Medien denken: Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern [1. Aufl.] 9783839414866

Dem begrifflichen Denken steht die Möglichkeit eines Denkens in Bildern gegenüber. Technische Bilder zu begreifen kann b

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German Pages 164 Year 2014

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Table of contents :
Inhalt
Medien denken – Zur Einführung
Die technologische Sinnverschiebung. Über die Metamorphose des Sinns und die große Transformation der Maschine
Telegraf, Orchester, Stadt. Kommunikation als Problem der Menge
Semiologie oder Magiologie
Begriff, Bild und Medialität
Das Medium der Zeichnung. Über Denken in Bildern
Worte: verfilmt. Zur Intermedialität der Schrift im Avantgardefilm
Kameraden und Kohlköpfe: John Heartfield im Universum der technischen Bilder
Kinematographische Agenturen
Autorinnen und Autoren
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Medien denken: Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern [1. Aufl.]
 9783839414866

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Lorenz Engell, Jirí Bystricky´, Katerina Krtilová (Hg.) Medien denken

2010-09-09 12-23-34 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02c5251813899050|(S.

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Lorenz Engell, Jir í Bystr ick´y, Kater ina Krtilová (Hg.) Medien denken. Von der Bewegung des Begriffs zu bewegten Bildern

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Diese Publikation ist im Rahmen des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie der Bauhaus-Universität entstanden und wurde mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gefördert. SCHRIFTEN DES INTERNATIONALEN KOLLEGS FÜR KULTURTECHNIKFORSCHUNG UND MEDIENPHILOSOPHIE Band 6 Eine Liste der bisher erschienenen Bände findet sich unter www.ikkm-weimar.de/schriften

Die Publikation wird gefördert durch das Centrum kulturálních, mediálních a komunikacních studií (CKMKS) na Filozofické fakulte Univerzity Palackého v Olomouci. www.kultura-media-komunikace.cz ^

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2010 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: mys/photocase.com (Detail) Lektorat: Katerina Krtilová, Peter Gülke Übersetzungen: Katerina Krtilová, Manuela Klaut Satz: Katerina Krtilová Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1486-2 ^

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Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Medien denken – Zur Einführung KATEŘINA KRTILOVÁ 9 Die technologische Sinnverschiebung. Über die Metamorphose des Sinns und die große Transformation der Maschine ERICH HÖRL 17 Telegraf, Orchester, Stadt. Kommunikation als Problem der Menge MIROSLAV MARCELLI 37 Semiologie oder Magiologie STANISLAV HUBÍK 49 Begriff, Bild und Medialität JIŘÍ BYSTŘICKÝ 73 Das Medium der Zeichnung. Über Denken in Bildern DIETER MERSCH 83

Worte: verfilmt. Zur Intermedialität der Schrift im Avantgardefilm WOLFGANG BEILENHOFF 111 Kameraden und Kohlköpfe: John Heartfield im Universum der technischen Bilder NANCY ROTH 123 Kinematographische Agenturen LORENZ ENGELL 137 Autorinnen und Autoren 157

Dank

Neben dem IKKM (Bauhaus-Universität), dem CKMKS (Universität Olomouc) und dem Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds gilt der Dank auch Manuela Klaut, Peter Gülke, Linda Waack, Regina Wurzella, Alois Krtil und Jan Kenter, die bei der Übersetzung aus drei Sprachen und der formalen Vorbereitung des Manuskripts geholfen haben.

Medien denken – Zur Einführung KATEŘINA KRTILOVÁ

Dank einer spezifischen Verbindung von Philosophie und Medienforschung wird im deutschsprachigen Raum über Medien seit mehr als zwei Jahrzehnten intensiv nachgedacht. Im internationalen Kontext und besonders den ehemaligen Ostblockländern kann sich allerdings eine philosophisch und kulturwissenschaftlich orientierte Medienwissenschaft weit weniger gegen eine auf (Massen-)Kommunikationsforschung und Journalistik ausgerichtete Medienforschung behaupten. Besonders Medienphilosophie gilt in diesem Kontext als ein Zugang, mit dem sich etablierte Medientheorien und Begriffe hinterfragen und andere Fragestellungen einführen lassen – und stößt damit zugleich auf Begeisterung und Ablehnung. Das vorliegende Buch ist das Ergebnis einer Zusammenarbeit vor allem zwischen Wissenschaftlern aus Deutschland und der Tschechischen Republik, an der sich aber auch Autoren aus der Slowakischen Republik, Großbritannien und Österreich beteiligt haben. Medien denken geht im Wesentlichen zurück auf eine Tagung des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (Bauhaus-Universität Weimar) und der KarlsUniversität Prag mit dem Titel Medien denken. Medien – Begriffe – Bilder, die im Sommersemester 2009 an der Kunstakademie (Akademie výtvarných umění, AVU) in Prag stattfand, organisiert und konzipiert von Kateřina Krtilová (IKKM) und Jiří Bystřický (KarlsUniversität). Unterstützt wird die Publikation zudem vom Zentrum für Kultur-, Medien- und Kommunikationsforschung (CKMKS) an der Philosophischen Fakultät der Palacký Universität Olomouc im Rahmen seines Programms zur Einbeziehung von Me-

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Kateřina Krtilová dienphilosophie und Semiotik in Forschung und Lehre1, und dem Deutsch-tschechischen Zukunftsfonds. Wie bereits in den Diskussionen um den „Sonderweg“2 der deutschen Medienwissenschaft angedeutet, ist bei der internationalen Zusammenarbeit im Bereich Medientheorie die (wissenschafts-)politische Dimension der Problematik kaum wegzudenken. Während diese Dimension im transatlantischen Dialog (bzw. vor allem in Deutschland) eher als Störfaktor empfunden werden kann3, kommt ihr nicht nur bei der Entstehung dieses Buches, sondern auch in Hinblick auf sein Anliegen eine zentrale Rolle zu. Als Medien können Luft, Licht oder das Fernrohr „bis hin zu symbolischen Formen oder Darstellungsräumen wie Perspektive, Theater oder Literatur“ (Engell/Vogl 1999: 10) untersucht werden: bereits dieser Ausgangspunkt nicht nur des „Kursbuchs Medienkultur“ wird in einem anderen, von sozialwissenschaftlich orientierten Media Studies geprägten Kontext zu einer höchst fragwürdigen These – und das nicht im Sinne einer medienphilosophischen Frage wie „Was ist ein Medium?“4, sondern eben im Sinne einer theoretischen und politischen Herausforderung. Die Media Studies widmen sich der Erforschung von Massenmedien und (Massen-)Kommunikationsprozessen, was aber untersucht eine „kulturwissenschaftliche Medialitätsforschung“ (Wissenschaftsrat 2009: 7)? Wie lässt sich eine medienwissenschaftliche Forschung legitimieren, die ihre Gegenstände und Methoden in Frage stellt (vor allem in Form von Medienphilosophie)? Ob der Begriff ‚Medium‘ untersucht wird oder die ‚Medien‘, die erst durch eine bestimmte Herangehensweise als solche betrachtet werden können bzw. erst ihre Medialität aufgezeigt werden muss, oder ob mit ‚Medienwissenschaft‘ einfach neue Zugangsweisen in ältere geistes- und kulturwissenschaftliche Forschungs-

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Programmatisch ist der Sammelband Média dnes. Reflexe mediality, médií a mediálních obsahů [Medien heute. Reflexion der Medialität, Medien und medialier Inhalte] (Foret/Lapčík/Orság 2009). Vgl. „Medienwissenschaft. Ein deutscher Sonderweg?“ Podiumsdiskussion an der Universität Siegen am 22.4. 2009, sowie „Medienwissenschaft. Eine transatlantische Kontroverse“ in der Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2/2008, die Besprechung von Claudia Breger in der Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/2009. Vgl. Florian Sprengers Kommentar zur Tagung Media Transatlatic – Media Theory in North America and German-Speaking Europe, 8. – 10.4. 2010 in Vancouver in der Online-Ausgabe der ZfM. Der Titel einer Tagung in Weimar (16.-18.11.2005) und eines Sammelbandes von Stefan Münker und Alexander Roesler (2008).

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Medien denken – Zur Einführung bereiche eingeführt werden: die Legitimierung aller dieser Fragen ist ein wichtiger Weg, um Raum für neue Ansätze zu schaffen, die sich nicht in die etablierten Disziplinen, Methoden und Gegenstandsbereiche fügen. Das Anliegen, gegenüber der Massenmedienforschung eine andere Art der Medienwissenschaft, zu der immer auch ein philosophisches Fragen und Hinterfragen gehört, durchzusetzen, geht daher in Tschechien und der Slowakei über ein Interesse für Medien – hier vor allem in Form von „neuen Medien“ und „Technologien“, deren Bedeutung sich bei allen Bedenken kaum leugnen lässt – hinaus: Medienwissenschaft als ex definitione neue Wissenschaft kann Bewegung in manche starren theoretischen und wissenschaftspolitischen Strukturen bringen. Natürlich ist die Situation in der Tschechischen Republik durch eine spezifische politische Entwicklung bedingt (vgl. Bystřický/ Lapčík 2009, Bystřický 2004), die sich nur in geringem Maße auf die Bedingungen in Deutschland beziehen lässt, trotzdem zeigt der internationale Vergleich, dass das politische Potential der Medienwissenschaft keinesfalls geringzuschätzen ist. Aus der tschechischen, slowakischen und teilweise auch britischen Perspektive liegt die Betonung zunächst auf „Medien denken“: denken gegenüber einem bloßen beschreiben, messen und bewerten (in den Kategorien der Massenmedienforschung der Media Studies). Im deutschen Kontext stellt der Titel eine Frage, die etwas überspitzt im Doppelsinn von „Medien denken“ zum Ausdruck kommt: können Medien denken, etwa wie der Computer HAL im Film 2001: A Space Odyssey von Stanley Kubrick? Als medientheoretische Metapher weitergedacht, bedeutete das fatale Ende der Raumfahrer-Odyssee auch, dass ohne den Computer das Raumschiff „nicht mehr denkbar“ ist, worauf Lorenz Engell in seinem Beitrag in diesem Band hinweist. Wenn Medien Denken erst möglich machen, wenn wir immer in einem Medium denken – wobei ‚wir‘ vielleicht ein längst verlorener Posten ist5 – wie ist es möglich, gleichzeitig über Medien nachzudenken, bzw. gerade eher in, mit und durch Medien (vgl. Mersch 2010: 45ff)? Medien denken ist hier also auch die Frage einer Theorie, die sich nicht über ihre Gegenstände stellt, sondern durch sie transformiert oder überhaupt erst konstituiert wird – und eine Frage der Medien, die dies ermöglichen.

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Diese Fragen ziehen sich in unterschiedlicher Form durch viele (programmatische) Texte zur Medienphilosophie, z.B. Krämer 1998, Engell 2002: 53-77, letztere These vor allem Tholen 2002.

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Kateřina Krtilová Das „denken“ selbst wird natürlich ebenfalls hinterfragt: Denkbares außerhalb der „Idealität des Sinns“, des Phono- und Logozentrismus6, zeigen hier Bilder: im Sinne einer „Logik des Bildlichen“ (vgl. Mersch/Heßler 2009), sowie konkrete „technische“, epistemische und bewegte Bilder, die einfach ausgedrückt etwas Neues sehen, erleben – irgendwie anders denken lassen. Ein bei weitem und prinzipiell nicht abgeschlossenes MedienDenken reicht von der Bewegung des Begriffs als Zugangs zum (absolutem) Wissen, der sich in der Reflexion der Medien7 und der Medialität wiederfindet (Bystricky in diesem Band) bis zum bewegten Bild – als Film-Bild und Bewegung im Denken8. Die Verschiebung des Sinns von Technik, die Erich Hörl in seinem Beitrag bei Gilbert Simondon, Gotthard Günther und Edmund Husserl verfolgt, zeigt eine Verschiebung, so spürt er im neuen Sinn des Sinns – nicht Sinn des Technischen – ein neues Denken auf, zwischen Begriffen wie Sinn und der Bewegung des Technischen von der Supplementarität und Sekundarität (gegenüber dem Sinn) zum „Ereignis des Gefüges [...] von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren.“ Eine Verschiebung in den Modellen der medialen Konstruktion von Wirklichkeit und (Massen-)Kommunikation ist auch der Ausgangspunkt von Stanislav Hubík und Miroslav Marcelli. Stanislav Hubík fragt nach der spezifischen Magie der Medien, die die Wirklichkeit (Referenz, Repräsentation, Zeichen,…) zum „verschwinden“ bringt und findet sie in Modellen der Konnotation, der referentiellen Illusion und schließlich der Interpretation der Interpretation bei Roland Barthes, Umberto Eco und Jacques Derrida begründet. Im Beitrag von Miroslav Marcelli stehen nicht nur das lineare Modell des Telegrafen, sondern auch komplexere Modelle wie das Orchester (Winkin) in einem Spannungsverhältnis zur ‚kritischen Menge‘, was der Autor bereits bei Lévi-Strauss‘ Beobachtungen zum Einfluss des Populationszuwachses auf die Klassifikationen, Strukturen und Codes feststellen kann. Auf Medialität an der Schnittstelle von Bild und Begriff konzentriert sich in seinem Beitrag Jiří Bystřický. Unter Rückgriff auf

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Mit Bezug u.a. auf Derrida (1998) widmet sich diesem Thema Erich Hörl in seinem Beitrag zur „technologischen Sinnverschiebung“. Vgl. die Kritik der Computer-Metaphern bei Tholen 2002: 29ff. Lorenz Engell in diesem Band und als wichtiger Bezugspunkt der FilmPhilosophie Gilles Deleuze (1991, 1989).

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Medien denken – Zur Einführung den Begriff Dispositiv und das Virtuelle stellt er der begrifflichen Bestimmung, Abstraktion und Reduktion die Transparenz des Bildes als Bewegung sozusagen zurück vor die Festlegung des Begriffs und eines bestimmten Dispositivs der Darstellung gegenüber, betont dabei aber ebenso die mehrschichtige Verknüpfung von Bild und Begriff. An der Schnittstelle von Bild und Schrift, der Linie als „Differenzmarker“, beginnt Dieter Mersch seine Überlegungen zum Medium der Zeichnung. Von der Disegno/Colore Diskussion bis zu technischen Visualisierungsverfahren zeigt der Beitrag die ‚Zeich/ n/en‘-Dimension des Bildes; jenseits der Schrift und der repräsentativen Funktion von Bildern untersucht Dieter Mersch schließlich „graphematische Modelle“, Darstellungen, „die in reinen Konstruktionen wurzeln, die nicht etwas darstellen, von dem man sagen könnte, was es ist, die damit auch kein Gegenständliches mehr zu erkennen geben, sondern […] lediglich abstrakte Texturen markieren, die immer nur „mögliche“ Welten offenbaren…“ Nancy Roth analysiert die Fotomontagen von John Heartfield im Kontext des „Universums der technischen Bilder“ von Vilém Flusser gleichzeitig als Bestandteil und mediale Reflexion der Zeitung, in der sie publiziert wurden. Heartfields Bilder wirken gleichzeitig ‚magisch‘, im Dienste einer (linken) Ideologie und spielen durch die Verbindung und Differenz von Schrift und Bild mit den Mechanismen dieser magischen Wirkung. Auch Wolfgang Beilenhoff untersucht mit So is this von Michael Snow einen Film, der an der Schnittstelle zweier Medien auf ihre Medialität hinweist. Während ihre Unsichtbarkeit normalerweise die Bedingung für die Lesbarkeit von Schrift ist, werden hier einzelne Worte zu Film-Bildern, die im Falle des titelgebenden ‚This‘ auf sich selbst verweisen. Schließlich zeigt sich in der Montage der einzelnen gefilmten Worte, die unterschiedlich lange ‚Einstellungen‘ bilden, die „Zwischenräumlichkeit“ von Schrift und Film. Wenn man im Körper des Films denkt, fällt das Denken dann anders aus? Lorenz Engell setzt bei einer Grundannahme der Medienphilosophie an: Gedanken, Wahrnehmungen, Bewusstseinsleistungen sind nicht mehr allein im Inneren, Denken, Bewusstsein zu finden, sondern „Sie entstehen und wirken immer in einem Außenraum, einer Lage, einem Dispositiv, unter Umständen.“ Aus der Perspektive einer kinematographischen Agentur zeigt er das Zusammenspiel von Menschen und Dingen, Reflexion und technischer Apparatur, dem Film-Bild und seinen materiellen

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Kateřina Krtilová Bedingungen. Das kinematographische Bild „inszeniert sich selbst als Urheber dessen, was es zu sehen gibt.“ Eine Perspektive, die Vilém Flussers Anforderung an eine Philosophie der technischen Bilder erfüllen könnte: „Seitdem die Fotografie erfunden wurde, ist es möglich geworden, nicht bloß im Medium der Wörter, sondern auch der Fotografien zu philosophieren.“ (Flusser 1995: 103)

Literatur Breger, Claudia (2009): „Zur Debatte um den ‚Sonderweg deutsche Medienwissenschaft.‘“, in: Zeitschrift für Medienwissenschaft 1/2009, S. 124-127. Bystřický, Jiří/Lapčík, Marek (2009): „Od mediálních studií k filosofii médií“, in: Filosofie/média 2/2009, www.filosofie medii.org. Bystřický, Jiří (2004): „Třetí vlna mystifikace – nástup odložených“, in: Britské listy, 7.6.2004, www.blisty.cz/art/ 18405.html. Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild (Kino 2), Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild (Kino 1), Frankfurt/Main: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1998): Grammatologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Engell, Lorenz (2002): „Tasten, Wählen, Denken. Genese und Funktion einer philosophischen Apparatur“, in: Stefan Münker/Alexander Roesler/Mike Sandbothe (Hg.), Medienphilosophie. Beiträge zur Klärung eines Begriffs, Frankfurt/Main: Fischer, S. 53-77. Engell, Lorenz/Vogl, Joseph (1999): „Vorwort“, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA, S. 8-11. Flusser, Vilém (1995): „Kleine Philosophie der fotografischen Geste“, in: ders., Die Revolution der Bilder: der Flusser-Reader zu Kommunikation, Medien und Design, Mannheim: Bollmann. Foret, Martin/Lapčík, Marek/Orság, Petr (Hg.) (2009): Média dnes. Reflexe mediality, médií a mediálních obsahů, Olomouc: Univerzita Palackého. Krämer, Sybille (1998): „Was haben die Medien, der Computer und die Realität miteinander zu tun? Zur Einleitung in diesen Band“; „Das Medium als Spur und als Apparat“, in: dies., Me-

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Medien denken – Zur Einführung dien, Computer, Realität, Frankfurt/ Main: Suhrkamp, S. 926; 73-94. Mersch, Dieter/Heßler, Martina (Hg.) (2009): Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld: transcript. Mersch, Dieter (2010): „Irrfahrten. Labyrinthe, Netze und die Unentscheidbarkeit der Welt“, in: Stefan Börnchen/Georg Mein, Weltliche Wallfahrten: Auf der Spur des Realen, München: Fink, S. 41-56. Münker, Stefan/Roesler, Alexander (2008): Was ist ein Medium?, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Sprenger, Florian (2010): „Zur Produktion eines vielstimmigen Monologs“, Besprechung der Tagung Media Transatlantic, 8.10.4.2010, www.zfmedienwissenschaft.de/?TID=41, 2010. Tholen, Georg Christoph (2002): Die Zäsur der Medien, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Wissenschaftsrat (2009): Empfehlungen zur Weiterentwicklung der Kommunikations- und Medienwissenschaften in Deutschland,http://www.wissenschaftsrat.de/download/archiv/7901 -07.pdf vom 25.5.2007.

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Die technologische Sinnverschiebung. Über die Metamorphose des Sinns und die große Transformation der Maschine ERICH HÖRL „Der Sinn ist niemals Prinzip oder Ursprung, er ist hergestellt. Er ist gar nicht zu entdecken, wiederherzustellen oder neu zu verwenden, er ist durch neue Maschinerien zu produzieren.“ (Deleuze 1993: 99)

1 Seit einem Jahrhundert und mit zunehmender Dringlichkeit seit Ende des Zweiten Weltkrieges begleitet uns ein neues Denken des Sinns. Es steht auf den Trümmern der überlieferten Sinnkultur und lässt die alten, mit der Frage nach dem Sinn verbundenen Gewissheiten hinter sich, insbesondere die Gewissheiten von dessen Geistigkeit, Innerlichkeit und Subjektivität, wie sie zuletzt in Gestalt eines „sinngebenden Bewusstseins“ oder „leistender Subjektivität“ noch von Husserls transzendentaler Phänomenologie in Umlauf gebracht wurden. Stattdessen und gegenläufig dazu hat es die Gestalt eines Denkens des Offenen, der Öffnung und der Eröffnung, eines Denkens der ursprünglichen Exteriorität, des originären Supplements und der konstitutiven Nachträglichkeit angenommen. Und es erscheint als ein Denken des Draußen, als Denken der Verräumlichung, des Mit-Seins, der Teilhabe und Teilung sowie der Kommunikation, als Unbestimmtheitsdenken, Denken der Spur oder auch als Denken der Heterogenese und des Gefüges. Diese prominenten Figuren des Außen, die das neue Denken des Sinns mit seinen philosophischen Politiken charakte-

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Erich Hörl risieren, sind Ausdruck und Symptom einer großen Sinnverschie1 bung, die unablässig und bis heute in Gang ist. Sinnverschiebung ist dabei ein schwer zu fassender Begriff. Zunächst im Rahmen des Sinndenkens geprägt, von dem das 20. Jahrhundert eingeleitet wurde, nämlich im Rahmen von Husserls Phänomenologie, kündet der Begriff am Ende von einer epochalen Konversion, die eben dieses Sinndenken selbst und damit eine ganze Tradition des Sinns aus den Angeln hebt. In ihrem Zuge wird das, was Sinn überhaupt heißt, reformuliert, wird der Sinn des Sinns transformiert und ein Regime des Sinns, ja eine ganze Sinnkultur reorientiert. Zu guter Letzt wird eine Neuausrichtung des Denkens, d.h. die Wiederholung der Frage, was Denken heißt, unter neuen sinnkulturellen Bedingungen erzwungen. Auch der Sinn hat nicht nur eine Historie, sondern unterliegt als Sinn in seinem Sinn, also darin, wie er als Sinn, vor allem Sinn, zu denken ist, der Geschichtlichkeit. Die Sinnverschiebung, deren Zeugen wir immer noch sind, wurde von einer weitreichenden, aber in ihren Auswirkungen immer noch zu wenig wahrgenommenen maschinengeschichtlichen Transformation evoziert. Die Kybernetiker Gotthard Günther und Heinz von Foerster etwa haben die große Umformung als Übergang von klassischen zu transklassischen und von trivialen 2 zu nichttrivialen Maschinen analysiert. Der Mechanologe Gilbert 1

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Der Begriff der Sinnkultur, den ich hier verwende, wurde meines Wissens von Hans Ulrich Gumbrecht geprägt. Er unterscheidet in Production of presence: What meaning cannot convey (Gumbrecht 2004) „meaning culture“ und „presence culture“, also „Sinnkultur“ und „Präsenzkultur“. Gumbrechts idealtypische Sinnkultur stellt freilich nur eine bestimmte, wenn auch lang dauernde Auslegung des Sinnproblems dar, die er offenbar jedoch für die einzig mögliche hält und die u.a. durch die genannten Vorurteile charakterisiert wird. Mit der Geschichtlichkeit des Sinns und der Möglichkeit, dass der Sinn des Sinns sich verschieben könnte – mit der Geschichtlichkeit der Sinnkultur selbst – rechnet diese Distanzierung von der hermeneutischen Fixierung keine Sekunde. Das ist der Grund für die auffallende Kurzsichtigkeit der Gumbrechtschen Position. Tatsächlich handelt es sich bei der von Gumbrecht kritisierten um die zweite, die alphabetische Sinnkultur, die längst einer möglichen dritten, nachalphabetischen und techno-logischen Sinnkultur im Zeichen der offenen Maschine weicht. Darauf wird noch zurückzukommen sein. Gotthard Günther unterschied zunächst Anfang der fünfziger Jahre die Welt der ersten und die Welt der zweiten Maschine, später prägte er die Differenz von klassischen und transklassischen Maschinen, um den historisch-ontologischen Übergang von mechanischen zu informationsprozessierenden Maschinen und den davon ins Werk gesetzten metaphysi-

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Die technologische Sinnverschiebung Simondon hat sie als Passage vom minoritären zum majoritären Status des technischen Objekts charakterisiert und dabei klar gesehen, dass der jeweilige Ort, den das technische Objekt in der kulturellen Sinnbildung einnimmt, das Wesen des Sinnregimes insgesamt exponiert. Im „statut de minorité“ wird das technische Objekt als Gebrauchsding gesehen und als bloßes Mittel zum Zweck, als Werkzeug und Instrument veranschlagt. Seine Sinnzuschreibung ist Nützlichkeitserwägungen unterstellt, die vom System der Bedürfnisse diktiert werden und dem Regime der Arbeit gehorchen. Das technische Objekt hat keinen Eigensinn und steht im Grunde für die prinzipielle Sinnlosigkeit der Dinge. Es ist das dogmatische Bild von Technik, das sich in diesen Grundzügen des instrumentellen und ergontologisch zu nennenden Sinns und als Ausgeburt der ihn tragenden instrumentellen Vernunft manifestiert. Im „statut de majorité“ hingegen, in dem wir uns seit dem Eintritt ins industrielle Zeitalter, spätestens aber seit der technologischen Konversion des 20. Jahrhunderts befinden, sollte technisches Wissens explizit und die technische Aktivität zu einer bewussten Operation werden und in ein geregeltes Verhältnis zu den Wissenschaften eintreten, in sich Kohärenz gewinnen und das technische Objekt die Welt des Sinns selbst zu strukturieren anfangen, während es vorher Sinn immer nur empfing (vgl. Simondon 2001: 85ff). Mit dem Einrücken unter die neue technologische Bedingung ereignet sich eine Verschiebung des Sinns der Technik, die die während der lang dauernden instrumentellen Einstellung vorherrschende Gegenstellung von Sinn und Technik und die davon getragene Ordnung des Sinns erschüttert und so den tradierten Sinn des Sinns nachhaltig modifiziert. „La culture“, so beschrieb Simondon in den fünfziger Jahren die das technische Objekt inferiorisierende Dingpolitik der überlieferten Sinnkultur,

schen Umbruch im Detail zu analysieren (vgl. z.B. Günther 1990). Heinz von Foerster sprach von trivialen und nichttrivialen Maschinen. Eine triviale Maschine wird dabei durch eine eindeutige Beziehung zwischen Input und Output charakterisiert und stellt ein deterministisches, in ihrem Verhalten durch einen externen Beobachter vorhersagbares System dar. Bei einer nichttrivialen Maschine ist hingegen keine invariante Beziehung zwischen Input und Output gegeben, weil die vorausgegangenen Arbeitsgänge ihre gegenwärtige Reaktion festlegen. Sie hat, mit anderen Worten, eine rekursive Struktur und auch wenn sie synthetisch determiniert ist, gilt sie aufgrund der Komplexität ihres Verhaltens als analytisch nicht vorhersagbar (vgl. Heinz von Foerster 1993).

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Erich Hörl „est déséquilibrée parce qu’elle reconnâit certains objets, comme l’objet esthétique, et leur accorde droit de cité dans le monde des significations, tandis qu’elle refoule d’autres objets, et en particulier les objets techniques, dans le monde sans structure de ce qui ne possède pas de significations, mais seulement un usage, une fonction utile. [...] La culture actuelle est la culture ancienne, incorporant comme schèmes dynamiques l’état des techniques artisanales et agricoles des siècles passés.“ (Simondon 2001: 14) „Die Kultur ist unausgewogen, weil sie bestimmte Objekte, zum Beispiel ästhetische Objekte, anerkennt und ihnen das Bürgerrecht in der Welt der Bedeutungen einräumt, während sie andere Objekte verdrängt, insbesondere die technischen Objekte, und sie abschiebt in die strukturlose Welt dessen, was keine Bedeutung besitzt, sondern nur Gebrauch kennt und eine nützliche Funktion. [...] Die derzeitige Kultur ist die alte Kultur, die den handwerklichen und bäuerlichen Zustand der Technik der vergangenen Jahrhunderte in ihr dynamisches Schema integriert hat.“3

Der Zusammenbruch dieses vortechnologischen Signifikationsregimes hat in den Begriffspolitiken des neuen Sinndenkens seinen Ausdruck gefunden. Die maschinengeschichtliche Wende steht hinter der Umwertung und Neubesetzung von ehemals minderen Begriffen und Kategorien wie der des Mit, des Außen, des Offenen oder des Unbestimmten, die zum Arsenal der philosophischen Erneuerung jenseits der überlieferten metaphysischen Sinnkultur gehören. Aus der Reevaluierung des Exterioren und Supplementären, in der Priorisierung und Primarisierung des Sekundären spricht die im Lichte der maschinentechnischen Zäsur notwendig gewordene Neubewertung der von der Philosophie seit ihrem Beginn behaupteten Exteriorität, Supplementarität und Sekundarität des Technischen. Unbestimmtheit und Offenheit sind heute zuallererst, noch bevor sie als sinnpolitische Begriffe zu gelten haben und entgegen dem hartnäckigen mechanistischen Vorurteil, Grundcharakteristika nichtmechanischer, nichttrivialer Maschinen.4 Es ist, als ob in der auf Basis der maschinengeschichtlichen Wende vollzogenen Umwertung und Auszeichnung 3 4

Alle folgenden Zitate wurden vom Autor dieses Beitrags aus dem französischen Original übersetzt. Vgl. Gamm 2000: 275-287. Gamm unterscheidet dabei die transzendentale von der immanenten Unbestimmtheit der Technik. Erstere betrifft den ontologischen Status der Technik und der technischen Handlung, die zweite die funktionelle Unbestimmtheit des technischen Objekts, seine Gebrauchsoffenheit. Unbestimmtheit durchquert heute technologische Prozesse, macht sie zu einem unhintergehbar offenen Geschehen, das nur mit einer Logik des Supplements und der Nachträglichkeit zu beschreiben ist.

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Die technologische Sinnverschiebung des ehemals Verfemten das ursprünglich Verdrängte und Verneinte und Verworfene, der ursprüngliche Nullpunkt der Sinnkultur, nämlich das technische Objekt, wiederkehrte. Das neue Denken des Sinns zeigt sich als Ausdruck des Endes der Minorisierung und Inferiorisierung des technischen Objekts, das sich mit dem Eintritt ins technologische Zeitalter dem Denken unerbittlich aufzwingt. Es zu denken ist uns von der neuen technologischen Lebensform und der technologischen Kultur, die ein neues Verhältnis zum technischen Objekt exponieren und implementieren, selbst auferlegt.5 Technologische Sinnverschiebung will also, um alle Missverständnisse auszuschließen, nicht besagen, dass nach dem religiösen, dem moralischen, dem politischen oder dem ökonomischen Sinn nun der technische Sinn die Herrschaft über die Sinnbildung übernimmt und die Technik unser neuer Sinn wäre. Sie exponiert oder reexponiert vielmehr das Problem und die Frage des Sinns als Problem und die Frage der ursprünglichen und unhintergehbaren Exteriorität, Supplementarität, Prothetizität und Offenheit des Menschen. Wenn unsere Zeit – wie oft beobachtet wurde, zuletzt und am genauesten freilich im Werk von Jean-Luc Nancy, dem wir viel verdanken – einer Dekomposition des Sinns und d.h. einer Unterbrechung des bisherigen Sinns stattgibt und einen anderen Sinn des Sinns eröffnet, dann weil sie die Zeit der Maschine und die Maschine selbst die Dekomposition des Sinns ist. War die Maschine und die Technik im Abendland von Anfang an der Name für das schlecht beleumundete Außen, der Name für das Werden, für das Akzidentelle, für all das, was die lebendige Arbeit der Sinnproduktion gefährdet, was sich am Rande der sinnkulturellen Ordnung und am Abgrund des Nichtsinns befindet, so zwingt uns das Einrücken der Maschine ins Innerste der Sinnkultur und ihr Erscheinen im Zentrum unserer Seinsverfassung, die wir unter technologischen Bedingungen bezeugen, zur Durcharbeitung des Abendländischen und zur grundlegenden Revision des Verständnisses, das wir davon haben. Diese technologische Verschiebung des Sinns kennzeichnet unsere Epochalität samt der ihr eigenen und so auffälligen Relektüre- und Reformulierungsanstrengungen. 5

Der Soziologe Scott Lash hat sich dem neuen Sinnregime der „technological forms of life” und der „technological culture” gewidmet, für die ein gemeinsames In-der-Welt-Sein des Subjekts mit den technischen Objekten charakteristisch ist. Die „technological culture” destruiert dabei die „culture of representation", die, so könnte man sagen, gerade auf der Minorisierung von Technik und Dingen basiert (vgl. Lash 2002: 13ff).

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Erich Hörl Wenn, mit Derrida gesprochen, in der „Epoche des Logos“ das Technische, allem voran die Technik der Schrift, „als Herausfallen aus der Innerlichkeit des Sinns gedacht“ (Derrida 1983: 27) und infolgedessen inferiorisiert und minorisiert wurde, dann ist es nun die Superiorisierung und Majorisierung der Technik im technologischen Zeitalter, die die Epoche des Logos samt ihrer Innerlichkeitspolitik des Sinns beendet und die mögliche Äußerlichkeit des Sinns zu denken anfängt, den Sinn als solchen nach der langen Dauer seiner Interiorisierung exteriorisiert und exponiert, ja dessen ursprüngliche und unhintergehbare, bislang stets zu beschränken gesuchte Exteriorität zeigt. Die „neue Mutation in der Geschichte der Schrift“ (ebd.: 20), die nach Derrida die „seit nahezu drei Jahrtausenden“ bestehende, die téchnê als Gegenbegriff zum lógos devaluierende Verbindung von Technik und logozentrischer Metaphysik auflösen sollte und deren deutliches Anzeichen er selbst übrigens in der Kybernetik erkannte, zeigt sich uns nun als Mutation in der Geschichte der Technik, die den Sinn des Technischen, den Sinn des Logischen und den Sinn des Sinns als solchen gleichermaßen deplatziert.

2 Husserl kommt für die erste Konturierung der Frage und des Problems der technologischen Sinnverschiebung eine herausragende Bedeutung zu. Er hat die sinngeschichtliche Wende, die in seinen Tagen längst im Gang war, begriffen, sie aber auch mit allen Mitteln zu neutralisieren versucht. An der geschichtlichen Kippstelle zweier Sinn- und Technokulturen angesiedelt ist Husserl entdeckender und verdeckender Genius zugleich. Sein Denken steckt selbst tief in der technologischen Sinnverschiebung, sein philosophisches Programm ist substanziell von ihr geprägt, doch endet es noch am unmittelbaren Vorabend der Kybernetik, die der Transformation der Maschine erst ihre klare Kontur verlieh. Der Begriff der Sinnverschiebung besetzt einen zentralen Platz in Husserls vernunftgeschichtlichem Krisenszenario, dessen Entwurf bereits eine heftige Reaktion auf die technologische Konversion des Sinns darstellt. In ihm verdichtet sich Husserls Unbehagen in der neuen technologischen Kultur. Er organisiert Husserls gesamte historisch-phänomenologische Anstrengung, die sich darum bemüht, die Grundlagenkrise der Wissenschaften um und nach 1900 als Technisierungsproblem und im Rahmen einer komplexen Sinnökonomie der abendländischen Vernunft zu ver-

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Die technologische Sinnverschiebung stehen. Er exponiert dabei den gegentechnischen, der tradierten Sinnkultur verpflichteten Kern seiner Philosophie und Wissenschaftslehre. Zusammen mit einer ganzen Reihe anderer Transformationsfiguren, wie sie etwa die Rede von der „Sinnwandlung“, „Sinnumwandlung“ und „Sinnverwandlung“, „Sinnentleerung“, „Sinnüberdeckung“, „Sinnsedimentierung“, Umgestaltung von Sinn und die Figur der Abirrung der Wissenschaften von ihrem eigenen, eigentlichen oder echten Sinn und ihrer unveräußerlichen Aufgabe darstellen, versucht der Begriff der Sinnverschiebung die prekäre Lage der Wissenschaften zu fassen, die infolge ihrer Technisierung den Sinn und die Sinnquelle der eigenen Leistungen und damit letztlich die eigene Verfasstheit nicht mehr verstehen, sich, wie es heißt, „über ihren eigenen Sinn durchaus im Unklaren“ (Husserl 1992a: 21) sein sollen. Qua Technisierung der Wissenschaften, die Bachelard zur selben Zeit, aber bereits in Distanz zur etablierten antitechnischen Sinnkultur als Geburt der „Phänomenotechnik“ („phénoménotechnique“) und „Metatechnik einer künstlichen Natur“ („métatechnique d'une nature artificielle“) (Bachelard 1970: 24)6 beschrieb, war nach Husserl nicht nur eine prekäre Sinnverschiebung der Wissenschaften, sondern sogar eine allgemeine Sinnverschiebung in Gang, die die abendländische Rationalität aus ihrem Innersten heraus an den Abgrund der Selbstzerstörung brachte. Die Technisierung, so ist das etwa in Formale und transzendentale Logik von 1929 nachzulesen, soll uns „unfähig“ gemacht haben, den Sinn von Wissenschaft überhaupt noch „rational auszulegen, seine wahre Tragweite zu bestimmen, innerhalb derer wir ihn selbst verantwortlich rechtfertigen und in fortgehender Arbeit verwirklichen können.“ (Husserl 1992a: 9) Technisierung erscheint insgesamt als ein Prozess, der an die Grenzen der Rationalität führt, die Verantwortung für den Sinn unterläuft, zu einem verantwortungs- und sinnlosen Dasein führt. „Man lebt so“, das war Husserls Schluss für das zeitgenössische Dasein unter Bedingungen von moderner, d.h. technisierter Wissenschaft, „überhaupt in einer unverständlich gewordenen Welt, in der man vergeblich nach dem Wozu, dem dereinst so zweifellosen, vom Verstand wie vom Willen anerkannten Sinn fragt.“ (Ebd.) Die Wissenschaft, einstmals gänzlich untechnische épistêmê und die Sa-

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Zu Bachelards Begriffsprägung vgl. Castelão-Lawless 1995: 44-59; Rheinberger 2006: 37-54. Auch Bernard Stiegler hat auf Bachelards Denken der Phänomenotechnik und insbesondere auf dessen Gegenstellung zu Husserl hingewiesen. Vgl. dazu: Stiegler 2008: 65-104.

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Erich Hörl che reiner theoria, ist im Zuge der Sinnverschiebung zu einer „bloß technische[n] Leistung“ (ebd. 8), „zu einer Art theoretische[n] Technik geworden, die, wie die Technik im gewöhnlichen Sinne, viel mehr auf einer in der vielseitigen und viel geübten praktischen Betätigung selbst erwachsenden ‚praktischen Erfahrung‘ beruht [...] als auf Einsicht in die ratio der vollzogenen Leistung.“ (Ebd. 7)

In dieser Situation, in der ihm der „echte Sinn von Wissenschaft überhaupt“ gefährdet schien durch „bloß vermeintliche Wissenschaften“ (ebd.: 12), rät Husserl seinen Zeitgenossen „zu radikalen Besinnungen.“ (Ebd.: 9) Insbesondere da, wo er zur „gefährlichen Sinnverschiebung“ (Husserl 1962: 46) verschärft wird, trägt der Begriff der Sinnverschiebung Husserls nachhaltiges Eintreten für eine lebensweltlich verständlich bleibende Wissenschaft. Dieses beschwört – gegen die fundamentalen Unverständlichkeiten der Technowissenschaften und gegen die sie charakterisierende Technisierung des Denkens – die Szene eines ursprünglichen, den idealen Sinn von Wissenschaft stiftenden, reinen und das heißt im Wesentlichen nichttechnischen Denkens als originäre Sinnquelle. Husserls Spätwerk gilt unter anderem der spekulativen geschichtsphilosophischen Rekonstruktion dieser stets vortechnischen Urszene des reinen Denkens, aus der alle Idealität und Wissenschaft stammen und die der „Verwandlung ursprünglich lebendiger Sinnbildung bzw. des ursprünglich lebendigen Aufgabenbewußtseins“ durch „sinnentleertes technisches Denken und Tun“ (ebd. 57) immer schon vorhergehen soll – als Urszene des reinen Denkens, die die Urszene der klassischen Sinnkultur überhaupt darstellt. Die Beschreibung der Urstiftung idealen Sinns bei den Griechen, die Husserl auf der Suche nach den reinen sinnkulturellen Ursprüngen schließlich vornimmt, hat nur den einen und schon in den Logischen Untersuchungen offengelegten Zweck: alle Sinngebung gegen das sinnlose „Gerassel von Maschinen“ (Husserl 1992b), also gegen alle Technizität und Medialität, auf subjektives Denken und die lebendigen Quellen der Sinnbildung zurückzuführen und zu beschränken. Sinnverschiebung ist also eine ausgesprochene Kampfvokabel von Husserls philosophischer Politik, die auf der scharfen und für die klassische Sinnkultur konstitutiven Kontrastierung von Sinn und Technik basiert. Angesichts des Formalisierungs- und Technologisierungsschubs der Wissenschaften im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wird noch einmal, wohl aber im historisch

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Die technologische Sinnverschiebung letztmöglichen Augenblick, die sinnkulturelle Anfangsbehauptung von der originären Geschiedenheit von Wissenschaft und Technik reaktiviert. Noch einmal – aber radikaler als jemals zuvor – wird das transzendentale Subjekt der Erkenntnis als Hüter dieser Differenz reformuliert, als Träger lebendiger Sinnbildung rehabilitiert und als Bollwerk gegen technische Sinnstörung und -zerstörung sowie als Aufhalter technisch induzierter Sinnzusammenbrüche konzipiert. Die ganze Konzeption einer Ökonomie der Sinnverschiebung zeigt sich dabei mit all den Schwierigkeiten, auf die noch zu kommen sein wird, selbst als Symptom der technologischen Metamorphose des Sinns und Verwandlung der Sinnbildungsprozesse, die mit den Mitteln einer radikalisierten Transzendentalphilosophie und deren Privilegierung von Idealität und Innerlichkeit gar nicht mehr zu denken und zu regulieren sind. Just der Sinn nämlich, an dem Husserls ganzes Programm so hängt, also der ideale Sinn, der sich in den Wissenschaften verkörpern sollte, wird im Zuge der großen maschinengeschichtlichen Wende von einer originären Leistung transzendentaler Subjektivität und von einer bewusstseinsimmanenten Transzendenz zu einer Figur ursprünglicher Exteriorität. Wenn in Husserls Phänomenologie mit ihrer scharfen Kontrastierung von Sinn und Technik die zentrale Begriffsachse der klassischen Sinnkultur ihre wohl mächtigste Wiederholung findet, so zeigen sich gerade im Zuge der technologischen Sinnverschiebung Technik und Sinn als Größen eines ursprünglichen Entäußerungsprozesses, den man mit Félix Guattari, einem der wichtigsten Zeugen der Sinnverschiebung, als „agencement machinique“ (Guattari 1992: 56) beschreiben kann. Die Innerlichkeit, ehemals Bastion der Sinnbildung, wird sich nunmehr „am Kreuzweg vieler Komponenten“ (Guattari 1994: 25) festsetzen und als „hétérogenèse machinique“, also als exteriore Interiorität erscheinen. Subjektivität figuriert jedenfalls bei Guattari, ganz auf der Höhe mit der technologischen Wende, wie eine Maschine mit einer unhintergehbar supplementären Dimension, ist wie eine Maschine abhängig von exterioren, menschlichen und nichtmenschlichen Elementen. Dabei betrifft die „radikale ontologische Umstellung“ („une radicale reconversion ontologique“) (Guattari 1992: 59) nicht nur den Ort des Subjekts, sondern auch den Ort der Maschine. Zur Mutation der Subjektivität gehört die Mutation der Maschinen. Sie beschwört einen neuen, nämlich allgemeinen Maschinismus herauf, der über die technologischen Objekte im engeren Sinn und über die bisherige instrumentalistische und mechanistische Sichtweise der Maschine hinausgeht, der die Ma-

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Erich Hörl schine jenseits des technischen oder mechanistischen Vorurteils rekonzeptualisiert und dort, wo er die Subjektivitätsproduktion miterfasst, die Ökonomie des Sinns in ihrem Innersten rearrangiert. „La machine“, so präzise beschreibt Guattari die sich im Lichte von kybernetischen Maschinenverbünden zeigende allgemeine Exteriorität, „dépend toujours d'éléments extérieurs pour pouvoir exister comme telle. Elle implique une complémentarité non seulement avec l'homme qui la fabrique, la fait fonctionner ou la détruit, mais elle est, elle-même, dans un rapport d'altérité machinique avec d'autres.“ „Die Maschine hängt immer von äußerlichen Elementen ab, um überhaupt als solche existieren zu können. Sie impliziert eine Komplementarität nicht nur mit dem Menschen, der sie herstellt, sie zum Laufen bringt oder sie zerstört, sondern sie befindet sich selbst in einer maschinischen Alteritätsbeziehung 7 mit anderen.“ (Ebd.)

