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German Pages 206 [202] Year 2015
Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr (Hg.) Bild und Eigensinn
Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr (Hg.) Bild und Eigensinn. Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Hochschule für Gestaltung Offenbach und der EuroHypo-Bank
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© 2006 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung und Innenlayout: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Markus Frohnhöfer, o.T. 1 (Ausschnitt), 2005, Druckfarbschicht an Tesafilm, 5 x 100 cm (Foto: Jörg Baumann) Lektorat: Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr Satz: Kai Reinhardt, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-572-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
INHALT Vorwort 9
Einleitung PETRA LEUTNER UND HANS-PETER NIEBUHR 10
I. Bilder umschreiben Praktiken des Eigensinns und die kulturelle Transformation der Gegenwart RAINER WINTER 23
Gehen und Sehen. Alte und neue Dispositive des Visuellen PETRA LEUTNER 42
Vom Vorrang des Sehsinns im Traum WOLFGANG LEUSCHNER 58
Dreams are my Reality. Hollywoods Science-Fiction-Filmwelten und ihre Rekonstruktion durch Fans CLAUS RICHTER 71
Klang- Bild- Sprachrhizom: Rolf Riehms Archipel Remix für großes Orchester und elektronische Zuspielungen (1999) ROLF RIEHM UND MARION SAXER 87
carter ratcliff – to get or not to get with the program MICHAEL KREBBER 102
Energie der Störung. Bemerkungen zu Naturbildern und Poesie MARION POSCHMANN 103
II. Bild und Selbst Bildlichkeiten MICHAEL DONHAUSER 113
Bild, mentales Bild und Selbstbild. Eine begriffliche Annäherung KLAUS SACHS-HOMBACH 116
Bilderflucht. Über Mimesis und Selbstheit STEFAN LORENZER 132
»Wie die Anstalt sie haben möchte …« – Selbstbilder in der Sammlung Prinzhorn THOMAS RÖSKE 149
Das photographische Portrait zwischen Identität und Identifikation bei Walter Benjamin und W.G. Sebald ANJA LEMKE 160
Das eigensinnige Kind erzählt von der Schwester der Gebrüder Grimm MARIANNE EIGENHEER 179
Wie bewahrt sich Eigensinn vor Borniertheit? Durch Verzicht auf das Selbstbild oder durch dessen Fragmentarisieren? Eine Intervention zu verschiedenen Ansichten BURGHART SCHMIDT 189
Biobibliographische Informationen 198
Abbildungsnachweise 202
VORWORT Das Thema Bild und Eigensinn hat uns in unterschiedlicher Form und in wechselnden Kontexten über längere Zeit hinweg beschäftigt. Die Entstehung des vorliegenden Bandes wie auch die Durchführung zweier mit ihm thematisch verbundener Symposien wäre ohne die technisch-organisatorische und finanzielle Unterstützung durch die Hochschule für Gestaltung Offenbach am Main und insbesondere durch den Fachbereich Visuelle Kommunikation nicht möglich gewesen. Dafür sei dem Präsidenten der Hochschule, Herrn Frank Mußmann, und dem Fachbereich in Person ihres Dekans, Herrn Professor Bernd Kracke, gedankt. Unser besonderer Dank gilt auch der EuroHypo-Bank für ihren finanziellen Beitrag, Herrn Walter Ganster für seine technische Hilfe und nicht zuletzt den Mitarbeitern der Hochschulverwaltung und den Studierenden, die das gesamte Projekt hilfreich begleitet haben. Offenbach am Main, im Juli 2006 Petra Leutner und Hans-Peter Niebuhr
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EINLEITUNG PETRA LEUTNER UND HANS-PETER NIEBUHR
I. Über den Aufbau von Bildern, über ihre Medialität, ihre Bestimmung und ihren ontologischen Status wird seit einigen Jahren zunehmend geforscht. Die Omnipräsenz der Medien und der Aufschwung der Populärkultur haben zu dieser Entwicklung als außerwissenschaftliche Faktoren beigetragen. Die Hinwendung zum Bild erfolgte nicht nur in den klassisch dafür vorgesehenen Fächern wie Kunstgeschichte, Wahrnehmungspsychologie oder Ästhetik. Vielmehr werden solche Untersuchungen in all den Disziplinen durchgeführt, die für ihr Gebiet eine Art ›pictorial turn‹ in Anspruch nehmen. Unter Bild werden dementsprechend nicht mehr nur klassische Tafelbilder oder künstlerisch wertvolle technische Reproduktionen verstanden, die einmal der Kunstgeschichte als Gegenstand vorbehalten waren, sondern auch Darstellungen von Computertomographen, Comics, Werbephotos, Filme, wissenschaftliche Graphiken und anderes, also exemplarische Abbildungen im weitesten Sinn. Nachdem in der Kunstgeschichte über die Erweiterung ihres Gegenstandsbereichs im Hinblick auf die Einbeziehung nichtkünstlerischer Bilder, etwa aus der Populärkultur, und damit hin zu einem Selbstverständnis des Fachs als Visual Studies diskutiert worden ist, werden also nun in die Literaturwissenschaft und die Philosophie transdisziplinär Fragen nach Bildgebungsverfahren, nach dem Verhältnis von Sehen und Lesen, nach dem Unterschied der ›Kulturtechniken‹ Bild und Schrift1 oder nach dem ›Bilderdenken‹2 einbezogen. In der Soziologie widmen sich die Cultural
01 Vgl. Horst Bredekamp, Sybille Kramer (Hg.): Bild, Schrift, Zahl, München: Fink 2003. 02 Vgl. Barbara Naumann, Edgar Pankow (Hg.): Bilderdenken. Bildlichkeit und Argumentation, Müchen: Fink 2004. 10
EINLEITUNG
Studies der gesellschaftlichen Anverwandlung von Bildern, Bildern des Alltags und Bildern der massenmedialen Populärkultur.3 Auf der einen Seite erweiterte sich also – gegen Widerstände4 – der Gegenstandsbereich der Kunstgeschichte, auf der anderen Seite setzen sich unterschiedlichste Einzelwissenschaften ihrerseits verstärkt mit Bildlichkeit auseinander, so dass das Thema Bild schließlich in seinen verschiedenen Spielarten in fast allen geistes- oder kulturwissenschaftlichen Fächern angekommen ist. Diese Entwicklung ging in Deutschland Hand in Hand mit der Frage, in welchem Sinne künftig von einer Bildwissenschaft die Rede sein müsse.5 Als weitere Tendenz lässt sich feststellen, dass in der Kunstgeschichte mit der Rückkehr zur Kategorie Bild die Verabschiedung des Zeichenbegriffs als theoretisches Paradigma gleichsam beschlossen wurde.6 Das Bild ist dabei nun erstaunlichen Zumutungen ausgesetzt, und es wird offenbar, dass kaum ein ›strenger‹ Begriff von ihm zureicht, dass dies vielleicht sogar seine Anziehungskraft ausmacht. Sicher bietet es als Modell gegenüber dem Zeichen den Vorteil, dass sich in seinem Bezugsrahmen stärker auf Materialität oder auf die Selbständigkeit des visuellen und perzeptiven Anteils beim Betrachter beharren lässt. Die irreduzible Körperbezogenheit der Rezeption eines Wahrnehmungsgegenstands kann auf dieser Basis deutlicher betont werden. Wenn wir ein Bild nur als leibliche Wesen verstehen können, wie Hans Belting dargelegt hat,7 so unterscheidet es sich in dieser Hinsicht von Symbolen wie etwa den mathematischen Zeichen und markiert eindrücklich seine Eigentümlichkeit als potentiell mehrdeutiges, dinghaftes Objekt der Wahrnehmung. Diese Sphäre der Unbestimmtheit sollte aber nicht dazu führen, nun sogar vom Bild als wie auch immer geartetem lebendigem Wesen zu sprechen.8 Gegenwärtig wird die westliche Kultur unter dem Druck von Umbrüchen und Bedrohungen gerne im Hinblick auf ihre Entstehung aus abendländisch-christlichen Wurzeln und den im Zuge des Fortschreitens 03 Vgl. etwa Rainer Winter: Die Kunst des Eigensinns, Cultural Studies als Kritik der Macht, Weilerswist: Velbrück 2001. 04 Vgl. die amerikanische Zeitschrift ›Oktober‹, Nr. 77, 1996, die der Debatte um Visual Studies gewidmet war und in der namhafte amerikanische Kunsthistoriker und -historikerinnen kontroverse Statements zu dem Thema abgaben. 05 Vgl. Klaus Sachs-Hombach (Hg.): Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen und Methoden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005. 06 Vgl. Hans Belting: Das echte Bild. Bildfragen als Glaubensfragen, München: Beck 2005. 07 Vgl. Hans Belting: Bildanthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München: Beck 2001. 08 W.J.T. Mitchell: What Do Pictures Want? The Lives and Loves of Images, Chicago: Chicago University Press 2005. 11
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hin zur Moderne in diesem Prozess verursachten Fehlentwicklungen oder Fehldeutungen erklärt. Giorgio Agamben hat entsprechend den geistigen und gesellschaftlichen Weg der Säkularisierung als fehlgehenden Umgang mit der Religion gelesen; dagegen hat er eine Vielfalt von profanierenden Strategien, etwa das Spiel, vorgeschlagen.9 Im Rahmen solcher vergleichenden Erklärungsansätze kann das neue Paradigma Bild eine wichtige Funktion übernehmen. Am Bild, verstanden als kulturelle Errungenschaft, die archaische, religiöse und moderne künstlerische Gestaltungsvorgänge an einem hervorgehobenen Gegenstand bedenken lässt, kann man Kontinuität und Brüche sowohl innerhalb der christlichen Religion wie auch im Verhältnis von dieser zu anderen religiösen Traditionen oder zur Kunst aufzeigen. Das Bilderverbot lieferte schon immer die Folie dafür,10 in jüngster Zeit wurden solche Überlegungen durch die politischen Ereignisse aktualisiert und dramatisch untermalt. Die Schwächen und Stärken der westlichen Welt manifestieren sich in Bildern; doch darüber hinaus ist das Bild als solches zum Wahrzeichen der modernen Konsumgesellschaft geworden, mithin ist sie an diesem Punkt doppelt verwundbar. Der entstehende Effekt lässt sich in politischen Kämpfen ausnutzen.11 Der Kapitalismus war zum Bild geronnen im Symbol des World Trade Centers, und Angriffe auf solche Bilder (in diesem Fall tatsächlich ›lebende‹ Bilder) zerstören nicht nur spezifische Symbole, sondern verhelfen der Bildpolitik zugleich zu einer fragwürdigen Karriere, indem sie die ›Spektakelgesellschaft‹ mit einer einzigen Geste auf den Gipfel treiben und zum Kollabieren bringen. Sie zerstören real, sie treffen aber auch ein herausgehobenes Bild und die Bilderpraxis selbst, eine mehrfache Bildhaftigkeit der westlichen Welt. Vor diesem Hintergrund sind es die Themen Ikonoklasmus und Idolatrie, die allenthalben in einen neuen Kontext gestellt werden und eine aktuelle Thematisierung des Bildes begleiten.12
09 Giorgio Agamben: Profanierungen, übers. v. Marianne Schneider, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005, insbesondere S. 70-91. 10 Vgl. Max Horkheimer, Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main: Fischer 1971, S.13ff.; Theodor W. Adorno: Ästhetische Theorie, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981. 11 Vgl. Retort (Ian Boal u.a.): Afflicted Powers. Capital and Spectacle in a New Age of War, London u. New York: Verso 2005. Dazu erinnere ich an die Diskussionen in dem Seminar ›Bildpolitik‹, das Isabelle Graw und ich im Sommer 2006 mit Studenten der Staatlichen Hochschule für Bildende Kunst, Städelschule Frankfurt und der Hochschule für Gestaltung Offenbach durchgeführt haben. P.L. 12 Vgl. u.a. Bruno Latour: Iconoclash, übers. v. Gustav Roßler, Berlin: Merve 2002. 12
EINLEITUNG
Wie lassen sich in diesem grob skizzierten Rahmen die Themen des vorliegenden Buchs positionieren? Zunächst ist festzuhalten, dass die einzelnen Beiträge in der Tat aus unterschiedlichen Disziplinen stammen: Cultural Studies, Wahrnehmungstheorie, Psychoanalyse, Philosophie, Kunstgeschichte und Literaturwissenschaft – ein breites Fächerspektrum ist vertreten. Erfreulicherweise sind auch Künstler verschiedener Gattungen mit Originalbeiträgen beteiligt. Im ersten Teil Bilder umschreiben geht es um produktive Anverwandlungen von Bildern und visuellen Konstellationen. Der Bildbegriff ist dabei durchaus weit gefasst. In dem Kontext ist zu bedenken, worauf Jonathan Crary hinwies: Es reicht nicht aus, sich mit Visualität zu beschäftigen; Sehen alleine heißt noch gar nichts.13 Innerhalb hoch entwickelter kultureller Gemeinschaften wird es immer notwendiger, aus dem Bereich des Sichtbaren auszuwählen, vieles zu übersehen, was biologisch sehr wohl erfassbar wäre. Um Wahrnehmungsbilder aufnehmen und Bilder generell schaffen zu können, bedarf es der Fähigkeit, zugleich auszublenden und zu fokussieren. Das leistet die ihrerseits fluktuierende Instanz der Aufmerksamkeit. Diese geht allerdings in individuellen, biologischen Regulierungen nicht auf, sondern wird durch historisch-gesellschaftlich generierte Dispositive des Sehens überindividuell gesteuert. Erst in ihrem Spielraum hat Bildlichkeit statt. Doch wenn die Ordnung des Sichtbaren zunehmend komplexer, vielfältiger wird, so mögen überlieferte Festlegungen versagen. Für das individuelle Sehen bedeutet das: Es wird schwieriger, und die gesellschaftliche Ausdifferenzierung erfordert individuelle Kraftfelder der Aufmerksamkeit. In den Blick rücken so partikulare, modellhafte Praktiken bildlicher Aneignung und daraus resultierende Objektivierungen, Gruppenbildungen rund um Bilder, neue ›Vereinfachungen‹ des Sehens, schließlich Verschiebungen bestehender visueller Konstellationen – durch neue Bilder. An diesen Modalitäten der Anverwandlung sind alle Sinne beteiligt, wobei das Thema Bild die Beschränkung auf Visualität nahe legt. Auch die abendländische Herauslösung des Bildes aus dem Kult und seinen religiösen Kontexten hin zum ›autonomen‹ Bild trägt dazu bei, dass die Komplexität des Sichtbaren sich erhöht. Dass kultische Reste in aktuellen Bildkontexten eine Rolle spielen mögen, zum Beispiel wenn Bilder als Embleme des Konsums oder als fetischisierte Kunstobjekte funktionieren und damit neue Bindungen geschaffen werden, widerspricht dem nicht, sondern unterstreicht nur die Notwendigkeit partikularer Lösungen.
13 Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt/Main 2002, S. 14ff. 13
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In der Engführung der Themen Bild und Eigensinn kann sich mit dem Begriff Eigensinn eine leibliche Disposition andeuten, deren Klärung im Rahmen dieses Buchs nicht ausgeschöpft, aber in einer Wendung umrissen ist, die Marion Poschmann in ihrem Beitrag geprägt hat: »Energie der Störung«. Eigensinn materialisiert sich in kulturellen Prozessen als Impuls zur Umgestaltung von Bildern oder gar als Entdeckung der Eigenmacht des ästhetischen Materials. Der Begriff, wie er dann im Kontext der avancierten Kommunikationsgesellschaften verstanden werden muss, schließt zunächst an die Vorstellung psycho-sozialer Widerständigkeit an, wie sie Oskar Negt und Alexander Kluge in ihrem voluminösen Montagewerk Geschichte und Eigensinn exponieren. Eigensinn, so die Autoren, sei »auf einen Punkt zusammengezogener Protest gegen Enteignung, Resultat der Enteignung der eigenen Sinne, die zur Außenwelt führen«.14 Gegen die Diagnose vom kulturindustriellen, alles durchherrschenden ›Verblendungszusammenhang‹ (Adorno) oder etwa auch gegen die Synchronisierungsthese, die äußere, mediale Bilder – images – und innere Vorstellungswelten – imagines – verschmelzen sieht,15 ist Eigensinn hier als Desynchronisierer gefragt, der Lücken, Sprünge oder tote Winkel entdeckt und belebt. Die Beiträge des ersten Teils, Bilder umschreiben, beschäftigen sich dementsprechend mit Praktiken und Kontexten visueller Anverwandlung. Zum einen geht es um die Populärkultur und die aus ihr hervorgehenden kulturellen Aktivitäten von Fangruppen und um deren politische Bedeutung. Kultfilme können heute Gemeinschaften stiften, durch produktive Nachahmung werden vorgefertigte Bilder weiterentwickelt. Die ästhetische und politische Kraft solcher alltäglicher Aneignungsprozesse wird postuliert und zur Debatte gestellt. Zum anderen geht es um Anverwandlungen unterschiedlicher Natur: zunächst um die Kristallisation visueller Konstellationen zu Dispositiven und deren zuweilen subversive Aneignung durch die Kunst, wobei hier die Frage auftaucht, ob die Gegenwartskunst sich inzwischen nach anderen ›Gesetzen‹ formiert; dann um eine ganz ahistorische Form der Anverwandlung – um die spezifische Form der Bildfindung in der Arbeit des Traums. Die von Künstlern stammenden Beiträge des ersten Teils verstehen das Thema dann als Frage nach der Anverwandlung und womöglich buchstäblichen Um-
14 Oskar Negt und Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/Main: Zweitausendeins 1981, S. 766. 15 Vgl. Jochen Schulte-Sasse: »Von der schriftlichen zur elektronischen Kultur: Über neuere Wechselbeziehungen zwischen Mediengeschichte und Kulturgeschichte«, in: H.U. Gumbrecht und K.L. Pfeiffer (Hg.): Materialität der Kommunikation, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1988, S. 429 ff. 14
EINLEITUNG
schreibung visueller Bilder durch die jeweils eigene Kunstgattung, nämlich durch Musik, bildende Kunst und Dichtung. Der zweite Teil des Buches trägt den Titel: Bild und Selbst. Man mag zunächst vermuten, es handle sich um einen weiteren Sonderfall der Anverwandlung von Bildern. Wie Jacques Lacan darlegte, ist das Selbst ja etwas anderes als das handelnde Ich: Es ist eine Art ›Bild‹, das wir von uns haben.16 Die Zweiteilung bewirkt, dass das Subjekt aus sich herausgesetzt ist, dass das Selbst ein Fremdes ist und zugleich das Eigene. Man erinnere sich an den Mythos des Narziss: Narziss erblickt sein Spiegelbild im Wasser. Er beginnt, sein Gegenüber zu lieben, er freut sich daran, dass es immer dasselbe tut wie er, doch als er danach greift, fällt er ins Wasser und ertrinkt. Da er kein Selbstbild hatte, erkannte er sich nicht wieder. Was von ihm bleibt, ist die nach ihm benannte Blume, die Narzisse. Die neurologische Repräsentation des Selbst erfordert eine psychische und kognitive Leistung, die unterbrochen und gestört sein kann. Wenn jemand glaubt, in ihm und durch ihn handle ein anderer, so liegt, wie die Hirnforschung feststellt, eine Krankheit vor. Die Frage stellt sich aber, was das Selbstbild ist und ob es – vielleicht als beibehaltene Orientierung am als Bild wahrgenommenen mütterlichen Antlitz oder am eigenen (laut Lacan selbstkonstitutiven) Spiegelbild – überhaupt etwas mit dem (visuellen) Bild zu tun hat. In der Reflexion dieser Thematik treten Probleme zutage, die für die Bestimmung aller Bildlichkeit von Bedeutung sind. Es lässt sich nämlich beobachten, dass der Begriff ›Bild‹ häufig dann aufgerufen wird, wenn zwei Momente im Spiel sind: dass für die intendierte Vorstellung (noch) gar kein Begriff existiert und dass sie eigentlich überhaupt nicht gegenstandsförmig vor den Geist gebracht werden kann. In diesem Dilemma springt der Begriff ›Bild‹ ein – in paradoxer Bedeutung, denn anschaulich ist zunächst gar nichts. Im Falle des Selbstbilds nun scheinen jene Momente beide gegeben zu sein. Das Selbst ist ungreifbar, entzieht sich der Anschauung und ist nur bedingt wie ein ›Objekt‹ vors Bewusstsein zu bringen. Man mag behelfsmäßig von einer ›übertragenen‹ Bedeutung des Bilds sprechen. Doch noch etwas anderes macht sich hier bemerkbar: ein Abgrund des Bildlosen, der jedes Bild untergräbt. So verstanden rührt das paradoxe Selbstbild an einen unanschaulichen Untergrund aller Bilder: ihre Bildlosigkeit. Diese mag sich in Elementen von Unsichtbarkeit auf Bildern Ausdruck ver-
16 Jacques Lacan: »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion«, übers. v. Peter Stehlin, in: Jacques Lacan: Schriften I, hg. v. Norbert Haas, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1975, S. 61-70. 15
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schaffen oder sich in der ›Blindheit‹ dessen niederschlagen, der ein Selbstportrait gestaltet.17 So könnte man schließlich die Frage nach der Bedeutung von Bildlichkeit für die Konstitution des Selbst damit beantworten, dass gerade in Ermangelung eines umrissenen Selbstbilds die Orientierung an anderen Bildern eine herausragende Rolle in diesem Prozess spielt. Die Beiträge des zweiten Teils beschäftigen sich mit der Entfaltung der hier angedeuteten Zusammenhänge und beziehen dabei unterschiedliche Positionen. Fragen nach repräsentativer Darstellung auf dem Selbstportrait und nach der Entstehung von Selbstportraits unter Bedingungen der Unfreiheit werden ebenso diskutiert wie die angedeutete Problematik, in welcher Form von Selbstbildern überhaupt die Rede sein könne. Am Ende kommt das Thema Eigensinn noch durch explizite Thematisierung zu seinem Recht: Die beiden letzten Beiträge des Buchs beschäftigen sich damit, wie sich Eigensinn in der eigenen Biographie verstehen bzw. in welcher Form er sich theoretisch fassen lasse.
II. Die einzelnen Beiträge sollen nun kurz vorgestellt werden. Der Band wird eröffnet durch eine Position der Cultural Studies. Rainer Winter analysiert die Anverwandlung von Bildern in der Populärkultur. Durch eine weite Definition von Kultur als »whole way of life« (Raymond Williams) bekommen die Cultural Studies Phänomene in den Blick wie etwa die Entfaltung von Kreativität im Alltag, die sonst gar nicht entdeckt, zumindest nicht als Kultur aufgefasst werden, weil sie durch bestehende theoretische Raster fallen. Kultur lässt sich nicht departementalisieren, so die These, und nicht als ›Subsystem‹ isolieren. Die Entstehung von Kultfilmen zum Beispiel oder die Rezeption einer Fernsehsendung ›gegen den Strich‹ deuten auf kreative Aktivitäten des Zuschauers, die spontan und unvorhersehbar sind. Die medial präsentierte Bilderwelt initiiert solche Aneignungen: Sie sind etwa Ausgangspunkt von Gruppenbildungen (»Stämmen«, wie Maffesoli behauptet), sie schaffen bislang unterschätzte soziale Tatsachen, so dass Winter von einem kulturellen Umbruch in der Gegenwart spricht. Cultural Studies verstehen sich selbst als politische Kraft, als »situiertes Wissen« (Donna Haraway). Petra Leutner zeigt in ihrem Beitrag, dass Sehen immer in eine überindividuelle Ordnung eingeschrieben ist. Insofern spricht sie mit Fou17 Vgl. dazu Jacques Derrida: Aufzeichnungen eines Blinden. Das Selbstportrait und andere Ruinen, übers. v. A. Knop u. M. Wetzel, München: Fink 1997. 16
EINLEITUNG
cault von Dispositiven, die Visualität produktiv konturieren und ›Eigensinn‹ begrenzen. Das Sehen seit der Aufklärung war geprägt von einem Modell des am Vorbild des göttlichen Auges orientierten, fixierenden Blicks, der sich auch als distanzierendes, optisches Modell für die Wissenschaft eignete. Komplementär dazu strebten Literatur und Kunst danach, ein bewegtes, auf den Blick des Anderen gerichtetes Sehen zu entfalten, das eine dezentrierte Optik zur Geltung bringt. In der Gegenwart, so Leutner, sei diese komplementäre Konstellation undeutlich geworden. Ein neues Visualitätsdispositiv sei entstanden, und es stelle sich die Frage, ob Kunst sich überhaupt noch komplementär zu anderen Wissensoder Wahrnehmungsformen realisiere. Sie zeichne sich aber dadurch aus, dass sie Prozesse von Transformation, Transfiguration usw. in ihre Form aufnehmen könne. Wolfgang Leuschner stellt seine Untersuchungen zur experimentellen Beeinflussung von Trauminhalten durch äußere optische und akustische Reize vor. Er unterstreicht den grundsätzlichen Vorrang des Optischen, die Dominanz des Sehsinns im Traum. Die Traumarbeit charakterisiert er im Anschluss an Freud dadurch, dass der äußere Traumerreger in das »dynamisch Unbewusste« gezogen und dabei dessen Kohärenz aufgelöst werde. Die so frei werdenden Wahrnehmungsbruchstücke verbinde der Traum mit anderen Erinnerungselementen und schaffe durch Verdichtung und Verschiebung neue Zusammenhänge und Traumgeschichten. Anhand von Fallbeispielen zeigt Leuschner, wie der Traum als Anverwandler und darin zugleich als ›eigensinniger‹ Umdeuter und -gestalter externer Bilder verfährt und welche Mechanismen dabei am Werke sind. Claus Richter führt verschiedene Praktiken der Anverwandlung von Science-Fiction-Filmen durch Fans vor. Zunächst wird aber deutlich gemacht, wie präzise gerade in der Science-Fiction Wissenschaftsfiktionen entworfen und umgesetzt werden. Die Karriere des Kultfilms bringt es dann mit sich, dass Zuschauer sich mit dem Dargestellten identifizieren und es in kreativen Imitationen umwandeln. So werden zum Beispiel die Stormtrooper-Uniformen aus Star Wars nachgemacht, damit verkleiden sich Fans und treten als ganze Kompanien bei verschiedenen Anlässen auf. Besonders interessant ist, dass Wissenschaftsfiktionen aus ScienceFiction-Filmen sogar als Modelle wieder in die Wissenschaft eintreten können. Die Musikwissenschaftlerin Marion Saxer führt ein in das Werk des Komponisten Rolf Riehm, der dann selbst in einem interviewartigen Text sein fünfzigminütiges Stück Archipel Remix kommentiert. Er nimmt die bildliche Vorstellung einer Inselgruppe zum Ausgangspunkt, um dieses simultane, visuelle Modell auf die akustische Ebene zu übertragen. Die Musik setzt sich zusammen aus wiederkehrenden, zum Teil variierenden
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Klangmotiven, die sich in Form von Metamorphosen ausbreiten und gleichsam in einem Meer der Ruhe schwimmen. Ziel ist es, Visualität und Gleichzeitigkeit in das akustische Zeitkontinuum eines Musikstücks zu überführen. Der Künstler Michael Krebber setzt sich mit dem Thema Bilder umschreiben durch die Bearbeitung einer schrift-bildlichen Vorlage auseinander. Er schnitt für dieses Buch eine Einladungskarte zu einem Bild zurecht. Auf ihr wird eine Veranstaltung mit dem Kunstkritiker Carter Ratcliff angekündigt, der unter anderem ein Buch über Dandys verfasst hat. Die Figur des Dandy ist für Krebbers Leben und Arbeit von großer Bedeutung. Die Schriftstellerin Marion Poschmann überblendet in ihrem Beitrag ihre poetologischen Überlegungen zur Naturlyrik mit ökologischen Prozessen des Wildwuchses und der Wucherung. Sie beschreibt das zu Veränderungen nötige Auslösen unkontrollierbarer Wirkungen als »Energie der Störung«. Ihre Gedichte zeigen, wie sie mit Bildern arbeitet, Texte komponiert, die als Naturlyrik bezeichnet werden, obwohl sie sich zum Teil auf konkrete bildliche Vorlagen beziehen, zum Beispiel auf Nicolas Poussins Bild Et in Arcadia ego. Der ›Effekt Naturlyrik‹ entsteht, nicht durch Nachahmung der Natur oder Expression, sondern auf dem Wege von Erfindung und Komposition. Der zweite Teil des Bandes wird eröffnet durch einen Text des Schriftstellers Michael Donhauser. Er legt dar, dass die Zurschaustellung einer repräsentationsfähigen, wiedererkennbaren Identität ein Charakteristikum des traditionellen Portraits sei. Andererseits gebe es auch das entstellte Gesicht – des Bösewichts, des Leidenden –, es bleibe aber namenlos. Heutige Selbstbildnisse existierten zuweilen allein digital – also flüchtig, was bedeute, dass das »Selbst in seiner Selbigkeit« nicht mehr gesucht werde. Beim Verfassen seines Texts Die Elster nach dem Bild La pie von Claude Monet versuchte Donhauser, sich selbst als Wahrnehmenden eines Bildes zu artikulieren. Er gelangte auf diesem Weg zu einer Art Selbstbild, indem er sich an ein Bild namens Elster verlor. Bildlichkeit jenseits des bloß Ästhetischen oder Dokumentarischen bedarf laut Donhauser der Wahrhaftigkeit; diese sei »eine Berührung von Inszeniertem und Erlittenem«. Damit das Selbst sich darin zeige, bedürfe es der Demut. Klaus Sachs-Hombach klärt die Beziehungen des Bilds als externen Mediums zu den internen, mentalen Bildern und zum Selbstbild. Für alle Bilder gelte, dass sie »wahrnehmungsnahe Medien« sind. Das äußere Bild bestimmt er als einen Gegenstand, der flächig, artifiziell, relativ dauerhaft sei und visuell rezipiert werde. Mentale Bilder sind aus dieser Sicht Bilder in einem besonderen Sinn: Sie haben einen Doppelcharakter
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EINLEITUNG
als einerseits visuell-sensorisch angelegte und andererseits interpretierte, die erst im Durchgang durch die Interpretation im Gedächtnis abgespeichert werden. Das Selbstbild ist laut Sachs-Hombach Bild in einem ausschließlich übertragenen Sinn. Sprachgebunden, textähnlich und von idealisierender Tendenz sei es »total«, denn es gelange zu einer Gestalt, in der alle Eigenschaften, die wir uns zuschreiben, verdichtet werden und habe Leitbildfunktion. Die Rolle des Bildes für die Konstitution des Selbst skizziert er derart, dass die externen Bilder das Selbstbild erst relativ spät und auf der Folie der vorgängigen Wirkung der mentalen Bilder prägen. Deren Urbild sei die Mimik, das Lächeln der Mutter. Stefan Lorenzers Überlegungen gehen mit Heidegger davon aus, dass der Begriff der Selbstheit vom Paradigma einer wie immer vorgestellten Selbstrepräsentation freizuhalten ist. Das Verhältnis des Daseins zu sich selbst stößt auf keine substantiellen Bestände, sondern stets nur auf das relationale Sein zu anderem und Hinaussein über sich selbst, das etwa der Titel des In-der-Welt-seins meint. Was auf die Weise der Welt existiert, ist konstitutiv außerstande, sich über sich selbst ins Bild zu setzen, weil Welt als Medium ihrer Bildung alle Bilder einem Bildlosen aussetzt. Zuletzt ist diese Exposition nichts anderes als jene Existenz, deren Eidos darin besteht, dass sie keines hat und darum Möglichkeiten überantwortet ist, die auch ihrer Wesensform nach nicht schon wirklich sind. Eben darum sind es aber zunächst die Wirklichkeiten anderen Daseins, an denen die Möglichkeiten des eigenen aufgehen. Mimesis, so Lorenzers These, ist die Kompensation und Steigerung der Indetermination eines Wesens, das mangels zureichender Wesens- und Gattungsbestimmtheit an eine Zukunft entlassen ist, die in keiner biologischen, psychologischen (etc.) Verfassung bereits geschrieben steht. Thomas Roeske umreißt die Frage, was eigentlich Gegenstand von Selbstportraits sei, anhand verschiedener Bilder aus der Sammlung Prinzhorn. Dabei ergibt sich das Problem, was es bedeute, ein Selbstportrait unter Bedingungen der Unfreiheit zu schaffen. Da Heiminsassen marginalisiert sind und oft zu Unrecht als krank stigmatisiert werden, gewinnt der Begriff Eigensinn hier neue Bedeutung. Röske geht u.a. auf Selbstbildnisse von Josef Forster, Ria Puth, Mena Köhler ein. Forster malte sich als Fliegender mit Krückstöcken, als »Durch-die-Luft-Gehender« und stellte zudem die eigenen Neurosen dar. Ria Puth reflektierte auf eindrucksvolle Weise ihre Zwangssituation: Sie verfertigte ein Selbstbild mit der Inschrift: »Ria Puth, wie die Anstalt sie haben möchte, sie aber skala dei (Leiter/leider Gottes) nie wird«. Darin offenbart sich die sonst verborgene Ambivalenz eines jeden Selbstbilds, schwankend zwischen erzwungener, repräsentativer Kohärenz und individueller Fehlbarkeit.
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Anja Lemke weist auf eine wichtige Ambivalenz des photographischen Portraits hin: Seit seiner Entstehung kann nicht mehr nur die Signatur, sondern auch das Photo Identität beglaubigen (wie auch Walter Benjamin andeutete) und damit als Organ der Überwachung fungieren. Wie verhält sich dann Erinnerung im literarischen Text zu solcher Ambivalenz, gibt es Photos und Texte, die dieser identifizierenden Geste zuwiderlaufen? Lemke expliziert die Thematik an Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert und an W.G. Sebalds Die Ausgewanderten. Benjamin schildert das Problem beim Portraitiertwerden als die Schwierigkeit, auf Verlangen »Ähnlichkeit mit sich selbst« herzustellen. Ihm gelingt es, im Ineinander von Text und Bild Momente auratischer Erfahrung durch Anverwandlung von Fremdsein zu retten und so vor voyeuristischer Identifizierung zu schützen. Das »Entstelltwerden durch Ähnlichkeit« wird unterlaufen. In der Prosa Sebalds verhält sich dies anders: Die Fiktion wird erzeugt, der Text könne die ›Realität‹ der Bilder bruchlos weiterschreiben. Der Erzähler raubt seinen Figuren ihre Fremdheit, seine Position wird nicht ›ent-setzt‹, ›entstellt‹. Die Künstlerin Marianne Eigenheer geht in ihrem autobiographisch grundierten Text vom Märchen Das eigensinnige Kind der Gebrüder Grimm aus. Sie adressiert ihre Gedanken direkt an den/die Leser/-in und greift damit ein formales Prinzip des Nouveau Roman auf. Das ›eigensinnige Kind‹ sieht sie als Mädchen, dem die eigenen Ideen ausgetrieben werden. Eigenheer positioniert als Scharnier zwischen sich und ihr Werk den Eigensinn, der sie dazu treibt, ihre Arbeit, mit der sie inzwischen einen Weg der Abstraktion beschreitet, immer wieder in Frage zu stellen. Burghart Schmidt möchte ›Eigensinn‹ von allen wertenden Zuschreibungen befreit wissen. Eigensinn versteht er als eine strukturierende Organisationskategorie im Prozess der Wahrnehmung. Er geht dieser These auf den Grund, indem er Henri Bergsons Wahrnehmungstheorie an der écriture Marcel Prousts und James Joyces auf die Probe stellt und mit Überlegungen Freuds konfrontiert. Sein Fazit lautet: wenn Eigensinn sich selbst als Wert ausruft, verfällt er der Borniertheit.
