Züge der großen Tiere und die Kämpfe von Indianern und Siedlern durchgeführt hatte. Aber natürlich war nicht nur die Weltausstellung eine Inspirationsquelle für Baudelaire, und nicht allein die Stadt Paris, sondern auch, wie oft betont, die Lektüre der Texte Edgar Allan Poes. 1840 erschien im Londoner Gentleman’s Magazine die berühmte Erzählung The Man of the Crowd. Das vorangestellte Motto, „Ce grand malheur, de ne pouvoir être seul“, ist La Bruyère entlehnt und stellt die Geschichte aus dem Großstadtleben in die Tradition einer für die Moderne aktualisierten Moralistik: Wer könnte im modernen Leben je allein sein? Und ist es ein Unglück, es nicht sein zu können? Die durchgängige Verrätselungsstruktur, ja ironische „Unlesbarkeit“ des Textes, abgeleitet aus dem Hortulus Animae67, einem Gebetbuch des 15. Jahrhunderts, setzte diesen zugleich zwangsläufig dem „Deutungswahn“, der „Wut des Verstehens“68 aus. Was die kleine Geschichte für den Poe-Bewunderer und Übersetzer Baudelaire faszinierend machte, sind die idiosynkratische Verfasstheit der Erzählerfigur und die Exzentrik des Mannes der Menge ebenso wie die erregende Schönheit der Prosa des kraftvollsten Schriftstellers der Zeit, „la plume la plus puissante de cette époque“69. Was die Geschichte für unsere „Bewegung als Mythologie der Moderne“ auszeichnet, ist die Konstituierung einer interessanten visuellen Ordnung: das Zusammenspiel der Aufmerksamkeit des metropolitanischen Beobachters und der Bewegtheit seines visuellen Gegenstandes, der „crowd“. Die Figur, die dieser Konstellation zugrunde liegt, ist die der Rekonvaleszenz: Der Beobachter-Erzähler ist von einer längeren, nicht benannten Krankheit genesen und verbringt einen Nachmittag im Herbst in einem Londoner Kaffeehaus, das an einer großen Durchgangsstraße, einem Boulevard, gelegen ist. Begierig auf die Welt – mit einem „calm but inquisitive interest in everything“70 – und stau-
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nend angesichts ihrer Vielfalt betrachtet er, „the intellect, electrified“71, durch die verrauchten Fensterscheiben die in der rush-hour der einbrechenden Dämmerung vorbeihastende Menschenmenge. In dieser Disposition ist er der Wahlverwandte des Kindes, des Primitiven, des Barbaren, deren Neugier auf die Welt Baudelaire in Le peintre de la vie moderne als Modell einer Inspiration setzt, die gegen den akademischen Bildungsdünkel und den mondänen Auftritt des „homme du monde“ gesetzt ist.72 Und zugleich entspricht der Rekonvaleszente der Beschreibung, die Baudelaire von Delacroix gibt: „Tout en lui est énergie, mais énergie dérivant des nerfs et de la volonté, car physiquement, il était frêle et délicat“73 – „Alles an ihm war Energie, eine Energie jedoch, die den Nerven und dem Willen entsprang; denn dem Körperbau nach war er schmächtig und zart.“74 Poes Genesender operiert folgendermaßen: Nachdem er sich zunächst einen Eindruck von der allgemeinen großstädtischen Unübersichtlichkeit verschafft hat, beginnt er, stratifikatorisch und klassifikatorisch die unterschiedlichen Stämme, Klassen, „Rassen“ und Arten, „tribe[s]“, „classes“, „race[s]“ und „species“75 der Menschenmenge zu ordnen – nach Alter, Aussehen, Gestik, Geschwindigkeit, Beruf usw., „undoubtedly noblemen, merchants, attorneys, tradesmen, stockjobbers […] men of leisure and men actively engaged in affairs of their own […], the tribe of clerks.“76 Es ist ein Verfahren, das vergleichbar der in diesen Jahren auch von Balzac vorgenommenen Einteilung in soziale Arten, „espèces sociales“ ist, und wie für die Comédie humaine insgesamt steht es auch in The Man of the Crowd zu diesem Zeitpunkt für eine überlegene und distanzierte Beobachterposition, die den Naturwissenschaften abgeschaut ist: „[…] peering through the smoky panes into the street. This latter is one of the principal thoroughfares of the city, and has been very much crowded during the whole day. But as the darkness came on, the throng momently increased, and, by the time the lamps were well lighted, two dense and continuous tides of population were rushing past the door. At this particular
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period of the evening I had never before been in a similar situation, and the tumultuous sea of human heads filled me, therefore, with a delicious novelty of emotion. I gave up, at length, all care of things within the hotel, and became absorbed in contemplation of the scene without. At first my observation took an abstract and generalizing turn. I looked at the passengers in masses, and thought of them in their aggregate relations. Soon, however, I descended into details, and regarded with minute interest the innumerable varieties of figure, dress, air, gait, visage, and expression of countenance.“77
Die flutende und wogende „crowd“, auf die der Beobachter ganz konzentriert ist, „scrutinizing the mob“78, gerät ihm freilich im Verlaufe der zunächst differenzierten Kontemplation sukzessive zu einer diffusen, ja derealisierten, phantastischen Bewegungsfigur. In deren Strom wird er, unter allmählichem Verlust der kalkulierenden und ästhetischen Distanz, hineingezogen, und von deren Kraft wird der um Differenzierung Bemühte immer mehr „absorbiert“. Es ist eine Wahrnehmungsdynamik, die sich, in der Anverwandlung des Zeitrahmens einer antiken Tragödie, über vierundzwanzig Stunden erstreckt: von der Abenddämmerung über die Morgendämmerung bis zum Anbruch des zweiten Abends („nearly daybreak“, „the shades of the second evening came on“79). Interessant an dieser Entwicklung ist zum einen der Umschlag des rationalen Klassifikationsverfahrens in traumanaloge Bilder; einen ähnlichen Wendepunkt findet man wieder in Flauberts Phantom der Menge, das in der Éducation sentimentale die Revolutionsflüchtlinge Frédéric und Rosanette im Wald von Fontainebleau heimsucht. Interessant ist zum anderen die durchgängige Meeresmetaphorik, die hier die wuchtige Bewegtheit der „crowd“, welcher der Beobachter ausgesetzt und verfallen ist, ins Bild setzt und die als solche in ganz ähnlicher Manier Gustave Le Bons Psychologie des foules (1896) durchzieht. Mit dem Einbruch der Nacht, unter dem Einfluss der „wild effects of the light […] the rays of the gas-lamps, feeble at first in their struggle with the dying day, threw over every thing a fitful and garish lustre“80
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und mit dem Einfall dichten Nebels und starken Regens entsteht ein unheimliches Zwielicht, das Imaginationen von Verbrechen, Sünde und Strafe zuträglich ist und den zuvor klarsichtigen Beobachter in intrinsischer Weise zum alter ego des „man of the crowd“ werden lässt, jenes alten Mannes, in dessen Physiognomie er die Spuren einer langen Geschichte und schwerer Verbrechen zu lesen glaubt. Um das Geheimnis dieses Mannes zu ergründen, verlässt er seinen Beobachterposten, irrt ihm wie besessen durch die Menschenmenge, die Straßen, das Zentrum und die Peripherie der Stadt nach, „to and fro […] while I followed him in the wildest amazement, resolute not to abandon a scrutiny in which I now felt an interest all-absorbing.“81 Und da er ihm unbeirrt über viele Stunden wie ein Schatten folgt, gerät er selbst an die Grenzen seines kulturellen Wissens, während in den Randbezirken der Metropole die zivilisatorische Oberfläche vor seinen Augen aufreißt und Natur hervortreten lässt: „The paving-stones lay at random, displaced from their beds by the rankly-growing grass.“82 Für Baudelaire ist die „Erfindung“ der metropolitanischen Menschenmenge, die ihre ganze Energie in Poes Erzählung naturhaft entlädt, als Sog und Ozean, als ansteckender Keim („germ“)83, als lockende und abstoßende Wildnis unter dem Pflaster, eine Offenbarung, und der rekonvaleszente Beobachter wird für ihn zum Inbegriff des Malers des modernen Lebens, dessen hervorstechendstes Merkmal die curiosité ist. Als solchen nennt er ihn: „flâneur“. „Vous souvenez-vous d’un tableau (en vérité, c’est un tableau!) écrit par la plus puissante plume de cette époque, et qui a pour titre L’Homme des foules ? Derrière la vitre d’un café, un convalescent, contemplant la foule avec jouissance, se mêle, par la pensée, à toutes les pensées qui s’agitent autour de lui. Revenu récemment des ombres de la mort, il aspire avec délices tous les germes et tous les effluves de la vie ; comme il a été sur le point de tout oublier, il se souvient et veut avec ardeur se souvenir de tout. Finalement, il se précipite à travers cette foule à la recherche d’un inconnu dont al physionomie entrevue l’a, en un clin d’œil, fasciné. La curiosité est devenue une passion fatale, irrésistible.
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Supposez un artiste qui serait toujours, spirituellement, à l’état du convalescent […] La foule est son domaine, comme l’air est celui de l’oiseau, comme l’eau celui du poisson. Sa passion et sa profession, c’est d’épouser la foule. Pour le parfait flâneur, pour l’observateur passionné, c’est une immense jouissance que d’élire domicile dans le nombre, dans l’ondoyant, dans le mouvement, dans le fugitif et l’infini. […] L’observateur est un prince qui jouit partout de son incognito. […] Ainsi l’amoureux de la vie universelle entre dans la foule comme dans un immense réservoir d’électricité. On peut aussi le comparer, lui, à un miroir aussi immense que cette foule ; à un kaléidoscope doué de conscience, qui, a chacun de ses mouvements, représente la vie multiple et la grâce mouvante de tous les éléments de la vie.“84 „Erinnern Sie sich eines Gemäldes (ja, wahrhaftig, eines Gemäldes!), das wir einer der fähigsten Federn unserer Zeit verdanken und das den Titel führt: Der Mann der Menge? Hinter dem Fenster eines Caféhauses sitzt ein Genesender und betrachtet genußvoll die Menge; in Gedanken mischt er sich in alle Gedanken und Vorstellungen, die um ihn her wogen. Vor kurzem erst dem Schattenreich des Todes entronnen, atmet er mit Wonne alle Keime und alle Ausströmungen des Lebens ein; da er im Begriff stand, alles zu vergessen, erinnert er sich und brennt vor Verlangen, sich aller Dinge zu erinnern. Zuletzt stürzt er sich in die Menge, einem Unbekannten nach, dessen flüchtig wahrgenommenes Gesicht ihn unversehens in Bann geschlagen hat. Die Neugier ist zu einer schicksalhaften, unwiderstehlichen Leidenschaft geworden! Man denke sich einen Künstler, der sich innerlich unablässig im Zustand eines Genesenden befindet […] Die Menge ist sein Bereich, wie die Luft der des Vogels, das Wasser der des Fisches. Seine Leidenschaft und sein Beruf ist es, sich mit der Menge zu vermählen. Für den vollendeten Flaneur, den leidenschaftlichen Beobachter ist es ein ungeheurer Genuß, Aufenthalt zu nehmen in der Vielzahl, in den Wogenden, in der Bewegung, in dem Flüchtigen und Unendlichen. […] Der Beobachter ist ein Fürst, der überall sein Inkognito genießt. […] So vereinigt der Liebhaber des All-Lebens sich mit der Menge, als träte er mit einem ungeheuren Vorrat an Elektrizität in Verbindung. Auch mit einem Spiegel läßt er sich vergleichen, ebenso unabsehbar wie diese Menge selbst; oder mit einem Kaleidoskop, das mit Bewußtsein ausgestattet wäre und das uns
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jedes Mal, wenn man es schüttelt, das Leben in seiner Vielfalt und die bewegliche Anmut aller Lebenselemente erblicken läßt.“85
Was Poe episch und bildlich in der Figur einer detektivischen, inquisitorischen und unabschließbaren Suche und Wanderung erzählte, verwandelt Baudelaire in die bizarren und ambivalenten, schillernden und kaleidoskopischen Figuren seiner präzisen Lyrik und seiner Prosagedichte, jener literarischen Gattung, die er mitbegründete, weil ihre Geschmeidigkeit für ihn eine der kraftvollen Fluktuation der Menge analoge Form bot. So wird die Unheimlichkeit der Großstadt in der zwielichtigen Atmosphäre der Dämmerung, „l’heure bizarre et douteuse“86, die sich bei Poe in den Lichteffekten, der Rätselhaftigkeit der Passanten und der Anziehungs-, ja Ansteckungskraft der Menge niederschlägt, in Baudelaires Repertoire des Marginalen lyrisch nobilitiert – dem Betrunkenen, dem Lumpensammler, dem Seiltänzer, der Hure. Und ebenso erscheint die Metropole als Resonanz- und Bildraum idiosynkratischer Wahrnehmungen und schockartiger Eindrücke: einmal im akustischen Trauma des Chant d’automne, das jeden Nachklang romantischer Naturlyrik transkribiert in den hohen und überreizten Gesang der Stadt, des Herbstes und des Todes – in jener Stunde nämlich, in der den Dichter der Schlag gehackten und niederfallenden Holzes schockartig anfällt, ganz so, wie in der Éducation sentimentale der Lärm des Steinbrechens im Wald von Fontainebleau Frédéric und Rosanette mit Panik erfüllt. Ein anderes Mal, in dem legendären Sonett À une passante, wird, wie in keinem anderen Gedicht der Fleurs du Mal, die Spur der Modernität – das Transitorische, Flüchtige, Kontingente, „le transitoire, le fugitif, le contingent“87 – in die Prosodie der Verse und den screen shot, das „punctum“ des still gestellten Augen-Blicks übertragen und deshalb im melancholischen Eingedenken verewigt.88 So wird die Spur zur Pathosformel, das Flüchtige zur antiken Allegorie, zum film still jener, die vorüberging, vorübergegangen sein wird. Eine ganze Theorie der Erinnerung, der Liebe als Imagination, auch der Photographie, ja des Films oder Bewegtbildes lässt sich, das zeigt
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die Fülle der Literatur zur „passante“, an den vierzehn Versen dieses Sonetts ablesen. Und es sind dann die poèmes en prose des Spleen de Paris, die den Rhythmus, das Tempo und die Rhapsodie der Modernität am überraschendsten einfangen. Das kleine Werk ohne Anfang und Ende „[qui] n’a ni queue ni tête“89, lädt außerdem zu einer offenen poetischen Kommunikation ein, wie sie erst das 20. Jahrhundert systematisch und theoretisch ausformuliert und wie sie die Struktur des Traums nahelegt: „Nous pouvons couper où nous voulons, moi ma rêverie, vous le manuscrit, le lecteur sa lecture“90 – „Jeder kann einhalten, wo er mag, ich in meiner Träumerei, Sie beim Druck, der Leser bei seiner Lektüre.“91 Baudelaires Konzept des Prosagedichts ist das einer „[…] prose poétique, musicale sans rythme et sans rime, assez souple et assez heurtée pour s’adapter aux mouvements lyriques de l’âme, aux ondulations de la rêverie, aux soubresauts de la conscience […].“92 „[…] poetischen Prosa […], einer musikalischen Prosa ohne Rhythmus und ohne Reim, schmiegsam genug, doch auch uneben und rauh genug, um sich den lyrischen Regungen der Seele anzupassen, den Wellenbewegungen der Träumerei, den jähen Ängsten des Gewissens […].“93
Und auch hier verwendet Baudelaire das Bild der Woge und der Wellenbewegungen, „ondulations“, das seine Imagination der Menschenmenge kennzeichnet und im poetologischen Kontext die Geschmeidigkeit oder Elastizität der Formen, der Form und Formauflösung anzeigt, wie sie die vielfältigen und unablässigen Bewegungen und Begegnungen in der Großstadt charakterisiert. Woge, Welle und Meer werden auch für Baudelaire, der doch die Natur verachtete, zu Grundmetaphern für die Wahrnehmung des modernen Menschen, weil sie, wie zeitgleich Courbet in einer Serie von Meeresbildern zeigt, für die
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Formbildung von Bewegungsfiguren und Bewegungsabläufen und die Reflexion auf das Verhältnis von Starrheit und Bewegtheit eine besondere ästhetische und heute noch aktuelle Herausforderung darstellen. Und sie sind deshalb besonders geeignet, weil sie die libidinöse Spannung, die auch den gesamten schöpferischen Prozess trägt, in ein Bild des Rhythmus, der Bewegung und Energie fassen, wie es dann Rilkes Sonette an Orpheus 1922 erneut anklingen lassen, „Einzige Welle, deren allmähliches Meer ich bin“.94
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Abb. 6: Courbet, La Mer orageuse dit aussi La Vague, 1869
Dynamik und Energie, Intensität und Komplexität – das evozieren auch die „soubresauts“, die in die Struktur der Prosagedichte eingelassen sind: Schocks, Sprünge, Risse, Fragmente: „C’est surtout de la fréquentation des villes énormes, c’est du croisement de leurs innombrables rapports que naît cet idéal obsédant. Vous-même, mon cher ami96, n’avez-vous pas tenté de traduire en une chanson le cri strident du Vitrier, et d’exprimer dans une prose lyrique toutes les désolantes suggestions que ce cri envoie jusqu’aux mansardes, à travers les plus hautes brumes de la rue ?“97 „Vor allem der Aufenthalt in den riesigen Weltstädten, wo unzählige Beziehungen sich kreuzen, läßt dieses quälende Ideal entstehen. Sie selbst, lieber Freund,
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haben sich nicht versucht, den durchdringenden Ruf des Glasers in ein Chanson zu übersetzen, und in lyrischer Prosa all jene trostlosen Vorstellungen auszudrücken, die dieser Ruf durch den dichtesten Nebel der Straßen bis zu den Dachstuben hinaufträgt?“98
Und so treten Elastizität und Bruch, Geschmeidigkeit und Schock in eine erregende Beziehung, bestimmen Rhythmus und Dynamik des Spleen de Paris und die Figuren auf der Kippe von Wahn und hochgereizter Vernunft, Chaos und Form, die Paris bevölkern oder trügerisch möblieren: der Verrückte und die Venus, der Seiltänzer längst vor Nietzsche, die Phantome der doppelten Kammer und die unbeirrt vorrückende Uhr; und dann der schlechte Glaser, der „mauvais vitrier“, der hoch unter den Dächern von Paris seine fragile Ware balanciert und so markerschütternd schreit, dass das Glas vibriert und klingt, während verträumte und träge Gestalten, ruckartig aufgestört aus ihren inneren Bildern, Wälder und Pulverfässer anzünden, gewalttätig werden und sich freuen, wenn alles Glas zerbirst.99 Jahrzehnte später wird Rilkes Malte in den Straßen von Paris anderen Exzentrikern begegnen und „sehen lernen“. Baudelaires Prosagedicht aber über die Menschenmenge, „Les Foules“, verdichtet diese Dynamik und Ambiguität des Spleen de Paris und ist zugleich ein exponierter Intertext des Peintre de la vie moderne und auch des Man of the Crowd, mit dem alle Gewissheiten der Wahrnehmung und Vernunft zweifelhaft wurden. Während sich im späteren „Maler des modernen Lebens“ direkte Zitate des Prosagedichts „Les Foules“ finden, zitiert dieses demonstrativ die Erzählung Poes. Im Mittelpunkt steht der Mann der Menge, der ein „bain de multitude“ nimmt, in die Menge eintaucht und deshalb Nachfahre und Antipode des einsamen Spaziergängers ist, den Rousseau mit seinem „promeneur solitaire (et pensif)“ als mobilen Stadtflüchtling und Träumer erfunden hatte:
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„Il n’est pas donné à chacun de prendre un bain de multitude : jouir de la foule est un art, […] une ribote de vitalité. […] Multitude, solitude: termes égaux et convertibles pour le poète actif et fécond. Qui ne sait pas peupler sa solitude, ne sait pas non plus être seul dans une foule affairée. […] Le promeneur solitaire et pensif tire une singulière ivresse de cette universelle communion. Celui-là qui épouse facilement la foule connaît des jouissances fiévreuses, dont seront éternellement privés l’égoïste, fermé dans un coffre, et le paresseux, interné comme un mollusque. Il adopte comme siennes toutes les professions, toutes les joies et toutes les misères que la circonstance lui présente.“100 „Nicht jedem ist es gegeben, ein Bad in der Menge zu nehmen: die Menge zu genießen, ist eine Kunst, […] eine Lebenskraft […]. Multitudo, solitudo: gleichwertige Ausdrücke und vertauschbar für den tätigen, den fruchtbaren Dichter. Wer seine Einsamkeit nicht zu bevölkern weiß, ist auch außerstande, in einer geschäftigen Menge allein zu sein. […] Einer, der nachdenklich einsam umhergeht, schöpft eine seltsame Berauschung aus dieser Gemeinsamkeit mit allen. Wer sich leicht mit der Menge vermählt, kennt glühende Genüsse, deren der wie eine Truhe verschlossene Egoist und der molluskenhaft in sich verkapselte Träge auf ewig beraubt sind. Er übernimmt als die seinigen alle Berufe, alle Freuden und alle Elend, welche die Gelegenheit ihm bietet.“101
Das Bad in der Menge ist orgiastisch, eine heilige Kommunion und zugleich eine Prostitution der Seele, eine „ineffable orgie“, eine „sainte prostitution de l’âme“. Wer ein Bad in der Menge nimmt, erfährt eine „mystérieuse ivresse“ und eine „jouissance fiévreuse“, eine geheimnisvolle Trunkenheit und fiebrige Wollust, wie sie sonst nur Reisende, Abenteurer, Missionare in ganz fernen Ländern erleben. Der Mann der Menge gibt sich hier in der Großstadt ganz der Leidenschaft zu reisen, der „passion de voyager“ hin, einem Seefahrer gleich, der sich dem
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Unvorhersehbaren („imprévu“) und Unbekannten („inconnu“) des stürmischen Ozeans aussetzt, zugleich wollüstig und geistesgegenwärtig.102 Denn die Menge selbst ist, immer wieder, eine mit Energie aufgeladene, dem Meer vergleichbare Naturgewalt. Wenn aber solcherart der Dichter, der das „universelle Leben“ liebt und diese Neugier, diese Verausgabung und diesen Mut verkörpert, so ganz und gar dem Pedanten und Philister, dem Stubenhocker und Dummen entgegengesetzt ist: „Tout homme […] qui s’ennuie au sein de la multitude, est un sot! Un sot! Et je le méprise!“103, so ist er vor allem ein Abenteurer. So evoziert auch das Prosagedicht „Les Foules“, ein Großstadtgedicht, noch einmal die Weltausstellung 1855, jene hier schon mehrfach genannte „belle exposition“, die Baudelaires Imagination stimulierte, die sein Schönheitsideal prägte und ihn als einen „rêveur“104 zeigte, der für die Vielfalt des Lebendigen überall empfänglich war. In „Les Foules“ nämlich heißt es zuletzt: „Il est bon d’apprendre quelquefois aux heureux de ce monde, ne fût-ce pour humilier un instant leur sot orgueil, qu’il est des bonheurs supérieurs au leur, plus vastes et plus raffinés. Les fondateurs de colonies, les pasteurs de peuples, les prêtres missionnaires exilés au bout du monde, connaissent sans doute quelque chose de ces mystérieuses ivresses; et, au sein de la vaste famille que leur génie s’est faite, ils doivent rire quelquefois de ceux qui les plaignent pour leur fortune si agitée et pour leur vie si chaste.“105 „Die Glücklichen dieser Welt sollen von Zeit zu Zeit erfahren – und sei es nur, um ihren albernen Dünkel zu dämpfen – daß es höhere Wonnen, umfassendere, erlesenere, als die ihren gibt. Die Gründer von Kolonien, die Lenker von Völkern, die ans Ende der Welt verschlagenen Missionare kennen gewiß etwas von solchen geheimnisvollen Berauschungen; und im Schoß der unabsehbaren Familie, die ihr Genius sich geschaffen hat, mögen sie wohl manchmal lachen über diejenigen, die sich ihres so unruhigen Geschicks, ihres so enthaltsamen Lebens wegen beklagen.“106
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Honni soit qui mal y pense. Wer hier Exotismus entdeckt, oder auch „orientalism“107, verkennt wohl das ästhetische Begehren „ins Offene“. Denn in wesentlichen Texten Baudelaires begegnet doch immer wieder das tiefgreifende Erlebnis des Weltausstellungsbesuches: den Eindruck großer Diversität und Vitalität jenseits der nationalen Grenzen Frankreichs, des Dünkels, der Enge und Starrheit der akademischen Kunst. Es ist dieses Erlebnis, das die Poetik Baudelaires anregt, bereichert und an die Poe-Lektüre ankoppelt, die ihm die Augen geöffnet hat für die Faszination der metropolitanischen Dynamik. Und Poe selbst war es auch, der in der Erzählung Ligeia, im selben Jahr wie Baudelaires Bericht über die Weltausstellung in der Zeitschrift Le Pays abgedruckt, den überwältigenden Reiz der strangeness bekundete, der jenseits regulärer und ebenmäßiger Schönheit zu entdecken sei. So vervollkommnet und variiert der Reichtum der Exponate und Eindrücke jenes Inzitament, das gespeist ist aus der Vielfalt und Bewegtheit der metropolitanischen Menge; und zudem „elektrisiert“ dieses Erlebnis das drängende Ideal, „idéal obsédant“, das sich, aufgeladen mit Energie, aus der Spannung und Begegnung des Antiken, des Modernen und des Fremden bildet. In diesem „idéal obsédant“ begegnen sich die Figuren des Flaneurs, des Athleten, des Träumers und des Barbaren, und es mischen sich die klassische Form des Sonetts, die moderner Dynamik des Prosagedichts, der bizarre Ausdruck außereuropäischer Kunst und die Kraft des kritischen Essays. Es ist diese aufregende Kreuzung, dieses „entrecroisement“, aus dem die Texte Baudelaires ihre ungebrochene Intensität beziehen.108
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ANMERKUNGEN 1
Abbildung in: Charles Baudelaire: Les Fleurs du Mal. Les Épaves – Bribes – Poèmes divers. Amœnitates Belgicæ, Paris 1961.
2
Baudelaire: „Le Spleen de Paris“, XII: „Les Foules“, in: ders., Œuvres complètes, texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Bd. 1, Paris 1975, 291.
3
Ders.: „Le Spleen de Paris. An Arsène Houssaye“, XII: „Die Menge“, in: Friedhelm Kemp/Claude Pichois (Hg.), Charles Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe, in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 8: Le Spleen de Paris. Gedichte in Prosa, München 1985, 149.
4
Jürgen Osterhammel: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009.
5
Baudelaire: „Le Salon caricatural de 1846“, in: ders., Œuvres complètes,
6
Ders.: „Le Peintre de la vie moderne“, in: ders.: Œuvres, Bd. 2, 686.
texte établi, présenté et annoté par Claude Pichois, Bd. 2, Paris 1976, 523. 7
Ders.: „Der Maler des modernen Lebens, II: „Das Sittenbild“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 5: Aufsätze zur Literatur und Kunst 1857-1860, 216.
8 9
Ders.: „Le Peintre de la vie moderne“, 685. Ders.: „Études sur Poe. Notes nouvelles sur Edgar Poe“, in: ders., Œuvres complètes, Bd. 2, 328f.: „Pour lui, l’Imagination est la reine des facultés; mais par ce mot il entend quelque chose de plus grand que ce qui est entendu par le commun des lecteurs. L’Imagination n’est pas la fantaisie […]“; vgl. ebd., 1391, Anm. 1.
10 Ders.: „Salon de 1859“, ebd., 622f. 11 Ders.: „Der Salon 1859“. Kap. 3: „Die Königin der Fähigkeiten“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 5, 141. 12 Baudelaire: „Salon de 1859“, 623. 13 Juan Rigoli: Lire le délire. Aliénisme, rhétorique et littérature en France au XIXe siècle, Préface de Jean Starobinski, Paris 2001; Karin Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit. Balzac, Baudelaire, Flaubert, Stuttgart 1993; Michael Hagner: Homo cerebralis. Der Wandel vom Seelenorgan zum Gehirn, Frankfurt a. M. 2000.
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14 Hippolyte Taine: De l’Intelligence (1870), 2 Bde., mit einer Einleitung von Serge Nicolas, Paris 2005; William James: Principles of Psychology, (1890), Internetquelle entwickelt von Christopher D. Green, Toronto (Classics
in
the
History
of
Psychology),
URL:
http://psychclas
sics.yorku.ca/James/Principles/ vom 12.01.2012. 15 Baudelaire: „Études sur Poe“, a.a.O., 318. 16 Ders.: „Edgar Poe, sein Leben und seine Werke. Kap. IV“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 2: Vom Sozialismus zum Supranaturalismus. Edgar Allan Poe 1847-1857, 339. 17 Dietmar Kamper: Zur Soziologie der Imagination, München/Wien 1986; ders.: Zur Geschichte der Einbildungskraft, München/Wien 1981; Paolo Tortonese: L’Œil de Platon, Paris 2006; Christina Johanna Bischoff: In der Zeichenwelt. Zu Baudelaires Poetik der „imaginatio“, Frankfurt a. M. 2009. 18 Baudelaire: „Salon de 1859“, a.a.O., 624. 19 Ebd. 20 Vgl. dazu ausführlich: Charles Baudelaire, Salon de 1859, texte de la Revue française, établi avec un relevé de variantes, un commentaire et une étude sur audelaire critique de l’art contemporaine par Wolfgang Drost avec la collaboration de Ulrike Riechers, Paris 2006, 92ff. 21 s.a. Hermann Doetsch: „Momentaufnahmen des Flüchtigen. Skizzen zu einer Lektüre von ‚Le Peintre de la vie moderne“ދ, in: Karin Westerwelle (Hg.), Charles Baudelaire. Dichter und Kunstkritiker, Würzburg 2007, 139-162; dies.: Flüchtigkeit. Archäologie einer modernen Ästhetik bei Baudelaire und Proust, Tübingen 2004. 22 Baudelaire: „Journaux intimes. Hygiène“, III, II, in: Œuvres complètes, Bd. 1, 669, 668. 23 Baudelaire: „[Hygiene]. Kap. [II]: Hygiene.“ und „[Hygiene]. Kap. [I]: „Raketen. Hygiene. Pläne“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 6: Die künstlichen Paradiese, München 1991, 214/215. 24 Vgl. Dieter Thomä: „Ästhetische Freiheit zwischen Kreativität und Ekstase. Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen Ästhetik und Ökono-
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mik“, in: Christoph Menke/Juliane Rebentisch, Kreation und Depression. Freiheit im gegenwärtigen Kapitalismus, Berlin 2010, 149-171. 25 Hierzu Cornelia Wild: Später Baudelaire. Praxis poetischer Zustände, München 2008; dazu vor allem Michel Foucault: Le Souci de soi, Paris 1984; Peter Sloterdijk: Du musst dein Leben ändern. Über Anthropotechnik, Frankfurt a. M. 2009. 26 Vgl. in diesem Zusammenhang grundlegend Michael Hagner: Geniale Gehirne. Zur Geschichte der Elitegehirnforschung, Göttingen 2004; Marie Guthmüller: Der Kampf um den Autor. Abgrenzungen, Annäherungen und Interaktionen zwischen französischer Literaturkritik und Psychophysiologie 1858-1910, Tübingen 2007. 27 Hierzu grundlegend Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. Bzgl. Marie Jaël findet sich vielfach die Schreibweise Jaëll. 28 Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“, 684. 29 Abbildung siehe URL: http://www.brooklynmuseum.org/opencollection /objects/27545/Promenade vom 12.02.2012. 30 Baudelaire: „Exposition universelle (1855)“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, 575-597, hier 582. Siehe zum Begriff der „race“, Kapitel III, Anmerkung 15. 31 Ders.: „Die Weltausstellung 1855. Die schönen Künste“. Kap. I: „Über die Methode der Kritik“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 2, 235. 32 Baudelaire: „Exposition universelle (1855)“, a.a.O., 580. 33 Ebd. 34 Ebd., 579. 35 Ebd., 576. 36 Ebd., 578. 37 Ebd., 576f., 582. 38 Baudelaire: „Die Weltausstellung 1855“, a.a.O., 229/235. 39 Ders.: „L’Exposition universelle (1855)“, 578. 40 Ders.: „L’Exposition universelle (1855)“, bes. 582; vgl. in diesem Zusammenhang auch ausführlich Walburga Hülk: „Le Beau est toujours bizarre. Baudelaire besucht die Pariser Weltausstellung 1855“, in: Anne Geisler-
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Smulewicz/Walburga Hülk et al. (Hg.), Die Kunst des Dialogs – L’Art du dialogue. Sprache, Literatur, Kunst im 19. Jahrhundert – Langue, littérature, art au XIXe siècle, Heidelberg 2010, 91-108. 41 Valéry: „La Crise de l’esprit“, a.a.O., 988. Gleich der erste Satz lautet: „Nous autres, civilisations, nous savon maintenant que nous sommes mortelles.“ 42 Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“, a.a.O., 684. 43 Ders.: „L’Exposition universelle (1855)“, 579. 44 Ebd. 45 Baudelaire: „Die Weltausstellung 1855“, 232. 46 Ders.: „L’Exposition universelle (1855)“, 578. 47 Ebd, 579. 48 Baudelaire: „Salon de 1859“, 613. 49 Ders.: „Le Peintre de la vie moderne“, 684. 50 Vanessa R. Schwartz: Spectacular Realities. Early Mass Culture in Fin-deSiècle Paris, Berkeley/Los Angeles 1999. 51 Abbildung in: Uwe M. Schneede: Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, 95. 52 Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“, 688. 53 Ebd., 692. 54 Baudelaire: „Der Maler des modernen Lebens“, Kap. III: „Der Künstler. Mann von Welt, Mann der Menge und Kind“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 5, 222-223. 55 Jacques Aumont: L’Œil interminable, Paris 1989. 56 Grundlegend Doetsch: „Momentaufnahmen des Flüchtigen“, a.a.O. Crary: Techniques of the Observer. On Vision and Modernity in the NineteenthCentury, Cambridge MA/London 1992, 67-136. 57 Baudelaire: „L’Exposition universelle (1855)“, 592. 58 Baudelaire: „Die Weltausstellung 1855. Die schönen Künste“, 247/248. 59 Abbildung in: Alain Daguerre de Hureaux: Delacroix, Paris 1993, 86. 60 Ebd., 111. 61 Honoré de Balzac: „La Fille aux yeux d’or“, in: ders., La Comédie humaine, texte établi par Marcel Bouteron, Bd. 5 („Études de mœurs. Scènes de la vie parisienne“, I), Paris 1952, 255.
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62 Vgl. Karlheinz Stierle: Der Mythos von Paris. Zeichen und Bewusstsein der Stadt, München 1998, 463. 63 Balzac: „La Fille aux yeux d’or“, 168. 64 Ebd., 255. 65 Balzac: Das Mädchen mit den Goldaugen, ins Deutsche übers. von Ernst Hardt, Frankfurt a. M. 1974, 9. 66 Balzac: „La Fille aux yeux d’or“, 156. 67 Edgar Allan Poe: „The Man of the Crowd“, in: ders., The Complete Stories, mit einer Einleitung von John Seelye, London 1992, 442-450, hier 442: „Er lässt sich nicht lesen.“ 68 Vgl. hierzu Robert T. Tally: Poe and the Inscrutable, Texas State University, American Literature Association Conference, 22. Mai 2008: URL: http://ecommons.txstate.edu/englfacp/9 vom 01.11.2011; Aleida Assmann: „Deutungswahn. Zur Pathologie des Lesens in Henry James’ The Turn of the Screw“, in: Josef Simon (Hg.), Distanz im Verstehen. (Zeichen und Interpretation 2), Frankfurt a. M. 1995, 164-180. Jochen Hörisch: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a. M. 1988. 69 Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“, 689. 70 Poe: „The Man of the Crowd“, 442. 71 Ebd. 72 Der „homme du monde“ erscheint auch in Le spleen de Paris („Le vieux saltimbanque“) und ist dort ein Gegenpart des Gauklers, der mit dem Künstler gleichgesetzt wird; der Faszination der „Welt als Jahrmarkt“ kann sich der „homme du monde“ freilich kaum entziehen – ein schönes Beispiel möglicher Milieumischung; s. dazu: Harald Weinrich: Tempus. Besprochene und erzählte Welt, München 42001, 125-130. 73 Baudelaire: „L’Œuvre et la vie d’Eugène Delacroix“, in: Œuvres complètes, Bd. 2, 759, vgl. auch Wild: Später Baudelaire, 133; ähnliche Gedanken zur Energie finden sich später immer wieder bei Friedrich Nietzsche, der ein leidenschaftlicher Leser Baudelaires war. 74 Baudelaire: „Eugène Delacroix. Werk und Leben. Kap. V“, in: Kemp/Pichois (Hg.), Charles Baudelaire, Bd. 7: Richard Wagner. Meine Zeitgenossen. Armes Belgien! 1860-1866, München 1992, 288.
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75 Poe: „The Man of the Crowd“, 442, 444, 445. 76 Ebd., 443. 77 Ebd. 78 Ebd., 446. 79 Ebd., 449, 450. 80 Ebd., 446, 445. Zur Geschichte der Gasbeleuchtung in den Großstädten vgl. Wolfgang Schivelbusch: Lichtblicke: Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert, München/Wien 1983; s.a. Tilman Spreckelsen: „…stand eine Laterne und steht sie noch davor“, in: FAS, 14.12.2008, 72f. 81 Poe: „The Man of the Crowd“, 449. 82 Ebd. 83 Vgl. Wild: Später Baudelaire, 132. 84 Baudelaire: „Le Peintre de la vie moderne“, 689-692. 85 Ders.: „Der Maler des modernen Lebens“, 220/222. 86 Ders.: „Le Peintre de la vie moderne“, 693. 87 Ebd., 695. 88 Zum Konzept des „punctum“ für die Theorie der Photographie Roland Barthes: La Chambre claire. Note sur la photographie, Paris 1980; stellvertretend für die reiche Literatur zum Sonett „À une passante“ Karl-Heinz Bohrer: Der Abschied. Theorie der Trauer, Frankfurt a. M. 1996, 161-181; Marijana Erstiü: „‚Good vibrations?‘ Die Passantin als De- und Rekonstruktion eines Kulturmodells der Moderne“, in: Isabel Maurer Queipo/Nanette Rißler-Pipka (Hg.), Spannungswechsel. Mediale Zäsuren zwischen den großen Medienumbrüchen 1900 und 2000, Bielefeld 2005, 3141. 89 Baudelaire: „Le Spleen de Paris“, 275. 90 Ebd. 91 Baudelaire: „Le Spleen de Paris. An Arsène Houssaye“, a.a.O., 115. 92 Baudelaire: „Le Spleen de Paris“, a.a.O., 275f. 93 Baudelaire: „Le Spleen de Paris. An Arsène Houssaye“, a.a.O., S. 115 94 Rainer Maria Rilke: „Sonette an Orpheus“, in: ders.: Werke in 6 Bde., Bd. I.2, hg. von Rilke Archiv, in Verbindung mit Ruth Sieber-Rilke, besorgt
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durch Ernst Zinn, Frankfurt a. M. 1991, 507. Die Inszenierung von „Wellen“ findet sich nicht nur rekurrent in Kunst und Literatur der Modern, sondern ebenso im Rahmen der aktuellen Kunst- und Formreflexion, und dies in vielfältiger Weise und in unterschiedlichen Medien. Als Beispiele seien genannt: „La vague gelée“ des französischen Künstlers und Filmtheoretikers Alain Fleischer (Filminstallationen bis 2001, s. dazu ders.: L’Empreinte et le tremblement, Paris 2009); die interaktive Video-Ton-Installation „The Waves“ (2003) von Thierry Kuntzel, die MeeresInstallation der amerikanischen Rock-Musikerin Patti Smith im Rahmen ihrer Ausstellung „Dream of Life“ (Fondation Cartier pour l’art contemporain, Paris 2008) und ihre dortige Lektüre aus Virginia Woolfs „The Waves“; Henning Mankells hirnphysiologische Wellen-Metapher in Kennedys Hirn, München 2008, 146f. 95 Abbildung in: Dominique de Font-Réaulx [Textverf.]: Gustave Courbet, Ostfildern 2008, 291. 96 Adressiert ist der Journalist, Schriftsteller, Literatur- und Kunstkritiker Arsène Houssaye, dem Le Spleen de Paris gewidmet ist. 97 Baudelaire: „Le Spleen de Paris“, 276. 98 Ders.: „Le Spleen de Paris. An Arsène Houssaye“, 115-117. 99 Ders.: „Le Spleen de Paris“, IX: „Le mauvais vitrier“, 285f.; s. a. „La Chanson du vitrier. Dédié à Hoffmann“, ebd., 1309ff. Vgl. in diesem Zusammenhang grundlegend Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit, 304. 100 Baudelaire: „Le Spleen de Paris“, XII: „Les Foules“, 291. 101 Ders.: „Le Spleen de Paris. An Arsène Houssaye“, 149-151, siehe in diesem Kapitel Anmerkung 3. 102 Alles ders.: „Le Spleen de Paris“, XII: „Les Foules“, 291f. 103 Ders.: „Le Peintre de la vie moderne“, 692. 104 Ders.: „L’Exposition universelle (1855)“, 575. 105 Ders.: „Le Spleen de Paris“, XII: „Les Foules“, 292. 106 Ders.: „Le Spleen de Paris“, XII: „Die Menge“, 151.
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107 Zum Konzept „orientalism“ als Ausdruck des Eurozentrismus s. Edward Saids Orientalism, New York 1978; vgl. hierzu im Zusammenhang des Baudelaire-Textes Walburga Hülk: „Le Beau est toujours bizarre“, a.a.O. 108 Zur Geschichte des Begriffs „Intensität“ grundlegend Erich Kleinschmidt: Die Entdeckung der Intensität. Geschichte einer Denkfigur im 18. Jahrhundert, Göttingen 2004.