Die Maschine rehabilitiert und befördert das Denken von Exteriorität und Komplementarität. Ganz ähnlich hat auch Simondon die neue, nunmehr „offene Maschine“ als zentralen Protagonisten einer zukünftigen Komplementarität von Mensch und Maschine beschrieben: „Le véritable perfectionnement des machines, celui dont on peut dire qu'il élève le degré de technicité, correspond […] au fait que le fonctionnement d'une machine recèle une certaine marge d'indétermination. […] La machine qui est douée d'une haute technicité est une machine ouverte et l’ensemble des machines ouvertes suppose l’homme comme organisateur permanent, comme interprète vivant des machines les unes par rapport aux autres. Loin d’être le surveillant d’une troupe d’esclaves, l’homme est l’organisateur permanent d’une société des objets techniques qui ont besoin de lui comme les musiciens ont besoin un chef d’orchestre. [...] Ainsi l’homme a pour fonction d’être le coordinateur et l’inventeur permanent des machines qui sont autour de lui. Il est parmi les machines qui opèrent avec lui.“ „Die echte Verbesserung und Perfektionierung der Maschine, jene, von der man behaupten kann, sie hebe die technische Stufe und erhöhe den Grad der Technizität, entspricht der Tatsache, daß der Betrieb einer Maschine eine bestimmte Marge der Unbestimmtheit in sich birgt. [...] Die Maschine, die über einen hohen Grad an Technizität verfügt, ist eine offene Maschine, und das Ensemble von offenen Maschinen setzt den Menschen als permanenten Or-

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Zu einem Denken der Maschine jenseits der mechanistischen Sichtweise der Maschine vgl. Guattari 1993: 85-96 und dazu auch den "Appendix" in: Deleuze, Guattari 1974: 497ff.

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Die technologische Sinnverschiebung ganisator und als lebendigen Interpreten der Maschinen in ihrem Verhältnis zueinander voraus. Weit davon entfernt, der Aufseher einer Herde von Sklaven zu sein, ist der Mensch permanenter Organisator einer Gesellschaft technischer Objekte, die ihn brauchen wie die Musiker einen Dirigenten. [...] So hat der Mensch die Funktion, der permanente Koordinator und Erfinder von Maschinen zu sein, die ihn umgeben. Er ist unter den Maschinen, die mit ihm zusammen operieren.“ (Simondon 2001: 11f)

Guattari nennt das neue Sinnregime höchst folgerichtig eine „maschinistische Ökologie.“ (Guattari 1994: 72) Der „Eintritt der Subjektivität in die Maschine“ („‚entrée en machine‘ de la subjectivité], die „neue Maschinenabhängigkeit der Subjektivität“ (nouvelle ‚machino-dépendance‘ de la subjectivité) (Guattari 1992: 11-52)8, wie man diese Verschiebung in ihrer allgemeinsten Tendenz beschreiben kann, hebt Husserls restringierte Sinnökonomie aus den Angeln und zerstört die philosophische Politik der Minorisierung des Technischen, die sein Andenken gegen Maschinen- und Sinnmetamorphose prägt. Was die genauere historisch-ontologische Beobachtung der Maschinenmetamorphose und die Genese einer neuen Logik und Politik des Sinns angeht, so hat der schon genannte deutschamerikanische Kybernetiker Gotthard Günther seit den fünfziger Jahren den Unterschied von klassischen und transklassischen Maschinen geprägt und auf seiner Basis die unterschiedlichen techno-logischen Sinnkulturen analysiert. Nach Günthers Entwurf implementiert die Ordnung der Maschine auch die Ordnung des Sinns. Maschinen bilden einen Verbund mit Logik und Ontologie und Kulturen erscheinen insgesamt als techno-onto-logisches Gefüge. Klassische, nach dem Modell der Hand konzipierte, Arbeit verrichtende, mechanische Maschinen sollten nach Günther signifikant für zweiwertige Kulturen sein, die entsprechend ihrer Maschinenbasis die zweiwertige Logik als ihre grundlegende mentale Verfahrensweise und das dualistische Regime ontologischer Differenzen als ihren metaphysischen Stil einführen, allen voran die klare Geschiedenheit von totem technischem Objekt und lebendi8

Es ist hier leider nicht möglich, genauer auf Guattaris Überlegungen zur Sinnbildung unter hochtechnologischen Bedingungen einzugehen, wie er sie etwa in „Chaosmose“ und den bereits genannten Arbeiten anstellt. Ihre Durcharbeitung ist der Mühe wert und hat andernorts mit gebührender Geduld zu erfolgen. Denn wir stehen immer noch am Anfang, was das Verständnis der postindustriellen, hyperindustriellen oder transklassischen (wie immer man sie auch nennen will) Subjektivität und Sinnbildung betrifft.

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Erich Hörl gem, Sinn schöpfendem Subjekt und den Hylemorphismus als metaphysisches Grundschema. Im seelischen Klima einer dualen, auf der klassischen Maschine und der von ihr ins Werk gesetzten metaphysischen Ordnung beruhenden Sinnkultur schien das als subjektiv und „seelisch“ zu gelten – „und nur das“, wie explizit hervorgehoben wird – „was nicht-maschinell und nicht-mechanisch begriffen werden muß. [Herv.i.O.]“ (Günther 1990: 223)9 Im Unterschied dazu würden, so Günther, die neuen, nach dem Modell des informationsprozessierenden Gehirns konzipierten, transklassischen Maschinen, wie sie die Kybernetik brachte, den Boden der klassischen Zweiwertigkeit verlassen und statt des dualistischen Sinnregimes von klassischer Logik und überlieferter Metaphysik nunmehr ein neues, mehrwertiges Sinnregime aus dem Geiste des Prozessdenkens und komplexer selbstreflexiver Systeme inaugurieren. Kybernetische Maschinen erschienen Günther als harte Metaphysikkritik und als Agenten einer neuen epistemologischen und ontologischen Situation. Auf Maschinenbasis zeichnet sich auch nach Günther eine techno-logische Revolution ab, insbesondere eine „unbarmherzige Analyse“ (Günther 2002: 81) der Subjektivität, ja „Entmythologisierung von Subjektivität“ und eine „Vertiefung des Wissens von dem, was Subjektivität ist“ (Günther 1990: 228, 225), die bis hin zu ihrem völligen Neuverständnis gehen kann, etwa in Gestalt ihrer (nichttechnischen) Maschinisierung. Die Maschine selbst erscheint nicht mehr als Körper-, sondern sogar als „Denkprothese“, die „Problembereiche sichtbar machen kann, deren bloße Existenz dem natürlichen und technisch ununterstützten Denken überhaupt nicht zum Bewußtsein kommen können.“ (Ebd.: 233) Es ist mit einem Mal evident, dass der Sinn nicht jenseits der Maschine und vor der Technik zu finden und keiner antitechnischen und maschinophoben Politik des Sinns zu überlassen ist.

3 Husserl hatte große Schwierigkeiten, die Ökonomie der Sinnverschiebung philosophisch unter Kontrolle zu behalten. Die Trennung von Sinn und Technik, auf der sie beruht, kam ihm selbst zunehmend abhanden, je weiter seine Arbeit am Sinn voranschritt. Je radikaler er sich in die Aufgabe und das Problem einer gegen die Technisierung zu leistenden Besinnungsarbeit ver9

Genauer zu Günther vgl. Hörl 2008a und ders. 2008b.

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Die technologische Sinnverschiebung senkte, desto mehr zeigte sich, dass der Mensch je schon und ohne Aussicht auf ein Ende in der Bewegung der Sinnverschiebung und -verwandlung steht. In der schwierigen und die Phänomenologie am Ende selbst bedrohenden Einsicht Husserls, dass Sinn niemals gegeben ist, sondern aus Besinnung resultiert, Besinnung aber immer schon und ursprünglich eine nicht aufzuhaltende, am Ende technisch ins Werk gesetzte Verschiebung von Sinn impliziert, zeigt sich das Sinnregime des technologischen Zeitalters, das nur die wesentliche Supplementarität und den technischen Grund des Sinns überhaupt exponiert. „Besinnung“ – so klar steht das in „Formale und transzendentale Logik“, einem Text, der von der ersten Zeile an gegen den technischen Sinnverlust der Wissenschaften auf die kritische Wiederherstellbarkeit des Sinns setzt – „besagt nichts anderes als den Versuch der wirklichen Herstellung des Sinnes ‚selbst‘, der in der bloßen Meinung gemeinter, vorausgesetzter ist; oder den Versuch, den ‚intendierenden Sinn‘ (wie es in den Logischen Untersuchungen hieß), den im unklaren Abzielen ‚vage vorschwebenden‘ in den erfüllten Sinn, den klaren überzuführen, ihm also die Evidenz der klaren Möglichkeit zu verschaffen. Eben diese Möglichkeit ist Echtheit des Sinnes, also Ziel des besinnlichen Suchens und Findens. Besinnung, können wir auch sagen, ist, radikal verstanden, ursprüngliche Sinnesauslegung, die Sinn im Modus unklarer Meinung in Sinn im Modus der Klarheitsfülle oder Wesensmöglichkeit 10 überführt und zunächst überzuführen strebt.“ (Husserl 1992a: 13)

Sinn im Modus unklarer Meinung in Sinn im Modus voller Klarheit zu überführen, also den trüben Sinn der doxa in glasklaren epistemischen Sinn zu transformieren, ebendies erscheint als Besinnungsaufgabe von Wissenschaft überhaupt und als Pflicht ihres Trägers, des transzendentalen Subjekts der Besinnung und zwar von Anfang an, seit es Wissenschaft und das Subjekt der Wissenschaft gibt. Vor aller Besinnung, wie sie gegen die gefährliche Sinnverschiebung durch die Technisierung der Wissenschaft zu leisten ist, ist Wissenschaft selbst immer schon Besinnung und als solche eine originär Sinn verschiebende Aktivität. Sinnverschiebung gehört von Anfang an zur Authentizität des Sinns. Sie ist die Bewegung des Sinns selbst. Husserls weitreichende Spekulation über die Urstiftung des Sinns von Wissenschaft durch den Einbruch der theoretischen

10 Husserl spricht unmittelbar danach noch explizit von „neuer Sinngestaltung“, die nicht den Charakter „einer bloßen Ausfüllung einer vorweg schon bestimmten und gegliederten Vorzeichnung“ hat.

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Erich Hörl Einstellung bei den Griechen, wie sie nach der Logikschrift ausgearbeitet wird, versucht die ursprüngliche Besinnungsleistung, die Urbesinnung und mithin die originäre Sinnverschiebung zu rekonstruieren, auf die es sich im Augenblick der Krisis der Wissenschaften überhaupt zu besinnen gilt. Geschichte, die nun unübersehbar in die Phänomenologie einbricht, wird insgesamt als gewaltige Sinnverschiebungsbewegung aufgefasst, nämlich „als die lebendige Bewegung des Miteinander und Ineinander von ursprünglicher Sinnbildung und Sinnsedimentierung“ (Husserl 1962: 380), wie sie durch die Wissenschaften eigentlich immer schon geschieht. Wissenschaft zeigt sich so als abendländische Kerninstitution der Sinnbildung, die sich von Anfang an selbst gefährdet, ist sie doch eine fortwährende und schwer zu kontrollierende Aktion der Sinnverschiebung, Sinnverwandlung und Sinntransformation. Die Philosophie hat darüber zu wachen, dass die Metamorphosen des Sinns, die die Wissenschaft, seit es sie gibt, unablässig ins Werk setzt, nicht aus dem Ruder laufen, wie es eben in der Neuzeit und insbesondere um und nach 1900 geschieht. Die Kontrolle der Sinnverschiebung, die das Wissen voraussetzt, wo echte Sinnbildung aufhört und unechte beginnt, wo genau vager Sinn aufhört und klarer Sinn anfängt, das ist die schwierige, unter technologischen Bedingungen zunehmend aussichtslosere Aufgabe der Philosophie. Im Prager Vortrag von 1934, der die gegenwärtige Aufgabe der Philosophie darlegen sollte, hat Husserl die historische Geburt der Wissenschaft selbst in aller Deutlichkeit als Prozess von Sinnverwandlung und -verschiebung charakterisiert. Das Entstehen der „Sinnesform Wissenschaft“ (Husserl 1989: 186) wird als „Neubildung des Sinnes Welt als thematisches Feld der wissenschaftlichen Urteile“ aufgefasst, aber auch als Neubildung „des Sinnes Seiendes, wenn Welt Universum von Seiendem bedeutet.“ (ebd.: 187) Die Geburt der „konsequenten theoretischen Einstellung“ (ebd.: 186) und der neuen „theoretischen Praxis“ erscheint als „Sinnverwandlung“, die insbesondere durch die Scheidung von doxa und épistêmê „aus dem, was der vorwissenschaftliche Mensch Welt nennt, ein wesentlich Neues geschaffen“ (ebd.: 194) hat. Aber die Sinnverwandlung hat für Husserl bekanntlich ihre klare Grenze. Der zweite, der epistemische Sinn der Welt sollte, so Husserls Rekonstruktion, immer auf dem ersten, dem gemeinen Sinn der Welt basieren. „Welt“, so heißt es, „ist vorwissenschaftlich die dem Blick sich eröffnende Allrealität, in welcher wir leben,

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Die technologische Sinnverschiebung in die wir hineinstreben, hineinerfahren, hineindenken, hineinwerten, in der wir uns praktisch entscheiden und unsere weltlichen Zwecken verwirklichen.“ (Ebd.: 200) Und eben diese erste Welt hat trotz der wissenschaftlichen Sinnverwandlung durch die Idealisierungsleistung der Theorie letztlich immer noch den Boden aller Sinnbildung zu bilden. Der zweite Sinn darf, bei Strafe des totalen Sinnverlustes, den ersten Sinn nicht abbauen, wie es durch die Technisierung geschieht, sondern hat ihn zu idealisieren. Denn es ist, so heißt es ganz explizit, „das konkrete Leben, worin überhaupt alles, was für den Menschen verständlichen Sinn, Wert, Bedeutung hat, beschlossen ist.“ (Ebd.) Die Berufung auf den verständlichen, lebensweltlichen Sinn und die Transzendentalisierung der doxa, die damit geschieht, markiert den Kern von Husserls antitechnischer Sinnpolitik, die die Metamorphosen des Sinns aus dem Geiste der Wissenschaft in den Griff bekommen will. Das ist umso schwerer, da für Husserl eigentlich schon in der anfänglichen Differenzierung von doxa und épistêmê das Technisierungsproblem virulent ist. Seine Version der Urgeschichte der Theorie, wie sie im Ursprung der Geometrie vorliegt, erzählt, dass bereits die Trennung von doxa und épistêmê in der großen griechischen Einstellungstransformation technisch ins Werk gesetzt ist. Denn der Durchbruch zur Idealität bzw. zum idealen Gegenstand, die Idealisierungsleistung von Wissenschaft, die Geburt der Idealisierung und der Idealität selbst, all dies ist für Husserl nur denkbar durch die und mithilfe der Technik der Schrift. Die in der Krisisschrift durchweg reklamierte – und eigentlich für das phänomenologische Denken überhaupt zentrale – saubere Trennung von téchnê und épistêmê, die von der modernen Sinnverschiebung infolge der Technisierung und Formalisierung der Wissenschaft so gefährlich unterlaufen werden soll, wird von Husserl bereits für das Anfangsszenario der Wissenschaften dementiert. Denn mag die geometrische Idealität auch zuerst im Kopf des Urgeometers entstanden und ein „Gebilde im Bewußtseinsraum der ersten Erfinderseele sein“ (Husserl 1962: 369), so kann sie laut Husserl zu „idealer Objektivität“ und damit zur Urstiftung der Wissenschaft erst durch das wesentliche Supplement der Schrift gelangen. Nur durch die Schrift kommt das „verharrende Dasein der ‚idealen Gegenstände‘“, ihr „Immerfort-Sein“ (ebd.: 371) in die Welt. Das künstliche Gedächtnis der Schrift ist unabdingbar, wenn es darum geht, lebendige, aber per se flüchtige Evidenz in Idealität zu überführen und idealen Sinn zu produzieren. Vor der lebendigen Wiedererinnerung der ursprünglichen

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Erich Hörl Evidenz des Sinns liegt die Schreibszene der Wissenschaft. Sie steht für die konstitutive Deplatzierung des Sinns.11 Schrift ist – das gehört zu dieser ausufernden, nicht aufhaltbaren Logik der Supplementarität – wie die Wissenschaft selbst bereits eine Verwandlung des Sinns, „vollzieht sich“ doch „durch das Niederschreiben eine Verwandlung des ursprünglichen Seinsmodus des Sinngebildes. [...] Es sedimentiert sich sozusagen.“ (Ebd.: 372) Rettung vor der heillosen Sinnverwandlung, in der sich die Bewegung der Idealisierung und der ideale Sinn so immer schon befinden, soll der Leser bringen, der das verwandelte tote Sinngebilde der Schrift in den lebendigen Sinn der in ihr niedergelegten ursprünglichen Evidenz zurückverwandeln, der also aus dem toten Sinngebilde den lebendigen Sinn herausziehen kann: „Aber der Lesende kann [...] die Evidenz reaktivieren.“ (Husserl 1962: 372) Husserl zeigt sich hier zu guter Letzt als Denker und emphatischer Protagonist der im Untergang begriffenen alphabetischen Sinnkultur, die unablässig – das ist eines der Grundmerkmale des ihr zugehörigen Phonologozentrismus – ihre basale Schriftlichkeit, ihre Medialität und Technizität dementiert. Es ist nicht etwa der Schreiber, sondern der Leser – und zwar der aktive Leser, der, der sich nicht nur passiv seinen Assoziationen im Zuge ausschweifenden Lesens hingibt und der nicht „der Verführung 11 Husserls Rekonstruktion der griechischen Geburt des idealen Sinns argumentiert hier jedenfalls einen Moment lang für die Vorgängigkeit der hypomnesis und die wesentliche Nachträglichkeit der anamnesis. Hypómnema steht bei Platon für das künstliche und tote Gedächtnis der lautlosen Schrift, die der ihr vorgängigen lebendigen Wiedererinnerung der Ursprünge (anamnesis) gegenübergestellt wird. Zu dieser für die philosophische Abwertung der Schrift und mit ihr der Technik zentralen sokratisch-platonischen Differenz (vgl. z. B. Stiegler 2004: 27ff.) In La désorientation (Stiegler 1996: 267ff.), dem zweiten Band von La technique et le temps, ist Stiegler ausführlich auf die Technizität des Prozesses der Idealisierung und die „genèse technologique“ (ebd.: 268) eingegangen, wie sie im Ursprung der Geometrie von Husserl einen Moment lang erwogen wird. Stiegler hat bei Gelegenheit sogar von „technological intentionality“ gesprochen, die sich im „Ursprung“ abzeichne (vgl. ebd.: 339). Man könnte Husserls Rekonstruktion auch mit der Anthropologie des Lesens konfrontieren. Wie Jesper Svenbro gezeigt hat, ist die Erfindung des stillen Lesens als Verinnerlichungsprozess zu denken, der den Sinn als Innerlichkeitsfigur überhaupt erst denkbar gemacht hat. Vor dem 5. Jahrhundert war das Wiedererkennen (anagignoskein: wiedererkennen, lesen) eine Sache des lauten Lesens des Geschriebenen, ein Wiedererkennen durch das Ohr (vgl. Svenbro 2005).

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Die technologische Sinnverschiebung der Sprache verfällt“ (ebd.) – der allein die Sinn- verwandlung der Schrift, die ursprüngliche Sinnverschiebung am Grund der Wissenschaft kontrollieren soll. Auch wenn die Genese idealer Objektivität wesentlich Technogenese sein mag und die Passage vom flüchtigen innerpersonalen Gebilde zum dauernden idealen Gegenstand undenkbar ist ohne die Exteriorisierung der Schrift, so hat nach Husserl doch der Leser genau die ursprüngliche Exteriorisierungsbewegung am Grunde aller Idealität zu dementieren. Nur der aktive Leser kann den „urquellenmäßigen Sinn“, der sich je schon und ohne ihr entrinnen zu können in der Schrift sedimentiert, in der „Vererbung der Sätze“ lebendig erhalten und das „Abreißen einer ursprungsechten Tradition“ verhindern. Er und nicht der Schreiber ist der Inbegriff leistender Subjektivität. Wo am Ende wie in den zeitgenössischen Wissenschaften vielleicht nur noch im rein Symbolischen und anschaulich nicht mehr Darstellbaren mathematischer Schrift operiert, wo also nicht gelesen, sondern gerechnet wird, da wird nach Husserl nur noch logisch gewirtschaftet mit Idealitäten, deren Sinn niemand mehr verbürgt. Im Anschluss an Husserl und mit Jan Patočka können zwei Sinnkulturen unterschieden werden: Die vorgeschichtliche Kultur des akzeptierten, gegebenen Sinns, die streng genommen noch gar keine Sinnkultur darstellt, weil der Sinn selbst fraglos und unverfügbar ist. Und die geschichtliche Kultur des offenen und noch zu gebenden Sinns, die die naive Gewissheit des Sinns sowie die gängigen Sinnzusammenhänge erschüttert, in der sich der Sinn als solcher erst öffnet und eine Öffnung der Welt und das „offene Dasein“ bringt.12 Die Öffnung des Sinns und des Daseins, das damit in einen offenen Bezug zum Sinn eintritt, die Eröffnung von Sinnkultur im strengen Sinn geschieht auch bei Patočka durch die Technik der Schrift (Patočka 1988: 36). Es lässt sich aber eine weitere Konversion der Sinnkultur ins Auge fassen, die nicht das Ende des Sinns überhaupt bedeutet, sondern ein neues Regime des Sinns einführt, wo der Sinn weder gegebener noch offener und zu gebender Sinn ist, sondern, noch davor, als Sinn vor 12 Jan Patočka – auch er unter dem Druck der technologischen Sinn- verschiebung – hat die Phänomenologie sinngeschichtlich gewendet und zugespitzt. Auch bei ihm ist freilich, das ist phänomenologische Tradition, ein signifikantes Absehen von jeder Medialität und Technizität festzustellen. Das Denken des Erscheinens, das die offene Sinnkultur charakterisieren soll, geht explizit auf das aus, was sich „von sich aus zeigt, d.h. ohne Vermittlung durch etwas anderes.“ Es ist ganz klar gegentechnisch profiliert (vgl. Patočka 1988).

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Erich Hörl dem Sinn produziert wird, ein Ereignis des Gefüges darstellt von menschlichen und nichtmenschlichen Akteuren. Nach der ersten, die als voralphabetische, und der zweiten, die als alphabetische Sinnkultur bezeichnet werden kann, handelt es sich nunmehr um die dritte, postalphabetische und postinstrumentelle Sinnkultur des techno-logischen Zeitalters, die vor uns liegt, deren Genese wir immer noch erst erleben und deren Schematismen zu bestimmen sind.13

Literatur Bachelard, Gaston (1970): Études, Paris: Libr. Philos. Vrin. Castelão-Lawless, Teresa (1995): „Phenomenotechnique in historical perspective: Its origins and implications for philosophy of science“, in: Philosophy of Science 62, S. 44-59. Deleuze, Gilles/Guattari, Felix (1974): Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1993): Logik des Sinns, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Derrida, Jacques (1983): Grammatologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Gamm, Gerhard (2000): Nicht nichts. Studien zu einer Semantik des Unbestimmten, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Guattari, Felix (1994): Die drei Ökologien, Wien: Passagen. Guattari, Felix (1993): „A propos des machines“ , in: Chimères 19, S. 85-96. Guattari, Felix (1992): Chaosmose, Paris: Galilée. Gumbrecht, Hans Ulrich (2004). Production of presence: What meaning cannot convey, Palo Alto: Stanford University Press. Günther, Gotthard (2002): Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik, Baden-Baden: Agis. Günther, Gotthard (1990): „Maschine, Seele und Weltgeschichte“, in: Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd. 3, Hamburg: Meiner, S. 211-235. Hörl, Erich (2008a): „Das kybernetische Bild des Denkens“, in: Erich Hörl/Michael Hagner, Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik, Frankfurt/Main 2008: Suhrkamp, S. 163-195.

13 Die erste Fassung dieses Textes ist in französischer Übersetzung unter dem Titel „Du déplacement technologique du sens“ in der Revue: Rue Descartes 64 (2009), S. 50-65 erschienen.

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Die technologische Sinnverschiebung Hörl, Erich (2008b): „Die offene Maschine. Heidegger, Günther und Simondon über die technologische Bedingung“, in: MLN German Issue Vol. 123/No. 3, S. 632-655. Husserl, Edmund (1992b): Logische Untersuchungen, Band 2, Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg: Meiner. Husserl, Edmund (1992a): Formale und transzendentale Logik, Gesammelte Schriften, Bd. 7, hg. v. Elisabeth Ströker, Hamburg: Meiner. Husserl, Edmund (1989): Aufsätze und Vorträge (1922-1937), Gesammelte Werke Bd. 27, Dordrecht, Boston, London: Kluwer. Husserl, Edmund (1962): Die Krisis der europäischen Wissenschaften und die transzendentale Phänomenologie. Eine Einleitung in die phänomenologische Philosophie, Gesammelte Werke 6, hg. v. Walter Biemel, Den Haag: Nijhoff. Lash, Scott (2002): Critique of Information, London: Sage Publications. Patočka, Jan (1988): Ketzerische Essais zur Philosophie der Geschichte und ergänzende Schriften. Stuttgart: Klett-Cotta. Rheinberger, Hans-Jörg (2006): Epistemologie des Konkreten, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Simondon, Gilbert (2001): Du mode d'existence des objets techniques, Paris: Aubier. Stiegler, Bernard (2008): Économie de l'hypermatériel et psychopouvoir. Entretiens avec Philippe Petit et Vincent Bontems, Paris: Mille et une nuits. Stiegler, Bernard (2004): Philosopher par accident. Entretiens avec Élie During. Paris: Galilée. Stiegler, Bernard (1996): La technique et le temps. Tome 2: La désorientation, Paris: Editions Galilée. Svenbro, Jesper (2005): Phrasikleia. Anthropologie des Lesens im alten Griechenland, München: Fink. Venn, Couze et. al. (2007): „Technics, Media, Teleology. Interview with Bernard Stiegler“, in: Theory, Culture & Society, Vol. 24 (7-8), S. 334-341. von Foerster, Heinz (1993): Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, hg. v. Siegfried J. Schmidt. Frankfurt/Main: Suhrkamp.

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Telegraf, Orchester, Stadt. Kommunikation als Problem der Menge MIROSLAV MARCELLI

Wenn wir über Kommunikation sprechen, stehen wir damit von Anfang an in einem Raum, der mehrere Personen in einer Gemeinschaft verbindet. Das lateinische Wort communicare, Ursprung des Wortes ‚Kommunikation‘, ist schließlich in der Nachbarschaft der Ausdrücke communis, communio und communitas anzusiedeln, die etwas Gemeinsames und Gemeinschaft bezeichnen. Es klingt banal, sollte aber auf jeden Fall beachtet werden: Kommunikation spielt sich zwischen mehreren Personen ab, die etwas teilen. Der Ausdruck ‚mitteilen‘ weist darauf hin, dass man hier an etwas Anteil hat. Bis heute verstehen wir unter Kommunikation einen Akt, in dem etwas gemeinsam wird; Kommunikation schafft Gemeinschaft im weitesten Sinne. Ausgangspunkte der folgenden Überlegungen werden einerseits Theorien der „Nouvelle Communication“ (Yves Winkin), andererseits der Beitrag von Lévi-Strauss‘ anthropologischer Konzeption zu unserem Verständnis von Kommunikation sein. Die Frage an die unterschiedlichen Kommunikationsmodelle wird sein: welche Auswirkungen auf ihre Entwicklung hat die Menge der Teilnehmer am Kommunikationsprozess?

1 Yves Winkin1 stellt fest, dass sich in der Entwicklung der französischen Begriffe communiquer und communication die erste wesentliche Veränderung am Ende des 15. und Anfang des 16. Jahrhunderts abgespielt hatte. Diese Ausdrücke, die bis dahin nur 1

Ich beziehe mich hier auf die Studie Présentation générale. Le télégraphe et l’orchestre (Winkin 1981).

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Miroslav Marcelli das Teilen von etwas, das gemeinsame Eigentum bezeichneten, bekamen eine andere, genauere Bedeutung, nämlich das ‚Mitteilen‘ einer Nachricht und das Übertragen von etwas (z.B. Krankheiten). Später, im 18. Jahrhundert, setzt sich in der Entwicklung des Ausdrucks communication schon eindeutig diese neue und spezifischere Bedeutung durch: „Il semble donc que les usages signifiant globalement „partager“ passent progressivement au second plan pour laisser place aux usages centrés autour de „transmettre“. Du cercle, on passe au segment. Trains, téléphones et médias deviennent successivement des ‚moyens de communication‘, c’est-àdire des moyens de passage de A à B. “ (Winkin 1981: 14) „Es scheint also, dass Formen des Gebrauchs, die allgemein als „teilen“ begriffen werden, schrittweise zugunsten eines um „vermitteln“ herum zentrierten Gebrauchs in den Hintergrund treten. Vom Kreis geht man zum Abschnitt über. Züge, Telefone und Medien werden sukzessiv zu „Kommunikationsmitteln“, das heißt zu Transportmitteln von A nach B.“2

In heutigen französischen Wörterbüchern überwiegt dann die Bedeutung ‚übertragen‘, ‚Übertragung‘, ‚abgeben‘ und ‚senden‘ (transmission). In der Entwicklung der entsprechenden englischen Ausdrücke fand Winkin sehr ähnliche Schritte und Tendenzen. Die Chronologie stimmt an entscheidenden Punkten erstaunlich genau mit der französischen überein. Wenn im 15. Jahrhundert im Englischen das Wort communication auftaucht, ist seine Bedeutung stark von dem lateinischen communis geprägt, daher bezeichnet er den Akt der Sozialisation. Dann kommt eine Veränderung: „A la fin du XVe siècle, ‚communication‘ devient aussi l’objet mis en commun et, deux siècles plus tard, le moyen de mettre en commun.“ (Winkin 1981: 14/15) „Ende des 15. Jahrhunderts wurde ‚Kommunikation‘ daher zum Gemeinschaftsobjekt, zwei Jahrhunderte später zum Mittel der Gemeinschaftsbildung“.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung von Verkehrsmitteln im 18. Jahrhundert wird der Ausdruck verallgemeinert, bezeichnet also Wege, Kanäle und die Eisenbahn. Ab Mitte des 20. Jahrhunderts kommen weitere ‚Mittel‘ hinzu, Medien wie die Presse, der 2

Alle folgenden französischen Zitate wurden für diesen Beitrag von Linda Waack und Regina Wurzella übersetzt.

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Telegraf, Orchester, Stadt Film, Rundfunk und Fernsehen. Auch die Entwicklung des Wortes im Englischen zeigt, dass die Sozialisierung durch Kommunikation nicht mehr mit der Festigung von Beziehungen innerhalb der Gemeinschaft, sondern der Übertragung von beliebigen Inhalten von einem Punkt zum nächsten verbunden ist. Am Ende dieser Entwicklung ist also der Kreis in Segmente zerfallen und die Kommunikation wurde zur Übertragung. Fügen wir hinzu, dass aktuelle Wörterbücher beim Wort ‚Kommunikation‘ auch an erster Stelle die Übertragung nennen; bei der Kommunikation wird laut ihnen Information übertragen. Als Yves Winkin in den Anmerkungen zur Ausgabe des französischen Wörterbuchs Grand Robert aus dem Jahr 1970 zwischen den Bedeutungen der Kommunikation an fünfter Stelle Kybernetik fand, war dies für ihn ein Beleg dafür, dass die semantische Geschichte dieses Begriffs einen Wendepunkt erreicht hat. Seiner Ansicht nach verabschiedet sich hier die Kommunikation definitiv von ihrer historischen Bedeutung: ab diesem Moment wird sie zum Bestandteil des wissenschaftlichen Vokabulars. Den Augenblick des Eintritts in die neue wissenschaftliche Etappe kennzeichnen zwei Texte: Wieners Cybernetics (1948) und Claude Shannons (Wieners Schüler) The Mathematical Theory of Communication (1949; Co-Autor war Warren Weaver). Die Situation, die Shannons Theorie einleitete, beschreibt Winkin so: „Claude Shannon parvient à formuler une théorie claire et précise. ‚La théorie mathématique de la communication‘ qu’il propose dans son livre de 1949 est donc une théorie de la transmission. Communication est entendu dans le sens qui prévaut depuis le XVIIIe siècle.“ (Winkin 1981: 17) „Claude Shannon gelingt es, eine klare und präzise Theorie zu formulieren. Handelt es sich doch bei der mathematischen Theorie der Kommunikation, die er 1949 in seinem Buch vorschlägt, um eine Theorie der Übertragung. Kommunikation wird dabei in jenem Sinn verstanden, der seit dem 18. Jahrhundert vorherrschend ist.“

Ende der vierziger Jahre trennte sich also die Bedeutung von ‚Kommunikation‘ endgültig von der Vorstellung, die sie in den Kreis der Gemeinschaft, zusammengehalten durch das Teilen irgendwelcher gemeinsamer Dinge, situierte. Die wissenschaftliche Vorstellung von Kommunikation zerlegte diesen Kreis nicht nur in einzelne Segmente, sondern verwandelte die Übertragung zwischen ihren äußersten Punkten in eine gerade Linie. Während Wieners Modell zirkulär war, legte Shannon (der in den Labors

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Miroslav Marcelli der Telefongesellschaft Bell arbeitete) ein lineares Modell der Kommunikation vor. In Shannons Modell, das für viele das Ur-Bild des Kommunikationsprozesses darstellte, spielt sich die Übertragung auf einer Geraden ab, die – wie bei einer telefonischen Verbidung – die Quelle der Informationen und den Adressaten der Nachricht verbindet. Winkin zeigt, wie sich dieses Modell erweitert und dann wieder schließt: „Tout se passe comme si le seul élément que Shannon ait pu léguer aux noningénieurs soit l’image du télégraphe qui imprègne encore le schéma d’origine. On pourrait ainsi parler d’un modèle télégraphique de la communication. “ (Winkin 1981: 20) „Das einzige Element, das Shannon Nicht-Ingenieuren vererben zu können scheint, ist das Bild des Telegraphen, das das originäre Schema sogar festigt. Man könnte folglich von einem telegraphischen Modell der Kommunikation sprechen.“

Alles deutet darauf hin, dass die Nicht-Ingenieure dieses Modell dankbar angenommen haben. Ein Beispiel dafür ist das Modell von Jakobson. Jakobson versteht die sprachliche Kommunikation als einen Prozess, der sich zwischen dem Sprecher und dem Adressaten abspielt. Zur Wirkung der gesendeten Nachricht kommt außer dem Sprecher noch der Kontext, der Code und der Kontakt hinzu (vgl. Jakobson 1991: 40). Ein Nicht-Ingenieur, ein Linguist wie Jakobson stellt sich Kommunikation im Sinne dieses Modells vor, das als eine Version des telegrafischen Modells charakterisiert werden kann. Winkin gab dem entsprechenden Teil seines Textes den Titel Telegraf und Orchester, womit er klar zu verstehen gibt, dass er das Telegrafenmodell der Kommunikation – bei allem Respekt – für überholt hält. Er stellt ihm ein Modell entgegen, das die Analogie zum Orchester verwendet, um die verbale, bewusste und intentionale Kommunikation in einen breiteren Komplex von signifikanten Äußerungen, die sich zwischen Mitgliedern einer Gruppe abspielen, einzuordnen. Die Neue Kommunikation verwirft die Konzeption einer einbahnigen ‚telegrafischen‘ Übertragung der Information zwischen zwei äußersten Punkten. Diese Schule formierte sich im kalifornischen Städtchen Palo Alto, in dem sich Mitte des 20. Jahrhunderts Forscher aus aller Welt und allen Disziplinen trafen, um hier Forschungen nachzugehen, die an Batesons Versuch anknüpften, Logik und Kybernetik auf Kommunikationsprozesse anzuwenden.

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Telegraf, Orchester, Stadt „L’analogie de l’orchestre a pour bout de faire comprendre comment on peut dire que chaque individu participe à la communication plutôt qu’il n’en est l’origine ou l’aboutissement.“ (Winkin 1981: 25) „Die Orchester-Analogie zielt darauf ab, verständlich zu machen, dass jedes Individuum an der Kommunikation teilnimmt, ohne ihr Ursprung oder Erfolg zu sein.“

Ich halte diese Betonung der partizipatorischen Rolle des Subjekts für einen der entscheidenden Beiträge der Neuen Kommunikation. Nach der Phase, in der sich die Konzeption der Kommunikation von der Gemeinschaft trennte und die Kommunizierenden als Sender – Adressat vorgestellt hat, geht es hier um ein Forschungsprogramm, das die Rolle der Teilnehmer als Partizipation an einem weiter gefassten Prozess begreift. Gleichzeitig erinnert uns die Betonung der Partizipation an etwas aus der früheren Bedeutung von Kommunikation, der ‚Mitteilung‘ im Sinne von Teilhabe. Kommunikation ist nicht die Übertragung einer Nachricht von einem Menschen zum anderen: sie bedeutet, am Handeln der Gruppe teilzunehmnen – vergleichbar mit einem Orchesterstück, das weder einen Dirigenten noch eine Partitur hat.

2 Auf die Mängel des Telegrafenmodells und die Notwendigkeit, es zu Überwinden, wies aber nicht nur die Neue Kommunikation hin. Ähnliche Vorbehalte finden wir auch in der semiotischen Forschung, wo dieses Modell in Jakobsons Schema der sprachlichen Kommunikation konkretisiert wurde. Jean-Marie Klinkenberg macht in ihrer Arbeit Die Übersicht der allgemeinen Semiotik, in der sie auch dieses Schema und seine Verwendungen beschreibt, auf die Stimmen der Kritiker aufmerksam, die ihm vorhalten, dass hier Kommunikation wie ein Tischtennisspiel dargestellt wird. In der kritischen Auseinandersetzung ersetzt also Tischtennis den Telegrafen, und auch hier ist der Lösungsversuch von der Vorstellung eines Orchesters inspiriert. Die Gegner von Jakobsons Schema wollen Tischtennis mit dem „Modell des Orchesters“ ersetzen, schreibt Klinkenberg: „La communication est un processus collectif, où chacun joue sa partition (sans qu’il ait de chef d’orchestre…), s’accordant avec celle de l’autre.“ (Klinkenberg 1996: 64)

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Miroslav Marcelli „Kommunikation ist ein kollektiver Prozess, in dem jeder seiner Partitur folgt und sich (ohne dass es einen Dirigenten gäbe) mit anderen abstimmt.“

Mit dem erweiterten Blickwinkel verbindet Klinkenberg die Konsequenzen, die diese Veränderung für den Charakter der semiotischen Analysen bringt: „La sémiotique débouche ici sur des disciplines comme l’analyse conversationnelle ou l’ethnographie de la communication.“ (Ebd.) „Die Semiotik mündet hier in andere Disziplinen, etwa in die Konversationsanalyse oder die Kommunikationsethnographie.“

Wir ahnen, dass diese Perspektive den Semiotikern einerseits produktive Möglichkeiten bieten kann, andererseits auch die Gefahr des Verlustes der theoretischen Fundierung birgt. Die Vorstellung eines Orchesters, das ohne Dirigenten und vorgegebene Partitur spielt, erlaubt, in die Kommunikation Gruppen einzubeziehen, deren Handeln sich den Normen und Regeln, die aus der Kommunikation in kleinen Gruppen abgeleitet worden sind, entzieht. Wer gedacht hatte, dass sich dank der Rückkehr zum kreisförmigen Modell wieder die Gelegenheit bietet, über den gemeinschaftlichen Raum als einer Bedingung von Kommunikation nachzudenken, muss nun zugeben, dass dem Kreis der Kommunizierenden der definitive Zerfall droht. Das Modell des Orchesters führte neue Dimensionen ins Studium der Kommunikazionsprozesse ein: zu verbalen, bewussten und beabsichtigten Aspekten der Kommunikation gesellten sich nonverbale, unbewusste und unbeabsichtigte Aspekte. In gewisser Weise lässt sich sagen, dass zusammen mit dieser Erweiterung auch die Anzahl der Teilnehmer in den analysierten Gruppen gewachsen ist, denn zwei ‚telegrafierende‘ Teilnehmer wurden von einer Gruppe ersetzt, die mit einem Musikensemble verglichen wurde. Das Modell des Orchesters bringt uns so zumindest indirekt der Bedeutung der Menge näher: das Orchester muss zwar keinen Dirigenten haben, wenn aber das Zusammenspiel funktionieren soll, lässt es keine willkürliche Veränderung der Anzahl der Teilnehmer zu. Die limitierende Aufgabe der Menge blieb bei diesem Modell allerdings nur ein äußerlicher Faktor, dessen Wirkung vorausgesetzt, aber nicht untersucht wurde.

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Telegraf, Orchester, Stadt

3 Es ließe sich kaum ein prägnantere Beschreibung dieser Situation finden als die von Lévi-Strauss. Sehen wir uns das Bild an, mit dem er die unsichere Situation der totemischen Klassifikationen erfasst: „The classification tends to be dismantled like a palace swept away upon the flood, whose parts, through the effect of currents and stagnant waters obstacles and straits, come to be combined in a manner other than that intended by the architect.“ (Lévi-Strauss 1968: 232)

Im Satz, der diesem Zitat vorangestellt ist, benennt Lévi-Strauss das Element, das sich dermaßen zersetzend auf die Produkte des Klassifikationsprozesses auswirkt: „…a permanent conflict between the structural nature of the classification and the statistical nature of its demographic basic.“ (Ebd.) Die Grundlagen der Klassifikation unterläuft also das „demographische Substrat“. Der Konflikt, in dem die Population als Substrat und zersetzendes Element auftritt, lässt sich auf alle Arten struktureller Ordnungen ausweiten. Tatsächlich ist Lévi-Strauss von dem grundlegenden Gegensatz zweier Zeiten und Modelle überzeugt: im Gegensatz zur reversiblen Zeit, charakteristisch für „mechanische“, strukturelle Modelle, bringt die Populationsentwicklung irreversible Veränderungen mit sich, als Konsequenz verliert die Gesellschaft ihr Gleichgewicht und muss ihre Existenz in der historischen Zeit messen. Der Gegensatz, dessen Version wir im Konflikt zwischen den Klassifikationssystemen und der Geschichte vorgefunden haben, setzt sich bei Lévi-Strauss noch über den Bereich der Methodologie fort: wir finden ihn in der Aufteilung aller Gesellschaften in zwei Typen: in „kalte“ (die mit einer Uhr verglichen werden) und „warme“ (die der Dampfmaschine ähneln). Durch seine Entscheidung, das mechanische Modell zu untersuchen, rückt Lévi-Strauss seine ethnologischen Analysen in Hinblick auf die Methodologie in die Nähe der Linguistik; gleichzeitig sieht er – trotz Analogie – deutlich den wesentlichen Unterschied zwischen seinem Gegenstand der Untersuchung und dem Gegenstand der Linguistik, der Sprache: während sich die Sprache (laut Saussure) von der Zufälligkeit in Richtung Motiviertheit bewegt, tendieren Systeme, die die Ethnologie untersucht, von der Motiviertheit zur Zufälligkeit.