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PRAKTIKEN DES EIGENSINNS UND DIE KULTURELLE TRANSFORMATION DER GEGENWART RAINER WINTER
1. Eigensinn, Virtualität und Kontexte. Die Perspektive der Cultural Studies Der transdisziplinäre Ansatz der Cultural Studies widmet sich der Analyse kultureller Erfahrungen, Praktiken und Repräsentationen, die in ihren netzwerkartigen bzw. intertextuellen Verknüpfungen betrachtet werden, unter den Gesichtspunkten von Macht, Differenz und Handlungsmächtigkeit (vgl. Winter 2001). Ihr notwendig perspektivischer Zugang zur Kultur betrachtet diese im Sinne von Raymond Williams (1958) als »whole way of life«. Sie ist nicht ein Subsystem oder ein Feld, sondern durchdringt und formt jeden Aspekt des sozialen Lebens. Wie im Begriff der Erfahrung von John Dewey (1934, dt. 1988) sind Akt und Material, Subjekt und Objekt nicht voneinander getrennt. So ist die gewöhnliche Kultur des Alltags ein zentraler Forschungsbereich von Cultural Studies, den sie aufmerksam beschreiben und detailliert analysieren. Ihre Untersuchungen und das Wissen, das sie hervorbringen, sollen in einem zweiten Schritt die Reflexivität der im Alltag Handelnden steigern, ihren Eigensinn stärken und ihnen Möglichkeiten zur Veränderung einschränkender Lebensbedingungen aufzeigen. Epistemologisch betrachtet, vertreten Cultural Studies wie der Pragmatismus oder der soziale Konstruktionismus eine anti-objektivistische Sicht des Wissens. Sie haben sich in kritischer Auseinandersetzung mit der Vorstellung entwickelt, die ›Logik der Forschung‹ sei in den Sozialwissenschaften dieselbe wie in den Naturwissenschaften, die nach Gesetzmäßigkeiten sucht. Dagegen sind Cultural Studies immer an partikularen lokal und historisch geprägten Kontexten orientiert, die sie neu beschreiben und anders fassen, indem sie in einer deterritorialisierenden Analyse von deren Strukturen, Möglichkeiten der Transformation, neue Verknüpfungen und Prozesse des ›Werdens‹ aufzeigen. Wie Gilles Deleuze und Félix Guattari (1992) sind sie am Virtuellen interessiert, das real, aber nicht aktualisiert ist. Cultural Studies zielen auf eine Umorganisation des Alltags, auf die Transforma23
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tion des Gewöhnlichen und vor allem auf eine Veränderung des Lebens. Es sind Veränderungen nicht im Sinne einer plötzlichen revolutionären Umwälzung oder einer Verwirklichung von kommunikativen Vernunftpotentialen, sondern es sind oft kurze, räumlich oder zeitlich gebundene Akte der Selbstermächtigung, Fluchtlinien, die Personen und ihr Leben transformieren können. Im Sinne von Deleuze (1996) enthält jedes Leben, verstanden als eine singuläre Essenz, Virtualitäten, die nie mit ihrer Aktualisierung zusammenfallen. Das Interesse von Cultural Studies gilt den Verschiebungen von Bedeutungen innerhalb der Kultur, sei es in der Selbstauffassung, in der Identität, in den sozialen Beziehungen, in Wunsch und Begehren oder in der Auffassung der Welt. Durch die Herstellung von Kontexten spüren sie dem produktiven und kreativen Potential im sozialen Leben nach, das von Epiphanien, kritischen Ereignissen und der Transformation fundamentaler Sinnstrukturen in einem persönlichen Leben, über sub- und gegenkulturelle Praktiken, die gegen eine Dominanzkultur gerichtet sind, zu einer Lebenskunst, einer mehr oder weniger systematischen Formung der Existenz in eigener Regie führt. Es geht um alltägliche Veränderungen in Bedeutungen, Einstellungen und Wertorientierungen, um die Entfaltung des produktiven und kreativen Potentials der Lebenswelt, um die Kritik an Machtverhältnissen, um Momente der Selbstermächtigung, die vielleicht schnell vergehen, aber trotzdem prägend und einflussreich sein können. Im Zentrum ihrer Analysen steht die auf Medien aufbauende Populärkultur, die weder kulturkritisch verdammt, noch unkritisch gefeiert wird. Vielmehr wird sie als selbstverständlicher Aspekt modernen und postmodernen Lebens, als vertrauter Erfahrungshorizont und als Medium der eigenen Existenz begriffen. Die Medien liefern die Ressourcen (Bilder, Symbole, Diskurse, Geschichten etc.), mittels deren Anverwandlung viele ihre Identität spezialisieren, ihre politische Sicht der Dinge formen, gemeinsam geteilte Kulturen hervorbringen und die die Basis einer neuen globalen Allerweltskultur sind. Die Populärkultur ist aber nicht nur Medium der symbolischen Integration in das Bestehende, sondern auch eine Form von Gegenmacht, ein Bereich, in dem die Interessen von Marginalisierten und Subordinierten repräsentiert und zur Geltung gebracht werden können. Kultur ist für Cultural Studies ein umkämpftes Terrain, in dem verschiedene miteinander konkurrierende soziale Gruppen um die Durchsetzung ihrer Ansprüche, Interessen und Ideologien kämpfen (vgl. Winter 2005). Dabei sind sie an der kulturellen Transformation, nicht an der Reproduktion gegebener Verhältnisse interessiert. Kultur wird in ihrer Perspektive nicht mit Objekten, Bildern oder Events gleichgesetzt oder auf das reduziert, was auf sie spezialisierte In-
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stitutionen produzieren und distribuieren. Statt dessen geht es um den Prozess der Entstehung und Hervorbringung von Kultur, um die Zirkulation von Bedeutungen und Energien, um die Mobilitäten und Möglichkeiten im alltäglichen Leben, um die Entfaltung der kreativen Aspekte von Kultur und um die Schaffung einer gemeinsamen Kultur. Nicht das fertige Kulturobjekt, sondern die Produktivität im Rezeptionsprozess, die Prozesse des schöpferischen Anverwandelns und die mögliche Kreativität der daran anschließenden Momente bestimmen das Erkenntnisinteresse der Cultural Studies. Dieses Herausstellen von Potentialitäten im Wahrnehmungsprozess, von Handlungsmöglichkeiten vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ordnungsbemühungen sind ihr Terrain. Es sind nicht die einsamen, schöpferischen und solipsistischen Erlebnisse der Kunstproduktion und des Kunstgenusses im Bereich der »Hochkultur«, die mit Distinktion und Definitionsmacht verbunden sind, denen die Aufmerksamkeit der Cultural Studies gilt, sondern sie untersuchen das Eingebettetsein von Produktivität in mundanen Praktiken, in alltäglichen Gebrauchsweisen, die Bilder, kulturelle Objekte und Technologien gegen den Strich lesen oder in dekonstruktiver Weise gegen die Gebrauchsanleitung benutzen. Kreativität stellt in ihrer profanen Gestalt dominante gesellschaftliche Vorstellungen und Werte in Frage. Es sind Einzelne, Gruppen, Kulturen, die kreativ und gemeinsam an der kulturellen Veränderung arbeiten. Diese Prozesse laufen nicht nach einem Programm ab oder werden bewusst initiiert wie bei den Situationisten oder den Surrealisten. Vielmehr zeigen die Cultural Studies, dass Kultur ein Potential für (spontane) Kreativität und schöpferische Prozesse des Anverwandelns im Alltagsleben darstellt. Die Entfaltung dieser Kreativität und Produktivität in sozialen Praktiken bestimmt ihr Projekt. Wie Paul Willis (1981, S. 18) schreibt, ist das Leben selbst ein Forschungslabor, in dem Experimente durchgeführt werden, deren Ausgang unsicher und offen ist. Sinn zirkuliert, wird in sozialen Praktiken verfertigt und produziert Wirklichkeiten. Kultur ist ein kontingenter Prozess, in dem es dominante, aber auch oppositionelle, residuale bzw. subalterne Sinnbestände gibt, wie Raymond Williams (1977a) feststellt. Cultural Studies zielen auf eine Veränderung der Kultur, indem sie ihr Interesse auf die Auseinandersetzungen, die Kämpfe und die Verschiebungen in den Machtverhältnissen richten. Dabei gilt ihre besondere Aufmerksamkeit den Subordinierten, Marginalisierten und Ausgeschlossenen, die die Integrationsangebote der Macht ablehnen oder auf unterschiedliche Art und Weise unterlaufen. Deshalb befassen sie sich mit Subkulturen, Gegenkulturen, Minderheiten, alternativen Strömungen, mit deren Widerstandsformen, Widerspenstigkeit, mit symbolischen Einwänden, sowie auch mit kleinen, oft unbemerkt bleibenden Veränderungen in alltäglichen Praktiken (vgl. Hörning/Winter
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1999). Im Sinne von Oskar Negt und Alexander Kluge (1981) interessieren sie sich für den »Block des wirklichen Lebens« in seinen verschiedenen kulturellen Ausdrucksformen. Nicht die Geschichte der Herrschaft, sondern die widerständigen, in multipler Gestalt auftretenden Prozesse, die Herrschaftszusammenhänge stören, in Frage stellen und umgestalten, beschäftigen die Cultural Studies. Wie Michel de Certeau (1988) es nahe legte, versuchen sie, das »Gemurmel der Gesellschaften« zu verstehen, wenden sich dem »gemeinen Mann« zu, den Situationen und Praktiken, in denen er zu einem anonymen Helden wird. Es sind die Prozesse einer kulturellen Schattenwirtschaft, in denen im Hantieren mit dem Vorgegebenen und Vorgeformten etwas Eigenes, der Logik der Subsumtion (zumindest zunächst) zuwider Laufendes und Entzogenes, geschaffen wird. Dieses kreative Vorgehen in der konflikthaften Dynamik des Alltags gründet in einem kulturell verankerten Beharren auf, aber auch dem Aushandeln einer eigenen Position, kurz, auf einer Kunst des Eigensinns, die sich nicht primär im Kampf der Argumente entfaltet und Ausdruck einer universalisierbaren Rationalität ist, sondern oft leiblich, in die gewöhnlichen mundanen Praktiken eingebunden ist. Es ist im Sinne Maurice Merleau-Pontys (1986) eine Rationalität, die im Werden ist, die Sinn stiftet und sozial verankert ist. Diese verallgemeinerte Kreativität (vgl. Kiwitz 1986) zielt auf eine Kritik der Macht, auf eine Transformation des Bestehenden. Es gelingen ihr aber oft nur kleine Schritte, die leicht unbemerkt bleiben, übersehen werden in strukturdeterministischen oder intentionalistischen Erklärungen sozialen Handelns. Michel de Certeau (1988, S. 77ff.) hat in diesem Zusammenhang von Taktiken im Dschungel der funktionalistischen Rationalität, von Prozessen des Wilderns und der Bricolage, von einer Kunst des »Zwischen zwei Stühlen Sitzens« gesprochen. Henri Lefebvre hat in seinen Überlegungen zur Transformation des Alltagslebens ebenfalls vieles vorgedacht, was die Cultural Studies bestimmt, so z.B. die Möglichkeit einer Lebenskunst (Lefebvre 1977, S. 50). Kultur ist für sie ein kreativer Prozess, der sich ständig verändert und im Werden ist. Es sind weniger die Traditionen, die überlieferten Sinn- und Wertmuster, die oft soziologische Kulturbegriffe bestimmen, als die Prozesse, die sie umformen und umgestalten, die in dieser Denk- und Forschungstradition im Zentrum stehen. In einer kultursoziologischen Perspektive, die als erster Raymond Williams entfaltet hat, lässt sich das Projekt der Cultural Studies als Herausarbeiten und Entfaltung einer Kunst des Eigensinns bestimmen, die zu einer Analyse, Kritik und Transformation von Machtverhältnissen führen soll. Leitend ist die Einsicht, dass Kultur (bzw. die Handlungsmächtigkeit) produktiv ist, Kultur nicht der sozialen Struktur untergeordnet wer-
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den darf. Ich möchte dies zunächst am Beispiel von The Long Revolution (1961) von Williams zeigen, einem der zentralen Werke für die Entwicklung der Cultural Studies. Anschließend werde ich untersuchen, welche Rolle diese kulturellen Prozesse im Kontext der globalen Informationsund Kommunikationsströme des 21. Jahrhunderts spielen. In einem Exkurs werde ich zeigen, wie der Kultfilm ein sehr gutes Beispiel für Prozesse der schöpferischen Anverwandlung von Bildern und der kreativen Aneignung darstellt. Abschließend zeige ich, was Cultural Studies zu einem Verständnis der Gegenwart beitragen können.
2. The Long Revolution (1961) – ein aktueller Klassiker? Um zeigen zu können, dass die Gesellschaft zu Beginn der 60er Jahre, die durch widersprüchliche Entwicklungen in den Medien, im Erziehungssystem und im Bereich der Kommunikationstechnologien geprägt wurde, von einer tiefen kulturellen Revolution bestimmt wurde, differenziert Williams zwischen der Kultur als einer kreativen Aktivität und der Kultur als einer Lebensweise. Dabei verweist er auf die enge Verbindung zwischen Kultur, Kommunikation und Gemeinschaft. »Since our way of seeing things is literally our way of living, the process of communication is in fact the process of community: the sharing of common meanings and their common activities and purposes« (Williams 1965, S. 55). Kultur ist also nicht einfach eine spezielle Praktik oder lässt sich auf die Sitten, Werte und Verhaltensweisen einer Kultur beschränken wie in deskriptiven Konzeptionen der Anthropologie, sondern sie ist eine grundlegende Komponente aller sozialen Praktiken und ihrer Beziehungen untereinander. Eine adäquate Kulturtheorie muss all diese Aspekte berücksichtigen, um die »Beziehungen zwischen den Elementen einer ganzen Lebensweise« (Williams 1977b, S. 50) und damit auch die Organisation einer Kultur erfassen zu können. Insgesamt gesehen, vertritt er eine demokratische und soziale Auffassung von Kultur, die Kunst selbst ist nur eine spezielle Form eines allgemeinen gesellschaftlichen Prozesses. Der umfassende Kulturbegriff, auf den er Wert legt, ist ein soziologisch geprägter, der Kultur als Kommunikation konzipiert. Er beinhaltet die gelebte Erfahrung von Männern und Frauen, die sie in ihren alltäglichen Interaktionen machen, in der sie routinemäßig durch sprachliche und kulturelle Aktivitäten Bedeutungen übernehmen, teilen, aber auch kreativ schaffen. In diesem Prozess werden in einer allmählichen Entwicklung neue, gemeinsam geteilte Bedeutungen hervorgebracht. Dies bedeutet in Abgrenzung zur konservativen Kulturkritik und zur marxistischen Basis-
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Überbau-Vorstellung, dass die gewöhnlichen Tätigkeiten kreativ sind. Ebenso unterscheidet sich die Kunst nicht qualitativ von ihnen, was nicht dazu verleiten darf, ihre besondere Bedeutung zu verkennen. Das Ziel von Kommunikation sei die Herausbildung von Gemeinschaft [process of community], die Teilhabe an gemeinsamen Tätigkeiten, Zwecken, Werten und Bedeutungen. Kultur selbst sei nicht nur eine ›ganze Lebensweise‹ [a whole way of life], sondern auch eine schöpferische Tätigkeit. Die Kulturanalyse münde dann in eine Gesellschaftsanalyse, wenn sie diese beiden Aspekte zusammenführe. Die ›lange Revolution‹, die für Williams der Prozess des Kampfes für eine als gemeinsam verstandene Kultur darstellt, soll eine demokratische Revolution sein, die die gesamte Gesellschaft umfasst. Das Ziel ist eine Transformation der Kultur der Gesellschaft gemäß den individuellen und kollektiven Erfahrungen aller ihrer Mitglieder und das Hervorbringen einer neuen gemeinsamen Kultur. Für ihre letztendliche Verwirklichung gibt es aber keine Sicherheiten, denn die Gesellschaft steuert nicht von sich aus auf eine Situation zu, an der alle an der gemeinsamen Konstruktion von Bedeutungen teilnehmen können. Ich möchte nun fragen, wie das Projekt einer kulturellen Revolution, einer (aktiven) kulturellen Transformation der Gegenwart, angesichts der globalen Informationsund Kommunikationsstrukturen des 21. Jahrhunderts und der postmodernen Medien- und Konsumkultur aussehen kann bzw. neu bestimmt werden muss.
3. Die kulturelle Revolution der Gegenwart Vor dem Hintergrund der Transformation der Kultur durch die globalen Informations- und Kommunikationsströme lassen sich die produktiven und kreativen Umgangsweisen mit medialen Bildern und Texten auch als Ausdruck einer kulturellen Reflexivität begreifen. Ulrich Beck (1986) und Anthony Giddens (1995) haben gezeigt, dass es im Zuge der in ihrer Lesart reflexiven Modernisierung, die vor allem die Risiken und Nebenfolgen der Modernisierungsprozesse bewusst mache, zu einer Entkoppelung von individuellem Handeln und sozialer Struktur komme. Die Freisetzung des Einzelnen aus sozialen Zusammenhängen führt dazu, dass er mehr Wahlfreiheiten hat, mehr über soziale Normen und Strukturen reflektiert und sie zu ändern versucht. Dabei wird, so Scott Lash (2001), die Auflösung sozialer Strukturen von der Bildung neuer Informationsund Kommunikationsstrukturen begleitet, welche die strukturellen Bedingungen für Reflexivität bereitstellen. Die Lebenschancen des Einzelnen hängen vom Zugang zu diesen kulturellen Strukturen ab, von seiner
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Position in der »Informationsweise« (vgl. Poster 1990) der Gesellschaft. Sowohl Giddens als auch Beck, die in ihren Analysen sehr auf wissenschaftliche und politische Experten und Institutionen konzentriert sind und die alltägliche Lebenspraxis nur am Rande betrachten, beschäftigen sich nicht mit der ästhetischen bzw. kulturellen Reflexivität, die in der Populärkultur, im Erleben und Gebrauch von Musik, Filmen und Fernsehen, zutage tritt. Dagegen bestimmt der italienische Philosoph Gianni Vattimo (1992, S. 11) die Gegenwart der Postmoderne vor allem als die »Gesellschaft der generalisierten Kommunikation, die Gesellschaft der Massenmedien«, die entscheidend zu einem Ende der europäisch geprägten Vorstellung von Moderne beigetragen hat. Die Vervielfältigung von Weltanschauungen, von Beobachterstandpunkten und die Pluralisierung von Wirklichkeiten führen dazu, dass weder die Welt noch die Geschichte unter einem einheitlichen Gesichtspunkt gedeutet und verstanden werden können. Auf der Ebene des Alltags schärft dies das Bewusstsein dafür, dass soziale Phänomene, Ereignisse und kulturelle Texte – z.B. die der Medien – verschieden interpretiert, nach multiplen Logiken gebraucht und erlebt werden können. Vattimo erblickt gerade in dieser Erschütterung des modernen Realitätsverständnisses neue Möglichkeiten in der Selbst- und Welterfahrung, die er als »Mobilität zwischen den Erscheinungen« (Vattimo 1992, S. 16) begreift. In der Postmoderne bleibt die ästhetische Erfahrung nicht auf den Bereich der »Hochkultur« beschränkt, sondern durch die Erfahrung der »Massenkultur« komme es gerade zu einer Entgrenzung von Kunst und Alltag, die die Cultural Studies und auch der Pragmatismus bereits theoretisch eingefordert haben. Vattimo betont wie Williams oder Dewey die Pluralität ästhetischer Erfahrungen, Geschmäcker, Praktiken und Gemeinschaften. Die globale und grenzenlose Kommunikation bringt nicht eine transparente Gesellschaft hervor, sondern diese wird komplex, opak und in gewisser Weise chaotisch. Auch für den französischen Soziologen Michel Maffesoli (1988) spielt die wichtigste Rolle im Übergang zur Postmoderne der Siegeszug der Massenmedien und die damit verbundene Transformation der Kultur. Er ist der Auffassung, dass diesen der Verdienst zukommt, die Herrschaft der bürgerlichen elitären Kultur gebrochen und die traditionelle wie die populäre Kultur aufgewertet zu haben. Die Medien, die das alltägliche Leben in Szene setzen, insbesondere das Fernsehen mit seinen polymorphen, heterogenen und vielschichtigen Bildern, werden Teil der öffentlichen Rede und zu kollektiven Ressourcen. Diese Bilderwelt wird in der Gegenwart zum Ausgangspunkt für Gruppenbildungen (Maffesoli 1988, S. 171ff.). Maffesoli bezeichnet die vor allem in den städtischen Bal-
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lungsgebieten auftretenden Mikrogruppen als (Neo-)Stämme (»tribus«). Inmitten der Konsumgesellschaft stellen diese neuen Formen von Sozialität heterogene Fragmente dar, die sich durch gemeinsam geteilte Lebensstile, Erlebnisse oder Interessen auszeichnen. Sie besitzen nicht die Langlebigkeit und Beständigkeit von Stämmen im klassisch anthropologischen Sinn, werden aber von einer »ambiance tribale« getragen. Für Maffesoli ist die sich in diesen Gruppen kondensierende Sozialität, die in einer oberflächlichen Betrachtung banal und flüchtig erscheinen mag, ein wichtiges Merkmal des heutigen Alltagslebens, das in den an der Klassentheorie und an den Abstraktionen der Statistik orientierten soziologischen Arbeiten unentdeckt bleiben muss. Die von den einzelnen gewählten Mikrogruppen und Spezialkulturen (Winter/Eckert 1990), die eine Vielfalt von Erfahrungen, Erlebnissen und Gefühlen ausdrücken, bringen eine transversale Struktur des Zusammenlebens im Alltag hervor, die für die Wirklichkeitserfahrung zentral wird. Die Stämme sind, so Maffesoli, Ausdruck der populären Kreativität der »Massen« (Maffesoli 1990, S. 28). Die gemeinsamen Erlebnisse vor allem im Bereich der populären Kultur stellen die affektiven Grundlagen des Zusammenlebens dar. Die dionysische, Grenzen überschreitende Qualität der Kollektivität kommt zum Beispiel in den punktuellen, imaginären Trancezuständen zum Ausdruck, die durch Gemeinschaftserlebnisse in der Club- und Rave-Kultur oder bei sportlichen Veranstaltungen ausgelöst werden. Diese quasi-magische Teilnahme an Gruppenpraktiken und -ritualen führt zu einer zeitweiligen Auflösung des (individuellen) Selbst und ist wie in primitiven Gesellschaften Ausdruck des kollektiven Bewusstseins im Sinne Durkheims. Das Fortbestehen der Stämme hängt vom emotionalen Engagement der Beteiligten, von Netzwerken der Kooperation und von Gruppenritualen, in denen die symbolischen Züge der Stammeszugehörigkeit dargestellt werden, entscheidend ab. In den heutigen Großstädten vermittelt dieses Zusammensein das Erlebnis von Intimität und Gemeinschaft. Die postmodernen Stämme sind so nicht an der Verwirklichung von abstrakten Utopien interessiert, sondern am gefühlsbetonten Zusammensein und gemeinschaftlichen Erlebnissen. Vattimo und Maffesoli betonen die Pluralität, die Vielstimmigkeit und die Orientierung an der Gegenwart, die das postmoderne Alltagsleben auszeichnet. Die Transfiguration der Welt durch Bilder führt zu ihrer Wiederverzauberung und gleichzeitig zu einer Aufwertung der Gefühle und der Erlebnisse. Die Prozesse der Kommerzialisierung und Mediatisierung, die die heutige Konsum- und Medienkultur hervorgebracht haben, haben auch zu einer Enthierarchisierung und Pluralisierung kultureller Aktivitäten geführt, in der neue kulturelle und ästhetische Möglich-
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keiten stecken und deren (politische) Bedeutung herausgearbeitet werden sollte. Im Anschluss an John Dewey zeigt auch Richard Shusterman (2000) am Beispiel der Rapmusik, dass die populäre Kultur ein Medium ästhetischer Erfahrung darstellt. Die Fabrikation des Populären ist ein sozialer, affektiver und ästhetischer Prozess, in dem nicht nur die Sinne angesprochen werden, sondern Bedeutungen geschaffen und Erfahrungen gemacht werden, wie ich in einer ethnographischen Studie zur Aneignung von Horrorfilmen gezeigt habe (Winter 1995). Die außeralltäglichen Erlebnisse, die die Fans von Splatterfilmen, Raver oder Extremsportler durchleben, müssen nicht oberflächlich bleiben. Sie ermöglichen die gemeinschaftliche Realisierung expressiver Identitätsmuster, dienen der Abgrenzung von anderen und stiften emotionale Allianzen. Im folgenden Exkurs möchte ich die populärkulturellen Erlebnisse und Praktiken am Beispiel von Kultfilmen veranschaulichen.
Exkurs: Die eigensinnige Anverwandlung von Filmen Populäre Kulte beruhen auf der Selbstreferentialität der Medienkultur. Ihre Mitglieder sind sich dieses intertextuellen Netzes bewusst und genießen es, sich gemeinsam in ihm zu verstricken. So ist eine Voraussetzung dafür, dass ein Film oder eine Fernsehserie zum Kult werden, dass sie an die Medienerfahrungen der Zuschauer anknüpfen und gleichzeitig in sich kondensierte und spezialisierte Welten offerieren, die als exemplarischer Ausdruck kultureller und gesellschaftlicher Strömungen erlebt werden können. Die Geschichte der Kultfilme zeigt, dass sie von den Zuschauern und nicht von der Kulturindustrie geschaffen werden. Entgegen Umberto Ecos (1985) Auffassung werden sie nicht als Kultobjekte geboren, sondern sie lassen sich besser als »adoptierte Kinder« begreifen (Corrigan 1991). Die Kultisten nehmen sich ihrer an, versuchen mit ihren Eigenheiten zurechtzukommen und entwickeln in der lustvollen und wiederholten Beschäftigung mit ihnen eigene Interpretationen, Rituale und Praktiken, die durch produktive Anverwandlung und Bricolage, den spielerischen Umgang mit Bildern, Signifikanten und Sinnbeständen, gekennzeichnet sind. So können Filme – unabhängig von ihrer Bewertung durch Industrie, Werbung und die professionelle Kritik – zu signifikanten Objekten werden. Gerade die Abgrenzung, die sie von bereits existierenden und dominanten Geschmacks- und Erlebniskulturen erlauben, macht ihren spezifischen Reiz aus.
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Populäre Kulte werden an spezifischen Orten vom Wohnzimmer bis zum Konzertsaal zelebriert. Einer ihrer wichtigsten Kontexte war das sogenannte Mitternachtskino (Hoberman/Rosenbaum 1998), das in den 60er Jahren im Kontext der Gegenkultur entstand und bis in die 70er Jahre sehr populär war. Zu dieser Zeit zeigten die Kinobetreiber alle Arten von Sonderprogrammen: Exploitationfilme, wüste Horrorfilme, Undergroundproduktionen und Avantgardefilme. Filme wie Night of the Living Dead (1968), Texas Chainsaw Massacre (1974), Pink Flamingos (1972) oder El Topo (1969) wurden in geselligen, karnevalesk ausgelassenen Kinonächten rezipiert, kommentiert und gefeiert. Beispiele wie Eraserhead (1977) oder Basket Case (1982) demonstrieren, dass erst das beständige Interesse und die leidenschaftlichen, ausdauernden Rituale des Publikums aus Filmen verehrungswürdige Kultobjekte machen. Kultfilme werden in kollektiven Ritualen, die den herkömmlichen »Kino-Rahmen« (vgl. Winter 1992) überschreiten, zu außergewöhnlichen kulturellen Objekten. Eine soziologische Analyse zeigt, dass sie sich durch bestimmte Inhalte und textuelle Merkmale kennzeichnen lassen (Kinkade/Katovich 1992, S. 194-198). 1) Im Idealtyp des Kultfilms werden durchschnittliche, typische Personen mit atypischen, außergewöhnlichen Situationen bzw. das Publikum mit bizarren Welten und exzentrischen Subkulturen konfrontiert. So versucht Divine als fetter Transvestit in John Waters Tabu brechenden und amerikanische Ideale dekonstruierenden Pink Flamingos (1972), dem Publikum zu beweisen, dass sie die ›dreckigste‹ Person der Welt ist. Das seinen Horror-Glamourlook imitierende Kult-Publikum reagiert darauf mit Grölen, Buhen und dem exzessiven Zurschaustellen der eigenen Verkleidung. Die Auseinandersetzung mit deviantem, abweichendem Verhalten während der kultischen Rituale verschafft den Zuschauern emotionale Freiräume und Gefühle der Ermächtigung. Hier schließt sich der zweite wesentliche Aspekt von Kultfilmen an: 2) Die Identifikation des Publikums mit subversiven Charakteren. Denn die Hauptfiguren in Kultfilmen sind oft soziale Außenseiter mit einer zweifelhaften Vergangenheit wie in Mad Max (1978) oder Blade Runner (1982). Viele Kultisten ziehen sich wie die Hauptfiguren an und verwenden auf die Auswahl der Kleidungsstücke soviel Sorgfalt wie bei einem Bewerbungsgespräch. 3) In Kultfilmen werden traditionelle Autoritäten, Werte und Normen in Frage gestellt. Auch hierfür sind die frühen Filme von John Waters ein herausragendes Beispiel. In George Romeros Night of the Living Dead (1968) behält der Afroamerikaner Ben als einziger die Nerven, die nötige Besonnenheit und den Überblick, während der Film in einer expressionistischen Schattenästhetik den Zusammenbruch von Familien und sozialen Bindungen angesichts der Bedrohung durch die Zombies darstellt. In Harold and Maude (1971) über-
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schreitet die Liebe Grenzen, Erwartungen und Konventionen. Kultfilme im engeren Sinne basieren also auf der Dekonstruktion vertrauter Erwartungen und legitimieren abweichende, ›nicht normale‹ Praktiken. 4) Hervorgegangen aus den 60er Jahren reflektieren sie Spannungen, soziale Probleme und Konflikte in der Gesellschaft. So präsentiert Eraserhead (1977) eine apokalyptische, postindustrielle Welt, die durch Entfremdung, Isolation und Einsamkeit gekennzeichnet ist. Auf surreale Weise setzt er sich mit Ängsten, ambivalenten Gefühlen und Aggressionen in bezug auf Geburt und Vaterschaft auseinander. In Blade Runner (1982) gewinnt die Alptraumversion einer postmodernen Gesellschaft Gestalt. Eine Ästhetik des Zerfalls visualisiert die Kehrseite des technischen Fortschritts und die Komplizenschaft von High-Tech, Naturzerstörung und dem Verfall sozialer Bindungen. 5) Die Verehrung eines Films als Kultfilm durch eine Gemeinschaft impliziert nicht, dass alle Mitglieder des Kults ihn einheitlich interpretieren. Im Gegenteil: oft verehrt man den gleichen Film, aber aus unterschiedlichen Gründen. Kultfilme zeichnen sich durch Polysemie, Offenheit und Widersprüche aus. Dies führt zu Gesprächen und Diskussionen unter den Kultisten, die gemeinsame Bande verstärken und aus ihnen eine interpretative Gemeinschaft machen. Auch Starkulte beruhen zum Teil auf der Möglichkeit alternativer Lesarten. So schufen homosexuelle Männer den Kult um Judy Garland, die bereits die Hauptrolle in dem Kultfilm The Wizard of Oz (1939) spielte (Staiger 1992, S. 154-177). Dabei interpretierten sie ihren ComebackFilm A Star is Born (1954) vor dem Hintergrund ihrer persönlichen Krisen und ihrer Probleme, mit dem Hollywood-System zurechtzukommen. Ihre Außenseiterrolle führte zur Identifikation mit ihr. Die retrospektiv bestimmten Merkmale, die den Idealtyp eines Kultfilms kennzeichnen, dürfen nicht darüber hinweg täuschen, dass es auf die Interaktion zwischen Film und Zuschauer ankommt, ob ein Film zum Kultfilm wird. Seine Relevanz und Bedeutung ergeben sich durch die »Antworten« der Kultisten, ihre Praktiken der Anverwandlung. Abweichende oder oppositionelle Lesarten alleine verleihen einem Film noch keinen Kultstatus, erst wenn er zum Fokus eines Gruppenlebens wird und wiederholt bestimmte Praktiken und Rituale durchgeführt werden, gewinnt er den Status eines heiligen Objekts in einer säkularisierten Welt. Wie der Rocky Horror-Kult zeigt, folgen diese Praktiken Regeln, die Novizen erst lernen müssen. Im Laufe der Rezeptionsgeschichte des Films haben sich bestimmte Partizipationsmöglichkeiten und eine Etikette herausgebildet, die von geübten Kultisten begeistert ergriffen werden. Novizen zeichnen sich vor allen Dingen dadurch aus, dass sie Distanz bewahren und emotional nicht im Geschehen aufgehen. The Rocky Horror Picture Show ist von seinen Bildern, Themen und ihrer Präsentation
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(Bisexualität, Abwertung heterosexueller Liebesbeziehungen etc.) her ein gegenkultureller Film, der frühere Filme parodiert und zu sich selbst eine ironische Haltung annimmt. Sein Pessimismus und sein Zynismus in Bezug auf menschliche Beziehungen reflektieren die postmoderne Sensibilität, die sich zum einen durch Ängste, Unsicherheiten und eine zynische Weltsicht kennzeichnen lässt. Zum anderen gehört zu ihr aber auch die Lust an der Intertextualität in einer Welt, die von medialen Spektakeln und Repräsentationen durchdrungen wird. Das Phänomen Kultfilm ist ein gutes Beispiel dafür, dass Filme eigensinnig anverwandelt werden können. Die populärkulturellen Erlebnisse werden gedeutet, auf das eigene Leben bezogen und können zur affektiven Ermächtigung (»empowerment«) beitragen, die für Grossberg (1997) eine Voraussetzung für Handlungsfähigkeit und Handeln ist. Damit meint er diejenigen gefühlsmäßigen und körperlichen Zustände im Erleben populärer Kultur, so z.B. von Rockmusik, die zusätzliche Energie freisetzen und dem einzelnen das Gefühl vermitteln, eine gewisse Kontrolle über sein eigenes Leben zu haben (Grossberg 1992, S. 85). Sie können sowohl die Voraussetzung für die Entwicklung neuer Bedeutungen, Vergnügen und die Erfindung neuer Identitäten als auch ein Schutzschild gegen die Indifferenz und die Inauthentizität sein, die das gegenwärtige Leben auszeichnen. Auch die Studie Common Culture von Willis (1991) macht deutlich, dass infolge der gesellschaftlichen Veränderungen populärkulturelle Erfahrungen und Erlebnisse ein wesentlicher Bestandteil sozialer Prozesse geworden sind. Zudem haben viele Studien der Cultural Studies dargelegt, dass ein populärkulturelles Kapital einer immer größeren Gruppe von Personen jenseits von Klassen- und Bildungsschranken zur Verfügung steht. Der kompetente Gebrauch von populären Filmen, Fernsehsendungen, Videoclips, die die Funktion von ästhetischen Expertensystemen einnehmen, trägt ebenfalls zu einer reflexiven Regulierung des Alltags bei, die aber nicht kognitiv, sondern ästhetisch organisiert ist. Denn die elementaren Ästhetiken verarbeiten die Materialien und Symbole der Medien in produktiven und kreativen Eigenproduktionen, in der Reflexion über das eigene Leben, in der Kleidung und Frisur, in ästhetisch angeleiteten Gestaltungen der Freizeit und in der Identitätsbildung. Deshalb ist infolge der globalen Informations- und Kommunikationsströme die Medienaneignung in der heutigen Zeit Teil einer Ästhetisierung des Alltags. Durch die Kenntnis der Sprache der Medien, durch das gesteigerte populärkulturelle Kapital kann die Lücke, die durch die Enttraditionalisierung infolge der Modernisierungsprozesse geschaffen wurde, aufgefüllt werden. Gleichzeitig ist dies mit einer erhöhten Kritikbe-
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reitschaft und Reflexivität verbunden. So hat James Carey (1995), der in seinen Arbeiten Pragmatismus und Cultural Studies miteinander verknüpft, darauf hingewiesen, dass der Widerstand rebellischer Publika, ihre eigensinnige Umdeutung medialer Texte, eine therapeutische Funktion haben könne und die Vorbedingung für ein demokratisches Gespräch im Sinne von John Dewey sein könne. »Democracy originates among ordinary people in acts of conversation, among citizens who begin to question the disparities between their experience and what politicians are and intellectuals are currently feeding them […]. What is required is that citizens engage their environment and dissipate their anger constructively in political work.« (Carey 1995, S. 88)
Für Carey ist die wesentliche Aufgabe der Cultural Studies gerade die Erneuerung des demokratischen Gesprächs außerhalb des Einflussbereiches der Medien. Dieser Prozess beginnt in den Universitäten, soll jedoch nicht auf sie beschränkt bleiben, denn es soll zu einer Transformation des öffentlichen Diskurses kommen. Eine weitere Beziehung zum pragmatistischen Denken ergibt sich durch die Hervorhebung des kontingenten Charakters von Praktiken, Erfahrungen und Bedeutungen, eine Auffassung, die in den Cultural Studies dominiert, seit das Konzept der Artikulation eine wichtige Rolle in ihren Forschungen spielt. Gerade Richard Rorty, der sich um eine Erneuerung des pragmatistischen Projekts bemüht, hat in seinen Arbeiten immer wieder auf die Kontingenz, das Nicht-Notwendige, das Zufällige, das, was auch anders sein könnte, hingewiesen. Dabei haben für ihn Sprache, Selbst und auch Gemeinschaft einen kontingenten Charakter (vgl. Rorty 1989). Zudem ist Rorty Anhänger des ›creative misreading‹ kultureller Texte. Es geht nicht darum, die Bedeutung in Texten zu finden, sondern sie als Reservoir für »Metaphern der Selbsterschaffung« zu betrachten (Rorty 1989, S. 79), die unsere Wahrnehmungsfähigkeit und unsere Beschreibungen von Selbst und Gemeinschaft erweitern. Dabei sind Selbsterschaffung und Solidarität eng miteinander verknüpft. Auch den Cultural Studies ist es wichtig, die Möglichkeiten neuer Beschreibungen aufzuzeigen und sie zu fördern. Die Anerkennung und Problematisierung persönlicher und sozialer Kontingenzen eröffnet Spielräume der Interpretation und der Gestaltung. Deshalb erweist es sich als Manko, dass bei den auf die Institutionen der Moderne vertrauenden Analysen von Beck und Giddens – bisher – eine angemessene Beschäftigung mit der kulturellen Dimension der Gesellschaft fehlt, die wesentlich für das Verständnis sozialer Beziehungen und Institutionen in der Gegenwart ist.