II. Flaubert: Helden im stand-by oder Lehrjahre in Croisset
Abb. 7: Gustave Flaubert
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Frédéric, pris entre deux masses profondes, ne bougeait pas2 Frédéric sah sich zwischen zwei mächtige Menschenmassen eingekeilt und konnte sich nicht rühren3
Im Lichte der starken Energie, die Baudelaire in dem bereits alten Constantin Guys erkannte und die er dem modernen Maler und Dichter abverlangte, erscheint Frédéric Moreau, den Flaubert 1866 in das Zentrum des Romans L’Éducation sentimentale. Histoire d’un jeune homme stellt, wie ein junger, künstlerisch ambitionierter Mann, der den Anforderungen des modernen Lebens nicht gewachsen ist. Und letztlich ist er das ja auch nicht, dieser vor der Zeit gealterte Held im Sparmodus, der die „passion […] inactive“4 verkörpert: jene nicht-aktive Leidenschaft, die Flaubert seiner eigenen Generation in Gänze zuschreibt und die er in Anschlag bringt gegen die Reizüberflutung der modernité, die vielfach pathologisch gewendete Nervosität und Affizierbarkeit.5 Frédéric, der zum Ende des Roman die Trägheit, die „inertie“6 seines Herzens erkennt, steht nach einem Diktum Flauberts für
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den untätigen „sentimentalisme“, die verlebten Gefühle, den mangelnden Schwung der ganzen Generation, und er verkörpert Leidenschaften, die, wenn sie überhaupt aufflammen, unversehens verlöschen, verkümmern und verblühen. Martin von Koppenfels hat diesen Gefühlshaushalt vor einigen Jahren in einer brillanten Studie als Affektschwund, ja als Affekt-„Immunität“ diagnostiziert und vor dem Hintergrund der Kulturgeschichte der Affektpolitiken ausgeführt7, aber nicht nur dieses. Das verwehrte und verweigerte tiefe Gefühl, herabgewürdigt zum „sentimentalisme“, die missglückten „Lehrjahre des Gefühls“, die fehlgeschlagene „Erziehung des Herzens“ oder, präziser noch, die Austreibung der Empfindungsfähigkeit aus Herz und Hirn, haben nicht nur Gleichgültigkeit und Triebschwäche in erotischen Belangen als Ursache und Folge. Sie umfassen auch eine diesen Befindlichkeiten verwandte Welthaltung und Geschichtsauffassung, die jeglichen Fortschritt, jede Neuerung, allen Zukunftsoptimismus und letztlich Geschichte im eigentlichen Sinne leugnen oder verwerfen – und dies nicht allein, wie auch Baudelaire es tat, in ihrer utilitaristischen, materialistischen, will heißen bourgeoisen und kapitalistischen Ausprägung. Flauberts Verneinung der Zukunftshoffnung entspringt vielmehr der pessimistischen, ja ontologischen Überzeugung, dass Geschichte als eine zeitliche Verlaufsbewegung keine Veränderung und schon gar keine Ordnung mit sich bringt, dass sie vielmehr zirkuliert als depravierende Energie, die immer wieder mündet in Chaos und Leblosigkeit, und dieses besonders drastisch dann, wenn Revolutionen scheinbar Aufbruch und Zukunft verheißen – Wohlstand, Gerechtigkeit, Frieden. Es ist zu vermuten, dass Flaubert den Artikel „Révolution“ kannte, den sein Zeitgenosse Jean-Barthélemy Hauréau für das Dictionnaire politique. Encyclopédie du langage et de la science politique8 schrieb. Denn die hier zu findende, auf den ursprünglichen Begriff rekurrierende Definition fasst die „Revolution“ als wiederkehrende und gleichbleibende Bewegung, dem Lauf der Gestirne und dem Rhythmus der Jahreszeiten vergleichbare Umwälzung und Rückwendung der Geschehnisse. In Byung-Chul Hans kleinem Buch Duft der Zeit aus dem
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Jahr 2009 wird „Revolution“ eingebunden in das Konzept der anti-modernen, mythischen Zeit: „Jedes Ereignis spiegelt die unveränderliche Substanz der Welt wider. Hier finden keine Bewegungen statt […]. In dieser Welt ewiger Wiederkehr hätte die Beschleunigung überhaupt keinen Sinn […]. Auch der Begriff „Revolution“ hat ursprünglich eine ganz andere Bedeutung. Sie ist zwar ein Prozeß. Aber sie ist nicht frei vom Aspekt der Rückkehr und Wiederholung. Ursprünglich weist die revolutio auf den Umlauf der Sterne hin. Auf die Geschichte angewandt, bedeutet sie, daß Herrschaftsformen, die in ihrer Anzahl begrenzt sind, sich in zyklischer Form wiederholen. Die Veränderungen, die sich im Laufe der Geschichte ereignen, werden in einen Kreislauf eingebunden. Nicht der Fortschritt, sondern die Wiederholung bestimmt den geschichtlichen Verlauf. Außerdem ist der Mensch kein freies Subjekt der Geschichte. […] Es ist nicht der Mensch, der die Revolution macht. Er ist vielmehr ihr unterworfen wie den Gesetzen der Sterne. Die Zeit ist geprägt von naturalen Konstanten.“9
Eine solche Phantasmagorie, die sich ganz und gar dem seit der Aufklärung gültigen Zeitdenken widersetzt, findet sich als Herzstück inmitten der Éducation sentimentale, in der berühmten Episode des Spaziergangs von Fontainebleau nämlich, welche die blutige Niederschlagung der Julirevolution 1848 im Getöse des böse verhexten Steinbruchs akustisch wahrnehmbar macht, gleich den tektonischen Erschütterungen als Folgen eines uranfänglichen Kataklysmus.10 Revolution, materialisiert im Poltern übereinanderstürzender Gesteinsbrocken, tritt hier aus der Menschheitsgeschichte zurück in die Naturgeschichte, und diese erscheint als Abfolge von Erdumwälzungen, so wie sie Cuvier zu Beginn des 19. Jahrhunderts als Kern der Geogeschichte formulierte, mit katastrophalen Folgen für die Menschheit.11 Im Tagtraum Frédérics, dessen Blick hinabgleitet von den Baumkronen zu den Bodenflechten, erscheinen das stete Werden und Vergehen der niederen Pflanzen als Wahrheit des Lebens überhaupt. Wer sich in Erinnerung ruft, dass Flaubert im „gueuloir“, im Schreizimmer seines Landhauses in Croisset die Musikalität seiner Prosa erprobte, indem er sie laut de-
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klamierte, muss freilich in der ohrenbetäubenden Szene der berstenden, aufeinandergeschichteten Steine eine fast avantgardistische und zerstörerische Geräuschkunst entdecken. Dass Flaubert zugleich mit der Éducation sentimentale als der beste Geschichtsschreiber seiner Zeit zu gelten hat, gerade so, als vollzöge er die von Schopenhauer postulierte Wiedervereinigung von Historiographie und Dichtung12, ist eine These, die bezeichnenderweise im Umkreis der Zeitschrift „Annales“ und ichrer Studien zur Mentalitätsgeschichte 1975 von Maurice Agulhon geäußert worden ist.13 Und tatsächlich hatte Flaubert, nach einem wie immer umfangreichen Studium zeitgenössischer und historischer Quellen und Dokumente, den Anspruch „d’entrer dans l’atmosphère du temps“, in die Atmosphäre oder den Duft der Zeit einzutreten, wie einem Brief an den verehrten Sainte-Beuve – „Mon cher Maître“ – vom 12. März 1866 zu entnehmen ist.14 Barbara Vinken hat 2009 in ihrem Buch mit dem frappierenden, erleuchtenden Titel „Flaubert. Durchkreuzte Moderne“ diesen Gedanken philologisch durchgeführt. Sie zeigt minutiös auf, dass Flauberts Darstellung der Geschichte in der Éducation sentimentale ein durchgängiges Zitat der Pharsalia Lucans ist, deren Thema die 100-jährigen Römischen Bürgerkriege zwischen 130 und 30 v. Chr. sind und deren Darstellung ein verheerender Gedanke zugrunde liegt. Dass nämlich der Brudermord Ursprung und Motor des ruinösen Weltgeschehens sei.15 Und wirklich ist zu beobachten, dass der Bruderkrieg Geschichten der Anfänge maßgeblich begleitet, mit den biblischen Brüdern Kain und Abel, mit dem Gemetzel der thebanischen Geschwister, von dem die griechische Mythologie so sicher kündet, dass Philip Roth 2003 in The Human Stain seinen Protagonisten Coleman Silk, Professor der Altphilologie, lehren lässt, der Krieg sei nicht einfach ein Rückfall ins Rohe, sondern Ursprung und Kern aller Kultur. Flaubert rechnet ab mit dem Pathos und den Rhetoriken der französischen Geschichte und dem Mythos des „peuple“, das im römischen Gewand der Großen Revolution die Weltbühne betreten und Terror verbreitet hatte, während der Volksmythos bis in die Revolutionen des Jahres 1848 – bis ins Herz der Éducation sentimentale hinein – missionarisch verkündet wurde und doch kein Zweifel daran aufkommen
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konnte, dass der Siegeszug der Bourgeoisie ungebrochen und blutig sein würde.16 Mit dem Brudermord, den der fanatische Revolutionär Sénécal an dem sanften Dussardier begeht – manche würden einen solchen Vorfall des Kriegsgeschehens heutzutage wohl „Kollateralschaden“ nennen – vollendet sich so tatsächlich im zeitgenössischen Rahmen des sogenannten „realistischen“ Romans jene Entblößung des Barbarisch-Fremden, das der Geschichte elementar zugehörig ist und das Flaubert nun von den Punischen Kriegen der Salammbô durch die ganze Geschichte hindurch nach Paris zurückgeführt hatte. In welchem Modus aber erscheint dieses moderne Gericht? Die Éducation sentimentale von 1869 ist bekanntlich ein voluminöser, kalkuliert unübersichtlicher Roman, der dem klassischen Erzählduktus zuwiderläuft und deshalb entweder als gescheiteres Unternehmen oder als wegweisender Text für die Epik des 20. Jahrhundert gelesen wurde – ersteres schien vor allem gesichert im Zusammenhang der Realismusdebatte, letzteres ist beispielsweise das Urteil Marcel Prousts und Nathalie Sarrautes, Schriftstellern also, deren Urteil stets vertraut werden sollte. Es lohnt sich, zur Klärung dieser Frage den Anfang dieses schwierigen Romans anzuschauen. Erzählanfänge können dann als gelungen angesehen werden, wenn sie stark sind, den Leser in den Bann ziehen, ein kraftvolles Eröffnungsszenario bieten und auf das nachfolgende Geschehen neugierig machen, oder auch, indem lakonisch und bestimmt ein verblüffendes Phänomen behauptet wird, wie beispielhaft in Franz Kafkas Verwandlung. Flauberts Roman der Unbestimmtheit eröffnet insofern interessant, als die Exposition alle Elemente jener energetischen Gemengelage enthält – Unübersichtlichkeit, Unschärfe, Unbeweglichkeit oder, ebenso verwirrend, Umtriebigkeit –, welche die Éducation sentimentale thematisch und strukturell von der klassischen Romantradition absetzen. Die Tatsache, dass genau dies im Gewand einer traditionellen Ouvertüre geschieht, lässt den Roman von Anfang an als ironisch erscheinen, als ganz und gar unsentimental, als augenblicklichen Widerspruch zum Titel. Und da die erste Seite, im Ge-
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gensatz zur letzten, noch kaum einer buchstäblichen Lektüre unterzogen worden ist17, soll das an dieser Stelle nachgeholt werden.18 Frédéric Moreau steht am 15. September 1840 gegen sechs Uhr morgens auf dem Deck des Dampfers Ville de Montereau. Der Name des Schiffes enthält den Familiennamen des jungen Mannes „Moreau“, „Montereau“; wer in Kenntnis anderer Flaubert’scher Namensspiele nicht an eine naive Wortwahl glaubt, könnte auch auf „morose“, „verdrießlich“ kommen. Der 18-jährige Frédéric kehrt zurück von seinem Erbonkel in Le Havre und seine früh verwitwete Mutter erwartet ihn in seinem Heimatort Nogent-sur-Seine südöstlich von Paris, dort, wo die Schiffbarkeit der Seine endet. Stromaufwärts also geht diese Rückreise, für den jungen Mann in der sicheren Erwartung, mit der zuerkannten Erbschaft in eine neue Lebensphase einzutreten und wenige Wochen später in Paris ein Jurastudium aufnehmen zu können. Der präzise Zeitpunkt und die Ortsbestimmung, eine Zwischenstation in Paris, werden als Einsetzungsgestus einer klassischen Exposition gesetzt, und die Einführung des Protagonisten nach wenigen Sätzen, „M. Frédéric Moreau, nouvellement reçu bachelier“, bereitet das Lesepublikum vor auf die Geschichte eines jungen Mannes, wie Stendhal und Balzac sie auch schon erzählt hatten. Diese Erwartungshaltung wird augenblicklich gestört, steht diese Szene doch gleich mit dem ersten Satz im Zeichen eines – im Folgenden immer wieder aufgeführten – „tourbillon“19, eines Wirbels oder Strudels, der die identitätslogische, raumzeitliche Konfiguration aus dem Gleichgewicht bringt und damit auch eine narrative Ordnung, Synthese oder zeiträumliche Homogenität, die Michail Bachtin dem klassischen Roman zuschrieb und die im besten Falle in der Intensität von „Chronotopoi“ veranschaulicht wird, die er so definiert: „Die Merkmale der Zeit offenbaren sich im Raum, und der Raum wird von der Zeit mit Sinn erfüllt und dimensioniert.“20 Als „Chronotopos“ kann in der Éducation sentimentale dieser expositorische Schauplatz gelten; viele dieser Zeitraum-Verdichtungen oder symbolischen Orientierungspunkte wird es freilich im Folgenden nicht mehr geben, und dort, wo man sich an sie zu halten versucht, sind es leere Orte, Or-
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te der Verfehlung oder frei in der Zeit schwebende topographische Bezugspunkte. Am Anlegeplatz zu Beginn geht es turbulent zu. Eine ungezählte Menge von Passagieren, Matrosen, Lastenträgern – „des gens“ – bewegt sich aufs Schiff, zahllose voluminöse Gegenstände – Frachtkisten, Wäschekörbe, Taue – versperren den Weg, man rempelt sich an, es ist laut, jeder schreit und niemand antwortet, die Schlote dampfen, der Motor dröhnt, alles verschwimmt in einem weißen Nebel und Rauschen. Die Zirkulation der Energie, als Effekt des Verhältnisses von Masse und Bewegung, gerät ins Stocken; im Krach, – „tapage“, „bruissement de la vapeur“ – im wolkigen Schleier einer „nuée blanchâtre“, dann einer „fumée noire“ und dem unausgesetzten Geläut der Schiffsglocke wird die ordnende Wahrnehmung aufgesogen – „s’absorbait“ – , während der zischende Dampf endlich aus Ventilen entströmt. In diese physikalisch-mechanische Exposition des Romans ist Frédéric Moreau hineinversetzt, „jeune homme à longs cheveux et qui tenait un album“, der junge Mann mit Skizzenbuch, als Bohemien und Künstler.21 Bewegungslos steht er inmitten des allgemeinen Tumults und nahe am Steuerrad – kein Wort Flauberts, soviel ist gewiss, ist unschuldig. Durch den Morgendunst – „brouillard“ – hindurch umfasst er seufzend mit einem letzten Blick die Ile St.-Louis, die Ile de la Cité, die Kathedrale Notre-Dame. Bedauern und Hoffnung sind in diesem „dernier coup d’œil“ vereint – und damit der narratologische Horizont von Erinnerung, Anschauung und Erwartung, wie ihn ein junger Mann ins Auge fassen kann. Hier freilich ist er schnell ganz und gar Klischee, so wie es auch der Habitus Frédérics demonstrativ ist – ein Klischee, mit dem Flaubert, im Nachäffen des verachteten Dichters und Sozialromantikers Lamartine und seiner schmerzvollen poetischen Abschiedsblicke, auch hier die Romantik in Gänze abtötet. Er tut dies mit einer ironischen, scheinbar harmlosen Inauguralsequenz, einer daher besonders raffinierten Variante jener Grausamkeit, die ihn dazu trieb, in Madame Bovary Charles Bovary als Rindvieh in die Schulklasse und bei den Lesern einzuführen. Das nächste Klischee ist, durch Frédérics schwärmerische Tagträume hervorgebracht und unüberbietbar, die erste Begegnung mit Madame Marie Arnoux auf dem Schiff:
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Diese Begegnung ist für Frédéric eine Epiphanie („apparition“) und ein déjà-vu zugleich, erschien diese künftige Geliebte ihm doch bereits in seinen romantischen Lektüren, seinen kreolischen Phantasien, seinen noch keuschen Jünglingsträumen.22 Die Szene evoziert, mit stickender Frau vor blauem Horizont, die biblische Verkündigungsszene und kleidet Marie Arnoux zugleich mit einem exotisch-folkloristischem Gepränge aus, das sie ganz unter die Signatur jener zugleich devotionalen und orientalisierenden Kitschbilder des „art industriel“ und der Massenware stellt, mit denen Monsieur Arnoux, der vor seiner Gattin ins Bild tritt, in seinem gleichnamigen Unternehmen Handel treibt. Die dann folgende Liebesgeschichte, die hier nicht im Einzelnen mitverfolgt werden kann, steht ganz unter der Herrschaft des Gemeinplatzes und der Ergebenheit in eine zerrinnende Leidenschaft. Deren Symptom ist ein negativer Chronotopos: das verpasste date, der verfehlte Treffpunkt an der Abzweigung von Straße und Boulevard, „au détour de la rue Vivienne et du boulevard“ (Montmartre), dessen Name ungenannt bleibt.23 Das „falsche timing“, das verpatzte Rendezvous, die „Herrschaft des Nicht-Synchronen“ aber kann tatsächlich als „Ausdruck eines affektiven Verzugs“ gewertet werden: „Sich zu verabreden ist kein rein kommunikatives Problem. Es ist auch ein Problem der affektiven Einordnung mehrerer Subjekte in ein Koordinatensystem von Raum- und Zeitstellen. In der Education wird Synchronisierung in mehrfacher Hinsicht zur unlösbaren Aufgabe. Betroffen sind davon vor allem zwei Felder: Liebe und politische Aktion, Synchronisierung der geschlechtlichen und der gesellschaftlichen Interessen. Alle sogenannten Tragödien des Romans beruhen auf falschem timing, und zwar von der allerersten Szene an: Madame Arnoux ist leider schon verheiratet, als Frédéric sie auf dem Dampfer Ville-deMontereau trifft […].“24
So lässt sich dieser „affektive Verzug“, man könnte auch sagen, dieser missglückte Kairos, nachzeichnen von der ersten bis zur letzten, unverhofften Begegnung mit unbekanntem Datum an unbekanntem Ort, die für den überraschten Frédéric einen Fetisch der verlorenen Zeit bereit-
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hält, die weiße Haarsträhne, die Madame Arnoux ihm hinterlässt. Die Anagnorisis dieser Szene, die im Tempus des Futur II und im Modus des Konditional II daherkommt, zeigt, in nachgerade lacanianischer Manier, den perennierenden Irrealis an, nämlich die Vergeblichkeit, das Imaginäre in die Wirklichkeit, in irgendeine Handlung zu überführen: Wir werden uns wohl geliebt haben […] Welch ein Glück würden wir genossen haben: „Nous nous serons bien aimés […] Quel bonheur nous aurions eu“.25 Dieses Tempus und dieser Modus sind erhellend und ernüchternd besonders dann, wenn man sie kontrastiert mit der berühmten Kalendergeschichte „Unverhofftes Wiedersehen“, die Johann Peter Hebel 1811 erzählt hatte und die Ernst Bloch einmal als schönste Geschichte der Welt bezeichnete: das nunc stans einer Liebe, die ein halbes Jahrhundert, Naturkatastrophen, weltgeschichtliche Umbrüche und den Tod überdauert, als sei bis zur späten Begegnung nichts geschehen als ein einziger Augenschlag. Und doch handeln beide Treffen vom Phantom der Zeit, und vom Ende des Romans her sollte man noch einmal auf den Anfang schauen. Die beiden ersten Seiten der Éducation sentimentale sind tatsächlich, über viele andere interessante und boshafte Details hinweg, vor allem deshalb bemerkenswert, weil sie die Struktur des Romans bereits ganz enthalten, im Sinne einer musikalischen Ouvertüre. Ihr Thema nämlich ist die Defiguration oder Phantomatisierung der Zeit, und dieser ist alles, was diesen Text ausmacht, zuzuordnen: die Zersetzung des Helden, das Ausbluten der Geschichte und die Zerrüttung der narrativen Form. Die Auflösungsprozesse werden mit den Bildern der ersten Sätze vorbereitet und setzen L’Éducation sentimentale als radikalen Auftakt der großen modernen Zeitromane des frühen 20. Jahrhunderts, zu denen immer Marcel Prousts À la recherche du temps perdu, Thomas Manns Der Zauberberg und James Joyces Ulysses gezählt werden. Als Zeitroman nämlich wird L’Éducation sentimentale auf der ersten Seite eingeführt und dies in besonders raffinierter Weise: Denn während die physikalische, messbare Zeit abläuft, angefüllt mit Masse und Bewegung, mit Energie und Kraft, während also der schwer beladene Damp-
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fer zuletzt ablegt und stromaufwärts Fahrt aufnimmt, während das Volk an Bord singt, trinkt und vom kommenden Wohlstand schwatzt, schaut Frédéric Moreau, eingehüllt in den frühherbstlichen Morgennebel, im ritardando, auf dem langsamsten Verkehrsweg überhaupt, „en regagnant sa province par la route la plus longue“26, auf die Biegungen des Flusses, seiner „Provinz“ entgegen. Und als dann allmählich die Dunstschleier aufreißen und die Sonne erscheint, träumt er den vagen Traum von Paris und von der Kunst – und erblickt zuerst Monsieur, dann Madame Arnoux! Alles, was folgt – die Hoffnungen des Volkes und die Hirngespinste Frédérics, die Revolution und die Liebe – steht im Zeichen des Gemeinplatzes, der „idée reçue“, und läuft leer im unablässigen recycling. Alles wird schon einmal gewesen sein, kreist blind und chaotisch im Rad; es gibt keinen Fortschritt, keine Geschichte, keine Leidenschaft und folglich auch keinen klassisch konfigurierten Roman. Flaubert setzt mit den ersten Worten eine obsessiv materialistische, eine hydraulische, mechanische Phantasie in Gang; sie sammelt, reichert an und übersättigt Details, Gegenstände, deren Darstellungsweise, eben weil sie auf die Dinge gerichtet und im buchstäblichen Sinne „objektiv“ ist.27 Und diese zuletzt aufgedrehte und überdrehte „Objektivität“ kippt, fokalisiert durch Frédérics überforderte und unbestimmte Wahrnehmung, in eine derealisierte, dysfunktionale und chaotische äußere Welt, läuft leer wie, sagen wir, Tinguelys Brunnen in Paris und Basel. L’Éducation sentimentale ist ein Roman des Phantasmas, der die Realität in entscheidenden Etappen – der Julirevolution, des Spaziergangs in Fontainebleau, der Versteigerung der Arnoux’schen Besitztümer – phantastisch werden lässt. Und das mitten im sogenannten Realismus und das von Flaubert, der als dessen Vollender gilt. Madame Bovary, so darf man getrost behaupten, war der Roman, der die Leidenschaften und die daraus resultierenden Handlungsimpulse und Taten als Illusionen abstrafte. Sein Thema war die schmerzhafte Austreibung des romantischen Gefühls, und ebenso die Emergenz einer Gefühlskälte, die gegen das Verfallensein an das Klischee aufgeboten wird – niemand anderer als Baudelaire hatte das früher, nämlich augen-
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blicklich, erkannt und 1857 in seinem Essay zu diesem Roman niedergeschrieben.28 Und zugleich ist Madame Bovary ein Roman, der, wie Michail Bachtin in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts festgestellt hat, diese Prozesse in der Provinz exerziert als Angriff auf die umtriebige Zeit der metropolitanischen Moderne und als Evokation einer Zeit, die in der Normandie erscheint als „zähe, klebrige Zeit, die im Roman langsam dahinkriecht.“29 L’Éducation sentimentale, der Pariser Roman, setzt mehr als zehn Jahre später ein mit der Schwundstufe des Affekts und der gedrosselten Beschleunigung seines Protagonisten, und die Energien, die Emma Bovary verausgaben musste, bringt Frédéric Moreau nicht mehr auf. Er ist der „schwache Held“, der „junge Mann“ im gedämpften, ermatteten Gemütsmodus, für dessen ebenso physikalische wie moralische Dimension Flaubert immer wieder das Wort „lâche“ einsetzt: schlaff, kleinmütig, feige, niederträchtig. Wenn also Frédéric zu Beginn des Romans am Steuerrad der Ville de Montereau steht, so ist das vielleicht die hämischste Ironie des Anfangs – nicht handfest, derb wie diejenige, die sich Flaubert mit der obszönen Mütze, der „casquette“ von Charles Bovary hat einfallen lassen – sondern versteckter, subtiler, dem jungen Künstler auf den Leib geschrieben, der sein eigenes Leben und die große Geschichte nicht gestaltet, sondern im stand-by erlebt: So wie Frédéric während der Schiffsreise heimwärts treibt, der Provinz entgegen, in der das Schiff nicht weiterfahren kann, es vielleicht überhaupt nicht weitergeht, und so wie er reglos in der Nähe des Steuerrades verharrt und seine eigene Zukunft am Horizont auf- und vorbeiziehen lässt, blickt er im Februar 1848 vom Fenster aus auf den revolutionären Aufzug der Arbeiter und die bewegten, wabernden, kompakten Massen30 – teilnahmslos, unbewegt, entrückt: „‚Ah! On casse quelques bourgeoisދ, dit Frédéric tranquillement, ‚car il y a des situations où l’homme le moins cruel est si détaché des autres, qu’il verrait périr le genre humain sans un battement de cœur.“ދ31
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„‚Aha! Da macht man ein paar Spießer kalt! ދmeinte Frédéric gemütlich. ‚Denn es gibt Lebenslagen, in denen auch ein gar nicht herzloser Mensch seiner Umwelt so entfremdet ist, dass er, ohne mit der Wimper zu zucken, mit ansehen könnte, wie das ganze Menschengeschlecht untergeht.“ދ32
Kein Zweifel: Die widerspenstig ausgestellte, schneidende „Immunität“ als negative Gefühlsqualität des inaktiven Helden ist hier auf die Spitze getrieben und durch die Erzählstimme, die so selten hörbar ist, zynisch legitimiert: Neben diese moralische „lâcheté“ tritt andernorts freilich immer wieder eine andere Funktion jener Unbestimmtheit oder Unschärfe der Wahrnehmung, welche die Kontur Frédérics schon auf der ersten Seite des Romans in Nebel und Dunst verwischt und ebenso die Gesamtanlage der Éducation sentimentale provokativ gegen die Klarsicht des „Realismus“ richtet. Denn die Faszinationskraft und epistemologische Bedeutung der Unbestimmtheit, die Gerhard Gamm für die philosophische, wissenschaftliche und künstlerische Disposition und das Wissen der Jahrhundertwende 1900 nachgewiesen hat33, deutet zwar zum einen den negativen Modus des „ennui“, der Verdrossenheit und des Überdrusses an, die sich maßlos und formlos auf das Gemüt legen. Aber die Unbestimmtheit, die Frédérics Weltorientierung an den Kreuzungspunkten der Geschichte ausmacht, ist auch Ausdruck einer eigensinnigen, renitenten Haltung, einer Infragestellung und Verwiegerung ausnahmslos aller Kategorien und Gewissheiten, von denen Flauberts Zeitgenossen überzeugt waren – Fortschritt ebenso wie Vaterland und Religion, Revolution ebenso wie Bürgerlichkeit. Der Modus der Unbestimmtheit in diesem Sinne, gleichsam als frühes „schwaches Denken“ oder als „pensiero debole“34, stellt alles in Frage, was damals geglaubt und gewusst wurde und markiert philosophisch und narratologisch das Ende der großen Erzählungen, die äußerste Grenze einer Geschichte, die noch zeiträumlich dargestellt, chronotopisch verdichtet und sinnhaft gedeutet werden kann. Die Zeit nämlich ist in diesem Roman, so noch einmal Bachtin, „ereignislos, so dass es scheint, als sei sie fast gänzlich stehengeblieben“35. Vor allem deshalb ist L’Éducation sentimentale revolutionär, visionär – als Dichtung, als Philosophie der
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Zeit, die ihrer Zeit weit voraus ist. Die unbestimmte, unscharfe Zeit oder die „érosion du sens du temps“36, die Erosion des Zeitsinns, die Flaubert seinem Helden stellvertretend für die Geschichte seiner eigenen Generation, „histoire de ma génération“37, unterlegt hat, läuft neben der Historie her, spaltet und vervielfältigt Zeit überhaupt. Flaubert unterlegt solcherart dem Roman jenen Zeitbegriff, den Henri Bergson zwanzig Jahre später und dann bis zu seinem Lebensende 1941 systematisiert hat. Die intellektuelle Verwandtschaft zwischen Flaubert und Bergson, die so viel weniger bekannt und ernst genommen ist als diejenige zwischen Bergson und Proust, hat gleichwohl bereits Bergsons Zeitgenosse Georg Lukács gesehen. Er hat sie geltend gemacht für die einzigartige Qualität der Éducation sentimentale, die ein Desillusionsroman im Reflexionsmodus des Zeitromans ist. In Die Theorie des Romans heißt es 1916: „Die größte Diskrepanz zwischen Idee und Wirklichkeit ist die Zeit: der Ablauf der Zeit als Dauer. Das tiefste und erniedrigendste Sich-Nicht-Bewahren-Können der Subjektivität besteht weniger in dem vergeblichen Kampfe gegen ideenlose Gebilde und deren menschliche Vertreter, als darin, daß sie dem trägstetigen Ablauf nicht standhalten kann, daß sie von mühsam errungenen Gipfeln langsam aber unaufhaltsam herabgleiten muß, daß dieses unfaßbar, unsichtbar-bewegliche Wesen ihr allen Besitz allmählich entwindet und ihr – unbemerkt – fremde Inhalte aufzwingt. Darum ist es, daß nur die Form der transzendentalen Obdachlosigkeit der Idee, der Roman, die wirkliche Zeit, Bergsons „durée“, in die Reihe seiner konstitutiven Prinzipien aufnimmt. […] Ein solches Zeiterlebnis liegt Flauberts Éducation sentimentale zugrunde […].“38
Es geht hier nicht darum, die Einschätzung und Wertung, die Lukács im Hinblick auf den Roman des 19. Jahrhunderts insgesamt vornimmt, zu beurteilen.39 Die augenfällige Nähe der Éducation sentimentale zu Bergson jedoch ist in unserem Zusammenhang interessant genug, und Lukács ist der Erste, dem sie aufgefallen ist. 1889 erschien Bergsons Dissertation, Sur les données immédiates de la pensée, 1911 als Zeit und Freiheit ins Deutsche übersetzt. In dieser Schrift formuliert Berg-
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son die Grundzüge einer Zeit- und Gedächtnistheorie. Bis zu seinen späten Werken, darunter das Buch von 1922, Durée et simultanéité40, einer Auseinandersetzung mit Albert Einsteins Relativitätstheorie, wird diese immer weiter auseinandergefaltet. Im Zentrum der Zeitphilosophie stehen die Kategorien „temps“ und „durée(s)“. Beide sind durch „multiplicités“, durch Vielheit, Komplexität gekennzeichnet und unterscheiden sich, so Gilles Deleuze, wie folgt: „Die eine wird vom Raum verkörpert (oder vielmehr, um präzise zu bleiben, vom unreinen Mixtum der homogenen Zeit), eine Vielheit der Äußerlichkeit, der Gleichzeitigkeit, des Nebeneinanders, der Ordnung der quantitativen Differenzierung, des graduellen Unterschieds, eine mimetische Vielheit, die diskontinuierlich ist und aktuell. Die andere zeigt sich in der reinen Dauer; sie ist eine innere Vielfalt, eine Vielheit des Nacheinanders, der Verschmelzung, der Organisation, der Heterogenität, der qualitativen oder Wesenunterscheidung, eine Vielheit, die virtuell und kontinuierlich ist und nicht auf das Numerische zurückgeführt werden kann.“41
Die detaillierte Lektüre des Beginns der Éducation sentimentale lässt diesen Roman augenblicklich wie eine fiktionale Anverwandlung avant la lettre dieser doppelten, ineinander verschränkten Zeitfiguren erscheinen. „Le temps“, die Zeit der Uhren, setzt ein als mechanische Zeit. Diese ist organisiert in Schiffsplänen; sie ist angefüllt mit Bewegung, einem Nebeneinander des körperlichen Tuns, mit den graduellen Veränderungen von Personen und Gegenständen im Raum, und all dieses wird wahrgenommen von Frédéric Moreau, der dem Geschehen noch in der größten Unübersichtlichkeit des Tumultes und der Turbulenzen als Beobachter erhalten bleiben wird: als ein Beobachter, der dort still steht, wo alles in Bewegung ist – nahe dem Steuerrad hier, hoch am Fenster später bei der Revolution, als, so noch einmal Lukács, „hart, abgebrochen und isoliert […] die einzelnen Bruchstücke der Wirklichkeit nebeneinander da [stehen].“42 Aber der Beobachter, so standhaft, ja distanziert er auch zu sein scheint, ist hineingenommen ins Bild, gleich so wie Jahrzehnte später auf den Bildern Umberto Boc-
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cionis die Figuren, die, noch distanziert vom Balkon aus schauend, in den Sog des Lärms und Tumultes der Straße hineingezogen werden.
Abb. 8: Boccioni, La strada entra nella casa, 1911
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Und so vollzieht er selbst für die Betrachter am Ufer der Seine, die den Reisenden zuwinken, die gleichförmige, geradlinige Bewegung des Schiffes mit, während sich jene zugleich für ihn, der doch in der Nähe des Steuerrades ruht, bewegen. Und dieses Flussbild oder das Bild der Zuschauer im Hafen erscheint wie ein Beispiel zur Erklärung der speziellen Relativitätstheorie, diesem schwierigen Konzept der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen.44 Es ist ein komplexes Flussbild, das die Éducation sentimentale eröffnet, und es geschieht noch mehr. „Le temps“ nämlich, die mechanische, segmentierte Zeit, gleitet unversehens hinüber in die „durée(s)“, die innere Dauer, deren dynamische, ineinander verschmelzende und unreine Vielfältigkeiten nicht mehr räumlich verdichtet und geschichtet und in eine sinnvolle Abfolge gebracht werden können. In Durée et simultanéité verwendet Bergson für diese Verschränkung der Zeitebenen und für ihre physikalischen und psychologischen Dimensionen ebenfalls die Flussmetapher:
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„Quand nous sommes assis au bord d'une rivière, l'écoulement de l’eau, le glissement d’un bateau ou le vol d'un oiseau, le murmure ininterrompu de notre vie profonde sont pour nous trois choses différentes ou une seule, à volonté.“45 „Sitzen wir am Ufer eines Flusses, sind für uns, ohne dass wir festgelegt wären, das Fließen des Wassers, das Vorbeiziehen eines Schiffes oder der Flug eines Vogels und das niemals abbrechende Gemurmel unseres inneren Seelenlebens, je nachdem, drei verschiedene Dinge oder aber eine einzige Sache.“46
Dauer, „la durée“, das ist Bergsons Grundgedanke, ist der Zeitfluss subjektiven, nicht bewussten oder steuerbaren Erlebens. Die Dauer – oder die „Dauern“, ein Neologismus – ist nicht zu denken in räumlichtemporalen Überlagerungen („juxtapositions“) und Abstufungen. Sie ist überhaupt nicht vorstellbar als segmentierbare oder sequentielle Form, sondern als eine Dynamik kontinuierlich ineinander verschmelzender, unscharfer Qualitäten oder Intensitäten,47 wie sie am ehesten dem Traum zukommen, nicht jedoch der sozialen Existenz mit ihren Ordnungen, Formen, Rahmen, durch die das gesellschaftliche Leben erst ermöglicht wird. Eine solche Dauer, als unteilbare und zugleich unvorhersehbare Dauer einer ganz und gar autonomen, selbstregulativen Organisation innerer Bildströme, setzt die Zeit- und Raumordnung außer Kraft, stellt die sprachliche Repräsentation vor fast unüberwindbare Probleme und widersetzt sich, im Zeichen von Unbestimmtheit und Relativität, der kategorialen Begrifflichkeit und der mimetischen Konfiguration, mithin der klassischen Literarizität. Zunehmend erscheinen die Geschehnisse der Éducation sentimentale, die trügerisch präzise einsetzen, sprunghaft, im Modus der Unschärfe, werden im Verlauf des Romans eingeführt mit „mais de temps à autre“, „un jour“ oder „une autre fois“48, mit unscharfen Zeitadverbien also, „aber von Zeit zu Zeit“, „eines Tages“, „ein anderes Mal“, und verwischen solcherart die Chronologie der historischen Zeit und die Ordnung des sozialen Lebens. Aus der quantitativ messbaren Zeit wird eine gefühlte, qualitative Zeit, die subjektive Zeit des Traums, isoliert von der Au-
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ßenwelt. Ich zitiere zum Vergleich noch einmal aus dem Essai sur les données immédiates de la conscience: „En d’autres termes, nos perceptions, sensations, émotions et idées se présentent sous un double aspect : l’un net, précis, mais impersonnel ; l’autre confus, infiniment mobile, et inexprimable, parce que le langage ne saurait le saisir sans en fixer la mobilité, ni l’adapter à sa forme banale sans le faire tourner dans le domaine commun. [...] Le rêve nous place précisément dans ces conditions […] nous ne mesurons plus alors la durée, mais nous la sentons. De quantité elle revient à l’état de qualité. [...] ...mais que les sensations […], au lieu de se juxtaposer, s’étaient fondues les unes dans les autres de manière à douer l’ensemble d’un aspect propre, de manière à en faire une espèce de phrase musicale [...] L’imagination du rêveur, isolée du monde externe, reproduit sur de simples images et parodie à sa manière le travail qui se poursuit sans cesse, sur des idées, dans les régions plus profonde de la vie intellectuelle.“49 „Mit anderen Worten: unsre Perzeptionen, Empfindungen, Emotionen und Vorstellungen stellen sich unter einem doppelten Aspekt dar: der eine scharf umrissen, präzis, doch unpersönlich; der andere verworren, unendlich beweglich und unaussprechlich, weil die Sprache ihn nicht fassen kann, ohne seine Beweglichkeit zu fixieren, noch ihn ihrer alltäglichen Form anzupassen vermag, ohne ihn ins Gebiet des allen Gemeinsamen herabzuziehen. […] Der Traum versetzt uns in eben jene Bedingungen […]. Die Dauer wird alsdann nicht von uns gemessen, sondern gefühlt; sie kehrt aus der Quantität ins Qualitative zurück. […] daß aber die von jedem wachgerufenen Empfindungen, statt sich nebeneinander aufzureihen, ineinander aufgegangen sind, dergestalt, daß das Ganze einen besonderen Aspekt gewann, eine Art musikalischer Phrase wurde. […] Die Einbildungskraft des Träumenden, die von der äußern Welt isoliert ist, reproduziert in bloßen Bildern und parodiert auf ihre Weise die Arbeit, die in den tiefern Regionen des geistigen Lebens unablässig in der Form von Vorstellungen vor sich geht.“50
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Der Effekt einer solchen Vermischung von „temps“ und „durée“, der objektiv messbaren Zeit der Uhren, der Kalender, der Handlungen mit der zerebralen subjektiven Tätigkeit ineinanderfließender und auseinanderdriftender Bildströme oder auch Redeströme, ist eine halluzinatorische Stimmung, wie sie gleich die erste Seite der Éducation sentimentale aufkommen lässt. Der „tourbillon“, Wirbel, Strudel, jene atmosphärische Gemengelage aus Hektik und Lärm, Kraftstrom und Sog, erfasst die Menge, die sich einen Rausch gönnt, während Frédéric, seine Kunstmappe unter dem Arm, umhüllt wird von Rauch und Morgendunst. Die atmosphärische Unschärfe vernebelt so, noch bevor er irgendetwas getan oder gesagt hätte, sein optisches und akustisches Distinktionsvermögen, und die äußere Welt gleitet in eine phantasmatische, abgeschottete Welt, die ganz und gar intransparent ist. Die somnambule Immunität, die sich hier und fortan im Gestus des distanzierten, entrückten Beobachters zur Schau stellt und sich hin und wieder in gezielten zynischen Bemerkungen entlädt, ist solcherart ohne Zweifel ein „bewusst kultivierter Habitus der Kälte […] eine Stilistik der verweigerten Einfühlung (‚impassibilité‘) und die Darstellung eines objektiven Gefühlsverlusts (‚atrophie sentimentale‘, ‚inertie du cœur‘) […] die technische Erzeugung des Gefühlsschwundes“51. Die Atrophie des Gefühlsmuskels, die Vergletscherung der Empfindung als Ermöglichungsbedingung der Verächtlichkeit sind zum einen ein Tribut an den „Realismus“, der sich als klinischer Blick der „impassibilité“ organisieren kann und zuletzt mittels der physiologischen Metapher die romantische Empathie, ja die ganze Kultur der „Herzlichkeit“ durchkreuzt und materialisiert.52 Aber die Trägheit oder Bewegungslosigkeit des Herzens und die Geste der coolness sind zum anderen eine Maske oder Rüstung, hinter der sich ein schwarzes Loch des Imaginären, der Halluzinationen, der Kontemplation, abgekoppelt von den äußeren Objekten und der Wirklichkeit, verbirgt, entzieht und schützt: „Cette contemplation était si profonde, que les objets extérieurs avaient disparus.“53
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Mit der anfänglichen Metapher des Nebels, die später Bergson auch immer wieder zur Veranschaulichung der bewegten Masse innerer Bilder heranzieht – „amas nébuleux“ oder „nébulosité“54 – eröffnet also Flaubert die Geschichte Frédéric Moreaus, deren vage, zyklothymische Gestalt55 im Verlauf des Geschehens phantasmagorische Züge annimmt: als antriebslose, „schwache“ Liebesphantasie ohne emphatische Augenblicke und Taten; als undeutliche, kraftlose Vision von Kunst; als politische Geschichte voller verheißungsvoller Hoffnungen, aber auch von Verlautbarungen, die allesamt auf den Barrikaden und im Blutbad, wahrhaft als Holzsprache, als „langue de bois“56, in Rauch und Flammen aufgehen. „Une barricade énorme bouchait la rue du Valois. La fumée qui se balançait à sa crête, s’entr’ouvrit, des hommes couraient dessus en faisant de grands gestes ; ils disparurent, puis la fusillade recommençait. […] Les tambours battaient la charge. Des cris aigus, des hourras de triomphe s’élevaient. Un remous continuel faisait osciller la multitude. Frédéric, pris entre deux masses profondes, ne bougeait pas, fasciné d’ailleurs et s’amusant extrêmement. Les blessés qui tombaient, les morts étendus n’avaient pas l’air de vrais blessés, de vrais morts. Il lui semblait assister à un spectacle.“57 „Eine mächtige Barrikade riegelte die Rue de Valois ab. Der Rauch, der darüber schwebte, teilte sich, Männer liefen mit heftigen Gebärden darauf herum und verschwanden wieder, dann brach das Gewehrfeuer aufs neue los. […] Die Trommeln wirbelten zum Angriff. Gellende schreie, triumphierende Hurrarufe wurden laut. Ein unaufhörliches Wogen brandete durch die Menge. Frédéric sah sich zwischen zwei mächtige Menschenmassen eingekeilt und konnte sich nicht rühren, außerdem war er wie gebannt und fand das Ganze höchst unterhaltend. Die Verwundeten, die hinfielen, und die Toten, die am Boden herumlagen, sahen gar nicht wie richtige Verwundete und wirklich Tote aus. Es kam ihm vor, als wohne er einem Schauspiel bei.“58
„Fasciné“ also, gebannt wie durch einen Zauberspruch, steht Frédéric bewegungslos, gefangen inmitten des Kielwassers („remous“) der vor-
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wärtstreibenden, schwankenden Menschenansammlungen und Trupps, die auf die berghoch aufgetürmte Barrikade („crête“) zustürmen. Er stemmt sich ihrer physischen Wucht entgegen, während die aus der Masse, dem Haufen herausfallenden Details – die Verletzten, die fallen, die Toten, die niedergestreckt sind, „les blessés qui tombaient, les morts étendus“59 – für den unberührbaren, zynisch auftrumpfenden Betrachter phantastische Züge annehmen. Wie bei Baudelaire, wie vor ihm bereits in der beeindruckenden Beschreibung einer aufständischen Menschenmenge in Alessandro Manzonis I Promessi sposi oder auch in Franz Grillparzers Der arme Spielmann60, wird die Menge, die „multitude“, auch hier verglichen mit einer elektrisch aufgeladenen Naturgewalt. Es ist eine Beschreibung, die der Flucht Frédérics und Rosanettes nach Fontainebleau unmittelbar vorausgeht: „De la porte Saint-Denis à la porte Saint-Martin, cela ne faisait qu’un grouillement énorme, une seule masse d’un bleu sombre presque noir. […] Cependant, des nuages s’amoncelaient, le ciel orageux chauffant l’électricité de la multitude, elle tourbillonnait sur elle-même, indécise, avec un large balancement de houle, et l’on sentait dans ses profondeurs une force incalculable, et comme l’énergie d’un élément.“61 „Von der Porte Saint-Denis bis zur Porte Saint-Martin wogte ein unabsehbares Gewimmel, eine einzige zusammenhängende Masse, ein dunkelblauer, fast schwarzer Menschenstrom. […] Am Himmel türmten sich mittlerweile Wolkenberge übereinander, die Gewitterschwüle lud die ohnehin schon hohe elektrische Spannung der Menge noch auf, und sie kreiste wirbelnd um sich selber, unentschieden und richtungslos, weit hinwogend, gleich einer Schlagewelle. Und man spürte in ihren Tiefen eine unberechenbare Kraft, etwas wie die Urgewalt eines Elements.“62
Die enthumanisierte, maßlose Menschenmasse – „das“ machte ein enormes Grollen, „cela ne faisait qu’un grouillement énorme“ – zieht, so zeigt der Pariser Stadtplan, über den Boulevard de Bonne Nouvelle, einen der älteren Grands Boulevards, der schon vor der Haussmanni-
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sierung ein modernes Gesicht der Metropole und die Heraufkunft der „spectacular realities“ zeigte.63 1838 eröffnete hier der Bazar de Bonne-Nouvelle, ein gigantischer, heute längst vergessener Kaufpalast mit über 300 Geschäften, Theater- und Zirkussaal, Restaurant, Grand-Café, einem Markt im Untergeschoss: einer Shopping-Mall, die Emma Bovary angezogen hätte, und deren orientalischer Name von dem Betreiber André-Martin Labbé, einem Eisenhändler, mit Bedacht ausgewählt worden war: „Cependant, il faut des noms spéciaux à certaines choses pour les faire bien comprendre, et comme la langue française n’offre pas une grande variété de ce genre, j’au cru qu’il y aurait de la puérilité à reculer devant des mots qui, après tout, ne sont pas coupables des abus ou des fausses combinaisons auxquelles on a pu les faire servir, et dont la défaveur, si tant est qu’elle soit sérieuse, a trop d’honorables exceptions pour qu’on doive regarder l’emploi de ces mots comme proscrit. C’est donc sous le nom de bazar […], que je persiste à présenter mon projet au public […].“64 „Jedoch benötigt man besondere Namen für bestimmte Dinge, damit sie verständlich sind, und da die französische Sprache keine große Vielfalt dieser Art vorzuweisen hat, dachte ich, dass es kindisch sei, vor diesen Wörtern zurückzuweichen, die schließlich keine Schuld an den Missbräuchen oder den falschen Kombinationen, für die man sie verwendet hat, tragen und deren Ungnade so groß ist, dass sie ernst zu nehmen ist und zu viele ehrenwerte Ausnahmen besitzt, als dass man den Gebrauch eines Wortes als verboten zu betrachten hätte. Ich beharre also darauf, mein Projekt dem Publikum unter dem Namen ‚Basarދ vorzustellen.“65
Der Boulevard seinerseits verdankt seinen Namen der nahe gelegenen Eglise-de-Bonne-Nouvelle (zwischen der Rue de la Lune und der Rue Beauregard), die Mariä Verkündigung geweiht ist und die marianischexotische „apparition“ Marie Arnoux’ in Erinnerung ruft. So setzt die genaue und historisch korrekte Lokalisierung des Volksmarsches sicherlich einen „effet de réel“, einen Realitätseffekt frei, wie er sich ge-
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rade bei dem „Realisten“ Flaubert immer wieder findet.66 Zugleich ist es wohl kein Zufall, wenn der schicksalhafte Aufzug der revolutionären Massen, die den Massakern und dem Brudermord entgegentaumeln, auf einem Streckenabschnitt des Boulevard de Bonne-Nouvelle, des Boulevards der „Guten Nachricht“, festgehalten wird, dessen Name zynisch klingt, wie ein Bonmot Frédérics, den der Aufstand der Massen außerordentlich amüsiert und der Aufruhr der großen Stadt fröhlich stimmt: „L’agitation de la grande ville le rendait gai.“67 Auf diese Weise tut sich auch hier, wie immer wieder im Text, ein Abgrund auf zwischen der blutigen Rohheit des Faktischen und dem verführerischen Synkretismus der aktuellen Moden und Gemeinplätze: Fortschritt, Volk, Orient, Konsum, Gefühl.