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Miroslav Marcelli „Für Saussure geht die Sprache infolgedessen von der Willkür zur Motivierung. Die Systeme hingegen, die wir bisher untersucht haben, gehen von der Motivierung zur Willkür: die Begriffsschemata (im Grenzfall ein einfacher binärer Gegensatz) werden beständig vergewaltigt, damit Elemente eingeführt werden können, die anderswoher stammen […]“ (Lévi-Strauss 1991:183)

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der zersetzende Druck des Grundwassers solche Ausmaße annimmt, dass der Palast ganz einstürzt und seine Ruinen vom Strudel der Geschichte davongetragen werden. Hinter einer bestimmten Grenze wird aus dem Populationssubstrat eine Naturgewalt, feindselig gegenüber allen Ordnungen. Ich wage zu behaupten, dass Lévi-Strauss mit seinem Bild eines Palastes, das auf Wasser gebaut ist, den Ursprung der Befürchtungen ausgedrückt hat, denen sich die theoretische Reflexion der Kommunikation nach der Ablehnung des Telegrafenmodells ausgesetzt sah. Das Modell des Orchesters regte zum Nachdenken über größere Gruppierungen an und legte zumindest implizit die Grenzen fest, jenseits derer ‚viele‘ aufhörten, eine einheitlich organisierte Gruppe zu sein. Das Bild des Palastes verdeutlicht diese Begrenzungen und deutet gleichzeitig darauf hin, dass ihre Überschreitung unvermeidlich ist, da die Grundpfeiler des Baus die Tendenz haben, wild zu wachsen. Es ist klar, dass ein unbewusstes und unbeabsichtigtes Zusammenspiel der Elemente Bestandteil der Komposition ist, deren Stabilität nur vorübergehend ist. Das Bild des Konfliktes zwischen der jeweiligen Ordnung und ihrer Grundlage steht im Hintergrund der Dualismen, in die das Denken von Lévi-Strauss bei seinen Versuchen, allgemeine methodologische Grudlagen zu formulieren, oft mündete. Es muss aber angemerkt werden, dass sich in seinem Denken auch Überlegungen zu Möglichkeiten der Überwindung dualistischer Schlüsse finden lassen. In Lévi-Strauss‘ Werk stoßen wir bereits in einem in das Genre Reisebericht einzuordnenden Text aus den fünfziger Jahren auf den Gedanken eines gemeinsamen Grundes, der die Überbrückung von Gegensätzen ermöglicht. In seiner Arbeit Traurige Tropen beschreibt er seinen ersten Aufenthalt in Südamerika, eine Reise, die für ihn eine gewisse Initiation zur Ethnografie wurde. Eine seiner Überlegungen beginnt mit dem Hinweis auf einen Unterschied, durch den sich das qualitative Verständnis des Raums, das astronomischen und meteorologischen Phänomenen magische Eigenschaften zuschreibt, von unserem, also dem euklidischen Modell unterscheidet. Lévi-Strauss

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Telegraf, Orchester, Stadt bemerkt, dass das qualitative Verständnis – entgegen allen Versuchen es aus dem objektiven Weltbild auszuschließen – auch in unserem Denken und Handeln immerzu präsent ist: „Aber das Stadtleben zeigt einen merkwürdigen Gegensatz – obwohl es die komplexeste und raffinierteste Form der Zivilisation darstellt, aufgrund der außergewöhnlichen Konzentration von Menschen auf kleinem Raum und der Dauer seines Zyklus, häufen sich im Schmelztiegel der Stadt unbewusste Verhaltensweisen, die jeweils zwar verschwindend gering sind, jedoch aufgrund der Vielzahl von Individuen, welche sie an den Tag legen, große Wirkungen zeitigen können.“ (Lévi-Strauss 1996: 113)

Eine dieser ernsten Konsequenzen ist das Wachstum von Städten im Westen und die Polarisierung von Armut und Luxus auf einer Achse die von Osten nach Westen verläuft. In der Anordnung des urbanen Raums spiegelt sich eine Tendenz, die zwar von den Handlungen von Individuen ausgeht, sich aber nicht ihren bewussten Entscheidungen zuschreiben lässt. Lévi-Strauss spricht im Zusammenhang mit der Stadt von einem kollektiven Bewusstsein. Wir haben gesehen, dass Lévi-Strauss in die Diskussion über das Wesen der Kommunikationsprozesse den Hinweis auf die Abhängigkeit vom demografischen Substrat beigetragen hat. Aus dieser Sicht hat der Populationszuwachs für die Klassifikationen, Strukturen und Codes, im Rahmen derer sich Kommunikationsprozesse abspielen, negative und in der letzten Konsequenz gänzlich zersetzende Auswirkungen: es häufen sich Abweichungen von der Regel und bekommen ein nicht kontrollierbares Ausmaß. In Lévi-Strauss‘ Überlegungen zur Stadt können wir die zweite Seite der kumulativen Prozesse, die sich in der Gesellschaft abspielen, erkennen: die gemeinsame Wirkung einer großen Zahl infinitesimal kleiner Abweichungen im Handeln des Individuums machen die Anordnung des städtischen Raumes aus. Eine große Zahl von Individuen bedroht in diesem Fall nicht nur die Ordnung des gemeinsamen Raumes ihrer Interaktion, sondern ist auch eine Voraussetzung der Entstehung dieser Anordnung. Die Geschichte ist dann nicht eine Geschichte der Zersetzung und des Verfalls eines ehemals prosperierenden Reiches; es wird die Geschichte der Entstehung von Städten sein. Die Stadt zeigt durch ihre räumliche Anordnung Tendenzen menschlichen Handelns, die auf der Ebene einzelner Akte nicht identifizierbar und unbewusst ist. Dieses Ensemble braucht wirklich keine Dirigenten. Im Gegensatz zum Bild des Orchesters trägt aber das Bild der Stadt zum Verständnis der Bedeutung der Men-

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Miroslav Marcelli ge für die Konstitution geordneter Formen bei. Unbewusste Tendenzen werden erst bei der Konzentration großer Mengen von Menschen an einem Ort sichtbar.

4 Die Möglichkeiten, die die Stadt für das Studium von Kommunikationsprozessen bietet, wie sie Lévi-Strauss skizziert hat, lassen sich folgendermaßen zusammenfassen: Erstens: dieses Bild macht die Rolle der Anzahlt der Teilnehmer von Kommunikationsprozessen deutlich. Zweitens: es verbindet die makroskopische und die mikroskopische Ebene, was uns Übergänge zwischen den beiden bis dahin getrennten Bereichen erlaubt. Drittens, es ermöglicht eine Perspektive, die gesellschaftliche und natürliche Bedingungen der Konstitution der Umgebung, in der Kommunikation stattfindet, vereint. Alle diese Anregungen weisen darauf hin, was es bedeutet, bei der Analyse von Kommunikationsprozessen im großen Maßstab zu denken. Erst heute, wenn diese Anforderung im Hinblick auf das Ausmaß der Kommunikationsnetze dringend verlangt wird, können wir die Produktivität des Modells von Lévi-Strauss würdigen. Sein Bild der Stadt nimmt vieles vorweg, was heute in Studien zu urbanen Prozessen als Ausdruck kollektiver Intelligenz entwickelt wird.

Literatur Jakobson, Roman (1991): „Lingvistika a poetika“, in: Roman Jakobson, Lingvistická poetika, Bratislava: Tatran 1991. (deutsch: Aufsätze zur Linguistik und Poetik, hg.v. Wolfgang Raible, München: Nymphenburger Verlag 1974). Klinkenberg, Jean-Marie (1996): Précis de sémiotique générale, Paris: De Boeck & Larcier. Lévi-Strauss, Claude (1996): Traurige Tropen, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lévi-Strauss, Claude (1991): Das wilde Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lévi-Strauss, Claude (1968): The Savage Mind, Chicago: University of Chicago Press (deutsch: Das wilde Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1991).

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Telegraf, Orchester, Stadt Winkin, Yves (1981): „Présentation générale. Le télégraphe et l´orchestre“, in: Yves Winkin, La Nouvelle Communication, Paris: Seuil. Aus dem Slowakischen von Kateřina Krtilová

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Semiologie oder Magiologie STANISLAV HUBÍK

Semiologie und Magiologie teilen den gemeinsamem vorwissenschaftlichen Glauben, dass sie herausfinden können, in welcher Beziehung der Gegenstand ihres Interesses zur restlichen Welt steht – um dann die (kausalen) Zusammenhänge zwischen dem Gegenstand und der restlichen Welt entdecken zu können. Frazer schrieb bereits vor 120 Jahren: „Thus the analogy between the magical and the scientific conceptions of the world is close. In both of them the succession of events is assumed to be perfectly regular and certain, being determined by immutable laws, the operation of which can be foreseen and calculated precisely; the elements of caprice, of chance, and of accident are banished from the course of nature. Both of them open up a seemingly boundless vista of possibilities to him who knows the causes of things and can touch the secret springs that set in motion the vast and intricate mechanism of the world. Hence the strong attraction which magic and science alike have exercised on the human mind; hence the powerful stimulus that both have given to the pursuit of knowledge.“ (Frazer 2008: 48)

Deswegen ist auch Magie die nächste Verwandte der Wissenschaft. Die zweite Gemeinsamkeit, die Semiologie und Magiologie verbindet, ist das Studium des sprechenden Individuums. In der von Ferdinand de Saussure gegründeten Semiologie fehlt das Individuum und wird von der semiologischen Forschung in den dreißiger Jahren teilweise zur Kenntnis genommen, gewinnt aber erst in der strukturalistischen Diskussion der Problematik der Autorschaft und des Schreibens nach dem zweiten Weltkrieg (vgl. Tejera 1988: 174 ff.) an Bedeutung. In der semiotischen Version der von Charles Sanders Peirce gegründeten Wissenschaft von den Zeichen fehlte zunächst auch das Individuum und kam erst mit Morris’ Theorie ins Spiel, ebenfalls in den dreißiger Jahren (vgl. Morris 1997) Beide Versionen der Wissenschaft von den Zei-

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Stanislav Hubík chen, die französische und die amerikanische, haben ursprünglich eine Theorie angestrebt, in der Zeichen ‚von selbst‘ funktionieren, ähnlich wie Naturphänomene. In der Magiologie, die im Wesentlichen von Frazer initiiert wurde, war allerdings das sprechende Individuum immer präsent – zum einen als Magier, Zauberer, zum anderen als der Öffentlichkeit gegenüberstehende Instanz. Und gerade diese magiologische Schnittstelle von Sprache, Zauber, Individuum und Öffentlichkeit verbindet Magiologie und Semiologie in Bezug auf ihre Themen und Ziele. Roland Barthes zeigt, wo man Semiologie als diese Schnittstelle am besten beobachten kann: „The most interesting systems, at least among those which belong to the province of mass-communications, are complex systems in which different substances are engaged. In cinema, television and advertising, the senses are subjected to the concerted action of a collection of images, sounds and written words.“ (Barthes 1994: 30)

Magiologie und Semiologie können tatsächlich ein gemeinsames Forschungsziel haben – auch deswegen, weil sich beide Disziplinen mit derselben milden und populären Form des Lügens (vgl. Eco 1991) beschäftigen. Dieses gemeinsame Forschungsthema und -ziel kommt im folgenden Zitat ganz unaufdringlich und verständlich zum Ausdruck: „Thus, so far as the public profession of magic affected the constitution of savage society, it tended to place the control of affairs in the hands of the ablest man: it shifted the balance of power from the many to the one...“ (Frazer 2008: 45)

Die öffentliche Ausübung beliebiger Handlungen, also auch der Magie, ist eine Form des Ansprechens und gehört als solche in den Gegenstandsbereich der Semiologie – insofern sie mit Zeichen verbunden ist. Sie gehört aber auch in den Gegenstandsbereich der Magiologie. Nicht nur deswegen, weil sie mit Öffentlichkeit zusammenhängt und daher mit Zeichentätigkeit, sondern vor allem weil die Magie Sprache als Mittel im Rahmen einer ganz besonderen Methode verwendet – der Tabuisierung. „The positive precepts are charms: the negative precepts are taboos. [...] Thus taboo is so far a negative application of practical magic. Positive magic or taboo says, ‚Do not do this, lest so and so should happen.‘ The aim of positive magic or sorcery is to produce a desired event; the aim of negative magic or taboo is to avoid an undesirable one.“ (Frazer 2008: 19)

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Semiologie oder Magiologie Neben tabuisierten Handlungen, Personen und Gegenständen ist der spezifische Bereich dieser negativen Magie die Tabuisierung von Worten, die zum einen von der Unfähigkeit ausgeht, sauber zwischen Worten und Dingen unterscheiden zu können, zum anderen beim Glauben an eine Verbindung von Worten und Dingen ansetzt: „..the savage commonly fancies that the link between a name and the person or thing denominated by it is not a mere arbitrary and ideal association, but a real and substantial bond which unites the two in such a way that magic may be wrought on a man just as easily through his name as through his hair, his nails, or any other material part of his person.“ (Frazer 2008: 251)

Die Verbindung zwischen Wort und Ding ist ein Problem nicht nur für die Magiologie, sondern explizit auch für die Semiologie. Roland Barthes hat sozusagen mit dem Finger auf das Material gezeigt, in dem der Zauberer alles findet, was er für seine Zauberei mit Worten braucht – Konnotationen. Wenn Barthes z.B. den Buchdruck charakterisiert, schreibt er auch über das Geheimnis, welches bis dahin den semiologischen Untersuchungen Widerstand geleistet hat: „…we are still almost entirely ignorant of a linguistic phenomenon which seems to play an essential part in it: connotation, that is, the development of a system of second order meanings, which are so to speak parasitic on the language proper. This second order system is also a ‚language‘, within which there develop speech-phenomena, idiolects and duplex structures. In the case of such complex or connoted systems (both characteristics are not mutually exclusive), it is therefore no longer possible to predetermine, even in global and hypothetical fashion, what belongs to the language and what belongs to speech.“ (Barthes 1994: 30/31)

Das ist ein wichtiger Wegweiser für weitere semiologische Untersuchungen, die den magiologischen ähneln, „the secret springs that set in motion the vast and intricate mechanism of the world.“ (Frazer 2008: 48, s.o.). Barthes deutet hier in eine pragmatische Richtung, denn er schließt aus der zitierten Anmerkung: „This would lead us to recognize in (non-linguistic) semiological systems three (and not two) planes: that of the matter, that of the language and that of the usage.“ (Barthes 1994: 34) und folgert daraus, dass das Geheimnis gerade auf der Ebene des Gebrauchs zu suchen ist – denn „as soon as there is a society, every usage is converted into a sign of itself […] Since our society knows only

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Stanislav Hubík standardized, normalized objects […] it expresses the fact there is no reality except when intelligible…“ (ebd. 41/42). Gebrauch, Konnotation, verständlich – das sind weitere drei Worte, die darauf hinweisen, dass die semiologische Forschung als Magiologie sui generis verstanden werden kann; sie korrespondieren gut mit den vorhin erwähnten Ausdrücken Sprache, Zauber, Individuum, Öffentlichkeit. Die semiologischen Erkenntnisse sind seit einiger Zeit die Quelle, in der verschiedene Autoren Antworten auf Fragen explizit magiologischen Charakters suchen. Diese Fragen kommen nicht aus der Magiologie, sondern aus Bereichen, die in der einen oder anderen Weise mit multimedialen Anwendungen verbunden sind. Es geht um Fragen nach dem Charakter der Verbindung zwischen Wort und Ding, Fragen, die auch im 21. Jahrhundert zweifellos die Unfähigkeit demonstrieren, in vollem Umfang zwischen Worten und Dingen zu unterscheiden, wie auch den Glauben, dass die Verbindung von Worten und Dingen eine reale Bindung ist. Die Unfähigkeit, die Frazer den „Wilden“ vorbehält, versuchen natürlich auch all jene zu nutzen, die andere beeinflussen wollen. Auch deswegen findet die Semiologie Anklang; gleichzeitig mit den ersehnten Antworten kann der Leser mit mehr oder weniger Erstaunen feststellen, dass sich nicht nur mit Worten und Dingen, sondern überhaupt mit Zeichen und Dingen Handlungen vollziehen lassen, die sich kaum von einer öffentlichen Ausübung von Magie unterscheiden. Max Weber konstatierte seinerzeit, dass unser Zeitalter das Ergebnis einer „Entzauberung der Welt“ ist. Er hatte diese Entzauberung der Rationalisierung zugeschrieben, allerdings unter einer Bedingung: „Die zunehmende Intellektualisierung und Rationalisierung bedeutet also nicht eine zunehmende allgemeine Kenntnis der Lebensbedingungen, unter denen man steht. Sondern sie bedeutet etwas anderes: das Wissen davon oder den Glauben daran: daß man, wenn man nur wollte, es jederzeit erfahren könnte, daß es also prinzipiell keine geheimnisvollen unberechenbaren Mächte gebe, die da hineinspielen, daß man vielmehr alle Dinge – im Prinzip – durch Berechnen beherrschen könne. Das aber bedeutet: die Entzauberung der Welt. Nicht mehr, wie der Wilde, für den es solche Mächte gab, muß man zu magischen Mitteln greifen. [Herv.i.O.]“ (Weber 1992: 86/87)

Auch Weber benutzt den heute ‚politisch unkorrekten‘ Ausdruck „Wilder“, damit klar ist, dass sich „jeder, der nur will“ davon unterscheidet. Webers Worte über die Entzauberung der Welt werden oft mit dem Beginn der modernen Gesellschaft in Verbindung

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Semiologie oder Magiologie gesetzt. Laut Weber geht der „Entzauberungsprozess“ aber bereits seit Jahrtausenden vor sich. Im zitierten Absatz heißt es allerdings „wenn man nur wollte“, was nicht heißt, dass jeder will. Es bleiben also genug Menschen, die sich weiter als „Wilde“ benehmen könnten, auch im 21. Jahrhundert: diejenigen, die in die Fänge der Konnotationen geraten, welche von „komplexen Systemen“ (Roland Barthes) produziert werden, in die Fänge der „secret springs that set in motion the vast and intricate mechanism of the world.“ (Frazer 2008: 48, s.o.). Semiologen sagen etwas anderes als Weber: dass unsere Welt zwar „entzaubert“ sein kann, aber gleichzeitig auch eine verhexte Wirklichkeit ist, in dem Maße, dass sie sogar ohne Spuren verschwindet (vgl. Baudrillard 1995) Und sie haben uns auch mitgeteilt, dass die neue Verhexung der Welt im Rahmen der „Entzauberung der Welt“ geschehen kann1, und fügten hinzu, dass wir nicht fähig sind zu unterscheiden, ob es sich noch um eine ‚Entzauberung‘ oder schon wieder um eine ‚Verzauberung‘ handelt2. Und der Begründer der Semiologie selbst formulierte einen prophetischen Satz3, der besagt, dass viel wichtiger als die Untersuchung des Problems des Bezeichnens die Erforschung der Umgebung des Zeichens ist oder anders gesagt: die Analyse dessen, was aus den Beziehungen der Elemente des Zeichensystems resultiert. Dieser prophetische Satz deutet wieder in Richtung Gebrauch und Konnotation. Den Höhepunkt der Zauberkünste bildet ohne Zweifel die Fähigkeit, etwas verschwinden zu lassen oder etwas vor den Augen des Publikums hervorzuzaubern. Die Magiologie erklärt, dass, wie 1

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In der berühmten Passage, in der er das Denken des Ingenieurs und des „bricoleurs“ vergleicht, zeigte Lévi-Strauss, dass die Unterscheidung zwischen dem Gebrauch der Begriffe und der Zeichen als Instrumenten der Anordnung von Wirklichkeit relativ ist, dass sich also kein nichtrelativistisches Kriterium zwischen der ‚Entzauberung‘ und ‚Verzauberung‘ finden lässt (vgl. Lévi-Strauss 1991). Noch weiter ging Derrida, der an der erwähnten Argumentation von LéviStrauss zeigte, dass schon die Unterscheidung zwischen dem Gebrauch der Begriffe und dem Gebrauch der Zeichen im Umgang mit der Wirklichkeit darauf beruht, den von Lévi-Strauss behaupteten Relativismus nicht zu respektieren, denn wir können zu keinem wenn auch relativen Kriterium einer Unterscheidung der Unterscheidung gelangen (vgl. Derrida 1999). Dieser prophetische Satz von Ferdinand de Saussure klingt nach Roland Barthes so: „…what quantity of idea or phonic matter a sign contains is of less import than what there is around it in the other sings…“ (Barthes 1994: 55)

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und warum man einen bestimmten Gegenstand, eine Person oder eine Eigenschaft – kurz gesagt etwas Konkretes – weg- oder hervorzaubern kann. Nur die Semiologie erklärt aber, dass, wie und warum sich alles weg- oder hervorzaubern lässt – kurz die ganze Wirklichkeit. Das reale Ganze, was nach Kant (oder Lyotard) schon hinter der Grenze des Erfahrbaren liegt. So wird die Semiologie zur Magiologie sui generis und es lohnt sich, diesen ihren magiologischen Aspekt näher zu betrachten. Sehr deutlich wird er gerade dann, wenn die Semiologie auf die Frage „Wie und wohin ist die Wirklichkeit verschwunden?“ oder auch die Frage: „Wie und warum ist die Wirklichkeit entstanden?“ mit Erklärungen reagiert, die wir ohne Übertreibung als Erklärungen der Weg- und Hervorzauberung der Wirklichkeit bezeichnen können.

2 Die Semiologie war allerdings nicht die erste Disziplin, die sich mit der Frage „Wie kann man die Wirklichkeit verschwinden lassen?“ oder der Frage „Wie kann man die Wirklichkeit entstehen lassen?“ beschäftigte. Mit diesen Fragen befasste sich die Philosophie und die Wissenschaft schon sehr viel früher, aber um eine Einschränkung vorzunehmen, werden wir uns auf das 19. Jahrhundert beschränken. Dank Kant rückten die ‚erkennenden‘ und wertenden Leistungen des Subjekts ins Zentrum des theoretischen Interesses, was nach und nach zur Formulierung der These von der subjektiven Relativierung der Erkenntnis (der Wirklichkeit) führte und später durch Thesen zur sozialen, historischen und kulturellen Relativierung ergänzt wurde. Philosophische Spekulationen wurden parallel dazu durch Fakten gestärkt, die die im Entstehen begriffene kulturelle und soziale Anthropologie lieferte. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts galten somit – zumindest für die theoretischen Eliten – die Relativität der Erkenntnis und der Werte schon als eine Selbstverständlichkeit. Das Ergebnis war die Anerkennung der Vielheit der Interpretationen der Wirklichkeit und das folgende Bestreben, Methoden zu finden, die auf diese Vielheit der Interpretationen adäquat reagieren könnten – wobei sie den Weg zurück zu der Wirklichkeit zurückfinden sollten. In dieser Situation war die Wirklichkeit also noch nicht verschwunden, sie wurde nur überdeckt von vielen unterschiedlichen Repräsentationen, über die man Bescheid wusste, deren Charakter untersucht und ihre Entstehung erforscht wurden. Diese Analysen hatte noch keine ausgesprochen semiologische

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Semiologie oder Magiologie

Dimension, im besten Fall führten sie zu philosophischen Überlegungen zur Sprache und der Ironisierung der Funktion von Begriffen, wobei sich diese Ironisierung gerade auf die konnotativen Zusammenhänge der Begriffe bezog. Diese Forschung wurde vor allem auf dem Gebiet der Geisteswissenschaften [im Orig. deutsch] geführt und sie inspirierte Neukantianer zum Programm einer Kulturwissenschaft [im Orig. deutsch]. In einer ähnlichen Situation waren auch die Naturwissenschaften, die sich ungefähr zur selben Zeit mit einem vergleichbaren Problem der Repräsentation der Wirklichkeit konfrontiert sahen. Den Impuls dazu gab wieder das kantianische Problem der Leistungen des Subjekts, diesmal aber schon durch Neukantianer vermittelt. Die Frage lautete, ob z.B. die physikalische Theorie der Mechanik tatsächlich die beobachtete Wirklichkeit darstellt bzw. repräsentiert oder nur eine der möglichen Bilder oder Repräsentationen ist. Die Begriffe Bild und Abbildung hatten in dieser metatheoretischen Diskussion die gleiche Funktion wie der Begriff Repräsentation in der späteren Semiologie. Zur entscheidenden Auseinandersetzung kam es zwischen den Wiener Physikern (Heinrich Hertz, Ernst Mach, Ludwig Boltzmann) und diese führte zur Formulierung der These, die sich in der späteren Entwicklung der Physik durchgesetzt hat: die Erkenntnisse der Physik sind theoretische Konstruktionen, die zwar auf Erfahrung gegründet sind, aber variierende Modelle der Wirklichkeit darstellen; es können immer auch andere, ebenfalls adäquate Bilder/Repräsentationen der Wirklichkeit konstruiert werden (vgl. Hubík 1991). Auch in dieser Situation ist die Wirklichkeit also nicht verschwunden, aber die Annahme, dass ihre einzige ‚richtige‘ Darstellung oder Repräsentation gefunden werden kann, gründlich in Zweifel gezogen worden. Diese Diskussion hatte in der Problematik der Abbildung eine deutlich semiologische Dimension. Weder die philosophischen Diskussionen noch die Auseinandersetzungen der Naturwissenschaftler weisen aber die magiologische Dimension auf, um die es hier geht. Sie führten nur zu einer Infragestellung der selbstverständlichen Wirklichkeit durch die Infragestellung der selbstverständlichen Repräsentation der Wirklichkeit mit philosophischen wie auch wissenschaftlichen Mitteln. Die magiologische Dimension steuerten zu diesen Untersuchungen und Erkenntnissen Fritz Mauthner und Karl Kraus bei. Mauthner verglich die Verwendung der Sprache direkt mit Magie und hielt z.B. die moderne ideologische Einflussnahme nur für eine neue Variante der Magie. Kraus stellte die These auf, dass die Welt durch die schwarze Magie der Massenmedien zu Grunde

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geht, namentlich durch die Journalistik; er sah keinen realen Ausweg aus dieser Situation. Kraus und Mauthner, genauso wie die oben erwähnten Physiker Hertz und Boltzman waren Repräsentanten der Wiener Intelektuellen der ersten zwei Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts – die Inspiration zu einer Verbindung von Magiologie und Semiologie kommt also aus Wien und ist von Beginn an mit der öffentlichen Ausübung von Zauberei durch Massenmedien verknüpft. Diese Initiativen waren zwar von Anfang an sehr ironisch und sarkastisch, das verringert ihren Beitrag aber nicht im Mindesten. Fritz Mauthner äußerte sich zur Verbindung von Worten und Dingen in ähnlicher Weise wie Frazer: „Die meisten Menschen leiden an dieser geistigen Schwäche, zu glauben, weil ein Wort da sei, müsse es auch das Wort für Etwas sein, weil ein Wort da sei, müsse dem Worte etwas Wirkliches entsprechen.“ (Mauthner 1901: 149)

Der Pope, der Pöbel und der Sprachwissenschaftler teilen dieselbe falsche Meinung, „dass nämlich die Sprache ein Werkzeug unseres Denkens sei“ (ebd.: 10), und sind sich nicht dessen bewusst, dass „die Sprache ein Gebrauchsgegenstand ist.“ (Ebd.: 23) Mauthner drückt sich deutlich aus: wo Frazer oder Weber von „Wilden“ sprechen, schreibt er: „Menschen, die „an dieser geistigen Schwäche“ leiden. Wozu ein solcher Glaube führt, ist klar: die Menschen benutzen die Sprache auf eine genauso magische Weise wie Araber die Bilder von Tieren vor der Jagd – sie glauben, dass der Besitzer eines Bildes „durch Stiche und ähnliche Verletzungen am Bilde dem Original Schaden zufügen könne“ (Mauthner 1901: 147). Wer nutzt Sprache auf solche Weise, auf den ersten Blick erkennbar als Zauber? Politiker und Ideologen. Vor allem sie rechnen weiterhin mit dem Glauben des „Wilden“ oder des an „geistiger Schwäche“ leidenden Individuums an eine feste Verbindung von Worten und Dingen. Aber Vorsicht, neben den „Popen“ und dem „Pöbel“ stellte Mauthner ohne Zögern auch den Sprachforscher. Das wichtigste Instrument der sprachlichen Magie ist also das Präsentieren der beabsichtigten oder erwünschten Wirklichkeit mit Hilfe der Sprache, dabei die Aufmerksamkeit von den „Händen“ des Magiers ablenkend – was allerdings gar nicht nötig ist, denn der Zuschauer ist in einer eigentümlichen Weise ‚schwachsinnig‘. Mauthner führte seine Analysen in dieselbe Richtung wie die spätere Semiologie, namentlich Barthes. Er lehnte die Überzeugung des naiven Realismus über die zeichenhafte Repräsenta-

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Semiologie oder Magiologie

tion der Wirklichkeit ab wie auch die falsche Überzeugung, dass die Sprache ein Instrument des Denkens ist, und vorausschauend wähle er den Weg in Richtung Zeichen-Konnotationen und Gebrauch der Zeichen („die Sprache [ist] ein Gebrauchsgegenstand“). Noch weiter ging Karl Kraus. Mit dem Titel seines Buches Untergang der Welt durch schwarze Magie trat er in direkte Opposition zu Webers Aussage von der Entzauberung der Welt. Was wir heute erleben, ist nicht die Entzauberung der Welt, sondern der Untergang der Welt durch schwarze Magie. Kraus hat gezeigt, dass ohne Massenmedien, vor allem den Buchdruck, diese Zauberei gar nicht möglich ist und er benannte ganz klar die soziale Technologie, die hierbei als ausführendes Organ wirksam wird: die Journalistik. „Und nichts ist dem Journalismus wichtiger, als die Glasur der Korruption immer wieder auf den Glanz herzurichten. In dem Masse, als er den Wucher an dem geistigen und materiellen Wohlstand steigert, wächst auch sein Bedürfnis, die Hülle der schlechten Absicht gefällig zu machen.“ (Kraus 1977: 293)

In dem Maße, indem er den Wucher mit geistigem und materiellem Wohlstand treibt, hat er einen immer höheren Bedarf. Gerade die Journalisten produzieren laut Kraus Wirklichkeit auf Bestellung, was ihnen die Sprache selbst ermöglicht, denn: „Die Sprache ist die einzige Chimäre, deren Trugkraft ohne Ende ist […]“ (Kraus 1937: 396). Die Sprache trotzt der Beschreibung, Analyse und Kritik, Sprache lässt sich nicht beherrschen; laut Kraus beherrsche ich zwar die Sprache der anderen, meine aber macht mit mir, was sie will. Durch die Ausübung der schwarzen Magie der massenmedialen Verbreitung von Botschaften wird nicht nur die Wirklichkeit vernichtet, sondern die ganze Welt. Das Modell dafür haben Journalisten entworfen, als Technologen der literarischen Form ohne Inhalt. Wir könnten sagen, dass das wichtigste und vielleicht einzige Instrument der schwarzen Magie des Weltuntergangs seelen- und inhaltsloses, aber formal und im gegebenen Genre perfektes Gerede. Mit Mauthner und Kraus sind wir zwei Schritte von dem Punkt entfernt, an dem sich schon erkennen lässt, wie sich Magie öffentlich durch Massenmedien ausüben lässt; von diesem Punkt aus kann man dem Magier sozusagen auch auf seine Hände schauen, man muss nur den richtigen Blickwinkel dafür finden. Dabei gibt es nicht nur einen. Einen guten Blickwinkel haben

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Stanislav Hubík unter anderen Mauthner und Kraus gewählt, aber ihr magiologischer Blick blieb nur an der Oberfläche des betrachteten Gegenstandes haften, also bei der öffentlich ausgeübten „schwarzen Magie“ der Sprache der Journalisten und „der Popen, des Pöbels und der Sprachforscher“. Sie sahen nicht auf die Hände der Magier. Einen guten Blickwinkel haben auch die Analytiker der Massenkultur gewählt, aber ihr magiologischer Blick konzentrierte sich nur auf die Zauberformel, mit der sich ein „gemeinsamer Nenner“ der Massenkultur schaffen lässt, auch sie sahen die Hände nicht. Einen sehr guten Blickwinkel fanden aber die Semiologen: aus ihrer Perspektive lassen sich nicht nur die meisten Instrumente betrachten, mit denen die Magier arbeiten, sondern auch die Zauberformeln und vor allem: Anleitungen zu deren Beschaffung und Anwendung. Wenn Barthes zurecht die bereits genannte These de Saussures als prophetischen Satz (vgl. Anm.3) bezeichnet hat, dann kann man die folgende Feststellung des Gründers der Semiologie einen magiologischen Satz nennen: „It is a characteristic of the language, as of any semiological system in general, that it can admit no difference between what distinguishes a certain thing and what constitutes that thing.“ (Barthes 1994: 72) Wenn wir diese beiden Sätze – den prophetischen und den magiologischen – nebeneinander stellen, sehen wir recht plastisch die heuristischen Möglichkeiten, die sie anbieten: Der prophetische Satz: die Aspekte Vorstellung oder Laut sind beim Zeichen weniger wichtig als das, was in seiner Umgebung in den anderen Zeichen existiert; Der magiologische Satz: eine Charakteristik des semiologischen Systems besagt, dass es keinen Unterschied geben kann zwischen dem, was eine Sache unterscheidet und dem, was sie hervorbringt. Beide Sätze wurden von einem Semiologen formuliert, der dadurch aber notwendigerweise in die Position eines Magiologen rückt, denn die Situation des Semiologen kann folgendermaßen beschrieben werden: „We might say that society, which holds the plane of connotation, speaks the signifiers of the system considered, while the semiologist speaks its signifieds; he therefore seems to have the objective function of decipherer (his language is an operation) in relation to the world which naturalizes or conceals the signs of the first system under the signifiers of the second, but his objectivity is made provisional by the very history which renews metalanguages.“ (Barthes 1994: 94)

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Semiologie oder Magiologie Der Semiologe soll also ‚dechiffrieren‘, er soll die Vorgänge erkennen und analysieren, die Wirklichkeit entstehen lassen, denn wenn es keinen Unterschied gibt zwischen dem, was eine Sache unterscheidet und dem, was sie hervorbringt, reicht es, sich auf das Unterscheiden dessen und in dem zu konzentrieren, was die Gesellschaft mit den Zeichen macht – auf die Ebene der Konnotationen. Wie soll dieser Semiologe vorgehen, wenn er weiß, dass ihn ein Prozess der Demaskierung oder magiologischer Untersuchung der komplizierten Welt der Konnotationen erwartet? Umberto Eco, der versucht hat, die Erkenntnisse der strukturalistischen Semiologie und der pragmatischen Semiologie in einer einzige allgemeine Theorie der Semiotik4 zu synthetisieren, widmete einen Großteil seiner Analysen einem Phänomen, das referentielle Illusion genannt wird. Dieses Phänomen machte sich bereits in dem Zitat von Frazer bzw. auch bei Fritz Mauthner bemerkbar. Um kurz darauf zurückzukommen: Frazer beschrieb den Glauben der Menschen an die Verbindung des Namens und der Person oder der Sache, die bezeichnet wird, die Überzeugung, dass diese Verbindung nicht nur willkürlich und eingebildet ist, sondern eine wirkliche Verknüpfung. Darauf wies Eco auch hin: die meisten Leute glauben, dass wenn ein Wort existiert, diesem Wort etwas Wirkliches entsprechen muss. Diese nach Mauthner „geistige Schwäche“, den Frazer den „Wilden“ zuschreibt, wird in Ecos Text ‚politisch korrekter‘ als „referentielle Illusion“ (referential fallacy) bezeichnet: „The referential fallacy consists in assuming that the ‚meaning‘ of a sign-vehicle has something to do with its corresponding object.“ (Eco 1979: 62) In der Semiologie, die sich in der Linie Saussure – Barthes – Eco entfaltet, ist das Erkennen der referentiellen Illusion (aus der Sicht der Theorie der Bedeutung bzw. der Begriffslogik handelt es sich um einen extensionalen Trugschluss, extensional fallacy) sozusagen ‚seit jeher‘ bekannt, in vielen anderen Versionen der semiotischen Analyse war und ist dem aber nicht so. Schon in der oben erwähnten Auseinandersetzung der Wiener Physiker über den Charakter der Erkenntnisse und Gegenstände 4

Es geht hier um drei verschiedene Ausdrücke: die Semiologie des strukturalistischen Typs (de Saussure und Nachfolger), die pragmatisch geprägte Semiotik (Peirce und Nachfolger) und Semiotik als allgemeine synthetisierende Theorie der Codes und Zeichenproduktion (Eco und andere). In diesem Text verfolgen wir die semiologische Linie, nicht die semeiotische; wenn wir uns auf die Semiotik Umberto Ecos beziehen, geht es um Ecos Weiterentwicklung besonders der semiologischen Theorie von Roland Barthes.

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Stanislav Hubík der Mechanik um die Jahrhundertwende setzte sich dieses Bewusstsein eines existentiellen Betrugs in der neukantianischen Argumentation, die gegen die Ontologisierung physikalischer Abstraktionen gerichtet war, durch: nach Hertz war z.B. jedes „Bild“ (jede Erkenntnis) der Mechanik nur eines der möglichen ‚Modelle‘ von Wirklichkeit. Die Argumentation gegen diesen extensionalen Trugschluss war philosophisch, ggf. logisch, nicht semiologisch. Gottlob Frege formulierte aber zu dieser Zeit ein notorisch bekanntes Beispiel, dessen Lösung in eine logische wie auch semiologische Argumentation mündete. Eco hat gezeigt, wie Freges logisches Problem der Denotation, das bei den damaligen Ontologen Bedenken hervorrief, der semiologischen Argumentation gegen die referentielle Illusion und daher auch den extensionalen Trugschluss den Weg bereitet hat: „When it is said that the expression [Evening star] denotes a certain large ‚object‘ of a spherical form, which travels through space some scores of millions of miles from the Earth (Quine, 1935, 1) one should in fact say that: the expression in question denotes ‚a certain‘ corresponding cultural unit to which the speaker refers, and which he has accepted in the way described by the culture in which he lives, without having ever experienced the real referent.“ (Eco 1979: 66)

Das ist eine Interpretation, die Denotation und Konnotation nicht mit Hilfe ontologischer, sondern semiologischer Argumente unterscheidet: die Unterscheidung basiert auf der Identifizierung von zwei Arten (Ordnungen, Regimes) von Zeichencodes: „The difference between denotation and connotation is not (as many authors maintain) the difference between ‚univocal‘ and ‚vague‘ signification, or between ‚referential‘ and ‚emotional‘ communication, and so on. What constitutes as such is the connotative code which establishes it; the characteristic of a connotative code is the fact that the further signification conventionally relies on a primary one...“ (Eco 1979: 55)

Eco führte zwei Begriffe ein, die ohne einander in seiner Theorie keinen Sinn machen – die Begriffe „kulturelle Einheit“ und „Code“. Strenggenommen ist eine kulturelle Einheit nicht nur der Abendstern genannte ‚Stern‘, der dank eines bestimmten Codes so genannt wird; die kulturelle Einheit bildet auch der Code selbst. Das bedeutet auch, dass „…die Codes setzen, sind sie von einer Gesellschaft akzeptiert, eine ‚kulturelle‘ Welt, die – im onto-

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Semiologie oder Magiologie logischen Sinn – weder willkürlich noch möglich ist“ (Eco 1991: 92). Dies finden wir aber auch in den Thesen von Roland Barthes und Ferdinand de Saussure über die ‚Umgebung‘ und den ‚Wert‘ des Zeichens wieder. Durch die semiologische Unterscheidung von Denotation und Konnotation schaffen Semiologen als Statthalter der objektiven Funktion des Dechiffrierens (Barthes) – anders gesagt: als Magiologen – die Perspektive, die die Identifikation des Zeichenzaubers ermöglicht, dank dem sich Wirklichkeit hervor- und wegzaubern lässt. Diese Perspektive lässt nämlich nur Codes übrig und nur dank Codes „kann es keinen Unterschied geben zwischen dem, was eine Sache unterscheidet und dem, was sie hervorbringt.“ (Barthes 1994: 72) Was ist also das, was eine Sache gleichzeitig unterscheidet und hervorbringt? Konstituieren Codes, wenn sie von der Gesellschaft akzeptiert werden, die kulturelle Welt, die weder wirklich noch möglich ist im ontologischen Sinn? Diese Feststellung begründen nicht mehr die Codes, zumindest nicht auf der ersten Ebene. Die Codes können nicht, im Gegensatz zum naiven Theater, aus ihrer Rolle fallen und diese Rolle auch nur für einen Augenblick zum Objekt der Zeichentätigkeit machen. Sie verkünden nicht, dass die von ihnen erschaffene kulturelle Welt „nicht ist“ – diese Aussage bleibt den Semiologen als den „Statthaltern der objektiven Funktion des Dechiffrierens“ (Barthes) vorbehalten. Die Grundlage jedes Zaubers ist, dass er die Illusion der Unterscheidung des Neuen vom Vorhergegangenen einführt und gleichzeitig die Illusion der Erschaffung des Neuen und des Verschwindens des Vorhergegangenen. Das erfordert eine zeitliche Abfolge und ein Spiel mit dem Licht. Die Zeitfolge ist die Voraussetzung jeder Zeichentätigkeit, der Umgang mit der Zeit gehört zum Code; daher ist die Zeit von Anfang an Bestandteil von semiologischen Analysen. Aber wieso ein Spiel mit dem Licht? Licht erscheint in der semiologischen Perspektive in dem Augenblick, als sich die Semiologie mit der Analyse konkreter Medien verbindet (z.B. bei Flusser, Virilio oder auch Derrida). Die Unterscheidung des Neuen vom Vorhergegangenen und sein Verschwinden (obgleich nicht notwendigerweise) ist ein Prinzip, das die Entzauberung der Welt als auch ihren Untergang durch die schwarze Magie der Zeichentätigkeit ermöglicht. Die „kulturelle Welt“, die nicht in einem ontologischen Sinn möglich ist, wird zu einer solchen in dem Augenblick, wenn ein Code aufkommt, der eine referentielle Illusion einführt oder eine bereits eingeführte Illusion verstärkt. Wenn der Code selbst eine kulturelle Einheit ist, lässt er

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Stanislav Hubík sich auf verschiedene Weise anpassen: langsam, schnell, teilweise, grundlegend. Allerdings nur in dem Fall, dass er klar identifiziert wird. Das ist möglich und in gewisser Weise sogar einfach, denn kulturelle Elemente sind physisch in unserer Macht (Barthes). Auch dieser Satz ist magiologisch, denn der Zauber kann nur dann funktionieren, wenn der Zauberer die Instrumente zur Realisierung in seiner Macht hat. Alles ‚Kulturelle‘ hat seine statische und seine dynamische Seite. Zur ersten gehört die Erhaltung, zur zweiten die Veränderung. Die Veränderung des „Kulturellen“ kann auch absichtlich geschehen; den Impuls zu Veränderungen grundlegender Art (sozusagen der ganzen Kultur) kann auch eine kleine Gruppe von Menschen geben, sogar eine Person. Eco versteht Kultur ohne Zweifel in beiden Dimensionen, der statischen und der dynamischen, was der dritte Teil seiner Theorie der Semiotik beweist, der den Problemen der Zeichenproduktion gewidmet ist. Eco betont hier, dass sich der Zeichencode auch aufgrund der Invention von Einzelpersonen ändern kann, obwohl es einige Zeit braucht, bis die Neuerung von der Mehrheit akzeptiert wird. „In der Tat gibt es nie Fälle reiner radikaler Erfindung, ja nicht einmal reiner gemäßigter Erfindung, denn […] Semiose entsteht niemals ex novo und ex nihilo. Nur auf dem Hintergrund einer alten Kultur kann eine neue Kultur ins Dasein treten.“ (Eco 1991: 338), aber darum geht es uns nicht an erster Stelle. Aus der magiologischen Sicht ist die Frage „Wie wird das gemacht?“ wichtiger und auf diese Frage antwortet Eco: ästhetisch, und zwar im ursprünglichen Wortsinn. Der erste Schritt muss dabei das Erkennen der gegebenen Neuerung sein und das geht nur durch sinnliche Wahrnehmung. So wie der Zauber spricht auch die Zeichentätigkeit zuerst unsere Sinne an. Es geht um „eine ganz besondere Arbeit, nämlich eine Bearbeitung des Ausdrucks, diese Bearbeitung des Ausdrucks löst aus eine (und wird ausgelöst von einer) Neubewertung des Inhalts…“ (ebd.: 347) und kann zur Legitimierung eines neuen Codes führen – des Codes, der sie ermöglichte. Wir müssen betonen, dass mit „ganz besonderer Arbeit“ hier etwas gemeint ist, was die Sinne anspricht. Damit befindet sich Eco jenseits der Grenzen der Semiologie, auf dem Gebiet mediologischer Spekulationen. Die Einführung einer referentiellen Illusion kann also durch eine Manipulation mit dem Ausdruck unterstützt werden, also eine Manipulation, die sich an die Sinne richtet; aus der Sicht der Semiologie ist aber wichtiger, dass die Einführung der referentiellen Illusion wesentlich durch die Wirksamkeit des extensiona-