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Mit Recht diagnostiziert Stuart Hall (1997) für die Gegenwart eine »kulturelle Revolution«, die zur Zeit von »The Long Revolution« bereits in ihren Anfängen zu erkennen war. Denn die Produktion, Zirkulation und Rezeption von Kultur haben sich durch neue Kommunikationstechnologien und die »Informationsrevolution« derart intensiviert und ausgeweitet, dass das Verhältnis von Kultur und Gesellschaft im Sinne von Williams bestimmt werden muss. Kultur darf nicht mehr als ein sekundäres Phänomen betrachtet werden, sondern ist von zentraler Bedeutung für die Struktur und Organisation der heutigen Gesellschaften. Darüber hinaus ist es erforderlich, die Rolle und Bedeutung der aufgezeichneten medialen Kultur, die immer wichtiger wird, herauszuarbeiten, und ebenso muss untersucht werden, wie in alltäglichen Interaktionen Kultur geschaffen wird, die für die Beteiligten oft von wichtiger und existentieller Bedeutung ist. Es muss geklärt werden, wie in sozialen Kontexten – jenseits von Institutionen – kulturelle Reflexivität entsteht und welche Funktion diese in der Politisierung und Demokratisierung der Gesellschaft haben kann. Eine wichtige Forschungsfrage, die sich für die Zukunft stellt, ist, welches soziale und kulturelle Fundament die von Maffesoli beschriebenen »Neo-Stämme« (1988) oder die von Willis (1991) beschriebenen »Proto-Gemeinschaften« darstellen, die an die Stelle der Subkulturen getreten sind, und welches »Wir-Gefühl« sie vermitteln können (vgl. Lash 1996). Bereits die Subkulturen hingen zum Teil von Wahlakten ab, waren also reflexiv verankert. Gehörte man zu einer Subkultur, fand man im Stil und im symbolischen Kampf eine zumindest temporäre gemeinsame Grundlage, weil man Bedeutungen und Symbole teilte. Die ProtoGemeinschaften sind jedoch in noch höherem Maße reflexive Gemeinschaften, die von den produktiven und kreativen Praktiken ihrer Teilnehmer und dem »Raum der Affekte« (Stivale 2000), die durch sie konstituiert werden, abhängen. Da die Medienaneignung durch eigensinnige Anverwandlungen und neue Beschreibungen jedoch zu ganz unterschiedlichen Bedeutungen führen kann, stellt sich auch das Problem, wie durch die elementaren Ästhetiken auch gemeinsame Bedeutungen entstehen können, welche das Fundament für Gemeinschaften sowie eine gemeinsame Kultur bereitstellen, die länger Bestand haben als beispielsweise die Rezeption eines Films oder die Dauer eines Konzerts. Daher ist eine wichtige Fragestellung, wie Gemeinschaften von Medienkonsumenten sich über einen längeren Zeitraum hinweg reproduzieren und räumlich organisieren. Wie gehen sie mit dem Problem der Kreation und der ständigen Neu-Erfindung um, das sich für sie im größeren Maße als für traditionelle Gemeinschaften stellt (vgl. Bauman 1995)? Oder gibt es hauptsächlich nur noch kurzfristige Vergemeinschaftungsformen, die Verknüpfungen »kleiner Maschinen«, die sich in einem affektiven Prozess des
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Werdens zu einer großen Maschine verkoppeln, Verknüpfungen von Begehren, Geschwindigkeit und Intensitäten (vgl. Deleuze/Guattari 1992)? Das so entstehende Event wäre dann eine singuläre Individuation, das die Subjekte transzendiert. Eine gemeinsame Kultur als (sozialistisches) Ziel einer Gesellschaft, wie sie Williams vorschwebte, wäre dann nicht mehr möglich. Hier wird eine Differenz zwischen Deleuze/Guattari/Maffesoli auf der einen Seite und den Cultural Studies andererseits deutlich. Während die französischen Theoretiker einer Politik der Immanenz, die in einer Ethik des Lebens begründet ist, verpflichtet sind, geben Cultural Studies ihre Ideale nicht auf und streben nach einer Politik, die die besten Möglichkeiten in einem gegebenen Kontext zu entfalten sucht (Grossberg 1999).
4. Cultural Studies und das Potential der Gegenwart Es ist deutlich geworden, dass nicht die Einbindung in eine tradierte Kultur diese Forschungstradition beschäftigt, sondern die aktive Auseinandersetzung mit kulturellen Formen, die Prozesse des ›Machens‹, des Aushandelns, des Umdeutens des Fabrizierens, des Inszenierens, in denen Kultur in der Postmoderne geschaffen wird. »Praktiken sind Anwendungen von bereits bestehenden Möglichkeiten, sind wiederholendes Entfalten, sind immer wieder Neuaneignungen von bereits Vorhandenem. Aber zur gleichen Zeit müssen Praktiken auch als produktiv angesehen werden, als In-Gang-Setzen von Neuem, als kreative Fortsetzung, als unkonventionelle Hervorbringung von Vertrautem« (Hörning 1999, S. 96). Dabei stehen Praktiken in Konkurrenz zu anderen Praktiken, sind eingebunden in gesellschaftliche Machtverhältnisse, wenn sie auch nicht auf diese reduziert werden dürfen. Auf immer subtilere Strategien der Macht reagieren um so raffiniertere Taktiken des Widerstands. Wie viele Arbeiten der Cultural Studies zeigen, wird gerade die Populärkultur ›neu‹ bestimmt als Feld des Kampfes und der Auseinandersetzung. Die durch Hall initiierte ›Wende zu Gramsci‹ innerhalb der Cultural Studies verbindet diese (Mikro-)Kämpfe mit dem Kampf um Hegemonie in einer Gesellschaft, in der Politik, im sozialen Leben, aber auch in der Sprache, in kulturellen Texten, in den Systemen der Repräsentation. Dies ist ein nicht zum Stillstand kommender Kampf zwischen ungleichen Kräften, zwischen Mächten und Gegenmächten. Foucault spricht auf den letzten Seiten von Überwachen und Strafen (1976, S. 397) metaphorisch vom »Donnerrollen der Schlacht«, dem Lärm immerwährender Machtkämpfe. Mit diesem Bild möchte er zeigen, dass bei der
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Analyse historischer Tatsachen und sozialer Phänomene die kulturellen und gesellschaftlichen Konflikte, deren Ausdruck sie sind, deutlich gemacht werden müssen. Seit ihren Anfängen zeigen die Cultural Studies durch eine mikrologische Versenkung in die jeweiligen Besonderheiten alltäglicher Lebenszusammenhänge Widerstandspunkte auf. Cultural Studies beginnen mit dem Besonderen und Spezifischen, in der Regel einem Beispiel aus der gewöhnlichen Alltagskultur, das sie in seinem sozialen und historischen Kontext lokalisieren. Anschließend arbeiten sie die Konflikte, Kämpfe und Machtverhältnisse heraus, die diesen sozialen Kontext bestimmen. Sie sind nicht an Filmen, Fernsehen oder Popmusik an sich interessiert, sondern an deren Rolle und Funktion in der Produktion sowie Zirkulation sozialer Bedeutungen, Beziehungen und Subjektivitäten. Sie streben kein umfassendes Wissen ihres jeweiligen Gegenstandes an, vielmehr entnehmen sie Extrakte aus dem sozialen Geschehen, zeigen, wie kulturelle Texte und Prozesse in Machtstrukturen und gesellschaftliche Auseinandersetzungen eingebettet sind. Auf diese Weise stellen sie Zusammenhänge über Erfahrungsräume hinweg her und zeigen die Kontexte auf, die in einer Gesellschaft wirksam sind. Kultur begreifen die Cultural Studies radikal als Prozess, als eine Reihe und Folge räumlich und zeitlich situierter Praktiken, Rituale, Gespräche etc., in denen Bedeutungen und affektive Energien zirkuliert und produziert werden. Wie in der klassischen Version der Kultursoziologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vgl. Winter 2001) geht es auch bei den Cultural Studies um eine Deutung der Gegenwart, die sie aber seit ihren Anfängen im Kontext der New Left als eine politische in praktisch-moralischer Absicht begreifen. Seit Raymond Williams ist eines ihrer wichtigen Ziele, Individuen und Gruppen bei ihren Bemühungen zu helfen, ihre alltäglichen Erfahrungen zu artikulieren, insbesondere solchen, die in der existierenden Kultur noch keinen Platz gefunden haben. Sie verstehen Kultur als Kommunikation und damit als Prozess, in dem aus der Interaktion von historisch gegebenen, geteilten Bedeutungen und individuell bzw. in der Gruppe eigensinnig geschaffenen Bedeutungen neue gemeinsame Sinnrahmen entstehen (vgl. Grossberg et al. 1998, S. 19f.). Cultural Studies sind diesem durch Veränderung, Kreativität und Wandel gekennzeichneten Prozess verpflichtet, der in der Gewöhnlichkeit des Alltagslebens verankert ist und den Williams als »the long revolution« begriffen hat. Dessen Ziel kann freilich zu Beginn des 21. Jahrhunderts weniger optimistisch und das Gegebene transzendierend bestimmt werden.
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ALTE
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GEHEN UND SEHEN. NEUE DISPOSITIVE DES VISUELLEN PETRA LEUTNER
Das Höhlengleichnis des antiken Philosophen Platon führt anschaulich vor, was passiert, wenn ein Wahrheit Suchender die soziale Höhlengemeinschaft verlässt, um am Ausgang ins Licht zu treten: Er sieht nichts. Er ist zunächst einmal geblendet. Wer aus der Höhle hinaus will, ist aber nicht nur in dieser Hinsicht ausgeliefert und schutzlos ausgesetzt. Hans Blumenberg weist auf weitere Schwierigkeiten hin: Der menschliche Leib wird sichtbar.1 Wer aufrecht ins Licht tritt, wird gesehen. Der Mensch ist das sehende und sichtbare Wesen: Der aufrechte Gang verleiht eine neue Perspektive, an Licht und Distanz gewöhnt wird das Auge zum Fernsinn, und der – auch in seiner biologischen Ausstattung ungeschützte – Mensch wird sichtbar. Gehen heißt nicht nur Sehen, sondern auch: Gesehenwerden. Damit sind Risiken und Gefahren verbunden. So behauptet Blumenberg, Goethes berühmtes Sterbewort aufgreifend, »mehr Licht« sei die eine leitende Sentenz, die die humane Entwicklung präge. Die andere aber laute: »Nicht so viel Licht!«2 Nicht so viel Licht – eine solche Aussage kann natürlich zu unterschiedlichen Konsequenzen führen. Sichtbarwerden bedeutet eben auch: Fremdwerden, als Fremder oder Fremde auftauchen, von Anderen als fremd klassifiziert zu werden. Die Empfindlichkeit gegenüber Licht, das sichtbar macht, mag dann die Sehnsucht nach Rückkehr in die schützende Höhle wecken. Also wieder zurück in die alten Höhlen, oder noch besser: neue Höhlen bauen. Blumenberg behauptet, sogar Theoriegebäude ermöglichten das Gefühl, in einer Höhle geborgen zu sein: »Auch Theorien sind Gehäuse, auf dem Rücken des geschichtlichen Schneckengangs mitgetragen.«3 Dem entspricht, was die Ehefrau des Sammlers Saatchi über die gemeinsam mit ihrem Mann ausgeübte Sammlertätigkeit 01 Vgl. Hans Blumenberg: Höhlenausgänge, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, S. 55. 02 Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 55. 03 Blumenberg: Höhlenausgänge, S. 61. 42
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äußerte: »Das Sammeln ist eine Art, die Welt zu ordnen und im Griff zu haben. Wir waren beide entschlossen, jeder auf seine Art Kontrolle auszuüben.«4 Auch die Sammlung kann eine Art Höhle sein. Und trotzdem, oder gerade als Verdrängung dieser Sehnsucht nach Schutz und Rückkehr, will der Sehende immer mehr: Er baut Pyramiden, Dome, Hochhäuser. Er überbietet architektonisch den aufrechten Gang, perfektioniert das Sehen, um in einem Wahn der Sichtbarkeit das Sehen zum Fluchtpunkt der Ambivalenz Sehen – Gesehenwerden zu machen. Laut Blumenberg ist die Bewegung des Gehens und Sehens allerdings irreduzibel markiert und gekennzeichnet durch zwei Aspekte: das ambivalente Ins-Licht-Treten einerseits – das Sehen und Gesehenwerden einschließt – und die Sehnsucht nach Verbergung andererseits. Es wäre zu ergänzen, dass zu dieser Konstellation überdies auch das Nicht-mehr-sehen-Wollen gehört. Je mehr die Impulse, sich verbergen zu wollen, nicht mehr sehen zu wollen, vergessen oder verdrängt werden, desto erstaunlichere Formen nehmen die anderen Elemente an. Der Sehende blendet das angsteinflößende Gesehenwerden aus, erhöht sich selbst zu einem Punkt, der ihm vorgeblich die unangreifbare Beobachterposition zu sichern vermag und träumt von deren Permanenz. So schreibt etwa Augustinus ganz in diesem Sinne, die Menschen liebten die Wahrheit, wenn sie sich enthülle, doch sie hassten sie, wenn sie selbst durch sie enthüllt würden.5
Das Dispositiv des göttlichen Blicks und die Praxis des Gehens Der französischen Philosoph und Wissenschaftshistoriker Michel de Certeau setzt sich in verschiedenen Kontexten mit dem Thema Gehen und Sehen auseinander. De Certeau darf man im Übrigen als einen der Vorväter der Cultural Studies bezeichnen. Es ist seine Vorstellung subversiver Praktiken, die er zuweilen auch bezeichnet als ein »Netz der Antidisziplin«, die in dem Zusammenhang wichtig geworden ist.6 Wie Michel Foucault von der Subversion des Wissens spricht, könnte man im Sinne de Certeaus von einer Subversion des Handelns sprechen. De Certeau hat zunächst vor allem einschlägige Studien über Mystik, Geometrie und über Visualität im weitesten Sinne verfasst, unter anderem einen Aufsatz 04 Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 26.1.2005. 05 Aurelius Augustinus: Bekenntnisse, mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übers. v. Kurt Flasch und Burkhart Mojsisch, Stuttgart: Reclam 1993, S. 277. 06 Vgl. etwa den Abdruck eines Textauszugs von Michel de Certeau in: Karl H. Hörning/Rainer Winter (Hg.), Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 264-291. 43
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über den Traktat De icone (Über ein Bild) des Nikolaus von Kues.7 Cusanus erläutert in dem berühmten Text das Funktionieren des göttlichen Blicks, erstaunlicherweise und fast blasphemisch tut er das am Beispiel eines Bildes. Es ist Teil eines Gemäldes des niederländischen Malers Rogier van der Weyden (1400-1464), und zwar ein Selbstportrait auf dem Gericht des Trajan, einem Bild, das um 1450 entstand. Van der Weyden war für seine Darstellung religiöser Motive berühmt. Der Betrachter wird von den stillstehenden Augen des gemalten Gesichts angesehen, wohin er sich auch begibt. Von Kues hat eine Andachtsübung entworfen, eine Art Performance, bei der Mönche sich halbkreisförmig im Raum bewegen müssen, um immer wieder festzustellen, dass sie nach wie vor von dem abgebildeten Gesicht angeblickt werden, obwohl es sich um ein unbewegliches Bild handelt. Damit wird gezeigt: Der nach diesem Muster interpretierte göttliche Blick steht still und sieht doch alles. Es ist unmöglich, seiner Reichweite zu entkommen. Gottes Ubiquität und Allmacht manifestiert sich in der Totalität dieses Blicks, der zugleich die ungebrochene göttliche Präsenz zum Ausdruck bringt. Der allsehende Blick wiederum wird auf höchst vermittelte Art – am Beispiel eines Bildes – demonstriert. Die abendländische Tradition ist erfüllt und geradezu besessen von der Vorstellung, das menschliche Auge in Entsprechung zum göttlichen zu deuten und im selben Atemzug den menschlichen Blick als Repräsentation des Lichts der ewigen Vernunft zu verstehen.8 Das göttliche Auge kann schließlich als Modell des beobachtenden, identifizierenden, mortifizierenden Blicks einer szientifischen Weltauslegung herhalten. In dem Buch Kunst des Handelns9 bezieht de Certeau implizit Stellung zu dieser Tradition und kritisiert die moderne, wissenschaftlicher Hybris verdankte Anthropomorphisierung und Aneignung der Idee des göttlichen Blicks. Dabei ergibt sich eine erstaunliche Parallele zu Blumenbergs These von der Hyperperfektionierung des Sehens: De Certeau sagt, der Besucher des damals noch existierenden World Trade Centers erfahre die Welt aus einer Perspektive, die die ganze Sehnsucht nach jenem göttlichen Blick 07 Michel de Certeau: »Nikolaus von Kues. Das Geheimnis eines Blickes«, übers. v. Christian Voigt, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 325-356. Der Text von Nikolaus von Kues ist in Auszügen auf Deutsch unter dem Titel »Vom Sehen Gottes« abgedruckt in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig: Reclam 1997, S. 75-92. 08 Vgl. dazu die Äußerungen Platons im Sonnen und Liniengleichnis, Politeia 506b-511e, in: ders., Sämtliche Werke Bd. III, hg. von Ernesto Grassi, übers. von Friedrich Schleiermacher, Hamburg: Rowohlt 1981. 09 Michel de Certeau: Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988, S. 179ff. 44
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erfülle. So geordnet, distanziert und klar wie von dort oben wünsche sich der am göttlichen Blick orientierte Beobachter die Welt, und er strebe danach, sie nach Ordnungsprinzipien einzurichten, die einer solchen Perspektive gerecht werden. Wir können folglich resümieren, dass das nach göttlichem Ebenbild interpretierte menschliche Auge, die mit ihm verbundenen Vorstellungen von uneingeschränkter Sichtbarkeit, Allgegenwart, Macht bei gleichzeitiger Ausblendung der potentiellen Sichtbarkeit des Beobachters die Basis bilden für ein ineinandergeschachteltes, verschlungenes Visualitätsdispositiv. Dieses Dispositiv bestimmt die Auffassung des Sehens, des Erkennens, des wissenschaftlichen Forschens. Die voyeuristische Perspektive setzt dabei Distanz, Herauslösung aus dem Kontext, Beherrschbarkeit und Mortifizierung des Objekts – eine Folge der angestrebten Ausschaltung des Zurückschauens – in eins. Im Zusammenhang mit der Ausübung und Sicherung von gesellschaftlicher Macht sind die flächendeckend eingerichteten Überwachungssysteme, im Gefängnis wie heute auch im öffentlichen Raum, von diesem Dispositiv inspiriert und in seinem Geiste erfunden worden.10 Man kann sagen, dass dieses Visualitätsdispositiv die kulturelle und gesellschaftliche Umschreibung der beunruhigenden Ambivalenz Sehen – Gesehenwerden bedeutet und dass es der Versuch ist, die ungeschützte Bewegung und das angsteinflößende Ausgeliefertsein an den Blick des Anderen zu verdrängen und dafür eine leichter erträgliche Form zu finden. Es interpretiert die ausschnitthafte, menschliche Perspektive um und hypostasiert sie zum allsehenden, übergeordneten göttlichen Blick, ein Modell, dessen sich auch die Wissenschaft bedienen wird. De Certeau assoziiert nun das alltägliche menschliche Sehen, sofern es in eine solche Form gegossen wird, überdies mit dem Lesen.11 Das Gesehene werde in Gelesenes überführt, in einen angeblich an Rationalität orientierten Code, der Sichtbarkeit in Bedeutung übersetze und damit kontrolliere. Diesem weiteren Prozess der Umschreibung des bewegten menschlichen Sehens sind die subversiven Praktiken entgegengesetzt: nämlich unkontrolliertes Gehen in der Stadt, das Zurücklegen nicht kartographierbarer Wege, das Auslöschen identifizierbarer Spuren, also Praktiken, die Eindeutigkeit sprengen und Mehrdeutigkeit an ihre Stelle setzen. Sichtbar werden unter diesem Blick Fetzen von Gesten, aus dem Zusammenhang gerissene Details, Unverstandenes, das sich als eine Art 10 Vgl. zu der Problematik des visuellen Überwachens die bekannten Ausführungen von Michel Foucault in seinem Buch: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976, S. 251ff. 11 De Certeau, Handeln, S. 180. 45
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Überschuss an Bedeutung ausufernd verstreut. Es mag sich zum Beispiel manifestieren in hieroglyphenartigen Bilder-Buchstaben, genannt Graffiti (Abb. 1).12 Abbildung 1: Oliver Flössel, Plastikloch, Wandarbeit 2006 (Ausschnitt)
Der Blick bewahrt in diesem Sehen die ihm eigene Mobilität, die allerdings immer nur Ausschnitte eröffnet. Er soll außerdem gerade nicht in Lesen übergehen, sondern eines »Abirrens des Semantischen« gewahr werden (eine Formulierung, mit der de Certeau auf Jacques Derrida anspielt).13 Im Dschungel dieser Praktiken transformiert sich der Alltag des einzelnen Subjekts. Vom automatenhaften Verrichten machtgelenkter Tätigkeiten führt der Weg im Verlauf phantasievoller Aneignungen in undefiniertes Terrain, das sich möglicherweise der Kontrolle der Macht entzieht. Wohlgemerkt: Kein assoziativer, ›utopischer‹ Raum von Lichtern und Farben wie im vorbegrifflichen Bilderrausch wird entworfen, eher scheinen Wahrnehmungsbilder sich verselbständigt zu haben, ihrer ur-
12 Das Prinzip der Alltäglichkeit und Kontingenz von Graffiti wurde bei der vorliegenden Abbildung auf die Kunst übertragen. Der Untergrund des nur temporär vorhandenen ›Bilds‹ ist die inzwischen wieder übermalte Atelierwand des Künstlers. 13 De Certeau, Handeln, S. 196. 46
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sprünglichen Funktion des Abbildens beraubt.14 Es ginge also weniger um die Erneuerung des Blicks durch die Idee einer ›reinen Wahrnehmung‹ jenseits der Begriffe, wie etwa im Impressionismus, als darum, vorhandene Bilder durch Bewegung zu verändern, die mobile Erfahrung von Räumen und Dingen durch die Praxis des Gehens zu ermöglichen und Wege zu entwerfen, die sich dem fixierenden Blick entziehen. Man fühlt sich erinnert an literarische Konzeptionen wie die von Stéphane Mallarmés Divagations (Abschweifungen), die von einer Sphäre der Unaufmerksamkeit, des Tagträumens ausgehen wollen. Das Dispositiv des allsehenden göttlichen Auges – feministisch auch als Installierung des Blicks der phallozentristischen Tradition gedeutet15 – scheint so ins Leere zu gehen. Auch wenn de Certeau Sehen und Lesen einander gegenüberstellt, sollte man aus seinen Ausführungen keine Herabwürdigung des Lesens heraushören. Wenn man dieses allein als Praxis der mit fixierten Bedeutungen operierenden Rationalität verstehen wollte, hieße das, das Problem nur zu verschieben. Bei aller Unterschiedlichkeit von visueller Wahrnehmung und (gewöhnlich ebenfalls visuell vermittelter) Lektüre tritt in beiden Bereichen gleichermaßen eine immanente Polarität auf: Das Lesen ist ebenso gespalten wie das Sehen, auch dort gibt es ein identifizierendes Aufnehmen einerseits und eine Verräumlichung der Lektüre (»espacement de la lecture«, Stéphane Mallarmé) andererseits, eine den sinnlich wahrnehmbaren Buchstaben und seine Räume einbeziehende Lesepraxis.16 Dies zu übersehen, liefe auf die althergebrachte Fassung des Problems in Gestalt einer Konfrontation zwischen Sinnlichkeit und Wahrnehmung auf der Seite des Sehens und Intelligibilität und Denken auf der Seite des Lesens hinaus.
Leibhaftiges Sehen Die Argumente, die Blumenberg und de Certeau kulturkritisch zu den Effekten des dominanten Visualitätsdispositivs anmerken, stehen in Einklang mit Annahmen über die Leiblichkeit des Sehens in der neueren 14 Vgl. dazu auch die Abbildung von Markus Frohnhöfer auf dem Buchcover, bei der durch die massive Ansammlung von Bildern das ›Abbilden‹ zum Verschwinden gebracht wird. 15 »Dieser Blick bezeichnet die unmarkierte Position des Mannes und des Weißen«; Donna Haraway: »Situiertes Wissen«, übers. v. Helga Kelle, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/Main, New York: Campus 1995, S. 80. 16 Vgl. dazu die Entfaltung einer Konzeption der Lektüre in: Roland Barthes: S/Z, übers. v. Jürgen Hoch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. 47
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Wahrnehmungstheorie. Sowohl von philosophischer als auch von naturwissenschaftlicher Seite wird das Sehen im leiblichen Kontext gedacht; Sehen und Bewegung gehören dabei zusammen. Einige Überlegungen zu dieser Thematik seien kurz vorgestellt. Auch wenn diese einzelwissenschaftlichen Forschungen einem anderen Diskurstyp angehören als ein über alle Disziplinen hinweg kulturell tradiertes Dispositiv, so bleiben sie im Laufe der Zeit doch nicht ohne Einfluss auf jene übergeordneten Modelle, die sie auszuhöhlen und zu verschieben vermögen. Der amerikanische Wahrnehmungspsychologe James Gibson ging im Sinne der irreduziblen Körpergebundenheit menschlichen Sehens auch von der zentralen Bedeutung der Bewegung aus.17 Im Gegensatz zum Leib des Panoptes, lat. Argus, der im griechischen Mythos seinen Kopf voller Augen trägt und so in alle Richtungen schauen kann, weshalb er der Göttin Hera als Polizist diente, ist der menschliche Körper anders gebaut. Die beiden Augen sind ausgestattet mit einem weiten, aber begrenzten Sehfeld. Deshalb sind die Sinnesorgane in ein komplexes Wahrnehmungssystem integriert. An diesem System sind die anderen Wahrnehmungsorgane entscheidend beteiligt, ergänzende Vorgänge gehören aber auch schon zum Sehvorgang dazu. Gibson ordnet ihm eine Reihe unterstützender Schritte zu: Pupillenbewegung, Kopfbewegung, Körperbewegung. Das Besondere am menschlichen Sehen ist, dass es sich im Zusammenspiel mit einem potentiell bewegten Körper vollzieht. So können für Gibson alle Ansätze, die von dieser Tatsache absehen, das tatsächliche Funktionieren des Sehsystems gar nicht erfassen. Der Hirnforscher Wolf Singer demonstriert die Bedeutung der Bewegung für das Sehen mit einem unschönen Katzenversuch.18 Wenn zwei Katzen im Entwicklungsstadium in die Lage gebracht werden, potentiell dasselbe sehen zu können, nämlich indem beide längere Zeit in einem sich drehenden Karussell untergebracht werden, so ist diejenige, die sich auch körperlich mitbewegen konnte, völlig normal entwickelt. Die, die sich nicht bewegen konnte, hat dagegen nicht nur sensomotorische Koordinationsstörungen, sondern sie ist zu großen Teilen erblindet. Die Entwicklung der Nervenverbindungen in der Sehrinde kann nicht vonstatten gehen, wenn Sehen nicht in Koordination mit Bewegung ausgebildet wird. Der gänzlich stillgestellte Blick, das göttliche Auge, führt, buch-
17 James Gibson: Die Sinne und der Prozess der Wahrnehmung, übers. v. M. Gruner, I. und E. Köhler, Bern: Huber 1973; vgl. dazu auch die Textzusammenstellung aus Gibsons Büchern in: Lambert Wiesing (Hg.), Philosophie der Wahrnehmung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 348-357. 18 Wolf Singer: »Was kann ein Mensch lernen?« In: ders., Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 50. 48
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stäblich genommen, bei den meisten Lebewesen wie auch beim Menschen zur Erblindung. Es sind tote Augen, die dann in die Welt starren. Auch was Jonathan Crary im Hinblick auf die Problematik der Aufmerksamkeit darlegt, unterstreicht die Bedeutung der Bewegung für das Funktionieren von Visualität. Aufmerksamkeit ist ein fragiles Gleichgewicht zwischen Hinwendung und Abwendung, niemals kann sie sich als langes Hinstarren auf eine Sache realisieren.19 Der festgestellte Blick führt vielmehr an die Grenzen der Aufmerksamkeit. Er kann Erschöpfung oder hypnotische Zustände hervorrufen. In der von der Gestalttheorie beeinflussten Phänomenologie hat namentlich Maurice Merleau-Ponty in Konfrontation zu dem szientifischen Visualitätsdispositiv die Bedeutung des Unsichtbaren und die Dopplung des Körpers hervorgehoben.20 Wer sieht, erfährt doch zugleich, dass der eigene Körper mehr ist als das, was davon für das eigene Selbst zu sehen ist. Man spürt den Körper, doch viele seiner Teile bleiben für das Auge unsichtbar. Das sehende Ich kann sich also selbst nicht vollständig sehen, nicht einmal das eigene Gesicht. Schon zur Ichkonstitution und zum Ichbewusstsein müssen sichtbare und unsichtbare Teile zusammengefügt werden, und der angeblich niedrige Tastsinn muss beispringen. So wird mühsam alles, was wir sehen, aus Sichtbarem und Unsichtbarem ineinandergefügt und bleibt zusammengeflicktes Stückwerk. Keineswegs aber sehen wir die Dinge ganz, wie ein Gott. Andererseits ist die Erfahrung der Sichtbarkeit des eigenen Körpers für das Ich ein primärer Akt von empfundener Reflexivität. Den Körper als empfindend Empfundenes zu erfahren, bringt die Paradoxie des gleichzeitigen Subjekt- und Objektseins zur Geltung. Diese Erfahrung der Dopplung des Körpers unterscheidet laut Merleau-Ponty das menschliche Sehen vom szientifisch konstruierten ›körperlosen‹ Blick des Wissenschaftlers. Ein solcher Blick beruht auf einer Abstraktion und kann weder als empirischer noch als philosophischer Ausgangspunkt einer Untersuchung des Sehens genommen werden. Die empfindend-empfundene Leiblichkeit visueller Wahrnehmung geht vielmehr der szientifisch-funktional ausgerichteten, objektivierenden Perspektive auf Körper und Welt voraus. Zu guter Letzt sei noch erwähnt, dass die Wissenschaft ihrerseits die Modalitäten der Wahrnehmung im Hinblick auf die eigene Arbeit inzwischen durchaus reflektiert. In die Neurobiologie führte Gerhard Roth zum 19 Zum Zusammenhang zwischen Aufmerksamkeit und Zerstreuung vgl. Jonathan Crary: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 45ff. 20 Maurice Merleau-Ponty: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Böhm, Berlin: Walter de Gruyter 1966; Maurice Merleau-Ponty: »Das Auge und der Geist«, in: ders., Das Auge und der Geist, Philosophische Essays, übers. v. Hans Werner Arndt, Hamburg: Meiner 1984, S. 13-44. 49
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Beispiel ein konstruktivistisches Beobachtermodell ein.21 Damit wird klar, dass auch der Blick des Wissenschaftlers immer ausschnitthaft bleiben muss, dass er durch einen blinden Fleck gekennzeichnet ist und keine vollständige Transparenz erreichen kann. Die Schlussfolgerung lässt sich ziehen, dass Sehen irreduzibel mit Bewegung assoziiert ist. Die Bewegung des Gehens und Sehens von der Entstehung des aufrechten Gangs bis heute wiederum realisiert sich als ein komplexer Vorgang, bei dem beide Elemente aufeinander verwiesen sind. Die Augen befinden sich am räumlich ausgedehnten, beweglichen Körper, sie sind potentiell bewegt, der Blick realisiert sich ausschnitthaft, perspektivisch und auf der Basis eines blinden Flecks im Gesichtsfeld, es gibt die Eventualität einer Ermüdung oder Erschöpfung des Blicks und die zuweilen auftretende Sehnsucht, die Augen zu verschließen. Gehen und Sehen heißt Gesehenwerden, dieses ist verbunden mit Selbstpräsentation ebenso wie mit dem Wunsch nach Rückzug. In all seinen Facetten bildet der komplexe Bereich des visuellen Felds die Folie für potentiell variable Dispositive der Visualität, wobei das Dispositiv des göttlichen Blicks für lange Zeit die Dominanz erringen konnte.