Abb. 9: Gravur représentant le Bazar Bonne-Nouvelle
Abb. 10: Cortès, Boulevard Bonne Nouvelle
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Es lohnt sich, noch einmal zurückzukommen auf die Metaphorik der Naturgewalten, die in Schlüsselepisoden des Romans demonstrativ verdichtet wird. Der Spaziergang in Fontainebleau, geplant als wellness-Ausflug, erotische Eskapade und entspanntes Alternativprogramm zu den Barrikadenkämpfen in Paris, gerät zur Phantasmagorie einer zuletzt anorganischen, durch Sintfluten oder Kataklysmen aufgeworfenen Erdmasse. Anfang, Mitte und Ende des Romans werden solcherart augenfällig durch das Wasser bestimmt. Während die Flussmetapher70 in Exposition und Epilog erscheint, dominiert in der Darstellung der Julirevolution, dem zentralen Ereignis des Romans, eine Meeresallegorie, die untermalt wird durch einen elektrisch aufgeladenen Gewitterhimmel, den Sturm, den gewaltigen, unberechenbaren „Seegang“ („houle“) der mobilisierten Masse. Die unberechenbare, wuchtige Bedrohlichkeit dieser Bewegung hat freilich noch eine andere Dimension und wird deshalb, nachgerade geschichtsphilosophisch, zum Spiegelbild der Sommerfrische in Fontainebleau. Harald Nehr hat mit Blick auf die hin- und herschwankende Menschenmenge feinsinnig auf das Wort „remous“ – Wirbel, Kielwasser – („un remous continuel faisait osciller la multitude“) aufmerksam gemacht und liest in der „Abschwächung“ der Vokabel „tourbillon“71 einen Hinweis auf Frédérics halluzinatorischen Zustand. Das ist innerhalb der physikalischen Anordnung insofern interessant, als Frédéric, der Mann aller Schwächen, „l’homme de toutes les faiblesses“72, bewegungslos im Strom der aufgewühlten Masse steht und fast zwangsläufig von ihrer Kraft mitgezogen werden muss. Eine ergänzende Lesart scheint mir angebracht: „Remous“, aus dem Vulgärlateinischen „remolinare“, hieß zunächst „sich wie ein Mühlstein drehen“73 und insistiert so auf der Kreisbewegung eines sprichwörtlich schweren Gegenstandes. In der sechsten Auflage des Dictionnaire de l’Académie française von 1832-183574 wird dem Wort dann als erste Bedeutung die folgende, der Seefahrt entnommene, zugewiesen: „Remous – n.m.T. de Marine: Tournoiement d’eau occasionné par le mouvement d’un navire“. Das Wasser, in der Kielspur eines sich fortbewegenden Schiffes, fließt strudelnd in sich selbst zurück. Metaphorische Erweiterungen, signifikant für die Bewegung der Men-
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ge und der Politik, sind, so als wären sie von Flaubert erfunden: „remous de la foule“, „remous politique“. Wie aufgewühlt also auch immer das Element scheint, das in sich zirkuliert und strudelt („la multitude […] tourbillonnait sur elle-même“): Das Kielwasser eines großen Dampfers ist zuletzt ruhig und sicher; im gleichförmigen Kreisen der Schiffsschraube werden Boote in den Hafen geleitet, so laufen sie nicht „aus dem Ruder“. „Im Kielwasser segeln“, das meint aber auch: nachahmen, nachäffen, kopieren, eine Bedeutung, die im Französischen nicht von „remous“, sondern dem Synonym „sillage“ übernommen wird: „être dans le sillage de […].“ Flaubert, davon ist auszugehen, hat mit Bedacht den Ausdruck „remous“ gewählt, der mit seiner Vorsilbe „re-“ wie das von ihm traktierte Wort „révolution“ den Akzent auf die Wiederholung, den Umschlag in schon Gewesenes oder stets Gleiches legt. Vieles segelt im Kielwasser des großen historischen Augenblicks mit; im „remous de la foule“ werden Menschenmassen und Mitläufer getrieben; deren Affektstruktur – Leichtgläubigkeit, Impulsivität, Besessensein von großen Ideen – Gustave Le Bon 1896 in seiner kulturpessimistischen Abhandlung La psychologie des foules als „Massenseele“ beschreibt, einer Schrift, die sich wesentlich seinen Erinnerungen an die Revolutionen des Jahres 1848 verdankt; im „remous politique“ aber werden auch die großen Ideen und Verheißungen mitgeschleift, deren Pathos in L’Éducation sentimentale das Verdikt der „idée reçue“ trifft – nichts ist in diesem fatalistischen Universum sicherer als die Diktatur des Klischees, die Lawine von Dummheiten, „avalanche de sottises“75. Die „Lehrjahre des Gefühls“ enden mit der Aufrufung eines missglückten Bordellbesuchs des ganz jungen Frédéric und seines Freundes Deslauriers, der noch und noch als Dorfposse von den Jungs, die ins Bordell einen Blumenstrauß mitnehmen, erzählt wird. Wenn mit Hayden White davon auszugehen ist, dass die „historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert“ sich in literarischen Grundgattungen äußerte, so lässt sich die Hybridisierung von Geschichtsschreibung und Fiktionalität beispielhaft an diesem Roman ablesen:
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„Die Satire freilich steht für eine andere Art der Qualifizierung von Hoffnungen, Möglichkeiten und Wahrheiten als jene, die in der Romanze, der Komödie oder der Tragödie vorherrschen. Sie fasst diese Wahrheiten, Möglichkeiten und Hoffnungen ironisch, in einer Atmosphäre, die die Wahrnehmung der definitiven Unzulänglichkeit des Denkens, in der Welt das Glück zu schaffen oder sie völlig zu verstehen, erzwingt. Die Satire beharrt auf der endgültigen Unzulänglichkeit der Weltdeutungen […]. Als Entwicklungsphase eines künstlerischen Stils oder einer literarischen Tradition signalisiert die satirische Darstellung die Überzeugung, daß die Welt altgeworden sei. Wie die Philosophie selbst ‚malt‘ auch die Satire ‚das Grau in Grau‘ (Hegel) im Bewusstsein der eigenen Unangemessenheit als Abbild der Wirklichkeit. Sie bereitet das Denken darauf vor, die ausgreifenden Vorstellungen von der Realität zu erwerfen, und nimmt die Rückkehr zu einer mythischen Wahrnehmung der Dinge und Geschehnisse vorweg.“76
Vorangestellt hat Hayden White einem Buch zur „Poetik der Geschichte“77 eine Sentenz von Gaston Bachelard aus der Studie La Psychanalyse du feu78: „Man kann nur untersuchen, wovon man zuvor geträumt hat“. Nur in dem, was die Maske zugleich verbirgt und entlarvt, nur aus dem Blickwinkel der Doppelbewegung von Imaginärem und Immunisierung erklären sich sowohl das auf Madame Bovary gelegte Arkanum des berühmten Gerüchtes, Flaubert selbst sei Emma gewesen, „Madame Bovary, c’est moi“, als auch der ebenso unverfrorene wie hitzige Titel: L’Éducation sentimentale: Éducation? Sentimentale? Erziehung? Des Herzens? Für den narrativen, prosaischen Ausdruck der Ambiguität und Halluzinatorik des „sentimentalisme“ wählte Flaubert, avant Bergson, den Modus jener durée, neben der die geschichtliche Zeit herläuft. Bei Bergson heißt es: „Quand je suis des yeux, sur le cadran d’une horloge, le mouvement de l’aiguille qui correspond aux oscillations du pendule, je ne mesure pas de la durée, comme on paraît le croire; je me borne à compter des simultanéitiés, ce qui est bien different […] il n’y a jamais qu’une position unique de l’aiguille et du pendule, car des positions passées il ne reste rien. Au-dedans de moi, un pro-
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cessus d’organisation et de penetration mutuelle des faits de conscience se poursuit, qui constitue la durée vraie.“79 „Verfolge ich auf dem Zifferblatt einer Uhr mit den Augen die Bewegung des Zeigers, die den Schwingungen des Pendels entspricht, so messe ich keine Dauer, wie man zu glauben scheint; ich beschränke mich vielmehr darauf, Simultaneitäten zu zählen, was etwas ganz anderes ist […] immer nur eine einzige Lage des Zeigers und des Pendels; von den vergangenen Lagen bleibt ja nichts erhalten. In meinem Innern vollzieht sich dagegen ein Organisations- oder gegenseitiger Durchdringungsprozeß der Bewußtseinsvorgänge, der die wahre Dauer ausmacht.“80
Ganz ähnlich heißt es dann auch 1922 in Rilkes Sonetten an Orpheus: „Und mit kleinen Schritten gehen die Uhren / neben unserm eigentlichen Tag“.81 Und selbst wenn sich die innere Zeit mit der geschichtlichen Zeit vermischen kann, behält sie darum umso mehr den Status der Unbestimmtheit, der verworrenen Vielheiten, multiplicités confuses. Insofern ist schon Flaubert und nicht erst Proust der Schriftsteller, auf den Bergson wartete: ein kühner Schriftsteller, „quelque romancier hardi“, der den geschickt gesponnenen Schleier unseres konventionellen, sozialen Ichs zerreißt und uns unter der scheinbaren Logik eine grundsätzliche Absurdität, „une absurdité fondamentale“ zeigt: eine unendliche Durchdringung mannigfaltiger, nicht benennbarer Eindrücke.82 Eingeschrieben aber ist dieser Unbestimmtheit schon bei Flaubert die Schwermut. Vor der letzten Begegnung mit Madame Arnoux, bevor der Roman dann endet und die sentimentale Geschichte in der Erzählung des ersten peinlichen Bordellbesuchs resümiert und vom gossip tradiert wird, erscheint noch einmal das Flussbild des Anfangs: „Il voyagea. Il connut la mélancolie des paquebots, les froids réveils sous la tente, l’étourdissement des paysages et des ruines, l’amertume des sympathies interrompues. Il revint.“83
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„Er ging auf Reisen. Nun lernte er die Schwermut der Dampfboote kennen, das fröstelnde Erwachen unter Zelten, das verwirrende und ermüdende Einerlei der Landschaften und Ruinen, die Bitternis jäh zerrissener Freundschaften. Er kam zurück.“84
Diese berühmte Stelle ist der Ort eines narrativen und typographischen Vakuums, das fünfzehn Jahre aufsaugt und eingelassen ist in das Flussbild und den Fluss der Zeit. Das panta rhei der Moderne aber ist ganz und gar melancholisch und strebt imaginär der Vergangenheit zu, auch dort, wo, wie 1925 in F. Scott Fitzgeralds The Great Gatsby, die Illusion der Vorwärtsbewegung metaphorisch noch evoziert wird: „So we beat on, boats against the current, borne back ceaselessly into the past.“85 Bei Flaubert umhüllt der Fluss eine Blase, einen typographischen und imaginären Durchschuss. Es handelt sich um jenes „blanc“, das Marcel Proust als Ausdruck einer revolutionären Temporalität des Erzählens benannt hat und das ihn erinnert an eine ausgeräumte Wohnung. Und diese hatte es ja tatsächlich gegeben, bevor die Schiffsfahrt wieder begann: Denn die Besitztümer der Arnoux’ waren verpfändet worden, mitsamt allen Kleidern Maries, am Tag vor dem Staatsstreich 1852, der lapidar, kalendarisch benannt wird als „folgender Tag“, „lendemain“. Ihm gegenüber, der wie ein zu vernachlässigendes historisches Datum erscheint, tut sich die Wohnung als riesiger gespenstischer Ort auf: ein Chronotopos der Leere. Die Herzgeschichte, immer wieder und wieder ausgestellt als Trivialität, als Klischee, wird mit den Kleidungsstücken veräußert, „c’étaient comme des parties de son cœur qui s’en allaient avec ces choses“86; sie taucht ab in ein „Weiß“, das die Materialität, ja zuletzt die ganze Wirklichkeit aufsaugt und der Reinheit des livre sur rien, Flauberts peinigendem Ideal des Buches über Nichts, zuarbeitet. Wirft man dann, von diesem Ende der Lehrjahre des Herzens, noch einmal einen Blick auf die große politische Illusion, die Revolution, mit der Flaubert abrechnet, indem er sie seinen Helden im stand-by erleben lässt, so lässt sich Folgendes festhalten: Wenn die sentimentale
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Dorfposse des Bordellbesuchs als Klatsch noch den ganzen Roman überdauert und dieses Erlebnis Frédéric und Deslaurier in der Erinnerung als highlight ihres verflossenen Lebens erscheint, dann sind sie beide, und ist die Geschichte, alt geworden. Als unablässige Wiederholung von Gewalt, Schwäche und Lächerlichkeit wird sie aus höchster Höhe beobachtet, aus der Perspektive des Erzählers, der wie Gott in seinem Universum waltet, überall präsent und nirgends sichtbar.87 Es ist der Blick eines gnadenlosen Erzählers, der die turbulente Geschichte der Menschen als nichtige Oberfläche eines kosmischen Geschehens stellarer und elementarer Kreisbewegungen geringschätzt. Auf die kostümierten Revolutionen und den Napoleon-Epigonen antwortet Flaubert kalkuliert mit der Kopie des Brudermords, den der kalte Sénécal versehentlich an dem sanften Dussardier verübt. Er kommt von weit her und ist die Einlösung seiner Geschichtsvision. Diese schließt Antike und Moderne kurz in einer andauernden, verheerenden Gegenwart. So stellt sie Bewegung und Fortschritt still, die, selbst schon Gemeinplätze des 19. Jahrhunderts, im recycling überdauern und im somnambulen stand-by des Protagonisten ihren Anwendungsmodus finden. L’Éducation sentimentale ist ein zeitphilosophischer Roman, das Ende der großen Erzählungen. Der satirische Ton, der dem Roman unterlegt ist und der ihn beschließt, erscheint nicht zuletzt als Resonanz auf den Achtzehnte(n) Brumaire des Louis Bonaparte, wie Karl Marx ihn sah, eine Zeit kalter Träume, ebenso arm an Helden wie an Ereignissen: „Hegel bemerkte einmal irgendwo, dass alle großen weltgeschichtlichen Tatsachen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat vergessen hinzuzufügen: das erste Mal als große Tragödie, das andere Mal als lumpige Farce.“88
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ANMERKUNGEN 1
Abbildung in: Jean de la Varende: Gustave Flaubert in Selbstzeugnissen und Dokumenten, hg. von Kurt Kusenberg, Hamburg 1958, 113.
2
Gustave Flaubert: L’Éducation sentimentale, in: ders., Œuvres, édition établie et annotée par Albert Thibaudet et René Dumesnil, Bd. 2, Paris 1952, 318.
3
Flaubert: Lehrjahre des Herzens. Vollständige Ausgabe, ins Deutsche
4
Flaubert an Mademoiselle Leroyer de Chantepie, Brief vom 6. Oktober
übers. von Walter Widmer, München 1957, 377. 1864, in: Flaubert, Correspondance, édition établie, présentée et annotée par Jean Bruneau, , janvier 1859 – décembre 1868, Bd. 3, Paris 1991, 409. 5
Siehe neben Westerwelle: Ästhetisches Interesse und nervöse Krankheit auch Harald Nehr: Das sentimentalische Objekt. Zur Kritik der Romantik in Flauberts „Éducation sentimentale“, Heidelberg 2007, 52.
6
Flaubert: L’Éducation sentimentale, 449.
7
Martin von Koppenfels: Immune Erzähler. Flaubert und die Affektpolitik des modernen Romans, München 2007; vgl. auch grundlegend zum Status des Subjekts: Jörg Dünne: Asketisches Schreiben. Rousseau und Flaubert als Paradigmen literarischer Schreibpraxis in der Moderne, Tübingen 2003.
8
Eugène Duclerc (Hg.): Dictionnaire politique. Encyclopédie du langage et de la science politiques, Paris 71868, zit. in Koselleck: Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M. 1989, 70; vgl. auch ders./Brunner/Conze (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, Stuttgart 1984, 86; zumindest findet sich in Flauberts Bibliothek ein mit Anmerkungen versehenes Buch von JeanBarthélemy Hauréau: De la philosophie scolastique, Paris 1850, 2 Bde., dazu URL: http://www.univ-rouen.fr/flaubert vom 01.11.2011; Yvan Leclerc (Hg.): La Bibliothèque de Flaubert, Rouen 2001.
9
Byung-Chul Han: Duft der Zeit. Ein philosophischer Essay zur Kunst des Verweilens, Bielefeld 2009, 19ff.
10 Vgl. dazu Walburga Hülk: „Zerscherbtes Paktum – La tête sur le plat. Über einige Bruchstücke bei Kleist und Flaubert“, in: Arlette Camion et al. (Hg.), Über das Fragment – Du fragment, Heidelberg 1998, 38-55.
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11 Georges Cuvier: Discours sur les Révolutions de la surface du Globe, et sur les changemens qu'elles ont produits dans le règne animal, Paris 1825 (deutsch: CuvierҲs Ansichten von der Urwelt, Bonn 1822; Die Umwälzungen der Erdrinde in naturwissenschaftlicher und geschichtlicher Beziehung, 2 Bde., Bonn 21830). 12 Vgl. Hayden White: Metahistory. Die literarische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert, ins Deutsche übers. von Hans-Peter Kohlhaas, Frankfurt a. M. 1991, 340 (Originalausgabe: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth-Century Europe, Baltimore/London 1973). 13 Dazu grundlegend Maurice Agulhon: Les Quarante-Huitards, Paris 1975. 14 Flaubert: Correspondance, Bd. 3, 484. 15 Barbara Vinken: Flaubert. Durchkreuzte Moderne, Frankfurt a. M. 2009, 227-349. Vgl. zum Geschichtsbild bereits grundlegend Joseph Jurt: „Die Wertung der Geschichte in Flauberts Éducation sentimentale“, in: RZLG/CHLR, 7 (1983), 141-167. 16 Vgl. zum Thema 1848 un zum Mythos des „peuple“ auch Hülk: „Populäre Identitätsbildung 1848 – Les mystères du peuple“, in: lendemains, Zeitschrift für Frankreichforschung und Französischstudium, 28 („Die Revolution von 1848 und die Literatur“), 7. Jg. (1982), 38-44. 17 Zum Romanende: s. Hülk: „Gustave Flaubert, Madame Bovary (1857) und L’Éducation sentimentale (1869)“, in: Friedrich Wolfzettel (Hg.), 19. Jahrhundert. Roman (Französische Literatur, hg. von Henning Krauß), Tübingen 1999, 219-244; s. eine detaillierte Diagnose des „Blumenstraußes im Bordell“ in: Nehr: Das sentimentalische Objekt, 31-44. 18 Der folgende Passus zur Exposition findet sich teilweise in Hülk: „L’Éducation sentimentale und kein Ende: Flaubert und Bergson“, in: Wolfram Aichinger/Jörg Türschmann (Hg.), Das Ricœur-Experiment. Mimesis der Zeit in Literatur und Film, Tübingen 2009, 187-196. 19 Zum „tourbillon“ als Denkfigur um 1900 vgl. Gerhard Neumann: „‚Tourbillonދ. Wahrnehmungskrise und Poetologie bei Hofmannsthal und Valéry“, in: Etudes Germaniques 53 (1998), Nr. 2, 397-424; Rainer Warning: „Der Chronotopos Paris bei den ‚Realisten“ދ, in: ders., Die Phantasie der
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Realisten, München 1999, 305; vgl. auch allg.: Georges Poulet: Les Métamorphoses du cercle, Paris 1961. 20 Michail Bachtin: Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a. M. 1989, 7f. 21 Vgl. Jurt: „Die Wertung der Geschichte in Flauberts Éducation sentimentale“, a.a.O. sowie grundlegend Pierre Bourdieu: Les Règles de l’art, Paris 1992. 22 Alle Bilder vgl. Flaubert: L’Éducation sentimentale, 36f. 23 Vgl. Warning: „Der Chronotopos Paris bei den ‚Realisten“ދ, a.a.O., 301.G 24 Dazu von Koppenfels: Immune Erzähler, 126, 139ff. Das ist eine insgesamt unschlagbare Einschätzung, die aus meiner Sicht jedoch weniger zutrifft für das Argument der Synchronisation von blutiger Niederschlagung der Revolution und Frédérics und Rosanettes „Urlaub“ in Fontainebleau, vgl. ebd. Für diese Simultanszene stimmt die Einschätzung deshalb nicht, weil dieser Ausflug als gewollte Flucht vor dem Pariser Chaos angelegt ist. 25 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 451. 26 Ebd., 33. 27 Claude Duchet: „Roman et objets, l’exemple de Madame Bovary“ދ, in: ’ ders. et al. (Hg.), Travail de Flaubert, Paris 1983, 11-43. 28 Baudelaire: „M. Gustave Flaubert. Madame Bovary“, in: L’Artiste, 8. Oktober 1857, abgedruckt in: ders., Œuvres, Bd. 2, 76-86. 29 Bachtin: Formen der Zeit im Roman, 98; vgl. auch: Elisabeth Schilling: Die Zukunft der Zeit. Vergleich von Zeitvorstellungen in Russland und Deutschland im Zeichen der Globalisierung, Aachen 2005. 30 Die Bilder finden sich später wieder in der Massenpsychologie, zuerst bei Gustave le Bon: Psychologie des foules (1896), bei Gabriel Tarde: Écrits de psychologie sociale (1898), bei Sigmund Freud: Massenpsychologie und Ich-Analyse (1921) und Elias Canetti: Masse und Macht (1960). 31 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 315; vgl. dazu auch Nehr: Das sentimentalische Objekt, 301. 32 Flaubert: Lehrjahre des Herzens, 372.
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33 Gerhard Gamm: Flucht aus der Kategorie Die Positivierung des Unbestimmten als Ausgang der Moderne, Frankfurt a. M. 1994. Ders.: Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt a. M. 2000. 34 Gianni Vattimo/Pier Aldo Rovatti (Hg.): Il pensiero debole, Mailand 1983. 35 Bachtin: Formen der Zeit im Roman, 198. 36 Paul Ricœur: Temps et récit, Bd. 2: La configuration dans le récit de fiction, Paris (1984) 1991, 227. 37 Flaubert an Mademoiselle Leroyer de Chantepie, a.a.O., 409. 38 Georg Lukács: Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied 1971, 107, dazu auch das Vorwort von Lukács (1962), 5-17. 39 Von Koppenfels spricht hier von „Fehllektüre“, vgl. ders., Immune Erzähler, 131ff. und sieht, ohne Bergson zu nennen, „lebensphilosophische Wasserspiele“, ebd., 132. 40 Henri Bergson: Durée et simultanéité. À propos de la théorie d’Einstein, Paris (1922), 71968. Dieses Buch ist meines Wissens nicht vollständig übersetzt worden. 41 Gilles Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, ins Deutsche übers. von Martin Weinmann, Hamburg 32001, 54. 42 Lukács: Die Theorie des Romans, zit. Ausg., 111; dazu Hülk: „Zerscherbtes Paktum“, a.a.O. 43 Abbildung in: Schneede: Umberto Boccioni, 91. 44 Zur Schiffsmetapher in diesem Zusammenhang s. auch Ernst Peter Fischer: Einstein für die Westentasche, München/Zürich 2005, 37f. 45 Bergson: Durée et simultanéité, 47. 46 Deleuze: Henri Bergson zur Einführung, 104. 47 Vgl. dazu Bergson: Essai sur les données immédiates de la conscience, Paris 1927, 79, 95. In der Folge abgekürzt mit Essai. 48 Gerade auf dem Höhepunkt der Geschehnisse, der Julirevolution und des Spaziergangs in Fontainebleau häufen sich diese unbestimmten Zeitangaben. 49 Bergson: Essai, 9, 96, 94, 95, 102.
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50 Bergson: Zeit und Freiheit, Meisenheim am Glan 1949, o. A. d. Übers., 107f., 105f., 114. 51 Von Koppenfels: Immune Erzähler, 11, 16. 52 Jan Assmann, „Zur Geschichte des Herzens im Alten Ägypten“, in ders. (Hg.), Die Erfindung des inneren Menschen. Studien zur religiösen Anthropologie, Gütersloh 1993, 81-113, zur literarischen Tradition der „Herzlichkeit“ s. Hülk: „Leibgericht. Herzstücke für eine Anthropologie in den Literaturwissenschaften“, in: Romanische Forschungen, H.1 (1999), 1-20. 53 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 132. Auch Frédéric, ganz wie Emma Bovary, hat hier, zu Beginn des zweiten Romanteils, seine Kutschenszene. Die „diligence“, die in Flauberts Romanen zum abgeschotteten Innenraum schlechthin wird, bringt den Träumenden von Nogent-sur-Seine nach Paris, von Louise, der Jugendfreundin, zur Stadt, in der sich die Frauenbilder in seinem Inneren verwirren, vgl. ebd. 133: „Madame Arnoux, sa mère, tout se confondait“. 54 Bergson: Matière et mémoire. Essai sur la relation du corps à l’esprit, Paris 1896, 184, 148. 55 Yvan Leclerc: Gustave Flaubert. L’Éducation sentimentale, Paris 1997, 47. 56 Zu Flauberts Klischees gibt es eine Fülle von Literatur. Hier einige grundlegende Studien: Anne Herschberg-Pierrot: „Problématique du cliché. Sur Flaubert“, in: Poétique, 11 (1980), 334-345; Frank Leinen: Flaubert und der Gemeinplatz. Erscheinungsformen der Stereotypie im Werk Gustave Flauberts, Frankfurt a. M. 1990; Ulrich Schulz-Buschhaus: Flaubert. Die Rhetorik des Schweigens und die Poetik des Zitats, Münster 1995; Laurent Adert: Les mots des autres. Lieu commun et création romanesque dans les œuvres de Gustave Flaubert, Nathalie Sarraute et Robert Pinget, Genf 1996; Christian von Tschilschke: Epen des Trivialen. N.V. Gogols „Die toten Seelen“ und G. Flauberts „Bouvard und Pécuchet“. Ein struktureller und thematischer Vergleich, Heidelberg 1996. Zur „langue de bois“ s. Hülk: „Politiksprache zwischen Information, ‚langue de bois ދund Fachsprache oder: ‚Fische im Eimer“ދ, in: Claudia Frevel et al. (Hg.), Gli uomini si legano per la lengua. Festschrift für Werner Forner, Stuttgart 2011, 49-63.
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57 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 317; zu den Revolutionsschilderungen s. Nehr: Das sentimentalische Objekt, 303, der bemerkt, dass Flaubert die Revolutionsszenarien von Marie d’Agoult alias Daniel Stern z.T. übernimmt oder variiert. 58 Flaubert: Lehrjahre des Herzens, 376f. 59 Ders.: L’Éducation sentimentale, 318. 60 Zur aufständischen Menge vgl. das zwölfte Kapitel aus: Alessandro Manzoni: Die Verlobten. Eine Mailändische Geschichte aus dem siebzehnten Jahrhundert, entdeckt und neu gestaltet von A. M., mit den Illustrationen der Ausgabe von 1840, ins Deutsche übers. von Ernst Wiegand Junker, München o.J.; zu Grillparzers Evozierung einer friedlichen Menge am Kirchweihtag, „Der arme Spielmann“, in: Sämtliche Werke, Ausgewählte Briefe, Gespräche, Bericht, Bd. 3, hg. von Peter Frank und Karl Pörnbacher, München, München 1964, 148: „Eine wogende Menge erfüllt die Straßen. Geräusch von Fußtritten, Gemurmel von Sprechenden, das hier und da ein lauter Ausruf durchzuckt. […]. Aber die Donaubrücke bietet neue Schwierigkeiten, […] auch hier siegreich ziehen endlich zwei Ströme, die alte Donau und die geschwollnere Woge des Volks, […] der Strom des Volkes, der Eindämmung der Brücke entnommen, ein weiter, tosender See, sich ergießend in alles deckender Überschwemmung.“ Dazu: Angelika Wellmann: Der Spaziergang. Stationen eines poetischen Codes, Würzburg 2001, 145. 61 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 350. 62 Flaubert: Lehrjahre des Herzens, 419. 63 Vgl. Schwartz: Spectacular Realities. 64 Luc Marco: „Un grand magasin oublié, le Bazar Bonne-Nouvelle“, in: Histoire d’entreprises, Nr. 47, 9. Juli 2009, URL: http://www.histoireentreprises.fr/he-le-magazine/un-grand-magasin vom 01.11.2011; der Bazar Bonne-Nouvelle erscheint in Balzacs Scènes de la vie élégante und bei Jacques Offenbach; die Métro-Station „Bonne-Nouvelle“ erhält zum 100jährigen Jubiläum eine Plakette, die dem berühmten Hollywood-Schriftzug nachgebildet ist, s. dazu Hülk: „Le Beau est toujours bizarre“, a.a.O. 65 Aus dem Französischen ins Deutsche übers. von Wolfgang Ristow.
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66 Barthes: „L’Effet de réel“, in: Communications, Nr. 11 (1968), 84-89. 67 Flaubert: L’Éducation sentmentale, 314. 68 Abbildung in: Marco: „Un grand magasin oublié, le Bazar Bonne-Nouvelle“, siehe URL: http://www.histoire-entreprises.fr/wp-content/uploads/ 2009/10/bazar_article.jpg vom 01.11.2011. 69 Abbildung in: Nicole Verdier: Edouard Cortès. Catalogue raisonné de l’œuvre peint, Bd. 1, Paris 2002, 197. 70 Von Koppenfels: Immune Erzähler, 131. 71 Nehr: Das sentimentalische Objekt, 303. 72 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 330. 73 Henri Dauzat/Jean Dubois/Henri Mitterrand: Larousse étymologique et historique, Paris 1971, 641. 74 Vgl. Dictionnaire de l’Académie française, 6e édition, 1835, 2615, version informatisée sous la dir. de R. Wooldridge/I. Leroy-Turcan, ARTFL Project, University of Chicago 2001, URL: http://dictionnaires.atilf.fr/diction naires/ACADEMIE/SIXIEME/sixieme.fr.html vom 16.01.2012. 75 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 340. 76 White: Metahistory, 24. 77 Ebd., 15ff. 78 Gaston Bachelard: La Psychanalyse du feu, Paris 1949, 44: „On ne peut étudier que ce quތon a d'abord rêvé. La science se forme plutôt sur une rêverie que sur une expérience et il faut bien des expériences pour effacer les brumes du songe.“ 79 Bergson: Essai, 80. 80 Bergson: Zeit und Freiheit, 91. 81 Rilke: „Sonette an Orpheus“, a.a.O., 494. Bernhard Braun hat mir dieses Gedicht wieder in Erinnerung gerufen. 82 Vgl. Bergson: Essai, 99; ders.: Zeit und Freiheit, 111. 83 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 448. 84 Flaubert: Lehrjahre des Herzens, 542. 85 F. Scott Fitzgerald: The Great Gatsby, London 1930, 188. 86 Flaubert: L’Éducation sentimentale, 444.
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87 Vgl. den berühmten Brief an Louise Colet, 9. Dezember 1852, in dem Flaubert, im Rahmen einer Kritik am Pathos des im selben Jahr erschienenen Romans von Harriet Beecher-Stowe, Uncle Tom’s Cabin, dieses poetologische Credo äußert: „L’auteur, dans son œuvre, doit être comme Dieu dans l’univers, présent partout, et visible nulle part.“, in: Flaubert: Correspondance, Bd. 2, Paris 1980, 204. 88 Karl Marx: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“ (1852), in: ders./Friedrich Engels, Werke, Bd. 8, Berlin/DDR 1960, 111-207, hier 115.
III. T AINE : W ISSEN
UND
T RAUM
IN DER
M ODERNE
Form und Bewegung der Einbildungskraft
1
Abb. 11: Hippolyte Taine mit Katze, vor 1893
L’instantané du mouvement, la fureur du vol […] cette fougue et cette vérité2 Das Augenblickliche der Bewegung, die Wut des Fluges, erfasst von diesem Feuer und dieser Wahrheit3
Hippolyte Taine (1828-1893) ist in der aktuellen intellektuellen Szene nicht präsent; in den Pariser Buchhandlungen findet man weder seine Werke noch aktuelle Studien, selbst die Bibliothèque Nationale de France führt nur vereinzelte neuere Titel über ihn.4 Das verwundert angesichts seiner Karriere und Wirkung, und es ist zu vermuten, dass es nicht so bleiben wird. Taine war ein Zeitgenosse Baudelaires und Flauberts, ein Wissenschaftsstar, ein Académicien und ebenso ein Querdenker seiner Epoche und der akademischen Fächerordnung. Er stammte aus einer Tuchmacherfamilie in den Ardennen, war Philosoph seit der
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frühen Bildung, lauréat der ENS, Psychologe, Literaturhistoriker, Kunstreisender und -kritiker sowie Professor an der École des BeauxArts und nicht zuletzt Romanfigur. Der transversale Blick auf die Vielfalt des Lebens ermöglichte kulturphilosophische Studien, die ganze Zeiträume und kollektive Mentalitäten ebenso bedachten wie individuelle Äußerungen und Zeugnisse, die sich hervorhoben aus Alltäglichkeit und Anonymität. 1853 legte er zwei Doktorarbeiten vor und war erfolgreich mit seinen Essais sur les fables de La Fontaine. Seine Dissertation in lateinischer Sprache über Platons Philosophie, De personis platonicis, wurde hingegen als lizenziös und spekulativ zurückgewiesen, und sie ist heute nur noch bruchstückhaft zu lesen als Les jeunes gens de Platon.5 Und es verwundert kaum, dass diese Arbeit nicht gefiel: Die Huldigung nämlich an Platon, der bereits alles gesagt habe, „qui a tout dit“6, und an die Poesie der antiken Philosophie steht im Zeichen des modernen Dekadenzbewusstseins, „ce monde [est] fort triste, parce qu’il est fort civilisé“7, und mündet in einen gewagten Vergleich von zwei Arten der Philosophie – eine davon sollten die philosophischen Lehrer durchaus auf sich beziehen: „On est étonné de trouver la philosophie si peu pédante et si naturelle. On ne lui a point vu ailleurs cette malice spirituelle ni ces grâces simples. On conaissait une vieille ridée, habitante des bibliothèques, les yeux attachés sur des in-folio jaunis. La voilà jeune, souriante, une couronne sur la tête, au bord de l’Ilissus.“8 „Man ist erstaunt, die Philosophie so wenig pedantisch und so natürlich zu finden. Sonst nirgends hat man an ihr diese geistige Bosheit und diese einfache Anmut gefunden. Man kannte eine alte, faltenreiche Bewohnerin der Bibliotheken, deren Augen auf die vergilbten Folianten geheftet waren. Dort ist sie jung, lachend, mit einem Kranz auf dem Kopfe, am Ufer des Ilissos.“9
Die und und und
Ausführungen Taines sind ein Lob der griechischen Philosophie eine bildreiche Schelte der traditionsreichen, aber auch papiernen runzligen französischen Philosophie, die in Bibliotheken wohnt dort alt geworden ist. Die Überlegungen präsentieren sich frisch
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und ironisch und demonstrieren eine interessante Position insofern, als sie gegen das im europäischen 19. Jahrhundert „dominierende Idiom [...] von Zivilisation und Zivilisierung“10 gewendet sind und übrigens auch, in einem standhaften a-religiösen Gestus, gegen die Diskurshoheit der katholischen Kirche und die Dominanz der spiritualistischen Philosophie.11 Sie stehen aber auch unübersehbar in einer französischen Denklinie, die heute unter Stereotypie-Verdacht steht. Namentlich Taines historiographische und kunstphilosophische Texte führen jene Idee der Klassifizierung von unterschiedlichen Temperamenten des Nordens und des Südens aus, wie sie sich zunächst bei Montesquieu, sodann bei Madame de Staël und in der sogenannten Völkerkunde oder -psychologie findet.12 Zugleich ist Taine derjenige, der den Abgrund zwischen den sich gerade akademisch ausdifferenzierenden Natur- und Geisteswissenschaften gar nicht erst in sein Denken einbezog und einen Dialog der „two cultures“13 immer praktizierte. Über sein Verhältnis zur Lyrik ist wenig bekannt; umso mehr wurde er haftbar gemacht für falsch verstandene Positionen oder auch materialistische Gemeinplätze des prosaisch agierenden Realismus und Naturalismus, namentlich für eine vom Glauben an die determinierenden Kategorien „race“, „milieu“, „moment“ geprägte Menschen- und Weltsicht und eine daraus resultierende Themenwahl und Epik. In der Tat prägte Taine diese Begriffe und entfaltete sie 1864 in der Einleitung seiner Histoire de la littérature anglaise. Aber diese Begriffskonstruktion war zunächst einmal der Versuch, diffuse Begriffe der Romantik – wie Gefühl oder Genie – in einen systematischen Zusammenhang zu bringen, überhaupt, in antimetaphysischer Absicht, ein System zu denken. Der seit dem Mittelalter in der Romania geläufige Begriff der „race“, der zunächst genealogisch, seit Buffon naturgeschichtlich ausgerichtet war, unterlag im 19. Jahrhundert in Frankreich einer Begriffsverwirrung im Spannungsfeld von Naturgeschichte, Anthropologie und Zivilisationsgeschichte und nahm von hier aus seinen verhängnisvollen Verlauf. Taine fasste „race“ als primitiven Kern, als unterste Schicht einer komplexen psychischen Verfasstheit und Mentalität, die sich durch lang andauernde Umwelteinflüsse entwickeln und zuletzt herausbilden durch
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die im eigentlichen Sinne historischen Dimensionen von „milieu“ und „moment“, ohne die sie gar nicht denkbar sind.14 Das scheint, bedingt durch den Wortgebrauch, in gefährliche Nähe der rassistischen Konstruktionen zu rücken, die der Zeitgenosse Arthur de Gobineau entwickelte: die völkische Codierung und Behauptung einer somatisch und hereditär bedingten, später genetisch begründeten Ungleichheit und Hierarchie von Völkern, von Blüte- und Verfallszeiten, die Kategorie der Varietät als Legitimation von Herrschaft und Vernichtung.15 Es ist wichtig zu betonen, dass diese Tendenzen Taine ganz fremd waren, dass sie im Übrigen auch zu überprüfen sind für seinen heute vielfach gerügten Lehrer Ernest Renan, der mit dem Wort „race“ keine biologistische Kategorie benannte, sondern eine religiöse und vor allem linguistische.16 Taine interessierte hingegen die offensichtliche Mannigfaltigkeit von Temperamenten, Mentalitäten, Arbeits- und Verhaltensweisen, die sich für ihn in der Unterschiedlichkeit und Verdichtung des künstlerischen Ausdrucks niederschlug, wie er sie bei der Betrachtung der italienischen und holländischen Malerei, der Lektüre griechischer, lateinischer, englischer, französischer Literatur wahrnahm, also bei dem, was ihn im Innersten bewegte und was im Idealfall beispielhaft die Diversität der Natur, ein vollständiges Bild der Welt, eine Physiologie, eine Geschichte, eine Psychologie zur Anschauung bringt. „L’infinie diversité de la nature“, heißt es über Tizian, „lui est ouverte. [...] le spectateur trouve chez lui [...] une image complète du monde, une physiologie, une histoire, une psychologie raccourcies.“17 Was er unter „race“ im Sinne des mentalen Charakters einer Epoche oder eines Volkes verstand, führte er zurück auf Geographie und Klima, auf das Licht des Meeres und des Himmels im Süden und im Norden, auf eine prägende, zeiträumliche longue durée, wie sie sich bei dem von ihm verehrten Hegel, bei Herder und dann bei Fernand Braudel, in der „Schule“ der Annales, wiederfindet. So heißt es bei Fernand Braudel:
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„L’homme est prisonnier, des siècles durant, de climats, de végétations, de populations animales, de cultures, d’un équilibre lentement construit, dont il ne peut s’écarter sans risquer de remettre tout en cause. Voyez la place de la transhumance dans la vie montagnarde, la permanence de certains secteurs de vie maritime, enracinés en tels points privilégiés des articulations littorales, voyez la durable implantation des villes, la persistence des routes et des trafics, la fixité surprenante du cadre géographique des civilisations.“18 „Jahrhundertelang ist der Mensch der Gefangene des Klimas, der Vegetation, der Tierwelt, der Bodennutzung, kurzum, eines im Lauf der Zeit langsam aufgebauten Gleichgewichts, aus dem er sich nicht lösen kann, ohne womöglich alles zu gefährden. Man nehme nur einmal die Bedeutung der Transhumanz für das Leben in den Bergen, die Dauerhaftigkeit bestimmter Lebensbereiche der Küstenregionen oder die Standorttreue der Städte und der Straßen und damit auch des Verkehrs, kurzum, die erstaunliche Festigkeit des geographischen Rahmens der Kulturen.“19
Auch wenn es zwingend ist, heute und generell Kritik zu üben an Stereotypen, die Menschenbilder formatieren und konstruieren, wird man vielen Beobachtungen Taines zustimmen können. Rassistisch waren seine Äußerungen zu Mentalitäten, die sich in langer Dauer entwickelt haben, jedenfalls nicht; man könnte geneigt sein, sie komparatistisch20 oder sogar ökologisch21 zu nennen. Niemals hätte er selbst die allgemeinen Determinanten oder besser Dispositive jedoch als hinreichende Faktoren des menschlichen Handelns, Denkens und Empfindens angesehen. Zu reizvoll und staunenswert waren für ihn das Rätsel und die Kraft des individuellen Imaginären und Willens, als dass er ihnen eine allzu einfache Kausalität und Evidenz unterstellt hätte. Wahr ist freilich, dass nur selten Elend und Schmutz des Lebens oder Schwächen der Menschen, wie sie vor allem der literarische Naturalismus ausstellte und pflegte, der Gegenstand seines Interesses und seines Strebens nach Wissen waren. Vielmehr hielt er fest an einem heroischen Ideal und dem Glauben an die Kraft geistiger Freiheit, der sich die künstlerische Bohème, „dans une mansarde du Quartier Latin“22, trotz ihrer
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Armut heroisch verpflichtet hatte; und er suchte nach Impulsen, welche die Dekadenz, die Krisen und Verluste, die der Fortschritt mit sich brachte, korrigieren, ja heilen könnten. So kam es auch, dass Émile Zola die Großzügigkeit der Kunstkritik Taines und die Kraft seiner Methode verehrte und rühmte, ja einen der vielzitierten Sätze seinem düsteren Roman Thérèse Raquin überschrieb, dass aber diese Wertschätzung nicht in gleicher Weise erwidert wurde. Taine nämlich gab zu erkennen, dass er zwar die Wucht der Geschichte bewunderte, sich aber vor der Titelheldin fürchtete.23 Taine reiste wie die meisten Modernen nach Holland, Griechenland und nach Italien, und er bewunderte, wie er in den 1860er Jahren, in Voyage en Italie und Philosophie de l’art schrieb, die Malerei der Renaissance und sodann des Manierismus, vor allem Tintorettos, und dies tat er ebenso wie die Helden Stendhals und Stendhal selbst, die Italien verfallen waren. Und die längst mythischen Figuren der Frühen Neuzeit faszinierten ihn, weil sie die virtù lebendig hielten, weil sie heraustraten aus der Allgemeinheit und geistige wie körperliche Energie und Bewegung als Grundelemente menschlicher Einbildungs- und Schöpferkraft und als Herausforderung für die Gestaltung künstlerischer Formen aufboten. Müßig ist es, Taine einzelne Fehler nachzuweisen in der Beurteilung des einen oder anderen Kunstwerks und daraus den Schluss abzuleiten, seine gesamte Kunstanschauung sei zu vernachlässigen.24 Er bewahrte sich, entgegen der von ihm gescholtenen französischen Denkrichtungen und jenseits des Pedantentums so vieler Kollegen, die Intuition des Dilettanten, deren Wahrheit und Wirkung nicht unterschätzt werden können. Man weiß, dass Le Corbusier, als er Italien bereiste, Voyage en Italie im Gepäck hatte und sich als begeisterter Leser des inspirierenden Reisetagebuchs äußerte.25 Taine arbeitete an einer Methode, um seine Gegenstände und die Phänomene klarer erforschen und erkennen zu können, und die Strenge, die er seiner Beobachtung und Gedankenführung zu geben suchte, änderte nichts daran, dass sich die Bewunderung für einzelne Künstler und Werke in seinen Texten niederschlägt und immer wieder ein erzählender Rhythmus oder
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metaphorischer Gestus entsteht, wie er häufig auch in bahnbrechenden wissenschaftlichen Werken zu beobachten ist. Und diese Mischung, die ihn zunächst in die Nähe Leopold von Rankes und Jacob Burckhardts rückt26, rechtfertigte er – ein Jahrhundert vor Hayden Whites Geschichtspoetik und Hans Blumenbergs Philosophie der „Unbegrifflichkeit“ – indem er der wissenschaftlichen und historiographischen Narration und der Literatur selbst immer wieder erkenntnisstiftenden Charakter, ihnen jenseits von Experimenten und Formeln eine eigene Wahrheit zuerkannte und äußerte, nur ein großer Schriftsteller könne ein guter Historiker sein: „Nous ne pouvons la fixer dans une formule exacte ou approximative, nous ne pouvons avoir et donner, à propos d’elle, qu’une impression littéraire [...] Ces vérités sont littéraires […]. Pour être historien, il faut être grand écrivain.“27 Hippolyte Taine wurde im deutschsprachigen Raum von Friedrich Nietzsche „entdeckt“, dem er 1886 nach dem Erscheinen von Jenseits von Gut und Böse einen zustimmenden Brief geschrieben hatte; Stefan Zweig wurde 1904 in Wien promoviert mit einer Arbeit, die den Titel trug: Die Philosophie des Hippolyte Taine. Diese doppelte Rezeption ist aufschlussreich: Denn zum einen kann Taine fortan, mit Nietzsche und sodann Aby Warburg, als einer der „Erfinder“ einer Post-Winckelmannschތen Antike gelten, die gegen die Vereinnahmung der Griechen durch die französischen Klassizisten gewendet ist und stattdessen, im Namen Platons und als Alternative zur ermüdenden Moderne, vor allem eines ausstrahlt: Neugier, Beweglichkeit des Geistes, Lebensfreude. Sie ist gleichsam ein Traum von Jugend und evoziert, ganz im Sinne Baudelaires, Primitivität: „cette pensée curieuse et mobile, ce mouvement simple et incessant, cette joie de vivre et de comprendre, cet abandon de soi-même à soi-même, voilà l’homme primitif [...]; chaque fois que notre civilisation nous lasse, nous revenons à lui.“28 Zum anderen teilt Taine mit dem Autor der Sternstunden der Menschheit den Enthusiasmus für die durch Energie, Willen und Glück erbrachten kulturgeschichtlichen Leistungen; Stefan Zweig selbst, der in
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der Methode Taines die Hartnäckigkeit erkannte, mit der er das Rätsel der Kreativität zu ergründen suchte, gestand diesem zu, nicht nur ein Ordner und Kritiker zu sein, sondern auch ein „visuelles Genie“, „ein Dichter“ – und das war höchstes Lob.29 Stefan Zweig nimmt für die Taine-Forschung insofern eine interessante Position ein, als er in den Schriften Taines, vor allem in Philosophie de l’art, Begriffe und Konzepte wahrnimmt, die gemeinhin deshalb vernachlässigt sind, weil Taine entweder reduktionistisch als Gründungsund Galionsfigur einer deterministischen Kunst- und Kulturbetrachtung angesehen wird oder heute, nach dem postmodernen „Tod des Autors“, als schlicht unzeitgemäß.30 Zu diesen generell unterschlagenen, von Zweig erfassten Begriffen seines Denkens gehören: Halluzination und Intuition. Sie sind der Kern seines Suchprogramms. Denn auch wenn Taine, affiziert von völkerpsychologischen Strömungen und einer durch diese geprägten historiographischen Tendenz, von „race“, „peuple“ und „groupe“ spricht, um ästhetische Schulen und Strömungen zu kennzeichnen, und auch, wenn er diese Faktoren als Rahmenbedingungen einer für eine bestimmte Zeit typischen künstlerischen Tendenz sieht, bleibt im Hinblick auf einen herausragenden Künstler ein Rest, der erst die Kraft seiner Werke ausmacht. Und wenn es, gemäß seiner Methode und seinem Ziel, erstrebenswert ist, die Ermöglichungsfaktoren von Kunst und Kultur überhaupt zu erschließen und geschichtlich zu ordnen, dann ist es zwingend, die hervorstechende Kreativität in ihrer Einzigartigkeit und Wirkung zu analysieren und zu begreifen. Diese nämlich, daran lässt Taine keinen Zweifel, entsteht aus einer primordialen Eingebung, die in ihrer Rätselhaftigkeit und Komplexität zu erforschen und zu beschreiben ist. Dazu heißt es bei Zweig: „Eine einzige Gabe erklärt Taine für unentbehrlich – kein Studium, kein Fleiss kann sie ersetzen. [...]. Sie [die Künstler] müssen in Gegenwart der Dinge eine ursprüngliche eigentümliche Erregung empfangen [...]. Im Sinne seines philosophischen Systems gesagt, – Künstler sind die Menschen, die nicht analysierend und abstrahierend, sondern intuitiv die Essencen der Gruppe erfassen [...].