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Semiologie oder Magiologie len Trugschlusses unterstützt werden kann. Dieser bezieht sich auf Begriffe als festgelegte Bedeutungen. Unser Denken ist begrifflich und das moderne begriffliche Denken stark institutionalisiert: das Ziel der Institutionen, die das begriffliche Denken pflegen, ist die Schulung einer bestimmten Denkweise oder die Schulung des Denkens in bestimmten Codes. Dieses begriffliche Denken wird in Ausbildungseinrichtungen gehütet und auf verschiedene Weise von Medien karikiert. Eine analytische Beschreibung dieser Institutionen als Rationalisierungskomplexe lieferte Jürgen Habermas (vgl. Habermas 1981). Er machte auch in Anknüpfung an Austins Thesen auf die einfachste Art der Verstärkung des extensionalen Trugschlusses aufmerksam: durch den Tausch von Zeichenträgern, bei Habermas der Sprechakte. Wenn wir z.B. anstelle eines regulativen Sprechaktes, der mitteilt, dass etwas richtig ist, weil „es so sein sollte“ einen konstativen Sprechakt benutzen, der mitteilt, dass „es (schon) so ist“, verstärken wir die extensionalen Trugschlüsse wesentlich – durch Ontologisierung. Das Konditional lässt sich nicht ontologisieren, eine Feststellung schon. Zweckrationalität – und das oben genannte Beispiel ist das Ergebnis der Zweckrationalität – erhebt den Geltungsanspruch Wahrheit, mit dem konstative Sprechakte (Habermas 1983: 104) korrespondieren. Es muss nicht betont werden, dass eine weitere zuverlässige Verstärkung des extensionalen Trugschlusses, eo ipso der referentiellen Illusion, die Unterstützung des konstativen Sprechaktes durch den expressiven Sprechakt bietet. Das eigentliche Feld der Magie ist das Spiel mit der Zeit und das Spiel mit dem Licht. Das eigentliche Feld der Zeichenmagie ist das Spiel mit dem Raum und das Spiel mit den Konnotationen. Die Hände des Zauberers sind flink, der Zauber ist in einem Augenblick vollbracht. Oder der Zauberer geht langsam vor, aber spielt mit Licht und Schatten. Ein Magier, der mit Zeichen zaubert, braucht Raum, Ferne, Distanz – und mit der Entwicklung der technischen Medien, beginnend mit der Schrift, braucht er auch Licht. Wie Derrida betonte, verliert die Repräsentation durch Zeichen in dem Augenblick ihren Sinn, wenn sich die Distanz zwischen dem Zeichen und dem, was das Zeichen repräsentiert, auf ein Minimum verkürzt: was in Abwesenheit repräsentiert werden soll, erscheint nach der Abschaffung der Distanz hier und jetzt – deswegen sind keine Zeichen mehr nötig, die dieses vorher Abwesende repräsentierten: es ist da (vgl. Derrida 1999: 85f). Daher muss sich der Zeichen-Zauberer nicht nur um die Erhaltung der referentiellen Illusion kümmern – er muss auch zusehen, dass

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dauerhaft die größtmögliche Distanz zwischen dem Zeichen und dem repräsentierten Referenten gewahrt bleibt, denn er weiß: „Every attempt to establish what the referent of a sign is forces us to define the referent in terms of an abstract entity which moreover is only a cultural convention.“ (Eco 1979: 66; Herv. im Orig.), was die nötige Distanz nicht verringert, im Gegenteil. Der Magier schafft immer weiter abstrakte Begriffe, ruft immer wieder reichlich begrifflich unterfütterte Diskussionen und ihre Karikaturen hervor, denn der Magier weiß, dass der extensionale Trugschluss die referentielle Illusion verstärkt, er weiß, umso weiter die Beschreibung des Zeichenreferenten dank abstrakter Begriffe gelangt, umso dauerhafter und größer wird die Distanz zwischen dem Zeichen und dem Referenten. Auch die Zeichenmagie hat daher einen Todfeind in der relativistischen Längenkontraktion und Zeitdilatation. Aus der Sicht der praktischen Verwendung der Zeichen ist der Unterschied zwischen Denotation und Konnotation dieser: Denotation als kulturelle Einheit oder semantische Eigenschaft ist gleichzeitig eine kulturell anerkannte Eigenschaft ihrer möglichen Referenten; Konnotation als kulturelle Einheit oder semantische Eigenschaft kann gleichzeitig eine kulturell anerkannte Einheit ihrer möglichen Referenten sein – muss es aber nicht sein (vgl. Eco 1979: 85 ff). „Kulturell anerkannt“ sind im gegebenen Zusammenhang die Operationen mit Zeichen gemäß dem entsprechenden Code. Es gilt dann eine einfache Implikation: wenn sich der Code ändert, ändert sich auch die Denotation. Es gibt da aber noch einen viel wichtigeren Punkt. Eco präzisierte seine unwillkürlich magiologischen Untersuchungen in dem Moment, als er die Unterschiede zwischen denotativen und konnotativen Indikatoren erklärte. Diese Indikatoren sagen etwas über die Positionen im semantischen System aus: „(i) a denotative marker is one of the positions within the semantic system to which the code makes a sign-vehicle correspond without any previous meditation; (ii) a connotative marker is one of the positions within a semantic system to which the code makes a sign-vehicle correspond through the mediation of a preceding denotative marker, thus establishing a correlation between a sign-function and a new semantic unit.“ (Eco 1979: 85)

Diese zwei Sätze lassen sich aber auch umgekehrt lesen, magiologisch – in ähnlicher Weise, wie Eco Freges Beispiel des Abendund Morgensterns las. Der Zeichenträger oder Zeichen, das dem „preceding denotative marker“ entspricht, lässt sich doch dank

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Semiologie oder Magiologie eines Zeichenträgers (Zeichens), das dem „konnotativen Indikator“ entspricht, erzeugen – man muss den Eindruck erwecken, dass wirklich dasjenige voranging, was eine Denotation sein soll und was letztendlich ontologisiert werden und für wirklich oder nicht wirklich erklärt werden soll. Was nicht schwierig ist, da hier alles eine Frage des Zusammenspiels der Codes ist und diese nur kulturelle Einheiten sind und als solche bekanntlich ‚physisch in unserer Macht‘. Ecos magiologische Untersuchung der Denotation und Konnotation führt so zu dem Schluss, dass eine Denotation mit Hilfe einer Konnotation erzeugt werden kann, denn „the characteristic of a connotative code is the fact that the further signification conventionally relies on a primary one...“ (Eco 1979: 55) ‚Konventionell‘ kann im gegebenen Zusammenhang kulturell sehr stabil sein, es wird jedoch semiologisch immer instabil sein. Durch einen intentionalen Eingriff kann das ‚Ursprüngliche‘ durch ‚nicht Ursprüngliches‘ ersetzt werden, was Eco am Fall der ästhetischen Erfindung, die den Code ändert, erklären kann. Das Ziel eines solchen Eingriffs oder Zeichen-Zaubers ist der Code. Eine notwendige Konsequenz ist in dieser Konzeption der Denotation und Konnotation die Zersetzung der „Eigenschaften des Referenten“ oder sogar der Untergang des Referenten (aus der magiologischen Sicht das Ende der Wirklichkeit). Ein Problem stellt der denotative Indikator dar, der durch den Code erzeugt wird, erklärtermaßen ohne jegliche vorhergehende Vermittlung: er ist nie ursprünglich oder erster, im besten Fall ist er ‚früher da‘. „Der Mensch erzeugt und erneuert beständig Codes, aber nur weil es Codes bereits gibt.“ (Eco 1991: 339) Strenggenommen weist die Denotation die Eigenschaften des Referenten im ontologischen Sinn einfach deshalb nicht auf, weil ihr diese Eigenschaften konnotativ „hinzugefügt“ wurden: nur die Tatsache der Zeitabfolge macht aus der früheren Konnotation nun eine Denotation. Diese Kette ließe sich nur durch direkte Erfahrung unterbrechen – was aber nicht mehr Sache der Semiologie ist. Eine wichtige magiologische Erkenntnis. Derrida hat gezeigt, dass ein Zeichen-Magier noch günstigere Situationen finden kann als Eco und Semiologien wie de Saussure oder Barthes gedacht hatten. Sprache braucht kein Licht, nur Zeit und Raum. Schrift aber braucht nicht nur Zeit und Raum, sondern auch Licht. Der Sprach-Magier braucht Raum und Zeit zur Erzeugung einer Distanz zwischen Zeichen und Referenten und so, vermittelt, zur Erhaltung der referentiellen Illusion. Der Schrift-Magier hat noch geschwungene unterbrochene Linien zur Verfügung, aus denen er den Text webt, der angeblich

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zweierlei Wirklichkeit repräsentiert: zunächst die Wirklichkeit der gesprochenen Sprache und dann auch die Wirklichkeit, über die die aufgeschriebene Sprache sprach. Die lineare Schrift repräsentiert direkt keine Wirklichkeit – es ist nur eine unterbrochene Linie. Ihr müssen also dank Codes, kultureller Codes, Bedeutungen zugeordnet werden. Die Korrespondenz zwischen den Linien und den Bedeutungen muss absolut stabil sein, sonst kann man „es nicht lesen“, nicht verstehen. Die lineare Schrift trug sehr viel zur Stabilisierung der griechischen Erfindung, des begrifflichen Denkens, bei, denn es stabilisierte den Begriff in der Zeit. Die lineare Schrift vervielfacht die Möglichkeiten des Zeichen-Magiers: die Schrift, die sich zwischen Mensch und Wirklichkeit stellte, macht aus ihm ein Opfer der Konnotationen, gibt den Leser wörtlich den Konnotationen preis. Dies führt ihn ins Reich der Abstraktionen der zweiten Ordnung (Flusser 2006: 16), wo er in der Umgebung des Zeichens zwei sehr verschiedene Ebenen der Konnotation suchen muss: eine, die ihn über die Grenze der Abstraktionen der zweiten Ordnung zurück zu den Bildern der Wirklichkeit führt, und eine zweite, die ihn über die Grenze der Abstraktion des ersten Grades zur Wirklichkeit selbst führt – wie er in Folge des extensionalen Trugschlusses meint. Im Falle der Kommunikation durch Bilder ist dies nicht so kompliziert, die Ebenen der Konnotation sind nicht verdoppelt, die Codes sind einfach. Im Falle der Kommunikation durch Sprache ist es schwieriger und im Fall der phonetischen Schrift noch viel komplizierter und der Raum für das magische Spiel von Licht und Schatten fast unendlich. Der Zeichen-Magier ist sich dessen sehr wohl bewusst und kann daher, in einer Zeit die es ihm erlaubt, verschiedene Zeichenmedien kombinieren. Nicht nur die Stimme, sondern auch das Bild, nicht nur Stimme und Bild, sondern auch Schrift, nicht nur Stimme, Bild und Schrift, sondern auch das technische Bild. Mit diesen drei (bzw. vier) Medien ausgestattet kann der Zauberer alles machen. Er geht davon aus, dass der einzelne Mensch, der seiner magische Vorstellung folgt, sich in kurzer Zeit nicht aus einer so schwierigen Kombination von Ebenen der Konnotationen befreien kann und glauben muss, dass es außer Konnotationen nichts gibt, und wenn ja, lässt sich darauf wieder nur mit Konnotationen verweisen; Flusser fasste dies in einen Satz, der nichts und niemanden schont: „Denn es gibt nichts mehr dort draußen.“ (Flusser 1992: 42) Wenn da ‚draußen‘, außerhalb der Welt der Zeichen, doch noch etwas existiert, können wir es nicht erreichen, denn Wege ‚nach draußen‘, zur Wirklichkeit, gibt es so viele, wie viele Leseweisen eines Textes

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Semiologie oder Magiologie der linearen Schrift es gibt. Und das sind sehr viele, denn nicht nur Zeichen, sondern auch ein konkreter Text der linearen Schrift hat seine „Umgebung“ und seinen „Geltungsanspruch“ und diese nehmen riesige Ausmaße an. Zwar ist es möglich, bis zu den ‚geheimnisvollen Impulsen‘ vorzudringen, ‚die den riesigen und komplizierten Mechanismus der Welt in Gang bringen‘ (Frazer), aber nur zu manchen Impulsen und für den Preis einer erheblichen Reduktion ihrer Anzahl, wie es z.B. schon seit einhundert Jahren die Semiologie zeigt.

3 Diese Überlegungen führen uns immer wieder von der Semiologie weg und hin zur Medienforschung, sagen wir Mediologie. Ohne Zweifel wird die Verbindung von Semiologie und Mediologie zu weiteren interessanten magiologischen Analysen führen, welche aber über diese Überlegungen hinausgehen würden. An dieser Stelle wollen wir zeigen, dass die Semiologie eine Art Magiologie sein kann. Wir kehren also zu Derridas Konzept der Semiologie als Grammatologie zurück, um darauf hinzuweisen, dass in der grammatologischen Perspektive die Möglichkeiten eines ZeichenMagiers noch weitaus größer sind als die, die sich aus den semiologischen Modellen herleiten lassen. Unser Ausgangspunkt wird hierbei die Interpretation sein. Ferdinand de Saussure, Roland Barthes und weitere Semiologen interpretieren das, was ihrer Ansicht nach mit der Zeichentätigkeit des Menschen zusammenhängt. Gegebenenfalls interpretieren sie Konkurrenztheorien. Das Problem der Interpretation als Element der diskursiven Trajektorie, genauso wie das Problem der Interpretation als Element der metadiskursiven Trajektorie wird in ihren Theorien aber nicht explizit behandelt. Beide Probleme thematisierte Jacques Derrida (Derrida 1999: 137/138). Er kam zu Ergebnissen, die zwar wohlbekannt sind, aber manchmal nicht in Betracht gezogen werden, vielleicht gerade weil sie im Grunde magiologisch anmuten. Zum Problem der Interpretation meint Derrida: „Es gibt somit zwei Interpretationen der Interpretation, der Struktur, des Zeichens und des Spiels. Die eine träumt davon, eine Wahrheit und einen Ursprung zu entziffern, die dem Spiel und der Ordnung des Zeichens entzogen sind, und erlebt die Notwendigkeit der Interpretation gleich einem Exil. Die andere, die dem Ursprung nicht länger zugewandt bleibt, bejaht das Spiel

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Stanislav Hubík und will über den Menschen und den Humanismus hinausgelangen, weil Mensch der Name des Wesens ist, das die Geschichte der Metaphysik und der Ontologie hindurch, das heißt im Ganzen seiner Geschichte, die volle Präsenz, den versicherten Grund, den Ursprung und das Ende des Spiels geträumt hat.“ (Ebd.: 194)

So ein ‚versicherter Grund‘ und ‚Urspung des Spiels‘ soll auch jene Absenz einer vorhergegangenen Vermittlung sein. Es ist egal, ob diese „previous mediation“ (Eco) den denotativen Indikator oder etwas völlig anderes betrifft. Hier wird eine bestimmte Überzeugung hinsichtlich des Charakters der Untersuchung ausgedrückt. Umberto Eco hat Interpretationen ersten Grades unterschieden, für die Naturwissenschaften zuständig sind, und Interpretationen zweiten Grades, die den Humanwissenschaften zuzuordnen sind und auch Interpretationen von Interpretationen, die für ihn Interpretationen anderer Systeme sind, bzw. Knotenpunkte verborgener Interpretationen (Eco 2002: 428) – hier ersetzen die interpretierten Interpretationen faktisch das Objekt der vorhergehenden Interpretation. Damit rückte Eco in die Nähe von Derridas Thesen zur Möglichkeiten der Interpretation der Interpretation, seine Position war jedoch nicht identisch mit Derridas, obwohl seine Auffassung, dass das Zeichen etwas ist, was interpretiert werden kann (ebd.: 413) in Ecos Richtung (und magiologische Untersuchungen) weist. Derrida schätzte an der strukturalistischen Semiologie, dass sie sich ausdrücklich vom Bezug zu einem Zentrum, einem Subjekt, einer privilegierten Referenz, einem absoluten Ursprung lossagte. In seinem Text zur différance begründete er, warum die strukturalistische Semiologie solche metaphysischen Begriffe verfehlen muss (vgl. Derrida 1999), warum die Denotation eigentlich eine bloße privilegierte Konnotation ist. Und in der Grammatologie betonte er, dass die Überzeugung, die auf strengen Oppositionen basiert, und der Glaube an ihre endgültige Begründung in der Beziehung zu einem bestimmten Referenten nur als Träumerei verstanden werden kann: es ist der Traum von „der einfachen Exteriorität des Todes gegenüber dem Leben, des Bösen gegenüber dem Guten, der Repräsentation gegenüber der Präsenz, des Signifikanten gegenüber dem Signifikat, des Repräsentanten gegenüber dem Repräsentierten, der Maske gegenüber dem Gesicht, der Schrift gegenüber dem gesprochenen Wort.“ (Derrida 1983: 540)

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Semiologie oder Magiologie Es kommt darauf an, wie Interpretation verstanden wird: die metaphysische Auffassung glaubt an feste archimedische Punkte, der andere Zugang glaubt nicht daran. „An mehr als einem Anzeichen könnte man heute ablesen, daß diese beiden Interpretationen der Interpretation – die gänzlich unversöhnbar sind, wenn wir sie auch gleichzeitig erleben und in einer dunklen Ökonomie versöhnen – sich in das Feld dessen teilen, was auf so bedenkliche Art Wissenschaften vom Menschen genannt wird.“ (Derrida 1999: 138)

Das ist wiederum ein wichtiger magiologischer Satz. Er besagt, dass sich die Menschen einerseits an die metaphysische Suche der gerade beschriebenen Art gewöhnt haben, andererseits an die Verwechslungen und Vermischung der einen Art von Interpretation mit einer anderen – je nach Bedarf. Und das betrifft auch Wissenschaftler, denn es heißt bei Derrida „Wissenschaften vom Menschen“. Er zählt eine recht große Gruppe von Wissenschaftlern auf dem Gebiet der Humanwissenschaften zu jenen Individuen, die Frazer und Weber mit Hilfe des Ausdrucks „Wilder“ charakterisieren und Mauthner dann ‚Pöbel‘, ‚Pope‘ und ‚an geistiger Schwäche leidend‘ nannte; Jean-Francois Lyotard benutzte dann den Ausdruck ‚totalitär‘. Wir haben gezeigt, dass Semiologie auf ihre Art Magiologie sein kann. Die Voraussetzungen und Verfahrensweisen der Zauberei mit Zeichen, die die Semiologie aufdeckte, sind recht einfach, aber erstaunlich effektiv. Noch größeres magiologisches Potential zeigt sich, wenn wir unter magiologischen Gesichtspunkten die Ergebnisse überdenken, zu denen die semiologische Forschung in Verbindung mit der mediologischen Forschung gelangt – was allerdings eine längere eigenständige Analyse verlangte. Wir versuchen hier einige grundlegende Voraussetzungen „des Untergangs der Welt durch schwarze Magie“ in Zeichentätigkeiten zusammenzufassen oder im Gegenteil die „Entzauberung der Welt“ durch die weiße Magie der Zeichenoperationen. Die erste Voraussetzung einer erfolgreichen Zeichenmagie ist eine möglicherweise auch unbewusste Annahme: die Idee einer Repräsentation durch Zeichen, nach der das Zeichen im Sinne von aliquid stat pro aliquo verstanden wird, wobei allerdings eingeräumt werden muss: „Properly speaking there are no signs, but only sign-functions.“ (Eco 1979: 49) Diese Idee kann nämlich eine ‚stille Semiotik‘ begründen, die im alltäglichen Leben die meisten Menschen anwenden, die in den Humanwissenschaften bewanderten mit eingeschlossen. Die stille Semiotik ist die Summe der

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unbewussten, normalerweise nur intuitiv genutzten ‚Meinungen‘ zum Charakter von Zeichen und Zeichentätigkeit. Die stille Semiotik zählt aus phänomenologischer Sicht zu den wichtigsten Bestandteilen einer relativ natürlichen Haltung des Individuums und sie lässt sich einerseits aus der alltäglichen nichtreflektierten Kommunikation rekonstruieren, andererseits aus der Reflexion alltäglicher Kommunikation. Die zweite Voraussetzung einer erfolgreichen Zeichenzauberei ist die referentielle Illusion, die in der Selbstverständlichkeit der Repräsentation verwurzelt ist und um die sich die stille Semiotik der alltäglichen Kommunikation dreht. Die referentielle Illusion wird wesentlich – besonders in der Epoche der ‚Entzauberung der Welt‘ – durch rational interpretierte Begriffe, also durch den extensionalen Trugschluss verstärkt. Hier kommt eine effektive Synergie zum Tragen: durch den extensionalen Trugschluss wird die referentielle Illusion verstärkt, durch die referentielle Illusion wird die stille Semiotik der Repräsentation verstärkt, die stille Semiotik der Repräsentation dann ontologisiert. Diese Voraussetzungen müssen allerdings ständig aufrecht erhalten werden. Die Zeichenmagie muss sich daher um die Erhaltung der räumlichen und zeitlichen Distanzen zwischen der Repräsentation und dem repräsentierten Referenten bemühen. Die Erzeugung der Wirklichkeit mit Hilfe der referentiellen Illusion oder mit Hilfe des ihr nahestehenden extensionalen Trugschlusses hängt von der Vorgehensweise des Zauberns selbst ab. Der erste Trick der Magie ist die absichtliche Zuordnung des Referenten zur Denotation. Dieser magische Schritt ist einfach, wenn die Denotation verfügbar ist. Falls nicht, muss sie durch einen zweiten magischen Trick geschaffen werden, und zwar durch die Situierung verschiedener Konnotationen in entsprechende zeitliche Zusammenhänge und darauf folgend die Ernennung einer der Konnotationen zur Denotation. In beiden Fällen müssen adäquate Codes gefunden und ausgewählt werden, nach Bedarf ästhetisch (einfacheres Prinzip, arbeitet ohne schwierigere Begriffe) oder logisch (schwieriger, da hier mit theoretischen begriffen gearbeitet wird) angepasst. Eine Wirklichkeit, die aus Referenten besteht, die entsprechenden Denotationen zugeordnet werden, welche aus Konnotationen gewonnen wurden, muss noch stabilisiert und ‚gewartet‘ werden. Die Stabilisierung der Wirklichkeit, die aus Referenten gewonnen wurde, wird in einem dritten magischen Schritt bewerkstelligt, in dem der Zeichen-Magier einen größtmöglichen Raum seinem Publikum einräumt, damit es sich von der Echtheit der ge-

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Semiologie oder Magiologie

schaffenen Wirklichkeit überzeugen kann. Dieser magische Schritt bietet eine Ebene von Konkurrenzkonnotationen an, die so ausgewählt wurden, dass ihre Anwendung zum selben Ziel führt, zu der geplanten Denotation, und zwar aufgrund der ‚freien‘ Entscheidung des Publikums. Diese Vorgehensweise des Zauberers kann dann einen analogen Vorgang auf der Ebene der Codes unterstützen. In einem vierten Schritt der Zeichen-Magie werden dann mehrerer Codes – auch scheinbar konkurrierende – angeboten, aus denen das Publikum wiederum frei wählen darf, denn alles ist so vorgefertigt, dass das Ergebnis stets das Gleiche bleibt. Der dritte und vierte Schritt lässt sich vervielfachen, z.B. in Form einer erhöhten Anzahl der Botschaften oder Texte, Fernsehkanäle oder verschiedener Personen, die dasselbe sagen – aber immer anders. Das Verschwinden der Wirklichkeit dank der referentiellen Illusion lässt sich einerseits durch die Rücknahme der entsprechenden Codes aus dem Umlauf bewirken, andererseits durch die zeitliche Schichtung von Codes, die funktionell in Bezug zueinander stehen. Im ersten Fall, der Rücknahme von Codes aus dem Umlauf, verschwindet der Referent als ontologisierte Einheit, weil das kulturelle Instrument seiner Identifizierung/Erzeugung fehlt. Im zweiten Fall, der zeitlichen Schichtung der Codes, wird eine solche Distanz zwischen dem Referenten und der Denotation erzeugt, dass sie nicht beschreibbar oder analysierbar ist und man sozusagen nicht mehr weiß, wo eigentlich der Referent ist. Das ist die Grundlage der Simulation: wenn ein dritter Code nach dem zweiten Code geschaffen wurde, der dank dem ersten Code entstanden ist; es existiert aber kein Code, der zuverlässig ihre zeitliche Schichtung unterscheiden könnte und ihre funktionalen Zusammenhänge. Da kommen dann aber üblicherweise verschiedene Arten von Medien ins Spiel, durch die der Zauber an Kraft gewinnen kann…5 Aus dem Tschechischen von Kateřina Krtilová

Literatur Barthes, Roland (1994): Elements of Semiology, New York: Hill and Wang. Baudrillard, Jean (1995): Le crime parfait, Paris: Galilée.

5

Die erste (tschechische) Fassung dieses Textes ist erschienen in Kultura, média, komunikace 1 (2009).

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Derrida, Jacques (1999): „Die différance“, in: Peter Engelmann (Hg.), Postmoderne und Dekonstruktion, Stuttgart: Reclam. Derrida, Jacques (1983): Grammatologie, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Eco, Umberto (2002): „O humanitních vědách“, in: ders., O zrcadlech a jiné eseje [Über Spiegel und andere Essays], Praha: Mladá fronta. Eco, Umberto (1991): Semiotik – Entwurf einer Theorie der Zeichen, München: Fink. Eco, Umberto (1979): A Theory of Semiotics, Bloomington: Indiana University Press. Flusser, Vilém (2006): Für eine Philosophie der Fotografie, Berlin: European Photography. Flusser, Vilém (1992): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography. Frazer, James G. (2008): The Golden Bough, Charleston: Forgotten Books. Habermas, Jürgen (1983): Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Habermas, Jürgen (1981): Theorie des kommunikativen Handelns Bd. 1, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Hubík, Stanislav (1991): „Physics without Metaphysics“, in: Václav Prosser/Jaroslav Folta (Hg.), Ernst Mach and the Development of Physics, Praha: Karolinum. Kraus, Karl (1977): „Heine und die Folgen“, in: Karl Kraus, Ausgewählte Werke Bd. 1, Berlin: Verlag Volk und Welt. Kraus, Karl (1937): Die Sprache, Wien: Fackel. Lévi-Strauss, Claude (1991): Das wilde Denken, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Mauthner, Fritz (1901): Beiträge zu einer Kritik der Sprache Bd. 1, Stuttgart: Cotta. Morris, Charles W. (1997): „Základy teorie znaku“ [Grundlagen einer Theorie der Zeichen], in: Bohumil Palek, Sémiotika, Praha: Univerzita Karlova. Tejera, Victorino (1988): Semiotics from Peirce to Barthes, Leiden/New York: E.J.Brill. Weber, Max (1992): „Wissenschaft als Beruf“, in: Horst Baier et al. (Hg.), Max Weber, Gesamtausgabe Bd. 17, Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck).

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Begriff, Bild und Medialität JIŘÍ BYSTŘICKÝ „Die Bilder werden immer begrifflicher, die Texte immer imaginativer. Gegenwärtig ist die höchste Begrifflichkeit in konzeptuellen Bildern (zum Beispiel Computerbildern), die höchste Imagination in wissenschaftlichen Texten zu finden.“ (Flusser 2006: 11)

1 Der folgende Beitrag ist ein Versuch, ‚Denken‘ aus der philosophischen Tradition heraus in seiner Medialität zu erfassen. Den Begriff als eine Art (Grund-)„Medium“ des Denkens werde ich dabei dem Bild gegenüberstellen, Begriff und Bild als zwei Formen der Vermittlung differenzieren und unter dem Aspekt der Medialität ihre Verbindung näher bestimmen. Im Denken des Bildes als Medium wird die Medialität des begrifflichen Denkens deutlich, umgekehrt ersetzt die Medialität des Bildes, als ‚Darstellung‘ des Begriffs aufgefasst, die Bewegung des Begriffs; ein Kreis, der hier nicht sozusagen in eine Linie aufgerollt werden soll, sondern eher in mehrere Kreise aufgeteilt, deren Schnittpunkte dann den Zugriff auf die jeweilige Bahn erlauben. Eine entsprechende Theorie wird von Transitivität bestimmt: „Denn Theorie ist ebenso wie ihr Gegenstand etwas, das man macht.“ (Deleuze 1997: 358) Zunächst müssen aber einige Voraussetzungen dieser Untersuchung geklärt werden: erstens lässt sich weder durch Beschreibung (Begriffe) noch Darstellung (Bilder) die Konstruktion der Wirklichkeit erschöpfen. Begriffe und Bilder gehören zu den „grundlegenden Codes“ (Flusser 1999: 34ff), die Wirklichkeit kann aber weder erschöpfend beschrieben noch dargestellt werden. Eine Philosophie der Medialität1 muss daher Schnittpunkte beider

1

Zur Problematik einer Philosophie der Medialität gegenüber der sozialwissenschaftlichen Medientheorie vgl. Bystřický 2007: 32ff.

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Jiří Bystřický

Medien suchen und untersuchen, wobei eine ‚Vergleichbarkeit‘ der unterschiedlichen Formen der Vermittlung vorausgesetzt werden muss, aber ihre Heterogenität gewahrt bleibt, wie im Falle der ‚Modularität‘ bei Deleuze: „Analogical synthesizers are ‚modular‘: they establish an immediate connection between heterogenous elements…“ (Deleuze 2005: 81). Zweitens muss bestimmt werden, wie Begriff und Bild als Medien gedacht werden können. Dabei können wir auf den Begriff Dispositiv zurückgreifen2, wie ihn Giorgio Agamben, ausgehend nicht nur von Foucault, sonder auch Heidegger und dem dispositio der Theologie bestimmt: „Als Dispositiv bezeichne ich alles, was irgendwie dazu imstande ist, die Gesten, das Betragen, die Meinungen und die Reden der Lebewesen zu ergreifen, zu lenken, zu bestimmen, zu hemmen, zu formen, zu kontrollieren und zu sichern. Also nicht nur Gefängnisse, Irrenanstalten, das Panoptikum, die Schulen, die juristischen Maßnahmen etc., deren Zusammenhang mit der Macht in gewissem Sinne offensichtlich ist, sondern auch der Federhalter, die Schrift, die Literatur, die Philosophie, die Landwirtschaft, die Zigarette, die Schifffahrt, die Computer, die Mobiltelefone und – warum nicht – die Sprache selbst, die das vielleicht älteste Dispositiv ist [...] Kurz, wir haben also zwei große Klassen, die Lebewesen (oder die Substanzen) und die Dispositive. Und zwischen den beiden, als Drittes, die Subjekte. Subjekt nenne ich das, was aus der Beziehung, sozusagen dem Nahkampf zwischen den Lebewesen und den Dispositiven hervorgeht.“ (Agamben 2008:26-27)

Zum einen bedeutet aus dieser Perspektive Vermittlung eine bestimmte Disziplinierung des Denkens im Sinne der Beherrschung oder Verwendung von bestimmten Techniken (in diesem Sinne der Verweis auf das „Gestell“, „dispositio“ usw.), also auch das Hinsteuern auf ein im Voraus gegebenes Ziel, das jegliche Bewegung des Begriffes bestimmt.3 Das vorrangige Ziel ist dabei, betont Agamben „… das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine

2

3

Vgl. auch Lorenz Engells Verwendung des Begriffs „Dispositiv“ (mit dem Verweis vor allem auf Deleuze und Baudry), der mit ihm eine „Schicht“ der Medialität charakterisiert (Engell 2000: 282). Im Sinne von Agamben: „Die Gemeinsamkeit all dieser Termini [Gestell bei Heidegger, dispositio in der Theologie und das Dispositiv bei Foucault, JB] besteht darin, auf eine oikonomia zu verweisen, das heißt auf eine Gesamtheit von Praxen, Kenntnissen, Maßnahmen und Institutionen, deren Ziel es ist, das Verhalten, die Gesten und die Gedanken der Menschen zu verwalten, zu regieren, zu kontrollieren und in eine vorgeblich nützliche Richtung zu lenken.“ (Agamben 2008: 24)

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Begriff, Bild und Medialität

vorgeblich nützliche Richtung zu lenken.“ (Agamben: 2008: 24) Der Begriff formalisiert das Denken auf verschiedenen Ebenen der Abstraktion, gibt dem Denken eine Form, ohne die es schlichtweg unmöglich ist, die aber wiederum das Denken in eine bestimmte Richtung lenkt, begrenzt, kontrolliert4. Auf der anderen Seite offenbart sich im Dispositiv die Form des Denkens (zeigen sich die Strukturen des Wissens, der Macht etc.). Das Konzept des Dispositivs impliziert, dass sich sozusagen die Formate des Denkens rekonstruieren und auch die entsprechenden ‚Sachverhalte‘ auf verschiedenen Ebenen re-kombinieren lassen lassen. Dieses System der Transparenz – als eine erste Annäherung an die Medialität – kann in Anlehnung an die Technik der Darstellung des tschechischen Malers Mikuláš Medek verstanden werden: „Oft übermale ich einzelne Schichten so lange, bis ich mir sicher bin, dass die meisten von ihnen nicht mehr mit bloßem Auge zu erkennen sind. Mir geht es darum, dass die finale Oberfläche des Bildes nicht durch seine Reduktion auf eine einzige Schicht irreführend wirkt, sondern auf seine Tiefe verweist, auf verborgene Schichten, die dem Bild seine Bedeutung dadurch verleihen, dass sie auf Prozesse verweisen, die es ermöglicht haben.[…] Die verdeckten Schichten sind das, was dem Bild Gewicht verleiht, es reicht nicht nur zu schauen, sondern man muss kombinieren und die Prozesse durchdenken, ohne die die Bilder nicht vollendet wären.“ (Medek 1995: 264/265)5

Wir können hier von zwei Arten der Oberfläche sprechen: zum einen die Oberfläche als Linie der Bestimmung, der Begrenzung, Trennung, Einheit der Form, zum anderen die Oberfläche im metaphorischen Sinn, als Hierarchie von Möglichkeiten. Im ersten Fall erscheint die Oberfläche als eine Art Grenze, die das „vor“ und „hinter“ der Linie trennt. Eine solche Oberfläche wirkt mehr oder weniger unmittelbar, gewisse Begrenzungen sind erst Sache ihres Hintergrundes; wir sehen übersichtliche und geordnete Schichten, die den Zweck einer direkten Annäherung erfüllen, einer evidenten Ansicht der Strukturen des Bildes. Die zweite Art von ‚Oberfläche‘ ermöglicht im Gegenteil neue Re-Kombinationen der im ersten Fall bestimmten Anordnung (einer bestimmten Sicht).

4 5

In diesem Sinne weist Aleš Rozehnal auf die mediale und normative Dimension des Rechts hin, vgl. Rozehnal 2007: 8ff). Aus dem tschechischen Original übersetzt von Kateřina Krtilová.

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Jiří Bystřický

Eine andere Annäherung an das Problem der Medialität bietet in diesem Zusammenhang die Beziehung von Realität und Virtualität6. Virtualität stellt dabei nicht einen Bereich des Realen dar, sondern muss als dem Realen vorgängig gedacht werden, als Komplexität, die in das Reale in einer nur sehr reduzierten Form übergeht. Das Prinzip der Realität beruht auf Vereinheitlichung der Vielfalt und Verwischung der Spuren des Anderen, es bietet wenig Möglichkeiten für einen Weg zurück, gegen den Strom der Nachweise des Realen, gegen das Prinzip der vereinheitlichenden und relativ stabilen Faktizität und natürlich das Prinzip der auf Korrespondenz beruhenden Wahrheit (vgl. Bystřický 2002: 14f) Das Bild als Imagination kann dagegen als ein Zugang zur Virtualität verstanden werden; es kann die Veränderungen des möglichen Sachverhaltes auf unterschiedlichen Ebenen der Explikation darstellen. Bilder können Veränderungen festhalten, die Begriffe erst nachträglich ausdrücken. Begriffe lassen sich als mehr oder weniger statische Zustände beschreiben, in denen sich das Denken bereits ohne sprunghafte Veränderungen bewegt, ohne sich allerdings notwendigerweise in sich selbst zu verschließen. Aus der Sicht der Übertragung von Komplexität auf eine bestimmte Ebene des Realen sind sie Unterscheidungen – und gleichzeitig formativ: sie setzen ‚Formate‘ fest, in denen die Wirklichkeit des Realen gedacht werden kann. Insofern Bilder nun in Formen, Figuren, Linien, Farben usw. Bewegung in die bereits gegebenen, etablierten Zusammenhänge bringen können, lässt sich dies als eine Art des ‚Sich-Zeigens‘ im Prozess des Denkens beschreiben, eine Selbst-Differenzierung, die das Denken sozusagen begleitet. In anderen Worten könnte man auch von einer Übertragung oder Übersetzung (Transitivität) auf/ in eine andere Ebene des Zeigens, auf der Denken mitkonstituiert, was es denken wird. In diesem Sinne wäre auch die Subjektivierung zu verstehen als eine Ebene der Selbst-Beschreibung, Selbstreferenz; dem entspricht ein Subjekt, das nicht als Substanz verstanden wird, sondern als ein bestimmter und bestimmender ‚Zusammenschluss‘ verschiedener Perspektiven in der jeweiligen Situation (Badiou 2005: 391). Bei der Verbindung von Begriff und Bild, Abstraktion und Imagination, geht es also um ein bestimmtes Sichtbarmachen der Praxis des Begriffes – der Bewegung der Bestimmung des Begriffs – in der Technik der Darstellung. „Die Bildtechnik verweist immer

6

Dabei wird vor allem Deleuzes Konzept im Vordergrund stehen, vgl. Deleuze 1997.

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Begriff, Bild und Medialität auf eine Metaphysik der Einbildungskraft – vergleichbar mit zwei Arten, den Wechsel von einem Bild zum anderen wahrzunehmen.“ (Deleuze 1997: 82) Eine Darstellung des Begriffs bedeutet eine Art Anschaulichkeit in der Mediierung des Denkens selbst. Genauer gesagt: Wenn das Denken aus der Idealität schöpft, dann muss es selbst zumindest andeuten, wie es sich an diesem Idealen beteiligt: Das ist die Domäne des Mediums Bild, das es ermöglicht, diese Seite der Arbeit des Denkens darzustellen. Natürlich, dafür lassen sich auch andere Mittel nutzen, z.B.: „Numbers inform our souls.“ (Badiou 2008: 3). Komputationen in-formieren auch das technischen Universum unserer Theorien, was letztlich bedeutet, dass der Begriff als Theorie – rein ideal – auch ein Bestandteil der technischen Darstellung ist.

2 „Aber es ist der kleinste Kreislauf zwischen aktuellem Bild und seinem virtuellen Bild, der das Ganze trägt und als innere Grenze dient.“ (Deleuze 1997: 96)

Es ist klar, dass in diesem Zusammenhang mit „Bild“ vor allem das gedachte Bild bezeichnet wird, die ideelle Dimension des Bildlichen: „The spectacle it presents us with has no real location. It is purely ideal.“ (Rancière 2007:85) Allerdings gilt auch, dass die Bewegung, die Bilder in Anordnungen des Realen bringen kann, sich in Formen, Figuren, Farben etc. zeigt; Bilder können auf Möglichkeiten im System des Realen hinweisen, ausgehend von einer Realität, die als reduzierte Virtualität verstanden wird. Den Raum des Realen konfigurieren, wie wir bereits gesehen haben, Dispositive. Das Dispositiv des Begriffs wird dabei durch eine Logik der transitiven ‚Überschreibung‘ des Virtuellen auf den reduzierten Raum der konventionellen Realität bestimmt. Dies ist der Bereich der Sinnkonstitution, im ‚Medium‘ der begrifflichen Konstruktion der Welt. Das Dispositiv des Bildes ließe sich mit einer Logik der Projektionsfläche beschreiben, also einer Transparenz verschiedener Ebenen des Dispositivs, die auf der Fläche des Realen (und realen Fläche) dargestellt werden. Dank diesem Dispositiv können Daten im Feld des Sichtbaren verortet werden – unter Berücksichtigung verschiedener Möglichkeiten der ‚Komposition‘ der Regime des

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Jiří Bystřický Sichtbaren. Noch eine Ergänzung: der Begriff des Dispositivs ist, wie bereits angemerkt, immer auch mit Macht und Herrschaft verbunden; ohne bestimmte Formen der Subjektivierung würde er allerdings nur auf Gewalt hinauslaufen: „Jedes Dispositiv schließt nämlich einen Subjektivierungsprozeß ein, ohne den es nicht als Regierungsdispositiv funktionieren, sondern sich darauf beschränken würde, bloße Gewaltanwendung zu sein.“ (Agamben 2008: 35)

Um zurück auf die Beziehung von Begriff und Bild zu kommen: Die Ausgangsdaten beim Bild sind schon bestimmte Regime oder Kompositionen einzelner Elemente, wie Farbe, Oberfläche, Hintergrund usw. Das Medium des Bildes, als System der Transparenz verstanden, führt uns zu einer Thematisierung des Sehens, genauer gesagt der Sichtbarkeit. Die ‚Arbeit‘ des Bildes ist eine sekundäre Operation, Bilder bieten keinen Zugang zu primären Daten der Wahrnehmung, sondern machen durch ihre Darstellung auf eine gewisse Funktionalität und Nutzung bestimmter Formen der Transparenz aufmerksam, auf verschiedene Weise in der Malerei, Fotografie, im Film usw.; es geht dabei, einfach gesagt, um das „wie“, nicht das „was“ wir sehen. Diese Charakteristik des Bildes gegenüber dem Begriff wird gerade aus der Perspektive des Dispositivs relevant: auf der einen Seite wird dank dem Dispositiv erst etwas denkbar, Formen, Figuren, Verbindungen real, bestimmt, andererseits lässt sich im Dispositiv der Prozess der Konstituierung von Wirklichkeit, die Bewegung der Vermittlung verfolgen. Während sich Bilder von der Bestimmtheit des Realen ausgehend denken lassen, setzen Begriffe sozusagen im primären Regime der Vermittlung an, sie rekonstruieren Zugänge. Begriffe können natürlich ebenso ‚normativ‘ wirken, wie Bilder ‚Realität‘ (vor allem auch: Begriffe von Realität und ‚realen‘ Zusammenhängen usw.) ins Wanken bringen können. Erst wenn sich das Dispositiv Bild und das Dispositiv Begriff überschneiden, können Bilder nicht nur etwas vermitteln, sondern Vermittlungsleistungen verfolgen lassen und Möglichkeiten offenlegen, zeigen, welche Komplexe und Daten ins Spiel des Sehens gebracht werden. Wir könnten sagen, dass Bilder in diesem Sinn begrifflich werden können und im Gegenzug der Begriff zum Medium wird – und damit in seiner Darstellung ‚transparent‘.