Literarisches Gehen und Sehen Die Festschreibungen des zentrierenden Visualitätsdispositivs haben neben den beschriebenen Wirkungen, etwa der Installierung einer transzendentalen Beobachterposition des abendländischen Subjekts, auch Gegenbewegungen generiert: traditionell naturgemäß auf dem Gebiet der Kunst und Literatur. Zwei Beispiele für solche komplementären Erfindungen in der Literatur seien genannt. Es ist kein Zufall, dass mit dem Aufschwung von empirischer Wissenschaft, Medizin und bürgerlichem Nützlichkeitsdenken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der Typus des Flaneurs und Dandys das Tableau der Geschichte betritt, der durch seinen Habitus jegliche Verwertungsinteressen negiert. Im Gegensatz zum Wissenschaftler zeigen sich diese Protagonisten, sie kultivieren die öffentliche Präsentation. Flanieren ist Gehen, Sehen und Gesehenwerden, als Pose inszeniert. Die Großstadt ist die Bühne dieses Auftritts, nur dort – nicht etwa beim Spaziergang auf dem Dorf – findet der Flaneur seine Motive und vor allem sein Publikum. Zugleich eröffnet sich die Möglichkeit, in der Menge neutralisiert zu werden. Walter Benjamin sagt, der Spazierende sei: »einerseits der Mann, der sich von allem und allen ange-
21 Gerhard Roth: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. 50
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sehen fühlt, der Verdächtige schlechthin, andererseits der völlig unauffindbare, Geborgene.«22 Ein ästhetisches Theorem, das ebenfalls Sehen und Gesehenwerden zur Geltung bringt, ist der Begriff der Aura. Nochmals ein Zitat von Walter Benjamin: »Die Aura einer Erscheinung erfahren, heißt, sie mit dem Vermögen belehnen, den Blick aufzuschlagen.«23 Die Welt als zurückblickende zu erfahren und ihr in der Darstellung diese Fähigkeit zu verleihen, ist die künstlerisch inszenierte Restitution dessen, was der wissenschaftliche Blick der Welt genommen hat. Eine der berühmtesten Äußerungen darüber steht in einem der Apollo-Sonette Rainer Maria Rilkes aus dem Jahre 1908. Es beschreibt einen Jünglingstorso aus Milet aus dem 6. Jahrhundert v. Chr., der sich im Louvre befindet. Dem Torso fehlen natürlich die Augen. Rilke schreibt jedoch, ihm sei das Schauen »zurückgeschraubt« in den Leib. Dann heißt es über den plastischen Körper: »Denn da ist keine Stelle, / die dich nicht sieht.«24 Zwei weitere literarische Beispiele mögen dazu dienen, noch andere Optionen im Auffassen und Konditionieren des Visuellen anzudeuten. An ihnen lässt sich abschätzen, was aus der Vorstellung des auratischen Angeblicktwerdens durch die Dinge inzwischen geworden ist. Ein Bruch mit der harmonischen Vorstellung vom Sehen und Gehen kündigt sich an. Bereits zum Fin de Siècle im Jahr 1897, fast gleichzeitig mit Rilkes Sonett, entstand Stefan Georges berühmtes Gedicht: Komm in den totgesagten park und schau. Die Aufforderung lautet »Komm und schau«, doch das Gedicht handelt in Wirklichkeit vom möglichen Verlust dieses Schauens. Komm in den totgesagten park und schau: Der schimmer ferner lächelnder gestade Der reinen wolken unverhofftes blau Erhellt die weiher und die bunten pfade. Dort nimm das tiefe gelb das weiche grau Von birken und von buchs der wind ist lau Die späten rosen welkten noch nicht ganz Erlese küsse sie und flicht den kranz 22 Walter Benjamin: Das Passagen-Werk Bd. 1, hg. von Rolf Thiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 529. 23 Walter Benjamin: Gesammelte Schriften Bd. I/2 (wa 2), hg. von Rolf Thiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 646f. 24 Rainer Maria Rilke: Werke Bd. II, Gedichte 1895 bis 1910, hg. von Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn, Frankfurt/Main und Leipzig: Insel 1996, S. 513. 51
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Vergiss auch diese letzten astern nicht Den purpur um die ranken wilder reben Und auch was übrig blieb von grünem leben Verwinde leicht im herbstlichen gesicht.25
Das Gebiet, das der Leser betreten und anschauen soll, ist »totgesagt«. Das Lächeln der Dinge – lächelnde Gestade werden genannt – kommt nurmehr von sehr weit her. Totgesagt ist der Park – totgesprochen von vielen Worten oder vielleicht auch nur tot vom Hörensagen. Totgesagt ist der Park aber auch wegen der spätherbstlichen Jahreszeit, in der die Natur langsam erstarrt. Die Pflanzen verblühen, das Sichtbare befindet sich in einem Prozess des Vergehens. Totgesagt ist der Park, wenn man ihn als Metapher der Literatur begreift, aufgrund des Absterbens der literarischen Bildlichkeit einer ganzen Epoche. Totgesagt auch, weil durch den Verlust des Zurückschauens das Sehen selber ermüdet und die mögliche Sprache der Natur unentzifferbar wird, so vergeht mit dem Angeblicktwerden das Sehen, mithin die literarische Bildlichkeit, die nun mühsam restauriert wird. Der Leser wird aufgefordert, wie ein Maler die Palette zu benutzen, um dem gewünschten Bild Farbe zu geben. Ist das im Geiste gemalte Bild dann die erneuernde Alternative zum Sehen und Sprechen? Ein Kranz wird gebunden – und zwar aus welken Blüten, ein Text aus Worten, aus denen schließlich ein Gesicht, ein Bild von Vergehendem entsteht. Die Literatur hat im Gegensatz zur Malerei am Ende den Vorteil, noch das im Untergang Befindliche oder schon Verlorene besingen zu können. In der Mitte des 20. Jahrhunderts ist der Bruch in der Ordnung des Sehens für den Dichter noch radikaler. Paul Celan beginnt sein langes Gedicht Engführung mit folgenden Versen: * VERBRACHT ins Gelände mit der untrüglichen Spur: Gras, auseinandergeschrieben. Die Steine, weiß, mit den Schatten der Halme: Lies nicht mehr – schau! Schau nicht mehr – geh!26 25 Stefan George: Gedichte Bd. I, Stuttgart: Klett 1984, S. 121. 26 Paul Celan: Gesammelte Werke Bd. I, hg. von Beda Allemann u. Stefan Reichert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983, S. 197. 52
GEHEN UND SEHEN
Besonders deutlich kommt die Ablehnung des Schauens in diesem Gedicht zur Geltung. Der Reim ist aufgegeben. Nachdem in der sechsten Zeile die augustinische Aufforderung »tolle, lege«, nimm und lies, implizit zurückgewiesen wurde, soll der Leser zunächst schauen, um dies dann gleich wieder zu lassen. Das identifizierende Lesen wird ebenso abgelehnt wie die visuelle Kommunikation mit den Dingen. Begriffe können dem, was im Folgenden geschildert werden soll, nicht gerecht werden, und entstehende Bilder würden eine Versöhnung mit der sinnlichen Welt demonstrieren, doch eine solche Versöhnung soll verhindert werden. Das verbleibende Gehen ist aber kein Flanieren, nichts läge Celan hier ferner als dandyhafter Müßiggang. Ein Spazierengehen müsste für ihn angesichts der in Engführung beschriebenen Gegend, die auf die nationalsozialistischen Konzentrationslager anspielt, vielmehr ein Gehen auf dem Kopf sein, eine Bewegungsart, die Georg Büchner in der Erzählung Lenz entwirft; Celan greift diesen Gedanken an anderer Stelle auf und führt ihn weiter: »Wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich.«27 Das von Celan gewünschte Gehen des unmittelbar adressierten Lesers im Rahmen des Gedichts entspricht eher der Bewegung einer verräumlichten Lektüre, wie wir sie oben bereits erwähnt haben. Diese Lektüre vollzieht die visuelle Anordnung des Texts nach und führt auf diesem Weg ›gehend‹ auch in die weißen Leerräume zwischen den Worten hinein.28 Das harmonische Gehen und Sehen, das auratische Zurückschauen der Welt, funktioniert nicht mehr. Der Bruch mit dem Angeblicktwerden durch die Dinge ist besiegelt. Weil kein Blick zurückkommen kann, ist das Auge schließlich erschöpft. Erinnert man sich an Eugène Delacroix’ künstlerische Idee von einem sinnlichen ›Fest der Augen‹, könnte der Abstand kaum größer sein.
Neue Dispositive? Wenn die Vorstellung eines kommunizierenden Sehens aus der Bewegung heraus, die in Literatur und Kunst zunächst beschworen wurde, nun ihre Bedeutung eingebüßt hat und zu zerbrechen scheint, kann die komplementäre Position zum Leitmodell des göttlichen Blicks offensichtlich 27 Paul Celan: »Der Meridian« in: ders., Gesammelte Werke Bd. III, S. 195; vgl. dazu auch Petra Leutner: Wege durch die Zeichen-Zone. Stéphane Mallarmé und Paul Celan, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S. 147-167. 28 Vgl. Peter Szondis Lektüre des Gedichts, die diesen Gedanken ausführlich darlegt; Peter Szondi: »Durch die Enge geführt«, in: ders., Celan-Studien, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 47-111. 53
PETRA LEUTNER
nicht mehr besetzt werden. Dies könnte allerdings auch ein Indiz dafür sein, dass sich auf der Seite des Visualitätsdispositivs selbst, auf der Seite des göttlichen Blicks, ebenfalls eine Wende vollzogen hat. Das Sichtbare hat sich durch die Menge der neuen medialen Bildtechniken und Bildgebungsverfahren heute verändert und vervielfacht. Bildgebende Verfahren können Unsichtbares sichtbar machen, Retuschen bringen ehemals Sichtbares zum Verschwinden. Sichtbares und Unsichtbares durchdringen einander in neuer Weise.29 Bildliche und direkte (Gibson) visuelle Wahrnehmung stehen fast gleichberechtigt nebeneinander. Die Betrachtung bewegter Bilder im Fernsehen, das Surfen im Internet erlauben es, die Welt zu sehen ohne zu gehen und ohne gesehen zu werden, zu sehen und zugleich ›in der Höhle zu bleiben‹, um mit Blumenberg zu sprechen. In solchen Möglichkeiten vermag man sogar eine konsequente, implizite Weiterentwicklung des Paradigmas vom ermächtigenden göttlichen Blick zu erkennen. Durch Medien wird Sehen und Gesehenwerden auf zwei voneinander abgetrennte Pole verteilt; die spannungsreiche Ambivalenz und Wechselseitigkeit der visuellen Konstellation wird so gebrochen. Der mediale Beobachter muss sich nicht bewegen, er bleibt unsichtbar, kein antwortender Blick kann ihn erreichen. Für Massenmedien gilt, wie Niklas Luhmann formulierte, »daß keine Interaktion unter Anwesenden zwischen Sendern und Empfängern stattfinden kann«.30 Das kontrollierende, voyeuristische Sehen ist damit einerseits total und erfüllt die Anforderungen des göttlichen Blicks – stillgestelltes Sehen ohne Gesehenwerden, hier mit der Option, Programme zu wählen oder abzuschalten –, andererseits sind die Zuschauer den für sie von den Medien gemachten, vorgefertigten Präsentationen ausgeliefert. Sie sind nicht an der Gestaltung beteiligt, und wer im Film oder Fernsehen ein auratisches Zurückblicken wahrnimmt, gilt als wahnsinnig. Die geschützte voyeuristische Beobachterposition, die immer um den Preis von Distanz erkauft wird, bleibt unangetastet, sie funktioniert sogar effektiver, doch von einer entstehenden ›Machtfülle‹ auf Seiten der Zuschauer kann keine Rede sein, weil die Möglichkeit fehlt, die Distanz zu überbrücken. Die hypostasierte ›Allmacht‹ des sehenden Auges beruht mehr denn je auf bloßer Fiktion, sie wird der Form nach perfekt inszeniert, bleibt aber völlig leer. Die Stillstellung und Isolation des Betrachters, die Ablösung von der Konstellation des Gesehenwerdens und der Möglichkeit eines antwortenden Blicks sowie die im Zuge ständiger Pro29 Vgl. dazu auch Petra Leutner: »Bild und Schminke. Über Falten und Verdopplungen des Sichtbaren«, in: Christian Janecke (Hg.), Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken, Bielefeld: Jonas Verlag 2006, S. 95-117. 30 Niklas Luhmann: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996, S. 11. 54
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grammangebote statthabende Verleugnung einer Ermüdung des Sehens kann schließlich dazu führen, dass das ganze Modell in sich zusammenfällt: Alles Sehen wird zum Abschweifen, durch ständiges Hin- und Herschalten von Programmen, durch Überanstrengung der Aufmerksamkeit oder durch Überdruss. Den Bruch zwischen der Sphäre des Sehens und des Gesehenwerdens mögen begeisterte Fans von Spielfilmen überbrücken, indem sie real nachspielen, nachbauen oder für andere präsentieren, was sie bei medialen Ereignissen erlebt haben und dabei gegebenenfalls das Gesehene sogar kreativ umgestalten. Sie bleiben allerdings in den seltensten Fällen im Medium des vorgegebenen Bildes, da sie davon durch die Verteilung von Macht abgeschnitten sind. Das Visuelle ist heute indifferent, weder ein feindliches noch lächelndes Außen. Drinnen und Draußen sind nurmehr überhaupt schwer voneinander zu trennen, wie auch die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen.31 Die Welt lässt sich zu Hause in Bildern empfangen, umgekehrt kann auf einer eigenen Homepage heimelige Individualität oder Intimität in Texten und Bildern für alle veröffentlicht werden. Was kann es da heißen, dass immer ein Überschuss an Bedeutung gegeben ist, wie de Certeau sagt, und dass wir es mit einem unkontrollierbaren Umherschweifen von Bedeutungen zu tun haben? Aus endlosen Texten und Massen von Bildern überschüssige Bedeutungen auffangen, Bilder versenden, empfangen, ummalen und umschreiben – das gehört zum Alltag. Die ›Kunst des Handelns‹ (de Certeau), das produktive Umgehen mit den Erfahrungen und Bildern des Alltags einerseits, anonyme Kunstformen wie Graffiti andererseits – sind das Wege, die die Kunst gehen sollte? Bezeichnenderweise sind es solche, die nicht ins Museum führen. Das transitorische und überschüssige Moment an Bedeutung kann sich allerdings auch als Geste kristallisieren und im Kunstwerk niederschlagen. Solche Werke, welchen Mediums auch immer, bringen das Umschreiben als solches zur Geltung, es ist zu ihrer nicht substantiellen Substanz, zu ihrer geronnenen Bewegung geworden. Sie weisen in alle Richtungen über sich hinaus, sind eine Anmerkung zu diesem oder jenem Diskurs und malen oder schreiben das eine oder andere Bild, den einen oder anderen Text weiter, was sie explizit zu erkennen geben oder nicht. Sie stellen damit die Kontingenz von Wahrnehmung zur Schau, ohne die eigene Sichtweise zu relativieren, sondern vielmehr auf ihr zu beharren. Ihr Rätselcharakter besteht zuweilen vornehmlich aus dieser Menge von Verweisen, die keinem allgemein verbindlichen Code mehr folgen und deren Nachzeichnen den Betrachtenden aufgegeben bleibt. Die Verände31 Vgl. dazu auch die Thesen von Paolo Virno in: ders., Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect, übers. v. Klaus Neundlinger, Wien: Turia und Kant 2005, S. 29ff. 55
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rungen auf dem Feld der visuellen Konstellation, das Sehen und Gehen selbst haben sich als Bestandteil in diese Werke eingelagert, die damit auch die Verschiebungen auf dem Feld des Sichtbaren manifestieren. Die gelungenen Kunstwerke sind dazu in der Lage, das Moment der Anverwandlung als solches in ihre Form aufzunehmen. Die Gestalt gewordene Kraft zur Metamorphose, zur Anspielung, der gesteigerte Widerstreit zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem lässt sich an ihnen ablesen.
Literatur Augustinus, Aurelius: Bekenntnisse, mit einer Einleitung von Kurt Flasch, übers. v. Kurt Flasch und Burkhart Mojsisch, Stuttgart: Reclam 1993. Barthes, Roland: S/Z, übers. v. Jürgen Hoch, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften Bd. I/2 (wa 2), hg. von Rolf Thiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980. Benjamin, Walter: Das Passagen-Werk Bd. 1, hg. von Rolf Thiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Blumenberg, Hans: Höhlenausgänge, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989. Celan, Paul: »Der Meridian« in: ders., Gesammelte Werke Bd. III, hg. von Beda Allemann u. Stefan Reichert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. Celan, Paul: Gesammelte Werke Bd. I, hg. von Beda Allemann u. Stefan Reichert, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1983. de Certeau, Michel: Kunst des Handelns, übers. v. Ronald Vouillé, Berlin: Merve 1988. de Certeau, Michel: »Nikolaus von Kues. Das Geheimnis eines Blickes«, übers. v. Christian Voigt, in: Volker Bohn (Hg.), Bildlichkeit. Internationale Beiträge zur Poetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1990, S. 325-356. Crary, Jonathan: Aufmerksamkeit. Wahrnehmung und moderne Kultur, übers. v. Heinz Jatho, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. v. Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1976. Frankfurter Allgemeine Zeitung, Feuilleton vom 26.1.2005. George, Stefan: Gedichte Bd. I, Stuttgart: Klett 1984. Gibson, James: Die Sinne und der Prozeß der Wahrnehmung, übers. v. M. Gruner, I. und E. Köhler, Bern: Huber 1973.
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Haraway, Donna: »Situiertes Wissen«, übers. v. Helga Kelle, in: dies., Die Neuerfindung der Natur. Primaten, Cyborgs und Frauen, Frankfurt/Main, New York: Campus 1995, S. 80. Hörning, Karl H./Rainer Winter (Hg.): Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. von Kues, Nikolaus: »Vom Sehen Gottes«, übers. v. Karl Bormann, in: Ralf Konersmann (Hg.), Kritik des Sehens, Leipzig: Reclam 1997, S. 75-92. Leutner, Petra: »Bild und Schminke. Über Falten und Verdopplungen des Sichtbaren«, in: Christian Janecke (Hg.), Gesichter auftragen. Argumente zum Schminken, Bielefeld: Jonas 2006, S. 95-117. Leutner, Petra: Wege durch die Zeichen-Zone. Stéphane Mallarmé und Paul Celan, Stuttgart, Weimar: Metzler 1994. Luhmann, Niklas: Die Realität der Massenmedien, Opladen: Westdeutscher Verlag 1996. Merleau-Ponty, Maurice: »Das Auge und der Geist«, in: ders., Das Auge und der Geist, Philosophische Essays, übers. v. Hans Werner Arndt, Hamburg: Meiner 1984, S. 13-44. Merleau-Ponty, Maurice: Phänomenologie der Wahrnehmung, übers. v. Rudolf Böhm, Berlin: Walter de Gruyter 1966. Platon, Politeia: in: ders., Sämtliche Werke Bd. III, hg. von Ernesto Grassi, übers. von Friedrich Schleiermacher, Hamburg: Rowohlt 1981. Rilke, Rainer Maria: Werke Bd. II, Gedichte 1895 bis 1910, hg. von Manfred Engel u. Ulrich Fülleborn, Frankfurt/Main, Leipzig: Insel 1996. Roth, Gerhard: Das Gehirn und seine Wirklichkeit, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1997. Singer, Wolf: »Was kann ein Mensch lernen?«, in: ders., Der Beobachter im Gehirn, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002, S. 43-59. Szondi, Peter: Celan-Studien, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980. Virno, Paolo: Grammatik der Multitude. Mit einem Anhang: Die Engel und der General Intellect, übers. v. Klaus Neundlinger, Wien: Turia und Kant 2005. Wiesing, Lambert (Hg.): Philosophie der Wahrnehmung, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2002.
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VOM VORRANG
DES
SEHSINNS
IM
TRAUM
WOLFGANG LEUSCHNER
In unseren Träumen gestalten wir jede Nacht eine Welt, die uns, trotz mancher Absurditäten und Bizarrerien, als wirklich existierend erscheint. Daran sind scheinbar alle fünf Sinne beteiligt, und, anders als etwa im Film, sind wir als Person mit unseren Gedanken, Gefühlen in die Szenerien auch motorisch handelnd einbezogen. Sehen und Hören sind allerdings die vorherrschenden Eindrucksqualitäten, während nur ganz selten etwas ertastet oder gerochen oder geschmeckt wird. Manchmal scheinen die Träume ausschließlich aus visuellen Eindrücken zu bestehen. Bei solchen Feststellungen ist zwar zu bedenken, dass die Traumerinnerung Täuschungen unterliegt. Eindrücke anderer geträumter Sinnesmodalitäten könnten ja im Nachhinein beseitigt sein. Solche nachträglichen Korrekturen gibt es tatsächlich. So kolorieren wir nachweislich Träume oft erst zu einem späteren Zeitpunkt so, als ob sie schon primär dazugehört hätten. Es ist dann ein Wissen oder eine Absicht, die im Erinnern des Traums wirksam wird und ein zunächst in schwarz/weiß erlebtes Objekt oder eine Szene nachträglich farbig ausmalt. Auch ist einschränkend festzuhalten, dass Personen, die ohne Sehvermögen geboren oder kurz nach der Geburt erblindeten, keinerlei visuelle Traumerfahrung aufweisen, auch nicht, wenn ihr zentralnervöses Sehsystem intakt ist. Ihre bildlosen Träume sind trotzdem als vollwertig zu bezeichnen, weil sie eben in den Modalitäten ihres Welterlebens träumen und die vor allem gehörte Welt auf gleiche Weise traumartig gestalten wie die Sehenden. In der Regel ist diesen Berichten auch nicht anzumerken, dass die Träumer nichts gesehen haben. Aber grundsätzlich kann man festhalten, dass der Augensinn im Traum alles dominiert. Freud (1900) erklärte dies durch Folgen der Traumregression. Damit war gemeint, dass Traumerreger (z.B. Gedanken vom Vortage) in das dynamisch Unbewusste gezogen werden. Die hier wirksamen Mechanismen führen dazu, dass ihre Kohärenz, ihr logischer Zusammenhang verloren geht. Auf diese Weise werden Wahrnehmungsbruchstücke frei, von denen manche für die weitere Gestaltung eines Traumes ausgewählt und verwendet werden. Dabei werden in unserer Traumfabrik 58
VOM VORRANG DES SEHSINNS IM TRAUM
mehrere Fragmente verschiedener Herkunft zu einem neuen Traumelement zusammengezogen, was als Verdichtung oder Kondensierung bezeichnet wird. Ein Element des erinnerten manifesten Traumes besteht demnach aus mehreren latenten Fragmenten. Diese Verdichtung nun, so Freud, ist für die sinnlich-visuelle Qualität der Träume verantwortlich, weil die Fragmente energiereich sind und ihre Verschmelzung daher zu einer Summierung ihrer jeweils ursprünglichen Besetzungsenergien führt. Da der Schlaf die Außenwahrnehmungen unterbrochen hat, drängen diese erhöhten Intensitäten der verdichteten Traumelemente dann darauf, den inneren Wahrnehmungsschirm »bis zur vollen sinnlichen Lebhaftigkeit in umgekehrter Richtung zu besetzen« (Freud ebd., S. 548), man kann auch sagen von Innen her zu erleuchten. Der Psychoanalytiker Bertram Lewin (1946) hat später gemeint, dass der innere Traumwahrnehmungsschirm, die »Traumleinwand« selber, von einer optischen Erfahrung ausgehend erzeugt wird, nämlich von den frühen Stillerfahrungen, bei denen der Säugling die Mutterbrust wahrnimmt, um sie schließlich für immer als Hintergrund, als »dream screen« für die nächtlichen Halluzinationen zu verwenden. Die Vorrangigkeit des Optischen im Traum wurde bestätigt, nachdem ein junger Student 1953 den REM-Schlaf entdeckt hatte, eine relativ wachnahe Schlafphase, in denen rasche Augenbewegungen auftreten. Die in der Folge aufblühende empirische Traumforschung fand heraus, dass die bildhaften Träume gerade in dieser Phase besonders häufig anzutreffen sind. Wenn man die Träumer hier rasch weckt, können sie dem üblichen Vergessen entrissen werden. Eine weitere Entdeckung bestand darin, dass die Träume in den so genannten Non-REM-Phasen weniger bildhaft sind: Hier träumen wir häufig bloß Gedanken. Wir müssen diese jedoch ebenfalls den Träumen zurechnen (so dass wir jede Nacht mehrere Stunden lang nichts anderes tun als eben zu träumen, im Lebensdurchschnitt sind das etwa 10 Jahre!).
Zur Wiederkehr optischer Eindrücke im Traum Indem die Träume nun nicht mehr durch Vergessen ›verloren‹ gegeben werden mussten, war es möglich, sie sehr viel eingehender zu untersuchen. Ihre Inhalte und Entstehungsprozesse konnten so auch experimentellen Untersuchungen unterzogen werden. Besonderes Interesse galt hier der Frage, wie die von Freud in der Traumdeutung beschriebenen optischen Wahrnehmungen vom Vortage in die Traumszenen eingebaut und umgearbeitet werden. Dazu bediente man sich u.a. einer Methode, die
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WOLFGANG LEUSCHNER
von dem Wiener Neurologen Otto Pötzl 1917 entwickelt worden war. Dabei präsentiert man ultrakurz Versuchspersonen Bilder, auch Stimuli genannt, und hält anschließend nach deren Wiederkehr in den Träumen der Versuchspersonen Ausschau. Durch die Kürze der Darbietungen werden die Bilder unterhalb der bewussten Wahrnehmungsschwelle (»subliminal«) wahrgenommen, so dass sie im Wesentlichen nur unbewusst registriert werden. In eigenen Stimulationsstudien (Leuschner & Hau 1995) haben wir die Bilder für jeweils 8 ms auf eine Leinwand geworfen, vor denen die Versuchspersonen sitzen. Wie die präsentierten Bildinhalte in die nachfolgend geträumten Träume eingebaut und dabei durch Traumbildungsmechanismen zugleich verändert werden, das lässt sich nicht nur anhand der mündlichen Berichte, sondern – besonders gut sogar – anhand von Zeichnungen beobachten, die von nachfolgenden Träumen erhoben werden können. Generell zeigen diese Darstellungen, (sowohl von nächtlich im Schlaflabor erhobenen REM-Träumen als auch jene von zu Hause geträumten und dann im Labor berichteten Morgenträumen), dass die Inhalte des experimentell präsentierten Bildes erstens selten originalgetreu wieder dargestellt werden, und dass zweitens ein experimentell beeinflusster Traum niemals nur vom zuvor präsentierten Bildmaterial handelt. Immer taucht dies zusammen mit anderen, fremden Erinnerungselementen in neuen Zusammenhängen auf: Die Stimulusinhalte werden stets in neuen Traumgeschichten untergebracht. Dieser Befund deckt sich völlig mit dem Geschehen bei natürlichen Traumbildungsprozessen, wie sie Freud beschrieben hat: Auch hier kehren Fragmente von Eindrücken vom Vortage in thematisch fremden Szenenfolgen wieder auf. Im Falle des Experiments zeigen Zeichnungen und Berichte genauestens, wie die Inhalte der präsentierten Bilder in den nachfolgenden Darstellungen verändert werden. Wie dies aussieht und wie komplex es dabei zugeht, möchte ich anhand eines eigenen experimentellen Befundes kurz darstellen:
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VOM VORRANG DES SEHSINNS IM TRAUM
Abbildung 1
Beispiel 1: Der Versuchsperson wurde am Versuchsabend für 8 ms das hier dargestellte Stimulus-Bild von »drei Kindern im Garten« vorgeführt. Bei der Exposition berichtete die Probandin, dass sie »grüne und gelbe Töne« gesehen hätte, sonst nichts. Am nächsten Morgen erinnerte sie einen Traum von einem Baum, einer grünen Wiese und einer Bank. Auf die Bank zeichnete sie Ostereier und ein rotes Herz (Abb. 2). Abbildung 2
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WOLFGANG LEUSCHNER
Abbildung 3
Beispiel 1: Nach Anfertigung von Abbildung 2 fiel der Probandin noch eine weitere Szene ein, die sie zeichnete und folgendermaßen kommentierte: »Da sind Luftballons, die ein Kind loslässt, und der eine platzt dann, und in diesem Ballon ist ein Kind mit einem herzförmigen roten Anorak innen drin, und es fällt dann runter auf die Bank.« Sie nannte dieses Kind »Herzmännchen«. Das Geschlecht der Figur links unten bestimmte sie anschließend damit, dass die langen Haare dafür sprechen würden, dass sie ein Mädchen gemalt habe. Interpretation: Vergleichen wir diese Darstellungen mit dem ihr vor dem Traum gezeigten Stimulusbild, – das die Versuchsperson wohlgemerkt bewusst nicht erkannt hatte –, so beeindruckt ein äußerst komplexes Geschehen, das zu erkennen gibt, wie Wahrnehmungen im Traum wiederkehren und zugleich hochgradig verändert werden. Zu sehen ist, dass die Träumerin die zwei Personen in der Traumzeichnung genau wie die drei Personen auf dem Dia-Bild auf einer nach rechts ansteigenden Achse angeordnet hat. Sie identifiziert die gemalten Traum-Personen völlig korrekt als Kinder, ebenso bestimmt sie präzise deren Geschlecht (Mädchen und Junge), gleichermaßen die Farbe des roten Anoraks des Jungen auf dem Dach. Den mittleren Jungen hat sie auch via Traum nicht entdeckt, reproduziert aber dennoch die blaue Farbe seines Anoraks. Diese überträgt sie auf den Luftballon. Auf diesen ›verschiebt‹ sie außerdem die Form des Fußballes und den Wortklang des Balles: »Ballon«. Die Idee, dass der Junge mit dem roten Anorak aus dem blauen Luftballon hervorkommt, stellt vermutlich ebenfalls eine Zusammenziehung von Ball, dem 62
VOM VORRANG DES SEHSINNS IM TRAUM
Jungen mit blauem Anorak in der Mitte und dem Jungen mit dem roten Anorak rechts oben dar, (›im Blauen steckt ein Junge‹). Dass die Probandin offenbar gerne mit Auslassungen plus Zusammenziehungen operiert, zeigt sich auch daran, dass sie das rote »Herzmännchen« auf die Gartenbank (< Liegestuhl) fallen lässt und dabei den Affen des Originalbildes insofern übernimmt, als sie ihn vermenschlicht. Auf die erste Zeichnung zurückblickend wird klar, dass sie im ersten Traum von der Gartenbank den rot-gelb-blau gestreiften Papierpapagei (auf dem Stimulusbild links) als Osterei wiederbringt, ebenso das rote Herz vom ersten Traumteil, das sie im zweiten mit dem »Herzmännchen« verbunden hat. Halten wir also fest, dass Teile von Formen und Inhalten eines nur unterschwellig wahrgenommener Bildinhaltes nicht nur registriert, sondern Varianten des Erkannten dann noch mit einer thematisch fremden Traumstory verwoben worden sind. Dieses Geschehen ist grundsätzlich charakteristisch für die Traumbildungsvorgänge. Bei allen unseren Experimenten ließen sich vor allem anhand der Traumzeichnungen typische Wiederkehrmodi der Traumreize extrapolieren, die folgendermaßen beschrieben werden können. Zu finden sind die Wiederkehr von stimulusidentischen Bildfragmenten und stimulusidentischen Einzelobjekten unterschiedlicher Größe (hier das Mädchen), Wiederkehr von Stimulusobjekten, deren ursprüngliche Form verändert und durch eine andere Form ersetzt worden war, während ihre Bedeutung einigermaßen erhalten blieb (hier Liegestuhl > Gartenbank), Wiederkehr von (bewahrten) StimulusFormen, während sich die inhaltliche Bedeutung änderte (hier Vogel > Osterei), Wiederkehr der Farbe bei anderen Objekten (hier blaue Anorakfarbe bei Ballon), Darstellungen von Assonanzen an Wortklänge und Klänge von Wortsilben (hier »Ball« > »Ballon«). Die Tatsache, dass sich solche Wiederkehrtypen isolieren lassen, erlaubt den Schluss, dass die primär zusammenhängenden Stimulusbildelemente nach der Stimulation im Verlauf des Traumbildungsprozesses voneinander getrennt, wir sagen dissoziiert worden sein müssen. Denn wenn einfachste Grundkomponenten des Stimulus isoliert in den nachfolgenden Träumen wiederauftauchen, dann müssen sie vorher aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang herausgelöst worden sein. Demnach zerfällt bei der Traumbildung der komplexe Bildzusammenhang und zwar – so zeigen unsere Daten – nicht in nur größere Bildabschnitte, sondern auch in kleinere und kleinste Bildeinheiten, Einzelobjekte und spezielle Untereigenschaften von Einzelobjekten, nämlich Formen, Konzepte, Wortklänge, Wortsilben und einzelne Farben. Ohne es ›mitzubekommen‹, hatte die Versuchsperson das ultrakurz gezeigte Bild registriert und aus dem gut komponierten Bild einen Hau-
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fen Bruchstücke entstehen lassen. Diese bekommen später meist einen anderen Namen, Nebenbedeutungen der Hauptbedeutungen darstellend, die dann in thematisch zusammenhängende Erlebnisabläufe wieder eingebaut werden. Die verschiedenen Stimulusbruchstücke werden in der Folge zudem auf ganz verschiedene Traumszenen verteilt, was man als Sequenzialisierung bezeichnet hat. Optische Wahrnehmungen, die für die Traumbildung genutzt werden, haben also folgendes Schicksal: Bildwahrnehmung > Zerlegung des Registrierten in Einzelobjekte, deren Untereigenschaften (Form, Farbe, Konzept, Wortklang) > Rekombination der Fragmente zu neuen Objekten bzw. Objektkomplexen im Rahmen der Traumkonstruktion. Festzuhalten ist schließlich, dass die hier dargestellten experimentell induzierten Prozesse nicht im geringsten Kunstprodukte darstellen. Bei genauer Analyse der Tageserlebnisse von Träumern lassen sie sich stets auch bei unbeeinflussten natürlichen Träumen nachweisen. Was dem Traum jenen filmischen, dem Fluss der Wirklichkeitserfahrung unserer Augen nachgebildeten Verlaufscharakter gibt, ist bis heute unverstanden. Man könnte sich ja auch denken, dass der Träumende nur Standbilder erzeugt. Aber der Traum fügt sich dem Ausspruch Flauberts, wonach die Perlen zwar ein Collier bilden, »mais c’est le fil, qui fait le collier«. Freud betonte dazu immer wieder, dass die motorische Lähmung im Schlaf die Ausführung einer Triebbefriedigung zwar behindere, die Intention einer Handlung aber nicht zu unterdrücken vermag und deshalb halluzinierte Vorspiegelungen von Aktionen hervorrufe, deren Verlauf sukzessive dargestellt wird. Andere Autoren sahen im Traumfluss die Übersetzung einer Gebärdensprache in optische Szenen. Foulkes (1985) sah hier die Bewegung der Rede, ein »narrative sequencing« am Werke, weil Traumproduktion eng mit Sprachproduktion verbunden sei, so dass Traumszenen von einer »Tiefengrammatik« generiert würden.
Visuelle Hegemonie Wie sehr Traumsprache vor allem Bildsprache ist, lässt sich auch dadurch verdeutlichen, dass Erlebnisse anderer Sinnesmodalitäten hier regelmäßig ins Optische eingetauscht werden (Leuschner, Hau & Fischmann 2000). Das visuelle System verleibt sich also regelmäßig andere Sinneserfahrungen ein und gibt sie dann als eigene aus. Damit folgt der Träumer einer Erklärung Goethes, wonach wir bildhaft träumen, weil wir auch nachts noch sehen wollen. Wir folgen einer Neigung, die sich heute in der geradezu imperialistischen Ausdehnung der Sehwelt (Film, Fern-
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sehen, Computer, Computer-Spiele) Ausdruck und Befriedigung verschafft. Beispiel 2: Ein Patient, ein Mediziner, berichtete mir den folgenden Traum: »Ich hatte schon längere Zeit geschlafen, als meine Frau ins Bett kam und plötzlich, infolge einer Erkältung, laut hustete. Ich hörte aber nicht den Hustenstoß, sondern sah stattdessen ein Bild: Vor mir war in Aufsicht ein Auge zu sehen, genauer: eine kreisrunde Iris und in deren Zentrum die Pupille eines Auges. Die Pupille war tiefschwarz, erschien mir dreidimensional; wie bei einer Bronchoskopie konnte ich in die Tiefe blicken. Die grau-grün-braune Iris flatterte wie ein lockeres Segel im Wind. Im selben Moment erwachte ich und sah das Bild noch deutlich vor mir. Hörte aber nun auch den Nachhall des Hustenstoßes und nachfolgende. Die Farbe der Iris entspricht der Augenfarbe meiner Frau.«
Interpretation: Bei der Analyse dieses Träumchens beeindrucken wieder komplizierte Denkoperationen. So wird der bloße Sinneseindruck mit beruflichem Wissen des Träumers verknüpft, denn in dem geträumten Augen-Bild ist die Anatomie der Luftröhre perspektivisch gut wiedergegeben. Auch wird die bekannte reale Farbe der Regenbogenhaut der Ehefrau eingefügt. Der akustische Reiz wird als das identifiziert, was er allein niemals zu erkennen gäbe, nämlich als physikalische Luftbewegung, die eine dünne Haut, die Iris in eine Flatterbewegung versetzen kann. Dabei ist nicht auszuschließen, dass damit auch ein tatsächlich gespürter Lufthauch vom Hustenstoß verbildlicht wurde, so dass dieses Beispiel auch belegen könnte, dass vom Träumer auch Berührungsreize verbildlicht werden. Bemerkenswert ist schließlich: Indem das Traumbild ein Auge darstellt, visualisiert es das für den Sehmodus zuständige Sinnesorgan, gewissermaßen das Traumauge, aber nicht die akustische Sinnespforte ab, die ja gerade offen und für die Wahrnehmung in Anspruch genommen worden war. Solche ›crossmodalen‹ Visualisierungen nicht-visueller Traumstimuli sind schon früher bei experimentellen Traumuntersuchungen beobachtet worden. Für den Fall einer Hautempfindung kann der folgende Traum dienen, in dem auch mit Worten gespielt wird. Beispiel 3: Der wohl berühmteste Traumforscher des 19. Jahrhunderts, A. Maury, veranlasste seinen Diener, ihm im Schlaf ein heißes Eisen vor das Gesicht zu halten. Nach der Weckung erinnerte Maury einen Traum, in dem eine Bande von Räubern, die man »Heizer« nannte, in sein Haus eingedrungen war, und um Geld dadurch zu erpressen, damit drohte, den Bewohnern die Füße in ein Kohlebecken zu stecken.