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Individualität ist auch im letzten Grunde nur Combination von Factoren, ist selbst eine Gruppe, die sich in Thatsachen zerlegt [...]. Denn die Lebendigkeit und Unmittelbarkeit der Visionen bestimmt die Grösse eines Künstlers, er selbst behält sie nicht sein ganzes Leben in gleichem Masse, schwankend zwischen zwei Gefahren, ihrer Ausartung und ihrer Erschlaffung.“31
Die „ursprüngliche eigentümliche Erregung“ oder Intuition, die „Vision“ der schöpferischen Einbildungskraft ist Kern des Taine’schen „Systems“, und er nennt den von ihm gesuchten Ursprung der Kreativität auch „faculté maîtresse“. Die „faculté maîtresse“ äußert sich quantitativ und qualitativ, als Energie, als Elan, und ebenso als wirkmächtige Bewegung, die niemals stillsteht. In Philosophie de l’art und Voyage en Italie schildert Taine ihre Faszinationskraft mit Vokabeln, die Stendhals Erbe, vor allem das seiner romantischen Italienreisen und Kunstkritiken, sichtbar machen und dieses nun in Beziehung setzen zu naturwissenschaftlichen Parametern der Jahrhundertmitte. Zu diesen gehörte die modische Phrenologie, deren biopolitische Karriere als Grundlage von Kriminalitäts- und Rassenideologie verheerend war. An diesen Diskursen aber partizipierte Taine nicht, vielleicht kann man ihm vorwerfen, sie nicht einmal als finstere Möglichkeit in Betracht gezogen zu haben. Dass er sich für Schädel und Gehirne interessierte, lag an seinem physiologisch-psychologischen Suchprogramm, das er in De l’Intelligence ausführte und das im Wesentlichen ein Teil seines Kunstprogramms war. In diesem Buch ist der große Entwurf einer Theorie des Imaginären zu lesen. Er verbindet kulturphilosophische Aspekte mit Erkenntnissen der experimentellen Psychologie und schlägt solcherart einen Weg ein, der im Ausgang des Jahrhunderts von William James, Angelo Mosso und Henri Bergson weiterverfolgt wird und im Horizont heutiger Hirnforschung außerordentlich aktuell anmutet. Taine hält am 25. Januar 1865 seine Antrittsvorlesung an der École des Beaux-Arts. Ihr Titel ist: Philosophie de l’art und sie handelt von der „Natur der Kunst“ und vom Tun des Künstlers, der erst Schöpfer, dann Hersteller ist: „L’artiste crée; ensuite il fabrique“. Es ist dieser Gedan-
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ke, der dann am Anfang des gleichnamigen Buches stehen wird32 und überleitet zu der Frage nach Talent und Begabung, die den Kern der Überlegungen zur Natur der Kunst ausmacht. Dort finden sich folgende bemerkenswerte Sätze: „Quand un homme naît avec du talent, ses perceptions, du moins ses perceptions d’un certain genre, sont délicates et promptes. Il saisit et démèle naturellement, avec un tact éveillé et sûr, les nuances et les rapports, tantôt le sens plaintif ou héroïque d’une suite de sons, tantôt la fierté ou l’alanguissement d’une attitude, tantôt la richesse ou la sobriété de deux tons complémentaires ou contigus; par cette faculté, il pénètre dans l’intérieur des objets et semble plus perspicace que les autres hommes. Et cette sensation si vive et si personnelle ne reste pas inactive; toute la machine pensante et nerveuse en reçoit l’ébranlement par contre-coup. Involontairement, l’homme exprime sa senation intérieure [...]; il a besoin de figurer au dehors l’objet qu’il a conçu. [...] Il est visible que, sous la puissante impulsion première, la cervelle agissante a repensé et transformé l’objet, [...], vous saisissez sur le fait, chez les tempéraments poétiques, cet ascendant de l’impression involontaire. Tâchez maintenant d’entrer dans la familiarité des grands artistes et des grands écrivains de votre siècle; étudiez les ébauches, les projets, le journal intime, la correspondance des anciens maîtres; vous trouverez partout le même procédé inné. Qu’on le décore des beaux noms, qu’on l’appelle inspiration, génie, on fait bien et on a raison; mais, si on veut le définir avec précision, il faut toujours y constater la vive sensation spontanée qui groupe autour de soi le cortège des idées accessoires, les remanie, les façonne, les métamorphose et s’en sert pour se manifester.“33 „In anderen Worten, wenn ein Mensch mit künstlerischer Begabung geboren ist, sind seine Wahrnehmungen, wenigstens eine bestimmte Gattung seiner Wahrnehmungen schnell und scharf. Er erfasst und scheidet von Natur mit einem regen und sicheren Gefühl die feinen Unterschiede und Beziehungen, bald den wehklagenden oder heldenhaften Sinn einer Reihe von Klängen, bald den Stolz oder die Ermattung einer Haltung, bald den Vollklang oder die Dürftigkeit zweier sich ergänzender oder nebeneinander liegender Töne; durch diese Fähigkeit dringt er in das Innere der Dinge und erscheint scharfsichtiger als die
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anderen Menschen, und diese so lebendige und persönliche Erregung bleibt nicht wirkungslos, die gesamte denkende Nervenmaschine gerät in Wallung durch den Rückschlag. Unfreiwillig gibt der Mensch seine innere Erregtheit kund […] er hat das Bedürfnis, äusserlich den Gegenstand, so wie er ihn aufgefasst hat, zu gestalten. […] Es ist ersichtlich, dass das tätige Gehirn unter dem gewaltsamen ursprünglichen Anstoss den Gegenstand durchdacht und verändert hat […] Sowohl in der gewagten Skizze wie in dem gewaltsamen Zerrbilde ertappen Sie bei den künstlerischen Veranlagungen diesen Einfluss des unfreiwilligen Eindruckes. Trachten Sie nun danach, in die Vertraulichkeiten der grossen Künstler und der grossen Schriftsteller Ihres Jahrhunderts zu dringen, studieren Sie die Entwürfe, die Pläne, die Tagebücher, den Briefwechsel der alten Meister: überall werden Sie das gleiche angeborene Verhalten finden. Belege man es mit schönen Namen, nenne man es Erleuchtung, Genie, man tut gut daran und man hat Recht, aber wenn man es mit Genauigkeit bestimmen will, muss man in ihm immer die lebhafte, plötzliche Erregung erkennen, welche rings um sich den Reihenzug der zugehörigen Gedanken versammelt, sie umarbeitet, formt und wandelt, und sich ihrer bedient, um sich zu offenbaren.“34
Wer das liest, muss mit Stefan Zweig darin übereinstimmen, dass Taine selbst die immerzu zitierten Begrifflichkeiten überschritten hat, auf die sein Weltbild gestutzt worden ist. Entstanden ist zugegebenermaßen eine „unreine“ Theorie, die aber gerade durch die Vereinnahmung heterogener Denkansätze und Stile über die eigene Zeit hinausragt. Was gemeinhin bis in die neuere Taine-Rezeption hinein als Schwäche der Theoriebildung angesehen wird – und das, während dieser andererseits reflexartig naturwissenschaftlicher Reduktionismus vorgeworfen wird – hat Ulrich Schulz-Buschhaus, in fast singulärer Stellungnahme, stets als Interessantheit und Relevanz Taines erkannt und verteidigt, und er schreibt hierzu, bezogen auf die Essais de critique et d’histoire, Folgendes:
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„Daher hat es seinen systematischen Sinn, wenn Taines Essais von einem Pathos, ja stellenweise einer Emphase, der Vielfalt und Verschiedenartigkeit durchzogen werden. Wie gesagt, referiert dies Pathos der Diversität mit Vorliebe auf die biologische Vielfalt der Natur, an welcher sich der Kritiker gleichsam wie ein ‚naturaliste ދerfreut. Zugleich bedeutet ‚diversité de la nature ދbei Taine jedoch stets auch eine Metapher für die – von der zeitgenössischen Leitwissenschaft Biologie lediglich verdeckte und nicht verdrängte – Diversität der Geschichte: wenn Taine einen bestimmten Typus wie Michelets ‚leidenschaftliche Imagination ދeinerseits – als ‚naturaliste‚ – ދaufmerksam sezieren ދwill, versetzt er ihn andererseits – als Historiker – ‚ins gleiche Museum und den gleichen Rang wie die anderen [Geistesformen]ދ. Demnach enthält das Postulat einer Vielfalt der Stile als seine wichtigste Prämisse die Entdeckung der Historizität des Stils.“35
Etwas anderes kommt hinzu: Denn bereits die zitierte Passage über die „Natur der Kunst“ widerspricht der gängigen Meinung, Taine habe Subjektivität, Sinnlichkeit und Schönheit nicht in seine Bemühungen um eine exakte Kunstphilosophie und Kunstpsychologie einbezogen. Denn es ist offensichtlich, dass in Philosophie de l’art die ganz individuelle Wahrnehmung und Transformation der äußeren Welt ins Zentrum der Einbildungskraft und des kraftvollen ästhetischen Prozesses gestellt werden. Die unerwartete sinnliche Erschütterung, die den Künstler angesichts eines Objekts oder Ereignisses der äußeren Welt erfasst, die Erregung der Nerven, die zerebrale Mobilität, das sind die Ermöglichungsbedingungen von außergewöhnlicher Kunst, auch wenn alles Weitere, das ganze Gefolge der nebensächlichen Ideen, „le cortège des idées accessoires“, aus den Zeitströmungen nicht hervorstechen mag. So gesehen, lässt sich Taines Denksystem ganz anders lesen als es gemeinhin geschieht, und wenn man das tut, ergibt sich Folgendes: Die individuelle „impulsion première“, der erste Impuls und die Kraft der Wahrnehmung, sind nicht Beiwerk einer von „race“, „milieu“, „moment“ determinierten Kunst; vielmehr springen sie als Kreativität, Affekt und Erkenntnisfähigkeit aus diesen hervor, gestalten und verdichten das Allgemeine: „L’artiste crée, ensuite il fabrique.“ Und
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weil das so ist, ist die Kunst wahrer als das Leben: immer dann, wenn es ihr gelingt, über die Darstellung und Anordnung der Details hinaus eine Atmosphäre zu schaffen. So ist es in der niederländischen Malerei, die den ganz und gar vom Wasser und vom Schwemmland geprägten Charakter der Landschaft und des darin tätigen Lebens in sich resümiert und diesen den Betrachter begreifen lässt. Aufgabe der Kunst nämlich ist es, in Gegenstand und Form diesen „caractère essentiel“ auszudrücken jenseits der materiellen Zwänge, die den Menschen auferlegt sind, und diese Aufgabe ist keinesfalls die Imitation der Natur, sondern die Suggestion ihres grundlegenden Charakters: „[...] Le caractère essentiel [des Pays-Bas] est d’être formé par les alluvions. [...] De ce seul mot naissent une infinité de particularités qui composent toute la manière d’être de la contrée, non seulement ses dehors physiques et ce qu’elle est par elle-même, mais encore l’esprit et les qualités morales et physiques de leurs habitants et de leurs oeuvres. [...] Vous devinez maintenant, et par la seule force du raisonnement, l’aspect du pays [...]. Le caractère [...] n’a pu s’enfoncer, par une empreinte assez forte et assez visible, dans les objets qui portent sa marque. L’homme sent cete lacune, et c’est pour la combler qu’il invente l’art.“36 „Ihr [der Niederlanden] wesentlicher Charakter ist der, durch Anschwemmungen gebildet zu sein. […] Aus diesem einen Wort steigt eine Anzahl von Eigentümlichkeiten auf, welche alle zusammen die Wesensart dieser Gegend ganz und gar ausmachen und nicht nur ihr körperliches Äussere und das, was sie an sich selbst ist, sondern auch den Geist und die seelischen und körperlichen Eigenschaften ihrer Einwohner und deren Werke. […] Sie erraten jetzt einzig kraft eines Vernunftschlusses das Aussehen des Landes […] der Charakter […] hat sich nicht mit einem ausreichend starken und ausreichend sichtbaren Abdruck ganz in die Dinge vertiefen können, welche seine Zeichen tragen. – Der Mensch fühlte diese Lücke, und um sie auszufüllen, erfand er die Kunst.“37
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Man kann hier wieder das verdächtige Argument von „race“ und „milieu“ erkennen, man kann es aber auch lesen als das Bestreben, die Sichtbarkeit der Dinge und damit ein wesentliches und selbst nicht unproblematisches Element der Wissensordnung des 19. Jahrhunderts zu überwinden in dem Versuch, jenseits des Partikularen, in einer „Gesamtvorstellung“38 oder Gesamtschau und damit theoretisch, die qualitative Beschaffenheit einer Zeit in der Konzentration eines künstlerischen Gegenstandes zu begreifen. Taines gesamte historische Psychologie also ist, so lässt sich zusammenfassen, ästhetischer Natur. Taine, der Reisende und Schaulustige, verweilte nicht im schemenhaften und diffusen Licht des Nordens. Mit seinem kunstphilosophischen Suchprogramm stieß er unweigerlich auf Werke, die durchwoben sind von kraftvoller Bewegung und jenem „schöpferischen Wirbel des Lebens“39, der bezeichnenderweise schon von Zweig benannt wird und jenseits des Dekadenzbewusstseins und der Alltäglichkeiten des Bürgers – „mit einem steifen Kragen, einem gebügelten Salonrock und eventueller Ordenskette“40 – als philosophisch-ästhetisches Leitmotiv der Jahrhundertwende zu beobachten ist. Der Wirbel oder „tourbillon“ als physikalische Extremform von Bewegtheit und Dynamik, der um 1900 immer wieder die Aufmerksamkeit der Philosophen und Künstler – Bergsons, Valérys, Boccionis, Delaunays, Cendrars – ތauf sich zog41, wurde von Taine nicht nur aufgespürt in Bild- und Denkanordnungen der französischen Romantik, in der emphatischen Geschichtsschreibung Michelets, sondern vor allem in der venezianischen Malerei, der er vor allen anderen italienischen Kunstrichtungen den Vorrang gab. Bereits in den 1850er Jahren hatte sich Taine nicht nur, wie Les jeunes gens de Platon zeigen, enthusiastisch der Antike zugewandt. In Verehrung für Stendhals italienischen Roman La chartreuse de Parme und in Stendhal’scher Manier lobt er auch die stürmische Wucht Shakespeares, und während er Racine und Madame de Lafayette ihrer Sensibilität und Diskretion wegen und Saint-Simon um seiner Neugier und Leidenschaft willen hervorhebt, wendet er sich vom Kanon der franzö-
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sischen Klassik, eigentlich vom Klassizismus überhaupt, kategorisch ab und merkt an, „das Papier bleibe stumm unter der Anstrengung eines vulgären Gefühls“: „Tout le monde sait que le défaut de nos poètes classiques est de mettre en scène non des hommes, mais des idées générales ; leurs personnages ont des passions abstraites qui marchent et dissertent. Vous diriez des vices et des vertus échappés de l’Ethique d’Aristote [...] Nous n’imaginons les objets que par ces précisions et ces contrastes ; il faut marquer les qualités distinctives pour rendre les gens visibles ; notre esprit est une toile unie, où les choses n’apparaissent qu’en s’appropriant une forme arrêtée et un contour personnel.“42 „Jeder weiß, daß der Fehler unserer klassischen Dichter darin besteht, nicht Menschen, sondern allgemeine Ideen auf die Bühne zu bringen; ihre Personen sind abstrakte Leidenschaften, die herumspazieren und Erörterungen anstellen. Man hätte sie für Laster oder Tugenden halten können, die der Ethik des Aristoteles entschlüpft […] sind. […] Wir stellen uns die Gegenstände nur auf Grund dieser genauen Angaben und Gegensätze vor; man muß die unterschiedlichen Merkmale angeben um die Leute sichtbar zu machen; unser Geist ist wie eine gleichförmige Leinwand, auf der die Dinge nur dann erscheinen, wenn sie eine bestimmte Form und einen persönlichen Umriß gewonnen haben.“43
Es ist schwer vorstellbar, dass dieser Literaturkritiker in den folgenden Jahren auf der Suche nach einem System des Schöpferischen eine solche Prägnanz des Individuellen ganz vergessen haben könnte. Die Metapher vielmehr des „Geistes“ oder des Imaginären als Leinwand, auf der die „arretierte Form“ einer Bewegung und die „persönliche Kontur“ die Dinge und Menschen erscheinen lassen, ist ingeniös. Sie steht für einen Vergleich des Schriftstellers mit einem Maler, der Bewegung wahrnimmt und gestalten will. Sie verleitete Nietzsche zu der Bemerkung, Taine selbst sei ein Maler, und sie annonciert die suggestive Kraft der Kunst, die bereits Stendhal und Baudelaire rühmten, und sodann Flaubert und Proust, die die „Vision“ des Künstlers gegen die
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Wirklichkeit aufboten.44 Zehn Jahre später führte die visuelle Intuition Taine in die damalige Accademia di belle arti di Venezia und vor die Bilder Tintorettos. Das Lob dieses Malers, den Taine noch weit mehr als dessen Lehrer Tizian rühmt, ist ein faszinierendes Kapitel der Italienreise. In Voyage en Italie, dem literarischen Tagebuch seiner dreimonatigen Reise im Frühjahr 1864, heißt es über das kolossale Gemälde Il miracolo di San Marco che libera lo schiavo: „Le saint arrive du haut du ciel la tête la première, précipité, suspendu en l’air, pour sauver l’esclave du supplice; sa tête est dans l’ombre, ses pieds, dans la lumière; son corps ramassé par un raccourci extraordinaire, plonge d’un élan avec l’impétuosité d’un aigle. Personne, sauf Rubens, n’a saisi à ce point l’instantané du mouvement, la fureur du vol; devant cette fougue et cette vérité, les figures classiques semblent figées, copiées d’après ces modèles d’académie dont on maintiendra les bras par des ficelles; on est emporté, on le suit jusqu’à la terre, où il n’est pas encore.“45 „Der Heilige schwebt mit dem Kopf nach vorn stürmisch durch die Luft herab, um den Sklaven vor der Todesstrafe zu erretten; sein Kopf ist im Schatten, seine Füße im Licht, sein durch eine außergewöhnliche Verkürzung zusammengedrängter Körper taucht mit dem furchtbaren Schwunge eines Adlers nieder. Niemand außer Rubens hat bis zu diesem Punkte das Augenblickliche der Bewegung, die Welt des Fluges erfaßt; vor diesem Feuer und dieser Wahrheit erschienen die klassischen Gestalten starr und nach jenen Akademiemodellen kopiert, deren Arme man mit Fäden in die Höhe zieht man wird fortgerissen und folgt ihm bis auf die Erde, die er noch nicht erreicht hat.“46
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Abb. 12: Tintoretto, Il miracolo di San Marco 47
che libera lo schiavo, 1548
In dieser noch weitaus längeren Ekphrasis zu einem der frühen, auf etwa 1548 datierten Gemälde Tintorettos, findet der Kunstkenner auf den ersten Blick die Beschreibung einer typisch manieristischen Körperdarstellung, einer Verkürzung und Verdichtung, wie sie seit Mantegnas Lamento sul Cristo morto, entstanden um 1475-78, stilbildend geworden ist. Zugleich wird durch die descriptio, die Übersetzung ins Literarische, der Sog der Bewegung verstärkt, der dieses große Gemälde aus der frühen Schaffenszeit bestimmt und der den Zuschauer mitreißt. Es ist eine Bewegung, die im Flug angehalten ist und ebenso die ganze Flugbahn erahnen lässt, und es ist ein Schweben, das den Betrachter ergreift, intuitiv die Kraft und die Bedeutung dieses Schwungs erfassen lässt. In einem „fruchtbaren Augenblick“, ganz so, wie Lessing ihn im Laokoon-Fragment verstanden hat, bringt Tintoretto in unerhörter Kühnheit die bewegten, einander suchenden und aufeinander angewiesenen Körper zur Anschauung. Sie repräsentieren eine ganze soziale, religiöse und psychische Dynamik, wie sie sich auch auf Bildern der späteren Jahre findet, so dem vergleichbaren Gemälde San Marco che salva un saraceno durante un naufragio48. „L’instantané du mouvement“, „la fureur du vol“, „cette fougue, cette vérité“ – das sind die Charakteristika dieses Bildes und ebenso seines Schöpfers. Die hier zur Darstellung gebrachte Dynamik umfasst die drei Komponenten der Kunst: Sie vermittelt sich erstens in der Lebenskraft und Anspannung des dargestellten Körpers, „son superbe
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corps viril et musclé est palpitant“, die generell die Konstitution der von Tintoretto inszenierten, von Taine wahrgenommenen Körper und die Grundbedingung der Bewegung und der dynamischen Form sind.49 Sie geht zweitens aus von dem Maler selbst, ist ein quantitativer und qualitativer Faktor der aktiven Einbildungskraft, und die imagination Tintorettos ist in Taines Augen enorm, zählt er doch zu den wilden, grausamen, maßlosen Genies, die nur Kunst befriedigt: „génies sauvages, violents, disproportionnés au monde, en qui la poussée intérieure des sentiments est si forte que les plaisirs leur déplaisent et que pour tout refuge, assouvissement ou apaisement, ils ont leur art“. Sie überträgt sich drittens, durch die außerordentliche Suggestionskraft, auf den Bildbetrachter, „aucune peinture n’a produit en moi une impression égale“, schreibt Taine, „je crois qu’avant de l’avoir vu on n’a pas l’idée de l’imagination humaine.“50 Die Ekphrasis ist doppelt charakteristisch für Taines Kunstbegriff: Sie rühmt Tintoretto zuletzt, weil beim Anblick seiner Bilder überhaupt erst ein Eindruck von menschlicher Einbildungskraft habe entstehen können; und sie verdeutlicht exemplarisch den Anspruch des Kunstphilosophen, Form und Bewegung von Bild und Einbildungskraft darzustellen, zu analysieren und ihre Ermöglichungsbedingungen zu begreifen. Dieses ist für Taine, der niemals Maler war, nur möglich in der literarischen Form, die eine Form der Erkenntnis ist. Durch Sprache wird diese hervorgebracht und übersetzt: in impressionistischen Nuancen, die Tintoretto zu einem Zeitgenossen der Modernen des ausgehenden 19. Jahrhunderts machen; und ebenso in synästhetischen Figuren – Glanz und Verblauen, Rhythmus und Schwung, ein Sampling von Tönen – die das Wahrnehmungsereignis zelebrieren. Wenn sich Taine also angesichts der Gemälde Tintorettos überwältigt äußert, so formuliert er zunächst die Idee des schöpferischen Individuums, die seit der Romantik in der Rückkopplung an die virtù des Renaissancemenschen diskutiert und nach 1850 gegen die zeitgenössische Dekadenz und Vermassung aufgeboten wurde51; er greift sodann voraus auf lebensphilosophische Figuren; und er evoziert zuletzt das Faszinationsmuster der
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folgenden Jahrzehnte: die bewegte, vibrierende Form als Gestalt des Sehens selbst und des Lebens, vermittelt als Spannung von Form und Formauflösung in den Künsten – sagen wir bei Edouard Manet: „[…] le conflit et l’accord de deux tons de chair qui se pénètrent et se transforment par l’échange de leurs reflets, une lumière vacillante qui veut franger une plaque obscure, une tache pourpre avivée contre un ton vert, bref, une riche harmonie qui sort des couleurs ménagées, opposes, composées, comme un concert sort des instruments […]. Car, sitôt que cet œil est sensible, il sent dans l’objet non pas seulement une diminution d’éclat proportionnée au recul des plans, mais encore une multitude et un mélange de tons, un bleuissement general qui croît avec la distance, une infinite de reflets que les autres objets éclairs entre-croisent et superposent avec des couleurs et des intensités diverses, une vibration continue de l’air interpose, où flottent des irisations imperceptibles, où tremblotent des stries naissantes, où poudroient d’innombrables atomes, où s’ébranlent et se défont incessamment des apparences fugitives. Le dehors comme le dedans des êtres n’est que movement, échange, transformation, et ce frémissement compliqué est la vie.“52 „[...] der Streit und Einklang zweier Fleischtöne, welche sich durchdringen und sich durch den Wechsel ihrer Reflexe wandeln, ein flatterndes Licht, das auf einer dunklen Fläche glitzert, ein purpurner Flecken, der neben einem grünen Ton hell aufleuchtet, kurz, eine reiche Harmonie, welche aus den gehaltenen entgegengesetzten und vermischten Farben strömt wie ein Konzert aus den Instrumenten […]. Denn sobald dieses Auge empfindsam ist, fühlt es im Gegenstande nicht nur eine Verminderung des Glanzes im Verhältnis zum Zurücktreten der Flächen, sondern auch eine Menge und Mischung der Töne, ein allgemeines Verblauen, welches aus der Entfernung wächst, eine unendliche Menge von Reflexen, welche die anderen erhellten Gegenstände mit verschiedenen Farben und Stärken verstricken und übereinanderlegen, ein dauerhaftes Schwingen der dazwischenliegenden Luft, in welcher kaum wahrnehmbares Schimmern fliegt, entstehende Riesen zittern, unzählige Atome stäuben, und unaufhörlich flüchtige Scheine beben und vergehen. Das Äußere wie das Innere
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der Wesen ist nichts als Bewegung, Wechsel, Wandel und dieses reiche, mannigfaltig verschlungene Beben ist das Leben selbst.“53
Auf Tintorettos Bildern als dem Höhepunkt der venezianischen Malerei, und mehr noch als bei Veronese und Tizian, entdeckt Taine Gestaltungsmuster und Denkfiguren, die seine eigene Zeit bewegen, und er malt sie in der Sprache seiner Zeit: zunächst die dynamische Kraft des körperlichen und geistigen Ausdrucks als Gegenbewegung zum grassierenden Dekadenzbewusstsein54; sodann die „Form“, die nichts ist als eine Momentaufnahme, ein screenshot unablässiger Bewegung, so wie es dann auch Bergson sieht; zuletzt die Reflexion auf eine augenblicklich arretierte Bewegung als Bedingung der Wahrnehmung und der bildenden Künste überhaupt – ein innovatives Thema, das nachfolgend vor allem die historischen Avantgarden, namentlich der Futurismus, durchführten, indem sie sich in einem neuen paragone der Herausforderung durch das „Bewegungsbild“ des Films stellten.55 Insofern soll nicht unerwähnt bleiben, dass Peter Richter 2007 in seiner Rezension zur Ausstellung im Prado angesichts der „Action“-Bilder Tintorettos einen direkten Vergleich mit dem Kino herstellt und die präfilmische Malerei des Alten Meisters betont: „Einer der Irrtümer der sogenannten Leute vom Film betrifft ja die Annahme, dass sie es gewesen seien, die die bewegten Bilder erfunden haben. Aber wer wissen will, wo das Kino wirklich seine Urgründe hat, ist möglicherweise fast noch ein bisschen besser als bei der Biennale im Madrider Prado aufgehoben, wo sie ihre ganze lange Galerie im ersten Stockwerk freigeräumt haben für Tintoretto. [...] Man sieht die Erfindung von Cinemascope. Überwältigung durch Extrembreitwand. Die Massenszene. Stummfilmschauspielergestik. Große Orchestermusik [...].“56
„Action“-Malerei: Das klingt anheischig, trifft aber wunderbar den Charakter der Werke Tintorettos, so, wie auch Taine sie sah und Delacroix, dem Nachkommen des venezianischen Künstlers, anempfahl.57 „Fougue“ ist das Schlüsselwort seines Kapitels über den venezianisch-
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en Maler, mehrfach erscheint es im Text. Und „fougue“, der Schwung, der diesen Text selbst ergreift, ist tatsächlich die Grundgebärde und zugleich die Atmosphäre der Bilder Tintorettos; es sind Bilder, die Figuren im Flug zeigen, und das immer wieder, so, als wäre der Flug, oder auch der Elan, überhaupt die Grundbewegung des Menschen – oder des Heiligen. Auf Tintorettos Bildern fliegen und schwingen alle: Gottvater während der Schöpfung ebenso wie Augustinus bei einer Wunderheilung; der Erzengel Gabriel, der sich der Jungfrau Maria zumeist ehrfürchtig nähert oder demütig vor ihr niederkniet, auch er kommt zur Verkündigung geflogen und versetzt die Gottesmutter in Furcht und Erwartung; nie sah man bei der Ultima Cena zum Sprung ansetzende Füße und einen solchen Aufruhr wie auf Tintorettos Bildern des Letzten Abendmahls, und noch das Kreuz Christi wird durch die Luft herbeigetragen.
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Abb. 13: Tintoretto, L’Annunciazione, 1581-82
Es ist ein Schwung, der körperlich ist und ebenso geistig, ein Instinkt, der das Leben lebendig hält und in „Action“-Szenen Leben rettet, wie auf den genannten Gemälden des Heiligen Markus; es ist eine Energie, die in Träumen agiert, wie jenen, deren Gespinste auf dem Bild Tenta-
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zioni di sant’Antonio den Wüstenheiligen anfliegen oder die Menschen überhaupt, wie auf Il sogno degli uomini. Es ist buchstäblich der „élan vital“. Bevor Bergson den Begriff lebensphilosophisch ausformuliert, erkennt Taine in seiner Kunstanschauung den „élan vital“ als tätiges Prinzip, das so selbstverständlich eine vollkommene Bewegung hervorbringt wie ein Vogel, der fliegt und ein Pferd, das galoppiert. Taines Vision ist spektakulär und spekulativ, „l’élan sûr et soudain de l’instinct qui aboutit tout de suite et sans effort à l’action parfaite, comme l’oiseau vole et le cheval court.“59 Der Schwung ist die gestaltende Grundfigur der Körper: der wallenden Beine der Eva, „aux jambes onduleuses“, der fallenden, laufenden, wankenden und sich schlängelnden Torsi auf den Bildern Serpente di bronzo und La strage degli innocenti, des Gewimmels und Geschlängels von Menschenmassen beim Giudizio finale, der immer wieder sichtbaren Anspannung der Muskelmaschine, der „machine musculaire roidie“. Der Schwung schafft eine Poesie der Nacktheit und des Fleisches, „poésie de la nudité et de la chair“, ermöglicht durch ein geschmeidiges Element wie das Wasser oder auch eine Atmosphäre, die alle Haltungen und Bewegungen ganz natürlich trägt, „atmosphère [qui] est pour lui un fluide résistant et palpable qui soutient les corps et leur permet toutes les attitudes, comme l’eau aux poissons.“60 Tintoretto, dieser Bildner und Meister bewegter Körper, war übrigens ein Schwerpunkt der Biennale 2011, und so erscheint er aktueller denn je. In einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen sagte die Direktorin Bice Curiger: „Bei Tintoretto gibt es nicht mehr die Ruhe der Renaissance, alles schwingt.“61 Taine findet folgende Attribute für die wallenden, schwingenden, wogenden, die serpentinischen Formen62: monströs, enorm, grotesk, bizarr, phantastisch und doch wirklich. Und als solche findet man sie dann wieder in Aby Warburgs Umdeutung der Antike und in seinen zentralen Studien zum Ritual des Schlangentanzes der Hopi-Indianer und zu Botticellis Gemälde La nascita di Venere mit der Schlangenhaartracht der Ninfa fiorentina. Und wie für Taine, so zeichnen die von
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Warburg entdeckten Bewegungsmuster eine geistige und körperliche Bewegung nach, die sich in Kunst-und Ritualformen ebenso findet wie in der Mobilität des Imaginären oder der Erinnerung.63 Ein ganzes Kulturmuster wird dynamisiert oder, wie auf dem Bild San Marco che salva un saraceno durante un naufragio, umgebrochen, das Identische, Eigene der europäischen Tradition durch den Dialog mit dem Anderen, Fremden „umgewertet“. Auch Warburg hatte übrigens, genau wie Nietzsche und Zweig, Taines Voyage en Italie gelesen und die bemerkenswerte Notiz zu Ghirlandaios Florentiner Fresko Nascita del Battista in der Tornabuoni-Kapelle der legendären Kirche Santa Maria Novella hervorgehoben, die seiner eigenen Konzeption der bewegten Statue sehr entgegenkam: „[…] dans la Nativité de saint Jean […] la servante qui apporte des fruits, en robe de statue, a l’élan, l’allégresse, la force de la nymphe antique, en sorte que les deux âges et les deux beautés se rejoignent et s’unissent dans la naiveté du même sentiment vrai. Un sourire jeune effleure [ses] lèvres, et sous la demiimmobilité, sous le reste de roideur que la peinture incomplète [lui] laisse encore, on devine la passion latente d’une âme intacte […].“64 „[…] in der Geburt des heiligen Johannes […] die Dienerin, welche Früchte herbeibringt, hat den Schwung, die Fröhlichkeit und die Kraft einer antiken Nymphe, so dass die beiden Zeitalter und die beiden Schönheiten sich in der Unschuld ein- und desselben wahren Gefühls verknüpfen und einen. Ein junges Lächeln blüht an ihren Lippen und unter der halben Bewegungslosigkeit; unter dem Rest der Starre, welche die unvollkommene Malerei noch in ihnen zurückgelassen, errät man die verborgene Leidenschaft einer unversehrten Seele.“65
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Abb. 14: Ghirlandaio, Storie della vita del Battista, 1490
So wie auf diesem Bild des Florentiner Malers der Augenblick arretierter Bewegung, Schritt und Lächeln der jungen Dienerin Taines Aufmerksamkeit erregten, ist es mit der venezianischen Malerei in besonderer Weise. Taines Tintoretto-Kapitel lässt sich zusammenfassen in dem Satz, dass kein Maler so sehr wie Tintoretto die Bewegung geliebt, empfunden und vermittelt habe: „Aucun peintre n’a aimé, senti et rendu ainsi le mouvement.“67 Und dieser apodiktische Satz betrifft Form, Ausdruck und Stimmung der Bilder und ebenso deren Ermöglichungsbedingung. Was nämlich für die formale Gestaltung und die daraus resultierende Wirkung gilt und aus dem Bild kühn und leicht wie ein Strahl hervorspringt – „jaillit“, „la hardiesse et la facilité du jet“ – oder als Feuer und Flamme auflodert: „fougue“, „fureur“, „élan“, „verve“, „flamme“68 – all das kennzeichnet eine Dynamik und Intensität, die hervorgebracht wird von der schöpferischen, erotischen Einbildungskraft und Leidenschaft, die, nüchtern betrachtet, zerebrale Tätigkeit ist. Von ihr hatte Baudelaire als der „reine des facultés“69 gesprochen, für Taine ist sie eine je eigentümliche „faculté maîtresse“, der Kern der schöpferischen Energie. Für Tintorettos Bilder und überhaupt für kraftvolle Kunst heißt das in einer längeren Passage:
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„On y respire, et l’air qu’on y respire est plus ardent qu’ailleurs; c’est la flamme de la vie telle qu’elle jaillit en fulguration dans un cerveau adulte et complet d’homme de génie [...] qu’on l’appelle extravagant, emporté, improvisateur [...]. C’est l’élan intérieur de son esprit qu’il faut décrire. Il me semble qu’on découvre en lui un état unique, le foudroiement de l’inspiration. Voilà un grand mot, mais il correspond à des faits précis dont on peut citer des exemples. A certains moment extrêmes, devant un grand danger, dans une secousse subite, l’homme aperçoit distinctement en un éclair, avec une intensité terrible, des années de sa vie, des paysages et des scènes complètes, parfois un morceau du monde imaginaire: les mémoires des asphyxiés, les récits des gens qui ont failli se noyer, les confidences des suicidés et des fumeurs d’opium [...]. La puissance active du cerveau soudainement décuplée et centuplée, fait vivre l’esprit dans ce raccourci d’instant plus que dans le reste de sa vie. À la vérité, il sort ordinairement de cette hallucination sublime par l’affaissement et la maladie : mais quand le tempérament est assez fort pour supporter sans se détraquer ce choc électrique, l’homme, comme Luther, saint Ignace, saint Paul et tous les grands visionnaires, accomplit des oeuvres qui dépassent le pouvoir humain. Tel est l’excès de l’imagination créatrice chez les grands artistes [...].“70 „Man atmet darin, und die Luft, die man einsaugt, ist glühender als sonst, es ist die Flamme des Lebens, so wie sie strahlend aus dem reifen vollkommenen Hirn eines genialen Mannes emporschlägt […] Man nenne ihn unmässig, ungestüm und einen Stegreifmaler […] Den inneren Schwung seines Geistes muss man beschreiben; es scheint mir, man entdeckt in ihm einen einzigartigen Zustand: das Aufblitzen der einschlagenden Inspiration. Das ist ein grosses Wort, aber es entspricht genauen Tatsachen, für die man Beispiele anführen kann. In gewissen äussersten Augenblicken, vor einer grossen Gefahr, in einer plötzlichen Erschütterung gewahrt der Mensch deutlich in einem Blitz in furchtbarer Deutlichkeit Jahre seines Lebens, Landschaften und vollständige Auftritte und manchmal ein Stück der imaginären Welt; die Erinnerungen der Scheintoten, die Erzählungen der Leute, welche beinahe ertrunken wären, die Geständnisse der Selbstmörder und der Opiumraucher […] Die plötzlich verzehnfachte und verhundertfachte Kraft des Hirns lässt den Geist in dieser kurzen Sekunde mehr als in seinem ganzen übrigen Leben erleben. Er geht, um die Wahrheit zu sa-
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gen, gewöhnlich aus dieser höchsten Halluzination schlaff und krank hervor, aber wenn die Wesensveranlagung stark genug ist, diesen elektrischen Schlag ohne Zerrüttung zu ertragen, vollendet der Mensch, wie Luther, Sankt Ignatius, Sankt Paulus und alle grossen Hellsichtigen Werke, welche das menschliche Können übersteigen. So ist der Anfall der schöpferischen Einbildungskraft bei den grossen Künstlern […].“71
Keine Frage: Taine kannte die Antike und die Romantik der Philosophen, Dichter und Künstler; ihm vor Augen standen das Erhabene, das Genialische, der Furor, auch Plötzlichkeit, Vision und Elektrizität: alles große Worte! Was er jedoch zugleich in diese Panegyrik auf Tintoretto einfließen lässt, ist seine Suche nach einem Erklärungsmodell für das, was als Kreativität im geschlossenen Schädel, im durchlässigen Zerebralsystem vor sich geht und empirisch nur in seinen Auswirkungen zu beobachten und zu beschreiben ist. Er nennt ein kreatives Ereignis an dieser Stelle „hallucination sublime“, und diese Halluzination ist eine plötzliche Wahrnehmung oder abrupte Vision, ein Aufflammen oder eine Illumination, die in Augenblicken höchster zerebraler Mobilität außergewöhnliche Kunst hervorbringen können.72 Bei Menschen normaler Verfasstheit, so heißt es noch, sei eine rasche Wechselwirkung von Überreizung und Ermüdung zu beobachten; der große Künstler hingegen verfalle in einen Schaffensrausch. Taine ist nicht interessiert an der Ermüdung, während diese doch ein ergiebiger Anlass ist für Dekadenzdiskurse, die wenig später das ganze Feld der Dichtung und Kulturkritik sowie der experimentellen Psychologie beherrschen: Huysmans als Proto-Décadent gehört hierher; Bourget, der Romancier, Literaturkritiker und „Schüler“, der seinem „Lehrer“ Taine 1889 in seinem Roman Le Disciple ein Denkmal setzt, Barrès, der Taine 1897 auftreten lässt in Les Déracinés, ihn dadurch vereinnahmt für seinen fragwürdigen culte du moi; und ebenso der Turiner Physiologe Angelo Mosso, der 1891/92 die bahnbrechende Studie La Fatica geschrieben hat sowie zuvor ein Buch über Angst und Furcht, La Paura, das sich in Fallberichten über pathogene Irritationen und Nervenkrisen liest wie
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eine phantastische Erzählung, sagen wir, Guy de Maupassants oder Iginio Ugo Tarchettis.73 Die Tintoretto-Studie Taines feiert ganz und gar das Gegenteil der „fatica“, der Mattheit und Erschöpfung, und sie ist eine Steilvorlage für das zweibändige Werk De l’Intelligence, das im April 1870 erschien und ein Jahr später ins Englische übersetzt wurde. Mit diesem Buch wird Taine definitiv zu einem historischen Psychologen, dessen Erkenntnisinteresse die „intelligence“ oder Begreifungskraft, eigentlich jedoch erneut die Imagination oder schöpferische Energie ist. Die exakte Methode, nach der er immerzu strebte, ist auch hier unterlaufen von Anekdoten und Narrationen, aber das spricht, wie gesagt, nicht gegen sie und das „System“. Hier ist der Wille zu erkennen, vor allem durch Beobachtung und Kombination jene „hallucination“ oder Einbildungskraft zu analysieren, für die zu seiner Zeit nur Rudimente eines Aufschreibesystems existierten – der Turiner Physiologe Angelo Mosso forschte danach in den 1880er Jahren und ebenso der Roueneser Arzt Charles Féré, der 1887 ein international, vor allem auch in Künstlerkreisen beachtetes Buch veröffentlichte mit dem Titel Sensation et mouvement. Études expérimentales de psycho-mécanique.74 Taine freilich konnte, wie alle seine Zeitgenossen, gar nicht hineinschauen in ein lebendiges, tätiges Gehirn, und auch den dürren Graphismen der zeitgenössischen – und auch heutigen – Neurologen gelang es nicht, die Semantik eines einzigen inneren Zustands jenseits abstrakter psychologischer Begriffe – Angst, Lust, Trauer – erahnen zu lassen. Deshalb gehörten Konjekturen zu Taines methodologischem Rüstzeug, und er selbst gestand immer wieder freimütig, ein zwingendes Verfahren seiner Nachforschungen sei die „conjecture“75. Stefan Zweig hingegen beschrieb den hybriden, „typischen Process der Praxis Taines“ als ein nüchternes Verfahren, das „hinab in das unterirdische Reich der molekularen Bewegungen, der infinetesimalen Elemente der Wahrnehmung“ führt und die „Praxis der Dokumente, der Anekdoten, Belege, Übereinstimmungen aus Biographien und Schöpfung“ einschließt, um „das Abstracte“ der Kunstphilosophie in „concrete Einflussmoleküle
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umzusetzen“: „Nicht viel anderes [sei] diese Methode als das Experiment, in das Schriftthum übertragen, eine chemische Analyse des Stoffes zum Zwecke der Erkenntnis ihrer Verbindungen und Gesetze.“76 Zweig also erkennt Taines Grenzgang zwischen Wissenschaft und Dichtung und er erkennt ebenso das Bemühen, die „molekularen Bewegungen“ und „infinitesimalen“ Regungen zu beschreiben, so wie es Jahrzehnte später Nathalie Sarrautes Prosa mit dem Begriff der tropismes77 tut. Taines Ziel ist, die Kunstphilosophie zu verwissenschaftlichen und physiologisch-psychologische Verfahren zu konsultieren, den Zeitgeist zu ergreifen und sich des Wissens der zunehmend dominanten universitären Einzeldisziplinen zu bedienen. Was also ist Kreativität? Das ist das Suchprogramm des Buches De l’Intelligence, und es fügt sich, wissenschaftsgeschichtlich betrachtet, ein in den Nervenund Gehirndiskurs des ausgehenden 19. Jahrhunderts. „Aufmerksamkeit“ ist eines seiner Schlüsselwörter78, und „Aufmerksamkeit“ steht für jenen ambigen oder nebulösen Zustand der Konzentration und Trance, in dem Sherlock Holmes die detektivische Erleuchtung zufällt oder dann auch Werner Heisenberg die Intuition der Unbestimmtheitsrelation. Man muss diesen Diskurs, der von einer Ungleichheit der Menschen im Hinblick auf ihre Erkenntnisfähigkeit oder schöpferische Kraft ausgeht, nicht sympathisch finden, und in der Regel ist er heikel.79 Aber festzuhalten bleibt, dass die schöpferische Phantasie oder Erleuchtung sich, gegen alle widerstrebenden Kunst- und Autorschaftstheorien, als Faszinationsmuster, als Narration erhalten hat, als surplus zu vermuten ist und die Inszenierung und Rezeption erfolgreicher Künstler des 20. und 21. Jahrhunderts – wie Pablo Picasso, Jackson Pollock und Neo Rauch – mitbestimmt.80 In der postromantischen Zeit aber, von der hier die Rede ist, wurde poetische Vision aus der Sphäre der göttlichen Gabe in den Gegenstandsbereich der experimentellen Psychologie gerückt und, vergleichbar der materiellen Produktivkraft, zunächst einmal quantitativ bemessen. Marie Guthmüller erkennt hier einen Wettstreit, ja Kampf um den Autor, und Michael Hagner beschreibt in seinem Buch Geniale Gehirne den Boom, den die ebenso
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sensationelle wie umstrittene Erforschung von Künstlerschädeln im Schnittfeld von Philosophie und Pathologie im ausgehenden 19. Jahrhundert erlebte – also entweder durch Sektion toter Schädel oder durch frühe Techniken der Messung, Aufzeichnung oder Radioskopie zerebraler Tätigkeit.81 Und auch diese positivistische Manie, die finsteren Klassifikationen und Kartographierungen von Schädelformen ähnelte und wesentlicher Bestandteil biopolitischer Diskurse war, hatte für Taine ein anderes anthropologisches, zuletzt ästhetisches Interesse und nicht eine rassistische oder diskriminierende Absicht. Er jedenfalls hatte den Plan zu einer Studie über die Imagination im Zusammenhang seiner Literatur- und Kunstkritik lange gehegt, und die Einbildungskraft der „großen Künstler“, darunter Balzac, Dickens, Flaubert, Heine, Poe, beschäftigte ihn ohne Unterlass. Er nannte sie auch „hallucination“, entwickelte diesen Begriff im Dialog mit Schriftstellern und Künstlern und verfolgte ihn durch die Lektüre der Schriften historischer und zeitgenössischer Philosophen und Physiologen beharrlich weiter, darunter auch die Studie Physiologische Optik von Helmholtz, die er fasziniert las.82 Seinem Suchprogramm zugrunde liegt die Annahme, dass nur im Verbund von Geistes- und Naturwissenschaften das Rätsel, das komplexe und instabile Gewebe des empfindenden „Ich“ zu klären sei, das, auch wenn Philosophen diese Einsicht schwer falle, aus Nerven und Gehirnmasse bestehe. Mit Flaubert, der zum engeren Freundeskreis gehörte, gibt es einen aufschlussreichen Briefwechsel, vor allem vom November 1866, zu einem Zeitpunkt also, als Taine an De l’Intelligence arbeitete. Zunächst beglückwünscht Flaubert seinen Freund zu seiner Italienischen Reise, einem Buch, in dem er freilich geradezu übertrieben er selbst sei; sodann teilt er ihm seine Wertschätzung der Verbindung von Kunstkritik, Mentalität und Geschichte mit und bekundet ihm, er bewundere seine „Psychologie von Venedig“ und teile seinen venezianischen Traum. Knapp drei Wochen später entwickelt sich daraus ein Gespräch über innere Bilder, Halluzinationen und das Verhältnis von Traum und Rea-
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lität. Wahrscheinlich am 20. November stellt Taine seinem Korrespondenten Flaubert präzise vier Fragen: 1.Verwechseln Sie die imaginierten Personen und Orte mit wirklichen Personen und Orten? 2. Gibt es deren automatische oder obsessionelle Wiederkehr, werden Sie von ihnen visuell verfolgt? 3. Sind Ihre Erinnerungen visuell und enthalten sie, jenseits von Details, ein ganzes Bild? 4. Unterscheiden sich die Intuition und die Intensität der mentalen Bilder des Schriftstellers von den beruhigenden Halluzinationen beim Einschlafen? Flaubert antwortet ebenso präzise, und sein Brief, wahrscheinlich vom 20. November, postwendend, enthält berühmt gewordene Passagen: 1. Ja, immer. 2. Die eingebildeten Personen und Orte machen mich verrückt, verfolgen mich, beim Schreiben der Vergiftung Emma Bovarys hatte ich den Geschmack von Arsen im Mund 3. Die Frage ist schwieriger zu beantworten; wahrscheinlich idealisiert die Erinnerung das Erlebte, so wie eine Photographie etwas anderes zeigt als das, was man gesehen hat 4. Die künstlerische Intuition ähnelt tatsächlich den hypnagogischen Halluzinationen, sie ist ebenso flüchtig; aber die poetische Vision unterscheidet sich von den Halluzinationen im eigentlichen Sinne, die das Ich verstören und auflösen; denn im Gegensatz zu diesen erfüllen sie den Künstler ganz mit Freude.83 Erste Skizzen zu einer théorie de l’intelligence finden sich bei Taine jedoch bereits 1849, und im Herbst 1851 meldet er seinem Freund Prévost-Paradol, er habe bewundernswerte Dinge über die Empfindungen, die Bewegungen, die Hervorbringung von Leidenschaften mitzuteilen, „des choses admirables à dire sur les sensations, les mouvements, la génération des passions.“84 Im Sommer 1867 schreibt Taine aus dem Künstlerdorf Barbizon an Sainte-Beuve: „Je suis avec ma mère à Barbizon, près de la forêt, et j’écris mon traité de l’Intelligence. Condillac et de Tracy en savaient plus là-dessus que Jouffroy. Tout a été vicié par l’école antiscientifique de Royer-Collard et de M. Cousin. Par bonheur, les physiologistes ont travaillé, entre autres tout récemment Helmholtz, sur le son et les couleurs, et en outre les Anglais, Herbert Spencer, Mill et Bain. Mais il faut une concentration d’esprit complète et beaucoup de santé
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pour faire un pareil travail. J’y tiens parce que là est la racine de toutes mes idées historiques et morales.“85 „Ich bin mit meiner Mutter in Barbizon, in der Nähe des Waldes, und ich schreibe meine Abhandlung Der Verstand. Condillac und De Tracy wussten darüber mehr als Jouffroy. Alles ist verdorben worden durch die unwissenschaftliche Schule von Royer-Collard und Herrn Cousin. Glücklicherweise haben die Physiologen, darunter kürzlich Helmholtz, über den Klang und die Farben gearbeitet, und darüber hinaus die Engländer, Herbert Spencer, Mill und Bain. Aber man benötigt eine Konzentration des gesamten Geistes und eine große Portion Gesundheit, um eine solche Arbeit zu tun. Ich hänge daran, denn dort ist die Wurzel aller meiner historischen und moralischen Ideen.“86
Hier also, in der Nähe des Waldes von Fontainebleau, geht Taine in Klausur. Das Ambiente der Künstlerkolonie von Barbizon – darunter Corot und Millet – ihr antiklassizistisches Programm zugunsten der bislang wenig anerkannten Landschaftsmalerei als Austragungsort der schöpferischen Phantasie87, verbürgen den genius loci, die Mutter wird ihn umhegt haben, und hier beschäftigt sich Taine mit den Studien der Physiologen, die wenig später für die Impressionisten wichtig geworden sind. So arbeitet er intensiv an seinem antimetaphysischen Buch über die physische Organisation, über Ursprung und Bewegung der Imagination als Zentrum der Eigentümlichkeit des Menschen: „En fait d’éléments réels et de matériaux positifs, je ne trouve pour constituer mon être que mes événements et mes états, futurs, présents, passés. Ce qu’il y a d’effectif en moi, c’est leur série ou trame. Je suis dans une série d’événements et d’états successifs, sensations, images, idées, perceptions, souvenirs, prévisions, émotions, désirs, volitions, liés entre eux, provoqués par certains changements de mon corps et des autres corps.“88 „Was also die wirklichen Elemente und positiven Materialien betrifft, so finde ich um mein Wesen zu constituiren, nur meine zukünftigen, gegenwärtigen und vergangenen Ereignisse und Zustände. Was thatsächlich in mir ist, ist die Reihe