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Begriff, Bild und Medialität

3 „When someone speaks of the death of cinema, it is a mistake because cinema is only at the beginning of its research: to make visible the relationships of time that can only appear in the creation of the image.“ (Deleuze 2006: 354)

Schließlich können wir uns fragen, wie eigentlich eine Theorie der Medialität beschaffen sein sollte, die beiden charakteristischen Merkmalen der beschriebenen Medien gerecht werden könnte, d.h. der Transitivität und Transparenz. Dazu eignet sich kein statisches Konzept in Form einer Gleichung Begriff – Gegenstand – Wissen; der Ausgangspunkt sollte eine Dynamik der Entstehung von Formen und Transparenz sein. Die Realität wird in diesem Zusammenhang nicht nur als die (einheitliche) Welt verstanden, sondern im Gegenteil, die Welt der Gegenwart und die Welt des Werdens treffen sich, wenn wir zur letzten Differenz kommen: dem Unterschied zwischen Bewegung und Stillstand. Im Augenblick des Anhaltens definieren wir das, was ist, und unterscheiden das, was geschieht. Bilder als Systeme der Transparenz zeigen eigentlich Prozesse des ‚Erstarrens‘, sie sind Aufzeichnungen der Veränderung von Bewegung in die Statik eines Sachverhaltes. Dispositive als Techniken des Herrschens bleiben dann stiller Bestandteil einer Veränderung der Welt möglicher Formen in Welten des Inhalts. Die Sinnkonstitution der Welt des Realen entspricht dem ‚Inhalt-werden‘ der Welt, die Bedeutung geht Hand in Hand mit ihrer Erfassung, ‚Besetzung‘. Das Territorium des Realen ist das Territorium der Erfassung, der ‚Besetzung‘ durch eine bestimmte Version. Die Welt des Sehens wird de facto in die Realität der Darstellung exportiert, im Bild mit Hilfe von Techniken der Darstellung fixiert, während die Welt des Möglichen, die ‚Wirklichkeit‘ des Virtuellen überwiegend dank statischer Operatoren der Vermittlung erfasst wird – d.h. mit Hilfe von Begriffen, um z.B. Sehen und Denken zu vereinen. Das Denken operiert dann meistens mit Bildern, als ob es sich um eine statische Erfassung der Welt und nicht um eine Darstellung der Veränderung handelte; In der Transposition der Begriffe und Bilder ist, so wäre zu hoffen, das Potential enthalten, das Denken selbst als Prozess erfassbar zu machen. Während uns scheint, dass das Auge unmittelbar bestimmte Formen, Dinge etc. sieht, merken wir nichts von der Bewegung

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Jiří Bystřický der Veränderung von Standpunkten. Das System der gegebenen Vermittlung wird so nicht wahrgenommen und unbedeutsam. Und das, obwohl spätestens seit der Entstehung von Techno-Bildern klar ist, dass Sehen auch ein Prozess des Ordnens ist. Es geht um eine spezifische Verknüpfung vom Bild des Virtuellen mit dem des Aktuellen. „Immer weitere Kreisläufe können entstehen, die immer tieferen Schichten der Wirklichkeit und immer höheren Ebenen des Gedächtnisses und des Denkens entsprechen.“ (Deleuze 2006:85) Zusammenfassend muss betont werden: Wir sehen nur die Resultate der Aufzeichnung der Aktivität unserer Sehapparate – wir denken nie rein ‚abstrakt‘, sondern in Systemen der Aufzeichnung, Beständigkeit und der Fixierung des Gedachten. ‚Darstellung‘ bedeutet hier das Sichtbarmachen des Prozesses der begrifflichen Erfassung der Wirklichkeit, noch bevor der Begriff etwas bedeutet. In Bildern, die an der Schnittstelle von Bild und Begriff angesiedelt sind, können Ideen zum direkten Bestandteil der Mediation des Bildes werden, zum Gegenstand des Denkens. „Während vorfotografische Bildermacher gegen die objektive Welt zu kämpfen hatten, steht uns der geronnene ‚Geist‘ entgegen.“ (Flusser 1998:19) Aus dem Tschechischen von Kateřina Krtilová

Literatur Agamben, Giorgio (2008): Was ist ein Dispositiv? Zürich-Berlin: Diaphanes. Badiou, Alain (2008): Number and Numbers, Cambridge: Polity Press. Badiou, Alain (2005): Being and Event, New York: Continuum. Bystřický, Jiří (2007): Elektronická kultura a medialita, Praha: TAV 999. Bystřický, Jiří (2002): Virtuální a reálné, Praha: Sofis. Deleuze, Gilles (2006): Two Regimes of Madness, New York: Semiotext(e). Deleuze, Gilles (2005): Francis Bacon: The Logic of Sensation, New York/London: Continuum. Deleuze, Gilles (1997): Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Engell, Lorenz (2000): Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur, Weimar: VDG.

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Begriff, Bild und Medialität Flusser, Vilém (2006): Für eine Philosophie der Fotografie, Berlin: European Photography. Flusser, Vilém (1999): „Glaubensverlust“, in: Stefan Bollmann (Hg.) Medienkultur, Frankfurt/Main: Fischer, S. 29-40. Flusser, Vilém (1998): Fotografieren als Bildermachen. In: Standpunkte, Göttingen: European Photography. Medek, Mikuláš (1995): Texty, Praha: Torst. Rancière, Jacques (2007): The Future of the Image, London: Verso. Rozehnal, Aleš (2007): Mediální právo. VaN Čeněk. Plzeň.

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Das Medium der Zeichnung. Über Denken in Bildern DIETER MERSCH

Überschneidungen zwischen Schrift und Bild Vilém Flusser hat in seiner frühen, an semiotische Theorien anschließenden Kommunikologie die Komplexität des Bildes der linearen Schrift entgegengestellt und mit verwegener Spekulation das bildliche Denken überhaupt an den Anfang der Kulturgeschichte gestellt. Erst später hätten sich durch Abstraktion und Linearisierung die Texturen des Diskurses entwickelt (Flusser 2003: 51ff, 84ff). Dass dies schon empirisch falsch ist, demonstrieren die vorgeschichtlichen Höhlenbilder, auf die er sich dabei bezog. Denn von Anfang an dominiert in ihnen die Linie, die ebenso sehr auf die Materialität des Gesteins, auf die sie aufgetragen oder in die sie eingeritzt wurde, reagiert, wie gleichzeitig die Abbildungen nicht selten mit abstrakten Zeichen durchsetzt sind, die keineswegs nur auf die Kraft der Imagination verweisen. Sie gleichen Zählungen. Offenbar hat das Bild am Schriftlichen wie umgekehrt die Schrift am Bild Anteil, doch bedeutet dies weder, dass sich die Schrift aus dem Bild ergibt noch dass das Bild in der Schrift aufgeht. Tatsächlich bestehen zwischen beiden zahlreiche Überschneidungen, wie sich besonders mit Blick auf die Zeichnung und ihre Medialität erhellt. Im Folgenden soll dabei ebenso auf die Sprachgeschichte Bezug genommen werden, die hier mannigfache Anleitungen gibt, wie ebenfalls auf Walter Benjamins frühe kryptische Fragmente Malerei und Graphik sowie Über die Malerei oder Zeichen und Mal aus dem Jahr 1917 (Benjamin 1977: 602-607). Folgt man nämlich der Sprachentwicklung, in der sich die Sedimente unterschiedlicher Verfahren des Zeichnens aufbewahrt haben, zeigt sich ein Reichtum an Wendungen, die uns eine Fülle von weiterführenden Assoziationen an die Hand

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Dieter Mersch geben, um die Struktur des Graphischen genauer zu verstehen. So lautet im Griechischen das Wort für ‚Zeichnung‘ skiagramm oder skiagraphia, die an jene Technik erinnern, die nach Plinius dem Älteren die Tochter des Butades entdeckte, als sie die Konturen des scheidenden Geliebten im Schattenriss festzuhalten suchte.

Abbildung 1: Erfindung der Malerei, Jakob von Sandrart 1679 Der Ausdruck ist sorgsam sowohl von den eidola, den Platonischen Schattenbildern als auch von zoographia, der „Lebensschrift“ oder besser: der Abzeichnung des Lebendigen im Medium des Graphischen zu trennen. Auffallend ist jedoch, dass skiagraphia wie gleichermaßen zoographia auf graphein, den Vorgang der Einritzung oder Einkerbung verweisen, wobei unter Hinblick auf grapho und diagraphé die Praxis des Schreibens und Zeichnens durchweg synonym verwendet wurden. Insbesondere wird mit diagraphé die Hervorbringung betont – die Schreibung und Zeichnung als ein Prozess, durch den etwas zur Ansicht oder Bedeutung gelangt, wobei das dia an eine Passage im Materiellen gemahnt, die Werkzeuge oder ähnliches erfordert.1 Das deutsche Wort Zeichnung eröffnet demgegenüber eine Reihe weiterer Gesichtspunkte. Etymologisch steht es mit dem Zeichen in Verbindung, denn das Althochdeutsche zeihhannen 1

Hinzugefügt sei, dass wir im „Dia“ jenes griechische Präfix erblicken, das im Unterschied zu „Meta“ das eigentlich Mediale anzeigt. Der Medienbegriff – hier die Medialität der Zeichnung – gewinnt so eine performative Note; vgl. dazu vorläufig „Irrfahrten. Labyrinthe, Netze und die Unentscheidbarkeit der Welt“ (Mersch 2010a: 41-56), sowie ders.: „Meta/ Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen“, in: Zeitschrift für Medienund Kulturforschung 1, 10 (Mersch 2010b) (im Erscheinen).

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Das Medium der Zeichnung bedeutet eigentlich, „Zeichen legen“ oder „mit einem Zeichen etwas ausdrücken“ bzw. „anzeigen“ oder „versehen“. Das Zeichnen meint dann sowohl ein Niederschreiben – ein Aufzeichnen oder Verzeichnen – als auch ein Unterschreiben – oder unterzeichnen – sowie ein Darstellen „mittels Linien oder Strichen“. Von vornherein sind so Zeichnung und Semiosis miteinander verknüpft. Der Zeichner als Handwerker taucht dabei erst relativ spät auf und gilt als zeichenaere, als Zeichengeber oder Wundertäter. Davon zu unterscheiden ist wiederum die zweite Bedeutung, auf die sich auch Benjamin in Über die Malerei oder Zeichen und Mal naheliegenderweise bezieht, nämlich das „Gezeichnetsein“ durch ein Mal, sei es im Rahmen einer Mantik, etwa wenn ein ritueller Gegenstand gekerbt oder eine geweihte Person mit einem Zeichen versehen ist, oder als Veränderungen oder „Verzeichnungen“ der Haut in der medizinischen Symptomatologie, sei es als Narbe, als Wundmal oder angeborenes Merkmal und dergleichen (vgl. Benjamin 1977: 605f). Offenbar hängen alle diese unterschiedlichen Bedeutungsschichten, wie auch Benjamin hervorhob, vom wechselnden Sinn der Linie in ihnen ab – „die Linie der Geometrie, die Linie des Schriftzeichens, die graphische Linie, die Linie des absoluten Zeichens“ als, wie er in Klammern hinzusetzt, „magische Linie“ (ebd.: 603), welche noch einmal vom „absoluten Mal“, dem mystischen Zeichen der Kabbala zu trennen wären (ebd.: 604). Die ersteren werden, wie es weiter heißt, „aufgedrückt“, während letztere „hervortreten“. In Bezug auf die Zeichnung im Sinne einer Darstellung kommt so als weiterer Gesichtspunkt die Differenz von Aktiv und Passiv hinzu: Die Zeichnung zeigt sich als Ereignis oder wurzelt in der Bewegung, dem Aktes des Ziehens, das zwar im Deutschen mit dem Zeichnen etymologisch nicht verwandt ist, im Englischen jedoch durch die Ausdrücke to draw und drawing mit dem entsprechenden Wort für Zeichnung unmittelbar zusammengehört. So ergibt sich ein ganzes Wort- und Bedeutungsfeld, das die Zeichnung aufruft, und das neben der eigentlichen Linie auch das Zeichen, das Mal, den Riss, die Spur sowie die Tätigkeiten des „Ziehens“ und „Reißens“ eines Umrisses oder einer Kontur beinhaltet. Hinzu kommen die Verbindungen zum Reißbrett und zur Skizze, dem italienischen schizzo für spritzen, das im Deutschen wie im Englischen als Lehnwort ab dem 17. Jahrhundert für den flüchtigen „Entwurf“ auftaucht. Als weitere Assoziation sei hinzugesetzt, dass der Entwurf in den Ästhetiken der frühen Neuzeit in den Disegno-Lehren abgehandelt wurde, dort aber mehr bedeutete als das bloße „Designieren“ oder „Bezeichnen“, mehr auch als

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Dieter Mersch das spätere Design, die Gestaltung einer Oberfläche, weil der „Entwurf“ zugleich an den Wurf erinnert, d.h. an das spontane Hinwerfen einer Idee oder den plötzlichen Sprung der Kreativität im Sinne des Auftauchens eines Bild-Einfalls2. Wir haben es folglich mit zwei Arten von Operationen zu tun: dem Riss oder Umreißen, mithin mit der Differenz und der Abtrennung einerseits und dem Schnitt, dem Aufriss und Grundriss andererseits – und es ist aufschlussreich, dass zum einen George Spencer-Brown in seinem Differenzkalkül das Ziehen einer Grenze zwischen einem Außen- und Innenraum als Elementargeste des Unterscheidens und damit ‚Be-Zeichnens‘ auswies – sein Laws of Form beginnt bekanntlich mit der performativen Setzung „Draw a distinction“ (vgl. Spencer-Brown 1997: 3) –, und dass zum anderen Benjamin in seinem kurzen Text Malerei und Graphik den Querschnitt der Zeichnung vom Längsschnitt der Malerei trennte und damit die Zeichnung einer anderen Logik zuwies, soweit sie der Geste des Lesens folgt, während das Bild als Tableau „senkrecht“ vor Augen stehe und zum Betrachten oder Beschauen und damit zum synoptischen Blick einlade (Benjamin 1977: 603). Der synoptische Blick zirkuliert – während die Lektüre allererst versteht und erkennt. Die Episteme geht folglich von der Zeichnung aus: Man betrachte sie nicht im Sinne einer Kontemplation; man studiert und interpretiert sie vielmehr, wohingegen im gemalten Bild die Farbe entgegentritt. Der Linie kommt im Bild auf diese Weise die eigentliche Erkenntniskraft zu; das Auge folgt der Kontur, der Form, um aus ihr die Figur und den gemeinten Gegenstand, das Portrait zu ersehen, während sich der Blick in der Malerei streut und verliert, um ein Ganzes, seinen „Eindruck“ im Sinne einer Passibilität zu gewahren. Diese knappen Bemerkungen mögen genügen, um am Medium der Zeichnung folgende generellen Punkte aufzuweisen. Erstens vollbringt die Zeichnung ganz offensichtlich einen Riss oder Schnitt: sie schneidet etwas aus einem Grund heraus. Die Linie fungiert insofern als Differenzmarker: Sie teilt eine Fläche, hebt ‚Etwas‘, wie auch Benjamin bemerkte, vom Grund ab und identifiziert sowohl den Grund als Grund als auch die Linie selbst als unterschieden vom Grund. Die Zeichnung kann deshalb als Verfahren der Differenzierung angesehen werden, die mittels des

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Zur Bedeutung des Disegno in den frühen italienischen Kunstlehren vgl. besonders „Idea, Ein Beitrag zur Begriffsgeschichte der älteren Kunsttheorie“ (Panofsky 1982: 23ff); „Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607“ (Kemp 1974: 219 -240).

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Das Medium der Zeichnung Umrisses „be-zeichnet“. Ihre epistemische Funktion ergeht von dort her: Sie besitzt innerhalb des Ikonischen ihre Relevanz in der Auszeichnung oder Bestimmung einer Form, d.h. auch der eigentlichen Bildidee oder idea, mithin für den Begriff, wie es auf ganz ähnliche Weise für die Lehren des Disegno charakteristisch war. Gleiches gilt in jüngster Zeit für die Verwendung von Bildprozessen in den Naturwissenschaften. Im Bild bezeichnete die Zeichnung dann diejenige Stelle, die nicht nur ein Wissen kennzeichnet, sondern sichtbar macht. Zweitens ist die Beziehung zwischen Zeichnung und Schrift enger zu fassen als zwischen Schrift und Malerei: Die Linie der Zeichnung deckt sich mit der Linie des Schriftzugs, beide haben es mit der Erzeugung einer Spur oder Markierung zu tun, die auf einer Unterfläche aufgetragen oder in einen Träger eingraviert wird, beide folglich auch mit den Praktiken des graphein, des „Eingrabens“ oder „Ritzens“, wie sie mit Stift, Feder, Pinsel oder Kreide und ähnliches ausgeführt werden und eines Instruments, eines Stilus im Sinne einer „Spitze“ bedürften, wie sie Jacques Derrida in Sporen. Die Stile Nietzsches und den Aufzeichnungen eines Blinden minutiös nachgefolgt ist (Derrida 1986; ders. 1997: bes. 49ff.) Alle drei, Schrift, Instrument und Zeichnung, gehören zusammen und greifen ineinander, und doch gehen Schrift und Zeichnung so wenig ineinander auf wie Text und Bild, denn gleicht auch der Bogen eines Schriftzugs seinem Aussehen nach einer gezeichneten Linie, bewohnen beide gleichwohl unterschiedliche Register, sofern dieser „orientiert“ ist und einer Richtung folgt, die seine Lesbarkeit sichert, während die Zeichenlinie sich auf ihrem Grund frei entfaltet und zu bewegen vermag, um mit jeder Bewegung sowohl sich selbst als auch das sie tragende Fundament zu markieren3. Weit stärker als die Schrift ist deshalb die Zeichnung stets doppelt besetzt: Nicht allein gehorcht sie, wie diese, einer diskreten Ordnung, die sich in ihrer Linearität selbst genügt, sie ist auch niemals nur eine Figur, sondern immer schon Spiel zwischen Figur und Hintergrund.

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In diesem Sinne hatte auch Magritte gesagt, dass in einem Gemälde „Wörter von derselben Substanz [sind] wie Bilder“, wiewohl man beide „anders […] sieht“ (Magritte 1985: 44), auch: „Die Wörter in der Malerei“ (Butor 1992).

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Dieter Mersch

Disegno/Colore Bezieht man allerdings Zeichnung und Malerei auf das Ikonische überhaupt, ist hinsichtlich der ästhetischen Diskurse zwischen dem 16. und 19. Jahrhundert sowie für die Bildpraktiken der Naturwissenschaften und das von Flusser so genannte „technische Bild“ (Flusser 2003: 63ff, ders. 2000) überhaupt von einem Vorrang der Zeichnung, seines Primats im Bildlichen auszugehen. Historisch erscheint es durch die schon erwähnten Lehren des Disegno verbürgt, wie sie vor allem in der italienischen Renaissance-Malerei des 16. Jahrhunderts Gültigkeit gewonnen haben. Seinen besonderen Status bezog das Disegno aus dem Umstand, dass es nach Giorgio Vasari als „Vater unserer drei Künste“ zu gelten habe und Malerei, Architektur und Skulptur miteinander vereine: Die Linie und ihre Zeichnung basiere auf der „giudizio universale“, dem allgemeinen Urteil gleich der Form oder Idee der Dinge der Natur, weil sie das Maßsystem und die Proportionalität der Körper, Pflanzen und Gebäude erkennen lasse (vgl. bes. Panofsky 1982: 34). In diesem Sinne bildet sie die Verkörperung und anschauliche Gestaltung des concetto, des eigentlichen Bildgedankens, der das Geistige in der Kunst darstellt und seinen Ort in der imaginatio besitzt. Zeichnen ist in erster Linie ein Denken; dabei erweist sich die Idee als das Schöpferische: Sie beschreibt das künstlerische Vermögen zur „naturunabhängigen Bildgestalt“, die durch die Zeichnung und Anwendung ihrer Regeln allererst realisiert wird (ebd.: 36f). Entscheidend ist folglich die Identifikation des Disegno mit dem Zeichnerischen einerseits, das für die Form und die Umrisslinie steht und das ikonische ‚Als‘, die Darstellung von etwas als etwas, markiert, sowie andererseits für die intellektuelle Basis des Entwurfs als geistiges Konzept. Was am Bildlichen das Epistemische ausmacht, der Gedanke, die Bestimmung, das Urteil, wird durch Zeichnung und Linie repräsentiert – alles andere erscheint akzidentell und dient allein zu deren Entfaltung und Darstellungsweise. Wir befinden uns folglich im Herzen einer Repräsentationsproblematik, wie sie für die florentinische Kunsttheorie prägend geworden ist. Sie behauptete ihren Bestand nicht nur in den praktischen Unterweisungen der Zeit, sondern vor allem in den nachfolgenden philosophischen Ästhetiken des 18. und 19. Jahrhundert, deren entscheidender Punkt darin bestand, dass durch das Konzept des Disegno die bildnerische Praxis nicht nur als ein Können, sondern vor allem als eine Gedankentätigkeit ausgewiesen wurde. Tatsächlich findet sich dieser Gestus überall in den Künsten seit dem 16. und 17.

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Das Medium der Zeichnung Jahrhundert nebst ihren kunsttheoretischen Reflexionen: Die Ablösung der Kunst vom Handwerk und ihre Aufwertung zu einem Denken, einer intellektuellen Praktik, die ihre Geltung, ihre außerordentliche Fähigkeit zum Sehen und Erkennen im Fokus der Zeichnung findet. Ihre Grundlegung findet diese Aufwertung im Prinzip einer Formgebung, die der Linie den zentralen Platz zuweist und die im Bildlichen dieselbe Rolle einnimmt wie der Begriff im Diskurs. Man muss sich die Radikalität dieser Aussage genauer vor Augen führen: Ikonizität und Diskursivität besetzen im Denken der Medien unterschiedliche, wenn auch gleichwertige Plätze, wobei das, was die Proposition im Diskurs bezeichnet, im Bild die durch die gezeichnete Linie verkörperte Gestalt darstellt. Maßgeblich ist demnach nicht das Technische der Zeichnung, sowenig wie die Imagination selbst, sondern deren Umsetzung im Umriss, welche dem Gegenstand allererst seine sichtbare Determination verleiht. Man muss hinzunehmen, dass die Linie in der Natur nicht vorkommt (vgl. Eco 1987: 254ff, bes. 266ff), dass sie das eigentlich Artifizielle im Bild ausmacht, mithin dasjenige, was ein dargestelltes Objekt zu einer bestimmten und damit auch ‚be-zeichenbaren‘ Sache macht und sie als solche ausweist. So übernimmt die Zeichnung und die durch sie evozierte Form, das „Aussehen“ (eidos) in der Malerei – wie ebenso der Entwurf in der Skulptur und Architektur – die Funktion des Urteils im Verstand; und wenn es, in dieser Hinsicht, ein „visuelles Denken“ als Teil der menschlichen Kognition gibt, das der Sprache gleichberechtigt gegenüber steht, dann wäre hier, im Disegno, der Verbindung zwischen Linie, Gedanke, Entwurf und Concetto zu suchen. Dem „Linguistizismus“ in der Philosophie des Geistes wird so widersprochen: deswegen hatten die Kunstlehren des Disegno der Zeichnung unbedingten den Vorrang erteilt – vor der Malerei und der Farbe sowohl als auch vor Sprache und Diskurs. Erst das Sehen und Sehenlassen, die Sichtbarmachung lässt uns die Dinge erkennen; und weniger beruht dabei ihre Intellektualität auf einem abstrakten Wissen, deren Kenntnis der antiken Proportionslehre oder Mathematik der Projektionsgeometrie entstammt, sondern darauf, dass durch die Linie und ihre Form die eigentliche Erkennbarkeit hervortritt. Es ist bezeichnend, dass dieses Privileg bis heute, den epistemologischen Grundlagen der Bildgenerierung und den Verfahren der Visualisierung in den Naturwissenschaften besteht und nichts von seiner Gültigkeit eingebüßt zu haben scheint. Durchweg haben wir es mit einer Vorrangstellung der Form vor dem

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Dieter Mersch Grund, der Linie vor der Fläche, der Gestalt vor der Farbe und dem Konzept vor dem Material zu tun, wie sie durch die Konkurrenz und allgemeine Durchsetzung des Disegno gegenüber dem Colore bezeugt ist, deren Streit exemplarisch zwischen den florentinischen und venezianischen Kunstauffassungen des 16. und 17. Jahrhunderts ausgefochten wurden (vgl. Busch 2007: 123). Heinrich Wölfflin sollte ihn später noch einmal durch die Opposition zwischen dem „Zeichnerischen“ und dem „Malerischen“ als zwei „Stile“ der Kunst reformulieren (vgl. Wölfflin 2007); sie wahrt noch ihren Nachhall bis zu den gegenwärtigen kunsttheoretischen Debatten zwischen graphischer Inskription und Textualität des Bildes im Gegensatz zu einer Ästhetik des Materials und seiner Wirkungen (vgl. Rheinberger et al.1997, Wagner 2002, Hoormann 2007, Mersch 2002): Seit Beginn der frühneuzeitlichen Kunsttheorien kommt so ein Netz von Kategorien zur Anwendung, deren Dichotomien die klassische Metaphysik beherrschte und deren Ausstrahlung vermittelt über die idealistischen Kunstphilosophien um 1800 bis in unsere Zeit anhält. Immanuel Kant folgt nur dieser Grundtendenz, wenn er in der Kritik der Urteilskraft der Zeichnung im Bildlichen den uneingeschränkten Vorzug erteilt: „In der Malerei, Bildhauerkunst, ja allen bildenden Künsten, in der Baukunst, Gartenkunst, sofern sie schöne Künste sind, ist die Zeichnung das Wesentliche, in welcher nicht, was das Empfinden vergnügt, sondern bloß, was durch seine Form gefällt, den Grund aller Anlage für den Geschmack ausmacht. Die Farben, welche den Abriß illuminieren, gehören zum Reiz. [...] Alle Form der Gegenstände der Sinne [...] ist entweder Gestalt, oder Spiel: im letzteren Falle entweder Spiel der Gestalten [...] oder bloßes Spiel der Empfindungen (in der Zeit). Der Reiz der Farben oder angenehmer Töne des Instruments, kann hinzukommen, aber die Zeichnung in der ersten und die Komposition in dem letzten machen den eigentlichen Gegenstand des reinen Geschmacksurteils aus [...].“ (Kant 2006: 77/78, B 42)

Noch Friedrich Nietzsche wird, trotz aller Apologien des Dionysischen, des Exzesses (Mersch 2008a: 35-49), derselben Linie folgen, wenn er sich in seinen Nachgelassenen Fragmenten der späten 1870er Jahre über das „Geschäft des Malers“ mokiert, der lediglich auf Glanz und Effekt hinaus sei, statt dem Gedanken seinen angemessenen Ausdruck zu verleihen: „Gemälde, wo der Färber sagen will, was der Zeichner nicht sagen kann.“ (Nietzsche 1999: 598) Das eigentliche Sagen – und Aussagen – gehöre so dem graphischen Element an, wohingegen die Farbe zum Schein der Materialisierung depraviere; sie bilde lediglich das „Beiwerk“,

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Das Medium der Zeichnung das der Sache, die sich allein durch ihre formale Gestalt bekundet, sekundär anhängt (vgl. Busch 2007: 122). Was etwas ist, erblicken wir durch die Linie, wie sie sich im Medium des Graphischen realisiert, und an deren Abstraktion im Wortsinne die ‚DeFinition‘ der visuellen Gegenstände hängt, deren Grenze konstruiert werden muss. Die Philosophie des Disegno weist damit das Bildliche an die Konstruktion, d.h. an das, was der Mimesis zugrunde liegt, aber ihr nicht angehört.

Semiosis und Graphismus Gewiss wäre mit Bezug auf die Auswahl der Quellen noch der historische Funktionswandel des Disegno mit einzubeziehen: Keineswegs handelt es sich um eine einheitlich überlieferte Lehre, vielmehr haben wir es mit einem anhaltenden Wandel von Konzepten zu tun (Panofsky 1982: 33ff), wobei jedoch überall der Linie, denkt man an den Zusammenhang von Darstellung und Wiedererkenntnis, die entscheidende Rolle zufällt. Sie lässt etwas als etwas identifizieren. Die Zeichnung wird auf diese Weise der Semiosis zugeschlagen – und das derzeit besonders von der Wissenschaftsgeschichte forcierte Interesse an der Zeichnung rührt genau daher, wie ebenso sehr ihre Herleitung des Graphischen aus dem Zusammenspiel von Auge, Hand und Geist. Nicht nur sichert die Auszeichnung der Form ihre Wiederholbarkeit, sondern auch ihre Lehr- und Lernbarkeit, sodass die Zeichnung nicht nur für den „Satz“, die Aussage im Bild steht, sondern gleichermaßen auch für das principiium individuationis und das Gesetz der Identität, das ihr allererst den Status eines Zeichens sichert. Das Disegno weist in dieser Hinsicht auf das lateinische designare für ‚bezeichnen‘, das im Ikonischen dem Zeichenprozess entspricht: Die Linie, als Ausweis der Konstruktion, kodifiziert damit das, was am Bild deutbar und ‚be-deutbar‘ erscheint und das Roland Barthes später mit Blick auf die Fotografie dem semantischen Feld des studiums zuordnete: „Das studium ist eine Art Erziehung [...], die es mir gestattet, den operator wiederzufinden, die Absichten nachzuvollziehen, die seine Vorgehensweise begründen und befruchten, sie jedoch in gewisser Weise in der Umkehrung zu erfahren, gemäß meinem Willen als spectator. [...] Das studium anerkennen heißt unausweichlich den Intentionen [...] begegnen [...].“ (Barthes 1989: 37, auch 35ff)

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Dieter Mersch Es begründet folglich die Schriftförmigkeit der Darstellung, ihr graphematisches Credo. Das Disegno, der Vorrang der Zeichnung vor der Malerei, der Konstruktion vor dem Grund, steht für diese Theoretisierung des Graphematischen im Ästhetischen. Sie findet in den wissenschaftlichen Visualisierungsverfahren, vor allem in der Computergraphik ihre Fortsetzung – besonders dort, wo die Farbe nicht länger der Erscheinung dient, sondern unterscheidend wirkt und im Sinne eines Falschfarbenkonzepts allein Kontraste, d.h. Differenzen generiert: Colore, eingemeindet in das Disegno und damit Teil der Formgebung. Jeder Materialität entbunden, nähert sich dann die Farbe selbst einer graphematischen Funktion, um ihre Aufgabe einer Notation oder Diskretierung einer Fläche zu erfüllen, etwa wenn unterschiedliche Molekülsorten, Intensitätsgrade oder quantifizierbare Aktivitäten von Hirnarealen markiert werden.

Abbildung 2: Falschfarbenbild: Saturnringe Deshalb konnte auch Ludwig Wittgenstein in seinem Tractatus, der hier manches vorwegnahm und tatsächlich eine Bildtheorie im Sinne einer Modelltheorie entwarf (vgl. Mersch 2006a: 925942), die Farbe unbesehen der „Form“ zuschlagen. Fast dogmatisch heißt es in Satz 2.0251: „Raum, Zeit und Farbe (Färbigkeit) sind Formen der Gegenstände.“ (Wittgenstein 1963: 15) Sie sind es, weil sie, in dieser Auffassung, zur logischen Struktur der Welt gehören. Allerdings sei nicht verhehlt, dass sich von Anfang an in der künstlerischen Praxis ganz andere Möglichkeiten der Verwendung des Zeichnerischen fanden, insonderheit solche, die gerade nicht fixierend verfuhren, sondern so, dass die Linie die Gegenstände verwischte und undeutlich bzw. absichtlich entstellte oder durch Überdeckung mit weiteren Linien Unschärfen und Schattierungen entstehen ließen, um Bewegungen und Volumina anzudeuten.

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Das Medium der Zeichnung

Abbildung 3: Adolf Menzel: Drei gefallene Soldaten 1866 Bedeutet also das Graphematische das Ziehen einer eindeutigen und scharfen Kontur, gestatten die Methoden der Verwischung und Überdeckung umgekehrt die ebenso vorläufige wie flüchtige Darstellung, die sich der Identifizierbarkeit verweigert. Ihre Performanz stellt daher die anhaltende und nie einlösbare Suche nach einer adäquaten Form aus. So löst sich die Repräsentation im Experiment auf, macht die Visualisierung tendenziell unleserlich und stellt den Zeichenprozess, seine Praxis als ununterbrochene Korrektur vor. Dann ist das Resultat kein Zeichen, keine Form oder Figur, die zu irgendeinem Abschluss gelangte, keine morphé, sondern eine a-morphé oder anamorphé, eine Formlosigkeit oder Unförmigkeit, die vor allem einen reflexiven Sinn ausübt. Trifft dies bereits für die Anamorphose des 16. Jahrhunderts zu, finden sich solche Verfahren vor allem in der Graphik des auslaufenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, z.B. bei Adolf Menzel, Max Beckmann oder Henry Moore, die ein Gesicht oder einen Körper ebenso verletzlich wie durch ‚Male‘ und ‚Wunden‘ gezeichnet vorstellten, um ihr lebendiges ‚Fleisch‘, ihren Verfall sichtbar zu machen.

Abbildung 4: Henry Moore. From Shelter Sketch Book 1941

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Dieter Mersch Gleichzeitig revidieren sie die Beziehung zum Untergrund sowie zur Hand und den Instrumenten des Graphischen, dem Bleistift, der Holzkohle oder Pinsel und Nadel usw. im Verhältnis zur technischen Zeichnung und Computergraphik. In diesem Sinne hatte auch Hans Wentzel in Ansehung des Plotters seinem Kollegen Max Bense den Bescheid erteilt, „der formalisierte Strich“ sei schließlich „kein Strich“, sondern eine gedachte Linie; sie sei nicht gezeichnet, sondern dünn, gleichmäßig und „unwahrscheinlichkeitslos“ (Bense 1998: 329). Man könnte daher sagen, dass, wie Nietzsche notierte, das Schreibgerät nicht nur an unseren den Gedanken mitarbeitet,4 sondern auch Stift, Kreide und Federkiel malen an den zeichnerischen Entwürfen mit, malen sich in die Zeichnung ein, hinterlassen ihre unverwechselbare Spur und behaupten darin ihren Unterschied zur Schrift.

Graphik und Graphematik in der Geschichte der Wissenschaften Pointiert ausgedrückt: Steht das Disegno für das Graphematische der Bildpraxis, findet diese ihre Entsprechung in den verschiedenen Visualisierungsverfahren von Wissenschaft und Technik spätestens seit dem 16. und 17. Jahrhundert. Galileo Galileis „Monde“ (Bredekamp 2009), die Zeichnungen der Mikroskopie (vgl. Ditzen 2006: 41-56) wie auch die anatomischen und botanischen Atlanten (Kemp 2003: 74ff) gehören hierher und gehorchen demselben Gesetz: Wo das Bild Wissen zu repräsentieren sucht, wo es etwas darstellen oder zu erkennen geben will, wo es als Beleg oder Beweisexemplar fungiert, ist es wesentlich Aufzeichnung, Marke oder Spur.5 Das Wissensbild realisiert sich in erster Linie als graphisches Bild; ja, es beansprucht nur als mathematischer Graph, als formale Linie Gültigkeit, weil nur diese eine exakte Gestalt oder eindeutige Kontur wiedergibt und damit eine Bestimmung dessen zulässt, was sichtbar ist und was nicht. Der gleiche Vorgang spiegelt sich in der Fülle der im 19. Jahrhundert instal-

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Zur Neudeutung des Diktums Nietzsches vgl. auch „Meta/ Dia. Zwei unterschiedliche Zugänge zum Medialen“ (Mersch 2010b). Zu den verschiedenen epistemischen Funktionen des Bildes vgl. „Das Bild als Argument“ (Mersch 2005), „Visuelle Argumente. Zur Rolle der Bilder in den Naturwissenschaften“ (ders. 2006b), „Visual Arguments: The Role of Images in Sciences and Mathematics“. (ders. 2008b), „Bildlogik oder Was heißt visuelles Denken“ (zus. mit Martina Heßler) (ders. 2009).

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Das Medium der Zeichnung lierten Geräte in den Laboren und wissenschaftlichen Versuchsanordnungen, die sich, wie die Fotografie oder die Schattenlinien der Röntgenologie, bevorzugt der Schwarz/Weiß-Darstellung bediente. Bis in die sechziger Jahre hinein wurde allein ihr die Anerkennung wissenschaftlicher Objektivität zuteil, herrschte im Gegenzug eine auffallende Askese im Umgang mit der Farbe, der wiederum der Vorwurf einer bloßen Illustrierung oder Popularisierung gemacht wurde. Noch aus der wiedergewonnenen Farbigkeit – oder „Buntheit“ – der Wissenschaftsbilder und ihrer digitalen Aufbereitung spätestens seit den achziger Jahren spricht eigentlich derselbe Gestus: die Farbe gehört nicht zur Erscheinung, sondern operiert als Differenzmarker, als graphisches Instrument, wofür vor allem farbige Codierungen, z.B. von Molekülen, oder Falschfarbenkonzepte in der Astronomie uned Neurologie stehen. Beruht so das Pathos epistemischer Visualisierung in der frühen Neuzeit bis etwa ins 18. Jahrhundert im reinen Graphismus als Garant einer möglichst getreuen – und wie Lorraine Daston und Peter Galision betont haben – „typischen“ bzw. „idealen“ Naturabbildlichkeit (Daston/Galison 2002: bes. 35ff, 40f), die die größtmögliche Annäherung an das vermeintlich „wahre“ Aussehen der Gegenstände anstrebte, nimmt das 19. Jahrhundert zunehmend Zuflucht zu automatischen Aufzeichnungsverfahren, um die Subjektivität des Wahrnehmenden, die Voreingenommenheit seiner Anschauung und die Trübheit des Blicks auszuschalten (ebd.: 57ff). Sie erzeugen, statt einer Präzision von Hand und Auge, wie sie zuvor dem Künstler als Experten zugetraut wurde, eine „mechanische Objektivität“, so der Ausdruck von Daston und Galision, deren wesentliche Grundlage die indexikalische Spur ist, welche nicht länger „Darstellung“ von etwas ist, sondern Zeichnung im Sinne einer „Markierung“. Sie machte dem Künstler und seiner „Schule des Sehens“, wie sie noch über Jahrhunderte den Maßstab der Malerei bildete, die Rolle in der Erkenntnispraxis streitig und entzog diese systematisch seinem Einfluss. Stattdessen zeichnete sich etwas ab, was nicht mehr durch ein Subjekt hindurchgegangen ist, um kraft seiner Imagination eine Gestalt zu werden, sondern dem Phänomen selbst folgt, um unter Absehung jeglicher verfälschenden oder manipulativen Einstellung, sogar jenseits aller Zeitunterbrechung und Ermüdung der Aufmerksamkeit, die Form der Natur selbst zum Ausdruck bringt. Ihr metaphorisches Korrelat ist die „Selbstschrift“ einer „göttlichen“ oder mechanischen Hand ohne Auge, etwa bei der Fotografie, der „Lichtschreibung“ infolge chemischer Reaktionen, die anstelle des

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Dieter Mersch Sehens das „Objektiv“ setzt. Im gleichen Maße avanciert der mathematische Graph zum epistemologischen Ideal der Zeichnung, weil er, geführt durch einen Automaten, eine direkte „Einzeichnung“ oder Inskription darstellt, die ein Datum, eine Messung, eine Bewegung, einen Impuls oder ähnliches in ein graphisches Element, einen Punkt oder eine Linie überführt. Tatsächlich bedingte dieses Ideal jene exzessiven Aufzeichnungspraktiken des 19. Jahrhunderts, wie sie in den physiologischen, medizinischen, zoologischen oder botanischen Laboratorien praktiziert wurde und als deren letzter, noch menschlicher Heroe vielleicht Alexander von Humboldt zu sehen wäre: beinahe schon selbst einer Maschine vergleichbar, unterzog er alles Mögliche einer objektiven Messung, um es sorgsam in Zahlenreihen zu verwandeln oder in seine Karten, eingeteilt nach Längen und Breitengrade, Vegetationsausbreitungen, Populationen und Temperaturschwankungen etc. zu verzeichnen. Man kann deshalb überhaupt von einem Triumph der graphischen Methode sprechen, deren Entsprechung das Phantasma einer nichtinterventorischen Bildpraxis war, wie sie allem voran Ètienne-Jules Marey in seiner Méthode graphique von 1878 feierte, und die in William Henry Fox Talbots Pencil of Nature ihr genaues Gegenbild fand. Konstatierte Marey in der Einleitung seines Buches, dass die „graphische Methode“ auf alle Wissenschaften „anwendbar sei“, es sei zumindest „unmöglich“, ihre Unmöglichkeit für irgendeine Wissenschaft von vornherein festzustellen (Marey 1878: V), wurde sie auf der anderen Seite durch eine schier unübersichtliche Fülle exzentrischer Instrumente flankiert, deren Namen gleichwie Funktionen heute nahezu in Vergessenheit geraten sind: der Myograph für die Aufzeichnung von Muskelkontraktionen, der Kymograph wie ebenso der Sphygmograph für Pulsmessungen, der Ergograph für den Grad der Ermüdung, der Palmograph für Handzittern und andere Tremoli oder der Polygraph für die gleichzeitige Darstellung von Pulsschlag, Herzfrequenz und Hirnstrommessungen und ähnliches mehr. Letzterer fand dann bezeichnenderweise als Lügendetektor bis in die sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts seine bevorzugte Anwendung: Eine komplette Armada von Gerätschaften, die jede noch so kontingente Regung des Körpers überwachte, kulminiert in die Frage nach Wahrheit oder Falschheit.

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Das Medium der Zeichnung

Abbildung 5: Polygraph, X.A.F. Richter Ihr Gebrauch im 19. Jahrhunderts erscheint inflationär. Nichts entgeht ihrer Messung, wie Stephan Rieger bemerkte (Rieger 2001, ders. 2002), um gleichzeitig den Körper zu technisieren und durch formale Registraturen etwas aus ihm herauszupressen, was er freiwillig verbarg. Was jedoch auf diese Weise zur Anschauung gebracht wurde, waren neben Dokumentationen, wie sie die Fotografie lieferte – bekannt ist vor allem ihr Einsatz in der medizinischen Pathognostik oder Anthropologie –, lauter Funktionsverläufe (Chadarevian 2001), die, wie Bruno Latour zu Recht unterstrichen hat, aus dem Bild überhaupt eine „Inskription“ machten und ihm eine Position innerhalb der strukturellen Anordnung von Zeichen, Verweisen, Diskursen und Objekten sicherte (Latour 2002: 15, 24ff, 68). Statt eine ‚Abbildung‘ zu sein und sich durch mathematische Verfahren zu rationalisieren, geriet das Bild selbst zu einem skripturalen Medium und glich sich – unter Abzug jeglicher ästhetischen Qualität – tendenziell dem Text an, der das Sichtbare nicht länger als eine visuelle ‚Repräsentation‘ festhielt, sondern als Konstrukt oder neutrales Notat, das auf einer ebenso stummen wie gleichgültigen Datenspur beruhte.6

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Vgl. auch Kemp 2003: 21: „Die moderne Wissenschaft befasst sich zum großen Teil mit Prozessen [...], die von der Wissenschaft dazu angeregt werden, irgend eine Spur zu hinterlassen.“

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Abbildung 6: Mosso‘s Ergograph, The New Zealand Railways Magazine, Vol. 4, Issue 9, 1930 Allerdings seien diese hinlänglich bekannten Fakten hier nicht wieder angeführt, um von der Tortur der Maschine im und am menschlichen Körper zu handeln – den Abbildungen ist ja das Martialische und Gewaltsame der Zurichtung unmittelbar zu entnehmen –, auch nicht, um in naheliegender Weise eine direkte Linie von den zahlreichen medizinischen und physiologischen Experimenten des 19. Jahrhunderts zu den medizinischen Versuchen des Nationalsozialismus und der menschlichen Folter zu ziehen. Ebenso wenig sei darauf angespielt, dass sich die Geräte während der Aufzeichnung selbst mit aufzeichneten und dadurch einerseits störanfällig waren, wie sie andererseits ihre sensiblen Resultate durch Eigenschwingungen verfälschten, sodass diese von äußeren Wirkungen ununterscheidbar erschienen – tatsächlich bedurfte es laufend einer approximativen Kalibrierung, um sie anzupassen.7 Vielmehr sei im Folgenden die einfache, aber schwierig zu beantwortende Frage gestellt, was eigentlich ein Graph ist bzw. was er zeigen oder zu besagen vermag und, in einem nächsten Schritt, wie aus ihm neue Bilder generiert werden können, die im Sinne ihrer visuellen oder ästhetischen Anmutung eigentlich gar nicht mehr als „Bilder“ angesprochen werden dürfen, sondern weit eher als graphematische Modelle, die einer anderen als ikonischen Logik gehorchen. Denn erst von der Beantwortung dieser Frage hängt wiederum der epistemische Status der Linie ab, mithin das, was an ihr ein Wissen verkörpert oder als solches deutbar erscheint, um über den klassischen Zugriff als Form oder Figur, wie im Disegno-Konzept, hinauszugehen. 7

Um 1900 führte dieser Umstand zu umfangreichen Debatten, in deren Verlauf z.B. der deutsche Physiologe Karl Vierordt kurzum die entstehenden Kurven als „bloße Kunstprodukte“ verwarf. Vgl. dazu „Die ‚Methode der Kurven‘ in der Physiologie zwischen 1850 und 1900“ (Chadarevian 2001).