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In einer größeren experimentellen Studie (vgl. Leuschner, Hau und Fischmann 2000) gingen wir dieser Frage der Visualisierung akustischer Reize im Traum systematischer nach. Beispiel 4: Im Schlaf, während REM-II präsentierten wir einer Versuchsperson mit einer Lautstärke von 25 Dezibel drei jeweils dreimal wiederholte Sätze aus einer Geschichte einer Wanderung in den Bergen: »Ich klettere den langen Aufstieg die Berge hinauf. Die Steinlawine donnert in die Tiefe. Über die hellen, schneebedeckten Gipfeln fliegt ein Adler.« Abbildung 4
Am nächsten Morgen berichtete die Träumerin: »Ich habe von einem Bergplateau geträumt, einem Weg nach oben. Da oben steht ein Tisch mit aufgeschlagenen dicken Büchern. Daneben auch noch ein Bücherstapel. Rechts ist eine Brücke, im Hintergrund ein Bergmassiv. Ich stehe mit anderen auf einem Plateau, es zieht ein Unwetter auf, in der Ferne hört man Grollen. Regen kommt scharf von der Seite, die anderen bringen sich in Sicherheit. Mich trifft der Regen nicht, aber die Bücher werden nass. Ich schütze mich mit einer Decke, in die ich mich einwickele.« Abbildung 5
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Bei einer späteren Weckung in der folgenden Nacht aus REM-II berichtete und zeichnete sie dann noch den folgenden Traum: »Von oben Blick auf eine Wiese, unten im Tal. Dort liegen lauter zerdepperte weiße Kloschüsseln oder Zylinder, auf jeden Fall weißes Porzellan.« Interpretation: Im Gegensatz zu dem oben beschriebenen optischen Versuch ist hier der Stimulus mit dem Thema »Bergwanderung« im Traum ziemlich vollständig wiedergegeben. Direkt aufgegriffen sind die »Bergwanderung«, die »Berggipfel«, das »Donnern« der Steinlawine, indirekt kehrt die Steinlawine wieder, die in ein Unwetter/Regen verwandelt ist. In einem Traum der zweiten Nacht erscheint (sequenzialisiert) das »Ende« der Steinlawine in der Tiefe in Form von »zerdeppertem Porzellan«. Wenn Freud die Verbildlichung im Traum damit erklärte, dass die den Traum hervorbringenden triebhaften Traumgedanken das Visuelle als primitivere Ausdrucksform des Unbewussten bevorzugen, Visualisierung also ein Wesen unbewusster Operationen sei, so sprechen unsere Untersuchungen dafür, dass sie doch eher durch spezielle Zustandsbedingungen des Schlafs erklärt werden könnte. Der veränderten Sicht liegt die Tatsache zugrunde, dass der REM-Schlaf nach einem festen Zeitplan abläuft, nach dem man beinahe die Uhr stellen kann. Das widerspricht jener zeitlosen Regellosigkeit, die Freud den triebhaften Traumreizen des Unbewussten zuwies. Aus der Perspektive des Schlafgeschehens wäre der Visualisierungsvorgang dann etwas anders zu fassen: Während REM ist die Willkürmotorik unseres Körpers weitgehend still gestellt. Das gilt nun nicht für die Augenmotorik, die geradezu weltmeisterlich aktiv ist und dieser Schlafphase deshalb auch den Namen gegeben hat. Die Aktivität der Augenmuskel-Nervenzellen des III., IV. und VI. Hirnnerven, die motorische Abfuhrbahn sind hier also nicht gelähmt; der so genannte opto-kinetische Reflexbogen ist nicht unterbrochen. Damit bleibt die visuelle Sphäre, die ich hier psychologisch definiere, in ihrer Leistungsfähigkeit als Ganze aktiviert. Die anderen Sinne und die mit ihnen verbundenen Abfuhrbahnen unterliegen einer Hemmung; Schluck-, Saug-, Nies-, Husten-, Vestibularis-, Schreckreflexe sind gebremst. Ihnen gegenüber bildet die optische Sphäre also einen weiterhin aktiven Prozessor, einen Pool, in den an Geruchs-, Geschmacks-, Tast- und Gehörsinn gebundene Vorstellungen einfließen und sich dann in optische verwandeln. In dieser Gestalt erreichen sie nicht einen »motorischen Ausgang, sondern die Bühne des Traumraumes, respektive den oben erwähnten »dream screen«. In gleicher Weise – und dies ist für jede Lehre zur Traumbedeutung noch viel wichtiger – öffnet sich der Visualisierungs-Pool während REM auch dem Drängen innerer Gedanken, Erinnerungen, Wünsche und Angstvor-
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stellungen um sie dann zu visualisieren. Also vor allem nachts, wenn es dunkel ist und die Augenlider die Finsternis noch mal sichern, entzieht sich der Sehsinn der ihm von außen und vom Körper auferlegten Wahrnehmungsblockade und verleiht den seelischen Aktivitäten weiterhin eine Möglichkeit, sich auszudrücken. Die Konsequenzen sind allerdings erheblich: Sie können von nun an auch nur noch aus dem Bildzusammenhang heraus verstanden werden.
Traumbilder und »peinture automatique« Für eine Theorie der bildenden Kunst ergeben die experimentellen Untersuchungen des Traums schließlich noch den interessanten Befund, dass speziell die Zeichnungen als ›Verräter‹ unbewusster Wahrnehmungen und unbewusster Phantasien bezeichnet werden müssen. (Den Traum selbst hat man – was unsere Befunde ja bestätigen – als »signal detecting system« bezeichnet.) Speziell beim Malen der Träume fiel auf, dass hier die Inhalte von zuvor gezeigten Diabildern häufig den gezeichneten Traumgeschichten separat hinzugefügt wurden. Diese Hinzufügungen von unbewusstem optischen Wahrnehmungsmaterial schien unwillkürlich und wie automatisch zu erfolgen. Die Malenden selbst erlebten dies oft als geradezu unpassend und rationalisierten ihre Tat in einer Weise, die an die Pseudobegründungen bei posthypnotischen Aufträgen erinnern. Wie wir an anderer Stelle beschrieben haben (Leuschner & Hau 1995), ist unbewusstes Wissen vor allem optischer Eindrücke so ›gespeichert‹, dass es sich vorzugsweise motorisch-gestisch darstellt, also automatisch und am Bewusstsein vorbei in die Handlungsprozeduren drängt. Die früheren Telepathieforscher nannten dies automatic painting, die Surrealisten, die dasselbe meinten, sprachen von peinture automatique. Die malenden Hände entlarven oder verraten ein unbewusstes Wissen, das im verbalen Wissen, das manche als deklaratives Gedächtnis bezeichnen, nicht verfügbar ist. Genau genommen handelt es sich um eine Art Darstellungszwang. Dieser Zwang beruht auf einer Eigenschaft des Unbewussten Processings generell. Unbewusst will etwas Unverstandenes, ein ›unerledigter Rest‹, der sich im geträumten Traum verborgen hat, verstanden und – weil er nicht erzählt werden kann – zumindest motorisch ›erledigt‹ werden. Das leere Zeichenblatt fungiert jetzt ebenfalls als »dream screen« bei einem Traumdarstellungsvorgang, den Fiss et al. (1966) als »carry-over« beschrieben haben. Fiss und Mitarbeiter beobachteten, wie gerade geweckte Schläfer die Formen ihres Traumdenkens in ihre Einfälle zu Bildern übertrugen, die ihnen nach dem Erwachen vor-
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gehalten wurden. Auch das leere Zeichenblatt wird so zum Medium für eine sekundäre Übertragung von optischen Gehalten des vor dem Schlaf präsentierten Diabildes. Die beschriebenen motorischen Zeichenakte im Falle von Traumzeichnungen sind theoretisch deshalb interessant, weil sie in die Debatte über das Erinnern einen neuen Gesichtspunkt einbringen. Das Experiment beweist, dass sich unbewusste Erlebnisspuren optischer Natur, die künstlich ins Unbewusste eingebracht worden sind, auch nur unwillkürlich wieder finden lassen. Nichterinnerbarkeit entsteht vermutlich einmal dadurch, dass Erlebnisse bei ihrer Speicherung – wie oben gezeigt – in Erlebnisradikale dissoziiert und dann an verschiedenen psychischen (und anatomischen) Orten, in verschiedenen ›Gedächtnis-Schubladen‹ gespeichert oder weiterprozessiert werden. Zumindest werden die Erinnerungen dadurch störungsanfällig und unterliegen leicht dem Vergessen. Aber genau so entscheidend hängt eine Wiedererinnerbarkeit auch davon ab, ob Wahrgenommenes von Sprache oder von motorisch-gestischen Darstellungsmedien, wie dem Zeichnen erfasst und rekonstruiert werden kann. Wir müssen daher zwischen sprachgängigen und gestengängigen Erinnerungsfragmenten unterscheiden. Der Traum mit seiner innigen Beziehung zum oben erwähnten optischen Wahrnehmungspool, der im Schlaf, wie dargelegt, über ein besonderes Attraktionsvermögen verfügt, legt die Wahrnehmungen (auch der inneren Gedanken, Gefühle und Wünsche) hier ganz offenbar so zurecht und bearbeitet sie so, dass unsere Sprache sie eben nur schwer erfassen und wiedergeben kann. Sie können von nun an auch nur noch aus dem Bildzusammenhang heraus verstanden werden und bleiben dem unwillkürlichen Handeln zugänglich, das zu einer Art Gebärdensprache wird. So betrachtet, sind Gesten, Inszenierungen, Lallen, Plappern, Versprecher und eben auch Malereien als Darstellungs-Aktionen besonders geeignet oder prinzipiell unentbehrlich, um vergessene Erlebnisse und Bedürfnisse ans Tageslicht zu bringen. Die natürlichen Erlebnisse und inneren Wünsche können vom Träumer durch Selbstexploration mit Hilfe von Wort- und Gefühlsassoziationen gefunden werden. Aber auch hier bringt manchmal das gezeichnete Traumbild mehr zum Vorschein als die Sprache. Die Herkunft künstlich erzeugter Traumteile bleibt unkenntlich, nur der Experimentator kann Ursprung und Entstellungen durch die Traumarbeit genau wissen und benennen. Im Jahre 1912 publizierte Marcinowski eine Untersuchung Über gezeichnete Träume, in der er nachwies, dass spontane Malereien von Träumen nicht nur Darstellungen von unbewussten Wahrnehmungen, sondern oftmals Kippfiguren bzw. Vexierbilder noch von etwas anderem sind: In den zeichnerischen Darstellungen von Gebäuden, Grund-
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rissen, Natur u.a.m., die im Traum vorkamen, gestalten die Träumer ebenfalls ungewollt und im Sinne einer peinture automatique männliche und weibliche Körper, Sexualorgane und sexuelle Akte, die »Mutterleibs- und Vaterleibs-Phantasien« wiedergeben. Es ist zwar nicht auszuschließen, dass vieles davon nachträglich ›draufgepackt‹ ist, also nicht in den Träumen selbst, sondern ihren zeichnerischen Darstellungen unabhängig vom Traum hinzugefügt worden ist. (Die bildlichen Darstellungen von Träumen und nicht die Träume selbst wären dann die Fangnetze für sexuelle Phantasien, nur das Medium, in dem sich anderes darstellt.) Dennoch gibt es aus den psychoanalytischen Therapien genügend Belege dafür, dass Träume auf symbolische Weise auch Körperzustände widerspiegeln, ja dass sie es sind, die in ganz einmaliger Weise Leiberfahrungen im Schlafzustand zu visualisieren vermögen.
Literatur Fiss, Harry/Klein, George/Bokert, Eric (1966): »Waking fantasies following interruption of two types of sleep«, in: Arch. of Gen. Psychiat. 14, S. 543-551. Foulkes, David (1985): Dreaming: A Cognitive-Psychological Analysis, Hillsdale, N.J.: Erlbaum. Freud, Sigmund (1900): Die Traumdeutung, in: ders., Gesammelte Werke Bde. II/III, Frankfurt/Main: Fischer. Leuschner, Wolfgang/Hau, Stephan (1995): »Die Traumzeichnung des Wolfsmannes im Lichte experimenteller Befunde«, in: Psyche – Z Psychoanal 49, S. 609-632. Leuschner, Wolfgang/Hau, Stephan/Fischmann, Tamara (2000): Die akustische Beeinflussbarkeit von Träumen, Tübingen: edition diskord. Lewin, Bertram David (1946): »Sleep, the mouth and the dream screen«, in: Psychoanalytic Quarterly 15, S. 419-434. Marcinowski, Jarowslaw (1912): »Gezeichnete Träume«, in: Zentralblatt für Psychiatrie 2, S. 490-518. Pötzl, Otto (1917): »Experimentell erregte Traumbilder in ihren Beziehungen zum indirekten Sehen«, in: Z. Neurol. 37, S. 278-349.
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DREAMS ARE MY REALITY. H O L L Y W O O D S S C I E N C E -F I C T I O N -F I L M W E L T E N UND IHRE REKONSTRUKTION DURCH FANS CLAUS RICHTER
Rund um Science-Fiction-Filme wie Star Wars, Blade Runner oder Aliens haben Fans begonnen, Elemente der von Filmdesignern entworfenen futuristischen Welten nachzubauen. Die Fan-Nachbauten der ›Props‹ (der englische Begriff für ›Ausstattungsgegenstände‹), sogenannte ›Prop-Replicas‹, gehen jedoch in ihrem Funktionsspektrum über die Rekonstruktion eines Austattungsgegenstandes oft weit hinaus. Viele Prop-Replicas fungieren nicht als Nachbau eines Requisits, sondern als Nachbau des fiktiven Gegenstandes, der im Film durch das Requisit repräsentiert wird. Reicht beim Filmdreh beispielsweise eine einfache Holzstange mit einem Metallgriff, um später mit Hilfe der Postproduktion ein glühendes Lichtschwert daraus zu zaubern, so stellt sich bei einer Prop-Replica die Frage, wie sich ein Lichtschwert anfühlt, wie es in der Hand liegt, und wie man Etwas baut, was es eigentlich so gar nicht gibt. Die Rekonstruktion von Filmprops ist im wahrsten Sinne des Wortes ein eigensinniges Unterfangen. Der Fan, der ein Lichtschwert oder ein Raumschiff nachbaut, lehnt die Belehrungen seiner Umgebung ab, die ihn unter Umständen immer wieder darauf hinweist, dass so etwas doch gar nicht geht. Entgegen der vorhandenen Einsicht, dass das Raumschiff nicht fliegen und das Lichtschwert nicht funktionieren wird, beharrt der Fan darauf, es trotzdem zu bauen. Er eignet sich das im Film präsentierte Bild des fiktiven Gegenstandes an, und materalisiert in einem Akt des Trotzes gegen die konsensuelle Realitätsvorstellung eine greifbare Version des entsprechenden Objekts. So entstehen seit Jahrzehnten in Kellern, Garagen und in kleinen Manufakturen Repliken von Laserwaffen, futuristischen Supercomputern und magischen Objekten, die außerhalb des ihnen zugrunde liegenden filmischen Hintergrunds eine eigensinnige Parallelwelt konstituieren, in der Fiktion und Realität versuchsweise auf Augenhöhe gebracht wird.
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Science-Fiction-Film und Special Effects Das Genre Science-Fiction verrät schon im Namen, was es ist, und woraus es schöpft. Dem offenen Verweis auf den fiktionalen Charakter des Werks stellt das Wort Science ergänzend voran, dass die Wissenschaft, von der wir gemeinhin annehmen, sie sei die Hochburg der Verifizierbarkeit, von der Science-Fiction als Grundvokabular zur Konstruktion neuer fiktiver Welten verwendet wird. Die Erkenntnisse und Visionen der Wissenschaft und die Errungenschaften der Forscher und Ingenieure werden in der Science-Fiction aus der physikalischen Verantwortung gelöst. Anything goes. Science-Fiction war von Anfang an auch ein prägendes Themenfeld des Kinos. Gleich zu Beginn des Mediums drehte Georges Méliès bekanntermaßen mit Le voyage dans la lune (1902) einen der ersten Science-Fiction-Filme, und bewies früh, wie gut die Technologie des Kinos dafür geeignet war, fiktive Welten darzustellen. Die Entwicklung der Special Effects, einem essentiellen Bestandteil des Science-Fiction-Films, beginnt mit Méliès frühen Filmen und erlangte Ende der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts mit dem Erfolg aufwendiger Special Effects Filme wie Star Wars immer mehr Einfluss auf den Output der großen Hollywoodproduktionen. Special Effects machen das scheinbar Unmögliche scheinbar möglich und bedienen sich dabei intensiv der dem Kino zugrunde liegenden Editierbarkeit von Bildern. Das Kino an sich ist bereits ein Special Effect. Die rasche Projektion von Einzelbildern erzeugt die Illusion von Bewegung, der synchron abgespielte Ton verbindet sich in der Wahrnehmung des Zuschauers mit den projizierten Bildern. Schnitt und Bildführung erzeugen eine Narration, die den Betrachter glauben macht, traumgleich in die so assoziierte Scheinwelt einzutauchen und an ihr teilzunehmen. In diese scheinbar grundlegenden Illusionsmechanismen greift ein Special Effect gezielt ein und verlangsamt im Produktionsprozess den Ablauf wieder bis hin zum Einzelbild. Dieses Einzelbild wird dann verändert, entweder durch das gezielte Arrangieren der gefilmten Bilder, oder aber durch die Nachbearbeitung des gefilmten Materials. Die so veränderte Aufnahme wird dann wieder mittels der gewohnten Illusionsmaschine der Filmprojektion gezeigt und erzeugt so den Anschein, die Abbildung einer im Zeitpunkt der Aufnahme real existierenden Situation zu sein. In seinen Untersuchungen zur Filmkognition erklärt sich der Filmtheoretiker Richard Allen diesen Effekt durch die dem Film ebenso wie unserem Wahrnehmungsapparat zugrundeliegenden Prozesse der Bildproduktion:
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»A photograph is produced by the mechanical imprint of the image of an object through the causal process by which light reflected from the object registers on photochemical emulsions. This causal process underlying the production of the photographic image parallels the causal process underlaying human vision: The photograph depends upon a direct connection between object and photographic plate, just as what we see depends upon a direct causal connection between object and retina. In this way, as Kendall Walton has suggested, looking at an object in a standard photograph is like seeing an object with a mechanical aid such as a mirror, telescope, or eyeglass, except that unlike the camera also has the capacity to document the way in which the object appears to us in sight.«1
Der Special Effect ermöglicht somit einen Eingriff in die Wahrnehmung von Welt. Richard Allen schreibt: »The deception in the trick photograph is achieved by a reconfiguration of the image so the photograph is constituted as an illusion. The trick photograph is deceiving regardless of whether what it depicts is staged or real. The deception is more fundamental than the simple case of reproductive illusion: We are deceived into believing that the photograph is pointing to an object array in the world that is not in fact in the world. However, like the photograph of a staged event that looks real, the trick photograph trades on our understanding that it is a recording of reality in order to deceive us about the nature of reality. In this sense, despite the fact that this deception is produced by melding together two or more images, trick photography is akin to other kind of reproductive illusion that involve deception. Trick photography becomes central to cinematic representation through the techniques of special effects.«2
Weisen der Welterzeugung Die Illusionsmaschinerie des Kinos schafft durch die Reizung unserer visuellen und akkustischen Rezeptoren eine Illusion von Welt, auf die sich der Kinobesucher gezielt einlässt. Das Kino lauert nicht mit dem Illusionsknüppel irgendwo um die Ecke, man geht ins Kino, um sich bewusst in fiktive Welten zu versetzen. Die Perfektion der Illusion, die das Kino bietet, hängt stark davon ab, in wie weit beim Besucher des Films Empathie oder sogar partielle Identifikation mit der fiktiven Welt und den Figuren des Filmgeschehens zustande kommt. Durch emotionale Reaktionen wie Mitgefühl mit den tragischen Filmhelden oder Angst vor 01 Richard Allen: Projection Illusion – Film Spectatorship and the Impression of Reality, Cambridge: Cambridge University Press 1995, S. 86. 02 Richard Allen: Projection Illusion – Film Spectatorship, S. 87. 73
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dem Filmmonster verstärkt sich bekanntermaßen die Illusion des ›Mittendrin-Seins‹ in einer ganz und gar fiktiven Welt. Um diese Empathie mit der Fiktion zu ermöglichen, werden, egal ob für ›realistische‹ oder ›fantastische‹ Szenerien, oft keine Kosten und Mühen gescheut. Für Stanley Kubricks Eyes Wide Shut-Dreh wurden beispielsweise nicht nur der Großteil der Innenräume, sondern auch eine komplette New Yorker Straßenszenerie als Kulisse in England errichtet, um darin die Außenaufnahmen stimmig zu inszenieren. Science-Fictionoder auch Fantasy-Filme sind zur Erzeugung von Empathie mit offensichtlich fiktiven Welten und Figuren besonders stark auf die glaubwürdige Vermittlung ihres fiktiven Weltentwurfs angewiesen. Die Filmtheoretiker Charles und Mirella Jona Affron bezeichnen solche Settings folgerichtig als »Invented Realities«.3 Production-Designer entwickeln für Science-Fiction-Filme fiktive Welten, die in sich genauso stimmig und glaubwürdig sein müssen, wie Kubricks New York-Kulisse. Berühmte Science-Fiction-Film-Designer wie der legendäre ›Visual Futurist‹ Syd Mead, der maßgebliche Designs für die Welten von Filmen wie Blade Runner, Tron oder Aliens schuf, oder Ralph McQuarrie, der quasi das gesamte Star-Wars-Universum bebilderte, brachten Erfahrungen aus Industriedesign und Illustrationsjobs für NASA-Missionen mit, um die fiktiven Maschinen und Uniformen zu entwerfen, die einige Fans heute en Detail rekonstruieren. Die Filmbilder, die uns im Kino eine Idee unserer eigenen Zukunft präsentieren, sind Produkte der jeweiligen Gegenwart, aber sie konstruieren eine möglichst realistisch erscheinende Simulation des Zukünftigen. In der Science-Fiction ist die Technik ein grundlegender Handlungsträger, sie suggeriert anhand ihrer scheinbaren Funktion und ihres Erscheinungsbilds einen neuen Handlungsraum: die Zukunft. Science-FictionFilme haben nach und nach eine eigene Ikonographie von Zukunft geschaffen: Achteckige Raumschiffgänge, gepolsterte Wände, hydraulische Rampen, blinkende Schaltflächen, Roboter und High-Tech-Waffensysteme sind im Laufe der Zeit zu einem festen Repertoire des Genres geworden, das in zigfacher Abwandlung immer wieder benutzt oder aber gebrochen wurde und wird. Objekte und Bauten in Science-Fiction-Filmen vermitteln wie in keinem anderen Filmgenre durch ihr Design und ihren Subtext technische, architektonische, gesellschaftliche und gestalterische Visionen. Gesellschaftliche und technologische Veränderungen werden im Science-Fiction-Film mit Hilfe einer mehr oder minder stark veränderten Umgebung vermittelt. Alle in Science-Fiction sichtbaren Ge-
03 Vgl. Charles Affron & Mirella Jona Affron: Sets in Motion – Art Direction and Film Narrative, New Brunswick: Rutgers University Press 1995. 74
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räte, Gebäude, Raumschiffe und Kostüme sind kreative Rekombinationen, fiktive Weiterentwicklungen von Technologie. Auch die Kinotechnologie wurde für die Vermittlung fiktiver Welten stetig und ganz real weiterentwickelt. Special-Effects-Firmen wie das von George Lucas gegründete Unternehmen Industrial Light and Magic (kurz ILM) sind in knapp 30 Jahren von Pionieren zu Großmeistern der Illusion herangewachsen. Im Jahr 1983 perfektionierte ebenfalls George Lucas, passend zum Start seines dritten Star Wars Films, mit dem neuen THX-Lautsprechersystem auch die Audiosysteme der Kinos. Die Show kann beginnen.
Ektoplasmen von Fiktion Eine fiktive Welt kann Empathie ermöglichen und Gefühle wecken. Wenn jedoch ein Punkt erreicht wird, an dem Empathie zu Sehnsucht wird, muss man schmerzlich feststellen, dass all das Großartige, was dort in der Welt der Fiktion nicht verifiziert werden muss, in der Realität leider komplett anderen Bedingungen unterliegt. Die Bedingungen der Realität lassen alles, was in der Fiktion glüht, schwebt, zaubert und bestens funktioniert, gar nicht erst zu. Die Grenzen sind dicht. Doch was passiert, wenn man am Grenz-Zaun rüttelt? Manche Science-Fiction-Film-Fans bauen Objekte nach, die sie in ihren Lieblingsfilmen gesehen haben. Laserwaffen, Uniformen und ganze Räume werden so plötzlich der Filmwelt entrissen und vor der Leinwand verfügbar. Es entstehen immer mehr Rekonstruktionen von Props aus Science-Fiction-Film-Welten. Begehbar, bespielbar, rundum erfassbar, eine Art experimentelle Archäologie der Fiktion. Rekonstruieren seit den frühen 70er Jahren Gruppen sogenannte ›Re-Enacter‹ historisch überlieferter Vorlagen, wie z.B. im Falle der European Napoleonic Society militärische und zivile Lebensgewohnheiten aus der Zeit Napoleons, so re-enacten Science-Fiction-Film-Fans durch Prop-Replicas und Kostüme fiktive Vorlagen, sie rekonstruieren etwas Fiktives, und bilden so quasi Ektoplasmen von Fiktion. Das Materialisieren von Fiktion ist ein hartes und rechercheintensives Handwerk, und nur wenige Fans beherrschen dieses Handwerk so gut wie die beiden Amerikaner Richard Coyle und Phil Steinschneider. In monatelanger Kleinarbeit rekonstruierte das Duo eine Pistole aus dem Film Blade Runner, eine Pistole aus einem möglichen Jahr 2019. Um mit ihrer Replica möglichst exakt dem Original-Exemplar des Films zu entsprechen, recherchierten sie bei ehemaligen Mitgliedern des Blade Runner-Filmteams und verfolgten den Jahrzehnte zurückliegenden Herstellungsprozess dieser fiktiven Waffe bis ins Detail. Coyle und Steinschnei-
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der kamen zu dem Ergebnis, dass die Waffe nach Abgüssen von Teilen einer Charter Arms Bulldog 44 und einer Steyr-Mannlicher Model SL Rifle konstruiert wurde. Sie erwarben beide Waffen und zerlegten sie in Einzelteile. Die Einzelteile wurden abgegossen, von unabgießbaren KleinstElementen wurden Lehm-Modelle geformt, die wiederum als Vorlagen für Abgüsse dienten. In minutiöser Kleinstarbeit wurden die Abgüsse nun so miteinander kombiniert, dass sie nach und nach die im Film sichtbare Waffe ergaben. Einzelne Teile mussten modifiziert werden, sogar die im Film knapp eine Sekunde sichtbare Seriennummer wurde nach Diskussionen und Rückfragen neu eingefräst. Steinschneider und Coyle schritten den Weg, den die Erschaffer der fiktiven Waffe bei ihrer Konstruktion gegangen waren, rückwärts ab. Sie dekonstruierten die von den Filmdesignern erdachte Zukunftswaffe, zerlegten die Fiktion quasi wieder in ihre realen Versatzstücke, um sie dann mit dem neu erworbenen Wissen selbst noch einmal als Klon zusammenzufügen. Dieser in Wissenschaft und Industrie keineswegs unübliche Prozess nennt sich dort Reverse Engineering. Ähnlich verfuhr das Team auch mit der M-41-A Pulse Rifle aus James Camerons Alien-Fortsetzung Aliens. In einem ebenfalls aufwendigen Arbeitsprozess wurde die fiktive Vorlage aus den Einzelteilen vier verschiedener ›echter‹ Waffen und Teilen eines Bausatzes rekonstruiert. Die so entstandene Replik ist, genau wie der Blade Runner-Blaster, zu einem sehr real wirkenden und seltenen Sammlerstück geworden.
Wir bauen eine neue Stadt Das Spektrum der Fan-Replicas erstreckt sich jedoch nicht nur auf Waffen. Mit Hilfe von akkurat rekonstruierten Kostümen, Kulissen und den rasant expandierenden Nachbearbeitungsmöglichkeiten der PersonalComputer begannen Fans irgendwann, ihre Lieblingsfilme selbst weiterzuverfilmen. Internetplattformen wie www.theforce.net hosten inzwischen ein breites Spektrum der von Fans produzierten Science-FictionFilme, die den Vorlagen in Detailfreude kaum noch nachstehen. George Lucas, der Star Wars-Erfinder selbst, beurteilt regelmäßig offiziell die so genannten ›Fanfilme‹; der Abstand zwischen Produzent und Konsumenten wird immer geringer. Der amerikanische Fanfilm-Regisseur Dennis Ward errichtete mit seinem Team in einem Garten eine lebensgroße Replik des Millenium Falcon-Raumschiffs aus Star Wars. Dieses Raumschiff fungiert in den Star Wars-Filmen mehrmals als fliegendes Zuhause der Helden, es gleicht einer mit Kabelsträngen, Klappen und Funktionselementen (so genannten Greeblies) überzogenen riesigen Flunder, und
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gerade dieser überbordende Reichtum an technischen Details ließ das fiktive Raumschiff für den Kinogänger seltsam nachvollziehbar und real wirken. Der Nachbau des Fanfilm-Teams entsprach in seiner Größe einem der ursprünglich für Star Wars verwendeten Modelle des Raumschiffs. Dennis Ward und sein Team schufen somit die erste begeh- und bespielbare 1:1 Replik des Millenium Falcons; aber eine in jedem Detail, jedem Kabel und jeder Lüftungsklappe stimmige Kopie des riesigen Raumschiffs zu konstruieren, war schlicht unmöglich. Das gigantische Raumschiff, das mehrere Tage lang in einem amerikanischen Vorgarten stand, schien eher wie ein gigantisches Pappmodell des ›echten‹ FilmRaumschiffs, und doch reichte schon diese reduzierte Form aus, um sich als Realität anzubieten. Das im Film sichtbare Raumschiff Millenium Falcon entstammt einer fiktiven Welt, zu deren Wahrnehmung der Linguist Rainer Jacob sagt: »Eine solche parallele Welt ist als Vorstellungsgebilde niemals völlig ausdefiniert, d.h. jede Fiktion enthält Lücken, die entweder als Erfahrungsgrenzen bestehen bleiben oder aber punktuell von der Vorstellungskraft des Rezipienten ergänzt werden, die sich meist an seiner Realität orientiert.«4 Beim reduzierten Nachbau des Falcon funktioniert dieser Prozess spiegelverkehrt. Die Lücken in der ›Authentizität‹ des vergröbert nachgebauten Raumschiffs werden von der Vorstellungskraft der Fans ergänzt, die sich in diesem Falle nicht an der Realität des Modells, sondern an der Realität einer fiktiven Zukunftswelt orientiert. Der nachgebaute Millenium Falcon wurde wenige Tage nach seiner Fertigstellung von einem Wirbelsturm zerstört, ist aber im Fanfilm Stuck on ›Star Wars‹ auf Video erhalten geblieben. Zum Glück noch zur Gänze erhalten ist das Werk des Briten Tony Alleyne. Alle Räume seiner Wohnung inklusive Küche und Bad sind an das Design der Kommandobrücke des Raumschiffs USS Enterprise aus den jüngeren Folgen der Star Trek-Serie angelehnt. Das Design der USS Enterprise wird hier nicht nur partiell rekonstruiert, es wird zur Vorlage für emanzipiert fiktionsbasierte Wohnraumgestaltung. Alleyne konstruiert keine exakte Replik des fiktiven Raumschiff-Interieurs, er studiert eher die Designprinzipien der USS Enterprise, und wendet sie auf seine Wohnsituation an. Raumentwürfe und Designs, die für einen Film die Idee einer Welt des 24. Jahrhunderts visualisieren, wurden durch Tony Alleyne plötzlich zur Blaupause einer real existierenden Wohnsituation (Abb. 1).
04 Vgl. http://www2.rz.hu-berlin.de/visuelle/rainer/anfang.htm vom 19.05.2006. 77
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Abbildung 1: Wohnung von Tony Alleyne
Und auch der Weg in die andere Richtung ist gangbar. Regisseur Ridley Scott kombinierte 1982 schon für sein Science Fiction-Meisterwerk Blade Runner Charles-Rennie-Mackintosh-Stühle mit Syd Meads futuristischem Design und Cini-Boeri-Kristallgläsern, und verlegte das Apartment des Androidenjägers Deckard in eine über 100-stöckige Wolkenkratzerversion von Frank Lloyd Wrights Ennis-Brown-Hauses.
Es werde Licht Das Phänomen der Replik ist aus dem Museumsalltag bekannt. Gipsabgüsse klassischer Skulpturen oder Abformungen seltener Fossilien sind fester Bestandteil vieler historischer Ausstellungen. Auch an Gebäuden wie dem Kölner Dom müssen besonders korrosive Stellen durch Repliken der Originalteile ersetzt werden. Der Begriff der Replik greift bei Fan-Nachbauten von Filmprops jedoch oft nur teilweise, denn viele von Fans gebaute Replicas sind mit einem größeren Funktionsspektrum ausgestattet als die eigentlichen Filmrequisiten. Die der Fiktion entrungenen Gegenstände sollen benutzbar sein. Make it real. Ähnlich wie die Re-Enactors der European Napoleonic Society bauen Fans fiktive Objekte nach und benutzen sie, um etwas über eine andere Welt zu erfahren. Orientiert sich die experimentelle Archäologie an historischen Vorlagen, so sind es bei den Fans fiktive Welten, die durch den Umgang mit den greifbaren Objektrekonstrukten nachvollzogen werden. Die größte Hürde, die ein Nachbau eines fiktiven Gegenstandes zu nehmen hat, ist die der Funktion. Technische Gebrauchsobjekte in Science-Fiction-Filmen erwecken 78
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durch bekannte Funktionselemente wie Schaltflächen und Monitore so wie durch auf der Tonspur zugeordnete Funktionsklänge den Eindruck von Funktionalität. Ihr futuristisches Design und ihre vermeintliche Funktionalität basieren meist auf Versatzstücken uns bekannter technischer Geräte. Ist dies nicht der Fall, erscheint ein Science-Fiction-Gegenstand schnell unglaubwürdig. Die führende Special Effects-Firma ILM schreibt in einer Selbstdarstellung zur Psychologie ihrer Modellbauten: »The models are like icebergs, with only a small part showing but giving the impression, that there is a lot of history there that we cannot see in the period of the film.«5 Die Spitze des Eisbergs, das Modell, muss also über den Film hinaus glaubwürdig Funktionalität und sogar Geschichte vermitteln. Das Filmdesign bildet zwar die Oberfläche von Technologie ›realistisch‹ ab, simuliert aber zwangsläufig deren Funktion nur, da die eigentlichen technischen Voraussetzungen dafür fehlen. In der fiktiven Welt des Science-Fiction-Films muss Technologie hauptsächlich real wirken, die Funktion ist im Regelfall imaginär. Die frühen Folgen der Fernsehserie StarTrek sind ein gutes Beispiel für relativ unglaubwürdige Technikdarstellung. Medizinische Geräte der Zukunft wurden in StarTrek beispielsweise durch gedrechselte Metallstücke oder ›umfunktionierte‹ Gebrauchsgegenstände dargestellt, deren Funktion durch ein entsprechend hinzugefügtes Funktionsgeräusch angedeutet wurde. Die Geräte waren trotz der Funktionsgeräusche aufgrund der verwendeten Materialien wenig glaubwürdig und erinnerten eher an das, was sie einmal waren, nämlich Haarspangen, Salzstreuer oder Türstopper. Die Spanne zwischen echter, uns bekannter Funktion des verwendeten Versatzstücks und der angeblichen neuen Funktion war zu groß. Ähnlich deutlich wird der Effekt bei den Sets der deutschen Fernsehserie Raumpatrouille Orion. Die Kommandobrücke eines Raumschiffs bestand aus aufgeklebten Wasserhähnen, Bügeleisen und Bleistiftanspitzern, die hier als Bedienelemente einer zukünftigen Technologie fungieren sollten. Das Bügeleisen und die Wasserkräne waren mühelos als Bügeleisen und Wasserkräne erkennbar, die erschaffene neue Welt war als Rearrangement der alten Welt zu dechiffrieren, und somit nicht glaubwürdig. Ein Beispiel für die Simulation ursprünglich fiktiver Funktionen in Prop-Replicas sind die Lichtschwerter aus Star Wars. In der fiktiven Welt funktionieren die Laserschwerter ganz selbstverständlich, doch versucht man, ein solches Gerät außerhalb der Fiktion zu rekonstruieren, verliert es die fiktive Funktion.