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und das Gewebe derselben, ich bin also eine Reihe von successiven Ereignissen und Zuständen, Wahrnehmungen, Bildern, Begriffen, Vorstellungen, Erinnerungen, Voraussichten, Gemüthsbewegungen, Begierden, Willensregungen, die unter sich verbunden sind, durch gewisse Veränderungen meines Körpers und der anderen hervorgerufen werden […].“89
Argumentation, Vokabular und Satzmelodie dieses kurzen Abschnitts legen folgende Spur Taines frei: Das „Ich“ ist der Effekt einer rhythmischen Abfolge von inneren Zuständen und Ereignissen, die rasch aufeinandertreffen. Instabil ist das „Ich“, zusammengesetzt aus einer Serie von Eindrücken und Bildern, die untereinander verbunden sind und Zeit zusammenschließen: die Gegenwart von Wahrnehmungen, die Vergangenheit aus Erinnerungen, die Zukunft in Wünschen und Visionen. Sie alle ereignen sich im „Ich“, sind nicht vorhersehbar oder intendierbar, wandeln sich, wie der eigene oder ein anderer Körper sich bewegt. Wer also diesen Passus liest, kann einige Einsichten in die menschliche Psyche entdecken, die gewissermaßen in der Luft lagen, bevor Freud seine Typologien formulierte und bestätigte, dass das „Ich“ nicht mehr Herr im eigenen Hause ist. 1880 schreibt Nietzsche in nachgelassenen Fragmenten jene Versuche einer außermoralischen Weltbetrachtung, die er unter der „Optik des Künstlers“ anstellt, „in Verehrung des Genies“. Dort finden sich, vergleichbar einer Bemerkung Taines in De L’Intelligence und Valérys späterem philosophischen Interesse für Muschel und Qualle90, folgende maritime Merkwürdigkeiten über das schöpferische Tätigsein als einer zweckfreien „Kraft“, als Inbegriff des Lebens: „Das Genie ist wie ein blinder Seekrebs, der fortwährend nach allen Seiten tastet und gelegentlich etwas fängt; er tastet aber nicht, um zu fangen, sondern weil seine Glieder sich tummeln müssen [...] die wenigsten Handlungen geschehen nach Zwecken, die meisten sind nur Thätigkeiten, Bewegungen, in denen sich eine Kraft entladet. [...] Alles, was lebt, bewegt sich, diese Thätigkeit ist nicht um bestimmter Zwecke willen da, es ist eben das Leben selber.“91
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Und ebenfalls 1880, also zehn Jahre vor der Publikation des Grundlagenwerks Principles of Psychology, spricht William James in dem Artikel Great Men, Great Thoughts, and the Environment von der „excessive instability of their brains“, und er beschreibt die Tätigkeit des schöpferischen Gehirns folgendermaßen: „But turn to the highest order of minds, and what a change! Instead of thoughts of concrete things patiently following one another in a better track of habitual suggestion, we have the most abrupt cross-cuts and transitions from one idea to another, the most rarified abstractions and discriminations, the most unheard-of combinations of elements [...] a seething caldron of ideas [...] the conception of a [new, brilliant] law is a spontaneous variation [...] [that] flashes out of the brain [...] because the instability of the brain is such as to tip an upset itself [...].“92
Für die Bewegtheit des zerebralen Geschehens setzt James hier die Metapher des Kessels, ja des Hexenkessels, die bei Valéry wieder erscheint93, und später vergleicht er, wie es auch schon Taine getan hat, die inneren Turbulenzen mit einem Kaleidoskop, das die in ihm angelegten Figuren von begrenzter Anzahl immer wieder durchschüttelt und zu unendlich vielen Varianten bildet. Und während auch Bergson, und dann Freud, die Vorstellung eines dramatischen zerebralen Schauplatzes vermitteln, ist es Marcel Proust, der die Unvermitteltheit, Mobilität und Komplexität der imaginären und dichterischen Prozesse in jener Metapher der „Kathedrale“ zusammenfasst, die sich ebenfalls bereits bei Taine findet: „[une cathédrale] dont les derniers éléments sont des graines de sable ou de silex agglutinés en pierres de diverses formes: attachées deux à deux ou plusieurs à plusieurs, ces pierres font des masses dont les poussées s’équilibrent, et toutes ces associations, toutes ces pressions s’ordonnent dans une vaste harmonie.“94 „[ein Dom, wo] die letzten Elemente Sandkörner oder Kiesel, die zu verschiedenen geformten Steinen zusammengewachsen sind; zu je zwei oder mehreren
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miteinander verbunden, bilden diese Steine Massen; die durch ihren Druck einander im Gleichgewicht halten; und alle diese Verbindungen und Strebungen ordnen sich zu einer grossen Harmonie.“95
Sandkörner, Steine, Verschiebungen, Verbindungen – die Hardware des Imaginären, die Nanosubstanz der inneren Bilder, besteht nicht aus starren Figuren des klassischen Imaginations- oder Gedächtnisraumes: Museum, Archiv96; vielmehr ist sie selbst stets in Bewegung, und Form und Formauflösung bilden die mobile zerebrale Ordnung, für die Taine an anderer Stelle auch die Bilder von beweglichen Lettern und Tanzfiguren benutzt. Ganz und gar unmetaphysisch, und ebenso jenseits aller pathologischen und psychiatrischen Interessen, die das Jahrhundert bewegen97, konstruiert Taine ein in sich harmonisches System der tätigen schöpferischen Phantasie, das Furore macht, die Intensität eines „tourbillon“ annehmen kann98, das nervös, vielleicht manisch, aber nicht krank ist. Noch sein Lehrer Renan hatte den psychischen Ausnahmezustand als „maladie nerveuse“ gewertet und dafür ebenfalls den Begriff „hallucination“ verwendet, und auch in der Phänomenologie MerleauPontys wird dieser Begriff wieder erscheinen für außergewöhnliche, phantomatische Wahrnehmungsintensitäten.99 Taine benennt die unauffälligen und die außergewöhnlichen zerebralen Prozesse als Bilder, als „images“, oder ebenfalls als „hallucination“. „Images“ und „hallucination (vraie)“ stehen für innere Vorstellungen, Empfindungen und Bildwelten, die er immer wieder auch als Phantome oder Simulakren bezeichnet. Sie ereignen sich als Impression, Erinnerung und Erwartung, die stets Figuren des Gegenwärtigen sind und im Kern dem gleichen Programm folgen. Sinnliche Reize und Kopplungen der Nerven, von denen sie hervorgerufen werden, nennt Taine, der Sensualist des nervösen Zeitalters, „connecteurs“, und deren „action chimique“ und deren „excitation“ vergleicht er, noch einmal in Anlehnung an die Metapher von Elektrizität oder „Körperstrom“100, mit der Luft, welche die Schwingungen einer vibrierenden Saite transportiert, mit einem Eisenkabel, das elektrisch aufgeladen ist: „le nerf est un conducteur, comme l’air qui transmet les oscillations d’une corde vibrante, comme le fil de
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fer qui transmet l’action électrique.“101 Mit der Frage nach der molekularen Bewegung der nervlichen Aktivität und dem Bekenntnis seiner Unwissenheit, „Quel est ce mouvement moléculaire qui se propage tout le long du nerf connecteur? On l’ignore […]“102, ruft er die Grenzen der eigenen Weisheit und des Wissens seiner Zeit auf und formuliert doch zugleich mit der Akzentuierung der Dynamik von zerebralen Tätigkeiten und Prozessen, „action“, „mouvement“, „oscillations“, „connection“, „impulsion motrice [de] l’écorce [corticale]“, Denkmuster, die leitende Fragen neuerer Hirnforschung bleiben. Zugleich bedeuteten sie ja eine besondere ästhetische Herausforderung für die „Nervenkunst“ und die Medien des beginnenden 20. Jahrhunderts: die mediale Darstellung und Analyse nämlich von kontinuierlichen, häufig schnellen Bewegungsabläufen, die, wie das Vibrieren einer Saite – oder die zerebrale Tätigkeit – in den chronophotographischen Etüden von Marey und Muybridge, im „fotodinamismo“ der Gebrüder Bragaglia, mit den malerischen und plastischen Experimenten von Duchamp, Boccioni, Balla als physikalische Vibration oder geistige Zustände, als „energia cerebrale“ oder „stati d’animi“, morphologisiert oder synthetisiert wurden.103 Die imaginäre Bewegung kann gekoppelt sein an die Bewegung, die körperliche Motorik, und Taine antizipiert das Konzept der psychophysischen „Dynamogenie“ Férés und Sherringtons, das die wandelnden Philosophen der Antike ebenso wie der träumende Spaziergänger Rousseau ohnehin längst praktiziert hatten, weil die körperliche Bewegung ein Inzitament der Einbildungskraft ist. Aber die körperliche Bewegung oder der aktuelle sinnliche Eindruck ist keine notwendige Bedingung der schöpferischen Intuition. Als gesteigerte Aufmerksamkeit, als Halluzination, Trance oder inneres Ereignis, „événement intérieur“104, kann sie auch in Zeiten der Ruhe zufallen, wie ein Traum, dessen Bilder ganz wirklich sind, oder wie die Präsenz von Tönen und Timbres, die der gehörlose Beethoven mittels der auditiven Imagination hörte und komponierte. Und dann erzählt Taine eine Geschichte, die Stefan Zweig besonders fasziniert haben dürfte, liest sie sich doch wie eine Anregung zur Schachnovelle: Es ist die Geschichte eines amerikanischen Freundes, der lange nicht mehr Schach gespielt
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hat, dann aber in der Hochform größter Energie, Intensität und Luzidität brilliert, wenn er „blind“ Schach spielt, allein in einer Ecke, die Augen auf die Wand gerichtet und mit dem ersten Eindruck des aufgestellten Schachbretts beginnend, oder auch in schlaflosen Nächten, das Gesicht in das Kopfkissen gedrückt.105 Die schöpferische Phantasie ist, so scheint es, der Effekt einer unendlichen und unvorhersehbaren Verbindung von alten und neuen Eindrücken, Erinnerungsbildern und Reizen, die alle vom Gehirn organisiert werden, kombinatorisch und differentiell, systematisch und zuletzt semantisch. Und so wie Taine die Schachmetapher zur Veranschaulichung der geistigen Operationen einsetzt, benutzt Ferdinand de Saussure sie einige Jahrzehnte später, um den systemischen Charakter der Sprache zu erläutern.106 Immer wieder spricht Taine auch vom Gehirntheater oder einem Buch, in dem die Buchstaben eines begrenzten Alphabets von Seite zu Seite anwachsen, und alle seine Bilder evozieren das Werk unendlicher zerebraler Kombinationen „[une] œuvre d’une combinaison incessante des impressions actuelles et des clichés anciens“107, in die individuelle und kollektive Ereignisse von langer Dauer eingegangen sind. Mit der Metapher der „clichés anciens“, also der Druckplatte oder auch des photographischen Klischees, verwendet Taine das geläufige Bild einer phantomatischen Spur, die, unauslöschlich, von der Vorstellungskraft mitgeschrieben wird. Aber er pointiert dieses Bild in signifikanter Weise. Er überlagert nämlich die Vorstellung einer festen, nur durch äußere chemische Einwirkung veränderbaren Platte zugunsten der Akzentuierung der beweglichen Lettern der Drucktechnik („lettres mobiles“). Auf ihnen beruht der Mechanismus des Klischierens, dem der Mechanismus der Erinnerung gleicht, basierend auf dem physikalischen Verhältnis von Ruhe, Bewegung, Geschwindigkeit, Kraft, Masse.108 Wenn also Taine ausgeht von architektonischen Bildern hoher Bauwerke oder von räumlicher Tiefe, den erleuchteten und dunklen Magazinen einer Druckerei, so werden diese Räume, die doch aus Stein sind, sukzessive erfasst von Mobilität:
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„Cette écorce cérébrale ressemble à une imprimerie où l’atelier actif, éclairé, est entouré de vastes magasins obscurs et immobiles. [...] Dans l’atelier, le travail est double: sous l’impulsion du dehors, il compose incessamment des mots qu’il renvoie dans les magasins où ils se transcrivent en clichés fixes; d’autre part, les magasins lui envoient incessamment des clichés fixes qu’il transcrit en lettres mobiles.“109 „Diese graue Rinde […] gleicht einer Druckerei, deren thätige, erhellte Werkstatt von weiten, dunkeln […], einsamen Magazinen umgeben ist. […] In der Werkstatt ist die Arbeit eine doppelte: einmal setzt sie unter den Eindrücken der Aussenwelt fortwährend Worte zusammen, die sie in die Magazine schickt, wo sie in feste Klischés übertragen werden; anderntheils schicken die Magazine ihr fortwährend neue Klischés zu, die sie in bewegliche Lettern umsetzt.“110
Die Dynamik und den Rhythmus der miteinander immer wieder neu kombinierbaren Vorstellungsbilder der „fantasmagorie intérieure“111, beschreibt er als ein „jeu […] de la cellule […] comparé […] à une figure de danse [Herv.i.O.].“112 „Spiel“ und „Tanz“ als Figuren physiologischer und künstlerischer Aktivität deuten hier auf die Abwendung von der Vorstellung buchstäblich auf „Entwicklung“ wartender, aber selbst ruhender, eingefrorener Urbilder. Stattdessen hat man es zu tun mit der Annahme einer unablässigen Bewegung aller aufeinander geschichteten und ineinander gelagerten, energetischen Bilder, die aus der longue durée der Geschichte des Lebens kommen und die von dem Evolutionsbiologen Richard Semon 1904 „Mneme“ oder „Engramme“113 genannt werden. Die inneren Bilder beschleunigen sich in halluzinatorischen Zuständen schöpferischer Erregung und Aktivität, als „accélération du jeu des cellules corticales“114. Flaubert, mit dem sich Taine nicht nur brieflich austauschte, sondern auch regelmäßig anlässlich der Diners „Chez Magny“ traf – dem Intellektuellentreffen in einem Szene-Restaurant des Second Empire – schrieb über seine schöpferische Arbeit, ars combinatoria und aufflammendes Feuer zugleich, an Louise Colet:
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„Mes voyages, mes souvenirs d’enfance, tout se colore l’un et l’autre, se met bout à bout, danse avec de prodigieux flamboiements, et monte en spirale. Très souvent, il nous semble que telle idée s’est reveillée en nous à l’improviste et par hasard, nous ne voyons en quoi elle tient à la précédente; en fait des intermediaries ont servi de transition invisible.“115 „Meine Reisen, meine Kindheitserinnerungen, alles färbt sich gegenseitig, reiht sich aneinander, tanzt in hellem Flammenschein und steigt spiralförmig empor. Sehr häufig haben wir den Eindruck, dass eine Idee in uns unerwartet und zufällig geweckt wird. Wir erkennen nicht, was sie mit dem Vorausgehenden zu tun hat, für die Vermittlung haben unsichtbare Übergänge gesorgt.“116
Taine und Flaubert also, die einander so vertraut waren, dass sie 1869 Arm in Arm zum Begräbnis des Literaturpapstes Sainte-Beuve schritten117, teilten die Vorstellung von einer unablässig wachsenden, immer wieder neu sich konfigurierenden Komplexität des Gehirns und der memorierenden, imaginären und schöpferischen Tätigkeit mit ihrer eigenen aufmerksamkeitsgesteuerten Ökonomie und Logistik. Immer ist das Imaginäre in Bewegung; es kann in Phasen mystischer oder poetischer Vision, wie schon Baudelaire beobachtete, erregt sein wie im Wahn oder auch wie im Rausch durch Haschisch, Opium und Absinth118, und manchmal springen starke Eindrücke hinein und wieder hervor – wie ein Funke, eine Stichflamme, scheinbar zufällig, spontan, und erscheinen und verschwinden doch in der Verbindung mit allen anderen Prägungen. Bei Taine heißt es über das Gehirn: „[...] c’est un organe répétiteur et multiplicateur […] un groupe d’événements simultanés, en train de se faire et de se défaire, telle sensation saillante parmi d’autres moins saillantes, telle image prépondérante parmi d’autres qui vont s’affaiblissant.“119 „Es ist ein repetitorisches und multiplicatorisches Organ […] eine Gruppe gleichzeitiger Ereignisse, die theils im Entstehen, theils im Vergehen begriffen
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sind, eine lebhafte Empfindung unter andern minder lebhaften, ein farbenglänzendes Bild unter andern weniger hellen.“120
Das aber ist eine aufregende Idee, die rudimentäre Vorstellung nämlich eines sich beständig neu organisierenden neuronalen Systems, einer neuronalen Plastizität, aus deren Nebelschwaden, „brouillard“, sich klare Vorstellungen lösen. Henri Bergson beschreibt diese Prozesse 1896, in Matière et mémoire, als amorphe Vielfalt und Unendlichkeit möglicher Verzweigungen und Verknüpfungen voller leuchtender Punkte im Nebel.121 Es ist die Vorstellung eines operationellen und kreativen Programms, welches die psychischen Repräsentationen nicht in Hirnarealen lokalisiert und fixiert, sondern in einem beständigen kinästhetischen Prozess neu moduliert, einem Prozess, den William James nicht nur in das Bild des Hexenkessels fasst, sondern auch in die bereits von Taine benutzte Metapher des „Kaleidoskops“122, „dessen inneres Gleichgewicht sich in einem ständigen, alles betreffenden Wechsel befindet“: „Once more take a look at the brain. We believe the brain to be an organ whose internal equilibrium is always in a state of change – the change affecting every part. [...] As in a kaleidoscope [...] so in the brain the perpetual rearrangement must result in some form of tension [...] we have only those names of ‚transitive states‘ or ‚feelings of relation[ ދ...]. As the brain-changes are continuous, so do all these consciousnesses melt into each other like dissolving views. Properly they are but one [...] unbroken stream.“123
Mit dem Bild des Kaleidoskops verbindet also auch James die Vorstellung einer unablässig tätigen Einbildungskraft und zudem die schöne, von Baudelaire und Verlaine bis zu Bergson, Calvino und Barthes angeführte Idee der modernen Literatur, die in immer neuen, überraschenden und offenen Anordnungen die alte Vorstellung eines abgeschlossenen „Werkes“ unterläuft. Die Formel des „unbroken stream“ freilich deutet den „stream of consciousness“ an, der sich wie automatisch verbindet mit den europäischen Gedächtnis- und Imaginationsromanen zu
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Beginn des 20. Jahrhunderts. Taine seinerseits entfaltet früher als James, der ihn rezipiert, auf der Suche nach dem kreativen Programm, immer weitere interessante Einzelheiten seiner operationellen Gehirnphysiologie und -ästhetik. Das Kombinationsmuster nämlich der inneren Bildfolgen „de notre fabrique“124, wie er sagt, beruhen auf Verknüpfungen durch „contiguité“ und „similitude“125 – ein Gedanke, der sich in der memoria-Tradition seit Aristoteles findet und den auch James in seine Theorie der Assoziation übernimmt. Kontiguität und Similarität oder Metonymie und Metapher: Die poetologische Prägnanz, aber auch die neurologisch-linguistische und psychoanalytisch-semantische Relevanz sind inzwischen weit erforscht, sei es durch Roman Jakobsons Aphasie-Forschungen, sei es in Freuds Traumdeutung und Lacans System des Begehrens und des Symptoms. Die Figuren der Kontiguität und der Similarität liegen so, als Koordinaten eines nicht abreißenden, unwillkürlichen Stroms des Imaginären, im besten Fall einem kolossalen Bildprogramm, einer ganz großen, unendlichen Erzählung zugrunde oder markieren, als ihr Gegenteil, eine Störung, wie im Fall der Aphasie oder der Stockung einer eingeschränkten, verarmten Erinnerung, wie Proust sie mit Marcels Fixierung auf die Stunde des Zubettgehens, sieben Uhr abends, eindringlich zeigt, bevor die Epiphanien überraschend, leuchtend aus der Latenz hervortreten können und die ganze verlorene Zeit, den großen Roman des Lebens freilegen, „puis tout d’un coup, à notre grande surprise, reparaître avec éclat“.126 Diese fallen in der Regel durch einen überraschenden sinnlichen Stimulus zu und entfalten ein synästhetisches, intermediales Potential: Das kann, so Taine, ein Klavierton sein, ein Duft, ein Schritt; das ist, so Proust, der Geschmack der madeleine, ein Motiv der petite sonate de Vinteuil, der flüchtige Duft von Weißdorn und Flieder, Marcels zufälliges Stolpern über den Pflasterstein, und alle diese Reize sind für den, der sich ihnen hingibt, Inzitamente des Imaginären und Facetten des Ichs, „des composants successifs de notre moi“.127 Abgeleitet aus der vitalistischen Idee des Lebensstroms, erscheint in einer doch optimistischen Zusammenschau ein bewegtes, sich immerzu ereignendes,
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fließendes und erzählbares, trotz aller Ungereimtheiten geschlossenes, harmonisches „Ich“. Als einer der ersten vermittelt Taine in dieser ausführlichen Weise eine Vorstellung von neuronaler Aktivität, das durch Beobachtung und Kontemplation, Lektüren und Konjekturen gereifte Muster einer unablässigen Kinetik und Prozessualität der menschlichen Einbildungskraft und einer enormen kinetischen und semantischen Beschleunigung des inneren Geschehens in schöpferischen Augenblicken und Phasen. Sie sind vergleichbar dem Traum und dem Wahnsinn, die er, nicht zuletzt als Besucher der Charcot-Vorlesungen in der Salpêtrière, interessiert beobachtete, weil er hoffte, dadurch Aufschluss zu erhalten über Wachheit und Vernunft, oder auch die Leidenschaften und den Willen, denen er sich in seinem nächsten Buch, Traité de la psychologie, widmen wollte. Zu dieser Studie jedoch gibt es nur Skizzen.128 Während Taine in den kunstphilosophischen Schriften abrückt von dem Gedanken einer bloßen Imitation oder Repräsentation der äußeren Welt in der Kunst, verficht er in De l’Intelligence die Idee einer schöpferischen Phantasie oder Erregung, die nichts nachahmt und stattdessen immerzu erfindet. Das war auch Baudelaires Gedanke. Er sah darin den Heroismus des modernen Künstlers im Ringen mit Flüchtigkeit und Form, und er selbst stellte nach den Selbst-Experimenten der Paradis artificiels fest, dass die einzig wirksame Droge die Kunst selber ist. Sie ist zugleich Rausch und Arbeit, Ekstase und Reflexion.129 So scheint es, dass auch in den Vorstellungen von der imaginären Tätigkeit die Signatur der Moderne lesbar ist insofern, als zwar niemals etwas verloren ist, alles aber stets neu erfunden wird. Taine steht in den Spannungen und Ambivalenzen des Zweiten Kaiserreichs und des vorletzten Fin-de-Siècle als eine zugleich erratische und schillernde Gestalt, die faszinierte und polarisierte und Paul Bourget und Maurice Barrès zu literarischen Figuren und psychologischen Studien angeregt hat. Die pathogene Erschöpfung war Taines Sache nicht. Als Liebhaber der Antike und der italienischen Vormoderne favorisier-
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te er antidekadentistische Impulse, virtù, Energie, Jugend. Nervöse Irritation und Überreizung freilich waren für ihn deshalb als Zustände, Krisen, Störungen interessant, weil sie zur Intensivierung innerer Bilder anregen und damit zum Analogon der Kreativität werden können. Insofern ist Taine auch da, wo er Psychologe ist, immer Kunstphilosoph. Seine Reise nach Italien schließt mit der Ankunft in den Alpen, vom Lago Maggiore aus. Der Reisende ist von ganz viel Kunst ermattet und schreibt am 10. Mai in sein Tagebuch: „Qu’est-ce qu’un musée, sinon un cimetière, et qu’est-ce qu’une peinture, une statuaire, une architecture, sinon le mémorial qu’une generation mortelle se dresse anxieusement à elle-même pour partager sa pensée caduque par un sépulcre aussi caduc que sa pensée? Au contraire, devant les eaux, le ciel, les montagnes, on se sent devant des êtres achevés et toujours jeunes. L’accident n’a pas de prise sur eux, ils sont les memes qu’au premier jour; le meme printemps leur versera tous les ans de pleines mains la meme séve [sic]; nos défaillances se relevant devant leur force, et notre inquiétude s’amortît sous leurs paix.“130 „Was ist ein Museum, wenn nicht ein Kirchhof, was ein Gemälde, ein Standbild, ein Bauwerk, wenn nicht das Denkmal, das ein stattliches Geschlecht, voller Bangen sich selbst errichtet, um sein hinfälliges Denken durch ein Grabmal zu verlängern, das ebenso hinfällig ist wie jenes? Vor dem Wasser und dem Himmel und den Bergen dagegen fühlt man sich vor vollkommenen und ewig jungen Wesen. Der Zufall hat keine Macht über sie, sie sind dieselben wie am ersten Tage, derselbe Frühling wird ihnen alle Jahre mit gleich vollen Händen denselben Saft spenden, unsere Schwächen hören auf in der Berührung mit ihrer Kraft, und unsere Unruhe vergeht in ihrem Frieden.“131
Hier wird, wie vereinzelt in den ersten Studien, ein überraschend dekadenter Ton angeschlagen, der die modische Schwäche und Unruhe des Fin-de-Siècle ahnen lässt, die Müdigkeit, Neurasthenie des kulturell Übersättigten, Mallarmés „la chair est triste, hélas, et j’ai trop lu tous les livres.“132 Und ebenso erklingt hier ein frühes Lob der Alpen, die in
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den nachfolgenden Jahrzehnten nicht nur, wie schon bei Rousseau, als Sehnsuchtsort verherrlicht, sondern auch in „Luftkurorten“ durch die körperlich und geistig Erschöpften besiedelt werden. Die „Natur“ ist nun das organisierte Refugium für Gestresste, und die aufreibende und erregende, zuletzt abstumpfende Steigerung des Nervenlebens, die Georg Simmel 1903 im betriebsamen und intellektuellen Leben der Metropolen diagnostiziert, scheint heute, mehr als ein Jahrhundert später, aktueller denn je. Simmel empfiehlt 1895 in Alpenreisen die Erholung und den Sport in den Bergen und sinniert angesichts des Hochgebirges über Form und Bildung, über materielle und geistige Bewegung und Erstarrung133; Angelo Mosso hingegen nennt 1891 in La Fatica die Bergwelt eine durch Zivilisation bereits bedrohte Inspirationsquelle; er selbst nutzt sie als „Laborlandschaft“ und entdeckt, als Nebeneffekt der psychophysiologischen Messungen an Höhenluft-Probanden, die Schönheit der Skispuren im Schnee. Diese gleichen auf wunderbare Weise die zackigen Wellenlinien aus, die seine Apparate in Pulskurven vorrangig negativer psychischer Bewegungen – Müdigkeit, Angst – aufgezeichnet haben. Beide zusammen stehen sie für ein kurioses „Kurvenglühen“ der vorletzten Jahrhundertwende.134
Abb. 15: Mosso, Accélération des battements du cœur par l’effet de la peur en A et en B, 1886
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Taine, der Pariser Querdenker, hat den Schwung, den Elan der Gemälde Tintorettos gepriesen und spekuliert in seinen späteren Studien zur schöpferischen Phantasie über den Strom des Imaginären als Ausdruck eines stets bewegten, zuletzt harmonischen zerebralen Innenreichs, das ebenso mobil und systemisch ist wie die natürlichen und kulturellen Prozesse der Außenwelt. Für Metaphysik war in seiner Methode, die eher thermodynamischen Sätzen folgt, eigentlich kein Raum vorgesehen. Das Reisetagebuch Voyage en Italie freilich beendet Taine mit naturphilosophischen Meditationen. Sie schichten romantisches Erbe, Dekadenzbewusstsein, Antikensehnsucht aufeinander, sind literarische, ja mythische Veranschaulichung eines dynamischen Erlebens und Wissens sub specie aeternitatis. Sie mögen belächelt oder auch beargwöhnt werden, und doch klingen sie heute wie eine Mahnung von gestern für die Zukunft: „A travers eux apparaît la puissance uniforme qui se déploie par la variété et les transformations des choses, la grande mere féconde et calme que rien ne trouble parce que hors d’elle il n’y a rien. Alors, dans l’âme, une sensation se degage, inconnue et profonde. C’est son fond même qui apparaît. Ces couches innombrables dont la vie l’a encroûtée, ses debris de passions et d’espérances, toute la boue humaine qui s’est entassée à sa surface se défait et disparaît; elle redevient simple, elle retrouve l’instinct des anciens jours, les vagues paroles monotones qui la mettaient jadis en communication avec les dieux, avec ces dieux naturela qui vivent dans les choses; elle sent que toutes les paroles que depuis elle a prononcées ou entendues ne sont qu’un bavardage compliqué, une agitation d’esprit, un bruit de rue, et que s’il y a une minute saine et desirable dans la vie, c’est celle où, quittant les tracasseries de sa fourmillière, elle perçoit, comme dissent les vieux sages, l’harmonie des spheres, c’est-à-dire la palpitation de l’univers eternal. […] les cimes éblouissantes se confondent avec la blancheur des nuages, en sorte qu’on ne sait plus où finit la terre et où commence les ciel.“136
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„Durch sie [Wasser, Himmel, Berge] hindurch taucht die einheitliche Macht auf, welche sich in den Mannigfaltigkeiten und Wandlungen der Dinge entfaltet, die große fruchtbare und stille Mutter, welche nichts stört, da es außer ihr nichts gibt. Dann erwacht in der Seele eine unbekannte und tiefe Empfindung. Ihr Grund selber taucht auf, die unzähligen Schichten, mit denen das Leben sie bedeckt hat, die Trümmer ihrer Leidenschaften und ihrer Hoffnungen, der ganze menschliche Schmutz, welcher sich auf ihrer Oberfläche gehäuft hat, zergeht und verschwindet; sie wird wieder schlicht und findet den Trieb der alten Tage wieder, die unbestimmten eintönigen Worte, welche sie einst in Verbindung setzten mit den Göttern, mit jenen natürlichen Göttern, welche in den Dingen leben; sie fühlt, dass alle Worte, die sie seitdem ausgesprochen und vernommen hat, nur ein umständliches Geschwätz sind, eine Erregung des Geistes, ein Lärm der Straßen und dass, wenn es eine gesunde und wünschenswerte Minute in ihrem Leben gibt, es die ist, in welcher sie, die Scherereien ihres Ameisenhaufens verlassend, wie die alten Weisen sagten, die Harmonie der Sphären vernimmt, das heißt, das Herzklopfen des ewigen Universums. […] Die blendenden Gipfel verfließen in der Weiße der Wolken, so dass man nicht mehr weiß, wo die Erde aufhört und der Himmel beginnt.“137
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ANMERKUNGEN 1
Hippolyte Taine mit Katze, Abbildung siehe URL: http://upload.wikimedia. org/wikipedia/commons/3/3e/Hippolyte_Taine_with_cat.jpg vom 12.02. 2012.
2
Taine: Philosophie de l’art (Voyage en Italie, Essais de critique et d’histoire), textes présentés et annotés par Jean-Francçois Revel, préface de Roger Bruyeron, nouvelle edition revue, corrigée et augmentée, Paris 2008, 141.
3
Taine: Reise in Italien, ins Deutsche übers. von Ernst Hardt, Köln 1967, 333. Falls nicht anders angegeben wird nach dieser Ausgabe zitiert.
4
Zu nennen sind hier zuerst die schmalen Tagungsbände: Stéphane Michaud: Taine au carrefour des cultures du XIXe siècle, Paris 1996. Antoine Compagnon et al. (Hg.): Relire Taine, Paris 2001.
5
Taine: Essais de critique et d’histoire, Paris 21904, 49-85; vgl. Pascale Seys: Hippolyte Taine et l’avènement du naturalisme. Un intellectuel sous le Second Empire, Paris 1999, bes. Kap. 3; vgl. auch Ulrich Schulz-Buschhaus: „Taine und die Historizität des Stils“, in: Ludwig Pfeiffer/Hans Ulrich Gumbrecht, Stil. Geschichten und Funktionen eines kulturwissenschaftlichen Diskurselements, Frankfurt a. M. 1986, 189-199.
6
Taine: Essais de critique et d’histoire, 56.
7
Ebd., 49; zum Dekadenzbewusstsein s. Drost: Fortschrittsglaube und Dekadenzbewusstsein im Europa des 19. Jahrhunderts, Heidelberg 1986.
8
Taine: Essais de critique et d’histoire, 77.
9
Taine: Studien zur Kritik und Geschichte, ins Deutsche übers. von Paul Kühn und Anathon Aall, Paris/Leipzig/München 1898, 98.
10 Osterhammel: Die Verwandlung der Welt, 1185. 11 Diese Haltung findet sich bis in die umstrittene Spätschrift von 1872, Les Origines de la France contemporaine; vgl. auch die kritische Studie von Eric Gasparini: La pensée politique d’Hippolyte Taine. Entre traditionalisme et libéralisme, Aix-Marseille 1998, 136. 12 Zu „Völkerkunde“ (später Sozialanthropologie oder Ethnologie) vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter/Karlfried Gründer/Gottfried Gabriel, Bd. 11, Darmstadt 2001, 1094f.
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13 Siehe Verweis auf Snows The Two Cultures and the Scientific Revolution in Anm. 12, Vorwort. 14 Taine: De L’Idéal dans l’art, Paris 1867, 34f.: „géologie morale“ ist hier die Metapher für eine vielschichtige, über sehr lange Zeit der Natur- und Kulturgeschichte angelegte geistige Verfasstheit des Menschen: „Le temps gratte et creuse sur nous comme un piocheur sur le sol, et manifeste ainsi notre géologie morale […]“. Vgl. ebd., 42, auch „granit primitif“. 15 Zum Begriff der „Rasse“ vgl. Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 8, Darmstadt 1992, 26-29; Antje Sommer und Werner Conze in: Otto Brunner/ders./Reinhard Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 5, XX; Sarga Moussa: L’Idée de ‚race‘ dans les sciences humaines et la littérature (XVIIIE et XIXe siècles), Paris 2003. Markus Messling/Ottmar Ette (Hg.): Wort Macht Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie des 19. Jahrhunderts, München (in Druckvorbereitung); dazu auch: Markus Lenz: „Tagungsbericht zur internationalen Konferenz Wort Macht Stamm. Rassismus und Determinismus in der Philologie des 19. Jahrhunderts“ (26.-29. Mai 2011, Universität Potsdam), in: RZLG 35. 3/4.2011, 483-488. 16 Vgl. Laudice Rétat: „Renan et la symbolique des races“, in: Moussa, L’Idée de ‚raceұ dans les sciences humaines et la littérature, 321-328. 17 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, Paris 1866, 448. In der dt. Ausgabe Reise in Italien, 327: „Die unendliche Mannigfaltigkeit der Natur […] war ihm geöffnet. […] der Beschauer findet bei ihm […] ein vollkommenes Bild der Welt, eine Naturgeschichte, eine Weltgeschichte und eine Psychologie im Abriss.“ 18 Fernand Braudel: „Histoire et sciences sociales. La longue durée (I), in: ders., Ecrits sur l’histoire, Paris 1999, 41-83, hier: 51. 19 Braudel: „Geschichte und Sozialwissenschaften. Die lange Dauer“, in: ders.: Schriften zur Geschichte, Bd. 1: Gesellschaft und Zeitstrukturen, ins Deutsche übers. von Gerda Kurz und Siglinde Summerer, Stuttgart 1992, 49-87, hier 58. 20 Enzo Caramaschi: „Taine voyageur et critique d’art en Italie“, in: Michaud, Taine au carrefour des cultures du XIXe siècle, 35-40, hier 37.
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21 Zur Kritik an der Konstruktion von Nationalcharakteren vgl. Manfred Beller: Eingebildete Nationalcharaktere. Vorträge und Aufsätze zur literarischen Imagologie, Göttingen 2006; zum Gedanken der „Umwelt“ Wolfgang Radkau: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2002; Cornelia Klettke/Georg Maag (Hg.): Reflexe eines Umwelt- und Klimabewusstseins in fiktionalen Texten der Romania, Berlin 2010. 22 Taine: „L’École des Beaux-Arts et les Beaux-Arts en France“, in: ders., Philosophie de lҲart, 153-164, hier 162. 23 Dazu Émile Zola: „M.H. Taine“, 19.8.1866, Text als Vorwort zu Voyage en Italie, Paris 1866, aufgenommen in Adeline Wrona (Hg.): Zola journaliste. Articles et chroniques, Paris 2011, 117-123, dort 122: „Ce qui lui sera un eternal honneur, c’est d’avoir, le premier, affirmé hautement la liberté des manifestations humaines. Il accepte toutes les œuvres produites, et les étudie avec un égal intérêt. Il cherche simplement dans un poème ou dans un tableau l’expression d’un Coeur et d’un corps. Plus de règles ni de commune mesure: un large regard embrassant la vie de l’humanité entière. Il analyse et il dissèque; l’œuvre la plus grande sera l’œuvre la plus vivante et la plus personnelle. […] Il obéit à une idée unique, et c’est ce qui fait meme la puissance de son œuvre.“ Taine hingegen schrieb an Zola: „Quand on clôt toutes les percées et qu’on emprisonne le lecteur, fenêtres fermée, dans une histoire exceptionnelle, en tête à tête avec un monstre, un fou ou un malade, le lecteur a peur ; souvent même la nausée lui vient ; il crie contre l’auteur“, zit. in: Alain Pagès: Émile Zola, genèse du roman familial, siehe URL: http://www.item.ens.fr/index.php?id=377178 vom 20.02.2012. 24 Dazu Michael F. Zimmermann: „L'histoire sans histoire: la frise panathénienne comme vision idyllique“, in: Compagnon et al. (Hg.), Relire Taine, 101-159. 25 Jean-Paul Bouillon: „Histoire de l’histoire de l’art. Faut-il brûler Taine?“, in: 48/14, Conférences du Musée d’Orsay, Nr. 1 (1989), 52-62. 26 Siehe auch Philipp Müller: Erkenntnis und Erzählung. Ästhetische Geschichtsdeutung in der Historiographie von Ranke, Burckhardt und Taine, Köln u.a. 2008. Vgl. auch zuvor: Jürgen Kuczynski: Die Muse und der His-
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toriker. Studien über Jacob Buckhardt, Hippolyte Taine, Henry Adams, Berlin 1974. 27 Taine: Histoire de la littérature anglaise, Bd. 1, Paris 1866, XXIIIff.; sowie: La Fontaine et ses fables, Paris 1947, 7. In der dt. Ausgabe Taine: Geschichte der englischen Literatur, Bd. 1: Die Anfänge und die RenaissanceZeit, hg. von Leopold Katscher. Leipzig 1878, 22: „[…] wir können sie weder in genaue noch in annähernd richtige Formeln bringen. Wir sind bei ihnen auf literarische Eindrücke beschränkt; […].“ sowie: „Diese Wahrheiten sind literarisch(er) Art“, ins Deutsche übers. von Walburga Hülk; dazu auch Müller: Erkenntnis und Erzählung, 277; vgl. auch in dem frühen „Essai sur Tite-Live“, hg. von Jérôme Grondeux, Paris 1994, 230, zit. in: Müller: Erkenntnis und Erzählung, 278 die Bemerkung: „Pour être historien, il faut être grand écrivain“. 28 Taine: Essais de critique et d’histoire, 54ff.; vgl. auch ders.: De L’Idéal dans l’art, 63: „Les Dialogues de Platon, qui représentent la jeunesse héroïque de l’homme agissant ou la charmante adolescence de l’homme pensant“; zum Kult der „époques primitives“ s. ebd., 107, auch 178: „la conception primitive, d’abord élaborée dans les mystères de temples, puis transformée par les songes des chantres, atteint son achèvement sous la main du sculpteur.“ Zu Antike und Klassizismus in Kunst und Kunstrkritik vgl. Drost: „Heinrich Heines Salons im Kontext französischer Kunstkritik“, in: Ralph Häfner (Hg.), Heinrich Heine und die Kunstkritik seiner Zeit. Akten des internationalen und intedisziplinären Kolloquiums, Paris 26.-30. April 2006, Heidelberg 2010, 3-30; vgl. allgemein: Esther Sophia Sünderhauf: Griechensehnsucht und Kulturkritik. Die deutsche Rezeption von Winckelmanns Antikenideal, 1840-1945, Berlin 2004. 29 Stefan Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine, Masch. Diss., Wien 1904, 111, 78, zit. in: Natascha Weschenbach, Stefan Zweig und Hippolyte Taine. Stefan Zweigs Dissertation über „Die Philosophie des Hippolyte Taine“, Amsterdam 1992, hier 89 und 93. 30 Müller: Erkenntnis und Erzählung, hier bes. 245-251 zur neueren Forschungslage. 31 Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine, 89, 90, 91.
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32 Taine: Philosophie de lҲart, 47. 33 Ebd., 55f. 34 Taine: Philosophie der Kunst, ins Deutsche übers. und hg. von Ernst Hardt, Jena 1922, 36f. 35 Vgl. Schulz-Buschhaus: „Taine und die Historizität des Stils“, in: Pfeiffer/Gumbrecht, Stil, 189-199; s. auch Schulz-Buschhaus: Das Aufsatzwerk online, Institut für Romanistik, Karl-Franzens-Universität Graz, URL: http://gams.uni-graz.at/usb/ vom 02.08.2011. 36 Taine: Philosophie de lҲart, 51. vgl. zu Taines Hollandreisen im Zusammenhang seiner Kunstreisen: Rein Wiarda: Taine et la Hollande, Paris 1938 (auf S. 45: „méthodiques voyages“). 37 Ders.: Philosophie der Kunst, 32ff. 38 Ders.: Reise in Italien, 335; in Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 476, heißt es „une idée d’ensemble“. 39 Zweig: Die Philosophie des Hippolyte Taine, 106, vgl. 80, zit. in Weschenbach: Stefan Zweig und Hippolyte Taine, 86. 40 Zweig, ebd., 107; Weschenbach: Stefan Zweig und Hippolyte Taine, 86. 41 In diesem Zusammenhang grundlegend Neumann: „‚Tourbillon“ދ, s. Kapitel II und IV. 42 Taine: „Mémoires du duc de Saint-Simon“, in: Journal des Débats, 31. Juli, 3./4. August 1856“, in: Taine: Essais de critique et d’histoire, 218. 43 Taine: Studien zur Kritik und Geschichte, 122f. 44 Hülk: „Le masque et la plume. Proust liest Flaubert“ (Vortrag bei der Deutschen Proust-Gesellschaft, Köln 2010), in Druck für Proustiana, Köln 2012. 45 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 459. 46 Ders.: Reise in Italien, 333. 47 Abbildung in: Miguel Falomir (Hg.): Tintoretto, Madrid: Katalog der Ausstellung des Museo Nacional del Prado 2007, 38. 48 Gallerie dell’Accademia, Venedig; s. a. Frederick Ilchman: „Tintoretto as a Painter of Religious Narrative“, in: Falomir (Hg.): Tintoretto, 63-94; vgl. Robert Echols: „Tintoretto the Painter“, ebd., 25-62; Echols nennt Tintoretto, mit Bezug auf das Bild der Sklavenrettung „the most daring painter in
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the world“, ebd., 59; zu einer anderen religiösen Erzählung vgl. Hülk: „Le Bain de Diane et de Suzanne. Voyeurisme et châtiment“, in: dies./Yasmin Hoffmann/Volker Roloff et al. (Hg.), Die Ästhetik des Voyeur/L’Esthétique du voyeur, Heidelberg 2003, 18-25. 49 Vgl. hierzu die Rezension von Paul Ingendaay zur Madrider TintorettoAusstellung 2007: „Jesus ist ein muskulöser Mann“, in: FAZ, 27.1.2007, 37. 50 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 458, 457, 461; ders.: Reise in Italien, 335, 333. 51 Vgl. Taine: „Qu’est-ce que le talent?“, in: ders., Philosophie de l’art, 5558. Eine erhellende Position bzgl. der problematischen Geschichte der „virtù“-Euphorie bezieht C. Stephen Jaeger: „Aura und Charisma. Two Useful Concepts in Critical Theory“, in: New German Critique, 2011, 38 (Nr. 3/114), 17-34; dazu demnächst ders. ausführlich: On Charisma and the Sublime in the Arts of the West, Philadelphia 2012 (im Erscheinen). 52 Ders.: Voyage en Italie: Florence et Venise, 476ff. 53 Taine: Reise in Italien, 335f.; zum Gleichklang Taines und Manets vgl. Éric Alliez: L’œil-cerveau. Nouvelles histoires de la peinture moderne, Paris 2008, 208. 54 Vgl. grundlegend Drost (Hg.): Fortschrittsglaube und Dekadenzbewusstsein. 55 Deleuze: L’Image-Mouvement. Cinéma 1, Paris 1983, XXff. 56 Peter Richter: „Warte, bis es dunkel wird. Licht, Kamera, Action: Die große Tintoretto-Ausstellung in Madrid zeigt den Maler als Erfinder des Kinos“, in: Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.2.2007, 28. 57 Vgl. dazu Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 471. 58 Falomir (Hg.): Tintoretto, 343. 59 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 461. Ders.: Reise in Italien, 335: „[…] der sichere plötzliche Schwung des Instinktes, welcher sofort und ohne Mühe zur vollkommenen Bewegung gelangt wie der Vogel fliegt und das Pferd läuft.“ 60 Ebd., 468f.
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61 Gespräch mit Bice Curiger, geführt von Julia Voss, FAZ, 25.5.2011, 27; dazu auch: Julia Voss/Niklas Maak: „Die Rückeroberung der Welt“, in: FAZ, 6.6.2011, 33; vgl. auch das Biennale-Video von Shahryar Nashat zum Thema „Bewegung“, „Dynamik“ und Tintoretto. 62 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 469 und auf den Seiten davor und danach. 63 Aby Warburg: Der Bilderatlas Mnemosyne, hg. von Martin Warnke und Claudia Brink, Berlin 2000, vgl. Raulff: Wilde Energien; Didi-Huberman: L’Image survivante; Marijana Erstiü: „Pathosformel ‚Venus‘? Überlegungen zu einer Mythengestalt bei Aby Warburg“, in: Yasmin Hoffmann/Walburga Hülk/Volker Roloff (Hg.), Alte Mythen – Neue Medien, Heidelberg 2006, 33-51. 64 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 189; dazu Didi-Huberman: L’Image survivante, 342, zit. nach Ernst H. Gombrich: Aby Warburg. An Intellectual Biography, London 1970, 110. 65 Taine: Reise in Italien, ins Deutsche übers. von Ernst Hardt, 2 Bde., Leipzig 1904, Bd. 2, 118. 66 Abbildung in: Emma Micheletti: Domenico Ghirlandaio, Antella (Florenz) 1999, 55. 67 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 468. In der dt. Ausgabe, Reise in Italien, zit. Ausg. (1904), Bd. 2, 319: „Kein Künstler hat die Bewegung so geliebt, gefühlt und wiedergegeben.“ 68 Alles in Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 458-468. 69 Vgl. Kapitel I. 70 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 460f, 464. 71 Ders.: Reise in Italien, zit. Ausg. (1904), Bd. 2, 313 und 315f. 72 Vgl. dazu die kleine FAZ-Reihe zu poetischen und wissenschaftlichen Erleuchtungen Jürgen Kaube: „Die Nacht von Genua am Ende der Kunst“; in: FAZ, 25.8.2010, N 3; vgl. auch Kapitel IV. 73 Vgl. in diesem Zusammenhang Philipp Felsch: Laborlandschaften. Physiologische Alpenreisen im 19. Jahrhundert, Göttingen 2007. Vgl. Hülk: „Inquietudini 1900. Epistemische und ästhetische Dynamiken einer italienischen Jahrhundertwende“, in: Rudolf Behrens/Rainer Stillers, Inquie-
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tudini, Gestalt, Funktion und Darstellung eines affektiven Musters in der italienischen Literatur, Heidelberg 2010, 101-116. 74 Vgl. Hierzu Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, 139ff. Zum Zusammenhang von Wissenschaften und Künsten, Theorien des Imaginären und Formbildung vgl. Hülk: „Mémoire 1900. Umbruch eines Psychems als Signatur eines kulturellen und medialen Umbruchs“, in: Kathrin van der Meer/Heinz Thoma (Hg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen: Von Montaigne bis Houellebecq, Würzburg 2006, 169-182. 75 Taine: De l’Intelligence, avec une introduction de Serge Nicolas et une étude de Théodule Ribot, 2 Bde., Paris 2005, Bd. 1, LIII, Bd. 2, 216, 469. Falls nicht anders angegeben, wird im Folgenden nach dieser Ausgabe (Nachdruck der Erstausgabe von 1870) zitiert. 76 Zweig, 44f., a.a.O., in: Weschenbach: Stefan Zweig und Hippolyte Taine, 60. 77 Nathalie Sarraute: Tropismes, Paris 1939. Vgl. hierzu: Patricia Oster-Stierle: „Nathalie Sarraute oder die Nanowelt der Ich-Instanzen“, in: van der Meer/Thoma (Hg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen, 217-235. 78 Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, erwähnt Taine nur in drei Fußnoten. Es geht einmal um Hypnose und Somnambulismus, sodann um den Einfluss der Optik Helmholtz’ auf Taines Wahrnehmungstheorie; zuletzt um das Androgyne, das Taine auf den Bildern Leonardo da Vincis erkannte. 79 Gumbrecht: „Der Ort von (ein Ort für) Kreativität“. Vorwort in: ders. (Hg.), Kreativität – ein verbrauchter Begriff? Mit Beiträgen von Niklas Luhmann, Heinz Heckhausen, Siegfried J. Schmidt, München 1988, 9. 80 In diesem Zusammenhang ist ein Artikel interessant, der sich u.a. mit Hans Namuths Kurzfilm „Jackson Pollock“ (1951) und der Ambiguität von Mythologisierung und Entmythologisierung des Künstlertums befasst, siehe Andreas Reckwitz: „Vom Künstlermythos zur Normalisierung kreativer Prozesse: Der Beitrag des Kunstfeldes zur Genese des Kreativsubjekts“, in: Menke/Rebentisch (Hg.), Kreation und Depression, 98-115. 81 Hagner: Geniale Gehirne; siehe ders.: Homo cerebralis; vgl. Guthmüller: „‚L’hôte bienvenuދ. Autoren im Labor und Symptome am Text – Experi-
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mentelle Psychologie und psychiatrische Medizin analysieren das Phänomen des Literarischen“, in: Walburga Hülk/Ursula Renner (Hg.), Biologie, Psychologie, Poetologie. Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, Würzburg 2005, 95-116; dies.: Der Kampf um den Autor. 82 Taine: De L’Intelligence, Bd. 1, 471, Bd. 2, 481; Vgl. Seys: Hippolyte Taine et l’avénement du naturalisme; vgl. auch Ribot in Taine: De l’Intelligence, Bd. 2, XLI, zu der Tatsache, dass Taine offensichtlich einen Teil der deutschen, in Frankreich zu seiner Zeit nahezu unbekannten Forschung – Wundt, Fechner, Helmholtz – nicht berücksichtigte; vgl. dazu gegensätzlich: Alliez: L’œil-cerveau, 208, zur Rezeption Helmholtz’ durch Taine sowie Taines Brief aus Barbizon, s.u. 83 Flaubert: Correspondance, Bd. 3, 549/1417; 561ff./1425f.; vgl. hierzu auch Taine: De L’Intelligence, Bd. 1, 94, 101, 471f. ; vgl. in diesem Zusammenhang Tortonese: „Taine, art et hallucination“, in: Compagnon et al. (Hg.), Relire Taine, 51-78, ders./Donata Presenti-Campagnoni (Hg.), Les Arts de l’hallucination, Paris 2001; s.a. Bruna Donatella: Flaubert e Taine. Luoghi e tempi di un dialogo, Rom 1998; dies.: „Flaubert: Notes de lecture sur Taine“, in: Leclerc (Hg.), La Bibliothèque de Flaubert, 279-294; bereits 1925 schrieb der Arzt Pierre Quercy, Taine habe besser als jeder andere die „hallucination“ als „perception faite de sensation sans objet“ beschrieben und sei ihr „apôtre“, Pierre Quercy: „La sensation, l’image et l’hallucination chez Taine“, in: L’année psychologique, Vol. 26 (1925), 117-150, hier 117f. 84 Zit. von Serge Nicolas, in: Taine: De l’Intelligence, Bd. 1, VIIIf. 85 Brief vom 15. Juni 1867, zit. in: Taine: De l’Intelligence, Bd. 1, XIV; De L’Idéal dans l’art ist übrigens Sainte-Beuve gewidmet. 86 Ins Deutsche übers. von Walburga Hülk. 87 Vgl. allg. zu diesem Zusammenhang Claudia Einecke: „Beyond Seeing. The Somatic Experience of Landscape“, in: Andreas Burmeister/Christoph Hellmann/Michael F. Zimmermann (Hg.), Barbizon. Malerei der Natur – Natur der Malerei, München 1999, 58-71. 88 Taine: De l’Intelligence, Bd. 2, 177.