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Das Medium der Zeichnung

Episteme des Graphischen Zunächst lässt sich im mathematischen Sinne sagen, dass der Graph das Bild einer Relation darstellt. Als Bild gehört er dem Raum als dessen Teilmenge an. Jede Teilmenge eines n-dimensionalen Raumes kann in dieser Hinsicht als Graph verstanden werden, auch wenn er sich nicht direkt visualisieren lässt: Seine Visualität bedarf einer 3-D Projektion sowie einiger Minimalbedingungen wie z.B. „Dichte“ oder „Zusammenhang“ – es gibt Relationen ohne Graph, wie die alternierende Reihe von 0 und 1 gemäß der Serie der rationalen und irrationalen Zahlen, wie umgekehrt Graphen ohne rekonstruierbare Funktionsvorschriften existieren – jedes Gekritzel oder eine zufällig gezogene Linie auf dem Papier gehören dazu. Die Begriffe Funktion – oder Relation – und Graph sind folglich nicht deckungsgleich; wohl aber lässt sich heuristisch und zum Zwecke der Visualisierung von ihrer Interdependenz sprechen, insbesondere bei solchen Figuren, die regelmäßige Bewegungen oder punktuelle Ereignisse „abbilden“. Funktionen wiederum sind eindeutige Relationen; sie beruhen auf Zuordnungen, die eine Anzahl von Elementen mit einer Anzahl anderer Elemente in Verbindung bringen, sodass eine Gestalt, eine Form oder „In-Formation“ entsteht. Die Art der „In-Formation“ kann dabei vielfältig sein: ein dynamischer Verlauf, eine Häufung, eine Stetigkeit, eine Singularität oder ähnliches mehr. Damit ein Graph entsteht, müssen insbesondere beide Elementarten korrelativ, d.h. im physikalischen Raum quantifizierbar sein, also auf Messdaten sowie Metriken und ihrer entsprechenden Skalierung beruhen. Ferner ist ein Orientierungssystem vorauszusetzen, das die Korrelation rahmt, etwa orthogonale Koordinaten oder andere Systeme. Sie induzieren eine topologische Ordnung, und zwar so, dass sie nicht nur den Bildraum aufteilen, sondern auch jeden Punkt in ihm lokalisierbar bzw. adressierbar machen. Für metrische Skalierungen wiederum erscheinen Einteilungen in diskrete Marken sowie die Normierung ihrer Abstände, die einem festen Notationssystem gleichkommen, notwendig. Die funktionale Zuordnung lässt sich dann als eine eindeutige Transformation beschreiben, die die Verrechnung oder Übertragung von Werten in andere Werte gemäß einer Vorschrift oder eines Gesetzes ermöglicht, das sich mathematisch als „Injektion“ f: x → y beschreiben lässt. Injektionen – und darauf zielt die Argumentation – sind grundsätzlich indexikalisch, d.h. der Operation des Indexes äquivalent: Yf:x – man denke an die Indizierung von Wärmegraden nach Zeitpunkten, an Impulswerte nach Ener-

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Dieter Mersch gieflüssen, an Geschwindigkeiten in Relation zu Entfernungswerten usw. Allerdings hat die Diskussion um den Index im letzten Jahrzehnt, besonders ausgelöst durch Philipp Dubois‘ Der fotografische Akt, der erneut die Funktion der Indexikalität für das Fotografische geltend gemacht hat (Dubois 1998), zu mancherlei Verwirrungen geführt – vor allem dazu, mit dem Indexikalischen entweder den Realismus wieder zu behaupten oder konträr dazu den Index im Namen fotografischer Konstruktionen zu verwerfen. Beide Operationen erweisen sich jedoch insoweit als verfehlt, als sie Index und Indexikalität, d.h. Funktion und Funktionalität miteinander verwechseln und den Index bzw. die Indexikalität einseitig auf die Funktion der Referenz bezogen. Doch bildet erstere lediglich eine mathematisch beschreibbare Relation, während letztere ein diskursives Konzept darstellt. Drei Schlüsse sind demgegenüber zu ziehen: Erstens, führt die graphematische Inflation des 19. Jahrhunderts grundsätzlich zu indexikalischen Bildern, d.h. zu solchen, die die Eigenschaften von Indizes besitzen und sich einer binären Anordnung verdanken, die mithin in Bezug auf den Index-Begriff von Charles Sanders Peirce einen defizienten Modus des Symbolischen bzw. Semiotischen aufweisen. War im Rahmen des DisegnoKonzepts die epistemische Funktion der Zeichnung an das Zeichen geknüpft, büßt dieses im Indexikalischen jeden semantischen Status wieder ein. Graphematische Strukturen bringen folglich nichtsymbolische Bilder hervor: Sie haben, wie mathematische Gebilde, keine Bedeutung im Sinne eines referentiellen Sinns, der etwas Bestimmtes, eine Darstellung von etwas als etwas anzeigte; vielmehr beziehen sie sich auf nicht als auf eine formale Referenz; sie üben eine Verweisfunktion aus, beschränken sich auf reine Deixis. Zweitens behalten damit Graphen, soweit sie nicht rein mathematisch definiert sind, sondern ihrer Indexikalität Messungen, Abzeichnungen oder Aufzeichnungen und dergleichen entstammen, wie abstrakt auch immer, einen gewissen referenziellen Rest, der jedoch nicht als reale Referenz missgedeutet werden darf. Visualisierungen in den Wissenschaften, wo sie nicht simulativ verfahren und restlos in Algorithmen aufgehen, sondern sich auf Daten stützen, d.h. einen identifizierenden und bewei-

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Das Medium der Zeichnung senden Charakter besitzen und Belege produzieren, funktionieren immer deiktisch: Sie „berühren“ sich, wie es Wittgenstein ausgedrückt hat, mit der „Welt“, ohne dass freilich der Modus ihrer Berührung klar würde. Deixis bedeutet in diesem Sinne, dass die Visualisierungen „am Realen“ festgemacht sind; sie „bezeugt“ es nicht, darum verbietet formale Referenz auch nicht im Mindesten deren Konstruktivität. Weil es sich also im Wesentlichen um „Bildmodelle“ handelt, die Notationen entsprechen, verfahren sie vielmehr im gleichen Maße verweisend wie artifiziell. Drittens – und dieser Punkt erscheint maßgeblicher als der irrige Streit zwischen Konstruktivität und Indexikalität – bildet jeder Graph eine singuläre Spur: Die graphische „Repräsentation“ einer Stimme, einer Körperregung, eines Pulsschlages, eines Gitters von Hirnströmen oder einer Kernreaktion ist notwendig individuell und bezeichnet nur Dieses. Nirgends lässt sich ihnen deshalb etwas Typisches oder Allgemeines entnehmen; sie erlauben keine generellen Aussagen, sondern immer nur spezifische: Ein Vorkommnis an dieser besonderen Stelle k zu diesem besonderen Zeitpunkt p, das als solches nicht wiederholbar oder reproduzierbar ist. Anders ausgedrückt: ihre Eigenart ist nicht die eines Besagens, vielmehr einer Existenzaussage. Viertens als Existenzaussage bedarf die indexikalische Funktion einer Reihung, die aus vielen Vorkommnissen allererst eine Gestaltlinie erzeugt. An ihr sind vielleicht Unstetigkeitsstellen, Extremwerte, Wende- und Sattelpunkte, Anstiege oder Schnittpunkte und ähnliches entnehmbar, die jedoch ihrerseits der Rahmung bedürfen, um als solche lesbar zu werden. Mindestens setzt ihre konsistente Beschreibbarkeit Begriffe wie Stetigkeit, wenn nicht Differenzierbarkeit voraus, die häufig erst durch statistische Verfahren komplettiert werden müssen. Überall nichtstetige Funktionen sind nicht darstellbar; ihr Graph entspricht keinem „Bild“, sodass umgekehrt die Erzeugung einer Gestaltlinie sehr reichhaltige Annahmen erfordert, die schon „ikonischer“ Natur sind – die Menge der Interpolationen oder Konjekturen überschreitet nicht selten die zugrunde liegenden Datenmengen, die grundsätzlich einen endlichen Charakter besitzen. Ikonizität ist darum neben Indexikalität ein wesentliches Merkmal der „Methode des Graphischen“, und während diese eine Existenzaussage trifft, bezieht jene sich auf die Anschauung und der ihr „ge-gebenen“ „Qualia“ oder Eigenschaften. Nicht der Index entscheidet daher über die Plausibilität einer Wahrnehmung, sondern Oberfläche und Textur, die in mathematischen Systemen eigens modelliert werden müssen.

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Dieter Mersch Fünftens generieren Graphen vielfach erst eine Aussage im Kontext statistischer Serialisierungen. Wir berühren hier einen weitergehenden Punkt, der vom einzelnen Graphen zu „Graphenscharen“ übergeht. Es ist bezeichnend, dass wissenschaftliche Visualisierungen zumeist einen hybriden Charakter besitzen und „Hyperimages“ darstellen. Wir haben es dann mit einer Anzahl unterschiedlicher graphischer Strukturen zu tun, die nur in ihrer Beziehung aufeinander aussagekräftig sind, als Ganze aber ideosynkratische Bilder hervorbringen. Denn nicht die einzelnen Messungen sind maßgeblich, sondern ihr Zusammenspiel mit anderen: Entscheidend ist die Sammlung, die Auswertung statistischer Häufigkeiten oder Anomalien, ihre Gegenüberstellung oder Vergleich. Eine Messung mittels eines Polygraphen zur Bestimmung von Pulsschlag und Blutdruck an einem Patienten ergibt solange nichts Brauchbares, wie nicht eine Relation zu einem erst zu definierenden Normalwert (also 60-70 Puls und 120: 80 Blutdruck in Abhängigkeit zum Lebensalter) hergestellt ist, der wiederum durch Reihenuntersuchungen entlang des „Gesetzes der großen Zahl“ verifiziert werden muss. Auch hier ergibt sich eine Luftspiegelung: die statistische Untersuchung eines Objekts verlangt die statistische Untersuchung anderer Vergleichsobjekte, deren Untersuchung ihrerseits kein Vergleichsobjekt besitzt. Die Herstellung des „Normalen“ ist das Produkt einer hypothetischen Verankerung und Effekt einer Verdurchschnittlichung mittels „Gauß-Kurven“. Graphen sind so allein mit Blick auf andere Graphen interpretierbar, und zwar solange, bis sich etwas ergibt, was ebenso sehr als Norm akzeptiert werden kann, wie es selbst normierend wirkt, indem alles andere zu ihr als Abweichung gilt. Statistische Verfahren generieren so beides: ihre Norm und Normalität wie ihre Devianz. Man kennt die Diktatur solcher Normierungen, ihre gleichermaßen normalisierende wie normierende Kraft, doch entspringt ihre Legitimität keinem kausal herleitbaren Grund, sondern selbst nur einer „Wahrscheinlichkeit“. Wahrscheinlichkeiten aber sind von Wahrheiten zu trennen; zwischen ihnen klafft ein „Abgrund“, der einen anderen Begriff von Wissen einschließt. Somit hängt eine einzige statistische Aussage an der Komplexität statistischer Maschinen, die an nichts anderem festgemacht sind, als an anderen statistischen Maschinen. Anders ausgedrückt: Das Korrelat der „graphischen Methode“ ist die „statistische Methode“ oder das, was im 19. Jahrhundert parallel zur technischen Revolution der Industrialisierung die „probabilistische Revolution“ genannt worden ist (Krüger 1987), in deren Verlauf die klassische Ontologie des Determinismus durch Kalkü-

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Das Medium der Zeichnung le der Stochastik ersetzt wurde und deren hauptsächlicher kultureller Ertrag die Konstruktion des Normalen bildete. Das bedeutet auch: Die „graphische Methode“ ist entgegen den Standardversionen etablierter Wissenschaftsgeschichten nicht nur Teil von Experimentalanordnungen, wie sie im 19. Jahrhundert entstanden und an technische Medien angeschlossen wurden, sondern ebenfalls Teil jener kulturellen Transformation, die das Selbstverständnis der Wissenschaften im Zeichen einer „Logik des Wahrscheinlichen“ umcodierte.

Virtuelle Raumbilder und die Rolle des Ästhetischen Ein weiteres sei hinzugefügt. Denn wenn jeder einzelne Graph lediglich eine ebenso singuläre wie indexikalische Spur nachzeichnet, dann lassen sich im Rahmen statistischer Visualisierungsverfahren verschiedene Graphen übereinander lagern, um ein gemeinsames Bild zu evozieren, das nicht nur Abweichungen markierbar macht oder auf das Konstrukt eines „typischen“ oder „durchschnittlichen“ Verlaufs verweist, sondern das ebenfalls die Darstellungen gänzlich artifizieller und hypothetischer Objekte ermöglicht. Ihr Kontrapunkt ist das Phantom. Nicht gibt es ein Ding oder Phänomen wieder, auch wenn es so aussieht, sondern das virtuelle „Bild“ gebündelter mathematischer Funktionen. Durch Bearbeitung gewinnen sie einen plastischen, d.h. auch räumlichen und körperlichen Charakter, deren künstlerische Landschaften das Auge abtasten und die Imagination bereisen kann. Solche Kurven entsprechen keinen Daten; sie bilden Abstraktionen oder Modelle, d.h. reine Schemen ohne referenziellen Status. Man könnte von einem „Bild“ zweiter Ordnung sprechen: nicht nur von Graphen anderer Graphen, sondern einer Graphematik, der ein „Sichtbarkeitssprung“ implementiert ist. Buchstäblich überschreitet sie das graphische Register in Richtung einer Fiktionalität, die dessen Episteme noch einmal verschiebt. Solche Graphenscharen evozieren nämlich topologische Strukturen, als ob es sich um sichtbare Objekte handelt, die jedoch in dem Sinne „monströs“ wirken, als sie ihre Hypothetizität nicht mitanzeigen.8 Entsprechend hängt ihnen auch kein Existenzindex an, sondern sie verkörpern, wie mathematische Theorien, eine potentia, deren 8

Zur Nichthypothetizität vgl. „Bildlogik oder was heißt visuelles Denken“ (Mersch/Heßler 2009).

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Dieter Mersch Existenzanspruch allein in ihrer Widerspruchsfreiheit liegt. Systematisch führt dann die Betrachtung der „Bilder“ in die Irre: Was sie zu zeigen scheinen, bedeutet nichts Visuelles, dem „etwas“ in der Wahrnehmung korrespondierte, vielmehr folgen sie einer diskreten, textuellen Formation, weil die Bündelung von Graphen sowohl im Analogen wie im Digitalen nicht anders als durch eine endliche Schnittfolge realisierbar ist. Ihre Lektüre setzt darum auch die Kenntnis ihrer Entstehung voraus. Viele Computersimulationen sind von dieser Art: Nanobilder genauso wie Marsbilder oder Klimamodelle oder auch die Abbildung von organischen Molekülen und Proteinen. Die graphische Methode lässt mithin drei unterschiedliche Serien von Visualisierungen zu: Erstens, die ikonisch-indexikalische Datenaufzeichnung, die einen Existenzmarker enthält und Gestaltverläufe sichtbar macht, sowie zweitens virtuelle Bildkonstruktionen mittels Kurvenscharen, deren Ambiguität darin besteht, dass sie ein Hypothetisches im Modus nichthypothetischer Anschauungen präsentieren.

Abbildung 8: Nebelkammeraufnahme Die hier vertretene These ist, dass beide letztlich denselben graphematischen Typus gehorchen, wie sie im Disegno-Konzept entwickelt und durch automatische Graphen und deren Mathematisierung entwickelt wurden. Korrespondiert mit ihnen ein Vorrang der Form, der das Epistemische ans Semiotische anschließt, haben wir es gleichzeitig mit einem Reduktionismus zu tun, dessen Korrelat wiederum zwei Arten der Sichtbarkeit in den Naturwissenschaften darstellt: die Datenspur sowie strukturelle Graphen.9 9

Das gilt nicht ausnahmslos; Martin Kemp führt in Bilderwissen die von Per Kraulis eingeführte Software MolScript an, dessen Design wiederum auf den handgezeichneten Darstellungen von Irving Geis aus den sechziger Jahren mit ihren charakteristischen „Stangenwald“-Modellen basier-

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Das Medium der Zeichnung Verweisen dabei Spuren stets noch auf eine Indexikalität, die ihre Funktion zuletzt im Existenzbeweis besitzt und in der wissenschaftlichen Argumentation als Beleg fungiert – man denke an den Aufweis ökologischer Katastrophen mittels Sattelitenaufnahmen oder der Visualisierung eines Virus als Grund einer Epidemie usw. –, eignet dem strukturellen Graphen zunächst nur die Sichtbarmachung eines statistischen Prozesses, der seine Beweiskraft durch Bezeugung einer Existenz verliert. Problematisch wird jedoch der nächste und dritte Schritt, wenn aus Graphen, die wiederum ihre Funktion als probabilistische Figuren nicht verleugnen, neue Bilder entstehen, die etwas zeigen, was es nicht nur nicht gibt, sondern deren Korrelat im Sichtbaren überhaupt fehlt. Sie versetzen das Thema des Ikonischen buchstäblich in Verwirrung, sofern an ihnen nicht das Ästhetische und damit Wahrnehmbare zählt, sondern allein ihre Grammatik. Es lohnt, diesem Punkt mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Denn die besondere Erkenntnisleistung von Raum- oder Gebietskurven liegt in der Mustererkennung, der Gliederung und Erfassung geometrischer Ordnungen oder ähnliches, die anders nicht entdeckbar wären. Sie bieten wiederum den Ausgangspunkt für neue theoretische Modelle, wie im besonderen Maße die Geschichte der Chaosmathematik darlegt.

Abbildung 9: Chaosmathematik, Mandelbrot-Menge Sie setzte erst mit der seriellen Erstellung von Funktionsgraphen ein und bedurfte einer computergestützten Algorithmisierung, um inmitten chaotischer Vorgänge Inseln der Ordnung zu entdecken und beschreibbar zu machen, die schließlich ein weiteres mathematisches Kapitel aufzuschlagen half. Anders ausgedrückt: Tritt die Zeichnung seit der frühen Neuzeit in den Dienst sowohl der ten; gleichwohl können auch diese als abstrakte Graphen angesehen werden, die zudem auf selektiver Formalisierung und Vereinfachung beruhen, vgl. Kemp 2003: 179ff, bes. 182.

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Dieter Mersch Künste als auch der Wissenschaften, ist es erst die graphische Methode und mit ihr die Regime der Schreibung, wie sie seit der Mitte des 19. Jahrhunderts dominant werden und das epistemische vom künstlerischen Bild ablösen. Sie machen aus der Linie eine indexikalische Figur, die mehr und mehr ihre Figuralität und damit auch ihre ikonische Gestalt abgibt, um schließlich ein ganz und gar künstliches Gebilde hervorzubringen, das selbst noch seine Indexikalität abstreift. Verbunden ist damit eine Zäsur. Denn in dem Maße, wie sich Linie bündeln und zu Graphenscharen zusammenfassen lassen, entsteht ein Neues, etwas noch nie Gesehenes, dessen visueller Status systematisch prekär bleibt. Wir haben es dann mit einer Kippung zu tun, die dazu tendiert, von der abstrakten Markierung wieder in eine Darstellung überzugehen, der allerdings kein reales Korrelat zukommt und dessen Index virtuell bleibt. Folglich sind wir mit Darstellungen konfrontiert, die in reinen Konstruktionen wurzeln, die nicht etwas darstellen, von dem man sagen könnte, was es ist, die damit auch kein Gegenständliches mehr zu erkennen geben, sondern die in dem Sinne modellhaft bleiben, als sie lediglich abstrakte Texturen markieren, die immer nur „mögliche“ Welten offenbaren, welche von ihren eigenen mathematischen Gesetzen beherrscht werden.

Abbildung 10: M.C. Escher: Moebius Strip 1, 1961 Nirgends geben sie ein Sichtbares wieder, sondern erzeugen eine Sichtbarkeit aus Unsichtbarem, ja – unterscheidet man zwischen einem Unsichtbaren als Grund oder Ort des Sichtbaren und einem schlechterdings Nichtsichtbaren, das in keiner Beziehung zu irgendeiner Art von Anschauung steht – sogar aus einem Nichtvisuellen.

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Das Medium der Zeichnung

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Worte: verfilmt. Zur Intermedialität der Schrift im Avantgardefilm WOLFGANG BEILENHOFF „Worin bestand eigentlich die Erfindung des Tonfilms? Erst vor vierzehn Tagen bin ich darauf gekommen. Man hat einfach die eine Einstellung, die ZwischentitelEinstellung, raus genommen und man hat die anderen Einstellungen aneinandergehängt. Das heißt von den drei Einstellungen, die es vorher gab, ist eine weg gefallen, und aus den zwei anderen ist eine geworden. [...] Der Tonfilm machte nichts weiter, als dass er eine Einstellung verschwinden ließ, und damit hat der Mund angefangen, wie im Leben zu sprechen.“ (Jean-Luc Godard )

Medien Was Godard hier mit seiner Vorliebe für Paradoxien entwirft, ist eine Gegengeschichte des Films. Gegen die 1980 noch dominierenden Entwürfe einer Geschichte des Films als einer Geschichte der Emanzipation des Bildes von der Schrift, gegen die traditionellen Konzeptualisierungen des Films als eines auf Audio-Vision sich synthetisierenden und das ‚Leben‘ suggerierenden Mediums setzt er die Produktivität, den Mehrwert medialer Differenz: Und zwar jener Differenz, die sich über das Zusammenspiel – oder auch die Begegnung – von Bild und Schrift einstellt. Diesem Zusammenspiel, dieser Interferenz möchte ich im Folgenden nachgehen anhand eines Films, der Schrift auf eine zugleich systematische wie spielerische Weise filmt und verfilmt. Es handelt sich um Michael Snows 45minütigen Schrift-Film mit dem lapidaren Titel „So Is This“ (1972) (CA, R: Michael Snow): Ein Film, der mit

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Wolfgang Beilenhoff dem Medium Film das Medium Schrift denkt, ein Film, der, so könnte man sagen, von der Begegnung zweier Medien handelt.

Deixis

Abbildung 1: So Is This (1972) (CA, R: Michael Snow) Wie die meisten Filme beginnt auch dieser Film mit Schrift. Während Schrift jedoch in der Regel als Medium filmischer Paratexte oder narrrativer Funktionen figuriert, lesen und sehen wir hier für die Dauer von zehn Sekunden, um ein Vielfaches länger, als zum Verständnis erforderlich wäre, dieses solitäre /this/ auf der Leinwand. Es ist das Schlüsselwort dieses Films, Lieblingswort des Autors, wie es in einer späteren französischsprachigen Passage heißt: /l'auteur/aimait/beaucoup/le/mot/„ceci“/. Um dieses Wort, dieses Deiktikon, das in seiner „Hier-Jetzt-Origo“ (Karl Bühler) der stärkste sprachliche Index für Präsenz ist, kreist der ganze Film. Immer wieder sehen und lesen wir es auf der Leinwand, zudem in unterschiedlichen Funktionen. Bisweilen rein referentiell, indem es auf etwas verweist, auf den Film – /this/film/ - oder auf die Leinwand /this screen/. Dann wieder kommt es in seiner Selbstreflexivität zum Zuge. Und so lesen wir in den unmitttelbar auf dieses exponierte einleitende „This“ folgenden Einstellungen:

Abbildung 2: ebd.

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Worte: verfilmt Es ist eine unerwartete Schrift – Bild- Sequenz. Wir sehen – und lesen, lesen – und sehen – Wörter, jedes für sich, durch einen harten Schnitt vom jeweils vorausgehenden und folgenden Wort getrennt. Der Satz, den wir sukzessive so bilden, ist gleichsam ein skripturaler establishing shot, ein Filmanfang, der überrascht und uns fragen macht, was denn jener Titel sei, von dem hier die Rede ist. Denn fokussiert man auf dieses /this/ in seiner Selbstreflexivität, dann wäre es selber Titel dieses Films. Doch wie kann es dann zugleich Titel /of/this/film/ sein? So verstrickt uns dieses den Film einleitende Deiktikon von Beginn an in Aporien. Es erzeugt Ambivalenzen, indem Deixis als eine sprachliche Operation zum Konstruktionsfaktor eines Films wird und ein dichtes Netz sprachlicher Präsenz spannt, das gleichermaßen von Objektdeixis – /this/film/ wie Personaldeixis – /the/author/of/this/film, von Temporaldeixis – /this/moment/ wie Lokaldeixis – /this place/ – getragen wird1 Und um den Zuschauer einzustimmen auf die medienästhetischen Verschiebungen, die dieser skripturale establishing shot signalisiert, heißt es lapidar daher weiter dann auch:

Abbildung 3: ebd. Was wir in der Folge sehen, ist ein faszinierender, der Konzeptkunst der siebziger Jahre verhafteter Schriftfilm, der die Medialität von Schrift ausstellt und mit den rezeptiven Wahrnehmungsmodi von Sehen und Lesen, Erinnern und Entwerfen, Wissen und

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Vgl. zum Problem einer Bild-Deixis: „‚Here is a Picture of No Revolver!‘ The Negation of Images and Methods for Analyzing the Structure of Pictorial Statements“ (Branigan 1986).

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Wolfgang Beilenhoff Raten, Starren und Entziffern spielt.2 Einsetzend mit dem ersten Wort, der ersten Einstellung, dem ersten „Schriftbild“ operiert dieser Film explizit mit Medialität. Und so wird von Beginn an ein Prozess intoniert, über den Sprache und Schrift zu medialen Agenten eines Films werden. Und dies in der ganzen Spannweite von Emotion und Kognition, Konkretion und Abstraktion: /I /like/to/have/ecstasis/and/analysis (So Is This).

Transkription /This / was / handwritten / then / it / was / typeset / then / filmed / and / now / it’s / light /reading /3 /This/: Dieses einzelne Wort, der Satz, den wir hier lesen, weiterhin der über diese Sätze gebildete Text, schließlich der aus diesen Schriftbildern bestehende Film: All dies verdankt sich – wie hier betont wird – medialen Transformationen. Der ‚Film‘ hatte zunächst diese Form einer handschriftlichen Aufzeichnung: „real human stuff that will make

He’s going to be completely Frank

be

originally […]“ (MacDonald 1995: 146)

In einem zweiten Schritt wurden die handgeschriebenen Wörter dann zu Maschinenschrift, um in einem dritten Schritt Wort für Wort gefilmt und auf eine Leinwand projiziert zu werden. Geschrieben, gedruckt, gefilmt, gezeigt: Von der Tinte zum Licht als Medium der Sichtbarmachung, vom Papierblatt zur Leinwand als Träger der Wörter, von einer Geste des Schreibens über eine Geste des Filmens hin zu einer Geste des Projizierens. Was sich in

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Snow weiß um die Bild/Schrift-Experimente der Avantgarde der sechziger bzw. siebziger Jahre, weiß, dass sein Film nicht der erste Schriftfilm ist. Daher ‚kontextualisiert‘ er sich auch explizit: „/there /have /been / several /films /or /videotapes /that /concentrate /on /texts /for /example /Richard /Serra /Tom /Sherman /Su /Friedrich /John /Knight /and /Paul /Haines /have /made /excellent /use /of /texts. /The /author /would /like /to /have /been /the /first /but /it’s /too /late/”. Auch dies ist natürlich nur eine (Möglichkeit der) Transkription von Michael Snows Film in einen gedruckten Text…

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Worte: verfilmt dieser Abfolge unterschiedlicher Medien und medialer Gesten geradezu exemplarisch zeigt, ist jener medientheoretisch und medienästhetisch produktive Fall, wo „Eine Sinn erhellende Kopplung [...] verschiedener medialer Symbolsysteme [...] stattfindet, indem [...] ein zweites mediales Kommunikationssystem zur Kommentierung, Erläuterung, Explikation und Übersetzung (der Semantik) eines ersten Systems [...]“ (Jäger 2002: 29, 37) dient. Die zu Beginn über das Stichwort ‚mit‘ angesprochene Kopplung zweier Medien mit dem Ziel, ‚mit‘ dem Medium Film das Medium Schrift denken zu können, soll durch den Rückgriff auf das Konzept einer kulturwissenschaftlich fundierten Transkriptionstheorie verdeutlicht werden, deren medientheoretische Relevanz sich darin zeigt, dass Transkription nun verstanden wird als eine Operation, die dem jeweils transkribierten Symbolsystem eine sekundäre, Lesbarkeit verleiht. Für den vorliegenden Fall bedeutet dies, dass das Symbolsystem Schrift durch das Medium Film und dessen transkriptive Verfahren eine bislang nicht gegebene Lesbarkeit – und Sichtbarkeit – gewinnt. Dieser Beziehungslogik von Schrift als Prätext und Film als transkribierendem Symbolsystem wird im Folgenden anhand der für den Film als Medium konstitutiven Parameter Raum und Zeit nachgegangen werden. Über sie, über die transkriptiven Verfahren, die diesen Parametern zugrunde liegen, lässt sich – so das Ziel – erschließen, wie Snow’s Film dem Medium Schrift eine strukturelle und semantische Ordnung verleiht und Schrift hierüber auf eine unerwartete Weise lesbar und sichtbar macht.

Schrift & Einstellung Das zentrale transkriptive Verfahren ist zweifellos die Platzierung jeweils nur eines Wortes in jeweils nur eine Filmeinstellung: /The / film / will / consist / of / single / words / presented / one / after / another / to / construct / sentences / Isoliert und exponiert erfahren die Wörter – Agenten des medialen Symbolsystems Schrift – eine signifikante Verschiebung. Stehen sie doch plötzlich unter dem Gesetz der filmischen Einstellung. Gefilmt und verfilmt, erscheinen sie uns zugleich vertraut und verfremdet. Die dabei greifenden Verfahren sind Kadrage, Materialität und Deterritorialisierung.

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Wolfgang Beilenhoff Die filmische Kadrierung führt dazu, dass einsilbige Wörter wie /a/ oder /This/ plötzlich ungewöhnlich groß erscheinen, nahezu die ganze Leinwand einnehmen, wohingegen mehrsilbige Wörter, Wörter wie /presented/ oder /sentences/, verkleinert, in den Hintergrund gerückt erscheinen. Es kommt so zu einer unerwarteten Größenvarianz, zu einem Effekt, der unserer Erfahrung mit dem Medium Schrift widerspricht. Gehen wir in der Regel doch davon aus, dass mehrsilbige Wörter ‚länger‘ und ‚größer‘ sind als einsilbige, so machen wir hier plötzlich die Erfahrung einer gezielten Brechung typographischer Regelsysteme: /each / word / is / of / different / size. Diese Transkription von Wörtern in filmische Einstellungen, diese paradoxe Verfilmung der Schrift führt zu einer Transformation der Schrift ins Bildhafte. Die Wörter erscheinen nicht nur in unterschiedlicher Größe, sondern auch unterschiedlicher Farbgebung. Zudem werden sie, wie im Weiteren zu zeigen ist, in Bewegung gesetzt, gleichsam intoniert. All dies führt dazu, dass der Zuschauer zum Fluchtpunkt einer medialen Doppeladressierung wird: als jemand, der liest, und als jemand, der sieht; als jemand, der die Bedeutung der Wörter und Sätze entschlüsselt und dabei die Materialität der Schrift ausblendet, und zugleich als jemand, der mit dem nächsten Schrift-Bild auf die Materialität der Schrift verwiesen wird. Die Re-Materialisierung der Schrift operiert mit einem ganzen Spektrum an Verfahren. In Abkehr von der typographischen Norm erscheinen die Wörter plötzlich weiß auf schwarz. Farbe, Textur, Größenvarianz, Dichte der Schwärze oder die Konturierung einzelner Drucktypen führen dazu, dass wir die Wörter plötzlich auch als Materialität, als Ding auffassen und deutlich wird, dass die graphisch-visuelle Darstellung der Schrift keineswegs sekundär ist. Die Schrift wird abgelöst von ihrer Funktion als reiner Informationsträger und exponiert dafür ihre medialen Bedingungen. Während sie in der Regel auf einer Verflüchtigung ikonischer Elemente beruht (Groß 1990: 233), gleichsam ihre eigene Unsichtbarkeit als Bedingung ihrer Lesbarkeit setzt, haben wir hier neben der durch die Kadrierung gewonnen Isolierung des Wortes zugleich dessen Materialisierung. Eine Materialisierung, die aus symboltheoretischer Sicht dazu führt, dass die Schrift Sichtbarkeit gewinnt. Jenseits aller kommunikativen Funktion verkörpert sie nun etwas. Und zwar jenen „Körper der Graphie“, den Snows Film so sinnfällig macht, einen Körper, der „[...] die Transitivität der Dechiffrierung [stört]“ und „den Durch-Blick auf Latenzen [verstellt].“ Noch vor jeder Signifikation sind wir damit

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Worte: verfilmt konfrontiert, dass „Schrift zuallererst ‚sich zeigt‘, statt auf etwas zu verweisen.“ (Strätling/Witte 2006: 7) Ein drittes transkriptives Verfahren ergibt sich schließlich aus der besonderen strukturellen Aufladung der Schrift-Einstellungen. Dadurch, dass die Einstellungen immer nur ein einziges Wort zeigen, dadurch, dass dieses solitäre Wort durch den filmischen Schnitt vom jeweils vorausgehenden und folgenden Wort rigoros getrennt ist, erscheinen die Wörter plötzlich isoliert und dekontextualisiert. Sie zeigen sich uns auf eine Art, wie dies höchst selten der Fall ist: Als solitäre Sprach-Bild-Phänomene. Und wie bei jedem Einstellungswechsel ergibt sich auch hier ein Kommen und Gehen, ein Erscheinen und Verschwinden, eine räumliche Dynamik, für die es bei der Schrift als Medium keine Entsprechung gibt und die im Verbund mit der Isolierung der Wörter dazu führt, dass diese buchstäblich deterritorialisiert werden.

Schrift & Zeit Transkription von Schrift anhand des Mediums Film bedeutet keineswegs nur Kadrierung, Rahmung der Schrift, Materialität, Sichtbarkeit oder Deterritorialität. Die filmische Einstellung ist ja keineswegs nur räumliche Setzung, sondern als projiziertes Bild, zugleich immer auch Dauer und Zeit. Unter diesem Gesichtspunkt sei hier noch einmal zurückgegriffen auf den Produktionsprozess des Films, auf die erste, handgeschriebene Version. Was an ihr ins Auge springt, ist die Tatsache, dass jedem Wort eine Ziffer beigefügt ist. So unter anderem im folgenden Satz: The (7) / author (14) / is (4) / going (7) / to (4) / tell (7) / you (7) / as (4) / much (7) / as (4) / he (4) / can (7) / about (7) / himself (14). Die jeweiligen Zahlen stehen für die Anzahl der Bildkader des jeweiligen Wortes, so dass /he/ bei einer Projektionsgeschwindigkeit von 24 Bilder/Sek. exakt 1/6 Sek. zu sehen und zu lesen ist, das kaum längere /you/ hingegen fast die doppelte Zeit, oder /author/ mehr als ½ sek. Es kommt so einem buchstäblichen Timing der Wörter, das als transkriptives Verfahren einer Zeit-Einstellung von Schrift und Text die /distinctive /capacity /of /film /to /structure /time/ aufgreift. Wie bei dem transkriptiven Verfahren der Raum-Einstellung ergeben sich nun auch hier unerwartete ästhetische und kognitive Effekte.

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Wolfgang Beilenhoff Als solche ist Schrift ein zeitresistentes Medium. Als projizierte, vom filmischen Bewegungsbild getragene und artikulierte Schrift hingegen tritt sie plötzlich unter das Diktat der filmischen Zeit. Wie jeder Filmemacher kontrolliert auch Snow die Zeit. Und indem er sie beschleunigt oder verlangsamt, kann mit den Erwartungen des Lesers & Zuschauers spielen. Während uns die Schrift in der Regel die Möglichkeit gibt, über einem Wort, Satz, Seite so lange zu verharren, wie wir wollen, sind wir angesichts dieses Films plötzlich konfrontiert mit einer brutalen Zeitbegrenzung. Und indem Schrift als zeitresistentes Medium nun mittels des zeitintensiven Mediums Film transkribiert wird, kommt es zu einer Rhytmisierung, zu einer verblüffenden Animation von Wort, Text und Schrift. Von Beginn an gewinnen die Wörter und Sätze eine Zeitdynamik, die dazu führt, dass dasselbe Wort, so schon das einleitende /this/, zunächst nahezu 10 Sekunden zu sehen ist, während es einen Augenblick später, im selben Satz, plötzlich nur noch 4 Sekunden auf der Leinwand erscheint und über diese Differenz eine Art Schriftperformanz in Szene setzt. Dieses transkriptive Verfahren einer Zeit-Einstellung der Schrift kann daher auch zu einem Verfahren führen, das man eines der Buchstäblichkeit oder Mimikry nennen könnte. Es zeigt sich darin, dass die Wörter, dass die Signifikanten bisweilen in eine sinnliche, erfahrbare Relation zu ihren jeweiligen Signifikaten gesetzt werden. Wenn daher in dem Satz /each / word / can / be / hold / on / the / screen / for / a / specific / lenght / of / time / das Wort /length/ in eine Art temporaler Großaufnahme über 58 Sekunden lang auf der Leinwand zu sehen ist, so ist dies eine filmisch möglich gewordene Restituierung mimetischer Schrifttheorie, deren spielerisches Potential sich an anderer Stelle darin zeigt, dass Wörter wie /cunt/, /cock/ oder /ass/, Wörter, die, wie der Autor schreibt, dem Eingriff des Zensors zum Opfer fallen dürften, dies genau darüber augenfällig werden lassen, dass sie im subliminalen Bereich mit der kaum noch wahrnehmbaren Frequenz von zwei Bildkadern auftreten und so ihr eigenes Zensurverbot visualisieren. Oder dadurch, dass – nun mit Bezug die mediale Differenz von Schrift und Film – das Wort /filmed/ dadurch ‚filmisch‘ wird, dass es mittels Flicker-Effekt seine eigene filmische Vorführung inszeniert und simuliert. Diese spielerische, bisweilen in Mimikry abschweifende Transkription der Semantik eines Wortes ins Ikonische spielt selbstverständlich an auf das seit Beginn der Schrifttheorie virulente Problem von Konvention und Natürlichkeit an. Daher ist die von Snow vollzogene mimetische Anpassung der Wörter an die von

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Worte: verfilmt ihnen bezeichneten Dinge oder Begriffe nicht nur eine experimentelle Demonstration, die uns vor Augen stellt, was sich ergibt, wenn die Wörter in der Linie der kratylischen Schrifttheorie dem Bereich von physis – und nicht von thesis – zugewiesen werden. Deutlich wird hierbei zugleich ja auch, dass solche Naturalisierung von Schrift auf mediale Bedingungen angewiesen ist, denen sie sich als filmischer Effekt verdankt, die sie daher auch im nächsten Augenblick schon wieder zu dekonstruieren vermögen.

Denken ‚mit‘ Medien Der besondere Stellenwert des Transkriptionskonzepts als eines Konzepts, das die Lesbarkeit kultureller Zeichensysteme und Medien ins Zentrum stellt, liegt weiterhin auch darin, gezeigt zu haben, dass transkriptive Verfahren keineswegs nur bei expliziten Zeichen und Texten greifen. Transkibiert werden können vielmehr auch epistemische Prätexte, ‚epistemische Objekte‘. Unter diesem Gesichtspunkt zeigt sich im vorliegenden Fall eine auffällige Referenz auf zwei medientheoretische epistemische Prätexte: auf semiotische Theorien des Films und medientheoretische Konzeptualisierungen der Schrift.

‚ MIT ‘ S CHRIFT Die Platzierung jeweils nur eines Wortes in jeweils eine Einstellung hat explizite wie implizite filmtheoretische Prätexte. Eine explizite Referenz findet sich als Referenz auf Konzepte der frühen Filmtheorie. Sie reflektierte den Film ja als Sprache, verstand daher auch, in analogisierender Verkürzung, die Einstellung, basale Einheit des Films, als filmisches Wort.4 Dieses filmtheoretische Postulat einer strukturellen und funktionalen Analogie von Einstellung und Wort (vgl. Goyette 2002) erfährt in Snow’s Film eine signifikante Umkehrung, indem das Wort, wie gezeigt, selber unter das Regime der filmischen Einstellung gesetzt wird. Daher geht es nun auch nicht mehr um eine theoretische Ausrichtung des Symbolsystems Films hin auf jenes der Sprache. Vielmehr heißt es jetzt lapidar und jenseits aller Ontologisierung: Die Einstellung, jede Einstellung IST ein Wort. Und so ließe sich in Ab-

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Vgl. hierzu repräsentativ die Rede von der Montage als „Syntax des Films“ des Films bei Boris Ejchenbaum oder die Begrifflichkeit der „Filmsprache“ bei Viktor Sklovskij, vgl. Beilenhoff 2005: 37ff, 203.

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Wolfgang Beilenhoff wandlung von semiotischen Überlegungen zum Status der Einstellung sagen, dass in diesem Film die „[Schrift]Welt in einzelne Einstellungen zerlegt [wird]“ und sich damit die Möglichkeit ergibt, „jedes beliebige Detail zu isolieren“ (Lotman 1977) und zu akzentuieren.5 Das Denken ‚mit‘ dem Medium Film, das sich in einem ersten Schritt so als spiegelbildliche Umkehrung filmtheoretischer Prätexte manifestiert, hat zum Bezugspunkt jedoch auch einen zeitgenössischen historischen und kulturellen Ort, von dem aus gesprochen und argumentiert wird. Er ist jedoch eher implizit und erweist sich als Referenz auf die Filmsemiotik der sechziger bzw. siebziger Jahre. Für sie bestand der Stellenwert der Sprache vor allem ja darin, dass sie in ihren zeichentheoretischen Prämissen und diskursiven Signifikationsmodi zum Ausgangspunkt einer Reflexion des Mediums Film wurde. Unter diesem Gesichtspunkt erweist sich „So is This“ als ein Film, der ausgewählte Theoreme der Semiotik aufgreift, um sie als Sonden in seinen Film einzulassen.

S CHRIFTTHEORIE ‚ MIT ‘ F ILM : Mit dieser durch die filmische Einstellung eröffneten Möglichkeit einer Isolierung „beliebiger Details“ ist zugleich ein schrifttheoretischer Prätext aufgerufen. Das transkriptive Verfahren der filmischen Einstellung eröffnet Einblick auch in einen grundlegenden Strukturaspekt der Schrift, in die für jedes Schreiben und Lesen konstitutive Zwischenräumlichkeit. Das Filmen der Schrift, diese Transkription der Schrift erschließt somit mediale Merkmale auch der Schrift und macht diese sichtbar und lesbar. „Die Pointe der für das Schriftbild konstitutiven Zwischenräumlichkeit“ – so neuere Theorien der Schrift – „ liegt [...] darin, ein Prinzip von Visualität zur Geltung zu bringen, bei dem an die Stelle von ‚Gestalt‘ etwas anderes tritt, nämlich die ‚Stellung-innerhalb-einer-Konfiguration‘, wir können dazu auch sagen: Der ‚Stellenwert‘.“ Schrift wird hier deutlich als „ [...] notationales Medium, welches im Unterschied zum dichten, piktoralen Medium mit Lücken bzw. Leerstellen arbeitet.“ Was die Schrift als Medium auszeichnet, ist somit eine paradoxe „‚Leerstellen-Sichtbarkeit‘“ (Krämer 2006: 77f).

5

Vgl. „Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films“ (Lotman 1977): „Die in einzelne Einstellungen zerlegte Filmwelt gibt uns die Möglichkeit, jedes beliebige Detail zu isolieren.“ (Ebd.: 40)

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Worte: verfilmt Diese weist nun eine unerwartete Parallele zum Medium Film auf. Auch hier haben wir Zwischenräumlichkeit: Den Raum zwischen den Einstellungen und den für die Erzeugung des Bewegungsbildes konstitutiven schwarzen Balken zwischen den einzelnen Bildkadern. Allerdings sind diese Zwischenräume allein dazu da, gelöscht zu werden. Einerseits durch die mechanischen Operationen während der Projektion. Andererseits durch den Schnitt, der in der Regel das Ziel einer visuellen und narrativen Kontinuität verfolgt. Wenn nun ein Film – wie dies im vorliegenden Fall geschieht – zwei medial differente Räumlichkeiten miteinander verschaltet, indem er die Zwischenräumlichkeit der Schrift mittels jener des Films transkribiert, ergeben sich unerwartete Zwischenlagen. Insbesondere für das so produzierte und provozierte Zusammentreffen von Sehen und Lesen. Was hier aufgerufen wird, ist Wissen, ist „implizites Regelwissen“ (Jäger 2002: 32) das den Vorgang des Lesens betrifft. Wissen des Zuschauers darüber, was ein Wort ist, oder auch ein Satz. Auch sein Wissen über Medien, über die kulturelle Funktion und die medialen Differenzen von Bild und Text, Film und Schrift. Dieses Wissen gewinnt – und dies ist entscheidend – durch die Transkription einen neuen Status. Es figuriert, wie sich gezeigt hat, nun gerade nicht mehr als „implizites“ Wissen, sondern erfährt eine Rückübersetzung ins Exemplum und wird durch die transkriptiven Verfahren sinnfällig inszeniert. Wir haben einen Film vor uns, der mit konventionellen Annahmen über Film und Schrift, über Bild und Text spielt und unser diesbezügliches implizites Wissen visualisiert. Dazu gehört auch Medien-Wissen, das Wissen darum, dass die Eigenschaften von Medien sich allein über einen Vergleich von Medien erschließen lassen und dass das so eröffnete „interaktive Spiel der Medien“ nicht nur „[...] als genuiner Konstitutions-Ort von Semantik [fungiert]“ (Jäger 2002: 27), sondern auch als ein Labor, in dem Text und Bild, Sagen und Zeigen, Lesen und Sehen ein innovatives experimentelles „Spiel“ eingehen. Es ist ein Spiel, nicht ohne Risiko. Suspendiert es doch, wie wir abschließend lesen, fundamentale Grenzziehungen, Grenzziehungen unter anderem der Medienpragmatik, medienpragmatische Grenzziehungen, Grenzziehungen zwischen basalen Kulturtechniken wie Lesen und Sehen: Warning: / This / film / may / be / especially / unsatisfying / for / those / who / dislike / having / others / read / over / their / shoulders.