05 Thomas Smiths: ILM-The Art of Special Effects, New York: Ballantine Books 1991. 79
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Abbildung 2: Replica eines Laserschwerts
In einem von der Astrophysikerin Jeanne Cavelos verfassten Buch The Science of Star Wars6 wird die fiktionale Technologie des Star Wars-Universums auf eine mögliche Realisierbarkeit hin überprüft, und auch die Lichtschwerter werden dementsprechend abgeklopft. Cavelos vollzieht durch ihre wissenschaftliche Herangehensweise an fiktive Technologie einen interessanten Sprung in der Wahrnehmungsachse, aber auch sie stellt fest, dass ein funktionierendes Lichtschwert momentan noch nicht baubar ist. Und doch finden sich auch hier Wege, die Funktion wenigstens so genau wie möglich zu transkribieren. Sucht man heutzutage nach einem guten Lichtschwert, findet man in limitierter Auflage erhältliche, 06 Vgl. Jeanne Cavelos: The Science of Star Wars, New York: St Martins Press 1999. 80
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detailgetreue und schwere Metallreplicas, die mit einer neuen Lumineszenztechnologie ausgestattet sind und mittels einer mit elektrolumineszenter Folie beschichteten Polycarbonatröhre das Laserfeld simulieren (Abb. 2). Die Firma Lichtschwerter.de wirbt: »Der aus poliertem Metall bestehende Griff verbirgt im Inneren seine Elektronik, die für originale Soundeffekte aus Episode II und für die blau leuchtende Klinge zuständig ist. Die Sounds wurden digital auf das Lichtschwert direkt aus dem Film übertragen. Nicht nur, dass es, einmal angeschaltet, ständig das typische Lichtschwert-Surren von sich gibt, ein Erschütterungssensor aktiviert bei Berührungen sogar den ›Clash‹-Sound, der entsteht, wenn Lichtschwerter aufeinander treffen. Die Klinge ist permanent an das Lichtschwert befestigt und leuchtet hell und gleichmäßig.«7
Dieses Lichtschwert ist inzwischen längst kein reiner Nachbau eines Filmprops mehr, es wurde dafür konstruiert, das Gefühl beim Benutzer zu erzeugen, ein echtes Lichtschwert in den Händen zu halten. Was Umberto Eco in seinem Buch Im Wald der Fiktionen in Bezug auf ein Autor-Leser-Verhältnis »Fiktionsvertrag«8 nennt, wird hier im Endeffekt auf Gegenstände erweitert. Jeder an diesem Fiktionsvertrag Beteiligte weiß, dass das Lichtschwert nicht echt ist, aber es repräsentiert ein Lichtschwert. Man kann es berühren, es leuchtet, es surrt und es reagiert interaktiv, es ist also kein echtes Lichtschwert, aber es ist ein möglichst echt erscheinendes Lichtschwert. Wäre das Lichtschwert letztendlich mit voller Funktion real verfügbar, wäre es Realität und keine Fiktion. So aber wird dem fiktiven Lichtschwert nun mit dem modellhaften Nachbau des Lichtschwerts entsprochen, und dieser reflektiert als Objekt einen fiktiven Gegenstand, dem eigentlich kein realer Gegenstand entsprechen kann. So kann die in der Fiktion gegeben Funktion eines Gegenstandes außerhalb der fiktiven Bedingungen also nur simuliert werden, oder aber man beschränkt sich auf die Rekonstruktion eines ›ausgeschalteten‹ Geräts, denn ›Standby‹ funktioniert zum Glück in beiden Welten. Die Funktion bleibt in diesem Falle imaginär, die Simulation wird unnötig.
You’re not alone Was in Woody Allens Film The Purple Rose of Cairo problemlos gelingt, nämlich der Sprung der Leinwandhelden von der Leinwand in das Leben der Zuschauer, bleibt bisher ebenfalls nur den fiktiven Figuren 07 Vgl. http://www.lichtschwerter.de/darth.htm vom 16. August 2004. 08 Umberto Eco: Im Wald der Fiktionen, München: Hanser 1994, S. 103. 81
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dieses Werks vorbehalten. Es gab und gibt jedoch immerhin eine praktische Möglichkeit, Figuren aus Filmen über die Grenze zu holen: Man stellt sie dar. Ein Stormtrooper-Soldat aus Star Wars, dessen weiße Uniform zu 100 Prozent den Körper verdeckt, kann mit Hilfe einer detailgetreuen Replik der Uniform außerhalb der fiktiven Umgebung reenacted werden. Eine Stormtrooper Uniform besteht aus 32 einzelnen Plastikschalen, die im Regelfall aus ca. 3 mm dickem ABS Kunststoff gefertigt werden. Die Teile sind untereinander entweder mit fest genieteten oder mittels Klettverschlüssen befestigter Textilbänder verbunden. Zur ›Rüstung‹ gehört außerdem ein Helm, Stiefel, Handschuhe, eine Laserwaffe, evtl. ein Rucksack, Schulter-Rangabzeichen und ein schwarzes Ganzkörperkostüm, das unter der weißen Plastikrüstung getragen wird. Eine solche Uniform, auch liebevoll White Armor genannt, herzustellen ist (vergleichbar der vorhergehenden Beschreibung der Blade Runner-Blaster Rekonstruktion) ein aufwendiger Prozess, und die in Handarbeit tiefgezogenen Plastikuniformen sind selten und teuer. Vor knapp neun Jahren gründete der amerikanische Star Wars-Fan Albin Johnson in North Carolina eine Fanvereinigung, die schnell wuchs und inzwischen The 501st Legion of Imperial Stormtroopers9 heißt (Abb. 3). Albin Johnson besaß eine der seltenen Replikas einer Stormtrooper Uniform und suchte nach anderen real gewordenen Stormtroopern. Er blieb nicht lange allein. Innerhalb kürzester Zeit fanden sich immer mehr Fans mit Stormtrooper-Uniformen zusammen, zuerst in Albins näherer Umgebung, dann in anderen Bundesstaaten, später sogar amerikaweit. Wenige Jahre nach Gründung der 501st Legion hat der Club Stützpunkte in allen amerikanischen Bundesstaaten, Japan, Kanada, Deutschland, Brasilien, Belgien, Chile, Kroatien, Dänemark, Holland, England, Frankreich, Israel, Italien, Korea, Mexiko, Monaco, Schweden, Finnland, Norwegen, Argentinien, Hawaii, Puerto Rico, Polen, Singapur, der Schweiz und den vereinten Arabischen Emiraten gefunden. Die 501st Legion zählt inzwischen über 2500 Mitglieder weltweit, und ist in Garrisonen, Squads, Outposts und Detachments unterteilt, um der wachsenden Mitgliederzahl eine funktionierende Organisationsstruktur bieten zu können. Die Clubsatzung besagt hinsichtlich der Ziele des Clubs: »The Legion is a not-for-profit club formed for the express purpose of bringing together costume enthusiasts and giving them a collective identity within which to operate. The Legion’s aims are to celebrate the Star Wars movies through the wearing of costumes, to promote the quality and improvement of costumes and
09 Vgl. http://www.501st.com/ vom 20. Mai 2006 82
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props, and most importantly to contribute to the local community through charity and volunteer work.«10
Abbildung 3: The 501st Legion of Imperial Stormtroopers
Stormtrooper sind gern gesehene Gäste in Kinderkrankenhäusern, Schulen und auf Charity-Veranstaltungen. Die weißen Uniformen wecken die Neugier der Umstehenden und lenken kranke Kinder von ihren Sorgen ab. Reale Stormtrooper sinnen nicht auf blinden Gehorsam, sondern im Zweifelsfall eher auf ein intaktes Gemeinwesen. Die Vorliebe für die Uniform bedeutet also nicht gleich automatisch auch Identifikation mit den im Film dargestellten Figuren, denn die Stormtrooper aus Star Wars sind dumpfe Kriegsmaschinen und würden ein Kinderkrankenhaus wahrscheinlich in Kürze pulverisieren. Bei der 501st Legion gibt es hingegen keinerlei organisierte Kriegsdarstellung oder dumpfen Militarismus, das Interesse der Fans liegt weniger an der Rekonstruktion einer fiktiven Militärmacht, als an der Uniform selbst. Warum nicht nur bei Star Wars-Fans die ›bösen Charaktere‹ die beliebtesten Vorlagen für Kostümierungen sind, beantwortet die italienische Garrison auf ihrer Webpage:
10 Ebd. 83
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»Just a matter of design! […] We don’t know why, but usually (both in movies and reality) the ›baddies‹ always have the most original and interesting uniforms and the best gear, while in literary fiction, comics and movies the ›goodies‹ look generally trivial, lacking imagination, as they have to meet the classical stereotype of the handsome, spotless, fearless hero«.11
Heldentum ist trivial, weil es eine möglichst breit greifende Identifikation fordert und darum auf Vertrautes setzen muss. So bleibt stets der größere Spielraum bei der Konstruktion des fiktiven Bösen, bei dem der Bruch mit dem Vertrauten mehr Möglichkeiten für Visionen bietet, und die von Ralph McQuarrie für Star Wars entworfenen StormtrooperUniformen sind eine Vision von ultra-weißer technoider Schönheit, für die man sich auch als Pazifist begeistern kann.
Now is early Die NASA entwickelt im Augenblick einen kleinen fliegenden Droiden, der in wenigen Jahren erste Dienste auf der ISS-Raumstation leisten soll. Das Gerät ist kugelförmig und navigiert mit Hilfe von sechs kleinen eingebauten Rotordüsen. Es kann auf einem Display Daten an die Astronauten geben, sprechen und auf das Einhalten von Arbeitspausen achten, sowie vor Gefahr warnen. Juri Gawdiak, der den Personal Sattelite Assistant entwickelt hat, betont in Interviews, dass ihn bei der Entwicklung des PSA hauptsächlich der ebenfalls kugelförmige fliegende Droid, mit dessen Hilfe die fiktive Figur Luke Skywalker in Star Wars das Lichtschwertkämpfen übt, als Vorlage diente. Der Prototyp ähnelt tatsächlich verblüffend dem fliegenden, kugelförmigen Roboter aus dem Film. Ebenfalls ins Interesse der NASA-Entwickler gerückt ist der so genannte ›Hyperdrive‹, der fiktive Antrieb der Star Wars- und Star TrekRaumschiffe, der problemlos interstellare Strecken in wenigen Stunden zurücklegt. Die NASA arbeitet an Antrieben durch Kernfusion und forscht zudem an Laser- und Antimaterie-Antrieben. Es ist interessant zu beobachten, dass sich die NASA bei der Entwicklung zukünftiger Technologien konkret auf Science-Fiction beruft. So erläutert etwa George Schmid, Manager eines von der NASA geleiteten Forschungszentrums: »We’re convinced that several of these technologies will likely transform the space travel seen in sci-fi movies into real-life experience. Laser propulsion and
11 Vgl. http://www.501italica.com/EN_main.htm vom 16. August 2004. 84
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antimatter have long been the stuff of science fiction, and now we’re experimenting with them as viable options for space travel.«12
So schließt sich der Kreis aus Vorlage und Aneignung. Die NASA, deren Technologie und Design unzähligen Filmen und Romanen als Grundlage für fiktive Weiterentwicklungen diente, orientiert sich nun in ihren Projekten wieder an den Ideenwelten der Science-Fiction.
Über Annahmen Empathie mit Fiktion ist, wie schon angeführt, ein keinesfalls ungewöhnliches Phänomen, und trotzdem lastet der Makel einer vermeintlichen Realitätsflucht auf denen, die sich entschieden haben, die Bedingungen der Realität offen mit ihrer Liebe zur Fiktion zu konfrontieren. Dem immergleichen Vorwurf, eine eigene soziale Identität mit Hilfe von fiktionsbasierten Vorlagen zu schaffen sei Eskapismus, entgegnet der amerikanische Theoretiker John Fiske: »Dem liegt die Vorstellung zugrunde, dass Repräsentation eine soziale Dimension besitzt, wohingegen im Eskapismus eine bloß persönliche Flucht in die Phantasie gesehen wird. Diese oberflächliche Diffamierung ignoriert die Tatsache, dass es beim Eskapismus oder bei der Phantasie notwendigerweise nicht nur um eine Flucht vor etwas oder um eine Vermeidung von etwas, sondern auch um eine Flucht hin zu einer präferierten Alternative geht, denn eine Diffamierung des Eskapismus als ›bloßer Phantasie‹ entzieht sich den entscheidenden Fragen, wovor geflüchtet wird, weshalb eine Flucht notwendig ist und wohin diese Flucht führt.«13 Die Flucht führt nicht in die Fiktion hinein, sie führt durch die Fiktion hindurch und wieder heraus, denn in diese Richtung sind die Grenzen bedeutend leichter passierbar und der Zoll ist nicht allzu streng. Vielen Dank an: Kevin Merritt und Carsten Willers von der 501st Legion of Imperial Stromtroopers; Phil Steinschneider; Tony Alleyne/24th Century Design
12 Vgl. http://spacelink.nasa.gov/NASA.News/NASA.News.Releases/ Previous.News.Releases/99.News.Releases/99-05.News.Releases/ 99-05-18.Star.Wars.Propulsion.Drives vom 20. August 2004. 13 John Fiske: »Die populäre Ökonomie« in: Rainer Winter/Lothar Mikos (Hg.): Die Fabrikation des Populären – Der John Fiske Reader, Bielefeld: transcript Verlag 2001, S. 123.
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Literatur Affron, Charles & Mirella Jona Affron: Sets in Motion – Art Direction and Film Narrative, New Brunswick: Rutgers University Press 1995. Allen, Richard: Projection Illusion – Film Spectatorship and the Impression of Reality, Cambridge: Cambridge University Press 1995. Eco, Umberto: Im Wald der Fiktionen, München: Hanser 1994. Fiske, John: »Die populäre Ökonomie« in: Rainer Winter/Lothar Mikos (Hg.), Die Fabrikation des Populären – Der John Fiske Reader, Bielefeld: transcript Verlag 2001. Smiths, Thomas: ILM-The Art of Special Effects, New York: Ballantine Books 1991.
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KLANG- BILD- SPRACHRHIZOM: ROLF RIEHMS ARCHIPEL REMIX FÜR GROSSES ORCHESTER UND E L E K T R O N I S C H E Z U S P I E L U N G E N (1999) ROLF RIEHM UND MARION SAXER
Die Öffnung hin zu semantischen und visuellen Potentialen gehört zu den Grundcharakteristika des musikalischen Schaffens des 1937 in Saarbrücken geborenen Komponisten Rolf Riehm. In vielen seiner Werke stellt Riehm Bezüge zu außermusikalischen Sachverhalten her. Dabei versucht er stets, sein künstlerisches Handeln in der Realität der Gegenwart zu verorten. Dies kann zu direkten politischen Stellungnahmen führen, wie etwa in dem 1977 entstandenen KlageTrauerSehnsucht für zwei Gitarren, das dem Gedenken an die brutale Ermordung des chilenischen Sängers und Gitarristen Victor Jara gewidmet ist. Auch die Mythen des klassischen Altertums bieten Riehm ein Materialreservoir, dessen Durchdringung ihn zur Auseinandersetzung mit zeitgenössischen Bewusstseinslagen führt. In Odysseus aber hörte ihr Schweigen nicht. Orchesterstück zu einer Erzählung von Franz Kafka (1993) bezieht sich Riehm zum Beispiel auf Kafkas Erzählung Das Schweigen der Sirenen, die ihrerseits eine Umdeutung des Homerischen Mythos ist, und interpretiert die Gestalt des Odysseus aus einer neuen und überraschend aktuellen Perspektive.1 Die Integration visueller Momente in das kompositorische Schaffen Riehms läßt sich besonders gut an der 1999 entstandenen Komposition Archipel Remix für großes Orchester und elektronische Zuspielungen beobachten. Mit dem Verweis auf die geologische Formation der Inselgruppe spielt der Titel dieses Werks bereits auf das Sehen an. In der Partitur tauchen dann eine ganze Reihe bildhafter Begriffe auf, wie z.B. »Verschliffener Gesang«, »Klangwürfel«, »Keil«, »Kitschblasen«, »Aus01 Vgl. dazu: Marion Saxer: »Musik als Ausdruck. Rolf Riehms Odysseus aber hörte ihr Schweigen nicht. Orchesterstück zu einer Erzählung von Franz Kafka (1993)«, in: Neue Musik vermitteln. Analysen – Interpretationen, hg. von Hans Bäßler, Ortwin Nimczik und Peter W. Schatt, Mainz: Schott Musik International 2004, S. 123-141. 87
ROLF RIEHM, MARION SAXER
beulungen«, »Bergkette aus massiv gesetzten Akkorden«, »Stadt der Geister«. Zudem hat Rolf Riehm im Zusammenhang mit dem Stück von »aufgerauhten Oberflächen« und »Schlieren« gesprochen. Riehm schreibt in diesem Werk in recht eigensinniger Weise visuelle Bilder in Klang um. Dabei handelt es sich keinesfalls um traditionelle Vorgehensweisen wie etwa das Unterlegen von Sichtbarem mit Klang. Das Spezifische des Übertragungsvorgangs von bildhaften Vorstellungen in Klang, wie er ihn begreift, besteht darin, dass er sich zwischen den polaren Vorstellungen des traditionellen Abbildens und einer strikten Verweigerung von Repräsentation bewegt. Das Visuelle wird hier tatsächlich in einer ganz besonderen Weise der Komposition beigemischt. Einerseits geht Riehm durchaus von Korrespondenzen zwischen Sichtbarem und Erklingendem aus, wie er in dem anschließenden Text an einigen Beispielen erläutern wird. Zugleich rechnet er jedoch auch mit dem Unvorhersehbaren, das mit solchen Transformationen einhergeht. Das Zulassen visueller Bezüge im Musikalischen führt zu einer Erfahrung, für die das Oszillieren zwischen reiner Klangwahrnehmung und visuellen Zuschreibungen charakteristisch ist. Dabei bleibt eine Kluft zwischen Klang und visuellem Bild bestehen. Die für das Alltagsbewusstsein typische, nahtlose Verkittung zwischen Sehen und Hören wird gestört und in Frage gestellt. Mit der Abkehr von der Idee der Repräsentation – etwa im Sinn der Programmmusik – werden visuelle und darüber hinaus auch semantische Dimensionen zur kompositorisch frei verfügbaren Manövriermasse. Informationsverluste, Ungenauigkeiten und Übertragungspannen sind willkommen, weil sie eine wiederum eigensinnige Vorstellungsarbeit der Hörerinnen und Hörer in Gang setzen. Rolf Riehm artikuliert mit seinem Komponieren die Frage, ob es ein rein immanent musikalisches Hören überhaupt gibt. In seinen Werken sind visuelle und semantische Potentiale dem Hörvorgang stets beigemischt, ja Riehm strebt an, diese Potentiale für das Hören zu aktivieren und zu intensivieren. Mit dem Remix greift Riehm eine allgegenwärtige und aktuelle musikalische Technik der Popmusik auf und implantiert sie einem musikalischen Werk, das allein schon durch den Klangkörper des Orchesters der Kunstmusik verpflichtet ist. Im Kontext von Archipel Remix erscheint das Remixen als eine weitere Übertragungsstrategie, die semantisch aufgeladene seh- und klang-imaginative Leistungen im Sinn eines Wahrnehmungsgemischs zu generieren vermag. Im Unterschied zu Collagetechniken, für die die Erfahrung des Bruchs und der Schnittstelle zentral ist, geht es Riehm bei der Wiederverwendung bereits existierender Musik eher um die archipelartige Entfaltung verschiedener musikalischer Flächen, zwischen denen das Hören wechselt. Sein ausdrücklich betonter kompositorischer Verzicht auf den Anspruch der Originalität in einem
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KLANG- BILD- SPRACHRHIZOM: ARCHIPEL REMIX
traditionellen Sinn impliziert keineswegs den ›Tod des Autors‹. Die eigene Person spielt durchaus eine Rolle für den Kompositionsvorgang – aber sie wird immer innerhalb einer übergreifenden kulturellen oder gesellschaftlichen Situation verortet, und sie wird anhand von Eigenzitaten in höchst origineller Weise selbst ›remixed‹. Von großer Bedeutung für die Übertragungsprozesse in Archipel Remix ist die formale Konzeption des Stückes. Riehm betont, dass er eine nicht-hierarchische kompositorische Form anstrebt. Der Verzicht auf Geschlossenheit des Werks ist die Voraussetzung für die frei fließende visuell – auditiv – sprachliche Verknüpfungsarbeit der Rezeption. Nur wenn etwa die visuellen Aspekte der einzelnen ›Inseln‹ aus einem konsistent konstruierten, narrativen Strom herausgenommen sind, erhalten sie einen Eigenwert und können ihre vielfältigen Möglichkeiten der Anbindung und Kommunikation mit anderen Formteilen und Dimensionen des Werks entfalten. Mit dem Verzicht auf eine offensichtliche Stringenz der Form wird jene eigensinnige Aktivität der Rezipienten angeregt, die Riehm anstrebt. Sowohl die Vermischung der Wahrnehmungsebenen wie auch die nicht-hierarchische formale Anlage des Stückes verweisen auf ein kompositorisches Denken, das rhizomatisch verfährt im Sinne der von Gilles Deleuze und Félix Guattari in ihrem Buch Mille Plateaux2 geprägten Auffassung dieses Begriffs. Die Autoren haben ihr Buch einmal als eine »Theorie der Mannigfaltigkeiten« bezeichnet und versuchen, darin ein Denken zu praktizieren, das Diskontinuitäten und Kontingenzen nicht ausschließt. Als Alternative zu dem Bild des Baumes, das ihrer Meinung nach für den Inbegriff einer zentrierten, hierarchisierten Struktur steht, schlagen sie das Bild des Rhizoms vor, das ein Modell für eine nach allen Seiten offene, dezentrierte Struktur abgeben soll. In dem folgenden Text formuliert Rolf Riehm einige Überlegungen zu seinem Orchesterwerk Archipel Remix, die sowohl kompositionstechnische Sachverhalte benennen als auch damit verbundene, ästhetische Absichten erläutern. Im Zentrum stehen dabei Vorstellungen zum Thema der Übertragung visueller Momente in Klang. Die musikalischen Beispiele sind so gewählt, dass auch Laien sie verstehen können. Die Taktangaben wurden für interessierte Leser beibehalten. Die daraus entstehende leichte Störung des Leseflusses haben wir in Kauf genommen. Der Entstehungsprozess des Textes ist selbst ein vielstufiges Remix: Er beruht auf der Transskription eines Gesprächs über das Stück, das in mehreren Bearbeitungsphasen zu dem hier präsentierten Text umgeformt 02 Gilles Deleuze, Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie (Mille Plateaux 1980), aus dem Franz. übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve Verlag 1997. 89
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wurde. Der Gesprächscharakter ist dabei dennoch erhalten geblieben. Um die Affinität des Riehmschen Denkens zu Mille Plateaux zu verdeutlichen, wurden einige Zitate aus dem Rhizom-Kapitel des Buches in loser Folge – gleichsam rhizomatisch – zwischen die Äußerungen Riehms eingestreut.
Rolf Riehm: Über Archipel Remix Ich begreife das Ganze als ein Archipel, einen Komplex von Inseln, bestehend aus unterschiedlich ausgedehnten Inseln, »Insel«, »andere Insel«, »weitere Insel«. Zwischen diese größeren, herausragenden Landmassen sind kleinere gestreut, die ich »Eilande« nenne. »Schreiben hat nichts mit Bedeuten zu tun, sondern damit, Land – und auch Neuland – zu vermessen und zu kartographieren.«3 Das Stück fängt vorne an und hört hinten auf, wie auch anders, aber ich möchte die teleologische Organisationsobsession, ein Incubus des natürlichen Zeitablaufs, unterlaufen. Daher die Metaphorik des Archipels und die Art der Bezeichnung. Es heißt nicht »erste Insel«, »zweite Insel«, sondern neutral »Insel«, »andere Insel« etc., so dass keine Hierarchie entsteht. Innerhalb der Inseln springe ich auf andere Bilder, rege dann episodisch, nicht kontinuierlich, Ideen an, wie die einzelnen Teile gehört werden können. Zum Beispiel beginnt das Stück mit »verschliffener Gesang«. Die Partie vollzieht sich nur mit den tiefen Streichern, tiefe Bratschen, Violoncello und vierfach geteilten Kontrabässen. Die halten einen Ton aus, gehen dann auf einen anderen Ton. Man sieht, der eine Ton ist nicht sofort präsent, sie nähern sich sukzessive diesem Ton an. Auch der Wechsel des Tones geschieht durch eine ›klangliche Phrasierung‹: Das Flirren der Kontrabässe (T 5-6) hat die semantische Funktion eines legato-Bogens. Oder hier (T 7) die Posaune spielt auch einen solchen ›legatoBogen‹, um den Vorgang des Ton-Veränderns zu manifestieren. Das Ton-Verändern ist ein kompositorischer Akt, der eine eigene Artikulation hervorbringt. Der Tonwechsel tritt hier als eigener Vorgang auf. Die Kontrabassstelle ist ein Cluster, durch die Wechselnotenbildungen einer mit aufgerauhter Oberfläche. Die melodische Linie in den Bratschen und Violoncelli ragt in dieses Gewusele hinein und kommt verändert wieder hervor (Notenbeispiel 1).
03 Tausend Plateaus, S. 14 90
KLANG- BILD- SPRACHRHIZOM: ARCHIPEL REMIX
Abbildung 1: Notenbeispiel 1
Partitur zu Archipel Remix, S. 1 Eine weitere bildhafte Überschrift ist »Eilande – Klangwürfel« (T 269), da beginnt die erste verbröselte Inselwelt. Das ist ein Abschnitt, der wie ein Würfel konstruiert ist. Sehr komplex gearbeitet, aber im Prinzip total primitiv. Ein dreistimmiger Satz:
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Erste Stimme Vl. II, 1.-4.:
Die zweite Stimme dazu in den Br., 3.-6.:
Das ist der Anfang eines Satzes aus dem Ende des 14. Jahrhunderts. Und es gibt noch eine dritte Stimme, diese hier, Br. 7.-10.:
Der Satz in der originalen Form geht so:
Diese drei sind eine Gruppe. Eine zweite Gruppe in Violine II und Bratsche führt eine Art Variante desselben Vorganges aus. Die ist da reingewoben. Spielen dieselben Töne, aber zeitversetzt und pizzicato. Dieser dreistimmige Satz ist nun seinerseits in einer nächst höheren Etage eine Stimme eines dreistimmigen Kanons. Also dieser Komplex aus dreistimmigem Satz mit zeitversetztem pizzicato-Schatten, wie wir ihn eben überblickt haben, ist eine Stimme in dem Kanon. Die beiden anderen ›Stimmen‹, ebenfalls solche dreistimmigen Komplexe, liegen in Violine I und Kontrabass. Hörbar wird dabei die Einsatzfolge, und man spürt den Fingerzeig auf einen Kanon. Dann verwischt sich das natürlich und verstrickt sich zu einem Klangknäuel. Gewisse Detailartikulationen nimmt man schon wahr, dafür sind die ›Stimmen‹, etwa in den Lagen, zu deutlich voneinander abgehoben. Dritte Stimme, Kontrabass, sehr tief, dann eine mittlere, Violine II und Bratsche, und hier diese hohe in Violine I. Bei diesem ganzen Abschnitt (T 269-312) hatte ich die Vorstellung eines Würfels. Scharfe Kanten an allen Seiten, oben, unten, auch am Ende, wo der Abschnitt abrupt abbricht, wie weggeschlagen. Hineingelegt wird ab T 289 ein großes Glissando. Das zieht sich peu à peu nach oben, wird von acht gedämpften Bratschen und Kontrabässen in einer keilförmigen Bewegung ausgeführt. Das Glissando ist aus tonalen Akkorden gebildet – tonal, also kompakte und dem Ohr geläufige 92
KLANG- BILD- SPRACHRHIZOM: ARCHIPEL REMIX
Bildungen, damit der Vorgang eine Chance hat, vom Hörer aus dem dichten Kanon isoliert werden zu können. Man sollte auch wahrnehmen können, dass sich da eine ganz andere Art der Außendarstellung abspielt. Die Kanon-›Stimmen‹ sind ja kontrapunktisch gebildete distinkte dreistimmige Sätze. Demgegenüber hat das Glissando als ein verschmolzenes Töne-Band eine zähflüssige, homogene Konsistenz. Wie ein dicker Stamm liegt es diagonal in diesem Klangwürfel (Notenbeispiel 2). Es geht mir dabei um den Transfer eines imaginativen ›Fundus‹ vom Komponisten zum Hörer, um diesen schwer fassbaren Bereich der imaginativen Korrespondenzen. Bekanntlich spielen in diesen Vorgang neben den strukturellen Daten, also was landläufig als die eigentliche Substanz der Musik gilt, synästhetische Anteile jeglicher Couleur in beträchtlichem Ausmaß mit hinein. Mit den Überschriften möchte ich eigentlich nur die Übertragungsleistungen, mit denen wir beim Hören von Musik ohnehin dauernd beschäftigt sind, forcieren, und sie noch stärker als bereits üblich für das Erfassen von musikalischen Konstellationen aktivieren. »Klangwürfel« setzt auf Beziehungen, die in diesem Bild konnotiert sind. Ich sprach schon von den »Kanten«, also einer brettförmigen Begrenzung dieses Klangablaufs oben und unten. Diese beiden Außengrenzen kann man distinkt wahrnehmen, dazwischen ist eine Differenzierung kaum mehr möglich. Die Vorstellung von »Kante« liegt in der repetitiven, nur in einem kleinen Ambitus sich immerzu bewegenden, keine Ausschläge nach oben bzw. unten vollziehenden Tonmechanik. Es entsteht so was wie eine klar umrissene, nicht mehr nach oben und unten über seine Begrenzung hinaus ausgreifende, aber innerhalb dieser Außenbegrenzungen durchgängige Raumausfüllung. Und wenn Sie jetzt noch hinzunehmen, dass das Orchester ja ganz real in einer ziemlich mächtigen Staffelung in die Tiefe platziert ist, dann hat die Animation eines ›Kubus‹, also einer Raumausfüllung auch noch nach hinten, eine reale Grundlage. Anders gesagt: Sie nehmen die selbstverständliche Raumperspektive des Klanges nach hinten durch den Anreiz des Bildes von einem »Klangwürfel« als mitkomponiertes Element in ihre Vorstellungsarbeit mit hinein. Also es geht nicht darum, dass man in einem synästhetischen Sinn ein Korrelat zu diesem geometrischen Gebilde herstellt.
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Abbildung 2: Notenbeispiel 2
Partitur zu Archipel Remix, S. 31 (Anmerkung Marion Saxer: Jener »dicke Stamm«, der diagonal in diesem Klangwürfel liegt, lässt sich auch für den notenunkundigen Leser
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auf einen Blick im Partiturbild erkennen: In den Kontrabässen und den Bratschen (Zeile 1-2 und 10-11 von unten) setzt sich ein Klangband von Liegeakkorden, die durch lange Haltebögen miteinander verbunden sind, bereits rein visuell von den bewegteren übrigen Einzelstimmen ab.) Während im »Klangwürfel« diese keilförmige Bewegung in einer, von dem Glissando aus gesehen, voluminösen Verpackung eingeschlossen war, liegt sie in T 316 ganz blank. Also enorm präsent gegenüber vorher. Die Idee des Keils wird hier remixed. Das ganze Orchester ist beteiligt, infolge der opulenten Mittel ist eine erheblich differenziertere Machart möglich, hinzu kommen zwei Singende Sägen, die rechts und links an der Rampe sitzen, an den äußersten Enden des Orchesters. Sie setzen in den Keil ihren eigenen Keil hinein, eine langsame Glissando-Bewegung nach oben, in der Steigung gegeneinander zeitversetzt. Das Orchester hört plötzlich auf, die beiden bleiben übrig. Übrig bleibt außerdem eine Trompete, die auch keilmäßig dareingelegt wurde, wobei sich die Idee des Keiles auf andere Weise manifestiert als in einem Glissando: nämlich in einem Crescendo bei gleichzeitigem Abdämpfen des Harmon-Dämpfers, auch eine Art von kontinuierlichem Verändern unter dem bildhaften Label »Keil«. In dem Würfel liegt übrigens noch ein Schlagzeug drin, am Anfang, wie eine Schliere (T 269-281). Ist dann wieder weg. Dieses Schlagzeug wiederum kam vorher schon vor (T 257) und taucht in veränderter Form, auch remixed (T 269ff.) wieder auf. Auch so ein bisschen am Rand, angelagert. Man kriegt die Korrespondenz der beiden Stellen jedenfalls mit. Also »Klangwürfel« ist ein Eiland. Danach Generalpause (T 313). Plötzlich: Tonbandzuspiel (T 314). Und dann hört man den folgenden Text gesprochen von Ulrich Mühe im Konzertsaal, keine Begleitung, gar nichts: »Sie aber, schöner als jemals, streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf dem Felsen. Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen. Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie.« Das heißt, es wird eine weitere Materialschicht in das Stück eingeschleust: ein gesprochener Text. Es ist ein Zitat aus Kafkas Das Schweigen der Sirenen. Man weiß nicht, was das da soll. Es ist ein Ereignis … Der Ausschnitt dieser Erzählung selbst ist schon ein Remix Kafkas, der die Odyssee aufgreift und ich wiederum remixe Kafka. Die weiteren
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Remix-Stellen des Stücks sind jedoch rein musikalisch. Eine weitere Zuspielung bringt ganz kurz Brahms, Duette op 21, 3. Dann wird ein Stück von Frohberger remixed: Tombeau fait à Paris sur la mort de Monsieur Blancheroche. Nun kommt aber unter der Überschrift Feld der Irrläufer etwas völlig Neues: In T 390-392 vernimmt man einen weiteren Teil der Ballade des Klangwürfels in einer auffallenden Satztechnik. Und schon zwei Takte später (T 394) erklingt ein weiterer Balladenteil in einer ebenfalls sehr elaborierten Orchesterfassung, aber nun aus den Lautsprechern! Mit diesem Vexierspiel, das sich ab jetzt noch erheblich ausdehnt, hat es folgendes auf sich: Ich lasse eine frühere Orchesterbearbeitung dieser Ballade (aus dem Zyklus He, tres doulz roussignol joly) teils nun live spielen, teils über die Lautsprecher in der Aufnahme der Uraufführung einspielen (RSO Saarbrücken, Leitung: Hans Zender). Also man hört erstmal die Zuspielung, die ist ja schon selbst eine gewissermaßen mehrstufige Transformation, nämlich ein Stück aus ca. 1380 erst von mir für Orchester gesetzt, dann aufgenommen (was man als Umwandlungsprozess nicht unterschätzen sollte!) und dann abgespielter Orchesterklang inmitten eines auf dem Podium versammelten großen Orchesters. Die Lautsprechereinspielungen wiederum werden im Folgenden auf vielfältige Weise durch das Live-Orchester übermalt, was dann auch den Anschein erwecken kann, dass die Lautsprechereinspielungen die Übermalung dessen sind, was das Live-Orchester spielt. Ein Verwirrspiel ohnegleichen mit Remixing-Materialien ohne Ende … »[Ein Rhizom] bringt ganz unterschiedliche Zeichenregime und sogar Verhältnisse ohne Zeichen ins Spiel.«4 Was die Auswahl meines eigenen Stückes als Remix-Material bestimmt hat, war ein konzeptioneller Gedanke, womit eine generelle Fragestellung berührt wird. Das Stück wurde uraufgeführt im Januar 2000. Das neue Jahrhundert und Jahrtausend haben gerade begonnen. Ich fand es wichtig, eine Stellungnahme abzugeben, wie ich diesen Zeitzustand empfinde und einschätze, was ich künstlerisch von ihm halte und wie ich ihn artikulieren möchte. Ein Grundzug des Stückes besteht darin, dass alles aus zweiter Hand ist. Es ist nicht ein einziger origineller Gedanke in dem Stück (Heiterkeit). Ich bin inzwischen der Auffassung, es ist vollkommen witzlos, irgendetwas Authentisches noch in die Welt setzen zu wollen. Nicht nur, weil alles schon da gewesen ist, sondern weil das Bedürfnis nach dem, was man in der Kunst ausgedrückt zu finden hofft, getränkt ist damit, in 04 Tausend Plateaus, S. 36. 96
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der Komplexität unserer Gegenwart eine Orientierung, also Felder der Übereinstimmung, zu finden. Das funktioniert nur, wenn man die Ösen auch erkennen kann, an denen man sich da festmachen kann. Die Gegenwart ist gekennzeichnet durch eine vorher gar nicht vorstellbare Gewalttätigkeit der Verarbeitungsforderungen, die mir von außen aufgezwungen werden. Da muss ich nicht noch künstlich erstellte, womöglich komplex verrätselte Materialrepertoires hinzufügen, die niemanden, wenn er sich ihnen denn zuwenden würde, in der Sphäre seiner kommunikativen Entlastungen glücklicher machen könnten. Dass ich auch meine eigenen Stücke remixe, hat mit dieser Vorstellung zu tun. Ich sehe mich als ein Individuum, das sich bemüht, die diversen Stränge, die es durch sich hindurchlaufen spürt, in die Hand zu nehmen, um sie irgendwie zu bündeln. Ich bin jetzt aber selbst ein solcher Strang. Als Wahrnehmungsapparat bin ich ja nicht exterritorial, sondern Bestandteil all dessen. Hier geht’s ja nicht um eine soziokulturelle Erörterung etwa, wo man auf der Basis nachprüfbarer Daten arbeiten würde. Sondern ich agiere so, wie es der Kunstmensch generell tut. Ästhetisches Handeln vollzieht sich in eigener Verantwortung und über die eigene Biographie. Damit hängt zusammen, dass ich den Moment der eigenen Rekapitulation mit einbezogen habe. Ich sehe das als zwei Staffelungen. Ich bin meine eigene Staffelung (lacht) mit meiner Werkbiographie, die in sich eine kleine Historie darstellt. Zwar meine eigene bloß, aber immerhin. Das ist so wie der Keil. Ich sehe das wieder eingefügt in eine größere Zeitstaffel, bestehend aus der Kulturgeschichte. Das wäre der Kafka, der Brahms, das sind diese Mittelalter-Stücke, Rachmaninoff kommt auch vor. Der Keil, der ich bin, ist eingebracht in einen größeren Keil aus den Stücken anderer. Die bilden insgesamt den Aktionsraum. Ich könnte sagen, das ist eine Komposition, die in allem und jedem rückwärts gewandt ist. Das wäre auch meine Vorstellung von neuer Musik: eine Arbeitsweise, die in allen Details rückwärts gewandt ist. Ich finde das Paradoxon erhellend, dass die Zukunft die Gegenwart des Vergangenen ist. Eine Paraphrase davon mit Blick aufs künstlerische Agieren wäre: Das Neue offenbart sich in der Vergegenwärtigung des Alten. Formal gesehen handelt es sich bei Archipel Remix um einen Ablauf, der keine Eigenlogik hat. Weder ist es ersichtlich, dass zum Beispiel der Kafka-Text erscheint, noch dass mein Stück aufkreuzt, noch dass der ›Klangwürfel‹ erscheint. Ist alles nicht evident. Es gehört zu meinen zentralen Haltungen, eine Musik zu schreiben, die in sich nicht evident ist. Man könnte sagen: in ihren Anknüpfungspunkten porös, nicht fassbar, von unkompatibler Lexematik und Syntax, im Prinzip nicht verstehbar.