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89 Taine: Der Verstand, ins Deutsche übers. von Leonhard Siegfried, Bonn 1880, 166. Taine spricht im Vorwort seines Buches über den Titel und definiert „intelligence“ als „faculté de connaître“ in der Tradition von „intellect“ oder „entendement“, s. Taine, De L’Intelligence, Bd. 1, 3. Man würde das vielleicht eher, in einem umfassenden Sinne, mit „Begreifungskraft“ übersetzen, die nicht nur rationaler Natur ist. Gewidmet ist das Buch dem verstorbenen Freund Franz Woepke, Sanskritforscher, Orientalist, Mathematiker. 90 Vgl. Taine: De L’intelligence, Bd. 2, 235; Taine spricht hier von der longue durée der Pflanzen- und Tierwelt in Ägypten und der Seeschnecke, in der sich die Struktur und das Leben der Molluske erhalten; er verbindet diese Gedanken hier und am Ende der Studie mit der Frage nach der schöpferischen Aktivität; ähnlich geschieht es bei Valéry, s. unten Kapitel IV sowie zum „Widerstand zwischen dem Liquiden und dem Kristallinen“ als „kulturgeschichtliche Konstante“ Bernhard Braun: „Fortschritt und Beharrung – Signatur der Zeitenwende? Vom ewigen Widerstreit des Flüssigen mit dem Festen“, in: Das Fenster. Tiroler Kulturzeitschrift 69, Innsbruck 2000, 6648-6651, hier 6649. 91 Nietzsche: Nachgelassene Fragmente 1880-1882, kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli/Mazzino Montinari, Bd. 9, München 1988, 17-1, [53]; dazu Christoph Menke: Kraft. Ein Grundbegriff ästhetischer Anthropologie, Frankfurt a. M. 2008, 116f. 92 James: „Great Men, Great Thoughts, and the Environment“, in: Atlantic Monthly, Oktober 1880, zit. in: E. Samuel Overman/Donald T. Campbell (Hg.), Methodology and Epistemology for Social Science. Selected Papers, Chicago 1988, 435. 93 Valéry: „La Crise de l’esprit“, s. Vorwort, Anm. 7 und Kapitel IV. 94 Taine: De l’Intelligence, Paris 1892, Bd. 2, 464 (nicht in der Ausgabe von 2005). 95 Ders.: Der Verstand, 362. 96 Aleida Assmann: Erinnerungsräume, München 1999; dies.: Mnemosyne, Frankfurt a. M. 1991. 97 Rigoli: Lire le délire, siehe Kapitel I.
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98 Taine: De L’Intelligence, Bd. 1, 335; vgl. zum Thema des Wirbels die Ausführungen zu Tintoretto sowie Kapitel II und IV. 99 Helmut Pfeiffer: „Die Gegenwart der Spätantike. Christentum und Antike in Ernest Renans ‚Histoire des origines du christianisme“ދ, in: Poetica, 22 (1990), 325-329; dazu Müller: Erkenntnis und Erzählung, 267; hinzuzufügen ist an dieser Stelle der deutlich „orientalistische“ Zug bei Renan, nach Saids Begriff, s. Orientalism (Kapitel I); vgl. zu Imaginationskonzepten und zur Phänomenologie in der philosophischen Tra dition: Paul Sartre: L’Imagination, Paris 1938; hier und in anderen Texten, runter L’Idiot de la famille, rechnet Sartre mit Taines „Misan thropie“ De l’Inteligence ab und verdächtigt auch Proust des „tainisme“;
Jeandain dazu
auch: Jens Bonnemann: Der Spielraum des Imaginären. Sartres Theorie der Imagination, ihre Bedeutung für seine phänomenologische Ontologie, Ästhetik und Intersubjektivitätstheorie, Hamburg 2007, zu „Halluzination“ bes. 134ff.; Jacques Deguy: Sartre: une écriture critique, Paris 2010. 100 Christoph Asendorf: Batterien der Lebenskraft. Zur Geschichte der Dinge und ihrer Wahrnehmung im 19. Jahrhundert, Weimar 2002; Albrecht Koschorke: Körperströme und Schriftverkehr. Mediologie des achtzehnten Jahrhunderts, München 1999. 101 Taine: De l’Intelligence, Bd. 1, 294f., dt. Ausgabe: Der Verstand, 198: „Der Nerv ist ein Leiter wie die Luft, welche die Schwingungen einer Saite, und wie der Draht, der das elektrische Agens überträgt.“ 102 Ebd., 297. 103 Vgl. auch Taine: „Les vibrations cérébrales et la pensée“, in: Revue Philosophique de la France et de l’Étranger, H. 3 (1878), 1-9; ab der 2. Edition als Anhang von De l’Intelligence. 104 Taine: De l’Intelligence, Bd. 1, 85ff. 105 Ebd., 81ff., 95f.; vgl. zu Zweig und Bergson demnächst Erstiü: „Exerzitium mentale. Ein Vergleich von Stefan Zweigs Schachnovelle und Roman Polanskis Film ‚Der Pianist ދim Lichte der Gedächtnisphilosophie Henri Bergsons“, in: Comparatio, Jg. 3 (2011, im Erscheinen). 106 Ferdinand de Saussure: Cours de linguistique générale, publié par Charles Bailly/Albert Séchehaye avec la collaboration de Albert Riedlin-
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ger, edition critique preparée par Tullio de Mauro, Paris 1967, 125. Die Schachmetapher steht neben anderen Metaphern, die de Saussure zur Veranschaulichung des Systemcharakters der Sprache einsetzt, darunter das Bild der Fibern eines Pflanzenstengels und das Bild von Oberfläche und Tiefe des Meeres. Der CLG gewinnt dadurch immer wieder auch narrativen Charakter, und de Saussure selbst war durch seine Familie naturwissenschaftlich geprägt und durch Freunde aus ästhetizistischen Künstlerkreisen vertraut mit gängigen literarischen Metaphern; vgl. dazu Hülk: „Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten“, in: Simone Bertoli-Kucher/Dorothea Böhme/Tatiana Flo reancig (Hg.), Das Subjekt in Literatur und Kunst. Festschrift für Peter V. Zima, Tübingen 2011, 181-199. 107 Vgl. zum Begriff des „clichés“, Taine: De l’Intelligence, Bd. 1 (1892), 314f. 108 Vgl. Taine, De L’Intelligence, Bd. 2, 279-288 („repos, mouvement, vitesse, force, masse“). 109 Ders.: De L’Intelligence, Bd. 1 (1892), 315. 110 Ders.: Der Verstand, 249. 111 Ders.: De L’Intelligence, Bd. 1, 468. 112 Ders.: De L’Intelligence, Bd. 1 (1892), 307. 113 Vor allem der letzte Teil von Band 2, nach vielen zuvor eingestreuten Hinweisen, evoziert in einer Gesamtschau die longue durée der Naturund Kulturgeschichte, in die Taine sich mit der Selbstbeschreibung als Historiker und als „géologue“ einfügt, s. zuvor Bd. 1, 287 ; vgl. auch Kapitel IV zu Valéry; zum Begriff der „Mneme“ Richard Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens, Leipzig 1904 (51920). 114 Vgl. Taine: De L’Intelligence, Bd. 1 (1892), Note 3: „Sur L’Accélération du jeu des cellules corticales“, 400. 115 Correspondance Flauberts 1852, zit. in: Jean-Yves Tadié/Marc Tadié: Le sens de la mémoire, Paris 1999, 209 und Walburga Hülk: „Mémoire 1900“, a.a.O., 176, FN 34. 116 Tadié/Tadié: Im Gedächtnispalast. Eine Kulturgeschichte des Denkens, ins Deutsche übers. von Hainer Kober, Stuttgart 2003, 171.
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117 Wolf Lepenies: Sainte-Beuve. Auf der Schwelle zur Moderne, München/Wien 1997, 106f. 118 Taine, De L’Intelligence, Bd. 1, 142, 151 300, 303. 119 Ebd., 324 und 381. 120 Ders.: Der Verstand, 215 und 272. 121 Ders.: De L’Intelligence, Bd. 1, 439, „brouillard“; Bergson: Matière et mémoire (1896), Paris 1939, 102, „arborisations“, 184, „amas nébuleux“; vgl. zu aktuellen Vorstellungen von neuronaler Plastizität und Aktivität Wolf Singer: „Wahrnehmen, Erinnern, Vergessen. Über Nutzen und Vorteil der Hirnforschung für die Geschichtswissenschaft“, in: ders., Der Beobachter im Gehirn. Essays zur Hirnforschung, Frankfurt a. M. 2002, 77-86. 122 Taine: De L’Intelligence, Bd. 1, 99, 151; Taine erwähnt das „kléido scope moderne“, um die Vorstellung rasanter Bewegung zu vermitteln. In diesem Zusammenhang spricht er auch von den Farbnuancen einer sich drehenden Scheibe oder eines Diskus und den Vibrationen der Luft: eine wahrnehmungstheoretisch interessante Beobachtung, die er den optischen Studien von Helmholtz und Richard Owen entnehmen konnte, auf die sich später Delaunay bezieht, hierzu s. unten Kapitel IV. 123 James: The Principles of Psychology (1890), New York 2007, 246ff. 124 Taine: De L’Intelligence, Bd. 1, 468. 125 Ders.: De L’Intelligence, Bd. 2, 210ff. 126 Ders.: De L’Intelligence, Bd. 1, 336. 127 Vgl. in diesem Zusammenhang später Ribot: La psychologie de l'attention, Paris 1888; ders.: Essai sur l’imagination créatrice, Paris 1900. 128 Taine: De L’Intelligence, Bd. 1, 479: „L’histoire du sommeil et de la folie donne ainsi la clef de l’histoire de la veille et de la raison.“ 129 Vgl. oben Kapitel I. 130 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 553. 131 Ders.: Reise in Italien, 368. 132 Stéphane Mallarmé: „Brise marine“, in: Œuvres complètes, texte établi et annoté par Henri Mondor et Georges Jean-Aubry, Paris 1845, vgl. Hülk:
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„Inquietudini 1900“, a.a.O.; dies.: „Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten“, a.a.O. 133 Georg Simmel: Die Großstädte und das Geistesleben, 1903, Frankfurt a. M. 2006; „Alpenreisen“ (1895), in: ders.: Gesamtausgabe. Bd. 5. Frankfurt a. M. 1992, 91-95; „Die Alpen“, in: ders., Philosophische Kultur, Leipzig 21919, 134-141, alles: Georg Simmel online Uni Zürich. URL: http://socio.ch/sim/simmel_pub.htm vom 22.06.2011. 134 Felsch: Laborlandschaften; dazu Jürgen Kaube: „So ein Aufstieg, der macht trunken“, in: FAZ, 16.7.2007, s. FAZ.NET; vgl. auch Hülk: „Inquietudini“, a.a.O. Vgl. auch Daniel Winkler zur ästhetischen und ideologischen „Aufrüstung“ der Alpen im Film: „Futurismus & Alpinismus. Szenarien der Intensität bei F. T. Marinetti, Angelo Mosso und Luis Trenker“, in: Marijana Erstiü/Walburga Hülk/Gregor Schuhen (Hg.), Körper in Bewegung. Modelle und Impulse der italienischen Avantgarde, Bielefeld 2009, 311-332. 135 Angelo Mosso: La Peur. Etude Psycho-physiologique, Paris 1908, 83. 136 Taine: Voyage en Italie: Florence et Venise, 553f., 556. 137 Ders.: Reise in Italien, 368f., 370.
IV. V ALÉRY : P HILOSOPH UND D ICHTER DES INGENIUM
Abb. 16: Paul Valéry au bord de l’eau1 Les images de mon esprit sont une mer toujours2 […] sind die Bilder meines Geistes immer noch ein Meer3
Paul Valéry (1871-1945) wurde, als Sohn eines französischen Vaters und einer italienischen Mutter, im selben Jahr geboren wie Marcel Proust. Er war dessen Alter Ego, ihm fremd und verwandt zugleich. Beide suchten und fanden die Inzitamente der schöpferischen Phantasie, der Erinnerung und der Träume, doch beide suchten sie auf unterschiedlichen Wegen und gestalteten sie von zwei Polen her: Proust in der großen, zyklischen Narration À la Recherche du temps perdu, die den Roman ganz neu erfand; Valéry in autoreflexiven und experimentellen Texten, in Frühformen einer Literatur in der Möglichkeitsform, einer „littérature potentielle“, die sich der harschen Ablehnung des Erzählens verdankten. Der Satz La marquise sortit à 5 heures, „Die Marquise verließ das Haus um 5 Uhr“, wurde von Valéry abschätzig gegen realistische Romane, das Erählen überhaupt vorgebracht, und er verstieg sich zu der Feststellung, einem Romancharakter Wahrheit zuzusprechen sei ebenso abwegig, wie über das Nervensystem der Mona Lisa oder die Leber der Venus von Milo nachzusinnen.4 Valéry war zuerst Lyriker, als solcher hochgeschätzt und hochdekoriert, ein „Schü-
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ler“ Mallarmés, der mit symbolistischen Gedichten begann und dorthin zurückfand. In La jeune Parque, 1917, rollte er die Dichtung in serpentinischen Windungen aus, beginnend mit dem Augenblick der Erkenntnis durch den Sündenfall, der Wendung von Natur in Kultur und der Rückwendung zum Ursprung im Bild der Schlange, die sich selbst verzehrt. In Le Cimetière marin, 1920, erschuf er mit seinem bekanntesten Gedicht dem Mittelmeer, seiner Herkunft und Ankunft, einen überwältigenden Resonanzraum, der in Erinnerung an Hamlets memento mori und angesichts der Wahrnehmung der südlichen Sonne die Natur- und Kulturgeschichte in der Spannung von Melancholie und Lichtfülle reflektierte. Valéry wurde 1937 die Professur für Poetik am Collège de France zugesprochen, bereits 1925 war er zum „Unsterblichen“ der Académie française gekürt worden, deren Präsident er zeitweilig war. Weil er jeoch 1941, unter der deutschen Besatzung, den Nachruf „auf den Juden Bergson“ sprach, verlor er die Präsidentschaft. Als Valéry 1945 starb, in der Woche, in der im befreiten Frankreich der Prozess gegen den Maréchal Pétain begann, ordnete De Gaulle ein Staatsbegräbnis an. Valéry wurde auf dem Friedhof am Meer in seiner Geburtsstadt Sète bei Montpellier beigesetzt. Hippolyte Taine hatte, lange bevor es Marcel Proust tat, von den sinnlichen Stimuli gesprochen, welche die Einbildungs- und Gestaltungskraft bewegen und aktivieren – ein Klavierton, ein Duft, ein Schritt, hieß es in De l’Intelligence5. Auch Valéry setzte sich auseinander mit den Inzitamenten der schöpferischen Phantasietätigkeit. Sein spätes Gedicht Les Pas, von Rilke übersetzt als Die Schritte, erschien im November 1921 in den Feuillets d’Art und wurde 1922 aufgenommen in die Gedichtsammlung Charmes, deren Titel – carmen, charme – den Zusammenhang von Sinnesreiz und Lied anklingen lässt. Es ist ein Gedicht, das, so legen es die Manuskripte nahe, in einem Schwung und aus einem Guss geschrieben ist6, ein Liebesgedicht, ein Gedicht des Wartens, der „attente“. Die Verse sind poetologische Musik, die Emergenz einer Tonfolge in der Zeit: Schritte, die sich aus der Stille lösen, einem akustischen Vakuum oder einem Nichts, das freilich nur im
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französischen „pas“ – „Schritt“, „nicht“ – mitklingt und von Übersetzungen, auch derjenigen Rilkes, kaum erfasst werden kann. Die vierte Strophe lautet: „Ne hâte pas cet acte tendre, Douceur d’être et de n’être pas, Car j’ai vécu de vous attendre Et mon cœur n’était que vos pas.“7 „eile mir nicht zum Vollzuge, dem zarten, Süße, drin Sein und Nichtsein stritt, Denn ich lebte vom Dich Erwarten, Und mein Herz war nichts als dein Schritt.“8
Das Gedicht evoziert eine organisierte Erwartung oder Erregung von Erkenntnis und Erfüllung, eine Bewegung, die nicht trennbar ist von einer Form, eine „idée inséparable d’une forme“9. Diese Form, vor allem die Bildung von Form, gehört zu dem physiologischen und psychologischen Suchprogramm, an dem Valéry, als das Gedicht erschien, bereits seit mehr als fünfundzwanzig Jahren gearbeitet hatte. Ziel dieses Suchprogramms war es, die Wirkungsweise von Einbildungskraft und Kreativität zu entschlüsseln – eine ebenso erotisch wie poetologisch aufregende Fragestellung. Valéry vermutete die schöpferische Phantasie als eine energetische zerebrale Tätigkeit, die Impressionen und Assoziationen, Emotionen und Gedanken, Erinnerungen und Träume zu einem komplexen, mobilen System formt, in dem aus dem schon Bekannten und Erwartbaren stets neue Reize und Bilder entstehen. In den Cahiers gibt es eine Notiz, die im Kapitel „Rêve“ steht. Sie liest sich wie eine Anmerkung zu Les Pas und evoziert den Zusammenhang von Traum und Erwartung, Aufmerksamkeit und Musik:
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„Veiller Être prêt à S’attendre N’oublier pas ce qui n’est pas en vue Cf. Vision Cf. Non-détente complète du muscle au repos – tonus Attention latente – attention-attente à objet indéterminé.“10 „Wachen – bereit sein zu gefaßt sein auf nicht vergessen, was nicht in Sicht ist vgl. Vision vgl. Unvollständige Entspannung der Muskeln in Ruhe – Tonus latente Aufmerksamkeit – Erwartung eines unbestimmten Objekts.“11
Die Aufgabe, die Valéry sich seit 1893 stellte, die Arbeiten, die daraus hervorgingen, sind Zeugnisse seines Scheiterns und seines Triumphs: zum einen der immer wieder ironisch thematisierten Kapitulation vor großen Erzählungen, zum anderen der stets neu einsetzenden, Wissenschaft und Kunst verbindenden Reflexion auf Impuls, Energie und Form der schöpferischen Einbildungskraft. Von Paul Valéry heißt es nicht, wie von Heinrich von Kleist, er habe, bevor er seine starken Texte schrieb, eine Kant-Krise gehabt. Aber das Jahr 1893 ist gleichwohl geprägt von einer Schaffenskrise, die sich vielleicht persönlichen Problemen, vor allem aber einem epistemologischen Zweifel verdankt. Dieser galt den Gewissheiten des Erzählens, der epischen Zuversicht – und damit auch grundsätzlich dem Zugriff auf die Wirklichkeit, über die Valéry keine Aussagen glaubte treffen zu können. Valéry ging 1893 für einige Monate nach London – eine durchaus ungewöhnliche Entscheidung für einen Mann aus dem Languedoc, und in London publizierte er später immer wieder einige seiner interessantesten Texte, darunter noch 1919 La Crise de l’esprit.
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Hier schrieb der 22-Jährige zuerst, zwischen 1893 und 1894, ein Carnet inédit dit „Carnet de Londres“, das die Hauptthemen seiner späteren Texte vorgibt und den Auftakt bildet für die von 1894 bis zum Tode geführten Cahiers, seine vieltausendseitigen „Hefte“. Erst 2005 wurde das Carnet von Florence de Lussy, der Kuratorin der Handschriftenabteilung der Bibliothèque nationale de France, veröffentlicht.12 Über die Metropole London, die vielen seiner Zeitgenossen, die Charles Dickens’ Romane und William Turners Gemälde kannten, als feucht, als neblig und irisierend vorschwebte, und ebenso über sich selbst schrieb Valéry in My early days in England: „Je me suis mis à errer dans Londres du matin au soir, infiniment seul, mais tout peuplé intérieurement de pensées, et je me livrais avec délices à une circulation sans but et sans fin dans les rues ou trop actives ou trip désertes de la capitale. Il y a une ivresse intellectuelle de Londres, pour moi. Je puis dire que tout amusait mon esprit et une impression de gaieté nerveuse et indéfinissable est depuis lors demeurée associée pour moi à l’idée d’une ville et d’un pays qui ne passent pas généralement pour donner une excitation si joyeuse. Je vois Londres noir, rouge et blanc, avec des éclairs de vitre et d’immenses échappées de verdure.“13 „Ich fing an, von morgens bis abends durch London zu schweifen, unendlich allein, aber innerlich bevölkert von Gedanken, und ich setzte mich mit Genuss einem Herumlaufen ohne Ziel und Ende in den zu geschäftigen oder zu leeren Straßen der Hauptstadt aus. Es gibt, für mich, eine intellektuelle Wollust von London. Ich kann sagen, dass alles meinem Geist Vergnügen verschaffte, und ein Eindruck nervöser und undefinierbarer Fröhlichkeit bleibt seit dieser Zeit an die Idee einer Stadt und eines Landes gebunden, die im allgemeinen nicht dafür bekannt sind, eine solch freudige Erregung auszulösen. Ich sehe London schwarz, rot und weiß, mit Strahlen aus Glas und riesigen Streifen von Grün.“14
Das Carnet de Londres ist ein intermediales und interdisziplinäres Skizzenbuch voller Notizen, Verse, Zeichnungen und Algorithmen, das Valéry selbst durch eine großformatige Datierung, „1894“, auf der
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Vorder- und Rückseite des Einbands einer flanierenden, rhapsodischen Lektüre zur Verfügung stellte. Seine Anordnung verdankte sich, so legen es die Erinnerungen nahe, ganz offensichtlich einer motorischen geistigen Unruhe, einem Wechsel von Fülle und Leere, Erregtheit und Benommenheit im Außenraum, den Straßen von London, der rückwirkte auf den Innenraum des Imaginären. Dieses Carnet enthält den Kern des Valéry’schen Denkens, das unablässig die Spannung von Wachheit und Traum im Dialog von Künsten und Wissenschaften umkreist und das fortan vielfach durchgespielt wird in Dialogen – vergleichbar den philosophischen Dialogen des 18. Jahrhunderts – oder auch in Versuchsanordnungen und Abhandlungen, darunter vor allem, ebenfalls 1894, in der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci. Sie sind jeweils angelegt als experimentelle, zuweilen auch humoristische Phantasie, die Bewunderung erkennen lässt für jeden intellektuellen Fortschritt, aber auch Zweifel anmeldet am Wissenschaftsoptimismus und einer klar erkennbaren, in Begriffen und Kategorien geordneten Wirklichkeit. Der Pate eines resoluten Zugangs zur Welt war Auguste Comte, Erfinder des Positivismus und ebenfalls ein „méditerranéen“ aus Montpellier; Valéry huldigt ihm ironisch, denn sein Monsieur Teste, Protagonist eines vielleicht möglichen Romans, wurde in dem Zimmer gezeugt, in dem Comte selbst, wie dann Valéry, krisenhafte Jahre des intellektuellen Exzesses und der geistigen Leere, der ausbleibenden poetischen Visionen und Erleuchtungen verbracht hatte: „Teste fut engendré, – dans une chambre où Auguste Comte a passé ses premières années, – pendant une ére d’ivresse de ma volonté et parmi d’étranges excès de conscience de soi“.15 Im paradoxalen Kräftefeld von Positivismus und Pathologie, Vernunft und Rausch wird hier und im Folgenden immer wieder auch ein Top-Thema der vorletzten Jahrhundertwende verhandelt, das sich bereits in Taines Kunstkritik und der Abhandlung De l’Intelligence abzeichnete: das Faszinationsmuster „genialer Gehirne“16 und damit die Frage nach der mentalen Organisation und dem Verhältnis von Imagination und künstlerischer Produktion, von Chaos und Form. Der Dichter Saint-John Perse schreibt am 26. November 1926, nach der Lektüre der Note et digression, die 1919
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als Supplement zur Introduction à la méthode de Léonard de Vinci erschienen waren, an Valéry: „j’aimerais qu’on pût vous faire cadeau du plus bel objet fabriqué que j’aie vu en ce monde: ce crâne de cristal, réduit au signe de l’amande, qui règne depuis longtemps à Londres (British Museum, Salle Aztèque).“17 „Mir wäre es lieb, wenn man Ihnen das allerschönste Objekt, das gemacht wurde und das ich auf dieser Welt gesehen habe, schenken könnte, diesen Kristallschädel, reduziert auf eine Mandel, der seit langem in London herrscht (British Museum, Aztekensaal).“18
Der Philosoph Gaston Bachelard, der selbst die Grundimpulse der menschlichen Einbildungskraft in Schnittfeld von Wissenschaften und Künsten erforschte, behauptete 1937, man könne nur etwas untersuchen, wovon man zuvor geträumt habe.19 Was der diskrete Valéry geträumt hat, wissen wir nicht einmal aus seinen Cahiers, doch wird in all seinen Anordnungen zum homo cerebralis20 die Reflexionsfigur des Traums selbst, in einer ganz besonderen Weise zum Impuls und Garanten poetischer, künstlerischer und wissenschaftlicher Kreativität und Intensität. Denn dieser Traum oder das Phantasieren, zeitgleich zur Psychopathologie und im Vorfeld der Psychoanalyse durchdacht, wird in den 1890er Jahren von Valéry nicht nur, wie bei seinem Lehrer Mallarmé und dann von ihm selbst 1919 in La Crise de l’esprit, dekadentistisch gedeutet als Zeichen einer erschöpften Kultur, deren Magazine und Hirne, mit Energie überfrachtet und übersättigt wie erhitzte Hochöfen, vor dem Umschlag in Chaos und Nichts stehen: „les physiciens nous enseignent que dans un four porté à l’incandescence, si notre œil pouvait subsister, il ne verrait – rien.“21 „La chair est riste, hélas, et j’ai lu tous les livres“, lautete dieser kulturpessimistische Befund des müden Geistes und des traurigen Fleisches Jahre zuvor bei Mallarmé.22 Der von Valéry herbeigewünschte „rêve“ ist vielmehr ein Erregungsmuster, ein Modell des energetischen und innervativen Imaginären, der schöpferischen Konstruktivität in der Nachfolge Baudelaires, dessen
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imagination die reine des facultés und Ermöglichungsbedingung von Erkenntnis und Schönheit, gleichermaßen Vision und Kalkül, Traum und Reflexion war. Sich mit einem (h)ostinato rigore hineinzuversetzen in ein außergewöhnliches, monströses Gehirn, ein „cerveau monstrueux“23, zugleich Akteur, Beobachter und Schriftführer des inneren Schauspiels der Kreativität sein, to go to the last point – „Teste“, „tête“, „témoin“, „texte“; Teste, Kopf, Zeuge, Text: Das ist das wissenschaftlich-ästhetische Programm, das Valéry in der Frühzeit der gläsernen und stummen Schädel entwarf und durchführte, allerdings stets in der ironischen und skeptischen Figur der Unvollkommenheit und Unbestimmtheit allen Wissens. Diese Figur findet sich in einer aufklaffenden Introduction à la méthode de Léonard de Vinci, die ja tatsächlich eine lange Einleitung ohne Durchführung und Finale ist. Sie ruft im selbstreflexiven Spiel mit einem immer wieder suspendierten Gegenstand die „Methode“ Descartes’ auf und liest den Discours de la méthode als Anleitung für einen modernen Roman, der das Leben einer Theorie so erzähle wie das einer erotischen Leidenschaft. Die Figur des Fragmentarischen und Unendlichen, hier rückbezogen auf den cartesianischen Denkprozess, findet sich ebenso in dem unabgeschlossenen und augenzwinkernden Teste-Zyklus über den „bonhomme“ Teste, dessen erstaunliche intellektuelle Gymnastik, „gymnastique intellectuelle“, seinem eigentlich nicht begriffsstutzigen Erzeuger, „la bêtise n’est pas mon fort“, Rätsel aufgibt und Autorschaft nicht nur für unzuverlässig erklärt, sondern für dumm verkauft.24 Und diese Figur des Unvollkommenen findet sich immerzu in den fortlaufenden Cahiers und den offenen, von „blancs“, Durchschüssen, gerahmten Skizzen des Carnet de Londres. Mit dem Carnet de Londres also, einem Zeichenheft von 30 Blatt (60 Seiten, zwei davon ausgerissen) kleinen Formats (17x11cm) und grobkörnigen Papiers, begann das intellektuelle Experiment oder Denktheater, dessen dramatis personae die mentalen Bilder der inneren Komödie sind, „la comédie personnelle dont [...] les acteurs [...] sont les images mentales“25. In diesem Heft verhandelt Valéry wesentliche kul-
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turelle, anthropologische und ästhetische Muster der Moderne paragonal, er führt sie auf, vergleicht sie und fügt sie zusammen. Warum das so ist, wie es gemacht und was damit gemeint ist, soll anhand von zwei Skizzenblättern exemplarisch erläutert werden.
Abb. 17/18: Valéry, Skizzen aus „Carnet de Londres“, 1894
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Die Doppelseite im Kehrdruck, „tête-bêche“, enthält, in der Manier einer Notiz, eines „croquis“, Gedankenmuster Valérys, die sich kaleidoskopartig um Leonardo, den Universalmenschen zusammensetzen. Zum einen steht dessen Geburtsjahr 1452 losgelöst ganz rechts auf dem Blatt. Das Datum ist flankiert von der Notiz zu einem Brief Leonardos an den Grafen von Mailand, in dem er diesem seine Studien zur militärischen Architektur erläutert, sowie von dem Hinweis auf die Histoire des sciences mathématiques en Italie depuis la renaissance des lettres jusqu’à la fin du 17e siècle von Guillaume Libri-Carrucci, deren Lektüre Valéry zur Aufklärung der mathematischen Kenntnisse Leonardos diente. Zugleich korrespondiert das Interesse für diesen Text mit der Bewunderung Valérys für zeitgenössische Wissenschaftler, super-brains wie die Physiker Maxwell und Faraday sowie den Ma-
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thematiker Wronski, „les têtes les plus fortes, les inventeurs les plus sagaces“27, deren Studien zu magnetischen Kraftlinien und Kraftfeldern, zur Figur und Bewegung von Wirbeln und zur Berechnung des Unendlichen er kurz zuvor entdeckt hatte. Zum anderen eröffnet, neben ein Schachbrettmuster gesetzt, Leonardos berühmter Wahlspruch hostinato rigore die Doppelseite: Dieser ist seinem erst 1893, also ein Jahr vor Abfassung des Carnet, als Faksimile edierten Codice sul volo degli uccelli, dem Kodex über den Vogelflug, markant eingeschrieben, und zwar wie immer bei Leonardo in Spiegelschrift, als Anmerkung zur Zeichnung eines Pfluges im vorderen Teil, die in der Manier einer Vignette gerahmt ist.
Abb. 19: Valéry, Pflug mit Leonardos Motto hostinato rigore28
Valéry übernimmt diesen Spruch erstmals im Carnet inédit, und in dem Jahr seiner intellektuellen Krise wird er sich der Vieldeutigkeit des Wortes rigor besonders bewusst gewesen sein: „Strenge“ mit, „Härte“ gegen sich selbst legt er sich mit diesem Motto auf und wohl auch den Willen und die Anstrengung, der hartnäckigen, lähmenden geistigen „Starre“ neue Impulse abzutrotzen. Jedenfalls setzt Valéry diesen Spruch, der im Codice sul volo degli uccelli zunächst mit dem Ackergerät so erdverwandt zugeordnet ist, direkt über das Fragment, das Leonardo im Zusammenhang seiner Vision vom Fliegen verfasst hatte und das sich erst am Ende des Heftes über den Vogelflug findet, „vouloir construire un oiseau“. Es erscheint im Carnet in der italie-
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nischen Version des Codice mit französischer Übersetzung29, und in der Folgezeit wird dieser verwegenste Traum Leonardos immer wieder zum Impuls und zur Richtschnur des „geistanalytischen Unternehmens“30, das Valéry noch im selben Jahr fortsetzt mit der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci: Diese Einleitung setzt ein im Zeichen des hostinato rigore und des Traums vom Universum – „c’est à l’univers qu’il songe toujours, et à la rigueur“31 – und endet mit dem Vierzeiler über den Traum vom Fliegen. Dieser freilich liest sich im Carnet anders als im Codice und aus dem Blickwinkel des ausgehenden 19. Jahrhunderts scheint es plötzlich so, als träfen sich Leonardo, Baudelaire und Mallarmé bei Valéry zu einem neuen Ideenwettbewerb und Paragone um die geistige Lufthohheit, nicht ohne mit dieser Begegnung auch noch einmal aus der rückblickenden Distanz zu erinnern an den stupor („stupeur“, v. 2; „stupore“, v. 3), der dem gebildeten Weltgedächtnis mit Friedrich II. und seinem Buch über Die Kunst, mit Vögeln zu jagen (De arte venandi cum avibus) eingraviert war. Denn bereits jener italienische Staufer hatte sein Handeln unter das Gebot des rigor gestellt. „Vouloir construire un oiseau“ also, das ist der Konstruktionsplan einer Flugmaschine und eines fliegenden Menschen, in dem die mathematischen Künste, disegno und Mechanik („il paradiso delle scienze matematiche“), Poesie und Philosophie eine Wechselwirkung eingehen. Leonardo: das ist für Valéry ein Maler, Zeichner und Ingenieur als Philosoph, dessen Denken und Schaffen in einem unaufhörlichen Dialog mit dem gesamten Menschenwissen stehen und dem die Malerei selbst Philosophie ist, wie es dann 1929 abschließend in Léonard et les philosophes heißt, „Léonard [...] auquel la peinture tenait lieu de philosophie“32: „Le grand oiseau prendra le 1er vol sur le dos de son grand cygne et emplissant l’univers de stupeur Emplissant de sa renommée toutes les écritures Et gloire éternelle au nid où il naquit.“33
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„Piglerà il primo volo il grande uccello sopra del Dosso del suo magnio cecero e empiendo L’universo di stupore, empiendo di sua fame tutte Le scritture e grogria eterna al nido dove nacque.“ „Zum ersten Mal wird der große Vogel auffliegen, vom Rücken des großen Schwans aus, erfüllen wird er die ganze Welt mit Staunen und alle Schriften mit seiner glorreichen Tat, zum ewigen Ruhm des Nests, wo er geboren ward.“34
Die Reverenz, die Valéry dem großen Vorbild erweist, ist freilich nicht ohne Koketterie und Eitelkeit, erinnert doch nun, 1894, der große Vogel auf dem Rücken des großen Schwans durchaus nicht nur an jene andere Sentenz der Zwerge auf den Schultern von Riesen, die seit Bernhard von Chartres bekannt ist als Grundgedanke der translatio studii oder translatio scientiae und einer ersten Moderne, die sich selbstbewusst über die Tradition erhebt. „Maturare“, steht auf der rechten Seite, „maturare!“ – Mechanik des plastischen und knetbaren Imaginären, heißt es in La Soirée avec Monsieur Teste35. Die Zeit reift, das mit Bildern und Wissen angereicherte Gedächtnis verwahrt jetzt längst, in der Erwartung des Neuen, Unbekannten, das ganze Bildinventar des 19. Jahrhunderts, romantische Nachtigallen, den napoleonischen „aigle“, die kühnen poetologischen Vögel Baudelaires und Mallarmés, Adler, Lerchen, Albatrosse, Schwäne, die wie erzürnte Engel, Freiheitssucher, schwermütige Dichter die Texte des 19. Jahrhunderts bevölkerten: „Un Ange furieux qui fond du ciel comme un aigle“ hieß es in Baudelaires Le Rebelle36, „Celui dont les pensées, comme des alouettes/Vers les cieux le matin prennent un libre essor“ in seinem Gedicht Élévation37, während andernorts die schweren Flügel den Albatros daran hindern, sich über dem Meer in die Luft zu schwingen und der Schwan „nerveusement“ sein Gefieder in einer Straßenpfütze badet, den Blick dabei zum ironischen und grausam blauen Himmel gerichtet, „vers le ciel ironique et cruellement bleu“38. Fast epigonal ruft Valéry
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mit dem „cygne“ zum letzten Mal dekadentistische Dichtungsmythen auf – weißes Blatt der écritures, Dichtervogel, Erinnerungsbild, Mallarmés alt gewordenes Gedächtnis, „vieux souvenir qui sonne à plein souffle le cor“, Hirngespinst einer fruchtbaren Erinnerung, Schwan von einst, „mémoire fertile“, „cygne d’autrefois“39. Dies aber tut er, um sie zurückzukoppeln an den Schöpfermythos des ungebrochen vitalen und zukunftweisenden uomo universale, an dem er die Moderne misst. Valérys Allegorie des Vogelflugs ist so zum einen der „Wissens- und Erinnerungs-Melancholie“40 geschuldet, wie sie das vorletzte Fin-desiècle so zäh, so zahl- und bildreich hervorgebracht hat. Zum anderen jedoch löst die Vision sich davon ab und steht für eine geistige Euphorie, diesmal im Zeichen des kraftvollen „élan vital“ und auch im Wissenshorizont 1900. Indem Valéry im Carnet de Londres Leonardos Modell des Skizzenbuches übernimmt und vor dem Hintergrund des epistemischen und medialen Feldes seiner Zeit umschreibt – mit mehr Mathematik als gemeinhin üblich unter Dichtern – votiert er früh und entschieden, und entgegen der damaligen Tendenz zur Ausdifferenzierung und Konkurrenz der „two cultures“41 im akademischen Feld, für „die wechselseitige Erhellung“42 und das Zusammenspiel von Künsten, Geistes- und Naturwissenschaften als Entwurf und Leidenschaft, als Energie und Prozessualität des Träumens und Denkens, des Erkennens und Gestaltens: „Vivre, c’est se transformer dans l’incomplet [...]. C’est mouvantes, encore à la merci d’un moment, que les opérations de l’esprit vont pouvoir nous servir, avant qu’on les ait appelées divertissement ou loi, théorème ou chose d’art [...].“43 „Erleben heißt, sich ins Unvollständige einverwandeln […]. Nur solange das, was im Geiste vorgeht, noch in Bewegung, noch unentschieden, noch dem Augenblick ausgeliefert ist, wird es für unsere Absicht taugen, das heißt, bevor man es Gedankenspiel, Gesetz, Theorem oder Kunstwerk genannt hat […].“44
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Lionardo mio, so wurde Valéry selbst übrigens von seiner Gefährtin Catherine Pozzi genannt, die in den zugleich gestrengen und spielerischen Text der Introduction den Intimcode Lionardo mio que tanto pen(s)ate einschmuggeln konnte, während sich in der ersten Zeichnung des frühen, zeitgleichen Journal de bord oder Pré-Cahier, ersten Entwürfen der Cahiers, ein nackter junger Mann auf dem Rücken eines Schwans in die Luft emporschwingt. Das ist noch schöner als die folgenden Textstellen: „Pouvoir immense du développement d’une notion. On peut tout développer – maturare – / voie logique, voie imaginaire, voie naturelle. L’imagination tend toujours vers la naturelle, […].“45 „Sa joie finit en décorations de fête, en inventions charmantes, et quand il rêvera de construire un homme volant, il le verra s’élever pour chercher de la neige à la cime des monts et revenir en épandre sur les pavés de la ville tout vibrants de chaleur, l’été.“46 „Die außerordentliche Kraft der Entwicklung einer Erkenntnis. Man kann alles entwickeln – maturare – / logischer Weg, imaginärer Weg, natürlicher Weg. Die Imagination tendiert immer zur natürlichen Erkenntnis.“47 „Seine Freude lebt sich in schmückenden Festdekorationen aus, in reizenden Erfindungen, und wenn er davon träumt, einen fliegenden Menschen zu konstruieren, läßt er ihn in die Lüfte steigen, um Schnee von den Gipfeln der Berge zu holen und im Sommer auf das vor Hitze brodelnde Pflaster der Städte zu streuen.“48
Es ist also kein Zufall, dass Valéry in den Jahren vor 1900, in denen das Fliegen „in der Luft“ lag, an Leonardos Heft über den Vogelflug Gefallen gefunden hat und ihm in seinem optimistischen Carnet inédit der unbegrenzten geistigen Möglichkeiten und Korrespondenzen einen prominenten Platz einräumte. Denn schon Leonardo zeichnete in seinem Codice sul volo degli uccelli den uralten Menschheitstraum, den Traum und Mythos vom Fliegen neu, indem er ihn auslegte als Aufforderung, die Mechanik und die Ästhetik des Flügelschlags zu studie-
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ren und das unsichtbare Gesetz seiner Bewegungsmuster zu begreifen. Deshalb widmete er sich der Anatomie der Flügel großer und kleiner Vögel und der Aerodynamik avant la lettre, zeichnete die gleichförmige Spur des Flügelschlags als jene Abfolge von Linien und Punkten im Luftraum, die das Auge wahrnimmt, und gewann solcherart die Ahnung einer zwar unsichtbaren, aber im Kräftespiel des Windes, der organischen Materialität und des Luftraumes kontinuierlich wirkenden Mobilität, die zu erkennen das Auge und die abzubilden oder nachzubilden die mimetischen Künste vor eine besondere Herausforderung stellte: To go to the last point, das konnte Valéry an Leonardo studieren. Und was er in dessen Studien über den Flug der Vögel, stellvertretend für die Natur und die Darstellung der Natur, entdeckte, war das Faszinosum bewegter Formen und elastischer, geschmeidiger Modulationen, eine Herausforderung für die Begreifungskraft ebenso wie für das Auge – und ein Thema für ein Prosagedicht als Ekphrasis zu den Skizzen Leonardos: „Il garde, cet esprit symbolique, la plus vaste collection des formes, [...]. Des précipitations ou des lenteurs simulées sur les chutes des terres et des pierres, des courbatures massives aux draperies multipliées; des fumées poussant sur la toile aux arborescences lointaines, aux hêtres gazeux des horizons; des poissons aux oiseaux; des étincelles solaires de la mer aux mille minces miroirs des feuilles de bouleaux; des écailles aux éclats marchant sur les golfes; des oreilles et des boucles aux tourbillons figés des coquilles. Il va. Il passe de la coquille à l’enroulement de la rumeur des ondes, de la peau des minces étangs á des veines qui la tiédiraient, á des mouvements élémentaires de répétition, aux couleuvres fluides. Il vivifie. L’eau, autour du nageur, il la colle en écharpes, en langes moulant les efforts des muscles. L’air, il le fixe dans le sillage des alouettes en effilochures d’ombre, en foules mousseuses de bulles que ces routes aériennes de leur fine respiration doivent défaire et laisser à travers les feuillets bleuâtres de l’espace, l’épaisseur du cristal vague de l’espace.“49
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„Dieser symbolische Geist birgt in sich eine überaus reichhaltige Sammlung von Formen, […]. Von den Beschleunigungen oder Verzögerungen, die mit Erdstürzen oder Steinschlägen sinnfällig gemacht werden, von den massiven Wölbungen zum vielfachen Faltenspiel, von den Rauchfahnen, die auf Dächern sprießen, zu fern ragenden Höhen, zu den verschleierten Buchen am Horizont, von den Fischen zu den Vögeln, von den Sonnenfunken des Meeres zu den unzähligen Glimmerplättchen des Birkenlaubs, von den Schuppen zu den Glanzlichtern auf Meeresbuchten, von Ohren und Locken zu den erstarrten Strudeln der Muscheln reicht sein Weg. Von der Muschel wechselt er über zum eingerollten Kamm der schwankenden Woge, von der blanken Haut kleiner Teiche zu den Adern, die sie zu erwärmen vermöchten, zu elementaren Bewegungen des Kriechens, zu flüssigen Schlangen. Er belebt. Das Wasser um den Schwimmer klebt er ihm in Schärpen und Bändern an, die getreu die Muskelarbeit nachbilden. Die Luft verfestigt er in der Kielspur der Lerchen mit kleinen Dunkelschraffierungen, mit einem schaumigen Gequirl von Blasen; es ist die zergehende Hinterlassenschaft dieser luftigen, atmend bewegten Bahnen an die bläulichen Blätter des Raums, die Dichte des unbestimmten Raumkristalls.“50
Äußere und innere Welt, Objekt, Auge und die in Schrift übersetzten Schwingungen erscheinen hier in einer relationalen Beweglichkeit. Sie wird von Valéry am Rande, als Kommentar seines eigenen Kommentars zu Leonardos Studien, notiert als Ausdruck der „imagination précise“ des Vorbilds. Leonardos „präzise Einbildungskraft“ erahnte, was neue technische Medien, z. B. die Photographie, als neue Schönheit im Dienste einer Erweiterung der Wahrnehmung hervorbringen, „[figurer] ce que la photographie a rendu sensible de nos jours“51. Und so sind Leonardos Bewegungsstudien, wie Florence de Lussy bemerkt, wahlverwandt mit Valérys eigenen Vorstellungen, dem Gedanken, der dem Bewegten nachjagt, dem geistigen Universum, in dem die bewegten Formen über die Statik und Starrheit der Repräsentation triumphieren: „Dans l’univers mental de Valéry, les formes en mouvement triomphent du statique et de la rigidité des représentations. L’image devient le véhicule privilégié d’une pensée qui court après le mouvant aux dépens du concept.“52 Und diese Gedankenwelt Valérys, die sich
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anschickt, mit Strenge die Vorstellung der Festigkeit innerer Bilder und sprachlicher Begriffe aus den Köpfen auszutreiben, eine ganze Leonardo-Welt zu aktualisieren und zu mobilisieren, bewegt sich zu auf jene ästhetischen Experimente, die um 1900 und unter ganz anderen medialen Bedingungen als in der Frühen Neuzeit die Spur der Bewegung von Körpern erforschen und inszenieren: von Füßen, Händen, Haaren, Rädern, Propellern, aber auch von Wasser, Feuer, Dampf und Licht. Die Versuche finden statt in Laboratorien und Ateliers, in denen Wissenschaftler und Künstler die Muster filigraner, ja unsichtbarer Bewegungsfiguren erforschen und nachzeichnen. Auf Gemälden der Renaissance und des Manierismus oder an barocken Bauten finden sie sich, eingekleidet in Mythologien, Wellen- und Schlangenlinien, während man die Ausfaltungen und Schwingungen in natürlichen Bewegungsabläufen bisher kaum erahnen konnte. Denn diese erscheinen nun erst deutlich wahrnehmbar im Lichte der Technik, in jenen vibrierenden Bewegungen von Körpern, Flüssigkeiten und Luft, den „mouvements de l’air“, die der „photographe des fluides“, Jules-Étienne Marey, 1899-1901 aufzeichnete in seinen photographischen Studien zum Vogelflug und zum Dampf, der aus Dampfmaschinen entweicht.53
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Abb. 20: Marey, Pélican volant, 1882
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Abb. 21: Marey, Machine à 21 canaux X: Forme courbe inclinée, tirage d’après 55
plaque négative sur verre, 1899-1900
Die serpentinischen Linien, die hier von der Kamera festgehalten sind, sind um 1900 ein Faszinationsmuster, das eine ganze Bildtradition aufruft und verwandelt. Es sind Schlangenlinien, die auch nachgezeichnet werden in Valérys ganz frühem, dann viele Jahre lang überarbeitetem Sonett „Celle qui sort des ondes“ oder auch „Naissance de Vénus“, das zuerst 1890 im Bulletin de l’Association générale des étudiants de Montpellier erschien und wieder abgedruckt ist im Carnet de Londres: „La voici! Fleur antique et d’écume fumante La Nymhe magnifique et joyeuse, la chair Que parfume l’esprit vagabond de la Mer, [….] Elle apparaît!“56 „Da ist sie! Antike Blume aus dampfendem Schaum Die herrliche und fröhliche Nymphe, das Fleisch Das vom umherschweifenden Geist des Meeres duftet […] Sie erscheint!“57
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Dieses Gedicht des Studenten Valéry, das alles in allem ganz akademisch anmutet, versetzt zumindest in Ansätzen den lyrischen Ästhetizismus, der in poetischen Gemmen und marmornen Büsten sein Schönheitsideal zelebrierte, in Bewegung, verflüssigt und verlebendigt die starren Formen, „fleur antique et d’écume fumante“. Es transkribiert augenfällig Botticellis Bild Die Geburt der Venus, das damals groß in Mode war: Arthur Rimbaud hatte 1870, und das war noch nicht vergessen, im ikonoklastischen Gestus seines Sonetts „Vénus Anadyomène“ die Liebesgöttin, in der Manier eines Blason, zu provokanter Hässlichkeit verunstaltet, während Aby Warburg 1892 promoviert wird mit einer Arbeit über Botticellis Gemälde La nascita di Venere und La Primavera, die der Beginn seiner radikalen Bildwissenschaft der Bewegung sowie der Umdeutung und Dynamisierung der Winckelmann’schen Antikenrezeption ist.58
Abb. 22: Aphrodite Anadyomene, 1. Jh. v. Chr., Pompei
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Abb. 23: Botticelli, Nascita di Venere, 1482-1485
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Warburg regten die bewegte „Nymphenhaartracht“ der Venus und das Schlangenritual der Pueblo-Indianer in einem kühnen Kulturvergleich zum Konzept der Pathosformel an61, in der immer wieder die Spannung von Form und Formauflösung ausgehalten, tradiert und dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben wird. Und zeitgleich häufen sich Denkfiguren der bewegten Formen – Kaleidoskop, bewegliche Lettern, Tanzschritte – in den Wissenschaften, die sich mit den mobilen Operationen des Imaginären und des Gedächtnisses befassen. Sie sind nachzulesen in der experimentellen Psychologie Taines und Théodule Ribots, die sich ihrerseits von der Kunst und Kunstkritik anregen ließen, und in der Philosophie, namentlich der Zeit- und Gedächtnisphilosophie Bergsons.62 Paul Valéry also war auf der Höhe der Zeit, obwohl er nicht in die intellektuelle Pariser Szene hineingeboren worden war und sich in die schillernde Erregtheit der Metropole erst einfinden musste. Er war ein Mann des Mittelmeeres, ein „méditerranéen“, und er ließ daran, trotz aller Vernarrtheit in die Techniken der Moderne, nie einen Zweifel. Die ihm vertraute maritime Flora und Fauna geben der Zeit und dem Raum ihre Beharrlichkeit und Varietät und sind seinem Begriff von Kultur und Geschichte staunenswert eingeschrieben. Es ist eine Vorstellung von Raum, Zeit, Natur und Kultur, wie sie sich ganz ähnlich wiederfindet in Fernand Braudels geschichtsphilosophischem Hauptwerk La Méditerranée et le monde méditerranéen à l’époque de Philippe II aus dem Jahr 1949. Dort und auch in einem erst 1975 erscheinenden Mittelmeer-Essay ist sie verzeichnet als longue durée: „Denn schon lange ist das Mittelmeer Schnittpunkt verschiedener Welten. Seit Jahrtausenden strömt hier alles zusammen, wirbelt die Geschichte durcheinander und bereichert sie: Menschen, Lasttiere, Wagen, Waren, Schiffe, Ideen, Religionen, Lebenspraktiken. Und Pflanzen.“63
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Für Valéry, und übrigens auch für seinen Zeitgenossen Eugenio Montale, den Dichter der „Knochen des Tintenfisches“, der Ossi di seppia (1925), wurden Pflanzen und Lebewesen des Meeres ebenso wie Fundstücke am Strand ein Anlass zu philosophischem, wissenschaftlichem und poetischem Träumen. Die maritime Welt forderte ihn dazu auf, Dauer und Augenblick, Festigkeit, Geschmeidigkeit und Flüssigkeit als archaische, in unser individuelles und kollektives Gedächtnis eingeschriebene Mneme, als seit langem vertraute Ausdrucksformen des Lebens, der Evolution und der Kulturgeschichte zu beobachten und zu reflektieren.64 Das Meer ist vielleicht überhaupt der Protagonist in Valérys Denken, und eigentlich hatte der junge Paul, wie auch Walter Benjamin einmal interessiert notierte, Seeoffizier werden wollen.65 1930 heißt es, in kulturkritischer Absicht, in dem Essay Regards sur la mer: „Pentes, plaines, forêts, volcans, fosses désertes, églises de corail aux bras semi-vivants, peuplades humineuses, buissons tentaculaires, créatures spirales et nuages écaillés, – tous ces paysages impénétrables et probables ou sont des paysages familiers. […] Sur le roc ou dans la vase, sur un lit de coquilles ou de plantes, parfois vient doucement, mollement se poser, se coucher, au bout d’une lente descente, l’énorme coque d’un navire qui a bu. Là, sous deux mille metres, un Titanic enferme un recueil très complet du materiel de notre civilisation: les engines, les bijoux, les modes de tel jour.“66 „Abhänge, Ebenen, Wälder, Vulkane, verlassene Gräben, Kirchen aus Korallen mit halblebendigen Armen, leuchtende Stämme, tentakelgleiche Sträucher, spiralförmige Kreaturen und schuppige Wolken – alle diese undurchdringlichen und mutmaßlichen Landschaften. [...] Auf dem Felsen oder im Schlick, auf einem Bett aus Muscheln oder Pflanzen legt sich sanft, weich, nach einem langsamen Hinabgleiten, die enorme Schale eines Schiffes das getrunken hat. Dort, zweitausend Meter tief, schließt eine Titanic eine sehr vollständige Sammlung des Materials unserer Kultur ein: die Maschinen, den Schmuck, die Moden eines bestimmten Tages.“67
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Valéry ist fasziniert von großen und kleinen Klippen, von der perfekten Unordnung der vielfältigen, gebrochenen und bizarren Formen „de roches écroulées de toutes grosseurs et des figures des plus diverses […] le désordre parfait de leurs formes de rupture et de leurs bizarreries équilibrées“68, und er lässt sich von Fischen, Schalentieren, Knochen und Mollusken anregen zu morphologischen Betrachtungen über die Emergenz und Dynamik der gestalteten Natur und der erstaunlichen Produktion des Lebens, „cette prodigieuse production de la vie“.69 Die Überlegungen sind augenfällig verankert in der Lebensphilosophie des élan vital und der Vorstellung des ungeformt Liquiden oder Fluiden, „la vie […] eau informe“70, aus dem sich unzählige Formen mit erstaunlicher Ökonomie, Gesetzmäßigkeit, Anpassungsfähigkeit und Zuversichtlichkeit bilden, „effort dont la loi évidente est finalité, économie, appropriation, prévision, espérance“71. Und diese Betrachtungen sind aus unterschiedlichen Blickwinkeln stets der Frage gewidmet, wie die vom Menschen geschaffenen Formen dieselbe Lebendigkeit und Natürlichkeit hervorbringen und bewahren können, die dem kalkigen Strandgut als Bewegungs- und Lebensspur eingraviert ist. Die gleichmäßigen oder bizarren, vielfach geschwungenen und geschlängelten Formen der Fauna und Flora des Meeres, die sich bilden und lösen und im Kalk die welligen Spuren der stetigen Bewegung des Elements aufbewahren, im Sand die zerrinnenden Linien der Vorübergehenden, fordern den Naturforscher, Philosophen, Künstler heraus. Und dieser geht behutsam mit den Grundlagen des Lebens, seinen Inspirationsquellen um: „Mais le poisson ni le paysage n’ont pas grand’chose à craindre. Ils me sont des pretextes…“72 Valéry sammelte lebenslang Seeschnecken und Muscheln, er schaute sie an und er fasste sie an. Sein Sohn François schrieb dazu: „Ihm gefielen das Meer, die Form von Schiffskörpern und Ankern, Seemannsknoten, Tauwerk und die Bezeichnungen nautischer Gegenstände. Das Vergnügen des Schwimmens erinnerte ihn an die Ferien, die er als Junge in Genua verbracht hatte. Er schwamm gern im Wasser, riskierte jedoch keine großen Entfernungen – er wäre zweimal fast ertrunken und erzählte davon, dass er
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einmal von einem großen Kraken angegriffen worden sei. Am Strand suchte er nach Muscheln und alten Knochen und nahm sie mit nach Paris für seine Sammlung wertloser Dinge, die er heftig gegen die Begehrlichkeiten seiner Kinder verteidigte.“73
1937 veröffentlichte André Gide, Valérys Freund und langjähriger Korrespondent, in der Nouvelle Revue française den Essay L’homme et la coquille, einen der vielen Texte Valérys über das Meer. Er ist angelegt als Gedankenexperiment des Philosophen als Kind, das alles zum ersten Mal sieht, „l’enfant qui nous demeure et qui veut toujours voir pour la première fois“74. In den Œuvres findet der Text sich inmitten der „Variétés/Études philosophiques“. Das Gedankenexperiment, das hier durchgespielt wird, ist Teil einer möglichen oder zukünftigen Poesie der Wunder und Empfindungen des Intellekts, die Valéry ein Leben lang denken und träumen ließ, „à quoi j’ai songé toute ma vie“75. Der „naive“ Philosoph, ein moderner Eingeborener in der Nachfolge Voltaires, ein „ingénu“76, der freilich nicht als Erster am Strand den Geheimnissen der Weltordnung nachgeht, stellt sich hier eine zunächst beiläufige Frage: Wer hat die beliebige konische Kalkschale der Muschel oder Schnecke angefertigt; wie konnte es zu dieser perfekten und bizarren, ja einzigartigen Form, den immer neuen Ornamenten kommen, und welche Erfindungsgabe und Phantasie, was für ein Ordnungsgedanke und was für eine Notwendigkeit liegen dieser Gestaltung zugrunde? Valéry, das muss betont werden, fragt hier nicht nach dem rechtmäßigen Autor, der die Deutungsmacht, wie es schon 1929 in Littérature/Tel Quel heißt, in dem Moment verliere, in dem sein Werk erscheint.77 Eine solche Frage stellt sich, lange vor der postmoderner Tötung des Autors, auch nicht für Kunst und Musik: „Dire que quelqu’un l’a composé (un bel ouvrage de musique ou de poésie), qu’il s’appelait Mozart ou Virgile, ce n’est pas dire grand’chose; cela ne vit que dans l’esprit, car ce qui crée en nous n’a point de nom.“78
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„Sagen, daß jemand es geschaffen habe, der Mozart oder Vergil hieß, heißt nicht viel sagen; es gewinnt in unserem Geiste keine Lebendigkeit; denn das, was in uns schafft, trägt keinen Namen.“79
Wie Baudelaire und Taine vor ihm, fragt Valéry vielmehr nach physikalischen, physiologischen, kulturellen Energien und Kräften, die Kunst ermöglichen, und er ist fasziniert von der wunderbaren Varietät, der „merveilleuse variété“80 und Mobilität der schöpferischen namenlosen Natur, die er noch in den unauffälligsten Dingen entdeckt und beobachtet, einfachen „choses“, die zur intellektuellen und praktischen Herausforderung für den Künstler werden. Valéry, der am Strand ganz und gar Phänomenologe ist, übersetzt die „Ordnung der Dinge“, die ihm natürlich von den großen klassifikatorischen Denksystemen her bekannt war, in die für den Künstler wichtige Frage nach den Zufällen und Gesetzen dynamischer Entwicklung und Formbildung. Sein Sondierungsprogramm hat vorrangig eine ästhetische Dimension, die für sich genommen schon eine Weise der Erkenntnis ist und alle Geheimnisse des Lebens birgt und im besten Falle offenbart. Aber, so schreibt Valéry, die normale Sprache reiche niemals aus, um alle Furchen, Falten oder Streifen („sillons, rides ou stries“), alle Vorsprünge, Stachel und Buckel („des saillies, des épines, des bossettes“) zu benennen und nachzuzeichnen, die sich in unzähligen Varianten in die Kalkmasse eingeprägt und auf sie aufgeschichtet haben. Auch genüge die Sprache nicht, um zu beschreiben, aufgrund welcher „version générale“ sich die Grundform der Seeschnecke, Schraube, Gewinde, Spirale oder Propeller, die „hélice spiralée“81 aus der Spannung von harter Materie, Zeit und Bewegung buchstäblich entwunden hat zu einer stets asymmetrischen „grâce tourbillonnante“82, die den Geometer an seine Grenzen bringt. Schon Leonardos Wasserstudien waren dieser strudelnden und originellen Grazie zugewandt.