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Wolfgang Beilenhoff

Literatur Beilenhoff, Wolfgang (2005): Poetika kino. Theorie und Praxis des Films im russischen Formalismus, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Branigan, Edward (1986): „‚Here is a Picture of No Revolver!‘ The Negation of Images and Methods for Analyzing the Structure of Pictorial Statements“, in: Wide Angle 8, 3-4, S. 8-17. Godard, Jean-Luc (1983): Einführung in eine wahre Geschichte des Kinos, München: Hanser. Goyette, Louis (2002): „Master Lessons with Michael Snow“, in: Offscreen, http://www.horschamp.qc.ca/new_offscreen/snow_ pedagogy.html (30. 11. 2002). Groß, Sabine (1990): Schrift-Bild. Die Zeit des Augenblicks, in: Georg Christoph Tholen/ Michael Stoll (Hg.), Zeit-Zeichen. Aufschübe und Interferenzen zwischen Endzeit und Echtzeit, Weinheim: VCH, Acta Humaniora. Jäger, Ludwig (2002): „Transkriptivität. Zur medialen Logik der kulturellen Semantik“, in: Ludwig Jäger/Georg Stanitzek (Hg.), Transkribieren – Medien/Lektüre, München: Fink, S. 19-41. Krämer, Sybille (2006): „Zur Sichtbarkeit der Schrift oder: Die Visualisierung des Unsichtbaren in der operativen Schrift. Zehn Thesen“, in: Susanne Strätling/Georg Witte (Hg.), Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink Lotman, Jurij (1977): Probleme der Kinoästhetik. Einführung in die Semiotik des Films, Frankfurt/Main: Syndikat. MacDonald, Scott (1995): Screen Writings. Scripts and Texts by Independent FIlmmakers, Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California Press. Strätling, Susanne/Witte, Georg (Hg.) (2006): Die Sichtbarkeit der Schrift, München: Fink.

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Kameraden und Kohlköpfe: John Heartfield im Universum der technischen Bilder NANCY ROTH

Sie offenbaren eine Welt des tiefgreifenden, unerbittlichen Antagonismus: Die A.-I.-Z. Fotomontagen John Heartfields enthalten insgesamt 245 Arbeiten, die alle zwischen 1930 und 19381 veröffentlicht wurden. Sie adressieren uns als wissenden und denkenden Leser einer Zeitung2, als engagierten Kommunisten, der mit einer zuverlässigen Überzeugung gegen Ungerechtigkeit, Unmenschlichkeit und Faschismus ausgestattet ist, dabei aber auch klar Position gegen die Argumente der Sozialisten bezieht. Der Gewinn dieser Fotomontagen bemisst sich in der Erkenntnis, dass wir mehr sind, als nur Leser. Sie zeigen uns die Welt über die Zeitung hinaus, von einem Ort aus, der es möglicht macht, Menschen lesend zu betrachten und so für den Text einen größeren Rahmen zu fassen – die Verbindung und Differenz von Text, Fotografie und Ton zu denken. Heartfield stellte in seiner ersten Fotomontage für die A.-I.-Z. eine sehr wichtige Verbindung zur Zeitung her und unterscheidet uns schließlich von den weniger einsichtigen Lesern anderer Blätter. Wie nahezu alle Fotomontagen besteht Der Kohlkopf (Abbildung 1) aus einem Bild, das die ganze Seite einnimmt, und aus einem oder mehreren Texten - in diesem Fall zwei. Anders als bei den Fotographien in einer Zeitung, die den Text immer um ein Bild herum organisiert, können die Fotomontagen Texte entweder

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Diese Zahl entnehme ich den Angaben von David Evans: „John Heartfield: A.-I.-Z./ VI: 1930-1938“ (1992). Die Arbeiter-Illustrierte-Zeitung unter der Leitung von Willi Münzenburg, eine der in den 1930er Jahren bekanntesten illustrierten Tageszeitungen in Deutschland.

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Nancy Roth innerhalb oder außerhalb ihrer Ränder enthalten. In beiden Fällen werden sie meist als Redebeitrag verstanden – mit einigen Ausnahmen, auf die ich noch weiter eingehen werde.

Abbildung 1: A.-I.-Z. 9, Nr. 6, 1930: 103 Befindet sich der Text im Bild, scheint er sich immer auf ein Geräusch zu beziehen, das von einer dargestellten Person oder einem Gegenstand auf dem Bild ausgeht. Für die Texte außerhalb des Bildes sind die Quellen der implizierten Stimmen unterschiedlich: In einigen Fällen scheint sich die Partei zu melden, in anderen Fällen das Gewissen des Lesers, dann scheinen wiederum die Toten zu uns zu sprechen, von Zeit zu Zeit ergreift auch Heartfield selbst das Wort. Der Kohlkopf zeigt sich jedenfalls als ein Opfer von schlechten Lesegewohnheiten. Die offensichtlich gestellte Aufnahme zeigt einen mit Streifen aus spießbürgerlichen (d.h. weniger radikalen als die A.-I-.Z.) Zeitungen verhüllten Kopf, der weder hören noch sehen kann. Er kann sprechen und überzeugt uns in seiner Rezitation reaktionärer Knittelverse jedoch nur von seinen schweren geistigen Schäden: Er spricht als überzeugter Nationalist, als Kämpfer für eine paramilitärische Einheit; doch dabei wirkt seine Mundart nur peinlich. Die zweite „Stimme“ des Bildes ist ein darunter platziertes Textband, das eine Lösung verkündet und das Problem des Kohlkopfs schließlich beim Namen nennt: „Wer Bü-

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Kameraden und Kohlköpfe gerblätter liest, wird blind und taub. Weg mit den Verdummungsbandagen!“ Diese Stimme könnte tatsächlich der Partei gehören, doch Heartfields Name steht so dicht darunter, dass beide verschmelzen: in der Einführung einer Gegenposition – dem Kontrast zwischen „uns“ und „Ihnen“, zwischen Kameraden und Kohlköpfen, zwischen denen, die sehen können und denen, die wegsehen. Die Kontraste, die durch Heartfields Fotomontagen und die publizierende Zeitung aufscheinen, lassen sich mit Vilém Flussers Ausführungen über die Beziehung linearer Schrift zu den Bildern erörtern. Es mag sein, dass Vilém Flusser in seiner Auffassung der Schrift – der Zeilen des alphanumerischen Codes – eine einzigartige Position unter den Medientheoretikern einnimmt: er versteht die Schrift in ihrer Funktion den Bildern entgegengesetzt. Er beschreibt diesen Antagonismus sowohl als Merkmal seines eigenen Bewusstseins und gleichzeitig als formende Kraft der Geschichte der Medien. Flusser schrieb, dass die Schrift erfunden wurde, um die Bilder zu erklären – um so ihre Wirkung auf das menschliche Bewusstsein zu untergraben. Flusser beschreibt seine eigene Schreiberfahrung als einen Akt der Gewalt, dem das Forcieren einer Idee vorausgeht: zunächst als mentales Bild geformt wird sie zuerst in Worten und entsprechend der Grammatik einer natürlichen Sprache und dann die jeweilige spezifische Rechtsschreibung (Flusser 1991: 39ff.) formuliert. Er umreißt damit eine Mediengeschichte, in der die Schrift kontinuierlich dieselbe subtile Gewalt an den Bildern begeht – indem das magische Bewusstsein, charakterisiert durch eine zeitliche Bewegung der Wiederholung, in die Überzeugung transformiert wird, dass wir in einer Geschichte leben, in der die Zeit nur in einer Richtung fließt. Die Schrift schaffte es, eine dominante Stellung gegenüber den Bildern einzunehmen – sie überzeugte sogar so sehr, als dass sie ihre eigenen inneren Fehler enthüllte: nämlich die unmenschlichen, unerträglichen Ansprüche, die ein historisches Bewusstsein an einen Menschen stellen kann: „Das historische Denken hat sich als wahnsinnig und mörderisch erwiesen“ (Flusser 1987: 38). Das zugrundeliegende Motiv der Erfindung der technischen Bilder ist vielmehr hier zu suchen als in den technischen Nachteilen der Schrift. Als technische Bilder bezeichnet Flusser Technologien, die imstande sind, genug Informationen möglichst schnell und präzise zu vermitteln, um so mit den gedruckten Zeilen alphanumerischen Codes zu konkurrieren und dazu fähig zu sein, die Schrift schließlich zu verdrängen. Dabei geht es bei Flusser an

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Nancy Roth erster Stelle um Fotografie, gefolgt von Film und Video, (Flusser fasst auch die Tonwiedergabe und deren Übertragung als technische Bilder auf) und digitalen Medien. Zusammen unterstützen diese Medien eine Form von Bewusstsein, dass sich antagonistisch zur Schrift verhält, dabei ungeduldig mit dem historischen Bewusstsein umgeht und eine Antipathie gegen das Beharren auf Erklärungsmodelle hegt; die Bilder in Verhältnisse von Ursache und Wirkung, eine Anordnung der Zeit als Fluss in nur eine Richtung, in den Rahmen geschriebener Sprache zwingen. Die Leser der A.-I.-Z. kann man am besten als belesenen Leser charakterisieren, die wohl zur unersättlichsten Spezies aller Zeiten gehörte. Im Hinblick auf die rasche Verbreitung neuer Kommunikationstechnologien in der Weimarer Republik, Film, Radio und insbesondere die explosionsartige Verbreitung von gedruckten Fotografien erlebten die Leser den von Flusser viele Jahre später im Rückblick beschriebenen Wandel: die Entstehung eines neuen Bewusstseins. Zunächst gab er in seinem Buch Ins Universum der technischen Bilder (Flusser 1985) einen allgemeinen Überblick, den er jedoch später, 1987 in Die Schrift: Hat Schreiben Zukunft?, weiterentwickelte. Die wichtigsten Auswirkungen waren der Verlust eines sicheren Grundes, eine dämmernde Unsicherheit darüber, ob die Welt einen Sinn hat – und wenn dem so ist – ob wir Zugang zu diesem Sinn haben. Anstelle der Suche und Darstellung dessen, was uns die Welt ist, was Sinn macht, zerstreuen die neuen Kommunikationstechnologien die Welt in eine Menge aus eo ipso bedeutungslosen wirbelnden Partikeln. Sie ermöglichen es – oder besser gesagt: sie zwingen uns, eine Bedeutung zu verleihen. Da diese Technologien darauf programmiert sind, ganz bestimmte Dinge zu tun – machen sie es sehr einfach, einen vorhersehbaren, konventionellen und zutiefst langweiligen Sinn zu verleihen und fast unmöglich, etwas Neues zu kreieren. Flusser gab das Wort Künstler auf, als er begann die Kreativität im Universum der technischen Bilder zu beschreiben. Er bezog sich auf Menschen, die die Kommunikationsmedien als kreative Herausforderung sahen und diese Technologien einsetzten, um zu überraschen und stimulieren, den Horizont zu erweitern als „Einbildner“ (Flusser 1985: 39-45). Heartfield hat sehr gut in die kunsthistorische Kategorie des einsamen Genies oder in die Schublade des selbsterklärenden Gesamtwerks gepasst. Aber ich würde an dieser Stelle gern die A.-I.-Z. Fotomontagen als die Arbeit eines Einbildners vorstellen, der sein eigenes Projekt im Sinne einer Erfindung und dem Vermitteln von Sinn begreift.

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Kameraden und Kohlköpfe Heartfield benutze die Mittel und Methoden der Zeitung auf neue Weise, um darüber hinaus den Leser so zu adressieren, als sei er Zuschauer visueller Medien, wie z. B. Film oder Fernsehen. Diese Fotomontagen verhielten sich spiegelverkehrt zu den Prioritäten des Mediums Zeitung. Sie zeigten den Lesern buchstäblich wie die visuell vermittelte Welt aussehen könnte, wobei das Bild vorrangig war, nicht der Text. Aus diesem Grund scheinen sie auf die gedruckten Zeilen mit den ‚normalen‘ Illustrationen, als kämen sie aus der Vergangenheit – und als ob sie in die Zukunft schauen, wenn sie die Natur der Nachrichten als immer schon konstruierte erkennen lassen. Viele der Bilder, in denen Heartfield Töne und Texte verband, sind für einen bestimmten Zweck entworfen worden, der Großteil ist jedoch als Kollage konzipiert, auch hier ist die Form ganz absichtlich gewählt. Sie lassen ihre Herstellungsweise erkennen, weisen auf sie hin und stellen so eine neue Grundlage her für ihre Glaubwürdigkeit unter den Augen des Lesers. Die textbasierte Zeitung mag zwar durch vernünftige Argumente überzeugen, oder vertrauenswürdig durch die Beweislast der Fotos oder die logische Folge aus Ursache und Wirkung sein, doch die Fotomontagen liefern weder Argumente, noch erzählen sie eine Geschichte. Sie üben keine Autorität aus. Anstelle dessen bauen sie ganz absichtlich Ausgabe für Ausgabe ein neuartiges Format auf, das mit einer Art Einvernehmen des Lesers spielt, einer Bewunderung, Vertrauen in etwas eindeutig Erfundenes. Ich habe an anderer Stelle vorgeschlagen „Heartfield“ und den leibhaftigen Helmut Herzfeld (1891-1968) (vgl. Roth 2006: 395418) nicht als identisch zu betrachten. Diese Figur war eher eine Art Medien-Projektion, für die zunächst zwei Personen erforderlich sind: Helmut und sein jüngerer Bruder Wieland Herzfelde (1896-1988), manchmal waren jedoch noch weitere Personen beteiligt, z.B. die Herausgeber der A.-I.-Z.. Unter den aus der lebenslangen Zusammenarbeit der Brüder entstandenen Arbeiten findet sich die 1961 erschienene Biographie John Heartfield: Leben und Werk (Herzfelde 1986: 11) – eine der umfangreichsten und einflussreichsten Textsammlungen, in denen Wieland Herzfelde teilweise als sein Bruder auftritt und mit dessen Stimme über, für und im Auftrag von John Heartfield spricht. Wieland schrieb diese Texte, da die beiden Brüder schon als Kinder zu Waisen wurden und dadurch eine sehr enge Bindung zueinander entwickelten. (Ebd.) Einige Jahre später sagte Elias Canetti, dass die beiden wie zwei verschiedene Aspekte einer einzelnen Person wären (Canetti 1982: 267-272). Die Biographie bietet weitere Einblicke in die Dy-

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Nancy Roth namik dieser Beziehung. Wieland behauptet, dass er schockiert war, als ihm sein Bruder 1907 eröffnete, er wolle Zeichner werden, denn er liebte Bücher mehr als alles andere. Wieland gab ebenfalls offensichtlich nie zu, diesen Schock überwunden zu haben (Herzfelde 1986: 12). Der Autor der Biographie, der gut mit Text(zeilen) umgehen konnte und das lineare historische Bewusstsein besaß, präsentiert sich als der stärkere, glücklichere, wohlhabendere und erfolgreichere Bruder. Und schließlich – ein halbes Jahrhundert später – waren es die Zeichnungen Helmuts, die (eher als die Texte von Wieland) Kultstatus erreichten, und die Biographie John Heartfields, die von beiden verfasst wurde. Im Falle der Herzfeld-Brüder lässt sich Flussers Unterscheidung zwischen denjenigen, die die Realität primär durch lineare Texte zu erfassen versuchen und denjenigen, die ihr in erster Linie in Form von Bildern begegnen, nachvollziehen. Flusser unterscheidet weiterhin zwischen einem vorgeschichtlichen (Bild, Zeichnung, Abguss, Schnitzerei) und einem nachgeschichtlichen Umgang mit Bildern. Beide widerstehen der Schrift, für die vorgeschichtlichen Bildermacher ist dabei die Schrift eine Bedrohung, ein Mittel, um Bilder zu untergraben, sie zu wegzuerklären. Die nachgeschichtlichen Bilder (Fotographie und Film) werden nach Flusser nicht durch die Schrift bedroht. Im Gegenteil: für sie scheint die Schrift langsam, unpassend und überflüssig zu sein, da die nachgeschichtlichen Bilder mit zunehmender Geschwindigkeit und Effizienz verändert, übertragen und gespeichert werden können. Wieland Herzfelde wollte – nach eigenem Geständnis – immer ein Herausgeber und Autor sein, und genau das ist er auch geworden. Helmut änderte dagegen merklich die Richtung seiner Karriere. Helmut äußerte schon im Alter von 16 den Wunsch, ein Zeichner zu werden, und schien damit für seinen Bruder Wieland in der vorherrschenden Schriftkultur die untergeordnete Rolle zu akzeptieren. Sieben Jahre später, nachdem die Herzfeld-Brüder mit Georg Grosz zusammentrafen (1915), hörte Helmut mit dem zeichnen auf. Ob er nun tatsächlich alle bis dahin entstandenen Zeichnungen verbrannte – so beschreibt es Wieland – veränderte das Treffen mit Grosz das Denken der Brüder nachhaltig. Es war eine Veränderung – um es in Flussers Worten auszudrücken – vom vorgeschichtlichen hin zum nachgeschichtlichen Verständnis der Bilder: „John und ich, wir waren anderer Natur als er [Grosz], auch nicht ganz humorlos, doch im wesentlichen pathetisch und sentimental… Die Erscheinung

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Kameraden und Kohlköpfe und das Wesen von Grosz, seine originelle Art zu erzählen und zuzuhören, liebten wir—seine Kunst aber war für uns eine Offenbarung. Zugleich eine kalte Dusche: schockartig, ernüchternd, prickelnd und belebend. Mein Bruder und ich waren daran gewöhnt, die Kunst als das Sichtbar- und Hörbarmachen der Schönheit zu begreifen, die dem Leben innewohnt, wie Metall dem Gestein. Grosz aber bewirkte, daß wir fortan die alltägliche Welt nicht mehr als nüchtern, banal und langweilig empfanden, sondern als ein Drama, in dem Dummheit, Roheit und Fäulnis die Hauptrolle spielten.“ (Grosz/ Heartfield/Piscator 1981: 78)

Diese Passage legt nahe, dass Grosz eine annährend ähnliche Wirkung auf die beiden Brüder hatte. Andere Anzeichen sprechen jedoch dafür, dass Helmut von diesem Treffen noch stärker beeindruckt war. Ab diesem Zeitpunkt verwendete er immer häufiger den Namen „John Heartfield“ und begann seine Arbeit durch eine Reihe von Fähigkeiten im Umgang mit ‚visuellen Technologien‘ anzureichern, zum Beispiel kannte es sich mit den technischen und finanziellen Details zur Anfertigung von Druckerzeugnissen aus, den Feinheiten der filmischen Animation und eignete sich die neuesten Erfindungen im Bereich der Bühnentechnik an – den Umgang mit Ton, Licht, fotographischer Projektion und mobilen Bühnenträgern. In den 1920-er und 30-er Jahren begannen die Herzfeld-Brüder zahlreiche richtungweisende Projekte, die ihre professionelle Laufbahn prägten; ihre Zusammenarbeit passten sie den unterschiedlichen Umständen an. Während Wieland schrieb und publizierte, beschäftigte sich Helmut mit den neuen Medien. Während Wieland die Berliner Dada-Aktionen eher zurückhaltend betrachtete, war Helmut einer der aktivsten Teilnehmer. Zu dieser Zeit entwickelte und führte er bei einer Reihe von Filmanimationen (Zervignón 2009: 107) Regie. Er arbeitete zudem während der zwanziger Jahre völlig unabhängig von Wieland als Bühnenbildner an verschiedenen Berliner Theaterhäusern und gestaltete Bücher für den Malik Verlag. Begreift man den Namen „Heartfield“ als Inbegriff einer gemeinsamen Autorschaft, dann tritt 1930 eine Stelle bei der A.-I.-Z. ein erfahrener Schriftsteller und Medienkünstler an, als auch jemand, der eine lange intensive Erfahrung mit der Differenz dieser beiden Pole gemacht hat. Alles deutet darauf hin, dass diese Beziehung zwischen den beiden Brüdern bemerkenswert stabil war - doch war es Helmut, der sie in den Kontext der zeitgenössischen Medien transferierte. Keiner der beiden Herzfelds hatte je für eine Zeitung gearbeitet.

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Nancy Roth Heartfield ließ seine Fotographien niemals nur für sich sprechen – er inszenierte sie, fertigte Montagen an, oder rahmte sie mit Bildunterschriften. In nahezu all seinen Arbeiten dominierte das fotographische Bild – ob mithilfe der Montage oder nicht – über die Sprache und den Text. In der zweiten Fotomontage aus dieser Serie unter dem Titel „Zwangslieferantin von Menschmaterial“ (Abbildung 2) nimmt das Foto den ganzen Rahmen der Montage ein, ohne mit einem Text versehen zu sein.

Abbildung 2: (A.-I.-Z 1930: 183) Das Bild zeigt eine Schwangere, die erschöpft ängstlich und hilfesuchend in die Kamera sieht. Dabei ‚hören‘ wir die untere Beschriftung als Voiceover zu uns sprechen: „Nur Mut, der Staat braucht Arbeitslose und Soldaten“. Das Bild ist in vielerlei Hinsicht ambivalent und die Bildunterschrift versagt uns eine Deutung oder ein natürliches Empfinden dazu. Allein das Bild in sich verurteilt diese Worte als ignorant und kaltherzig. In einem weiteren Bild „Der Richter, Der Gerichtete“ (Abbildung 3) tauchen die Worte nur mehr als klägliche, machtlose Insignien auf – es zeigt den bulgarischen Kommunisten Georgi Dimitrov, der groß, gefasst und würdevoll ohne Wort auf Göring herabblickt, der ihn als winziges, posierendes Figürchen lauthals beschimpft3. 3

Dimitroff wurde wegen seiner vermeintlichen Beteiligung am Reichstagsbrand angeklagt. Er wurde wurde freigesprochen. (Evans 1992: 168)

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Kameraden und Kohlköpfe

Abbildung 3: A.-I.-Z. 1930: 1023 Es ist die Art der Zusammenstellung, die im kreativen »Spiel« mit den gewöhnlichen Fotographien eine Beziehung zwischen den Texten und Stimmen aufbaut und sie so als „Heartfield“ unter den Fotomontagen identifiziert. Die Kraft dieser kreativen Einheit „Heartfield“ begründet die Annahme, dass es sich hier um Flussers „Einbildner“ handelt: um jemanden, der die Medien als Mittel des Erfindens versteht, des Experiments, des (Mit)Teilens, vielmehr als Ausübung von Autorität. Es gibt außerdem Montagen dieser Serie, die sich nicht in dieses „Spiel“ einfügen – in denen das Bild dennoch dominiert, z.B. in dem Bild „Vereint kämpfen!“ (Abbildung 4). Es erfüllt die gleiche Funktion wie ein Werbeplakat. Vielleicht keines der besten Bilder von Heartfield – jedoch zeugt es von Wiedererkennungswert hinsichtlich der typischen visuellen Klarheit.

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Nancy Roth

Abbildung 4: A.-I.-Z. 1933 : 169 Weiterhin gibt es Montagen, in denen wiederum der Text dominiert. Diese Texte sind – offenbar nicht zufällig – mit Wieland Herzfelde unterzeichnet: hier wird klar, dass Wieland viele der Texte für die Fotomontagen verfasste, vor allem die längeren. So ist Wieland z. B. auch der Autor des Texts für die erste Montage in der Serie: „Der Kohlkopf“. Weniger offensichtlich als wörtliche Rede, doch dafür im Text länger als die beiden anderen zeigt sich dies in „Die Mütter an ihre Söhne in Francos Diensten“ (Abbildung 5): Als Gedicht mit drei verschiedenen Stimmen zeigt es die verschiedenen Nationalitäten der auf dem Foto abgebildeten Soldaten-Mütter und wirkt so fast wie ein illustrierter Text. Anders als in den anderen Bildern Heartfields spricht aus diesem Bild eine das Bild füllende Sprache, die fast enttäuschend wirkt. Die Zeilen wirken plötzlich ein bisschen zu konventionell und ein wenig zu langsam, so dass man die Ungeduld förmlich spüren kann, die Flusser dem Universum der technischen Bilder attestiert. Heartfield arrangiert hier eine seltene Gelegenheit, die uns klar werden lässt, wie Bilder in Konkurrenz zum Text stehen können – und dass der Text dabei nicht besonders gut abschneidet.

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Kameraden und Kohlköpfe

Abbildung 5: A.-I.-Z. 1933: 301 Gelegentlich tauchte Heartfield auch vor den Kulissen auf, um so kleine versteckte Nachrichten an seine Zuschauer zu senden, die ausnahmslos Kommentare zu seinen Fotomontagen waren und zudem seinen fiktionalen Status als Autor thematisierten. Die wohl aufschlussreichste und längste dieser Reden enthält eine Fotomontage mit dem Titel „Großes Monster-Lügenkabinett“ (Abbildung 6) begleitet. Das Bild zeigt einen Jahrmarktschreier, der das Publikum zu einem spannenden Wettbewerb einlädt: Die bedeutendsten Zeitungen Europas wetteifern darum, wer die unglaublichste Lügengeschichte über die neuesten Ereignisse in Spanien verbreiten kann. Heartfields Rede darunter liest den folgenden Kommentar: „Einer gewissen ‚großen Presse‘ nach der Lektüre Ihrer Spanienberichte in ehrfurchvoller Bewunderung gewidmet, von John Heartfield.“

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Nancy Roth

Abbildung 6: A.-I.-Z. 1936: 80 Dieser in der Montage enthaltene Signatur-Text kann als Selbstportrait Heartfields verstanden werden: Er erkennt sich als mit der Presse gleichgestellt – zugehörig zu denen, die Nachrichten nicht nur übermitteln, sondern konstruieren. Und doch gibt die Schlussfolgerung, dass Nachrichten schon immer konstruiert sind, auch den Blick auf die Qualität der Nachricht frei: So ist Heartfields Konstruktion einfach die bessere – listenreich und phantasievoll. Spitzfindig räumt Heartfield jedoch in dieser Fotomontage seine eigene Niederlage ein: Mit der ausgesprochen lächerlichen und absurden Berichterstattung der spanischen Ereignisse kann selbst seine Phantasie nicht mithalten, er verspricht seine „ehrfurchtvolle Bewunderung“. In den Fotomontagen zeigt sich eine Welt in fataler Aufruhr, in der die Wirklichkeiten miteinander konkurrieren, sich die Machthaber ausbreiten und die Kommunikation fehlschlägt und schließlich als bloße Gewalt verfällt. Heartfield verhängt einen Sinn über diese Welt: Indem er den Leser dazu auffordert, genauso aufmerksam zu betrachten und zu hören, wie er liest. Indem Heartfield Bilder, Texte und (implizierte) Töne arrangierte,

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Kameraden und Kohlköpfe stattete er sie mit einer neuen medialen Fähigkeit aus: sich einfallsreich, „imaginär“ (Flusser) zu vermischen und zu entsprechen. Heartfield zeigt damit, wie ein Medium zu einem anderen ins Verhältnis gesetzt werden kann – keines von beiden ist von Natur aus „wahrhaftig“, alle stellen verschiedene Arten von Vermittlung dar. Ausgehend von diesem freien Fall, in dem alles offen scheint, formuliert Heartfield eine plausible, sachverständige, originelle und bemerkenswert konsequente Herangehensweise. Für die Leser der A.-I.-Z. vereinfachten und erklärten die Fotomontagen komplexe Zusammenhänge, indem die feinen ideologischen Unterschiede reduziert wurden und die historischen Erzählungen zu einem wichtigen Punkt verschaltet wurden: zu dem Gegensatz aus „Wir“ und „Sie“ – die Kommunisten und die Anderen. Heartfields politische Haltung war weder innovativ, noch denkwürdig. Doch der Schritt über die historische Situierung der Zeitung hinaus, im „Spiel“ der bewegten Bilder und Ton, Texte und Fotografien, mit den Fotomontagen eine Welt zu schaffen, die mehr Sinn machte als die Nachrichten an sich, schienen dem Publikum einen wesentlichen Einblick in die heutige Welt zu geben. Was also die Kameraden von den Kohlköpfen unterschied, war kurz gesagt, die Fähigkeit, Medien zu denken. Aus dem Englischen von Manuela Klaut

Literatur Canetti, Elias (1982): „The brothers“, in: ders., The Torch in My Ear, New York: Farrar Straus Giroux, S. 267-72. Evans, David (1992): Arbeiter-Illustrierte-Zeitung, Volks-Illustrierte, 1930 – 38, New York: Kent. Flusser, Vilém (1991): „Die Geste des Schreibens“, in: ders., Gesten: Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/Bensheim: Bollmann Verlag, S. 39-50. Flusser, Vilém (1987): Die Schrift: Hat Schreiben Zukunft, Göttingen: European Photography. Flusser, Vilém (1985): Ins Universum der technischen Bilder, Göttingen: European Photography. Grosz, George/Heartfield, John/Piscator, Erwin (1981): „Dada und die Folgen“, in: Roland März/John Heartfield, Der Schnitt entlang der Zeit. Selbstzeugnisse – Erinnerungen – Interpretationben, Dresden: Verlag der Kunst S. 72 – 82.

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Nancy Roth Herzfelde, Wieland (1986): John Heartfield: Leben und Werk. Dargestellt von seinem Bruder Wieland Herzfelde, Berlin: Verlag Das Europäische Buch. Roth, Nancy (2006): „Heartfield’s Collaboration“, Oxford Art Journal 29/3, S. 395-418. Zervignón, Andrés Mario (2009): „A ‚Political Struwelpeter‘? John Heartfield’s Early Film Animation and the Crisis of Photographic Representation“, in: New German Critique 107, Vol. 36, No. 2.

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Kinematographische Agenturen LORENZ ENGELL

Das Feld einer auch nur möglichen Philosophie der Medien scheint oft unübersichtlich und zerklüftet. Es wird in seiner Relevanz und Berechtigung bezweifelt und ist überdies Schauplatz eines schwierigen Dialogs zwischen den Philosophen, die sich für Medien interessieren, und Medienwissenschaftlern, die in der Philosophie dilettieren. Genauso zahlreich und so heterogen wie die Zweifel am Sinn einer Philosophie der Medien sind allerdings auch die vernünftigen Begründungen. Im Folgenden möchte ich einer einzigen, allerdings in meinem Verständnis zentralen Begründung nachgehen und sie exemplarisch ausfalten, und zwar in fünf Schritten, die mithilfe von vier Beispielen arbeiten.

Agentur als gestisches Feld Medienphilosophie nämlich hat es zu tun mit dem Beitrag, den die Medien zu den Reflexions- und Bewusstseinsleistungen erbringen. „Unser Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ (Nietzsche 1982: 172), formulierte, sattsam bekannt, Friedrich Nietzsche. Georg Christoph Lichtenberg schrieb sogar dem physischen Raum, in dem man sich aufhält, eine solche Mitwirkung zu; er schrieb: „Ich habe allezeit von einer Stube größere Begriffe gehabt als der gewöhnliche Teil der Menschen. Ein großer Teil unserer Ideen hängt von ihrer Lage ab, und man kann sie für eine Art von zweitem Körper ansehen.“ (Lichtenberg 1958: 102) Diese Abhängigkeit der Gedanken von der äußeren Lage des Körpers formulierte auch Friedrich Engels: „Alles, was Menschen tun, muss zuvor durch ihren Kopf hindurch, aber welche Form es dabei annimmt, das hängt sehr von den Umständen ab.“ (Engels 1975: 298ff) Engels dachte dabei natürlich vor allem an gesellschaftliche Besitzverhältnisse. Die Medienwissenschaft hat ge-

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Lorenz Engell lernt, darüber hinaus technische, aber auch diskursive und ästhetische Verhältnisse, Wahrnehmungsordnungen zum Beispiel, hinzuzunehmen. Diese Mitarbeit der Schreibzeuge nun, diese äußere Lage oder Disposition der Räume und diese Umstände – und was sind Medien anderes als Umstände – der handlungsleitenden Reflexionen freizulegen, das ist ganz allgemein das Anliegen der Medienphilosophie. Gedanken, Reflexionen, Wahrnehmungen, Bewusstseinsleistungen sind in dieser Perspektive überhaupt nicht mehr in irgendeinem abstrakten Innenraum, einer Gedankenwelt oder einem Bewusstsein, allein lokalisierbar. Sie entstehen und wirken immer, so jedenfalls die Annahme der Medienphilosophie, in einem Außenraum, einer Lage, einem Dispositiv, unter Umständen. Sie erwachsen aus einem Zusammenspiel nicht nur zwischen Menschen, als sprachlicher Gedankenaustausch, sondern zwischen Menschen und Dingen, ja überhaupt zwischen Dingen. Sie gerinnen überdies selbst zu materiellen Anordnungen, zu Texten, Bildern, Regimen aller Art, wie sie in Apparaturen, Architekturen und anderen Sachzusammenhängen wirksam werden. Die in diesem Zusammenspiel erzeugten Gedanken, Reflexions- und Bewusstseinsleistungen wirken ihrerseits zurück in das Feld, aus dem sie hervorgegangen sind. Und dieses Zusammenspiel wiederum müssen wir uns als Praktik oder gar Bündel aus Praktiken vorstellen, als Handlungszusammenhang. Denken und Handeln sind hier, wenn überhaupt, nur mehr graduell und relativ zueinander unterscheidbar. Das eine ist immer im anderen verkörpert. Daher können die Reflexions- und Bewusstseinstätigkeiten in einem solchen heterogenen Ensemble auch als Gesten begriffen werden1 Sie sind dann z.B. raum- und zeitgreifend und können selbst neben den Menschen und den Dingen als weitere Agenten dieses denkenden Feldes der Umstände angeführt werden. Ein solches in seinen Gesten wirksames aktives und reflexionsfähiges Feld soll im Folgenden mit dem Begriff der „Agentur“ bezeichnet werden. Ein Beispiel kann das sehr klar machen. Die Wissenschaftsforschung hat, angeführt von Michel Serres, von Bruno Latour und von Hans Jörg Rheinberger, die Mitwirkung der technischen Apparaturen und Instrumente im Labor an der wissenschaftlichen Erkenntnis herausgearbeitet; technisches und epistemisches Objekt, so etwa Rheinberger, sind miteinander eng verschränkt (vgl. Latour 2002, Rheinberger 2001, Serres 1994). Es 1

Und zwar präzise im Sinne Vilém Flussers (Flusser 1993).

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Kinematographische Agenturen gibt demnach in der Produktion von Wissen keine abstrakte Erkenntnis, sondern nur ein operatives Zusammenspiel. Das Materielle und das Immaterielle, Geräte und Gedanken, sind darin nur in ihrem Zusammenwirken im Labor noch unterscheidbar. Das Labor mit allem, was dazu gehört, ist dann eine Agentur im hier gemeinten Sinn.

Das bewegte Bild Ein ganz anderes und bislang weniger erforschtes Feld, in dem Reflexion in einer verteilten Anordnung produziert wird und dann auf diese Anordnung zurückwirkt, ist das bewegte Bild (Engell 2010: 83 – 112; 253 - 276). Auch das bewegte Bild ist eine Agentur, die handelnd reflektiert und die in beschreibbaren Praktiken und Gesten Menschen, Dinge, Räume, Erwartungen usw. organisiert. Dadurch, dass sie innerhalb der kinematographischen Agentur aufeinander einwirken, reproduzieren sie wiederum eben die Praktiken und Gesten. Dies gilt, leicht einsehbar, auf drei Ebenen, den drei hauptsächlichen Agenturen der Kinematographie. Diese drei sind zum ersten das Atelier oder das Studio, dann das Kino, und schließlich das bewegte Leinwandbild selbst. Das Atelier oder das Studio ist eine Anordnung, die dem Labor vergleichbar ist, in der Menschen und technische Dinge, aber auch Erwartungen, Überlegungen und Gewohnheiten zusammenwirken und dabei in sehr komplexer und bid heute nur schwer aufzuschlüsselnder Urheberschaft einen Film hervorbringen. Im Kino dann, der zweiten kinematographischen Agentur, kommt es zu einem ähnlichen Zusammenwirken zwischen der räumlichen Anordnung des Kinos, dem Körper und Gehirn der Zuschauer, ihrer Sozialität und Bewusstseinsordnung und, als Drittem und Vermittelndem, dem bewegten Bild. Schließlich aber ist es das bewegte Bild selbst, das als Agentur aufgefasst werden muss, also Instanz der Handlung und der Reflexion wird. Dass das Bild des Films eine Vorliebe für die Erfassung und Darstellung der Welt als Agentur hat, nämlich als Handlungs- und Denkzusammenhang, in dessen Gesten die Dinge, die Menschen und die Verhältnisse zusammenwirken und gemeinsam aktiv und reflexiv werden, das ist seit langem schon beobachtet worden. Diese Feststellung gehört zu den klassischen Topoi der Filmtheorie und Filmästhetik von Balázs und Epstein über Arnheim, Kracauer und Bazin bis hin zu Deleuze und Ran-

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Lorenz Engell cière und soll hier nicht noch einmal aufgerollt werden (Balász 2001: 59-65, Musil 2001: 148-167, Vertov 2000: 86-91, Fahle 2001, Bazin 2004: 75-89, Kracauer 1985: 71-114, 309ff, Deleuze 1989: 193-197). Auch die Annahme, dass im Film alle Denkgesten einer Verkörperung in Handlungen oder Handlungsansätzen bedürfen, Handlungen in der diegetischen und repräsentierten Welt oder Handlungen des Bildes selbst, wie Kamerabewegung oder Montage, ist ein fester Bestandteil des filmtheoretischen Diskurses2. Hier aber soll es um eine weitere Besonderheit gehen. Der Film nämlich, das bewegte Bild, liefert nicht nur ein Bild oder ein Modell der Agentur, sondern er macht sich dabei selbst als Agentur sichtbar, oder er vermag dies wenigstens. Das bewegte Bild stellt Agenturen im hier gemeinten Sinne nicht nur dar und geht auch nicht aus ihnen lediglich hervor – aus dem Studio – und wieder ein – im Kino. Es konstituiert sich vielmehr selbst als Agentur und stellt sich selbst so dar; es beruft sich auf seine Qualität als Agentur eigenen Rechts. Dies möchte ich nun anhand einer näheren Betrachtung einiger Filme Stanley Kubricks untersuchen.

Apparaturen Einen eher unmittelbaren Zusammenhang zwischen physischer Apparatur und sozialer Handlung zeigt der Film A Clockwork Orange. Er erzählt, nach einem Roman von Anthony Burgess, von dem jugendlichen Bandenchef und Gewalttäter, Vergewaltiger und Mörder Alex (Kirchmann 1996, Seeßlen/Jung 1999: 187208). Angesiedelt in einem leicht surrealen Zukunftssetting, lebt Alex ausschließlich nach eigenen, scheinbar gänzlich subjektiven Regeln und in einer Umgebung, die er nach Belieben brutalisiert. Er gebietet über seine Bande, über seine Opfer und seine Gelegenheitsgespielinnen. Er fährt mit seinem Sportwagen in den Gegenverkehr und zwingt alle anderen, ihm auszuweichen oder sich in den Graben zu stürzen. Keine Ordnungsmacht kontrolliert ihn. All dies aber wäre nicht möglich ohne seine Dinge und ihre Mitwirkung. Da sind die Drogen und da ist die – technisch implementierte – Musik Beethovens, an der er sich berauscht. Da ist die Phallus-Statue, die ihm als Mordwerkzeug zur Hand ist und 2

Fahle 2001: 73-82; vgl. auch anhand der Montage als denkerische/materielle Operation: Pantenburg 2006: 70ff.

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Kinematographische Agenturen das ebenfalls phallusförmige Speiseeis, durch das die TeenagerMädchen ihre sexuelle Handlungsbereitschaft kommunizieren, indem sie sie vorführen. Insbesondere aber ist es das Outfit der Bande, die weißen Overalls, Bowlerhüte, die Stiefel, Genitalkapseln und Schlagstöcke. Sie erst machen die „Droogs“ zu dem, was sie sind – und was sie tun: der bewaffnete Mann ist etwas anders als der Mann ohne Waffe (Latour 2002: 214ff). Eines Tages wird Alex dennoch festgesetzt und als Beispielfall einem experimentellen Resozialisierungs- und Normalisierungsprogramm unterzogen. In einem rigoros exekutierten klassischen Konditionierungsverfahren wird er auf eine körperliche Abscheu gegen jede Gewaltausübung und gegen sexuelle Reize – und auch gegen die von ihm bevorzugt als Stimulans eingesetzte BeethovenMusik – getrimmt. Diese Gehirnwäsche involviert einen aufwändigen apparativen Aufbau, der im Kern als kinematographische Apparatur ausgeführt ist, radikalisiert durch körperliche Zwangsanordnungen und unterstützt durch pharmazeutische Mittel. Alex wird unter Medikamente gesetzt, die Übelkeit auslösen und muss dann als Zwangszuschauer Filmaufnahmen ansehen, die – zur Musik Beethovens – drastische Gewaltszenen zeigen. Ein Wegsehen wird ihm unmöglich gemacht, indem er im Sessel bewegungsunfähig festgeschnallt wird und selbst seine Augenlider mechanisch aufgerissen und so arretiert werden (Baudry 1994: 1047-1074) (Abbildung 1).

Abbildung 1: A Clockwork Orange (1971) (UK, R: Stanely Kubrick) Die Apparatur weist zudem verschiedenen Mitwirkenden präzise Rollen zu (etwa muss ein Assistent ständig Alex’ Augen mit einer Pipette befeuchten, ein anderer entscheidet über die Dauer des Versuchs etc.). Nicht von ungefähr erinnert dieser Aufbau sehr an die Fütterungsmaschine in Charlie Chaplins Film Modern Times – nur, dass die Anordnung hier, bei Kubrick, anders als im klassischen Fall, selbstreflexiv wird. Hier ist die Apparatur nicht, wie

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Lorenz Engell bei Chaplin, eine Metapher auf das Kino (das Chaplinsche Fließband kann als gigantischer Schneidetisch verstanden werden3), sondern sie ist ein Kino. Und auf der Leinwand dieses Kinos läuft exakt das, was auch auf unserer Leinwand laufen könnte, nämlich Bilder von Vergewaltigung und Körperverletzung, die Figuren in exakt der typischen „Droog“-Montur verüben, die wir von Alex und seinen Gefährten kennen – Szenen also, wie sie vorhin noch in unserem eigenen Film zu sehen waren und nun als Film im Film wiederkehren. Die technische Apparatur der Konditionierung der Wahrnehmung bleibt aber nicht abgeschlossen, Teil des Vorführraums oder der geschlossenen Anstalt, deren Insasse Alex ist. Diese gesamte Szenerie in ihrer gesamten physischen Realität ist nur Teil einer größeren, weiteren Anordnung, eines politischen Winkelzugs nämlich. Ein Minister benötigt einen Erfolg. In dieser „machination“ spielen wiederum technische und physische Anordnungen, spielt nämlich die Apparatur der Massenmedien – etwa: das Dispositiv der Pressekonferenz, die Fotoreportage, die Massenpresse – eine Leitfunktion. Auch die politische Apparatur der Intrige und des Komplotts setzt auf materielle Gegebenheiten, und alle Ebenen, vom Leinwandgeschehen vor Alex’ (und unseren) Augen bis zum Machterhalt des Ministers, wirken zusammen in der implementierten Gesamtsteuerung der Gewaltausübung. Wieder freigesetzt, wird er nun seinerseits, weitgehend wehrlos, zum Opfer seiner Opfer. Schwer verletzt kehrt er ins Krankenhaus zurück und wird dort wieder entkonditioniert – jedoch wir er, nun wieder ganz der alte, auf die Seite der Ordnungsmacht gestellt. Die polizeiliche Uniformierung und Ausrüstung, die er dazu erhält, unterscheidet sich nur in Details (Farbe, andere Kopfbedeckung) von seiner Ausstaffierung als „Droog“. Hier kann er nun, so die Aussicht, ganz legal für die Gewalt leben. Während Alex zunächst wie ein Subjektexzess, als besonders wildgewordenes Exemplar angemaßter individueller Machtvollkommenheit erscheint, wandelt er sich nach und nach in ein angetriebenes und gesteuertes Rädchen in einem großen Getriebe. Nur innerhalb dessen, was das Gesamtgefüge zulässt und zuschreibt, kann er seinen Willen zur Gewalt weiterhin artikulieren – und umgekehrt. Aber da er gerade als Polizist nichts anderes ist als eine Verlängerung seines „Droog“-Daseins, ergibt sich, dass er in jedem Fall als Agent der Dinge handelt und als ein solcher Agent Teil einer um-

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Diese Beobachtung verdanke ich Wolfgang Beilenhoff.