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»[…] das Rhizom findet seinen Zusammenhalt in der Konjunktion ›und… und… und…‹. In dieser Konjunktion liegt genug Kraft, um das Verb ›sein‹ zu erschüttern und zu entwurzeln. Wohin geht ihr? Woher kommt ihr? Was wollt ihr erreichen? Das sind unnütze Fragen. Reinen Tisch machen, bei Null anfangen oder neu beginnen, einen Anfang oder eine Grundlage suchen – all das sind falsche Vorstellungen von Reise und Bewegung.«5 Dennoch ist das Werk durchkomponiert. Aleatorische Passagen gibt es nicht. Es bildet sich beim Hörer im Lauf des Stücks eine Fläche aus, keine Linie. Wenn ich das offen lassen würde, würde sich daraus folgendes ergeben: Bei geschlossenen Satzfiguren als verschiebbarem Material, wie das hier der Fall ist, muss man vor der Aufführung Vereinbarungen treffen. Das heißt, der Dirigent legt das fest, dann wird es mit dem Orchester abgesprochen und dann spielen die das so. Der einzige Zugewinn, den diese Offenheit von mir aus hätte, wäre die, dass erst der Dirigent den Ablauf festlegt. Da ich mir in diesem Punkt, also auf dem Feld meiner eigenen Musik, allen Dirigenten gegenüber das kompetentere Formgefühl etc. zutraue und das sicherere Gefühl für das, was passt und was nicht passt, habe ich es von vornherein festgelegt. In der konkreten Aufführung kommt ja doch nur ein Ablauf zustande. Das war auch ein Dilemma der offenen Formen früher gewesen, was auch die nette Anekdote über das Klavierstück XI von Stockhausen illustriert. Das Stück besteht aus in sich geschlossenen Teilen, die über das Papier gestreut sind. Der Pianist soll sich erst im Augenblick der Aufführung entscheiden, welchen Formteil er als nächsten spielt. Alois Kontarski, der das Stück uraufgeführt und auf der ganzen Welt bekannt gemacht hat, hat immer wieder gern erzählt, dass er sich den Ablauf immer vorher zurecht gelegt hätte, ohne diese innere Vordisposition hätte man die schweren Einzelteile gar nicht spielen können. Er hätte aber, wenn Stockhausen im Saal gesessen hätte, immer ganz überrascht auf dem Notenblatt herumgeguckt. Der Witz, der darin besteht, dass der aus dem Moment geborene Ablauf nun sozusagen ein spezielles formales Individuum ist, müsste durch einen Vergleich kommen. Man müsste das Stück an einem Abend mehrmals aufführen, das wäre bei den fünfzig Minuten Dauer von Archipel Remix einfach nicht zu realisieren. Von solchen Gedanken habe ich mich deshalb schon lange verabschiedet. Ich arbeite daran, diese Vorgänge in die tätige Vorstellung des Hörers zu verlagern. Zu meiner Grundüberzeugung gehört, dass die Einheit eines Kunstwerkes nicht herstellbar ist. Tatsächlich aber kann ich nicht ignorieren, 05 Tausend Plateaus, S. 41. 98
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dass es so etwas wie einen Zentralgedanken im Raum des Stückes gibt. Ich bin aber nicht davon ausgegangen, ein bestimmtes Konzept umzusetzen und das dann im Detail in die Präsenz zu bringen. Ich habe mich im Gegenteil bemüht, alles zu vermeiden, was auf ein geschlossenes Konzept weisen könnte. »Wir bezeichnen jede Mannigfaltigkeit als »Plateau«, die durch andere Mannigfaltigkeiten durch äußerst feine, unterirdische Stränge verbunden werden kann, so dass ein Rhizom entstehen und sich ausbreiten kann.«6 Für mich ist wichtig, dass alles, auch im Begrifflichen, was unternommen wird, an den Rändern unscharf ist. Flirrend. Weil ich die Zuspitzung der Diffusität anziele. Ich möchte gern die Vereinsamung von Formteilen hervorbringen. »Ein Problem der Schrift: man braucht dringend anexakte Ausdrücke, um etwas exakt zu bezeichnen. Und zwar keineswegs, weil man da hindurch müsste, weil man nur durch Annäherungen weiterkäme: die Anexaktheit ist eben keine Annäherung, sondern im Gegenteil genau die Durchgangsstelle dessen, was im Werden ist.«7 Der Mensch hört als Mensch zu und hantiert mit Kriterien, die in seiner Verfasstheit liegen. Aber er kann unterscheiden, dass er da ein Kunstwerk vor sich hat und keine Natur. Dieses Kunstwerk hat eine bestimmte Absicht, die er erkennen kann. Im vorliegenden Fall wird er erkennen, dass das Solitäre eines der Hauptkriterien ist. Es ist Sache des Hörers, diese Wahrnehmungsmöglichkeiten zuzulassen, zu sagen, ich lasse mich darauf ein, dass einer die Sachen so einzeln hinstellt, ohne Sinn und Verstand gewissermaßen. Ich habe anarchisch gedacht, unhierarchisch. Anarchisch soll heißen: keine Rangzuweisungen akzeptieren. Heißt ja nicht planlos oder ähnliches. Es soll keine Rangfolge geben. Systemlosigkeit gehört zum anarchischen Grundverfahren dazu. »Diesen zentrierten Systemen setzen die Autoren Systeme ohne Zentrum entgegen, Netzwerke […], in denen die Kommunikation von einem Nachbarn zum anderen hergestellt wird, in denen Stränge und Kanäle nicht schon vorgegeben sind, in denen alle Individuen untereinander austauschbar und nur durch einen momentanen Zustand definierbar sind, so
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dass die lokalen Vorgänge koordiniert werden und das Endergebnis unabhängig von einer zentralen Instanz synchronisiert wird.«8 Als Komponist stelle ich mir eine weitere Frage: Sind meine Mittel so plastisch, dass sich diese anspruchsvolle Vorstellung dem Hörer mitteilt. Oder lässt der Hörer letzten Endes seinen trainierten Synapsen freien Lauf. Ich hoffe natürlich, die entsprechenden Mittel aufgeboten zu haben. Sodass man das Gefühl von Vereinsamung der Klänge bekommt, dass die Klänge allein gelassen werden. Das sind Klänge, denen ist die Gesellschaft entzogen, die klangsoziale Konnotation. Die stehen traurig, deprimiert in der Gegend herum. Die beiden Rachmaninoff-Remix-Stellen zum Beispiel – also Zitate einer sehr populären Musik – (Einspielung 1: Evgeny Kissin mit einem Ausschnitt aus den Études Tableaux op. 39, T 543; Einspielung 2: der Anfang des 3. Klavierkonzerts mit Rachmaninoff selbst als Solisten, T 610) treten hier aber im Zuge eines äußersten Missbrauchs auf (lacht), die wärmende Luft der Popularität kann sich gar nicht ausbreiten. Wäre das Stück von Rachmaninoff nicht so populär, hätte der Ausschnitt daraus hier nicht Anteil an der gezackten Natur des Stückes. Dauernd doppelte Böden, habe ich natürlich mit Fleiß eingezogen. »Das Rhizom ist eine Anti-Genealogie. Es ist ein Kurzzeitgedächtnis oder ein Anti-Gedächtnis.«9 Vielleicht kann ich abschließend sagen, mein Wunsch wäre, dass der Hörer in dem Stück eine Fahrt unternimmt. Sowohl emotional wie von der Maßstäblichkeit der Wahrnehmung her. Er muss sich rasch auf unterschiedliche Dimensionen umstellen, mal sind die groß, mal winzig, Zwischengrößen etc. »Für Aussagen und Begierden geht es nie darum, das Unbewusste einem Baumschema entsprechend zu reduzieren, zu interpretieren oder signifikant zu machen. Es geht darum, das Unbewusste zu produzieren, und mit ihm neue Aussagen, andere Begierden: das Rhizom ist diese Produktion des Unbewussten selbst.«10 Der Hörer ist in Bewegung gesetzt und vollzieht in seinem Hörvorgang eine Fahrt über dieses Archipel hinweg. Will er etwas mitkriegen, muss sich bei ihm eine starke Wahrnehmungsaktivität in Gang setzen. Indem 08 Tausend Plateaus, S. 30. 09 Tausend Plateaus, S. 36. 10 Tausend Plateaus, S. 31 (Hervorhebung von Deleuze/Guattari). 100
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er das tut, vollzieht er eine eigene Narration, die in seiner Person ruht. Sie ist von dem Stück angeregt, aber er hat sie in sich evoziert.
Notenbeispiele Partitur: Rolf Riehm, Archipel Remix für großes Orchester und elektronische Zuspielungen, Ricordi, Sy. 3468, ISMN M-2042-3468-4.
Literatur Deleuze, Gilles, Félix Guattari: Tausend Plateaus: Kapitalismus und Schizophrenie (Mille Plateaux 1980), aus dem Franz. übers. von Gabriele Ricke und Ronald Voullié, Berlin: Merve Verlag 1997. Saxer, Marion: »Musik als Ausdruck. Rolf Riehms Odysseus aber hörte ihr Schweigen nicht. Orchesterstück zu einer Erzählung von Franz Kafka (1993)«, in: Hans Bäßler, Ortwin Nimczik und Peter W. Schatt (Hg.): Neue Musik vermitteln. Analysen – Interpretationen, Mainz: Schott Musik International 2004, S. 123-141.
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CARTER RATCLIFF
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TO GET OR NOT TO GET WITH THE PROGRAM
MICHAEL KREBBER
Ausschnitt einer Einladungskarte, 2006
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ENERGIE DER STÖRUNG. BEMERKUNGEN ZU NATURBILDERN UND POESIE MARION POSCHMANN
Springkraut Ich bin an einem Fluß aufgewachsen. Mit dem Fahrrad fuhr ich regelmäßig durch die renaturierte Auenlandschaft. In feuchten Senken sammelte sich der schwere Duft einer purpurblühenden Uferpflanze, es war ein spezifischer, libidinös besetzter Duft, der für mich Kindheitslandschaft, Heimweh, Nostalgie, alle Gefühlsverwirrungen der Jugend bedeutete. Wenn ich gewußt hätte, wie diese Pflanze hieß, hätte ich sie damals womöglich bedichtet. Dies ist der Welt erspart geblieben, aber nur, weil diese Pflanze, obgleich nicht gerade selten, in meinen mitteleuropäischen Naturkundebüchern nicht zu finden war. Diese Abwesenheit ist symptomatisch: es handelt sich bei dieser Uferpflanze um eine eingewanderte bzw. eingeführte Art, das Indische Springkraut. Das Indische Springkraut stammt aus dem Himalaya und gilt als gute Bienenfutterpflanze, es wurde eine Weile von Imkern ausgesät und in Ziergärten gehegt, es verbreitet sich durch Gartenabfälle, Erdaushub und vor allem mit Fließgewässern. Seit Jahrzehnten kommt es in Deutschland massenhaft vor, besiedelt flächendeckend Feuchtbrachen und Gewässersäume und dominiert den Standort, das heißt: jede andere Vegetation wird an diesen Stellen überwuchert und verdrängt. Das heißt aber noch nicht, daß eine solche Pflanze deshalb schon Eingang in die heimischen Pflanzenführer fände. Das Indische Springkraut ist keine heimische Pflanze. Es ist eine Pflanze, deren Image sich, einhergehend mit ihrem Verwildern, von dem einer Nutz- und Zierpflanze zu dem eines Unkrauts und Schädlings entwickelt hat. Es ist eine gefühlsbeladene Pflanze, die das ökologische Gleichgewicht stört.
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MARION POSCHMANN
Schafe Natur verändert sich ständig. Das Bild von Natur ist dauerhaften Moden unterworfen und bleibt sich streckenweise erstaunlich lange gleich. So ist das Schaf im Fundus der Naturmotive eines der ältesten und traditionsreichsten. In der Antike Grundbestandteil von arkadischer Landschaft und goldenem Zeitalter, wurde es im Christentum mit dem Opfergedanken Symbol für eine ganze Religion, und noch heute sind Schafe im kollektiven Verständnis als Tiere von außerordentlicher Harmlosigkeit verankert. Sie ernähren sich vegetarisch, sie sehen aus wie Schönwetterwolken, und sie reimen sich auf »Schlaf« und auf »brav«, was ihnen in der deutschen Lyrik über Jahrhunderte einen festen Platz in der Idylle und im Wiegenlied sicherte. Dabei haben Schafe, wie alles auf der Welt, ihre Schattenseite. Sie fressen ganze Landstriche kahl, lassen keinen Baumbestand aufkommen, können Bodenerosion einleiten, Regionen vollständig ruinieren und verwüsten. Dies ist in der literarischen Tradierung des Schafsmotivs unterschlagen worden, wie auch in der Malerei der düstere Aspekt der arkadischen Landschaft hinter einer systematischen Verklärung zurückgetreten ist. Erwin Panofsky analysiert diese Entwicklung in seinem berühmten Arkadien-Aufsatz anhand eines Gemäldes von Poussin. Auf dem Bild finden Hirten in idyllischer Landschaft einen Sarkophag, in welchen die Formel »Et in Arcadia ego« eingraviert ist. Panofsky erörtert, daß die landläufige Übersetzung »Auch ich war in Arkadien«, die mit einem Beiklang von Wehmut dem Verstorbenen in den Mund gelegt wird und die Goethe später euphorisch als Motto vor seine Italienische Reise stellte, auf einem Mißverständnis bzw. auf einer Bedeutungsverschiebung beruht. Korrekt müßte es heißen: »Auch in Arkadien bin ich, herrsche ich, habe ich die Macht« – und der das sagt, ist der Tod. Die Überschattung durch den Todesgedanken, der in der Antike das Konzept der arkadischen Landschaft prägte und diesem Konzept die spezifische bittere Süße verlieh, wurde im Laufe der Zeit, wenn nicht vergessen, so doch verdrängt, und zwar zugunsten einer harmonischen Geschlossenheit, in die kein Störfaktor eindringt. Ein anderes Bild Poussins heißt Das Reich der Flora und ist Vorlage für das Gemälde Empire of Flora von Cy Twombly. Bei Twombly wird ein Bild von Natur entwickelt, das durch Leichtigkeit bestimmt ist, durch scheinbare Ungeplantheit, es findet in einem unperspektivischen Raum statt und besteht aus Bewegung, aus Krakeln und Signaturen, aus Zufällen, die für einen Moment der Zeit entrissen und in einen Schwebezustand versetzt werden, die sich wie durch ein Wunder auf der Fläche hal-
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ENERGIE DER STÖRUNG
ten, weil sie im nächsten Augenblick verwehen und zerfließen – eine Mischung aus Schönheit und Vergänglichkeit, die vielleicht die Atmosphäre des goldenen Zeitalters umspielt. Empire of Flora (nach Cy Twombly) wenn wir in Blüte stehen, huschende rosa Strumpfhosen, leibeigene Symptome ich war ganz mit Staub bedeckt, war wie betäubt mit Kamillenwirkstoff, noch stundenlang anhaltend Rausch und Gebrechen. farewell. fahr hin. so der Regen unser Glück fortspült muß weichen leichter Traum müssen blinzeln Lichtflüchter wir die inneren Himmel blendeten uns
Atmosphäre Bilder evozieren einerseits etwas Abwesendes, sind aber auch, als Bild, präsent; diese Doppelfunktion spielt beim Schreiben eine besondere Rolle, da das Bild nicht auf dem Papier, sondern erst im Geist des Lesenden entsteht. Sinnlichkeit wird evoziert und reflektiert, so nah wie möglich herangezogen, so sehr verstärkt wie möglich, und zugleich in Frage gestellt, auf Abstand gehalten. »Waldinneres« ist ein ikonographischer Begriff der Landschaftsmalerei. Es geht dabei um eine Raumvorstellung. Das Interessante daran ist, daß es den Innenraum, der mit dem Wort suggeriert wird, in Wirklichkeit nicht gibt. An den vielen neuzeitlichen Waldbildern, die diesen Titel tragen, kann man das gut feststellen: man sieht wild verschlungene Bäume, man wird perspektivisch über eine Reihe von Stämmen immer tiefer ins Dickicht geführt, aber es bleibt unklar, ob man als Betrachter nun schon ›innen‹ ist oder ob man erst nach ›ganz innen‹ gelangte, würde man noch etwas weiter wandern. Der dargestellte Innenraum ist nach allen Seiten offen, es gibt keine klaren Grenzen zwischen Innen und Außen, und es zeigt sich, das Innere des Waldes ist kein Ort, sondern vielmehr ein Gefühl.
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Idylle mit Rehscheuche so daß sich entfremdende Wälder Heckenrosen nach und nach noch heute und wir Gestalt annehmen wie von langer Hand geplant daß musterbildende Tendenzen (Bäume) daß Blätter aufgetaucht und weggewischt und wir befindlich vor und hinter neben Sträuchern mitten in sind eine angenehme Streuung Stimmung eine Verhältnismäßigkeit von Laub und Licht daß Blätter falsche Fährten legen Kreise ziehen man sieht die Wälder deutlich sieht sie nicht
nach der Natur In meinem Lyrikband Grund zu Schafen kommen Birken, Tannen, Wiesen, Enten, Schafe vor, Versatzstücke klassischer Naturgedichte. Deshalb werde ich oft gefragt, ob ich mich viel in der Natur aufhalte und meine visuellen Eindrücke in den Texten festhalte. Tatsächlich bin ich gern von Pflanzen und Tieren umgeben, aber während der Arbeit an den fraglichen Gedichten wohnte ich neben einer Baustelle, und mir ist aus dieser Zeit vor allem der Lärm von Preßlufthämmern und der Anblick von Stahlträgern in Erinnerung. Der Natureindruck in den Texten ist entsprechend weniger der konkreten Anschauung als vielmehr der Beschwörung geschuldet, der Konstruktion und dem Herbeizitieren, dem Versuch, etwas Abwesendes in die Gegenwart zu holen. In der Großstadt, in der ich lebe, wachsen kaum Tannen, Berlin ist eine Birken- und Kieferngegend, und die Birke wird zunehmend von der Robinie verdrängt. Schafe sieht man selten, und auch was die Wiesen angeht, muß man in der Regel mit dem kurzgeschorenen, sortenarmen Standardrasen für öffentliche Grünanlagen vorlieb nehmen, der sich durch Trittfestigkeit, Niedrigwachstum, Schnittverträglichkeit und intensive Einheitsfarbe auszeichnet.
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Dies war zu Dürers Zeiten noch anders. Auf seinen Rasenstücken sind eine ganze Reihe verschiedener Grasarten abgebildet. Das Gras darf dort blühen und in Koexistenz mit Insekten leben. Um einen üppigen Eindruck von Wiese zu bekommen, hält man sich also am besten an seine Bilder. kleines Rasenstück 100g Gras, wie Licht, das sich bewegte, Licht, das knitterte, schnelle Lebensläufe ohne Höhepunkte, Schwarzweißaufnahmen: nickende Blitze. Gras spritzte auf, fiel über, Gras, von Winden hingekritzelt, von Winden ausgedehnt nach Zentimetern, Gras, dieser strenge Glanz, zu Halmen gefaltet, Gras überwog uns schon – wuchs Gras darüber, hob sich, senkte sich, wimmelnd, flimmernd, Gras, so haltlos wurzelnd über dem hellen Abgrund unserer Hirne.
Aura Oft steht am Anfang eines Gedichts ein synästhetischer Eindruck, ein Wort, das neben seinem Klang und seiner konkreten Bedeutung auch eine Farbnuance hat und zu dem dann andere Wörter passen, weil sie diesen Farbeindruck unterstützen. Aus diesen vagen Farbräumen entwickeln sich nach und nach deutlichere innere Bilder. Dies kann nach den Verfahrensweisen der Traumarbeit vor sich gehen, mit Vertauschungen, Verschiebungen, Ersetzungen. Phänomene der Sichtbarkeit werden mit unüblichen Eigenschaften angereichert, in fremde Kontexte gestellt. Ein poetisches Bild ergibt sich manchmal aus einer absichtsvollen Unschärfe, einem Verwischen, Verrücken, Versehen. Manchmal wird dadurch ein unterschwelliger Assoziationszusammenhang an die Oberfläche geholt. Die Aura eines Wortes ergibt und verstärkt sich in einem solchen Kontext von Assoziations-, Klang-, Farbmaterial. Jedes Wort bringt, als begriffliches, aber auch schon seine spezielle Aura, den historischen und literarischen Kontext mit. Zum Wolf oder zum Wellensittich bildet der deutsche Staatsbürger
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in der Regel eine klare innere Haltung aus, die Farbe Rot wirkt in eindeutiger Weise auf Bewußtsein und Unterbewußtsein, Linden oder Eichen haben einen starken Nostalgiewert, der in einem Gedicht auch dann noch mitschwingt, wenn diese Bäume verbal zerhäckselt werden. Bei Verfremdungseffekten kann man sich als Poet also darauf stützen, daß es einen kulturellen Hintergrund gibt, aufgrund dessen der Leser den Effekt auch als solchen erkennt. Interessant wird es, wenn dieser Hintergrund fehlt.
gestörte Habitate Wie steht es mit dem Marderhund oder der Mandarinente, die sich in Deutschland bislang auf keine kulturelle Tradition stützen können? Was passiert mit dem Indischen Springkraut im öffentlichen Bewußtsein, solange es diese Pflanze hier offiziell nicht gibt? Eine neue Spezies siedelt sich vorzugsweise in einem gestörten Umfeld an. Ihre Ausbreitung erfolgt häufig entlang der zivilisatorischen Schneisen, an Bahnlinien, Straßen, Kanälen, und sie erschließt sich oft Geländeformen, die vom Menschen grundlegend verändert wurden: Industriebrachen, Stadtränder, menschliche Behausungen. Störungen im ökologischen Gleichgewicht gehen mit Störungen im Gefühlshaushalt einher. Es ist ein affektives Problem in der sonst so nüchternen Biologie, wenn mit Bezeichnungen wie »Eindringlinge«, »Fremde«, »pests« für die Neozoen und Neophyten Fragen von Grenzziehungen und Besitzansprüchen aufgeworfen werden: Wem gehört ein Habitat, warum verlangt man von der Natur, sich an Ländergrenzen zu halten, während der fortschreitende Globalisierungsprozeß genau dies immer mehr verhindert, mit welcher Haltung kann und soll der Mensch hier eingreifen, welche Interessen gilt es zu vertreten? Was die Poesie betrifft, so stellen die neuen ökologischen und auch ökonomischen Zusammenhänge, der Stellenwert neuer Pflanzen und Tiere im allgemeinen Bewußtsein, die Störungen, die damit einhergehen, ein enormes Reservoir an neuen Naturbildern dar. Die Energie des Neuen könnte auch in der Poesie für Aufregung sorgen, vor allem aber würden wir anhand der Beschäftigung mit den Zivilisationsfolgen mehr über uns selbst erfahren.
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Pilzbeschwörung (ein Ready-Made) Braunfäule, die an den Birnen und Äpfeln bedeutende Schäden anrichtet, kann schon im Frühjahr die Zweige, Blätter und Blüten entkräften, und sommers Erreger verbreiten, welche die reifenden Früchte befallen. Anfangs entsteht auf dem Obst nur ein winziger, weichlicher Fleck, der anwächst und größere Stellen hellbraun färbt. So wie die Fäule voranschreitet, zieht sich der Pilz durch die Früchte, zeichnet sie außen mit schimmelnden Ringen. Wird das Obst stärker beschattet, dann schimmelt es nicht, doch die Schale färbt sich tiefschwarz, und sie schrumpelt zusammen: Mumien fallen im Herbst von den Bäumen, und hexische Kugeln bleiben an Ästen noch winterlang hängen.
Wahrnehmung Die Ferne ist nicht mehr fern, die Nähe hat sich verändert. Das war schon immer so, aber jetzt könnte man es spüren. Früher wurden Läuse als Teil des eigenen Körpers betrachtet, als eine Art lästiger Ausfluß. Heute hausen Fernsehschaben in unseren TV-Geräten, Pharaoameisen besiedeln Krankenhäuser und nähren sich von frischen Wunden, anstelle von Braunbären leben Waschbären im deutschen Wald. Die neuen Naturbilder in Zeiten von Globalisierung und Klimawandel könnten zu einer neuen Schule der Wahrnehmung werden, die ihre Impulse aus Exotismus und Assimilierungsprozessen, aus dem Bemerken von Veränderung und Flüchtigkeit bezieht. In Wilhelm Genazinos Roman Die Liebesblödigkeit erscheint mitten in einer westdeutschen Stadt plötzlich eine Schar kleiner grüner Papageien mit roten Schnäbeln. Dies wird als eine Art Epiphanie dargestellt, als unerwarteter Einbruch einer anderen Realität, der die Menschen für einen Moment aus ihrem Alltagsbewußtsein herausreißt. Bei dieser Papageienart in Genazinos Roman handelt es sich um den Kleinen Alexander- oder Halsbandsittich, und er brütet tatsächlich in westdeutschen Städten, er hat bereits in Heidelberg, Worms, Mainz, Wiesbaden, Bonn, Köln, Düsseldorf und Brühl freifliegende Kolonien gebildet, und er breitet sich weiter aus.
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Literatur Böhme, Gernot: Für eine ökologische Naturästhetik, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999. Ineichen, Stefan: Die wilden Tiere in der Stadt, Frauenfeld: Im Waldgut 2001. Kegel, Bernhard: Die Ameise als Tramp. Von biologischen Invasionen, Zürich: Ammann 1999. Kowarik, Ingo: Biologische Invasionen. Neophyten und Neozoen in Mitteleuropa, Stuttgart: Teubner 2003. Ludwig, Mario u.a.: Neue Tiere und Pflanzen in der heimischen Natur, München: BLV 2000. Müller, Wolfgang, Städtebau. Technische Grundlagen, Stuttgart: Teubner 1979. Panofsky, Erwin: Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen, Berlin: Friedenauer Presse 2002. Die Gedichte Empire of Flora, Idylle mit Rehscheuche und kleines Rasenstück sind mit freundlicher Genehmigung des Verlags dem Band: Marion Poschmann: Grund zu Schafen, Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 2004 entnommen.
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BILDLICHKEITEN MICHAEL DONHAUSER
Das Selbstbildnis des Künstlers wie auch die Bildnisse von Herrschern, hohen Geistlichen oder später Bürgern, sie geben wahrscheinlich das Bild eines Menschen, der seinen Platz im Gefüge gefunden hat und diesem auch entspricht, selbst wenn sich in manchen Gesichtszügen oder Weisen der Darstellung ein anderes Selbst oder Ich als das gezeigte zeigt – doch das entstellte Ich ist namenlos, eine Fratze, ein Bauer oder Schurke oder Gaukler, schreibe ich und denke als Ausnahme an die Märtyrer, wobei selbst die peinigendste Folter ihr Gesicht kaum je entstellt. Das Bildnis von einem Selbst oder Ich als öffentlichem, mit Zügen oder Zeichen, welche mehr verbergen als verraten, es ist jenem Versteckspiel verwandt, welches die Multiplikation des Bildnisses als Photo hervorbringt, denn dort zeigt sich ein Selbst ebenso schon und nicht, da dessen Darstellung anhand eines Bildes auch in der digitalen Bildlichkeit zwar angelegt ist, doch allein, dass diese Photos nur selten noch materiell, das heißt auf Papier entwickelt werden, deutet an, dass die Wahrnehmungsform, welche ihnen entspricht, eine Art Zappen ist. Entsprechend ist das Selbst selber ein gezapptes, ein wechselndes und durch die Häufigkeit des Wechsels fast wieder gleichbleibendes, denn dieser Wechsel dokumentiert nicht einen Prozess oder eine Veränderung außer jener vielleicht des Haarschnitts oder der zunehmenden Trunkenheit. Diese Bilder sind kurze Vergewisserungen, sie zeigen, was es als Gezeigtes dann gibt, ein Ich oder eine Party, eine Trunkenheit, welche kaum noch auf ein Selbst rekurriert, das beteiligt ist, denn jenes Selbst ist gleichsam aufgelöst in einer Bilderflut, und zwar eben nicht nur oder vor allem in einer der äußeren Welt, sondern in einer Flut von Bildern seiner selbst. Doch das bedeutet nun auch wieder nicht eine Entwertung des Bildes, denn eine solche Beurteilung orientiert sich an einem Wert, der da gar nicht mehr zur Frage steht, einem Wert also, den die klassische Photographie mit ihren unvergesslichen Aufnahmen noch beanspruchte – das Selbst ist seiner Selbigkeit als verselbständigtes enthoben. Damals, wie ich »Die Elster«1 schrieb, dachte ich so über diese Sachverhalte nicht nach, ich tat, was ich 01 Michael Donhauser: »Die Elster«, in: ders., Vom Sehen, Wien, Weil am Rhein, Basel: Urs Engeler 2004, S. 63-68. 113
MICHAEL DONHAUSER
von Anfang an getan habe, ich nahm mich als Wahrnehmenden wahr, indem ich wahrnahm, nicht vorrangig mich oder ein Du, sondern ein Drittes oder Ding, doch diesmal nicht als eine Erscheinung der Natur, sondern ich nahm ein Bild wahr – das Andere oder Dritte neben jenem Ich und jenem Mich war ein Bild als gemaltes, ein Bild von Claude Monet mit dem Titel La pie, die Elster. Das bedeutet: ich kam zu einem Bild von mir, indem ich mich in ein Bild namens La pie verlor, indem ich also weder auf ein Selbstbildnis aus war, noch das Bild gleich wieder wechselte, ich blieb stehen, wie es in dem Text manchmal heißt. Jenes Sichverlieren aber war kein Wahrnehmen als Eindringen ins Bild, es ging da nicht um eine Penetration, ich hasste alles Penetrante und vor allem eine penetrante Beschreibungsliteratur – ich blieb also vor dem Bild stehen, machte nur einen Schritt in das Bild, in die Fußstapfen im Schnee, die da zu sehen waren, das Sichverlieren blieb gleichsam an der Oberfläche, es erweiterte das Bild nur, indem es den Weg zum Bild als einen durch den Schnee imaginierte, indem es das Bild als einen Anfang, als einen Vorläufer all jener Bilder imaginierte, welche dann Die Dorfeinfahrt oder so ähnlich heißen würden – außerdem stellte ich dem Bild auch Bilder zur Seite, welche mit diesem selber nur zum Teil zu tun hatten. Doch als fast Außenstehender war ich einbezogen, ich wurde gesehen vom Bild, von der Elster im Bild, als Dastehender, als Stehengebliebener, als einer, der sich etwas Zeit lässt: und heute noch sehe ich mich, wie ich da stehe, im Musée d’Orsay oder im knöcheltiefen Schnee, und denke, dass es schön war, so stehengeblieben zu sein, nur habe ich mich überlebt, auf eine Weise, für die ich das Gegenüber nicht mehr finde, um an ihm ebendiese Weise zu erkennen. Stünde ich heute vor jenem Bild von Claude Monet, ich würde sagen, es ist eines seiner schönsten, und ginge dann weiter. Doch eine Bildlichkeit jenseits des bloß Ästhetischen oder Dokumentarischen, jenseits auch der Verbindung beider, bedarf eines Sinns, welcher allein der Wahrhaftigkeit entspringt – doch dies ist nun zu schlüssig, um ohne Erklärung auszukommen, denn wie gelingt Wahrhaftigkeit, und zwar als Bild, oder welche Bildlichkeit ist wahrhaftig? Sehr wahrscheinlich überhebe ich mich mit dieser Frage, doch dies ist wohl Teil jeder Fragestellung, die sich lohnt – Wahrhaftigkeit verdankt sich vielleicht der Berührung von Inszeniertem und Erlittenem, es ist die Wahrhaftigkeit legendenhaft, denn wie in der Legende verbindet sich in ihr Erfindung und Tatsächlichkeit, doch nicht durch Montage, sondern durch ein Ineinsfallen, welches unverfügbar bleibt, welches sich nur einstellt, wenn eine Verletzbarkeit riskiert wird. Mit Verletzbarkeit meine ich nun nicht zuerst jene, welcher sich ein Kriegsreporter aussetzt, sie ist eher dem Bild inhärent und hat ihren Grund darin, dass die Inszenierung durch das Erleiden traumatisch wird, wie dies Eleonore Duse gelungen ist, etwa
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BILDLICHKEITEN
wenn sie selbst so entleerten Stücken wie der Kameliendame wieder Sinn gab, indem sie diese erlebte und so wieder erlebbar machte. Entsprechend entspringt jedes Bild, wie jedes Gedicht, der Spannung zwischen Abstraktion und Erzählung, und trägt so das Erzählende in sich als das Erlittene, als das Zu-Erleidende – das abstrakte Gedicht aber ist leer, es kultiviert eine Leere, welche für die Fetischisten der Abwesenheit ihren Reiz hat, während das nur erzählende Gefahr läuft, die Bildlichkeit an einen Bilderreichtum zu verlieren. Eine Bildlichkeit, welche wahrhaftig ist, lässt sich allerdings auch nicht zwischen diesen angedeuteten Polen gleichsam erbasteln, sie hat ihren Grund eher in einer Demut, welche einen zögern und leben und warten und arbeiten lässt – denn dann allein auch zeigt sich ein Selbst, welches nicht das wahre ist im Gegensatz zum gesellschaftlich bedingten oder durch Bilder verstellten, sondern welches insofern wahrhaftig ist, als es teilhat an der Wahrheit des Menschseins, diese aber nicht als verfügbare beansprucht.
Literatur Michael Donhauser: Vom Sehen, Wien, Weil am Rhein, Basel: Urs Engeler 2004.
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BILD, MENTALES BILD UND SELBSTBILD. EINE BEGRIFFLICHE ANNÄHERUNG KLAUS SACHS-HOMBACH … wie wir uns selbst sehen wollen, das gibt uns Kraft … (Uwe Timm: Rot) 1. Einleitung | 2. Enger und weiter Bildbegriff | 3. Was sind mentale Bilder? | 4. Was ist bildhaft am Selbstbild? | 5. Fazit und Ausblick
1. Einleitung Die folgenden Ausführungen verstehen sich als philosophische Analysen des Bildbegriffs bzw. einiger gegenwärtig wichtiger Bildbegriffe. Sie sind daher einem Bereich zuzuordnen, der als Philosophie der Bildwissenschaft oder auch als Bildphilosophie bezeichnet werden könnte. Insofern sie damit einen von kunstgeschichtlichen Bildanalysen sehr unterschiedlichen Fokus haben, können sie auch in keiner Weise in Konkurrenz zur kunstgeschichtlichen Arbeit stehen. Im Gegenteil sollte es möglich sein, dass sich philosophische (um die Klärung von Begriffen bemühte) und kunsthistorische (um die Klärung von konkreten Werken bemühte) Analysen im Bildbereich gegenseitig befruchten. Die zuweilen von kunsthistorischer Seite geäußerte, sachlich nicht immer qualifizierte und auf jeden Fall der Verständigung wenig hilfreiche Kritik der Versuche, eine allgemeine Bildwissenschaft zu entwickeln, erstaunt daher insbesondere angesichts der Tatsache, dass die Interdisziplinarität der Bildforschung1 ganz unstrittig ist,2 systematische Vorschläge, wie eine interdisziplinäre Bildforschung organisiert werden kann, aber bisher weitgehend fehlen.