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Abb. 24: Leonardo, Studien der Wasser, 1507 oder 1509
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Leonardos Zeichnungen arretierten die Energie und Turbulenz eines Wirbels oder Strudels; sie waren Versuche, die schnelle und chaotische Bewegung der elementaren Kräfte der Natur in eine augenblickliche Form zu fassen und das überforderte Auge des Zuschauers, das erst viel später als „œil interminable“ definiert wurde84, in einem screenshot oder still zur Besinnung zu bringen. Die „wirbelnde“ oder „strudelnde Anmut“, die Valéry der Muschelschale zuschreibt, ist hingegen Produkt einer unendlich langen Zeit und einer elementaren Bewegung, eine Allegorie der longue durée. Ursprünglich aus nichts anderem entstanden als den Sekreten eines wirbellosen Weichtiers – „Émaner – laisser suinter“85 – gewinnt dieser niedere Vorgang des Aus- und Zusammenflusses hier die kosmologisch-metaphysische Dimension einer Emanation. So ist die Wirbelform zuletzt ein vollkommener und einmaliger Ausdruck der tätigen, originellen und ordnenden Natur, ein Abdruck des Lebens und der Zeit, die Emergenz von Form aus dem Chaos. In La Coquille et l’homme outet sich Valéry, wenn er es nicht schon zuvor getan hat, als Lebensphilosoph und Gestalttheoretiker, der dem
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Leben Kunst abgewinnt. Denn Welle und Woge, Spirale und Wirbel sind ja die stets wiederkehrenden Figuren der Philosophen und Künstler, die seit dem Ausgang des 19. Jahrhunderts die Dynamik und Kreativität des Lebens ästhetisch und kulturkritisch gegen Materialismus und Dekadenz aufboten. Und ebenso wie Bergson die Rotationsbewegung als Motor der „schöpferischen Entwicklung“86 setzte und Nietzsche das Kreisen als Impuls aller miteinander verbundenen Lebensprozesse behauptete, postuliert Valéry in der mobilen Vielfalt und Zeitlichkeit der Erscheinungen und Gestalten die Einheit der Natur, „l’unité de la nature“.87 Und diese sucht er als Inzitament von Kunst, wenn er sich auf die Suche nach der Launenhaftigkeit und Ordnung von Formbildungsprozessen in der lebendigen Natur begibt, die in jeder Substanz den Ursprung des Lebens, im Festen das Flüssige bewahrt und davon zehrt, „nature vivante […]: elle use de l’état liquide ou fluide dont toute substance vivante est constituée, et en sépare lentement les éléments solides de sa construction.“88 Die Vielfalt und die Einheit, beide Denkmuster schlagen sich nieder im morphologischen Anspruch seiner Philosophie und Ästhetik, deren Gegenstände sich an der schöpferischen Kraft der Natur messen müssen: „Nature, c’est-à-dire: la Produisante ou la Productrice. C’est à elle que nous donnons à produire tout ce que nous ne savons pas faire, et qui, pourtant, nous semble fait. Il est cependant certains cas particuliers où nous pouvons entrer en concurrence avec elle, et atteindre par nos propres voies ce qu’elle obtient à sa façon. Nous savons faire voler ou naviguer des corps pesants et construire quelques molecules ‚organiquesދ.“89 „Natur, das heißt, die Zeugende oder die Hervorbringende. Ihr überlassen wir hervorzubringen, was wir selbst nicht zu machen verstehen, was uns aber dennoch als gemacht escheint. Es gibt indessen gewiss besondere Fälle, in denen wir mit ihr in Wettbewerb treten und auf den uns eigentümlichen Wegen erreichen können, was sie auf ihre Weise erreicht. Wir verstehen es, schwere Körper zum Fliegen oder zum Schwimmen zu bringen und einige ‚organischeދ Moleküle aufzubauen.“90
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Morphogenese also, der Prozessualität des Lebens und dem dynamischen Verhältnis von Trägheit und Bewegung, Beharrung und Zeitlichkeit abgerungen, ist die Herausforderung für den kreativen oder produktiven Menschen. Sie war es sicherlich immer, sieht sich aber im Horizont der beschleunigten Wahrnehmung um 1900 vor neue Schwierigkeiten gestellt, und sie ist nicht nur ein Problem der künstlerischen Form. Die Frage nach den Formbildungsprozessen der Natur verbindet sich, im Horizont der jungen Hirnphysiologie, mit der Frage nach den Bewegungsfiguren der schöpferischen Phantasie generell, ihren langwährenden Latenzen, evidenten Gedankenblitzen, Epiphanien und Narrationen, die Valéry seit dem Carnet inédit dit „Carnet de Londres“ und der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci nicht mehr losgelassen haben. Die schöpferische Phantasie, die Bergson zeitgleich als evolutionär angelegte Kreativität begreift, ist zuletzt die große Rätselfigur des zerebralen Suchprogramms, dem sich Valéry seit den 1890er Jahren verschrieben hat. Diese Rätselfigur verbirgt sich einerseits, als äußerste Ausprägung, im monströsen Gehirn Leonardos, andererseits in einer anderen Hartschalenmeditation, Hamlets Schädelphantasie nämlich, die als memento mori in Le Cimetière marin und La Crise de l’esprit zentral ist. Sie beschließt L’Homme et la coquille als offene, unendliche Fragespirale: „Je vais rejecter ma coquille comme on rejette une cigarette consumée. Cette coquille m’a servi, excitant tour à tour ce que je suis, ce que je sais, ce que j’ignore […] Comme Hamlet ramassait dans la terre grasse un crâne, et l’approchant de sa face vivante, se mire affreusement en quelque manière, et comme il entre dans une meditation sans issue, que borne de toutes parts un cercle de stupeur, ainsi, sous le regard humain, ce petit corps calcire creux et spiral [sic] appelle autour de soi quantité de pensées, dont aucune n’achève.“91 „Ich werfe meinen Fund fort, wie man eine zu Ende gerauchte Zigarette wegwirft. Diese Muschel ist mir dienlich gewesen, Drehung um Drehung hat sie hervorgelockt, was ich bin, was ich weiß und was ich nicht weiß […]. Gleich wie Hamlet aus der fetten Erde einen Schädel aufhebt, ihn seinem lebendigen
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Antlitz nähert und sich darin auf irgendeine Weise grauenvoll spiegelt und in tiefe, ausweglose Grübelei versinkt, die ein Kreis von Erstarrung von allen Seiten umgrenzt, so ruft vor dem menschlichen Blick dieser kleine, hohle, gewundene Körper aus Kalk viele Gedanken herbei, von denen keiner sich vollendet.“92
In Eupalinos wirft Sokrates in einer fast undankbaren, zumindest ratlosen Geste die Muschel weg und bereut diese Geste erst im Hades. Hier, in L’Homme et la coquille, wiederholt der Schalensammler diese Geste und ruft zuletzt Hamlet auf, die beharrende Figur der Krise. Sie resümiert das geistanalytische Projekt, das 1893, vor dem Hintergrund eines intellektuellen Zweifels, mit viel Energie und ausgestellter Zuversicht einsetzte, gute 40 Jahre später als unabgeschlossen, ja als melancholisch. Die Muschelreflexion freilich schreibt eine eigene, fortlaufende Erfolgsgeschichte, die fast 20 Jahre später augenfällig wird. 1955 nämlich baut der Strandgänger Le Corbusier, der Taines Voyage en Italie voller Neugier gelesen hatte und mit Valéry einen intensiven Briefwechsel führte, die Wallfahrtskirche von Ronchamp nach dem Vorbild der Natur – das wohl erste „Denkgebäude“ der bionischen Architektur. Le Corbusier war ein schillernder und widersprüchlicher Mann, dessen Reisen, Lebens- und Schaffensphasen genügend Stoff für Legendenbildung lieferten. Zunächst ein formvollendeter Vertreter des Bauhauses, forderte er um 1930, nachdem er Josephine Baker erlebt hatte, Bauten, die dem Tanze ähnelten; seine Sympathie für die Vichy-Regierung zeigte zehn Jahre später, dass er auch politisch verführbar war. Für den Entwurf von Ronchamp und eine letzte beachtliche Wende in seinem Schaffen und Lebensstil ausschlaggebend war offenbar 1946, wie er selbst notierte, der Fund eines Krebspanzers auf Long Island, und dieser anekdotische Gründungsmythos bestimmte fortan die Diskussion um diese staunenswerte Kapelle. Während Stimmen aus der katholischen Kirche die fehlende Sakralität des Baus beklagten, meinten die Bewunderer des Bauwerks in seinem Dach die Wellen, in seiner Stille das Rauschen des Meeres zu vernehmen. Auch wenn eine Anekdote vielfach Tatsachen schafft, so scheinen anderereits, wie Niklas Maak in
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seinem wunderbaren Buch Der Architekt am Strand93 nachzeichnet, vor allem Valérys Meditationen über das Meer für den Bauplan der Kirche prägend, wenn nicht überhaupt der Auslöser gewesen zu sein. Dieses gilt besonders für den Text Eupalinos ou L’architecte. Er erschien 1921 als erster von drei Dialogues und ist für Architekten ein Traktat mit Kultstatus, vielleicht schon deshalb, weil Eupalinos einen Tempel bauen möchte, der die Menschen so bewegt, wie es der Gegenstand ihrer Liebe tut. Eupalinos ou L’architecte wird durchgeführt als Geistergespräch in der Manier eines platonischen Dialogs: Sokrates und Phaidros unterhalten sich im Hades über das Bauen. Sokrates, schon er ein unermüdlicher Strandläufer – „je marchais sur le bord même de la mer, je suivais une plage sans fin…“94, erzählt, er habe zufällig eines dieser Dinge gefunden, die das Meer angespült hat: „une chose blanche et de la plus pure blancheur; polie, et dure, et douce, et légère. Elle brillait au soleil, sur le sable léché, qui est sombre, et semé d’étincelles. […] Qui l’a faite? Pensai-je. Tu ne ressembles à rien, et pourtant tu n’es pas informe“95. „eine weiße Sache von der reinsten Weiße, geglättet, hart, zart und leicht. Sie glänzte in der Sonne auf dem geleckten Sand, der dunkel scheint, übersät mit Funken. […] Wer hat dich gemacht, dachte ich. Du erinnerst an nichts, gleichwohl bist du nicht gestaltlos.“ 96
Valérys Sokrates, und diesen Begriff übernimmt Le Corbusier später, findet am Meeresufer „l’objet (du monde le plus) ambigu“97, das zweideutigste Ding der Welt. Als solches bezeichnet er es, weil seine vollendete Form die Frage nach Natur und Kultur, Beharrung und Bewegung unentscheidbar mache. Wenn Valéry Sokrates in Eupalinos sprechen lässt, klingt seine Rede wie ein salziges Prosagedicht über das Meer, und Phaidros kommentiert dieses entsprechend hymnisch: „Ô langage chargé de sel, et paroles véritablement marines!“98 Wenn aber Valéry auf diese Weise versucht, Geschmack und Bewegung des Meeres in Sprache zu übersetzen, so mischt er sich entschieden ein in einen
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Dialog von Künsten, die vor allem durch intermediale Experimente die Komplexität von Wahrnehmung ausloteten. Ein solcher Dialog, der auch ein Wettstreit war, wurde zur gleichen Zeit von den historischen Avantgarden ausgerufen, die sich mit ihren Bildern und Skulpturen, mit Texten, Tönen oder, wie Antonio Sant-Elia, mit kühnen architektonischen Entwürfen, der Herausforderung durch die technischen Medien stellten und nach Formprinzipien suchten, in denen die rasante Beschleunigung und Bewegung der Hochmoderne und des Lebens überhaupt zum Ausdruck kommen konnten. Valéry setzt in diesem paragone der Künste Architektur und Musik an die Spitze der Hierarchie: Stein und Luft, „la pierre ou l’air“99; und, auch das eine Bedeutung des französischen Wortes „air“, die „Weise“, die „Melodie“, nehmen den höchsten Rang ein. Die Architektur wird hier deshalb zur privilegierten Kunst des Philosophen, weil sie Materialität und Idee, die Spur der Zeit und die Morphogenese im Raum in sich vereint, als Stein gewordene Musik. Das ist noch kein origineller Gedanke, im Gegenteil. Die Vorstellung der Baukunst als erstarrte Musik, gefrorener Klang oder verstummte Tonkunst findet sich in allen Jahrhunderten. Hier aber wird der Architektur nicht nur die Spur der bewegten Natur eingeschrieben, sondern Bewegung und Musikalität selbst werden vom Betrachter mitvollzogen. Es ist ein Gedankenspiel, das dann Le Corbusier praktisch durchführt. Das Meer war nicht die einzige, wenn auch vielleicht die wichtigste Muse Valérys, und Bibliotheken waren für ihn selbstverständlich stets Räume intellektueller Impulse. Zwei Bücher vor allem scheinen ihn angeregt zu haben, einmal Viollet-le-Ducs monumentales Dictionnaire raisonné de lҲarchitecture française von 1854-1868, das ihm eine Vorstellung vermittelte von Kräften und Strukturen, die verborgen sind hinter den Wänden und unter den Dächern großer Gebäude, wie es gotische Kathedralen sind; sodann Owen Jones’ Grammar of Ornament von 1856, das im Vergleich von weltweit bewunderten Bauten der griechischen, keltischen und arabisch-maurischen Ornamentik architektonische Gesetze freilegte, die der Formgebung in der Natur, vor al-
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lem der Pflanzenwelt, entsprechen und die, unabhängig von ihren vielfältigen Variationen, auf ganz wenigen mathematischen Grundideen basieren.100 Hans Blumenberg wurde später auf Valérys Meeresmeditationen aufmerksam und schreibt 1964 in einem mitreißenden Essay über Valérys ambiges Ding, die sokratische Frage nach seiner natürlichen oder künstlichen Herkunft demonstriere, weil sie sich nicht eindeutig beantworten lasse, ja falsch gestellt sei, die „platonische Ironie“ und sei deshalb zentral, weil sie zu einem anderen Denken als demjenigen in Kategorien führe. Dieses Denken des Unbestimmten sei rein ästhetisch. Der junge Sokrates aber sei, als er dann landeinwärts ging und anfing, über den Gegenstand nachzudenken und nicht mehr Fragen an ihn zu richten, zum Philosophen geworden.101 Die Entscheidung, Philosoph oder Künstler zu sein, ist Valéry hingegen stets schwer gefallen, und er ist, so gesehen, immer wieder unbeirrbar zum Meer zurückgegangen. „Das Meer und die Mathematik“, schreibt Walter Benjamin in Bezug auf Eupalinos, „treten an einer der schönsten Stellen“, die Valéry geschrieben habe, „in eine bestrickende Ideenverbinung“.102 Ironisch ist diese Episode freilich allein schon deshalb, weil Valéry, wie seine Tochter schreibt, ausgerechnet wegen fehlender mathematischer Kenntnisse bei der Aufnahmeprüfung für die Marineakademie durchfiel und erst durch die Freundschaft mit dem exzentrischen Mathematiker und Musiker Paul Féline zu seinen Fragen und seinem Wissen kam.103 Valéry war ebensowenig Architekt wie Romanschriftsteller und er war kein Maler oder Bildhauer. Was ihn, den Dichter und Philosophen interessierte, waren Formfragen im Verhältnis von Trägheit und Bewegung und als Grundlage von Lebensprozessen, von künstlerischen und technischen Anstrengungen und zerebralen Strukturen. Zwei Richtungen schlug sein forschendes Denken ein: die Beobachtung von Objekten, Formen, Oberflächen und Bewegungsprozessen der materiellen Außenwelt zum einen, die Spekulation über die Organisation und die Grenzen der Wahrnehmung zum anderen. Niemals aber, so ist in Inspirations méditerranéennes zu lesen, habe er die Meereseindrücke der
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Jugend vergessen können104. Und so ist das Meer immer wieder Labor, Atelier und Höhle: Gegenstand der Beobachtung, Anlass zum Dichten, Anreiz philosophischen Träumens. In Mer heißt es: „Mer plate – grise, avec de grandes parties grenues qui montrent une activité locale, une démangeaison, un fourmillement de surface. L’onde est forme. Immobile, et sa matière mobile; ou mobile et sa matière ‚stationnaireދ. ‚Une vague – ދEn quoi est-elle un même? C’est la continuité des formes et du mouvement. Un point lumineux sur une roué (invisible) qui tourne et une suite de points qui s’éclairent sur un cercle sont identifies par l’œil. La continuité combine toujours ‚l’espace ދet le ‚tempsދ.“105 „Graues – flaches Meer, mit großen genarbten Teilen, die Zeichen einer örtlichen Aktivität sind, einer Reizing, eines Kribbelns an der Oberfläche. Die Welle ist Form. Unbeweglich und ihr Stoff beweglich; oder beweglich und ihr Stoff ‚bewegungslosދ. ‚Eine Welle – ދInwieweit gleicht sie sich selbst? Sie ist die Fortdauer der Formen und der Bewegung. Ein leuchtender Punkt auf einem (unsichtbaren) Rad, das sich dreht, und eine Folge von Punkten, die auf einem Kreis aufleuchten und vom Auge identifiziert werden. Die Fortdauer fügt immer ‚Raum ދund ‚Zeit ދzusammen.“106
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Abb. 25: Valéry, Croquis d’une surface de mer mouvante et agitée
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Im selben Jahr wie Eupalinos erscheint L’Âme et la danse. Hier entwickelt sich, erneut als Pastiche eines platonischen Dialogs, ein Gespräch über Bewegung und die Darstellung dynamischer Prozesse in der Kunst. Das Gespräch schließt an Überlegungen der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci an, erinnert an die Studien zum Flug der Vögel und endet abrupt mit einer Anrufung des Wirbels, des „tourbillon“108. Die Tatsache aber, dass nun nicht mehr nur die Lebewesen des Himmels, Vögel und Insekten, die Gravitation übertrumpfen, sondern ebenso die gerade entwickelten Flugzeuge, Werke der Einbildungskraft und des technischen Könnens, ließ Valéry nicht ruhen. Immer wieder kam er zurück auf das Verhältnis von Materie, Schwerkraft, Wind und auf die Rotation des Propellers. Die Drehgeschwindigkeit und die äußerste Beschleunigung jedoch teilen sich dem Auge nicht mehr mit, denn der rasant kreisende Propeller selbst scheint dann stillzustehen als weiße Scheibe oder Sonne. Wie für manche Maler der Avantgarden, ist der Flugzeugingenieur Louis Blériot für Valéry ein moderner Prometheus; seine frühen Flugmaschinen mit großen Schwingflügeln, Ornithopter genannt, ahmten den Schlag der Vögel nach und ruinierten den Erfinder, der mit seinen Experimenten das eigene Vermögen und das seiner Frau durchbrachte. Der Erfolg kam mit den ersten Propellerflugzeugen und der Ruhm, als er 1909 als erster Mensch den Ärmelkanal überflog. Valéry erlag augenblicklich der Faszination des Propellers; ihm erschien die Helix, die er schon in den gewundenen Muschelschalen und Seeschnecken immer wieder gesammelt und bewundert hatte, als Quintessenz der Dynamik, eine aufwärtsstrebende Spiralbewegung oder eine aus dem Strudel entspringende gleißende Form, die blind macht, wenn das Auge versucht, ihre Rotation im Sonnenlicht zu erkennen. Und doch versucht das Auge der Bewegung zu folgen und zu sehen, was auch der Verstand erst begreifen muss. Der wirbelnde Propeller als hochtourig kreisende, lichtvolle, scheinbar immaterielle Form überfordert jede Wahrnehmng und konfrontiert sie mit dem Chaos, dem weißen Nichts, das schon die poetologische, letztendlich paradoxe Figur Mallarmés, und auch die der reinen, absoluten Dichtung, der „poésie pure“ Valérys war. Die Avant-
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garde-Künstler, nicht nur die amtlichen Futuristen, teilten dieses Staunen angesichts der Geschwindigkeit, und auch sie versuchten, der wirbelnden Bewegung eine Form zu geben. Und so entstand eine Fangemeinde, die immerzu Propeller, Spiralen, Kreise und Scheiben malte oder in Dichtungen die Helix rühmte. Der schweizerische Kosmopolit Blaise Cendrars evozierte, als einer von ihnen, in seinen Dichtungen immerzu den Taumel der Geschwindigkeit, den „tourbillon“ als Derhung, Strudel und Schwindel im Kopf. Und dieser Wirbel ist eine sinnliche Überforderung, eine intellektuelle Provokation, die avantgardistisch-verstörende Assoziationen hervorruft. In einem Gedicht wirbelt durch die Luft ein Kopf, abgeschlagen von der Guillotine, die, im Horizont der Rotationen, als „Glanzstück der bildenden Kunst“ erscheint. In „La Tête“ heißt es, nicht ohne kulturkritische Absicht: „Comme une toupie immobile Sur sa pointe animée Vitesse Il se dépouille Des ondes multicolores Des zones de couleur Et tourne dans la profondeur“
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„Wie ein Kreisel erstarrt Auf seiner tanzenden Spitze Atemlos Wirft die Hülle ab Farbwellen Farbige Zonen Und kreist im Raum“110
Cendrars nannte eine Gedichtsammlung „Elastische Gedichte“, „Poèmes élastiques“, malte selbst einige Propellerbilder, darunter Voyage en aéro, und ließ 1913 sein berühmtestes Gedicht, das Langgedicht über die transsibirische Eisenbahn und die kleine Johanna aus
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Frankreich, La Prose du Transsibirien et de la petite Jehanne de France, von Sonia Delaunay illustrieren. Sie übersetzte die Bewegungslinien der Eisenbahn in berückende Farbintensitäten, mit denen der malerische Orphismus experimentierte, über dessen Kulturgeschichte, von den altgriechischen Kosmogonien bis hin zu ihrer Rezeption in der deutschen Philosophie, sich Valéry von seiner Freundin Catherine Pozzi informieren ließ.111 Und gleichzeitig nannte Robert Delaunay, Sonias Ehemann, der Freund und Wahlverwandte Cendrars’, 1914 eine seiner simultaneistischen Farbstudien Hommage à Blériot.
Abb. 26: Cendrars, Voyage en aéro,
Abb. 27: R. Delaunay, Hommage à
1913112
Blériot, 1914
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Valéry ist in diesen Jahrzehnten fast besessen vom „tourbillon“. Die Äußerungen über das Fliegen und die Propellermaschinen sind Bestandteil seiner Studien zu Rotationsfiguren und Wirbeln; und der „tourbillon“ ist ein Schlüsselwort in den Dichtungen, den philosophischen und kulturkritischen Schriften seit dem Carnet inédit und der Introduction à la méthode de Léonard de Vinci: „Th(éorie) des tourbillons – 1. atomes séparés par des distances énormes par rapport à leurs dimensions 2. (Thomson) matière continue mais dont certaines portions ont des m(ouvemen)ts tourbillonnaires.“114
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„Th(eorie) der Wirbel – 1. voneinander durch riesige Entfernungen im Verhältnis zu ihren Dimensionen getrennte Atome 2. (Thomson) fortgesetzte Materie, von der aber manche Teile wirbelnde B(ewegungen) haben.“115
Die Propellerflugzeuge sind die Hardware dieses Faszinationsmusters, die Technik, die den alten Menschheitstraum vom Fliegen eingelöst hat. „Tourbillon“, der Wirbel steht im Zentrum der Kunst- und Wahrnehmungsphilosophie Valérys; er überfordert das Auge und die Begreifungskraft immerzu, die von seinem Schwindel erfasst werden können, und auch das Ohr, wie es schon 1894 in einer Notiz des Carnet zur Oper heißt: „Petit tourbillon des oreilles.“116 Er ist die akute Herausforderung für die zeitgenössischen Mathematiker und Physiker und auch eine ambige Figur kühner Träume im Rhythmus von Form und Chaos. Gerhard Neumann hat in seinem grundlegenden Aufsatz zum Faszinationsmuster des „tourbillon“ bei Hofmannsthal und Valéry darauf hingewiesen, dass Valéry genau verfolgt hatte, wie der von ihm bewunderte Mathematiker Henri Poincaré kapitulierte vor der Aufgabe, thermodynamische Prozesse mathematisch darzustellen117, und tatsächlich korrespondiert dessen Erkenntnis, dieses Problem nicht lösen zu können, mit dem, was sich allgemein zu Beginn des 20. Jahrhunderts als Entdeckung von „Unbestimmtheit“ in Wissenschaften und Künsten verdichtet. Gerhard Gamm hat für die epistemische Verfasstheit der vorletzten Jahrhundertwende den Begriff „Unbestimmtheitsdispositiv“ vorgeschlagen. Er verweist mit diesem Begriff sehr präzise auf die Signatur der westlichen Moderne, die „alle scheinbar natürlichen Markierungen des Lebens [verflüssigt]“ und das „radikal Unbestimmte“ hervortreten lässt, das „nicht Nichts ist.“118 Auch Gamm lässt diese Auflösung kategorialer Gewissheiten und die damit einhergehende ästhetische und intellektuelle Grundhaltung einsetzen mit Baudelaires Diagnose der modernité. Wenn deren Flüchtigkeit, Mobilität und Kontingenz zum einen das Inzitament eines neuen Wahrnehmungsund Schönheitskonzepts sind, so sind sie zum anderen die Fluchtlinie der sprachlichen und bildlichen Repräsentation, das Grundproblem des
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Wissenshorizontes und der Formbildung, das sich um 1900 zuspitzt und auch Valéry fesselt. Wenn aber schon die Bewegung von Maschinen eine Krise der Wahrnehmung und Darstellungsform heraufbeschwört, um wie viel schwieriger gestaltet sich dann der Versuch, den Strudel des Lebens erfassen zu wollen, die Pirouetten tanzender Körper, die Intermittenzen der Empfindungen, die Flüchtigkeit der Gedanken, die Turbulenzen eines einzelnen Gehirns. Gerhard Neumann hat sich in dem schon genannten Aufsatz der Frage zugewandt, wie es dazu kommen konnte, dass sich Valéry, der Geistanalytiker, der Formalist, immer wieder dem Tanz und damit der „Korporalität“ verschrieben hat, zuerst in Gedichten, zuletzt in ambitionierten Essays, L’Ame et la danse (1921), Philosophie de la danse (1937) und Danse Degas Dessin (1938). Was immer ihn auch privat motiviert haben mag, gehört in den Bereich der Spekulationen. Neumann aber weist darauf hin, dass Valéry vor allem angeregt wurde durch die Avantgarde-Tänzerin Loʀe Fuller und das künstlerische Ambiente, in dem Ida Rubinstein und Igor Stravinsky Triumphe feierten, und dass er in dieser Pariser Szene den Ausdruckstanz als eine Kunstform entdeckte, welche die Bewegung von „Seele“ und Körper verbindet. Ihre Grundfigur ist der Wechsel von Stillstand und „tourbillon“.119 Es verwundert nicht, dass der ältere Valéry bei seinen Recherchen zum Tanz auf Degas stieß, den Maler und Zeichner der Pferderennen und der Tänzerinnen, „peintre des Danseuses“120. „Cheval, danse et photo“ lautet ein Unterkapitel der längeren Studie über Degas, in dem Valéry, lange bevor Bild- und Medienwissenschaften existierten und sich der Zeit im Bild widmeten121, die Chronotopien des Engländers Eadweard Muybridge als Zeugnisse dessen würdigt, was das menschliche Auge nicht sieht und was kein Maler oder Bildhauer bisher richtig darstellen konnte: die Bewegungsfiguren des edlen Tiers im Trab oder Galopp, „les vraies figures du noble animal en mouvement au moyen des photographies instantanées du major Muybridge.“122
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Abb. 28: Muybridge, The Horse in Motion, 123
1878
Abb. 29: Degas, Cheval 124
galopant
Im Rückblick auf die Introduction à la méthode de Léonard de Vinci erwähnt Valéry hier beiläufig, „en passant“125, dass auch Leonardo Studien zum Vogelflug, ebenso wie so mancher japanische Stich, bestätigt worden seien durch die seriellen Schnappschüsse des Engländers, Erkenntnisse über Bewegung also wahr seien, die der eine durch Reflexion, die anderen durch Sensibilität und die Geduld langer Beobachtung gewonnen hätten. Und Valéry schließt eine eigene kleine physiologische Theorie der Photographie an, die durchaus Aufmerksamkeit verdient, weil sie seine umherschweifenden Gedanken über Kunst, Medien und Formbildung wunderbar veranschaulicht. Das Auge, so schreibt er, ist erfinderisch, „l’œil est inventif“; aber es ist das Gehirn, das konstruiert und ausarbeitet. Was uns als das vollständige, „objektive“ Ergebnis einer Beobachtung erscheint, ist nichts als das Ergebnis einer Reihe „mysteriöser“ zerebraler Operationen. Diese wiederum treten zwischen das Stadium von Flecken, „taches“, und jenes von Dingen, „choses ou objets“, und koordinieren rohe, unzusammenhängende Daten, „des données brutes incohérentes“, sie lösen Widersprüche auf, führen Urteile mit sich, die seit frühester Kindheit, ja seit jeher geformt sind, drängen uns Kontinuitäten auf, Verbindungen, Modalitäten und Transformationen, die wir verbuchen unter Raum, Zeit, Materie, Bewegung, Form. Und so wie wir an die kontinuierliche Bewegung des Galopps glaubten, bevor die Photographie uns die Sprünge des Pferdes zeigte, gibt es eine noch unbekannte kreative Energie, mittels derer das
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Bewusstsein Ganzheit konstruiert und jene Lücken füllt, die die sinnliche Aufzeichnung hinterlässt.126 Kein Zweifel: Valéry formuliert hier, lange bevor es dann Gilles Deleuze tun wird, jenen „Schwund des Wahrnehmungsglaubens“, der, bedingt durch die neuen Medien, zur Herausforderung und Grundlage der experimentellen Malerei Manets, Seurats, Cézannes und Boccionis wurde.127 Und noch ein Absatz der kleinen Studie, der den mehr denn je aktuellen Gedanken der Konstruktivität zerebraler Formbildung enthält, ist erwähnenswert. Er bezieht sich nicht auf das Verhältnis von Bewegung und Medien, sondern auf ein Genrebild, ein Photo aus Julie Manets Salon, das Degas 1895 selbst aufgenommen hatte. Er schenkte Valéry davon einen Abzug, und dieser hütete ihn mit großer Eifersucht. Degas, so Valéry, habe nämlich viele schöne Photographien gemacht und diese neue Technik zu einer Zeit geliebt, in der die meisten Künstler sie verachteten oder nicht zugeben wollten, dass sie sich ihrer für die eigenen Gemälde und Zeichnungen bedienten128. Das Photo und seine Entstehungsbedingungen sind so beschrieben: „Auprès d’un grand miroir, on y voit Mallarmé appuyé au mur, Renoir sur un divan assis en face. Dans le miroir, à l’état de fantômes, Degas et l’appareil, Madame et Mademoiselle Mallarmé se devinent. Neuf lampes à pétrole, un terrible quart d’heure d’immobilités pour les sujets, furent les conditions de cette manière de chef-d’œuvre. J’ai là le plus beau portrait de Mallarmé que j’aie vue, mise à part l’admirable lithographie de Whistler, dont l’exécution fut pour le modèle un autre supplice, supporté avec toute la grace du monde; il dut, pendant quantité de séances, poser presque collé à un poêle et grillant sans oser se plaindre. Le résultat valut le martyre. Rien de plus délicat, de plus spirituellement ressemblant que ce portrait.“129
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„Man sieht darauf, dicht neben einem großen Spiegel, Mallarmé, der an der Wand lehnt, und ihm gegenüber auf einem Sofa sitzend, Renoir. Im Spiegel lassen sich die Schemen von Degas und seiner Kamera, Frau und Fräulein Mallarmé gerade noch erraten. Neun Petroleumlampen, eine schauerliche Viertelstunde, während der keiner der Anwesenden sich rühren durfte, waren die Voraussetzungen für das Gelingen eines derartigen Meisterwerks. Es ist dies übrigens das schönste Porträt Mallarmés, das ich kenne, wenn man von der vortrefflichen Whistlerތschen Lithographie absehen will, deren Herstellung für das Modell eine weitere, freilich mit größter Grazie erduldete Folter bedeutete: der Ärmste musste während einer ganzen Reihe von Sitzungen wie festgeklebt an einem Stubenofen schmoren, ohne daß er den Mut fand, sich darüber zu beklagen. Das Ergebnis rechtfertigte dieses Martyrium. Es gibt nichts Zarteres, auf vergeistigtere Weise Ähnliches, als dieses Porträt.“130
Abb. 30: Degas, Auguste Renoir et 131
Stéphane Mallarmé, 1895
Abb. 31: Whistler, Stéphane 132
Mallarmé
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So manches ist in dieser Ekphrasis interessant, nicht nur die unverkennbare Huldigung an den Lehrer Mallarmé. Valéry schreibt über gleich zwei technische Künste, Photographie und Lithographie, die, wurden sie im 19. Jahrhundert und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts für Porträts und Gruppenaufnahmen eingesetzt, den Modellen Geduld und langwieriges Stillhalten abverlangten, was aber, zugegebenermaßen, im Vergleich mit dem Posieren für ein Gemälde, eine geringe Anstrengung war. Mallarmé jedenfalls werden in dieser Hinsicht Anmut und Märtyrerhaltung bescheinigt. Es mag sein, dass einem solcherart entstandenen Porträt schon deshalb ein hoher Grad an Behutsamkeit und gar Spiritualität zukommt, jene Qualität und Meisterschaft also, die den technischen Medien lange abgesprochen wurden. Denn dass es den technisch hergestellten Bildern an Geistigkeit mangele, das war schon fast eine idée reçue, die sich selbst bei jenen Künstlern fand, die von dem Medium fasziniert waren und Gemeinplätze verabscheuten, wie Baudelaire und Flaubert. Das Photo, von dem also Degas ihm einen Abzug schenkte, beschreibt Valéry im Detail: die abgebildete Gruppe, die Lichtverhältnisse, die Haltung und Position der Personen im Salon ebenso wie ihre klare oder schemenhafte Wiedergabe, zuletzt den Photographen, Degas, selbst im Spiegel, geisterhaft, „à l’état de fantôme“. Und während Degas so erinnert an die lange Tradition von Künstlern, die sich selbst malend ins Bild setzten und deshalb berühmte Bildtheorien hervorbrachten – allererst die Meninas von Diego Vélazquez – liefert er zugleich auch in besonderer Weise eine Idee dieses technischen Mediums, die man in Roland Barthes’ letztem Buch, La Chambre claire von 1980, wiederfinden kann. Degas „à l’état de fantôme“, wird zum Gespenst auf einem Bild, das etwas anderes zeigt als das, was der Photograph beim Knipsen sah, so wie jedes Photo, nach Roland Barthes, eine Wirklichkeit zeigt, die anders ist als das, was im Moment der Aufnahme erschien. Und deshalb ist jedes Photo das memento mori eines unwiederbringlichen Augenblicks, der sich gespenstisch behauptet und tatsächlich eine Wahrheit offenbaren kann, die den Betrachter „punktiert“, ja verletzt, indem sie ihm mit Gewissheit zeigt, dass Zeit vergangen, der abgebildete Mensch vielleicht längst tot ist.133
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So ist für Roland Barthes ein Bild der Mutter, für Valéry das Bild Mallarmés „le plus beau portrait“ und ein Dokument der Wahrheit des Lebens in der Zeit. Danse Degas Dessin ist ein Text über den Dialog der Künste und die erkenntnisstiftende Kraft der neuen Medien, die nicht nur Wahrnehmungsfehler korrigieren, sondern auch Aufschluss geben über Formbildungsprozesse der zerebralen Akivität. Diese selbst sind, wie schon Taine wusste, vergleichbar mit Tanzfiguren, die unablässig Formen und Netzwerke bilden und lösen, modulieren und variieren. Noch einmal wird dieses Suchprogramm im Text über Degas mit dem Meer in Verbindung gebracht, zu dem Valéry hartnäckig und leidenschaftlich zurückkehrt. Tanz und Meer nämlich gehen in der Degas-Studie zuletzt eine eigentümliche Symbiose ein. Der Kunstbetrachter Valéry entdeckt, in einer überaschenden Pointe, die perfekte Tänzerin in Gestalt einer Qualle und diese Molluske, wie schon diejenige in La Coquille et l’homme, bringt große Kunst hervor: eine natürliche, anmutige Bewegung, wie sie nur die bewusstlose Natur oder ein absolutes Gehirn schaffen kann. So hatte es schon Kleist in Über das Marionettentheater verstanden. Valéry aber bezieht sich hier nicht explizit auf Kleist, sondern auf Mallarmé. Als Hommage an den Lehrer, der ihn gewiss beflügelte und zuweilen lähmte, beginnt mitten im Essay eine merkwürdige kleine Reflexion, die nicht die vielen Zeichungen und Serien Degas’ von Tänzerinnen, nicht die kleine rätselhafte und berühmt gewordene Skulptur, „la petite danseuse de Degas“, in den Blick nimmt, von der Mallarmé sagte, sie sei keine Tänzerin, denn sie sei keine Frau, und sie tanze nicht: „Mallarmé dit que la danseuse n’est pas une femme qui danse, car ce n’est point une femme, et elle ne danse pas.“134 Vielmehr geht es um etwas anderes. Mallarmé nämlich, der mit dieser Notiz ein Zeichen seiner idealen immateriellen rhythmischen Kunst setzt, hatte ganz gewiss keinen Gedanken an die „grandes Méduses“ verschwendet, die Valéry aus diesem Satz hervorzaubert. Er nämlich hatte diese wirbellosen Meerestiere, wie schon ein Eintrag in den Cahiers von 1927 zeigt, bereits im Kino bewundert, „Méduses au cinéma“135, und
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schon im Film erschienen ihm diese niederen Meerestiere als die Vollender bewegter Formen: „point des femmes, mais des êtres d’une substance incomparable, translucide et sensible, chair de verre follement irritables, dômes de soie flottante, couronnes hyalines, llongues lanières vives toute courues d’ondes rapides, franges et fronces qu’elles plissent, déplissent, cependant qu’elles se retournent, se deferment, s’envolent, aussi fluides que le fluide massif qui les presse, les épouse, les soutient de toutes parts, leur fait place à la moindre inflexion et les remplace dans leur forme. Là, dans la plénitude incompressible de l’eau qui semble ne leur opposer aucue résistance, ces creatures disposent de l’idéal de la mobilité.“136 „Keine Frauen, sondern Wesen aus einem unvergleichlichen, durchscheinenden und empfindlichen Stoff, höchst reizbare Leiber aus Glas, Kuppeln von fließender Seide, diaphane Kronen, lange lebende Peitschenschnüre, ganz durchströmt von hastigen Wellen, wogenden Fransen und Rüschen, die sie zusammenfalten und wieder entfalten, während sie sich wenden, wandeln, entziehen, selber nicht minder flüssig als die flüssige Masse, die sie durchdringt, sich mit ihnen vermählt, sie allenthalben stützt, jeder noch so leisen Biegung ihrer Gestaltungen nachgibt und ihre Form einnimmt. Hier, in der unendlich gedrängten Fülle des Wassers, die ihnen nicht den mindesten Widerstand zu bieten scheint, verfügen diese Geschöpfe über das ideale Höchstmaß an Beweglichkeit.“137
Valérys Beschreibung, die er ausstellt als erotischen Traum, als „songe d’Éros“138, lässt keinen Zweifel an jenem Ursprung der Welt, den man immerzu auf Courbets Origine du monde hätte sehen können, wenn nicht Jacques Lacan, der dieses Gemälde von 1866 in seinem Besitz hatte, es über viele Jahre hinter einem Vorhang versteckt gehalten hätte. Die überraschende filigrane Textstelle, die ästhetizistischen und lebensphilosophischen Bildfolgen demonstrieren ein Staunen angesichts der Bewegtheit und Ordnung, aber auch Einfachheit des Lebens, und vielleicht demonstriert sie zuletzt die Demut eines geistanalytischen Unternehmens, das von den äußersten Vorposten des Wissens und
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Könnens, von kreisenden Propellern und Gehirnspekulationen zurückkehrt zur Vorstellung der Einheit des Lebens und der Formen: „Les images de mon esprit sont une mer toujours.“139 Aus dieser Spannung von Einfachheit und Komplexität, Chaos und Gestalt, die Valéry in seinen Texten immer wieder reflektiert und durchspielt, indem er schlichte Phänomene der Natur und ehrgeizige Projekte der Technik beobachtet und sprachlich bildet, auflöst, rahmt und in Digressionen umgeht, entsteht, wie er in einer Notiz festhält, die „dichte Beschreibung“, die Narration oder Inszenierung einer: „Nouvelle mythologie/les formes en mouvement/connaître c’est former“140 oder auch ein „Leonardo-Effekt“141. Dieser verbürgt, in einer poetischen Lebenswissenschaft avant la lettre, jene Verwandtschaft von Traum und Vernunft, Literatur und Wissenschaft, Kunst und Leben, die Valérys immenses, zerklüftetes und geschmeidiges, unabgeschlossenes und aktuelles Werk durchzieht.142
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ANMERKUNGEN 1
Abbildung in: Jacques Dalquier: Paul Valéry, l’intime, l’universel, Paris 1999, 47.