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Kinematographische Agenturen fassenden Agentur ist, die schließlich im Kino den Ort ihrer Selbstreflexion gefunden hat.

Wissen und Geschicklichkeit Auch in „2001 – Odyssee im Weltraum“ besitzt die Apparatur eine Handlungshoheit (Kirchmann 1996, Seeßlen 1999: 157-186, Walker/Taylor/Ruchti 1999: 162-195). Der Supercomputer HAL beobachtet, regelt und kontrolliert alle Vorgänge an Bord des Raumschiffs. Das Raumschiff fungiert als sein Körper, den er zugleich selber, ganz wie das Gehirn etwa des Menschen, bewohnt. Während der langen Fahrt zum Jupiter tötet er – aus zunächst unerfindlichen Gründen – einen nach dem anderen die Astronauten, deren Schlaf er überwachen und steuern soll. Er beobachtet und behandelt aber nicht nur die Raumfahrer, sondern auch das Umgekehrte ist der Fall. Die Subjekt- und Objektverhältnisse überkreuzen und durchqueren einander. Zugleich aber ist er auch an sich selbst Objekt der Beobachtung und Behandlung, nicht nur durch die Raumfahrer, sondern im Selbstbezug. Sein allpräsentes Auge sieht nämlich auch in sein eigenes Inneres. Erneut wird Selbstreflexivität hier nicht auf dem Weg über die Metapher oder die Allegorie erstellt, sondern durch funktionale und technische Beziehungen. Hal ist nämlich ein nicht nur für die Kamera, sondern sogar für Menschen physisch begehbarer Innenraum und auch in seinem Inneren, dem Hauptspeicher, befindet sich ein Objektiv, durch das er diesen Raum selbst überwachen kann. So muss er schließlich selbst dabei zusehen, wie er vom Helden des Films, dem Astronauten Bowman, nach und nach außer Funktion gesetzt wird (Deleuze 1991: 265). Anders als in anderen vergleichbaren Filmen - ich denke etwa an John Carpenter’s Dark Star – ist es nicht die reine Logik, nicht die Argumentation, nicht der Diskurs, der den außer Kontrolle geratenen Computer schließlich außer Kraft setzt, sondern ein technischer Eingriff. Allerdings setzt sich Bowman damit auch zugleich selbst außer Funktion, da er auf das Dispositiv des Raumschiffs angewiesen ist, das ohne HAL nicht mehr denkbar und lenkbar ist. Aber nicht nur Mensch und Maschine ringen hier um die Handlungsherrschaft. Genau wie zuvor bei Alex in A Clockwork Orange ist das apparative Kerngeschehen nur Teil eines sehr viel weiteren Gefüges, das weitere Einbindungen, Steuerungen und vor allem weitere Artefakte einschließt. Dabei geht es nicht mehr

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Lorenz Engell lediglich um einen Öffentlichkeitsplot. Beide, HAL und Bowman, sind nämlich vielmehr ihrerseits nur Teil eines viel größeren anthropologischen Zusammenhangs. Ihn haben wir in der zunächst rätselhaften Eröffnungssequenz des Films bereits kennen gelernt, zu der am Ende des Films der Bogen zurück geschlagen wird. Auch sie bringt eine eigentümliche Anordnung ins Spiel, eine Disposition, die sich um Artefakte herum aufbaut. Speziell spielt dabei ein großer, streng quaderförmiger, aufrecht stehender, schwarzer polierter Monolith die Hauptrolle. Er hat in der Eröffnungssequenz schon in einer Art Urgeschehen, in das er als ursprungsloses Artefakt von außen eindringt, durch sein pures Vorhandensein in einer steppenartigen Urweltlandschaft die Erfindung der Waffe durch den Anführer einer Urhorde ausgelöst. Er steht damit kausal für die Einführung des Mordes und damit weiter, so Kubricks Film, die Menschwerdung des Menschen (Böhme 2001: 69-85). Diesen Effekt zu Beginn des Films nun löst er aus, indem er im Zusammenspiel mit dem Sonnenlicht, das auf ihn fällt, und dem speziellen Blickwinkel, den der Anführer der Primaten einnimmt, einen visuellen Grundreflex erzeugt, einen sichelförmigen Glanzeffekt. Er fungiert sowohl als Lichtreflex wie auch als erste Reflexion im Sinne eines erwachenden Bewusstseins.

Abbildung 2: 2001: A Space Odyssey (1968) (UK/USA, R: Stanley Kubrick) Erneut jedoch ist hier das Kino an zentraler Stelle mit im Spiel, und das zugleich auf zwei Ebenen. Zum einen ist natürlich, im Wege der Analogie, in dem Wahrnehmungseffekt, bei dem sich Licht auf einer Oberfläche bricht, die unter einem speziellen Blickwinkel angesehen wird, nichts anderes als ein Reflex des Kinos selbst zu sehen. Jenseits der Metonymie jedoch ist der Lichteffekt, der die Mordtätigkeit und mit ihr die Menschwerdung in Gang setzt, nur durch die Mitwirkung des Kameraobjektivs überhaupt möglich. Es ist ein Effekt, der überhaupt nur in der Kamera, nicht aber bei unbewehrtem Auge sichtbar wird. Der wer-

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Kinematographische Agenturen dende Mensch kann ihn gar nicht haben, es sei denn, er sitzt im Kino. Erneut handelt es sich bei der gesamten Anordnung um eine materielle kinematographische Disposition. Die (Wieder-)Auffindung des Monolithen Jahrmillionen später als nunmehr vollkommen rätselhaftes Objekt auf einem Jupitermond hat Bowmans (und HALs) Mission überhaupt erst begründet und ihren Raumflug in Gang gesetzt. Der Flug des Raumschiffs ist damit ein Effekt des Monolithen und insofern auch die Fortsetzung der Bahn des ersten Mordwerkzeugs. Kubrick setzt dies in dem berühmten Umschnitt vom fliegenden Knochen des Totschlägers zum fliegenden Raumschiff ins Bild. HALs Mord an den Astronauten macht ihn zum sich selbst ermächtigenden Autor und Akteur im Sinne des Menschensubjekts – nur dass seine Subjektivität und auf Allwissenheit gründende Machtvollkommenheit am größeren Listenreichtum des Menschen Bowman bricht. Bowman weiß viel weniger als HAL, aber er kann schließlich mehr. Er ist geschickt (Latour 2002: 212f). Schließlich kehrt der Monolith ganz am Ende des Films in einem kosmischen Zeitreigen wieder, den Bowman durcheilt und in dem er sich selbst in den vier Lebensaltern und dem ewigen Kreislauf von Tod und Geburt begegnet.

Von den handelnden Szenographien zu den Reflexionsbewegungen Ein anderer Handlungsraum, der zunächst ein bloßes Behältnis, eine Umgebung für die handelnden Personen zu sein scheint, ist auch das „Overlook Hotel“ in The Shining (Walker/Taylor/Ruchti 1999: 264-309, Seeßlen/Jung 1999: 235-262, Engell 2010: 253276). Es fungiert zunächst einfach als Szenenbild. Aber schnell erweist sich, dass das Hotel eine eigene Handlungs- und Reflexionsmacht besitzt, die sich wiederum aus einer Vielzahl gänzlich heterogener Faktoren speist, die es organisiert, die es miteinander verbindet und schließlich erneut zu eigenen Gesten verdichtet. Und vergessen wir dabei nicht, dass gestische Handlungen einerseits und Denkgesten andererseits im bewegten Bild immer verbunden sind. Hier gilt dies insbesondere für Erinnerung und Imagination: Physische Akte und solche des Imaginierens und Erinnerns gehen permanent ineinander über; und sie tun dies unter Zutun des handelnden Raumes, zu dem auch allerlei aktives Zubehör gehört. Anders als in den vorigen Beispielen kommt dabei der Kamerabewegung eine entscheidende Funktion zu. Markant

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Lorenz Engell sind nämlich hier die Bewegungen der Kamera in die Tiefe des Raumes und aus ihr zurück. Denn die Kamerabewegung in die Tiefe durchläuft genau denselben Raum, den sie selbst sichtbar macht. Szenographie einerseits, Studio andererseits und das Filmbild selbst zum dritten werden in der Kamerafahrt zusammengeschlossen, und dieser Zusammenschluss agiert als Reflexion durch (Kamera-)Handlung. Noch stärker wird der Effekt bei der Rückwärtsfahrt, die hier ebenfalls eingesetzt wird: Die Kamera zieht sich vor den (beweglichen) Objekten zurück und generiert dabei erst den Bildraum, den diese Dinge doch aufspannen und den sie schließlich selbst bewohnt. Erneut nimmt Kubrick hier ein älteres Verfahren auf, das spektakulär in Orson Welles’ Touch of Evil vorgeführt wurde, und kontextualisiert es neu (Ishagpour 2001, Rebhandl 2005). Die Kamera ist aber nicht das einzige Objekt, das in Wechselwirkung mit dem Raum tritt und ihn mit Handlungsmacht ausstattet als auch umgekehrt von ihm zu allerlei Verursachung ermächtigt wird. Da sind zum einen die mythischen und magischen Kräfte der Vergangenheit. Am Ort, an dem das Hotel heute steht, befand sich einst ein indianischer Kultplatz. Diese Vergangenheit ist durch zahlreiche dekorative Artefakte ungebrochen anwesend. Sie wird aber auch aktiv. Denn zu den indianischen Dekorelementen gehört auch das Labyrinthmuster, das beispielsweise auf dem Teppichboden zu finden ist. Ein großes Heckenlabyrinth findet sich auch draußen vor dem Hotel; es wird am Ende dem Jungen Danny das Leben retten. Dieses Labyrinth ist wiederum als Modell in der Halle des Hotels aufgestellt. Einmal wird die Kamera ganz nah an dieses Modell heranfahren und hineinzoomen – und sich im großen Labyrinth draußen wiederfinden. Und schließlich ist die Anlage des Hotels selbst von labyrinthischer Art und zwingt schon dadurch den handelnden Personen bestimmte Muster der Bewegung und des Aufenthaltes auf. Zum zweiten wirken in dem Hotel aber auch die historischen und legendären Ereignisse der Besiedlungsgeschichte des Westens fort. Denn hier befand sich nicht nur die Kultstätte der Indianer, sondern auch, nicht weit entfernt, der Lagerplatz der „Donner“-Gruppe, eines Siedlertrecks, der in seinen Planwagen hier einst vom Winter überrascht und eingeschlossen wurde. Von Hunger- und Kältetod bedroht, sollen die Siedler der Legende nach zu kannibalischen Handlungen übergegangen sein. Diese legendäre Begebenheit hallt wiederum nach in der erst kurz zurückliegenden Geschichte von dem Hauswart, dem Vorgänger des Helden, der hier, in der winterlichen Abgeschiedenheit wahnsin-

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Kinematographische Agenturen nig geworden, seine Frau und seine beiden Töchter grausam ermordet hat. Gerade diese letzte Episode ist aber nicht vergangen, sondern lebt im Inneren des Hauses – wiedergängerisch – fort und fort. Am Ende wird, in der unglaublichen Heranfahrt der Kamera auf das Foto aus dem Jahre 1921, der Hauswart und Schriftsteller Jack zu seinem eigenen Wiedergänger.

Abbildung 3: The Shining (1980) (UK/USA, R: Stanley Kubrick), die Bildunterschrift unten links: „Overlook Hotel, July 4th Ball, 1921“ Die Vergangenheit wird hier vom Vorstellungsinhalt zum Bildinhalt und das Erinnern von der – körperlos-strukturell gedachten – Reflexionshandlung zur materiellen, nämlich erneut durch Heranfahrt auf das Bild im Bild realisierten Kamerahandlung. Dass die gesamte Szenerie des Hotels hier nicht nur einfach vorhanden ist und den Rahmen für die Handlungen abgibt, sondern vielmehr als „Agentur“ selbst handelt und das, was in seinem Inneren stattfindet, produziert, wird zum ersten Mal deutlich, wenn Danny auf seinem Dreirad den in einem geschlossenen Quadrat um die Zimmer herumführenden Korridor entlangfährt. Die Kamera ist immer genau auf der Höhe des Dreirades, so als sei sie fest mit ihm verbunden. Nach einer Weile stellt sich dadurch der Eindruck ein, alles bewege sich, nur das Dreirad bleibe stabil im Raum; ganz so, als würde sich nicht Danny durch das Hotel bewegen, sondern dieses sich um ihn herum drehen. Wenn das Dreirad dann aber stehen bleibt und die Kamera – ein wenig – weiter zieht, dann löst sich diese Verbindung auf. Der Sog des

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Lorenz Engell Flurs gilt nun der Kamera selbst. Nicht mehr Danny und das Dreirad werden jetzt vom Hotel bewegt, sondern die Kamera, die doch alles erst enthüllt und zeigt. Das Hotel versucht, die Kameraführung zu übernehmen. Das wiederholt sich mehrfach und spitzt sich zu: Und so ist es schließlich auch nicht Danny, der die Wiedergängerfiguren der ermordeten Zwillinge erreicht, oder die Kamera, die sie enthüllt, sondern es ist das Hotel, das sie vor beide hinstellt.

Abbildung 4: The Shining (1980) Einen ähnlichen Effekt weist schon der Vorspann auf, wenn die Fahrt des Autos zum Hotel vom Hubschrauber aus verfolgt wird. Auch hier beginnt die Landschaft sich unter dem Wagen hinweg und um ihn herum zu bewegen. Und so, wie das Hotel sich zu bewegen beginnt, stellt es auch plötzlich die beiden kleinen Mädchen aus der Vergangenheit vor Danny hin. Seinem Vater öffnet es eine phantastische Bar, einen eleganten Ballraum und eine riesige knallrot und weiß lichtdurchflutete Herrentoilette, aber auch das Zimmer mit der schönen badenden Frau, die sich plötzlich als grausige Halbverweste erweist. Angst und Wahn füllen das Hotel; sie befinden sich darin wie im Inneren einer Psyche und hüllen ihrerseits die Figuren ein. Die unheimlichen Vorgänge – wie das Meer von Blut, das aus dem Aufzug quillt, wenn die Türen sich öffnen – sind keine wahnhaften Figurenwahrnehmungen mehr, sondern Produkte der handelnden Szenerie selbst. Dies gilt auf allen Ebenen, die hier – und genau das macht das Reflexionsmoment aus – ineinandergeschoben und übereinander gelegt werden. Das (diegetische) Hotel ist eine ‚Agentur‘, ist zugleich architektonischer und praktikabler, mit Dingen angefüllter und von ihnen aufgespannter physischer Raum. Es ist aber auch ein mythischer, historischer und psychischer Innen- und zugleich Außenraum, den die Figuren bewohnen und der sie bewegt. Es ist aber außerdem ein Filmset, ein Studio- oder Aufnahmeraum, den die Kamera durchquert und

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Kinematographische Agenturen den sie dabei als Hotel reproduziert und sichtbar macht. Und es ist schließlich ein Bildraum, der sich vor unseren Augen auf der Leinwand entfaltet und umgestaltet.

Die ‚reine kinetische Situation‘ Nun bleibt aber noch zu klären, welche Funktion der Bildraum sich selbst als Agentur zuschreibt. Der Film selbst ist es, so haben wir oben gesagt, der das, was er zeigt, gibt. Das Bild ist die letzte handelnde Instanz des Films. Das wird schließlich besonders in Eyes Wide Shut deutlich (Walker/Taylor/Ruchti 1999: 280-297). War in The Shining noch die Szenerie, das „Overlook Hotel“ der handelnde Raum, so ist es nunmehr das Bild selbst. Die Handlung des Bildes als eines handelnden Feldes, das viele Faktoren zusammenfasst und in Beziehung zueinander setzt, dabei jedoch von eben diesen Faktoren stets und stets aufs Neue erst erzeugt wird; diese Bildhandlung also wird hier schließlich als diejenige des Zeigens und Verbergens gefasst, des „Da“ seines Lassens und Verschwinden-Lassens. Erneut wird das schon im allerersten Bild des Films, noch mitten im Vorspann und zwischen den Schriftbildern, deutlich, wenn Alice, die Hauptfigur, in einer umstandslosen und verblüffenden Geste, ihr Kleid fallen lässt und nackt in einer Rückenansicht dasteht. Dies geschieht so anlass- wie folgenlos, einfach so, als eine bloße kontextlose Geste des Gebens, des Zeigens und der Präsenz. Das Bild handelt hier also von nichts anderem als der Handlung des Bildes. Doch neben der Erzeugung von Präsenz durch Ostention spielt auch erneut die Bewegung durch den Raum und diejenige des Raums selbst als Handlungsinstanz eine wichtige Rolle. Die Räume der Handlung etwa, die üppigen, weitläufigen Interieurs werden uns nicht einfach präsentiert, sondern sie werden regelrecht erschlossen und erfahren, meist durch Bewegungen hinter den Figuren her in Gängen und Fluren, um Ecken herum und durch seitlich liegende Türen und Durchgänge. Das, was dahinter liegt, wird zunächst vorenthalten, dann aber im Zuge der Kamerabewegung dem Blick freigegeben. Gelegentlich wechselt die Bewegungsrichtung an Ecken oder Durchgängen die Orientierung und wechselt vom Vorwärts- in den Rückwärtsmodus. Beide Bewegungen schließen, wie wir oben schon gesehen haben, den Produktionsraum, in dem die Kamera sich physisch bewegt (das Studio) einerseits und den produzierten Raum, den Raum des Bildes, andererseits, ineinander ein – und damit auch

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Lorenz Engell die beiden entsprechenden Agenturen, von denen eingangs die Rede war. Durch die Vorwärtsbewegung wird suggeriert, es gebe dort vorn etwas zu entdecken, zu wissen. Das Bild wird zum Agenten des Wissens. Die Rückwärtsbewegung dagegen verleiht dem Bild einen komplementären Status, es wird zum Objekt der Handlung, zum Patienten dessen, was aus dem Rückraum auf es zukommt und in das es sich hineinbewegt (Gell 1998: 21ff). Einen ähnlichen Bildsog, der aber nicht mehr in den linearen Kategorien des Vorwärts und des Rückwärts beschrieben werden kann, erzeugt die phantastische Kamerafahrt während des Tanzes in der langen Eröffnungssequenz, in der Drehung des Bildes um das tanzende Paar herum. Ähnlich wie oben bei der Dreiradfahrt bleibt allein die Beziehung des Bildes zu den Tanzenden stabil. Dadurch beginnt der Raum um das Paar herum und das Paar zugleich im Raum sich zu drehen. Ähnlich wie in der „optischen Situation“ entsteht hier eine „reine kinetische Situation“, in der Subjekt und Objekt des Bewegens bzw. Bewegtseins, in der „Agent“ und „Patient“ nicht mehr unterscheidbar sind. Das Bild selbst ist Urheber der Figurenbewegung, andererseits aber in seiner Bewegung von ihnen verursacht oder zumindest ausgelöst und motiviert. Was von Deleuze ausschließlich als Blick- und Reflexionskategorie gelesen wurde, wird bei Kubrick als Handlungsund Bewegungskategorie entfaltet. Dadurch wird auch, wie im Vorübergehen, die Differenz zwischen dem Bewegungs- und dem Zeit-Bild, zwischen der indirekten und der direkten Repräsentation der Zeit bzw. des Bewusstseins (und mit ihm des Denkens) überbrückt: Reflexionsleistung und Bewegung, Denk- und Körpergeste werden in eins gesetzt.

Lichtreflexe Eine Besonderheit bei Kubrick ist jedoch die Bewegung nicht nur der Körper im Raum, sondern des Lichts selbst, in das die bewegungen gehüllt sind und in dem sie sichtbar werden. Besonders berühmt ist die Lichtreise aus 2001: A Space Odyssey: In dem Moment, in dem HAL untergeht und Bowman sich in einer winzigen Rettungskapsel von dem Raumschiff trennt, beginnt eine ungeheure Fahrt in die Tiefe des Bildes, die aus nichts anderem besteht als aus Lichteffekten (Kirchmann 1996, Walker/Taylor/ Ruchti 1999: 224). Perspektivisch zur Bildmitte hin verkürzte Flächen aus farbigen Lichtstreifen ziehen mit minutenlang hoher Geschwindigkeit an Ober- und Unterkante des Bildes oder auch

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Kinematographische Agenturen rechts und links wie Wände heran und erzeugen so den Eindruck einer subjektiven Fahrt in die Tiefe, gestärkt durch gelegentliche Umschnitte auf Bowmans Helm, in dem sich die Lichteffekte zu spiegeln scheinen. Mehr und mehr aber geht dieser ordnende Eindruck verloren. Das Bild löst sich dabei zunehmend in die Licht- und Bewegungseffekte auf, die es einerseits hervorbringen, die es andererseits registriert. Wir können nicht mehr entscheiden, ob es außerhalb des filmbildnerischen Effektes den hervorgerufenen Eindruck überhaupt „gibt“. Die Fahrt ist eine Geste des Bildes. Wir wissen nicht, ob Bowman sieht, was wir sehen. Wir sehen etwas Gesehenes – das aber nur vom Filmbild gesehen und dabei produziert werden kann. Wir haben es mit einer „reinen optischen Situation“ zu tun, die allerdings nicht mehr durch Blickachsen und Kadrierungen, nicht mehr diskursiv-symbolisch, sondern nur mehr durch Lichtbewegungen, physisch-intensiv, erzeugt wird (Deleuze 1991: 12: 40).

Abbildung 5: 2001 – A Space Odyssey (1968) (UK/USA, R: Stanley Kubrick) Und die „optische Situation“ ist bekanntlich das Einfallsmoment für zahlreiche nachfolgende komplexere Subjektivierungsweisen, in denen sich der Film, so Gilles Deleuze, mit Reflexionsmacht ausstattet (Deleuze 1989: 265f, 284, 288; Deleuze 1991: 38ff, 205-243). Die – gegenüber Kubricks Variante noch recht einfache – Grundform dieses Verfahrens hat Jean-Luc Godard in Pierrot le fou entwickelt, in dem er eine nächtliche Autofahrt auf die Lichtreflexe reduziert, die die passierten Straßenlampen und Lichtreklamen auf der Windschutzscheibe hervorrufen – nur, dass es sich bei Godard – ersichtlich – um bloße Scheinwerferschwenks handelt. Es gibt hier gar keine Autofahrt, sondern nur bewegtes und gebrochenes Licht. Die Fahrt ist nur unter der Bedingung wahrnehmbar, dass sie zugleich als reiner Kameraeffekt, als nicht

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Lorenz Engell vorhanden, wahrgenommen wird. Und dennoch verhalten sich die Filmfiguren so, als „gäbe es“ die Fahrt – sie sind also ihrerseits in der Situation der Filmzuschauer. Kubrick radikalisiert und perfektioniert das. Bowmans Fahrt durchquert das Licht-Bild, das sie selbst hervorgerufen hat, während zugleich das Licht das Bild und mit ihm diese Fahrt überhaupt erst generiert: eine unauflösliche Verquickung wechselseitiger Erzeugungs- und Umfassungsverhältnisse in einem System kinematographischer – also: Licht-, Bild- und Bewegungs- Gesten. So inszeniert sich das kinematographische Bild selbst als Urheber dessen, was es zu sehen gibt. Markant sind die Licht-Bewegungen aber nicht nur in 2001: A Space Odyssey, sondern auch z.B. in Eyes Wide Shut. Um die Agentur speziell des Lichts in diesem Film freizulegen, sei zunächst ein Umweg gestattet. Für gewöhnlich nämlich gibt es zu jedem Sichtbaren, das ein Bild uns zeigt, ein Unsichtbares, das es uns verbirgt (Merleau-Ponty 1986: 275ff, 290f); beide werden voneinander unterschieden, und genau die Durchführung dieser Unterscheidung ist die Handlung, zu der ein Bild fähig ist. Vergessen wir nicht, dass die Unterschiede, die unser Denken strukturieren, ihrerseits immer Produkte einer Unterscheidungshandlung sind, die praktischen Charakters ist, selbst Zeit in Anspruch nimmt und durchgeführt werden muss4. Nirgends ist das so klar wie im Film: etwas unsichtbar zu machen ist ein eigener Aufwand. Das Unsichtbare kann etwa das Ausgesparte sein, das, was jenseits seiner Grenzen, außerhalb des Bildrahmens liegt. Es kann auch das Unausgeleuchtete oder mühsam Abgeschattete, Verdunkelte und daher Unwirksame sein. Es kann seinen Ort aber auch als „blinder Fleck“ mitten im Bild haben. Zu dem, was das Bild normalerweise strikt verbirgt, gehört dasjenige, dem es seine eigene Existenz verdankt. Dazu zählt in allererster Linie die bildgebende Apparatur selbst und mit ihr alles, was an die Gemachtheit des Bildes erinnert und an das, dem sich das Bild selbst verdankt. Anders gesagt, das Bild ist es, das unsichtbar bleibt. Diese Unsichtbarkeit des Bildes macht das Bild zum Medium. Medien machen schließlich etwas sichtbar, bleiben aber selber unsichtbar (Engell/Vogl 1999: 8-11). Nur so können sie funktionieren. Ein herausragendes Beispiel für diese Unsichtbarkeit des Mediums ist das Licht (McLuhan 1968: 17ff). Das Licht

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Der damit kritisierte Unterscheidungsbegriff findet sich etwa bei Niklas Luhmann: Soziale Systeme (1984: 100f), Die Gesellschaft der Gesellschaft (1999: 48ff), vgl. auch George Spencer Brown: Laws of form – Gesetze der Form (1997).

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Kinematographische Agenturen macht sichtbar, es ist die unhintergehbare Bedingung der Sichtbarkeit, bleibt aber selbst stets unsichtbar. Erst durch eigens zu treffende Vorkehrungen, die der Film besonders liebt – Schattenwürfe, Nebel, Dunst und Rauch – wird es doch im Licht-Bild sichtbar. Nicht so jedoch verhält es sich in Eyes Wide Shut. Denn hier kehren sich die Verhältnisse um. Nicht länger ist es das Unsichtbare, das, ohne selbst sichtbar zu werden, die Sichtbarkeit erst erzeugt. Vielmehr ist das Unsichtbare des Bildes erst ein Produkt des im Bild Sichtbaren. Das gilt ganz besonders für das Licht. Alles Licht, das das Sichtbare ins Bild bringt, ist zugleich Teil des Bildes, ist „available light“ und Bestandteil des diegetischen Universums. Es gibt keine Scheinwerfer, die die Szene von außen beleuchten und deshalb ihrerseits verborgen werden müssen. Die Szene leuchtet selbst, sie ist immanent. Der Bildraum erscheint nicht mehr als Produkt dessen, was er nicht ist. So wandelt sich das typische Filmbild, das ja immer ein Licht benötigt, das es projiziert, halbwegs zu einem Bildschirmbild, der aus sich heraus leuchtet und alles, was es benötigt, in sich selbst enthält. Und genau das wird nun auch in die im Bild sichtbar gemachte Wirklichkeit, in die fiktionale Welt hineingelegt. Ein herausragendes Motiv hierbei ist die Weihnachtsbeleuchtung.

Abbildung 6: Eyes Wide Shut (1994) (UK/USA, R: Stanley Kubrick 1994) Die in Eyes Wide Shut allfällige Weihnachtsbeleuchtung macht aus allem, was geschieht, ein Lichtbild. Und ergänzt wird diese Abgeschlossenheit des Bildes durch die unglaublich disziplinierte symmetrische Geometrie der Interieurs, die in einer paradigmatischen Geste der Reflexion auf sich selbst zurückverweist. Auch in dieser Hinsicht enthält das Filmbild in Eyes Wide Shut alles, was es benötigt, selbst; nichts weist über das Bild hinaus, nichts von dem, was jenseits des Bildrands liegen mag, zählt. Dabei sind besonders die Spiegelungen und Verdoppelungen der Lichtanord-

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Lorenz Engell nungen bemerkenswert. Das bewegte Bild bezieht die Handlungsmacht, mit der es sich versieht, aus dem Licht, das es organisiert, dem es sich verdankt und das doch ohne dieses Bild unsichtbar und machtlos bleiben müsste. Bewegung und Licht – wie schon in der Lichttunnel-Fahrt in 2001: A Space Odyssey – ermächtigen einander. Das Filmbild wird bei Kubrick als „Agentur“ nicht nur der Bewegung, wie sie oben angesprochen wurde, sondern auch des Lichts sichtbar. Nun sind Licht und Bewegung, auf die Kubrick hier abhebt, bei weitem nicht die einzigen Potentiale, die einzigen Kräfte, mit denen das Filmbild so verfährt. Selbst wenn wir mit der Bewegung die Zeit und die räumliche Dimensionalität hinzunehmen, und wenn wir hier über Rahmen- und Randsetzung hinaus auch die Operation der Unterscheidung als eine Bewegung behandelt haben, so bleiben doch noch viele andere Faktoren unbesprochen. Wir müssten den Klang hinzunehmen oder mit den piktorialen Qualitäten die Ikonizität des Filmbilds und mit seinem Aufzeichnungscharakter seine Indexikalität und vieles mehr. Das Filmbild als Agentur dieser und anderer heterogener Kräfte sichtbar und lesbar zu machen unternehmen zweifellos auch zahllose andere Filme; nicht nur diejenigen Stanley Kubricks. Die wir, wenn wir hier konsequent bleiben wollen, dem Filmemacher Stanley Kubrick auch nur deshalb zuschreiben, weil dies der Konvention entspricht und praktisch ist. Normalerweise sind wir es eben gewohnt Filme und ihre Geschichte, als Geschichten und Historie einfacher Produkte zu fassen, die von Regisseuren als Autoren mit ihren wechselnden persönlichen Stilen und Handschriften hervorgebracht werden. Meist vergessen wir dabei schon, dass sie alle in der kinematographischen Agentur der Ateliers und der Studios operieren. Oder wir betrachten und fassen Filme als Objekte und Praktiken unserer Wahrnehmung als Zuschauer. Jedes Mal setzen wir also Kreations- und Kognitionsleistungen kompakter Subjekte an. Das bewegte Bild selbst als Agentur des Lichts, der Bewegung und vieler anderer Kräfte, als Ort einer Denk- und Handlungsgeste und als Sitz einer eigenen, verteilten Kreativität, Urheberschaft und Reflexionsmacht kommt uns dabei zumeist nicht in den Sinn. Die Geschichte des Films aber einmal neu als eine fortgesetzte Geste zu schreiben, in der das bewegte Bild zeigt, wie es als „kinematographische Agentur“ des Denkens eigentlich funktioniert, das wäre vermutlich ein aufschlussreicher Versuch.

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Kinematographische Agenturen

Literatur Balázs, Béla (2001): Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films (1924), Frankfurt/Main: Suhrkamp. Baudry, Jean-Louis (1994): „Das Dispositiv: metapsychologische Betrachtungen des Realitätseindrucks“, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen, Bd. 48, H.11 (Nov. 1994), S. 1047-1074. Bazin, André (2004): „Schneiden verboten !“, in: André Bazin, Was ist Film ?, Berlin: Alexander, S. 75-89. Böhme, Hartmut (2001): „Von Affen und Menschen. Zur Urgeschichte des Mordes. Stanley Kubricks Film ‚2001 - Odyssee im Weltraum‘, die Evolutionsbiologie und die Religionswissenschaft“, in: Dirk Matejovski/Dietmar Kamper/Gerd C. Weni ger (Hg.), Mythos Neanderthal. Ursprung und Zeitenwende, Frankfurt/Main: Campus, S. 69-85. Brown, George Spencer (1997): Laws of Form. Gesetze der Form, Lübeck: Bohmeier. Deleuze, Gilles (1991): Das Zeit-Bild (Kino 2), Frankfurt/Main: Suhrkamp. Deleuze, Gilles (1989): Das Bewegungs-Bild (Kino 1), Frankfurt/Main: Suhrkamp. Engell, Lorenz/Vogl, Joseph (1999): „Vorwort“, in: Claus Pias et al. (Hg.), Kursbuch Medienkultur. Die maßgeblichen Theorien von Brecht bis Baudrillard, Stuttgart: DVA, S. 8-11. Engell, Lorenz (2010): Playtime. Münchener Film-Vorlesungen, Konstanz: UVK. Engels, Friedrich (1975): „Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie“, in: Karl Marx/Friedrich Engels, Werke, Berlin: Dietz, S. 291-307. Oliver Fahle (2001a): Jenseits des Bildes. Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz: Bender. Fahle Oliver (2001b): „Bewegliche Konzepte. Historisches Denken der Bildmedien“, in: Lorenz Engell/Joseph Vogl (Hg.): Mediale Historiographien (= Archiv für Mediengeschichte, Bd. 1), Weimar: Verl. d. Bauhaus-Univ., S. 73-82. Flusser, Vilém (1993): Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Bensheim: Bollmann. Gell, Alfred (1998): Art and Agency. An Anthropological Theory, Oxford: Clarendon. Ishagpour, Youssef (2001): Orson Welles, Cinéatse. Une camera visible, Bd. 2: Les films de la période américaine, Paris: La Différence.

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Lorenz Engell Kirchmann, Kay (1996): Stanley Kubrick: Das Schweigen der Bilder, Marburg: Schüren. Kracauer, Siegfried (1985): Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit (1960), Frankfurt/Main: Suhrkamp. Latour, Bruno (2002): Die Hoffnung der Pandora. Untersuchungen zur Wirklichkeit der Wissenschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Lichtenberg, Georg Christoph (1958): Aphorismen, Zürich: Manesse. Luhmann, Niklas (1999): Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Luhmann, Niklas (1984): Soziale Systeme, Frankfurt/Main: Suhrkamp. McLuhan, Marshall (1968): Die magischen Kanäle, Düsseldorf: Econ. Merleau Ponty, Maurice (1986): Das Sichtbare und das Unsichtbare, München: Fink. Musil, Robert (2001): „Ansätze zu neuer Ästhetik. Bemerkungen zu einer Dramaturgie des Films“ (1925), in: Béla Balázs, Der sichtbare Mensch, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Nietzsche, Friedrich (1982): Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. v. Giorgio Colli u. Massimo Montinari, Berlin usw.: De Gruyter 1975-1984, III, 1. Pantenburg, Volker (2006): Film als Theorie, Bielfeld: transcript. Rebhandl, Bert (2005): Orson Welles. Genie im Labyrinth, Wien: Zsolnay. Rheinberger, Hans-Jörg (2001): Experimentalsysteme und epistemische Dinge. Eine Geschichte der Proteinsynthese im Reagenzglas, Göttingen: Wallstein. Seeßlen, Georg/Jung, Fernand (1999): Stanley Kubrick und seine Filme, Marburg: Schüren. Serres, Michel (1994) (Hg.): Elemente einer Geschichte der Wissenschaften, Frankfurt/Main: Suhrkamp. Vertov, Dziga (2000): Tagebücher/Arbeitshefte, Konstanz: UVK. Walker, Alexander/Taylor, Sybill/Ruchti, Ulrich (1999): Stanley Kubrick, Leben und Werk, Berlin: Henschel.

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Autorinnen und Autoren

Wolfgang Beilenhoff Wolfgang Beilenhoff studierte Slavistik und Filmwissenschaft in Bochum, Hamburg, Prag und Moskau. Seit 1991 ist er Professor für Filmwissenschaft am Institut für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum. Zu seinen Publikationen gehören: Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm (zus. Mit Sabine Hänsgen) (Berlin 2009), Poetika kino. Theorie und Praxis der russischen Formalisten (Hg.) (Frankfurt 2005), „Iconoclash. Passagen zwischen Denkmal und Film“, in: Wolfgang Schäffner/Inge Münz-Koenen (Hg.), Der Bilderatlas im Wandel der Künste und Medien (München 2004).

Jiří Bystřický Jiří Bystřický studierte Soziologie und Philosophie in Brünn, lehrte ab 1993 an der Karls-Universität und der Filmakademie in Prag und gründete 2002 den ersten medienwissenschaftlichen Studiengang mit dem Schwerpunkt Philosophie und Semiotik („Elektronische Kultur und Semiotik“) an der Karls-Universität in Prag. Seine wichtigsten Publikationen in diesem Bereich: Elektronická kultura a medialita [Elektronische Kultur und Medialität] (Praha 2007), K filosofii médií [Zur Medienphilosophie] (Praha 2007), Normy, zprostředkování a estetický význam [Normen, Vermittlung und ästhetische Bedeutung] (zus.mit Ivan Mucha) (Praha 2003).

Lorenz Engell Seit 2008 ist Lorenz Engell (zusammen mit Bernhard Siegert) Direktor des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung

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Medien denken und Medienphilosophie; 1996-2000 war er Gründungsdekan der Fakultät Medien, seit 2001 ist er Professor für Medienphilosophie an der Bauhaus-Universität Weimar. Studium der Theater-, Filmund Fernsehwissenschaft, Romanistik und Kunstgeschichte an der Universität zu Köln. Zu seinen Publikationen gehören: Playtime. Münchener Film-Vorlesungen (Konstanz 2010), Ausfahrt nach Babylon. Essais und Vorträge zur Kritik der Medienkultur (Weimar 2000), Bewegen Beschreiben. Theorie zur Filmgeschichte (Weimar 1995).

Erich Hörl Erich Hörl ist Juniorprofessor für Medientechnik und Medienphilosophie an der Ruhr-Universität Bochum. Er studierte Philosophie in Wien und Paris, erhielt seinen Doktorgrad an der Humboldt-Universität für seine Dissertation Die heiligen Kanäle. Historisch-epistemologische Untersuchungen zur archaischen Illusion der Kommunikation (Zürich/Berlin 2005). Zu seinen jüngsten Publikationen zählen: „Nancy et la technologie“, in: Gisele Berkman/Danielle Cohen-Levinas (Hg.), Figures dehors. Autour de Jean-Luc Nancy (2010); Bernard Stiegler: Denken bis an die Grenzen der Maschine (Hg.) (Zürich/Berlin 2009).

Stanislav Hubík Stanislav Hubík studierte Soziologie und Philosophie in Brünn, promovierte 1974 mit einer Arbeit über Wittgenstein, habilitierte sich 1994 in Bratislava mit der Schrift K postmodernismu obratem k jazyku [Über die sprachliche Wende zum Postmodernismus] (Boskovice 1994). Seit 1995 ist er Professor an der Mendel-Universität in Brünn und seit 2009 Mitglied des Zentrums für Kultur-, Kommunikations- und Medienforschung an der Universität Olomouc. Die jüngste Publikation: „Grafika a Kritika: transcendentální estetika a kinestetika“ [Grafik und Kritik: die transzendentale Ästhetik und Kinästhetik], in: Kant v kontextech Husserlovej a Heideggerovej filozofie (Košice: 2009).

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Autorinnen und Autoren

Kateřina Krtilová Kateřina Krtilová studierte Medienwissenschaft und Philosophie in Prag und Regensburg. Seit 2008 ist sie Mitglied des Internationalen Kollegs für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie und promoviert an der Bauhaus-Universität Weimar zu Vilém Flussers Medienphilosophie. Zu ihren Publikationen gehören: „Media a medialita“ [Medien und Medialität], in: Martin Foret/ Marek Lapcik/Petr Orság: Jazyk-filosofie-média (Olomouc 2010), Za filosofii nové doby/ Für eine Philosophie der neuen Zeit (Hg.) (Praha 2007).

Miroslav Marcelli Miroslav Marcelli studierte Philosophie und Geschichte in Bratislava und Paris. Seit 1997 ist er Professor für Philosophiegeschichte an der Komenský-Universität Bratislava, seit 2005 lehrt er Semiotik und neuere französische Philosophie am Institut für elektronische Kultur und Semiotik an der Karls-Universität Prag. Wichtige Publikationen: Filozofi v meste [Philosophen in der Stadt] (Bratislava 2008), Príklad Barthes [Als Beispiel: Barthes] (Bratislava 2001), Michel Foucault alebo stat sa iným [Michel Foucault oder anders werden] (Bratislava 1995).

Dieter Mersch Seit 2004 ist Dieter Mersch Professor für Medienwissenschaft an der Universität Potsdam; Studium der Mathematik und Philosophie an den Universitäten Köln und Bochum, 2000 Habilitation in Philosophie mit der Arbeit Materialität, Präsenz, Ereignis. Untersuchungen zu den Grenzen des Symbolischen (erschienen als „Was sich zeigt. Materialität, Präsenz“, München 2002), weitere Publikationen (Auswahl): Posthermeneutik (Berlin 2010), Kunst und Wissenschaft (Hg. zus. mit Michaela Ott) (München 2007), Medientheorien zur Einführung (Hamburg 2006), Kunst und Medium (Kiel 2003).

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Medien denken

Nancy Roth Nancy Roth studierte Kunstgeschichte, Kunst, Deutsch und Geschichte und promovierte 1996 am Graduate Center der City University of New York mit einer Arbeit zu John Heartfield. Sie ist Dozentin am Lehrstuhl für Kunst und Fotografie am University College Falmouth. Zu ihren jüngsten Publikationen zählen „Visual Consciousness: The Impact of New Media on Literate Culture“, in: Barry Sandywell/Ian Heywood, The Handbook of Visual Culture (Oxford: im Erscheinen) und die englische Übersetzung von Vilém Flussers „Ins Universum der technischen Bilder“ und „Die Schrift“ (Minnesota: im Erscheinen).

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Kultur- und Medientheorie Barbara Eder, Elisabeth Klar, Ramón Reichert, Martina Rosenthal (Hg.) Theorien des Comics Ein Reader Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1147-2

Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien Dezember 2010, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5

Gunther Gebhard, Oliver Geisler, Steffen Schröter (Hg.) Das Prinzip »Osten« Geschichte und Gegenwart eines symbolischen Raums November 2010, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1564-7

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Kultur- und Medientheorie Claus Leggewie, Anne-Katrin Lang, Darius Zifonun (Hg.) Schlüsselwerke der Kulturwissenschaften April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1327-8

Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture April 2011, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2

Roberto Simanowski Textmaschinen – Kinetische Poesie – Interaktive Installation Studien zu einer Hermeneutik digitaler Kunst Mai 2011, ca. 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-89942-976-3

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Kultur- und Medientheorie Cristian Alvarado Leyton, Philipp Erchinger (Hg.) Identität und Unterschied Zur Theorie von Kultur, Differenz und Transdifferenz

Lutz Hieber, Stephan Moebius (Hg.) Ästhetisierung des Sozialen Reklame, Kunst und Politik im Zeitalter visueller Medien

Januar 2010, 332 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1182-3

Mai 2011, ca. 250 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1591-3

Matthias Bauer, Christoph Ernst Diagrammatik Einführung in ein kulturund medienwissenschaftliches Forschungsfeld

Peter Mörtenböck, Helge Mooshammer Netzwerk Kultur Die Kunst der Verbindung in einer globalisierten Welt

September 2010, 372 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1297-4

April 2010, 158 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 17,80 €, ISBN 978-3-8376-1356-8

Christoph Bieber, Benjamin Drechsel, Anne-Katrin Lang (Hg.) Kultur im Konflikt Claus Leggewie revisited

Dorit Müller, Sebastian Scholz (Hg.) Raum Wissen Medien Zur raumtheoretischen Reformulierung des Medienbegriffs

November 2010, ca. 470 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN 978-3-8376-1450-3

Christof Decker (Hg.) Visuelle Kulturen der USA Zur Geschichte von Malerei, Fotografie, Film, Fernsehen und Neuen Medien in Amerika November 2010, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1043-7

Barbara Gronau, Alice Lagaay (Hg.) Ökonomien der Zurückhaltung Kulturelles Handeln zwischen Askese und Restriktion Juli 2010, 388 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1260-8

April 2011, ca. 366 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1558-6

Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien November 2010, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5

Theo Röhle Der Google-Komplex Über Macht im Zeitalter des Internets Juli 2010, 266 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN 978-3-8376-1478-7

Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de

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