2
Brief an André Gide vom 26. Februar 1894, in: André Gide – Paul Valéry: Correspondance (1890-1942), préface et notes par Robert Mallet, Paris 1955, 199.
3
André Gide – Paul Valéry: Briefwechsel (1890-1942), ins Deutsche übers.
4
Valéry: „Rhumbs“, in: ders., Œuvres, édition établie et annotée par Jean
von Hella und Paul Noack, Frankfurt a. M. 1987, 233. Hytier, Bd. 2, Paris 1960, 639: „Pourquoi ne pas parler du système nerveux de la Joconde et du foie de la Vénus de Milo?“; vgl. dazu: Erich Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur. Das 19. Jahrhundert, Bd. 3, hg. von Henning Krauß/Dietmar Rieger, Stuttgart u.a. 1987, 161. 5
Vgl. ausführlich Kap. III.
6
Es gibt nur zwei minimale Varianten: ein Komma, v. 4, nach „Pécédant“ sowie Majuskel Zeile 7 „Tous“; nicht aufgenommen in Pléiade, éd. Jean Hytier, Œuvres, Bd. 1, Paris 1957, 120, Kommentar 1663.
7
Valéry: „Les Pas“, in: ders., Œuvres, Bd. 1, 120.
8
Rilke: „Die Schritte“, in: ders., Werke, Bd. II.2, 399.
9
Aus den Mss. zit. in: Brian Stimpson: Paul Valéry and Music. A Study of the Techniques of Composition in Valéry’s Poetry, Cambridge/ London/New York 1984, 135-146, hier 135.
10 Valéry: Cahiers, édition établie, présentée et annotée par Judith RobinsonValéry, Bd. 2, Paris 1974, 31. 11 Ders.: Cahiers/Hefte, ins Deutsche übers. von Hartmut Köhler et al., Bd. 4, Frankfurt a. M. 1990, 184f. (Kapitel „Traum“, übers. von Hartmut Köhler); s. a. Kapitel „Aufmerksamkeit“ (übers. von Jürgen Schmidt-Radefeldt) im selben Band. 12 Valéry: Carnet, zit. Ausg.; die folgenden Überlegungen zum Carnet stimmen in einigen Passagen überein mit dem Text: Walburga Hülk: „Paul Valéry, Carnet de Londres. Leonardo, Teste und die Dynamik von Gedächtnis
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und Kunst“, in: Kirsten Dickhaut/Stephanie Wodianka (Hg.): Geschichte, Erinnerung und Ästhetik, Tübingen 2010, 351-362. 13 Valéry: „My early days in England“, London 1925, zit. in ders., Carnet, Annexe 1, 144. 14 Ins Deutsche übers. von Walburga Hülk. 15 Valéry: „Monsieur Teste. La Soirée avec Monsieur Teste“, in: ders., Œuvres, Bd. 2, 11. Vgl. Jürgen Kaube: „Die Nacht von Genua“, a.a.O. Zu Auguste Comte sehr lesenswert Lepenies: Auguste Comte. Die Macht der Zeichen, München 2010. 16 Vgl. im Zusammenhang Hagner: Geniale Gehirne; s. a. Guthmüller: „‚L’hôte bienvenu“ދ, a.a.O.; dies.: Der Kampf um den Autor. 17 Zit. in: Forschungen zu Paul Valéry/Recherches valériennnes, hg. von Karl Alfred Blüher/Jürgen Schmidt-Radefeldt, Bd. 4 („Paul Valéry und Leonardo da Vinci“), Kiel 1992, II. 18 Ins Deutsche übers. von Walburga Hülk. 19 Vgl. Bachelard: La Psychanalyse du feu. 20 Hagner: Homo cerebralis. 21 Valéry: „La Crise de l’esprit“, a.a.O., 991. 22 Mallarmé: „Brise marine“, a.a.O., 38. 23 Valéry: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, a.a.O., 1154. 24 Ders.: „Monsieur Teste“, a.a.O., 17, 15. 25 Ders.: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, a.a.O., 1159. 26 Abbildungen in: Valéry: Carnet, 80f. 27 Ders.: Carnet, 8. 28 Abbildung in: Forschungen zu Paul Valéry. Recherches Valériennes, Bd. 4, hg. von Blüher/Schmidt-Radefeldt, V. 29 Vgl. Valéry: Carnet, 80 (sowie dazu Anmerkungen, 82). 30 Blüher/Schmidt-Radefeldt: „Paul Valéry und Leonardo da Vinci“, a.a.O., III. 31 Valéry: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, a.a.O., 1155. 32 Ders.: „Léonard et les philosophes“, in: ders., Œeuvres, Bd. 1, 1269. 33 Ders.: Carnet, 80.
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34 Leonardo da Vinci: Der Vögel Flug – Sul volo degli uccelli, deutsch/italienische Ausgabe, hg. und übers. von Marianne Schneider, München/Paris/London 2000, 94 (deutsch), 95 (ital.). Ganz am Ende der „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“/„Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci“ wird diese Strophe wieder aufgenommen. 35 Valéry: „Monsieur Teste“, a.a.O., 18. 36 Baudelaire: „Le Rebelle“ („Les Fleurs du Mal“, poèmes apportés pour la troisième édition, 1868), in: ders., Œuvres, Bd. 1, 139. 37 Ders.: „Élévation“ („Les Fleurs du Mal“), in: Œuvres, Bd. 1, 10. 38 Ders.: „Le Cygne“, ebd., 86. 39 Mallarmé: „Le vierge, le vivace et le bel aujourd’hui“, in: Œuvres complètes, 68. 40 Neumann: „‚Tourbillon“ދ, a.a.O., 308. 41 Valéry: „Les Sciences de l’esprit sont-elles essentiellement différentes des sciences de la nature?“, in: Revue de synthèse, 1. Oktober 1931, 9-11 (nicht aufgenommen in: Valéry, Œuvres); vgl. ders.: „Sind Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften grundverschieden?“ (Ins Deutsche übers. von Jürgen Schmidt-Radefeldt), in : ders., Werke, Bd. 7, Frankfurt a. M. 1995, 390ff., Kommentar 577f.; dazu später: Snow: The Two Cultures and a Second Look, Cambridge MA 1963 (Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz, Stuttgart 1967); vgl. dazu Helmut Kreuzer (Hg.): Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. Dialog über die zwei Kulturen, Stuttgart 1969; Neuausgabe als Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C.P. Snows These in der Diskussion, München 1987. 42 Vgl. Walzel: Wechselseitige Erhellung der Künste, siehe Vorwort. 43 Valéry: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, 1156, 1158. 44 Ders.: „Einführung in die Methode des Leonardo Da Vinci“, 10, 13. 45 Zit. im Anmerkungsteil zum Carnet, 83. 46 Valéry: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, 1178. 47 Ins Deutsche übers. von Walburga Hülk. 48 Valéry: „Einführung in die Methode des Leonardo Da Vinci“, 36f. 49 Ders.: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, 1175, 1177.
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50 Ders.: „Einführung in die Methode des Leonardo Da Vinci“, 33, 35f. 51 Ders.: „Introduction à la méthode de Léonard de Vinci“, 1177. 52 Ders.: Carnet, 12. 53 Vgl. Georges Didi-Huberman/Laurent Mannoni: Mouvements de l’air. Étienne-Jules Marey, photographe des fluides, Paris 2004. 54 Abbildung in: Marta Braun: Picturing Time. The Work of`Etienne-Jules Marey (1830-1904). Chicago 1992, 135. 55 Abbildung in: Didi-Huberman/Mannoni: Mouvements de l’air, 104. 56 Valéry: „Celle qui sort des ondes“, in: Carnet, 52; zu den unterschiedlichen Fassungen im Abstand von 30 Jahren vgl. Köhler: Vorlesungen zur Geschichte der Französischen Literatur, 154-158. 57 Ins Deutsche übers. von Walburga Hülk. In der zit. Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M./Leipzig 1992, 12, findet sich die Übersetzung der komplett umgeschriebenen Fassung von 1920. 58 Didi-Huberman: L’Image survivante; s. dazu vor allem die Neuausgabe von Warburg: Die Erneuerung der heidnischen Antike. Kulturwissenschaftliche Beiträge zur Gsechichte der europäischen Renaissance, 2 Teile (Gesammelte Schriften, Abtlg. 1, Bd. 1/1-2, Nachdruck der Ausgabe von 1932), hg. von Horst Bredekamp und Michael Diers, Berlin 1998. 59 Abbildung siehe URL:
http://www.shaynes.com/Photos/Italy_Spring_
2004/CRW_8457.htm vom 20.01.2012. 60 Abbildung in Frank Zöllner: Sandro Botticelli, München u.a. 2005, Neuausgabe 2009, 133. 61 Vgl. Erstiü: „Pathosformel ‚Venus‘?“, a.a.O.; vgl. zuvor Raulff: Wilde Energien; Didi-Huberman: L’Image survivante. 62 Vgl. Walburga Hülk: „Mémoire 1900“, a.a.O. 63 Braudel: „Mediterrane Welt“, in: ders./Georges Duby/Maurice Aymard, Die Welt des Mittelmeeres. Zur Geschichte und Geographie kultureller Lebensformen, Frankfurt a. M. 1990, 8. Für manche Anregung in diesem Zusammenhang danke ich Theresa Vögle; vgl. umfassend in Kürze Theresa Vögle: Mediale Inszenierungen des Mezzogiorno. Die „Südfrage“ als Prüf-
199
stein der Einheit Italiens und der Idee Europas, Heidelberg 2012 (im Erscheinen). 64 Semon: Die Mneme als erhaltendes Prinzip im Wechsel des organischen Geschehens; vgl. auch: Hendrik Wortmann: Zum Desiderat einer Evolutionstheorie des Sozialen, Konstanz 2011; Stephan S.W. Müller: Theorien sozialer Evolution, Bielefeld 2011. 65 Carl Buchner/Eckardt Köhn (Hg.): Herausforderung der Moderne. Annäherungen an Paul Valéry, Frankfurt a. M. 1991, 158. 66 Valéry: „Regards sur la mer“, in: ders., Œeuvres, Bd. 2, 1335-1341, hier 1337. 67 Valéry: „Blicke aufs Meer“, ins Deutsche übers. von Walburga Hülk; zur Begriffsgeschichte „civilisation“ – „Zivilisation“/„Kultur“. Im französischen/angelsächischen/deutschen Vergleich vgl. Jörg Fisch, Artikel „Zivilisation, Kultur“, in: Brunner/Conze/Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 7, Stuttgart 1992, 679-714. 68 Valéry: „L’Idée fixe ou Deux hommes à la mer“, in: ders., Œuvres, Bd. 1, 199; vgl. ähnliche Bilder auch in „Mers“, in: ders., Œuvres, Bd. 2, 663671. 69 Ders.: „Regards sur la mer“, a.a.O., 1337. 70 Ebd., 1338. 71 Ebd., 1340. 72 Ders.: „L’Idée fixe ou Deux hommes à la mer“, 200. 73 Buchner/Köhn (Hg.): Herausforderung der Moderne, 101. 74 Valéry: „L’Homme et la coquille“, in: ders., Œuvres, Bd. 2, 886-907, hier 890f. 75 Ebd., 886. 76 Ebd., 890. 77 Valéry: „Littérature“ („Tel Quel“), in: Œuvres, Bd. 2, 557, vgl. 553f. 78 Ebd., 892. 79 Valéry: „Der Mensch und die Muschel“ (Ins Deutsche übers. von Ernst Hardt), in: ders., Werke, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1989, 163. 80 Ders.: „L’Homme et la coquille“, a.a.O., 888. 81 Alle Zitate ebd., 888.
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82 Ebd., 889. 83 Da Vinci: Das Wasserbuch. Schriften und Zeichnngen, hg. von Marianne Schneider, München u.a. 1996, Abb. 32 (ohne Seitenangabe). 84 Vgl. Aumont: L’Œil interminable, siehe auch Kapitel I; vgl. auch Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur. 85 Valéry: „L’Homme et la coquille“, 898. 86 Henri Bergson: L’Évolution créatrice, Paris 1907; vgl. dazu auch: Frédéric Worms: L’évolution créatrice 1907-2007: épistémologie et métaphysique, Paris, („Épiméthée“, Annales bergsoniennes IV), 2008. Frédéric Worms gibt aktuell eine kritische Ausgabe der Schriften Henri Bergson heraus. 87 Valéry: „L’Homme et la coquille“, 898. 88 Ebd., 900f. 89 Ebd., 897, vgl. zu Gestalttheorie, Morphologie und Formbildungsprozessen auch theoretisch: Rainer Leschke: Medien und Formen. Eine Morphologie der Medien, Konstanz 2010; zum kulturgeschichtlichen Zusammenhang vgl. Olav Krämer: Denken erzählen. Repräsentationen des Intellekts bei Robert Musil und Paul Valéry, Berlin 2009. 90 Valéry: „Der Mensch und die Muschel“, a.a.O., 169. 91 Ders.: „L’Homme et la coquille“, a.a.O., 906f. Vgl. allg. zum Thema „Schädelphantasien“: Ursula Renner: „Schädel-Meditationen – Zur Kulturgeschichte eines Denkmodells“, in Hülk/Renner (Hg.), Biologie, Psychologie, Poetologie, Verhandlungen zwischen den Wissenschaften, 171-200. 92 Valéry: „Der Mensch und die Muschel“, 180. Das Wort „stupeur“, hier übersetzt mit Erstarrung, hat, wie das lateinische „stupor“, auch noch die Bedeutung Staunen, also „Erstarrung“ im Sinne von „fasziniert, gebannt sein“. 93 Niklas Maak: Der Architekt am Strand. Le Corbusier und das Geheimnis der Seeschnecke, München/Wien 2010. 94 Valéry: „Eupalinos ou l’architecte“, in: Œuvres, Bd. 2, 79-147, hier 116. 95 Ebd., S. 119; hierzu auch ausführlich Maak: Der Architekt am Strand, 130162. 96 Valéry: „Eupalinos oder der Architekt“ (Ins Deutsche übers. von Rainer Maria Rilke), in: Valéry, Werke, Bd. 2, Frankfurt a. M. 1990, 51.
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97 Ders.: „Eupalinos ou l’architecte“, a.a.O., 115. 98 Ebd., 117. 99 Ebd., 103. 100 Judith Robinson-Valéry: „The fascination of Science“, in: Paul Clifford/Brian Stimpson/Michael Sheringham (Hg.), Reading Paul Valéry. Universe in Mind, Cambridge 1998, 70-84; vgl. in diesem Zusammenhang auch: Recherches valériennes/Forschungen zu Paul Valéry, hg. von Blüher/Schmidt-Radefeldt, X (Valéry und die Wissenschaften), Kiel 1998; Gabriele Fedrigo: Valéry et le cerveau dans les cahiers, Paris 2000. 101 Vgl. Hans Blumenberg: „Sokrates und das ‚objet ambigu“ދ, in: ders., Ästhetische und metaphorolgische Schriften, hg. von Anselm Haverkamp, Frankfurt a. M. 2001, 76, 97. 102 Walter Benjamin, zit. in Buchner/Köhn (Hg.): Herausforderung der Moderne, 158, dazu Maak: Der Architekt am Strand, 139. 103 Robinson-Valéry: „The fascination of Science“, 73. 104 Valéry: „Inspirations méditerranéennes“, in: Œuvres, Bd. 1, 1089. 105 Valéry: „Mer“ (1939), in: Œuvres, Bd. 1, 289; vgl. auch: „Mers“), in: Œuvres, Bd. 2, 663: „Vagues. Le vent strie, la grande vague de petites vagues obliques. La peau de la grande houle fondamentale est ridée régulièrement par la cause superficielle de la brise, qui irrite légèrement la surface, et la puissante forme roulante de provenance lointaine se complique, devient une masse à facettes, une figure solide cristalline, en transformation incessante, d’où émane la rumeur d’une matière en ebullition par l’infinie quantité de cris intimes, de déchirements et froissements, deplissements et de mélanges entre les eaux.“ 106 Valéry: „Meer“ (Ins Deutsche übers. von Eliane Blüher), in: ders., Werke, Bd 1, 217. 107 Abbildung in: Valéry: Carnet, 91. 108 Valéry: „L’Âme et la danse“, in: Œuvres, Bd. 1, 148-176, hier 176. 109 Blaise Cendrars: „Dix-neuf Poèmes élastiques“, in: ders., Du monde entier. Poésies complètes 1912-1924, Paris 1967, 103; vgl. Walburga Hülk: „BlaiseMouvement. Blaise Cendrars et le dynamisme 1900. Perception, lumière, guerre“, in: Birgit Wagner/Claude Leroy (Hg.), BlaiseMédia.
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Blaise Cendrars et les média, Paris (ritm 36.) 2007, 101- 117, ins Deutsche übers. von Walburga Hülk: „BlaiseMouvement. Cendrars und der Dynamismus 1900: Wahrnehmung, Licht, Krieg“, in: Marijana Erstiü/Gregor Schuhen/Tanja Schwan (Hg.), Spektrum reloaded. Siegener Romanistik im Wandel, Siegen 2009, 161-181. 110 Cendrars: „Neunzehn elastische Gedichte“, ins Deutsche übers. von Jürgen Schroeder, in: ders., Gedichte, Bd. 2, Französisch – Deutsch, Zürich 1977, 69; im 1. Vers: „Glanzstück der bildenden Kunst“. 111 Vgl. Régine Pietra: „Valéry et les philosophes allemands“, in: Recherches valériennes/Forschungen zu Paul Valéry, hg. von Blüher/Schmidt-Radefeldt, V, Valéry und die Philosophie, Kiel 1992, 15-31, hier 15. 112 Abbildung in: Hülk: „BlaiseMouvement. Cendrars et le dynamisme 1900: perception, lumière, guerre“, a.a.O., 111. 113 Roland Wetzel: Robert Delaunay. Hommage à Blériot, Bielefeld u.a. 2008, 21. 114 Valéry: Carnet, 104. Zusammenfasung einer Notiz über molekulare Wirbel von Maxwell. 115 Ins Deutsche übers. von Walburga Hülk. 116 Valéry: Carnet, 124. 117 Vgl. Neumann: „‚Tourbillon“ދ, a.a.O. 118 Vgl. Gamm: Nicht Nichts; s.a. Hülk: „Unschärfe. Unbestimmtheit und Nuance bei Proust und Colette“, in: Ursula Link-Heer/Ursula Hennigfeld/Fernand Hörner (Hg.), Literarische Gendertheorie: Proust, Colette/Sexe et genre – théories implicites chez Proust et Colette, Bielefeld 2006, 245-260; dies.: „Petites perceptions, Nuancen, Nichtigkeiten, a.a.O. 119 Vgl. auch Christine Lubkoll: „Rhythmus. Zum Konnex von Lebensphilosophie und ästhetischer Moderne um 1900“, in: dies. (Hg.), Das Imaginäre des Fin de siècle. Ein Symposion für Gerhard Neumann, Freiburg 2002, 83-110; Christa Brüstle et al. (Hg.): Aus dem Takt. Rhythmus in Kunst, Kultur und Natur, Bielefeld 2005; zur kunst- und kulturtheoretischen Situation und Funktion von Rhythmus und Tanz um 1900 in Deutschland vgl. auch Olivier Hanse: „Zwischen Lebensreform, Körperkultur und Lebensphilosophie: Rhythmus und Zivilisation um 1900“, in: Hestia 23
203
(2008/09), 175-196. („Entre réforme de la vie, culture physique et néovitalisme: Rythme et civilisation autour de 1900“, in: Rhuthmos, 19.07.2010 (URL: http://www.rhuthmos.eu/spip.php?article132 vom 03.01.2012). 120 Valéry: „Danse Degas Dessin“, in: ders., Œuvres, Bd. 2, 1163-1240, hier 1169. 121 Wegweisend für spätere bildwissenschaftliche Studien: Gilles Deleuze: L’Image-temps. Cinéma 2, Paris 1985 (Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a. M. 1996); vgl. auch Braun: Picturing Time. 122 Valéry: „Danse Degas Dessin“, a.a.O., 1191. 123 Abbildung in: Eadweard Muybridge/Würtembergischer Kunstverein: Eadweard Muybridge, Stuttgart 1976, 59. 124 Abbildung siehe URL: http://www.edgar-degas.org/Cheval-galopant.html vom 25.01.2012. 125 Valéry: „Danse Degas Dessin“, a.a.O., 1192. 126 Alles ebd., 1192f. 127 Deleuze: Das Zeit-Bild. Kino 2, 336, vgl. auch Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, 181; vgl. im größeren Zusammenhang: Franz-Josef Albersmeier: „Photographie und Film bei Paul Valéry“, in: Schmidt-Radefeldt (Hg.), Paul Valéry. Philosophie der Politik, Wissenschaft und Kultur, Tübingen 1999, 90-99 mit Hinweis auf die Rede Valérys im Institut de France, „Centenaire de la photographie“, 07.01.1939, Paris, Institut de France, Imprimerie nationale, 1939, 39-49, die nicht aufgenommen ist in die Pléiade-Ausgabe, aber wieder abgedruckt ist in: Paul Valéry: Vues, Paris 1948, 36-375; dazu auch: Hubertus von Amelunxen: „Photographie und Literatur. Prolegomena zu einer Theoriegeschichte der Photographie“, in: Peter V. Zima (Hg.), Literatur intermedial. Musik – Malerei – Photographie – Film, Darmstadt 1993, 209-231. 128 Zur Aktualität der Fragestellung vgl. zuletzt die Ausstellung Degas and the Ballet. Picturing Movement (Royal Academy of Arts, Burlington House), London 2011. 129 Valéry: „Danse Degas Dessin“, 1191; vgl. Thorsten Wiesmann: „Beobachtung
des
Unsichtbaren“,
http://implizit.blogspot.com/2010/04/
204
literatur-trifft-malerei-6-degasvalery.html vom 27.01.2012; s.a. Emmanuel Souchier:
„Portait
en
deuil
autour
d’un
puits
de
lumière“,
http://imagesanalyses.univparis1.fr/v1/01.semio/an.souchier.01/texte.long. pdf vom 27.01.2012. 130 Valéry: Tanz, Zeichnung und Degas, ins Deutsche übers. von Werner Zemp, mit Abbildungen, Frankfurt a. M. 1996, 43. 131 Mary Warner Marien: Photography: A Cultural History, London 22006, 195. Online: http://fr.topic-topos.com/auguste-renoir-et-stephane-mallar me-dans-le-salon-de-julie-manet-vulaines-sur-seine vom 22.01.2012. 132 Abbildung in: Mallarmé: Vers et prose. Morceaux choisis, Paris 1893, Umschlag. 133 Barthes: La chambre claire; vgl. auch: Jacques Derrida: „Die Fotografie als Kopie, Archiv und Signatur“. Im Gespräch mit Hubertus von Amelunxen und Michael Wetzel, in: Amelunxen: Theorie der Fotografie, Bd. 4, München 1999, 280-296. 134 Valéry: „Danse Degas Dessin“, a.a.O., 1173. 135 Ders.: Cahiers, Bd. 2, „Bios“, 744f. 136 Ders.: „Danse, Degas, Dessin“, 1173. 137 Ders.: Tanz, Zeichnung und Degas, 19f. 138 Ders.: „Danse Degas Dessin“, 1173. 139 Siehe Motto des Kapitels und den dazu angegebenen Literaturverweis. 140 Valéry: Carnet, 14. 141 Der schöne Ausdruck „Leonardo-Effekt“ war der Titel eines Forschungsprojekts von Caroline Welsh am ZFL, Berlin. Er findet sich in dem Buch, dies.: Hirnhöhlenpoetiken. Theorien zur Wahrnehmung in Wissenschaft, Ästhetik und Literatur um 1800, Freiburg 2003. 142 Zur Aktualität Valérys vgl. auch: Zeitschrift für Kulturphilosophie 2012/1: Paul Valéry (mit Beiträgen von Jean Starobinski, Gerhard Gamm, Jürgen Schmidt-Radefeldt u.a.), deren Drucklegung (Erscheinungsdatum Mai 2012) zeitgleich zur Drucklegung der vorliegenden Studie erfolgt.
S TAY
THERE
…
KEEP MOVING AHEAD
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Auch in diesem knappen Buch hat sich Zeit verdichtet und dauert an, und es sind Anregungen aufgenommen von vielen, die nicht als „Autor“ in Erscheinung treten. Ich danke zuerst Marijana Erstiü und Gregor Schuhen, die mehrere Jahre lang im Rahmen eines DFG-Projekts und überhaupt mit mir „in Bewegung“ waren und die nun nicht mehr Schüler, sondern Freunde sind. Gespräche und Korrespondenzen vor allem mit Gerd Althoff, Wolfgang Drost, Anne Geisler-Smulewicz, Rose-Maria Gropp, C. Stephen Jaeger, Ursula Renner, Volker Roloff und mit Bernhard Braun haben Fenster geöffnet und Antennen aufgestellt. Zur „Bewegung“ ermutigt hat mich nicht zuletzt, zwischen Münster und Paris, Harald Weinrich. Wolfgang Ristow, Lea Sauer und Daniel Seifried haben geholfen, so manche im Lauf der Zeit verloren gegangene Referenzen wiederzufinden und solcherart jedem Impuls zu widerstehen, einfach mal schnell zu „guttenbergen“. Theresa Vögle und Britta Künkel gilt ein besonderer Dank; sie haben mit Sachverstand und Hingabe das Buch redigiert und gesetzt. Jennifer Niediek und Kai Reinhardt vom transcript-Verlag haben mich gut beraten.
Et tout le reste est poésie.
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P ERSONENREGISTER * Im folgenden Verzeichnis sind die im Text genannten Namen (außer Endnoten) erfasst. Agulhon, Maurice, 58 Apollinaire, Guillaume, 8 Aristoteles, 105, 130 Aumont, Jacques, 29 Bachelard, Gaston, 79, 157 Bachtin, Michail, 60, 65f. Bain, Alexander, 120 Baker, Josephine, 178 Balla, Giacomo, 125 Balzac, Honoré de, 11, 25f., 29, 32, 35, 60, 119 Barrès, Maurice, 116, 131 Barthes, Roland, 129, 191f. Baudelaire, Charles, 8, 10f., 15-53, 55f., 64, 74, 91, 97, 105, 114, 128f., 131, 157,161f., 172, 186, 191 Beethoven, Ludwig van, 125 Benjamin, Walter, 171, 181 Bergson, Henri, 10f., 67, 69f., 73, 79f., 99, 104, 110, 112, 123, 129, 152, 170, 176f. Bernhard (von Chartres), 162 Blériot, Louis, 183, 185 Bloch, Ernst, 63 Blumenberg, Hans, 97, 181 Boccioni, Umberto, 11, 18, 27f., 68f., 104, 125, 189 Bonaparte, Louis, 82
Botticelli, Sandro, 112, 169 Bourget, Paul, 116, 131 Bragaglia, Anton Giulio, 125 Bragaglia, Carlo Ludovico, 125 Braudel, Fernand, 94, 170 Buffon, Georges-Louis Leclerc de, 93 Burckhard, Max, 7 Burckhardt, Jacob, 97 Calvino, Italo, 129 Cendrars, Blaise, 104, 184f. Cézanne, Paul, 189 Charcot, Jean-Martin, 131 Colet, Louise, 127 Comte, Auguste, 156 Condillac, Étienne Bonnot de, 120f. Cooper, James Fenimore, 34 Corot, Jean-Baptiste Camille, 121 Courbet, Gustave, 40f., 193 Cousin, Victor, 120f. Curiger, Bice, 112 Cuvier, Georges, 57 Dante (Alighieri), 30-33 Darwin, Charles, 25 De Gaulle, Charles, 152 Degas, Edgar, 187-192
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Delacroix, Eugène, 30, 32f., 35, 110 Delaunay, Robert, 11, 104, 185 Delaunay, Sonia, 185 Deleuze, Gilles, 68, 189 Descartes, René, 158 Destutt de Tracy, Antoine Louis Claude, 120f. Dickens, Charles, 119, 155 Duchamp, Marcel, 125 Einstein, Albert, 68 Faraday, Michael, 159 Féline, Paul, 181 Féré, Charles, 21, 117, 125 Fitzgerald, F. Scott, 81 Flaubert, Gustave, 11, 36, 5590, 91, 105, 119f., 127f., 191 Fourier, Charles, 19 Freud, Sigmund, 122f., 130 Friedrich II. (der Staufer), 161 Fuller, Loʀe, 187 Gamm, Gerhard, 66, 186 Ghirlandaio, Domenico, 113f. Gide, André, 173 Gobineau, Arthur de, 94 Grillparzer, Franz, 74 Growe, Catherine, 19 Guthmüller, Marie, 118 Guys, Constantin, 21f., 30, 55 Hagner, Michael, 118 Han, Byung-Chul, 56 Hauréau, Jean-Barthélemy, 56
Haussmann, Georges-Eugène, 27, 74 Hebel, Johann Peter, 63 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich, 79, 82, 94 Heine, Heinrich, 23, 119 Heisenberg, Werner, 11, 118 Helmholtz, Hermann von, 119-121 Herder, Johann Gottfried, 94 Huysmans, Joris-Karl, 116 Ignatius (von Loyola), 116 Ingres, Jean-Auguste Dominique, 30 Jaël, Marie, 21 Jakobson, Roman, 130 James, Henry, 21 James, William, 18, 21, 99, 123, 129f. Jones, Owen, 180 Joyce, James, 63 Kafka, Franz, 59 Kant, Immanuel, 154 Kleist, Heinrich von, 154, 192 Koppenfels, Martin von, 56 La Bruyère, Jean de, 34 Lafayette, Marie-Madeleine de, 104 Labbé, André-Martin, 75 Lacan, Jacques, 63, 130, 193 Lamartine, Alphonse de, 61 Le Bon, Gustave, 29, 36, 78 Le Corbusier, 96, 178-180
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Leibniz, Gottfried Wilhelm, 19 Leonardo (da Vinci), 9, 11, 159-161, 163-167, 174f., 177, 188, 194 Lessing, Gotthold Ephraim, 9, 107 Libri-Carrucci, Guillaume, 159 Lucanus, Marcus Annaeus (Lucan), 58 Lukács, Georg, 67f. Lussy, Florence de, 155, 166 Luther, Martin, 115f. Maak, Niklas, 178 Mallarmé, Stéphane, 132, 152, 157, 161-163, 183, 189192 Manet, Edouard, 109, 189 Manet, Julie, 189 Mann, Thomas, 63 Mantegna, Andrea, 107 Manzoni, Alessandro, 74 Marey, Étienne-Jules, 11, 125, 167f. Marinetti, Filippo Tommaso, 16 Marx, Karl, 82 Maxwell, James Clerk, 159 Michelet, Jules, 102, 104 Maupassant, Guy de, 117 Merleau-Ponty, Maurice, 124 Mill, John Stuart, 120f. Millet, Jean-François, 121
Montale, Eugenio, 171 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, 93 Mosso, Angelo, 11, 99, 116f., 133 Muybride, Eadweard, 125, 187f. Nehr, Harald, 77 Neumann, Gerhard, 186f. Nietzsche, Friedrich, 11, 23, 42, 97, 105, 113, 122, 176 Paulus (der Heilige), 116 Pétain, Philippe, 152 Picasso, Pablo, 118 Platon, 11, 92, 97, 104, 179, 181, 183 Poe, Edgar Allan, 11, 15-18, 22, 30, 34f., 37, 39, 42, 45, 119 Poincaré, Henri, 186 Pollock, Jackson, 118 Pozzi, Catherine, 164, 185 Prévost-Paradol, LucienAnatol, 120 Proust, Marcel, 11, 59, 63, 67, 80f., 105, 123, 130, 151f. Racine, Jean, 32, 104 Ranke, Leopold von, 97 Rauch, Neo, 118 Renan, Ernest, 94, 124 Renoir, Auguste, 189f. Ribot, Théodule, 170 Richter, Peter, 110
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Rilke, Rainer Maria, 41f., 80, 152f. Rimbaud, Arthur, 19, 169 Roth, Philip, 58 Rousseau, Jean-Jacques, 42, 125, 133 Royer-Collard, Pierre-Paul, 120f. Rubens, Peter Paul, 106 Rubinstein, Ida, 187 Sainte-Beuve, CharlesAugustin, 58, 120, 128 Saint-John Perse, 156 Saint-Saëns, Camille, 21 Saint-Simon, Henri de, 104 Sant-Elia, Antonio, 180 Sarraute, Nathalie, 59, 118 Saussure, Ferdinand de, 126 Schulz-Buschhaus, Ulrich, 101 Schwartz, Vanessa R., 27 Scott, Walter, 31f. Semon, Richard, 127 Seurat, Georges-Pierre, 189 Shakespeare, William, 32, 104 Sherrington, Charles Scott, 125 Simmel, Georg, 22, 133 Spencer, Herbert, 120f. Staël, Anne Louise Germaine de, 93 Stendhal, 30, 32, 60, 96, 99, 104f. Stravinsky, Igor, 187
Swedenborg, Emanuel, 19 Taine, Hippolyte, 11, 18, 21, 23, 91-149, 152, 156, 170, 174, 178, 192 Tarchetti, Iginio Ugo, 117 Tinguely, Jean, 64 Tintoretto, Jacopo, 11, 96, 106-117, 134 Tizian, 94, 106, 110 Turner, William, 155 Valéry, Paul, 7, 9, 11f., 18, 25, 104, 122f., 151-204 Vélazquez, Diego, 191 Verlaine, Paul, 129 Veronese, Paolo, 110 Viollet-le-Duc, Eugène Emmanuel, 180 Voltaire, 173 Warburg, Aby, 9, 11, 23, 97, 112f., 169f. Whistler, James Abbot McNeill, 189f. White, Hayden, 78f., 97 Winckelmann, Johann Joachim, 23, 97, 169 Wronski, Josef (Hoëné), 160 Zola, Émile, 96 Zweig, Stefan, 11, 97f., 101, 104, 113, 117f., 125
ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abb. 1: „Portrait de Baudelaire par Nadar“, 1855-59, Cl. Archives photographiques, in: Baudelaire, Les Fleurs du Mal. Les Épaves – Bribes – Poèmes divers. Amœnitates Belgicæ, Paris 1961. Abb. 2: Constantin Guys: „Promenade“, nicht datiert, Brooklyn Museum, siehe URL: http://www.brooklynmuseum.org/opencollection/objects/27545/Prome nade vom 12.02.2012. Abb. 3: Umberto Boccioni: „Visioni simultanee“, 1911/1912, Von-derHeydt-Museum, Wuppertal, in: Uwe M. Schneede, Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, 95. Abb. 4: Eugène Delacroix: „La Justice de Trajan“, 1840, Musée des Beaux-Arts, Rouen, in: Alain Daguerre de Hureaux, Delacroix, Paris 1993, 86. Abb. 5: Eugène Delacroix: „La Prise de Constantinople par les Croisés“, 1840, Louvre, Paris, in: Alain Daguerre de Hureaux, Delacroix, Paris 1993, 111. Abb. 6: Gustave Courbet: „La Mer orageuse dit aussi La Vague“, 1869, Musée d’Orsay, Paris, in: Dominique de Font-Réaulx [Textverf.], Gustave Courbet, Ostfildern 2008, 291. Abb. 7: Foto von Flaubert, zur Verfügung gestellt vom Verlag Éditions du Seuil, Paris, in: Jean de la Varende, Gustave Flaubert in Selbstzeugnissen und Dokumenten, hg. von Kurt Kusenberg, Hamburg 1958, 113. Abb. 8: Umberto Boccioni: „La strada entra nella casa“, 1911, Sprengel-Museum, Hannover, in: Schneede, Umberto Boccioni, Stuttgart 1994, 91. Abb. 9: „Gravur, représentant le Bazar Bonne-Nouvelle“, in: Luc Marco: Un grand magasin oublié, le Bazar Bonne-Nouvelle, URL: http://www.histoire-entreprises.fr/wp-content/uploads/2009/10/ bazar_article.jpg vom 01.11.2011.
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Abb. 10: Édouard Léon Cortès: „Boulevard Bonne-Nouvelle“, o.J., private Sammlung, in: Nicole Verdier: Edouard Cortès. Catalogue raisonné de l’œvre peint. Vol. I, Paris 2002, 197. Abb. 11: „Hippolyte Taine mit Katze“, vor 1893, in URL: http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/3/3e/Hippolyte_T aine_with_cat.jpg vom 12.02.2012. Abb. 12: Jacopo Tintoretto (auch Jacopo Robusti): „Il miracolo di san Marco che libera lo schiavo“, 1548, Gallerie dell’Accademia di Belle Arti, Venedig, in: Miguel Falomir (Hg.), Tintoretto, Madrid 2007, 38. Abb. 13: Jacopo Tintoretto (auch Jacopo Robusti): „L’Annunciazione“, 1581-82, Sala Terrena, Scuola Grande di San Rocco, Vendig, in: Miguel Falomir (Hg.), Tintoretto, Madrid 2007, 343. Abb. 14: Domenico Ghirlandaio: „Storie della vita del Battista“, 1490, Santa Maria Novella, Florenz, in: Emma Micheletti, Domenico Ghirlandaio, Antella (Florenz) 1999, 55. Abb. 15: Angelo Mosso: „Accélération des battements du cœur par l’effet de la peur en A et en B“, 1886, Paris, in: Angelo Mosso: La peur. Étude psycho-physiologique, Paris 1908, 83. Abb. 16: „Paul Valéry au bord de l’eau“, in: Paul Valéry, l’intime, l’universel, Paris 1999, 47. Abb. 17/18: Paul Valéry: Skizzen aus „Carnet de Londres“, 1894, in: Paul Valéry, 1894 Carnet inédit dit „Carnet de Londres“, Paris 2005, 80f. Abb. 19: Paul Valéry: „Pflug mit Leonardos Motto hostinato rigore“, in: Forschungen zu Paul Valéry. Recherches Valériennes, Bd. 4, hg. von Karl Alfred Blüher und Jürgen Schmidt-Radefeld. Forschungs- und Dokumentationszentrum Paul Valéry der Universität Kiel, 1991, V. Abb. 20: Étienne-Jules Marey: „Pélican volant“, 1882, in: Marta Braun, Picturing Time. The Work of`Etienne-Jules Marey (18301904), Chicago 1992, 135. Abb. 21: Étienne-Jules Marey: „Machine à 21 canaux X: Forme courbe inclinée, tirage d’après plaque négative sur verre“, 1899-1900, mu-
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sée d’Orsay, galerie de photographie, in: Georges DidiHuberman/Laurent Mannoni, Mouvements de l’air. Étienne-Jules Marey, Photographe des fluides, Paris 2004, 104. Abb. 22: „Aphrodite Anadyomene“, 1. Jh. v. Chr., Pompeji, Casa di Venus, URL: http://www.shaynes.com/Photos/Italy_Spring_2004/ CRW_8457.htm vom 20.01.2012. Abb. 23: Sandro Botticelli: „Nascita di Venere“, 1482-1485, Galleria degli Uffizi, Florenz, in: Frank Zöllner, Sandro Botticelli, München u.a. 2005, Neuausgabe 2009, 133. Abb. 24: Leonardo da Vinci: „Studien der Wasser“, 1507 oder 1509, in: Leonardo da Vinci, Das Wasserbuch. Schriften und Zeichnungen, hg. von Marianne Schneider, München u.a. 1996, Abb. 32. Abb. 25: Paul Valéry: „Croquis d’une surface de mer mouvante et agitée“, 1894, in: Paul Valéry, 1894 Carnet inédit dit Carnet de Londres, Paris 2005, 91. Abb. 26: Blaise Cendrars: „Voyage en aéro“, 1913, in: Hülk: „BlaiseMouvement. Blaise Cendrars et le dynamisme 1900. Perception, lumière, guerre“, in: Birgit Wagner/Claude Leroy (Hg.), BlaiseMédia. Blaise Cendrars et les média, Paris (ritm 36.) 2007, 111. Abb. 27: Robert Delaunay: „Hommage à Blériot“, 1914, Kunstmuseum Basel, in: Roland Wetzel, Robert Delaunay. Hommage à Blériot, Bielefeld u.a. 2008, 21. Abb. 28: Eadweard Muybridge: „The Horse in Motion“, 1878, in: Eadweard Muybridge/Würtembergischer Kunstverein, Eadweard Muybridge, Stuttgart 1976, 59. Abb. 29: Edgar Degas, „Cheval galopant“, URL: http://www.edgardegas.org/Cheval-galopant.html vom 25.01.2012. Abb. 30: Edgar Degas: „Auguste Renoir et Stéphane Mallarmé“, 1895, Musée Mallarmé, in: Mary Warner Marien, Photography: A Cultural History, London 22006, 195, siehe auch URL: http://fr.topictopos.com/auguste-renoir-et-stephane-mallarme-dans-le-salon-dejulie-manet-vulaines-sur-seine vom 22.01.2012. Abb. 31: James Abbott McNeill Whistler: „Stéphane Mallarmé“, The Print Collection, Miriam & Ira D. Wallach Division of Art, Prints
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& Photographs, The New York Public Library, Astor, Lenox and Tilden Foundations, in: Mallarmé, Vers et prose. Morceaux choisis, Paris 1893, Umschlag.
Image Thomas Abel, Martin Roman Deppner (Hg.) Undisziplinierte Bilder Fotografie als dialogische Struktur Juli 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1491-6
Doris Guth, Elisabeth Priedl (Hg.) Bilder der Liebe Liebe, Begehren und Geschlechterverhältnisse in der Kunst der Frühen Neuzeit Oktober 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1869-3
Lilian Haberer, Annette Urban (Hg.) Bildprojektionen Filmisch-fotografische Dispositive in Kunst und Architektur Juli 2012, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1711-5
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Image Katja Hoffmann Ausstellungen als Wissensordnungen Zur Transformation des Kunstbegriffs auf der Documenta 11 Juli 2012, ca. 496 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2020-7
Lill-Ann Körber Badende Männer Der nackte männliche Körper in der skandinavischen Malerei und Fotografie des frühen 20. Jahrhunderts Juli 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-2093-1
Annette Jael Lehmann Environments: Künste – Medien – Umwelt Facetten der künstlerischen Auseinandersetzung mit Landschaft und Natur Juli 2012, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1633-0
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Image Elize Bisanz (Hg.) Das Bild zwischen Kognition und Kreativität Interdisziplinäre Zugänge zum bildhaften Denken 2011, 426 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1365-0
Julia Bulk Neue Orte der Utopie Zur Produktion von Möglichkeitsräumen bei zeitgenössischen Künstlergruppen August 2012, ca. 308 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1613-2
Viola Luz Wenn Kunst behindert wird Zur Rezeption von Werken geistig behinderter Künstlerinnen und Künstler in der Bundesrepublik Deutschland Mai 2012, 558 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 39,80 €, ISBN 978-3-8376-2011-5
Jeannette Neustadt Ökonomische Ästhetik und Markenkult Reflexionen über das Phänomen Marke in der Gegenwartskunst 2011, 468 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 35,80 €, ISBN 978-3-8376-1659-0
Silvia Henke, Nika Spalinger, Isabel Zürcher (Hg.) Kunst und Religion im Zeitalter des Postsäkularen Ein kritischer Reader
Christine Nippe Kunst baut Stadt Künstler und ihre Metropolenbilder in Berlin und New York
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2011, 382 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1683-5
Doris Ingrisch Pionierinnen und Pioniere der Spätmoderne Künstlerische Lebens- und Arbeitsformen als Inspirationen für ein neues Denken
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Januar 2012, 288 Seiten, kart., mit DVD, 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1792-4
Dietmar Kammerer (Hg.) Vom Publicum Das Öffentliche in der Kunst Mai 2012, 246 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1673-6
2011, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1915-7
Eva Reifert Die »Night Sky«-Gemälde von Vija Celmins Malerei zwischen Repräsentationskritik und Sichtbarkeitsereignis 2011, 258 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1907-2
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FRANZISKA BRUCKNER, MELANIE LETSCHNIG, GEORG VOGT (HG.)
TECHNIKEN DER METAMORPHOSE POSITIONEN ZUM ANIMATIONSFILM MASKE UND KOTHURN, BD. JG. 56/4, 2010 2011. 120 S. ZAHLR. FARB. UND S/W-ABB. BR. 170 X 240 MM. € 14,90 | ISBN 978-3-205-78607-8
In kaum einer anderen Ausdrucksform scheinen sich die Widersprüchlichkeiten von Kunst- und Kulturherstellung besser abgelagert zu haben als im Animationsfilm und in den Diskursen, die den Umgang mit ihm bestimmen. Obwohl er auf die selben technischen Grundlagen rekurriert wie der Realfilm, bringt die Auseinandersetzung mit ihm oftmals Zuschreibungen hervor, die vor allem auf die vermeintliche Opposition der beiden filmischen Formen verweisen. Eine Opposition, die sich in der Lesart eines fantastischen Gegenübers zur sonst indexikalischen Qualität filmischer Bilder niederschlägt. Der vorliegende Band versteht sich als Beitrag zu der im deutschen Sprachraum erst langsam anlaufenden filmwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Animationsfilm. Dabei erfolgt die Definition dessen, was Animation bedeuten kann, aus unterschiedlichen Perspektiven. Neben historischen Texten und einer generellen Auslotung der Grenzen von Animation reicht der filmanalytische Fokus von abstrakten Werken des deutschen absoluten Films über polnischen Experimentalfilm und englische Werbespots bis hin zu Stoffen, die im Laufe der letzten hundert Jahre wiederholt realisiert wurden. Allen Beiträgen gemein ist die Auseinandersetzung mit technischen Verfahren, die sich hingebungsvoll der Manipulation und Metamorphose von Einzelbildern widmen. Mit Beiträgen von Brigitta Bödenauer, Franziska Bruckner, Barbara Flückiger, Anton Fuxjäger, Melanie Letschnig, Martin Mazanec, Evgenij Migunov / Julia Epshtein, Lotte Reiniger und Georg Vogt.
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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