01 Vgl. Klaus Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildwissenschaft, Disziplinen, Themen und Methoden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005. 02 Vgl. Klaus Sachs-Hombach: Wege zur Bildwissenschaft. Interviews, Köln: Halem Verlag 2004. 116
BILD, MENTALES BILD UND SELBSTBILD
Um den theoretischen Hintergrund meiner Überlegungen zu verdeutlichen, möchte ich mit einigen Vorbemerkungen beginnen, die das Verfahren betreffen, das mit der Klärung und Begründung begriffsreflexiver Aussagen verbunden ist (2). Erst nach diesen (für ein angemessenes Verständnis der weiteren Ausführungen notwendigen) Vorklärungen werde ich auf die beiden weiteren im Titel genannten Begriffe eingehen, nämlich auf den Begriff des mentalen Bildes (3) und auf den Begriff des Selbstbildes (4). Die recht knappen abschließenden Bemerkungen gelten dem Verhältnis von Selbstbild und Bild (5). Insgesamt intendiert mein Beitrag, die begrifflichen Zusammenhänge zwischen diesen unterschiedlichen Bildbegriffen und Bildphänomenen zu verdeutlichen. Wenn ich dabei zu dem Schluss kommen werde, dass der Ausdruck »Selbstbild« nur im metaphorischen Sinne ein Bildphänomen meint, so ist natürlich weder die Existenz dieses Phänomens noch seine Bedeutung für die personale Entwicklung in Frage gestellt, sondern lediglich etwas über seine spezifische Beschaffenheit gesagt, was mir für die empirische Forschung aber durchaus von Interesse zu sein scheint.
2. Enger und weiter Bildbegriff Der Ausdruck »Bild« wird bekanntlich in überaus vielfältiger und heterogener Weise verwendet. Entsprechend ist von metaphysischen, linguistischen, ethischen, kognitionswissenschaftlichen, informationstechnischen oder ästhetischen Bildbegriffen gesprochen worden.3 Die jeweiligen Phänomene, auf die sich diese Begriffe beziehen, könnten als ontische, sprachliche, ethisch-normative, mentale, informatische und materielle Bilder bezeichnet werden. Der metaphysische Bildbegriff (bzw. der Begriff des ontischen Bildes) ist etwa in der platonischen Ideenlehre als spezielle Teilhabebeziehung entwickelt worden. Für sprachliche Bilder gilt das Phänomen der Metapher als paradigmatisch. Der Begriff mentaler Bilder meint im Wesentlichen anschauliche Vorstellungen und spielt eine zentrale Rolle in kognitionswissenschaftlichen Repräsentationstheorien. Bei ethisch-normativen Bildern ist vor allem an Aspekte gedacht, wie sie in der Rede vom Menschenbild oder vom Vorbild bzw. Leitbild, aber auch im Begriff der Bildung zum Ausdruck kommen. Als informatische Bilder werden Datenstrukturen mit entsprechender Pixelmatrix angesprochen. Materielle oder, wie ich sie im Folgenden nenne, externe Bilder lassen sich schließlich als Bilder im engeren Sinne bezeichnen und nach Bildtypen in darstellende Bilder (etwa Illustrationen), logische 03 Vgl. Jakob Steinbrenner & Ulrich Winko (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, Paderborn: Schöningh 1997, 18ff. 117
KLAUS SACHS-HOMBACH
Bilder bzw. Strukturbilder (etwa Diagramme) und reflexive Bilder (insbesondere die Kunstbilder) weiter differenzieren. Alltagssprachlich verwenden wir für alle diese und weitere Fälle den Ausdruck »Bild«. Das heißt aber sicherlich nicht, dass alle Fälle gleichermaßen Gegenstand einer Bildwissenschaft sind. So wird niemand ernsthaft behaupten wollen, dass ein Briefkopf allzu viel mit Köpfen von Lebewesen zu tun hat und vielleicht gar Gegenstand der Zoologie oder der Anatomie sein sollte. Metaphorische Übertragung zählen zu den Eigentümlichkeiten natürlicher Sprachen und sind zu einem guten Teil für deren Leistungsfähigkeit verantwortlich. Im Bereich der Wissenschaft ist es aber notwendig, den Gegenstandsbereich relativ genau zu bestimmen bzw. einzugrenzen. Damit werden diejenigen Bereiche ausgegliedert, die in nur metaphorischer Weise mit dem thematischen Ausdruck verbunden sind. Ob es erstrebenswert und möglich ist, im wissenschaftlichen Diskurs ganz auf Metaphern zu verzichten, ist noch eine andere, nur sehr schwierig zu beantwortende Frage. Wenn aber schon bei der Gegenstandsbestimmung eine Unterscheidung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Redeweisen nicht getroffen wird oder nicht möglich ist, so scheint mir das mit Recht den wissenschaftlichen Status der entsprechenden Disziplin in Frage zu stellen. Im Falle der Bildwissenschaft sind die Fragen zur Gegenstandsbestimmung insofern in besonderer Weise problematisch, als es etliche Fälle gibt, bei denen eine Entscheidung sehr kontrovers diskutiert wird. Insbesondere ist bei den so genannten mentalen Bildern umstritten, in welcher Weise sie überhaupt Bilder sind. In meiner Konzeption einer Allgemeinen Bildwissenschaft4 hatte ich daher vorgeschlagen, dass es auf Grund der noch ungeklärten Probleme pragmatisch aussichtsreicher ist, von einem speziellen, möglichst unproblematischen Bereich auszugehen, also zunächst einen speziellen Bildbegriff zu entwickeln, und dann, nach den nötigen Überprüfungen, eine sukzessive Integration weiterer Bereiche anzustreben. Es liegt hierbei nahe, auf den Bereich der externen Bilder zurückzugreifen, da zum einen ihre Existenz unproblematisch ist und wir zum anderen auf eine bereits umfangreiche Beschäftigung mit diesen Bildern (etwa innerhalb der Kunstgeschichte) zurückgreifen können. Neben den künstlerischen Bildern zählen zu dieser Klasse bildhafter Darstellungen vor allem alle Arten von Gebrauchsbildern. Bilder in diesem Sinn lassen sich in erster Annäherung als flächige und zumeist klar begrenzte physische Objekte charakterisieren, die in der Regel innerhalb ei-
04 Vgl. Klaus Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003. 118
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nes kommunikativen Aktes zur anschaulichen Darstellung realer, fiktiver oder abstrakter Gegenstände bzw. Sachverhalte dienen. Die lediglich pragmatisch motivierte Empfehlung, von einem speziellen Bildphänomen auszugehen, lässt sich mit der Unterscheidung zwischen engen und weiten Begriffen verdeutlichen. Der Begriff des externen Bildes ist ein enger Bildbegriff. Es gibt aber viele mit »Bild« angesprochene Phänomene, die keine Bilder im engen Sinne sind, deren Bezeichnung aber gleichwohl nicht (nur) einer metaphorischen Übertragung entstammen. So bezeichnete das heute weniger gebräuchliche Wort »Bildwerk« auch Skulpturen oder Werke der Architektur. Zwar gibt es einen offensichtlichen Unterschied zwischen einer Skulptur und einem Bild im engeren Sinne, beide Phänomene sind aber verwandt5 und daher durchaus mit Recht in der traditionellen Kunstgeschichte und im Bereich der bildenden Kunst zusammengeordnet worden.6 Entsprechend ließen sich Argumente anführen, dass auch ›Wolkenbilder‹ oder ›Weltbilder‹ nicht nur metaphorisch zu verstehen sind und daher ebenfalls Gegenstand der Bildwissenschaft sein sollten. Um diesen Phänomenen gerecht zu werden, ließe sich hier von Bildern im weiten Sinne sprechen. Es wären also drei Bereiche zu unterscheiden: Phänomene im engen, im weiten und im metaphorischen Sinne. In meinen weiteren Ausführungen werde ich plausibel zu machen versuchen, dass externe Bilder Bilder im engen Sinne sind, mentale oder interne Bilder Bilder im weiten Sinne und Selbstbilder schließlich Bilder im metaphorischen Sinne. Die Ausarbeitung der Gründe für eine derartige Strukturierung des Phänomenbereichs »Bild« erachte ich als eine der Aufgaben einer allgemeinen Bildwissenschaft. Hierbei ist wichtig zu sehen, dass der Ausdruck »allgemein« nicht (oder nicht nur) im Sinne eines möglichst weiten Gegenstandsbereichs verstanden werden sollte. Wichtiger als die Extension (Umfang) ist die Intension (Inhalt oder Gegebenheitsweise) dieses Ausdrucks. Daher fiele die kunstgeschichtliche Forschung selbst nach einer Ausweitung ihres Gegenstandsbereichs auf bisher vernachlässigte Phänomenbereiche nicht mit einer allgemeinen Bildwissenschaft zusammen. Vielmehr ist es entscheidend, zudem die Fragestellung, die eine allgemeine Bildwissenschaft verfolgt bzw. verfolgen sollte, so zu fassen, dass es nicht mehr primär um einzelne Bilder oder Bildtypen geht, sondern um das, was als Bildfähigkeit oder Bildkompetenz bezeichnet wer05 Wie diese ›Verwandtschaft‹ konkret zu denken ist, wäre freilich noch genauer zu klären. Mein Vorschlag hierzu lautet, dass die wahrnehmungsnahe Rezeption das Verwandtschaft stiftende Merkmal liefert. Siehe hierzu die Ausführungen weiter unten. 06 Dies scheint sich gegenwärtig zu ändern. In Metzlers 2003 erschienenen Lexikon Kunstwissenschaft findet sich beispielsweise weder ein Artikel zur Architektur noch zur Skulptur. 119
KLAUS SACHS-HOMBACH
den könnte und jeder konkreten Bildverwendung immer schon voraus liegt. Natürlich ist die Analyse einzelner Bildverwendungssituationen zur Klärung der Bildfähigkeit hilfreich, aber in der Regel doch nur im Sinne einer vergleichenden, auf die Gemeinsamkeiten der speziellen Phänomene abzielenden Untersuchung. Das Verhältnis von engen und weiten Begriffen lässt sich am besten an einem einfachen Beispiel verdeutlichen, für das ich den Relationsausdruck »ist Bruder von« gewählt habe. Eine mögliche Definition, mit der »Bruder im engen Sinne« bestimmt wird, lautet: x ist Bruder von y dann und nur dann, wenn (1) x ein Mensch ist, (2) x dieselben Eltern wie y hat und (3) x männlich ist. Damit ist Brudersein im engen Sinn als eine spezielle Familienbeziehung definiert. Dieses Phänomen kann dann als Kernbereich gelten. Natürlich gibt es viele verwandte Redewendungen, die damit ausgeschlossen werden, etwa »Blutsbruder«, »Klosterbruder«, »Brudergemeinde« oder auch »Brüderlichkeit«. Ein Begriff im weiten Sinne, möchte ich vorschlagen, würde nun jene Phänomene umfassen, die nicht alle, aber zumindest ein wesentliches Merkmal mit den Phänomenen des Kernbereichs gemeinsam haben. Das betrifft etwa die Übertragung in den außermenschlichen Bereich (wenn wir von Geschwisterbeziehungen bei Haustieren reden und damit die erste Bedingung aufgeben) oder die Übertragung auf Freundschaftsbeziehungen (wenn wir von Blutsbrüdern reden und damit die zweite Bedingung aufgeben).7 Die dritte Gruppe der uneigentlichen Redeweisen entstehen schließlich durch Übertragung kontingenter Begriffsmerkmale. So ist eine Brudergemeine eine bestimmten Verhaltensnormen verpflichtete Gemeinschaft. Diese Verhaltensnormen und die entsprechenden Verhaltensweisen mögen unter Brüdern häufig anzutreffen sein, sind aber für das Bruder-Sein im engen Sinne kontingent und damit zur Bestimmung des Kernbereichs irrelevant. Begriffliche Klärungen oder Bestimmungen sollten – um ein mögliches Missverständnis vorweg auszuräumen – nicht als gewaltsame Festschreibung kulturell variabler Größen verstanden werden. Obschon für unser Beispiel schwer vorstellbar, mag es Kulturen geben, die das sprachliche Äquivalent zu »Bruder« ganz anders verstehen und sogar hinsichtlich der geschlechtlichen Bestimmung indifferent sind. Insofern sind alle
07 Die Formulierung »wesentliches Merkmal« ist natürlich ungenau, insofern bleibt diese Unterscheidung vage. In unserem Beispiel wird »männlich« als wesentliche Bedingung für »ist Bruder von« angesehen. Warum kann diese Bedingung nicht aufgegeben werden? Hier wirken sprachliche Intuitionen. Sie legen eine Hierarchie der Begriffsmerkmale nahe, die nicht logisch motiviert, sondern vermutlich Ausdruck kulturell geprägter, lebensweltlich verankerter Ordnungsstrategien ist. 120
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begrifflichen Festlegungen prinzipiell auf kulturelle Vorgaben bezogen.8 Aber es gibt ohnehin keine wahren Definitionen. Definitionen sind überhaupt weder wahr noch falsch, sondern angemessen oder unangemessen. Begriffsbestimmungen insgesamt regeln primär unsere Sprachpraxis. Dabei orientieren sie sich an der Alltagssprache und an den damit verbundenen Intuitionen. Ihre Aufgabe in wissenschaftlichen Kontexten besteht darin, diese Intuitionen und die damit verbundenen Implikationen zunächst genauer zu explizieren und auf interne Konsistenz und auf Kohärenz mit verwandten Bestimmungen zu überprüfen. Da nicht selten verschiedene Sprecher widersprüchliche Intuitionen haben, erfolgt in einem zweiten Schritt eine kritische Revision, bei der komplexere Einigungsverfahren zur Hilfe genommen werden müssen. Letztlich entscheidet hierbei der Nutzen, den eine Bestimmung relativ zu einem bestimmten Kontext und Zweck gewährt. Oft sind es dann wissenschaftsinterne, innersystematische Vorgaben, die eine Abweichung von der alltagssprachlichen Verwendung nahe legen bzw. erforderlich machen. Entsprechend hat sich beispielsweise die begriffliche Bestimmung von Walen und Delphinen geändert, die wir heute in wissenschaftlicher Perspektive nicht mehr, wohl aber umgangssprachlich noch als Fische bezeichnen. Übertragen wir die Anmerkungen zur Begriffsbestimmung auf den Bildbereich, dann ist, so möchte ich vorschlagen, ein Gegenstand ein Bild im engen Sinne, sofern er (1) flächig, artifiziell sowie relativ dauerhaft ist und (2) visuell-wahrnehmungsnah rezipiert wird. Diese verwendungstheoretische Bestimmung des Bildbegriffs9 beschreibt, was wir üblicherweise als den Kernbereich der externen Bilder ansehen, also beispielsweise Gemälde in Museen, Urlaubsfotos, Abbildungen in Illustrierten, Pressefotografien oder auch diagrammatische Darstellungen in Lehr-
08 Das ist aber nicht weiter problematisch, da die empirischen Forschungen zunächst auf ein Verständnis der in unserer Kultur anzutreffenden Phänomene abzielen. Haben wir es mit fremden Kulturen oder mit kulturvergleichenden Fragestellungen zu tun, dann muss natürlich erneut geprüft werden, inwiefern sich die Sprachgebräuche unterscheiden und eine Änderung bzw. Verallgemeinerung der begrifflichen Instrumente erforderlich machen. 09 Verwendungstheoretisch ist die Bestimmung auf Grund der zweiten Komponente. Fast alles kann demnach Bild sein, wenn es nur entsprechend rezipiert wird. Dieser Bildbegriff ist demnach ein funktionaler Begriff. Eine präzise Definition müsste allerdings sehr viel genauer verfahren und den Bildbegriff als mehrstelligen Relationsbegriff einführen, so dass ein Gegenstand G ein Bild ist, sofern ein Verwender V ihm zu einem Zeitpunkt Z relativ zu dem zugehörigen Symbolsystem S eine zumindest teilweise perzeptuell konstituierte Bedeutung B zuschreibt. 121
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büchern. Sie müsste natürlich noch ausführlicher begründet werden,10 grundsätzlich stimmt sie meines Erachtens aber mit dem üblichen Sprachgebrauch überein. Ein weiter Bildbegriff ergibt sich nun, wenn die Bedingungen unter (1) aufgegeben werden. Ein Gegenstand ist demnach ein Bild im weiten Sinne schon dann, wenn er visuell-wahrnehmungsnah rezipiert wird. Als solche Bilder im weiten Sinne können auch Skulpturen oder Wolkenbilder gelten. Die wesentliche Bedingung, die sie aber mit den Phänomenen des Kernbereichs teilen müssen, ist die wahrnehmungsnahe Rezeption. Diese ließe sich folgendermaßen präzisieren: Ein Gegenstand wird wahrnehmungsnah rezipiert, wenn er (A) auf Grund seiner intrinsischen Struktur und (B) relativ zu unserer Wahrnehmungskompetenz interpretiert wird.11 Bilder im nur metaphorischen Sinne sind schließlich diejenigen Phänomene, die keine der begrifflichen Merkmale des Kernbereichs mehr aufweisen und die insbesondere nicht oder nicht mehr auf die wesentliche Bestimmung, nämlich die wahrnehmungsnahe Rezeption, bezogen sind. Es ist eine durchaus interessante Frage, warum sich dennoch die metaphorischen Übertragungen und Verschiebungen im Sprachgebrauch ereignet haben. Es mag etwas mit den Phänomenen selbst zu tun haben. So zeichnet sich ja auch der Briefkopf dadurch aus, immer am oberen Rand der Seite zu sein. Diese Analogie zu speziellen Lebewesen, die aufrecht gehen und deren Köpfe sich am oberen Ende des Organismus befinden, ist aber für wissenschaftliche Zwecke unerheblich. Die Frage, die ich im weiteren Verlauf des Aufsatzes beantworten möchte, lautet nun: Wie sind die Begriffe »mentales Bild« und »Selbstbild« nach dem vorgeschlagenen Verfahren zu verstehen bzw. einzuordnen?
3. Was sind mentale Bilder? Als mentale Bilder werden teilweise die anschaulichen Vorstellungen bezeichnet, teilweise die subpersonalen Repräsentationen, auf denen anschauliche Vorstellungen beruhen. Ich möchte den Vorschlag machen, diese beiden Möglichkeiten nicht als Alternativen zu denken, sondern als zwei Seiten derselben Sache. Mentale Bildern sind dann insofern Bilder, als die subpersonalen Repräsentationen einen Bildträger liefern, die phä10 Vgl. hierzu K. Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 73ff. 11 Vgl. hierzu ausführlicher ebenfalls K. Sachs-Hombach: Das Bild als kommunikatives Medium, S. 88ff. 122
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nomenalen Anschauungen dagegen den Inhalt, der, wie bei externen Bildern, einen psychischen Prozess zur Voraussetzung hat und einen eigenen Status als intentionales Objekt besitzt. Das heißt, dass die letztlich neurophysiologisch realisierten Grundlagen imaginativer Prozesse nicht für sich schon Bilder sind, sondern zu Bildern werden durch ihre Einbettung in die entsprechenden Interpretationsprozesse, bei denen dann, gemäß des vorgeschlagenen Bildbegriffs, eine perzeptuelle Komponente wesentlich ist.12 Das entscheidende Problem liegt nun offensichtlich darin, inwiefern innerpsychische Prozesse oder gar neurophysiologische Prozesse eine perzeptuelle Komponente aufweisen können, denn der Ausdruck »Perzeption« wird nach dem üblichen Sprachgebrauch nur Lebewesen zugesprochen und nicht bereits deren Teilsystemen. Der Gedanke, die Explikation des Begriffs interner Bilder stärker an den Begriff der externen Bilder anzulehnen, ist in der so genannten Imagery Debate13 seit den 1980er Jahren intensiv diskutiert worden. Unter den begrifflichen Argumenten, die die Annahme mentaler Bilder auf Grund von Konsistenzerwägungen kritisierten, hatte sich dabei ein Argu12 Innerhalb der Kognitionswissenschaft wurden mentale Bilder oft unabhängig von ihren Verwendungszusammenhängen definiert. So schreibt Steven Kosslyn, der als wichtigster Vertreter der Piktorialisten gilt (wie diejenigen genannt werden, die einen separates Repräsentationsformat für mentale Bilder annehmen): »Images are patterns formed by altering the state of local regions in the internal spatial medium.« (Steven Kosslyn: Image and Mind, Cambridge (MA): Harvard University Press 1980, S. 33) Wichtig ist nach Kosslyn hierbei vor allem, dass strukturelle Isomorphiebeziehungen zwischen den mentalen Repräsentationen und dargestellten Objekten bestehen, der Bezug zum Objekt also nicht arbiträr ist und mentale Bilder beispielsweise immer eine entsprechende Perspektive und Größe besitzen. 13 In der Imagery Debate stehen sich Deskriptionalisten und Piktorialisten gegenüber: Während die Deskriptionalisten die Ansicht vertraten, dass unser kognitives System Information nur im propositionalen Zustand verarbeitet und anschauliche Vorstellungen bei Bedarf aus Beschreibungen erzeugt werden, behaupteten die Piktorialisten, dass es mindestens zwei Repräsentationsformate gibt, ein propositionales und ein piktoriales, und dass letzterem eine mitunter entscheidende kognitive Funktion zukommt. Bekannt geworden als empirische Evidenz sind die Rotationsexperimente von Shepard und Mitarbeitern (vgl. Roger N. Shepard and Lynn A. Cooper: Mental Images and Their Transformations, Cambridge (MA): MIT Press 1982). Ein umfassendes, experimentell gestütztes Modell, das propositionale zugunsten piktorialer Repräsentationen zurückstellt, hatte erstmals Kosslyn vorgestellt (vgl. Steven Kosslyn: Image and Mind, 1980). Vgl. insgesamt auch Klaus Sachs-Hombach: Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen, Amsterdam: Rodopi 1995 und vor allem den ausgezeichneten Überblick auch der neuen Entwicklungen dieser Diskussion bei Verena Gottschling: Bilder im Geiste. Die Imagery-Debate, Paderborn: Mentis 2003. 123
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ment ausgezeichnet, das sich gegen genau diese Analogie richtete. Es läuft auf ein Homunculus-Problem hinaus und kann als Argument gegen das geistige Auge bezeichnet werden. Für den weiteren Verlauf der Überlegungen ist eine kurze Darstellung dieses Argumentes hilfreich. Das Argument zum geistigen Auge besagt, dass die Annahme mentaler Bilder im Sinne ›realer‹ Bilder die Annahme eines mentalen Auges (mind’s eye) erfordert. Dies ist jedoch – wörtlich verstanden – eine absurde Annahme. Vor allem aber ergibt sich ein infiniter Regress, weil das innere Auge (und der innere Sinn allgemein) ein eigenes Verarbeitungsoder Interpretationssystem benötigen würde, das seinerseits wiederum ein Auge besitzen müsste. Daher können nach diesem Argument die so genannten mentalen Bilder keine Bilder sein. Das entscheidende Gegenargument läuft darauf hinaus, dass auch diejenigen Theorien, die eine propositionale Grundlage unserer imaginativen Kompetenzen annehmen, begreiflich machen müssen, wie interne Repräsentationen ›gelesen‹ und ›interpretiert‹ werden. Die Annahme, dass interne Repräsentationen satzartig sind, beseitigt das Problem interner Interpretationsprozesse also auch nicht. Sie mag uns nur plausibler erscheinen, solange wir die entsprechenden Prozesse in einem Computer als Paradigma nehmen. Die Reichweite des Argumentes zum geistigen Auge (bzw. der Kritik an ihm) zeigt sich, wenn der Begriff des primitiven Prozessors einbezogen wird.14 Ein primitiver Prozessor zeichnet sich dadurch aus, dass er nur nomologisch beschrieben werden kann. Fragen wir etwa, wie eine Maschine multipliziert, dann lässt sich noch auf der Programmebene durch die Angabe einer Regel antworten: Indem sie entsprechend häufig die eine Zahl zu sich selbst addiert. Auf die Frage, wie die Maschine addiert, ist aber nur noch der Verweis auf die elektrischen Mechanismen möglich. Diese Ebene liegt der Programmebene zugrunde und kann auf sehr unterschiedliche Weisen realisiert werden. Weil die einzelnen Prozesse hier nach den in der Hardware fest installierten Vorgaben ablaufen, brauchen wir keine weiteren ›Augen‹ anzunehmen, um die Informationsverarbeitung verständlich zu finden. Das heißt nun aber, dass – anders als der Funktionalismus angenommen hatte – den jeweiligen Weisen der neurophysiologischen Realisierung die entscheidende Rolle innerhalb der Imagery Debate zukommt. Für unser zu Beginn des Abschnitts festgestelltes Problem läuft das darauf hinaus, dass spezifische neurophysiologische Verarbeitungsprozesse als wahrnehmungsanalog aufgefasst werden müssen, wenn mentale Bilder wirklich als Bilder gelten sollen.
14 Vgl. Ned Block: »Mental Pictures and Cognitive Science«, in: Philosophical Review 92 (1983), S. 499-541. 124
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Klar ist auf jeden Fall, dass mentale Bilder damit keine Bilder im üblichen Sinne sind und daher nicht als Bilder im engen Sinne gelten können. Die Berechtigung, sie als Bilder anzusehen, ergibt sich erst aus den bildtypischen Prozessen, die mit der entsprechenden neurophysiologischen Realisierung verbunden sind. Um diesen Sachverhalt auszudrücken, hatte Kosslyn den Begriff des funktionalen Bildes geprägt. Die prinzipielle Möglichkeit funktionaler Bilder hat Ned Block mit dem Beispiel der Rotation einer Linie veranschaulicht:15 Nehmen wir an, dass ein räumliches Feld in einer Region des visuellen Kortex durch Spannung und Stromstärke repräsentiert wird. Eine Linie lässt sich dann bildhaft repräsentieren, wenn an verschiedenen Punkten dieser Region die Spannung die Entfernung vom Nullpunkt und die Stromstärke den Winkel der Linie angibt. Das elektrische Feld bildet so eine Matrix, die eine unbewegte Linie repräsentiert, solange beide Werte konstant bleiben. Ändert sich lediglich die Spannung an einigen Punkten, entsteht eine unterbrochene Linie, ändert sich dagegen die Stromstärke allmählich und an allen Punkten gleichmäßig, dann entsteht eine langsame Rotation der Linie, weil die Stromstärke ja den Winkel angibt. Dies Beispiel zeigt also, wie etwas als Bild funktionieren kann, ohne selbst ein externes Bild im üblichen Sinn zu sein. Im Kortex dreht sich ja nichts, dennoch repräsentiert die Operation eine Drehung und kann entsprechend auch als Drehung erlebt werden. Entscheidend ist folglich nicht, ob die Bilderträger mentaler Bilder, in diesem Fall bestimmte Zellregionen mit entsprechenden elektrochemischen Eigenschaften, alle Merkmale der Bildträger externer Bilder besitzen, sondern nur, ob sie Operationen erlauben, die wir, an externen Symbolen vollzogen, als typisch bildhaft ansehen würden. Dies sind insbesondere die Prozesse, mit denen Informationen nicht über einen Code vermittelt, sondern dem Repräsentationsmedium selbst in direkter Weise entnommen werden. Zum besseren Verständnis ist eine Erläuterung des wirkungsgeschichtlich wichtigen computerbasierten Modells von Kosslyn hilfreich (vgl. Abb. 1). Der visuelle Arbeitsspeicher, ein bildspezifischer Interpretationsmechanismus und der Langzeitspeicher bilden drei wesentliche Komponenten des Modells, für die Entsprechungen auf kognitiver Ebene angenommen werden. Wie die Eigenschaften dieser drei Komponenten die besonderen Qualitäten der auf dem Bildschirm erscheinenden Bilder bestimmen, so sind auch die analogen kognitiven Komponenten für die Beschaffenheit der anschaulichen Vorstellungen verantwortlich. Ein kognitiver visueller Arbeitsspeicher wird beispielsweise dafür verantwortlich gemacht, dass bestimmte Begrenzungen im aktuellen Vorstellungs-
15 Vgl. ebd. 125
KLAUS SACHS-HOMBACH
bild bestehen. Entsprechend gibt es Untersuchungen über die Größe, Form und Auflösung unseres Vorstellungsfeldes.16 Abbildung 1: Schematische Darstellung des Modells von Kosslyn
Quelle: Kim Sterelny: »The Imagery Debate«, in: Philosophy of Science 53 (1986), S. 560-583, hier: 564 Die Diskussion um den Status der mentalen Bilder hat sich in jüngerer Zeit insbesondere auf das Verhältnis von Wahrnehmung und mentaler Bildlichkeit konzentriert und in den Bereich der Neurophysiologie verschoben.17 Hierbei wird davon ausgegangen, dass es gute Gründe für die Annahme partieller Übereinstimmungen von Perzeption und Imagination gibt. Diese empirisch überprüfbaren Beziehungen betreffen die Repräsentationsformate, die Verarbeitungsprozesse und schließlich die beteiligten Gehirnareale. Es liegt nun nahe, mentale Bilder in dem Maße als Bilder anzusehen, in dem sie von denselben Prozessen verarbeitet werden, die für unsere Wahrnehmungen relevant sind. Das läuft neurophysiologisch auf die Frage hinaus, in welchen Gehirnarealen mentale Bilder lokalisiert werden können. Die Bildträger mentaler Bilder sind dem Gesagten zufolge die Neuronen im visuellen Kortex, deren Aktivitätsmuster (zumindest für topografische Informationen) der Struktur der Retina isomorph sind. Um nun eine genauere Konzeption mentaler Bilder zu erhalten, wird gegenwärtig detailliert untersucht, mit welchen speziellen Aspekten der visuel16 Vgl. Roland A. Finke: Principles of Mental Imagery, Cambridge (MA): MIT Press 1989, S. 29ff. 17 Vgl. Steven Kosslyn: Image and Brain, Cambridge (MA): MIT Press 1996. Vgl. auch Verena Gottschling: »Mental Pictures: Pictorial? Perceptual?«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Anwendung und Reflexion, Köln: Herbert von Halem Verlag, 2005, S. 299-316. 126
BILD, MENTALES BILD UND SELBSTBILD
len Wahrnehmung mentale Bilder korrespondieren. Hierzu unterscheidet die neurophysiologische Wahrnehmungsforschung im Anschluss an David Marrs Wahrnehmungstheorie üblicherweise drei Ebenen: Im primären visuellen Kortex erfolgen low-level Verarbeitungen sehr elementarer Aspekte, wie z.B. der Kantenerkennung. Oberflächeneigenschaften oder Informationen zur perspektivischen Gestalt finden sich auf einer mittleren Ebene in den so genannten extrastriären Arealen. Die Objekterkennung ist schließlich einer high-level Verarbeitung im infratemporalen Kortex vorbehalten, in dem Informationen zu Objekten (etwa Teil-Ganzes-Informationen) unabhängig von Betrachterstandpunkt gespeichert werden. Diese obere Ebene enthält vor allem Konzeptualisierungen, die sich als strukturierte Beschreibungen charakterisieren lassen. Sollte sich herausstellen, dass die Prozesse zur Verarbeitung mentaler Bilder wesentlich durch diesen Bereich beeinflusst werden, dann ist zu vermuten, dass sie bildhaft eher im metaphorischen Sinne sind. Die Piktorialisten tendieren daher dazu, mentale Bilder mit den Aktivierungsmustern im primären visuellen Kortex zu identifizieren. Das würde aber vermutlich nicht alle Arten mentaler Bildlichkeit umfassen. Viele Phänomene mentaler Bilder scheinen anspruchsvoller zu sein, so dass sie Verarbeitungsprozesse zumindest der extrastriären Areale, vermutlich sogar der highlevel Aspekte (also konzeptuelle Interpretationen) einschließen.18 Mentale Bilder müssten dann bereits als interpretierte Einheiten gelten, die beispielsweise eine nachträgliche Neuinterpretation (etwa bei Vexierbildern) erheblich erschweren. Wahrscheinlich ist nach dem Gesagten, dass mentale Bilder eine Mischform darstellen, in der sensorische Daten immer in mehr oder weniger interpretierter Form vorliegen. Ausgehend von Kosslyns Modell ist dann zu fragen, in welchem Ausmaß die sensorischen Repräsentationen von high-level Informationen abhängen und bestimmt werden. Wie diese Antwort auch immer ausfällt, die derzeitigen Befunde lassen es unwahrscheinlich erscheinen, dass mentale Bilder in einem anspruchsvollen Sinn als Bilder im engen Sinn verstanden werden können. Insofern aber eine Beziehung zu den für die Wahrnehmung wichtigen Verarbeitungsmechanismen im primären visuellen Kortex weiterhin eine wichtige Rolle spielt, können sie als Bilder im weiten Sinne gelten.
18 Diesen Standpunkt vertritt Verena Gottschling. Vgl. als Zusammenfassung hierzu Verena Gottschling: Mental Pictures, S. 312ff. 127
KLAUS SACHS-HOMBACH
4. Was ist bildhaft am Selbstbild? Während sich gute Gründe anführen lassen, mentale Bilder als Bilder im weiten Sinn anzusehen, sind Selbstbilder, wie ich nun abschließend plausibel machen möchte, Bilder lediglich in einem metaphorischen Sinn. Wie das Vorbild besitzt das Selbstbild zwar einen normativen Aspekt, der vermutlich unsere Rede vom Selbstbild veranlasst hat und bei einigen Bildern, denen es um eine idealisierende Darstellung geht, auch wichtig ist. Für die Bestimmung des Bildbegriffs liefert der normative Aspekt aber lediglich ein kontingentes Merkmal. Ich setze hierbei voraus, dass mit »Selbstbild« kein externes Bild im Sinne eines Selbstbildnisses gemeint ist. Ein Selbstbildnis ist natürlich ein Bild im engeren Sinn. Um Bilder im engen Sinne handelt es sich ebenfalls bei denjenigen physischen Bildern, denen wir einen exemplarischen Charakter zuschreiben und beispielsweise als Selbstbild einer bestimmten Gesellschaft auffassen. Selbstbilder in diesem Sinne sind wie auch Selbstbildnisse spezielle Klassen von Bildern im engen Sinne, deren Bildstatus ganz unstrittig ist. Den Ausdruck »Selbstbild« verwenden wir aber auch im Sinne eines mentalen Phänomens, im Sinne einer Vorstellung, die wir von uns selbst haben bzw. uns machen. Für die Selbstbilder in diesem Sinne scheint mir nun zu gelten, dass sie Bilder im nur metaphorischen Sinne sind, weil sie wesentlich aus sprachlich formulierten Einschätzungen und Maximen bestehen. Für sie ist kennzeichnend, dass sie einen idealisierten Ist-Zustand festhalten und deshalb die Möglichkeit einschließen, falsch oder verzerrt zu sein. Insofern eine solche Charakterisierung aber eher für sprachliche Darstellungen zutreffend ist, sind diese Selbstbilder, so meine These, zwar spezielle mentale Phänomene, aber keine mentalen Bilder. Sie enthalten höchstens als einen Teil die so genannten internen Körperbilder, die auf das Aussehen der eigenen Person bezogene mentale Bilder sind, sich aber nicht mit dem Selbstbild decken. Wenn wir von jemandem sagen, er habe ein positives Selbstbild, dann meinen wir entsprechend, dass seine Selbsteinschätzung positiv ist und er sich beispielsweise für einen mutigen und aufgeschlossenen Menschen hält, ganz unabhängig davon, welche visuelle Vorstellung er sich von seinem Körper oder gar von seinem Äußeren macht. Der Grund, dass wir diese Überzeugungen umgangssprachlich dennoch als Selbstbild ansprechen, ergibt sich aus Aspekten, die wir bei Bildern zuweilen antreffen, die aber für Bilder keine notwendigen, sondern eher zufällige Eigenschaften darstellen und ebenso bei sprachlichen Zeichen auftreten. Zu diesen Aspekten zählt die Totalität der Repräsentation (die alle für relevant gehaltenen Aspekte einer Person umfasst), die be-
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BILD, MENTALES BILD UND SELBSTBILD
sondere Gestalt des Zusammenhangs (der ›Idee‹ mit der eine Person sich auf dem Hintergrund sozialer Vorgaben als individuelle Gestalt konstituiert) und schließlich die Normativität, die das Selbstbild als Idealbild erscheinen lässt. (In ähnlicher Weise reden wir vom Bild der Wissenschaft oder dem Bild eines Jahrhunderts.) Dass sich die Aspekte Totalität, Gestalt und Normativität bei idealisierenden Bildern finden, hat die metaphorische Übertragung beim Ausdruck Selbstbild vermutlich motiviert, dies ist aber, wie gesagt, nicht ausreichend, um Selbstbilder als Bilder im engen oder weiten Sinne anzusehen. Vom Selbstbild ließe sich übrigens das Selbstverständnis unterscheiden. Das Selbstverständnis könnte im Unterschied zum Selbstbild nicht als Darstellung eines Zustandes, sondern als aktive Auseinandersetzung mit den je eigenen Erwartungen und Einschätzungen verstanden werden. Es schließt den kognitiven Ausgleich empfundener Rollenerwartungen und damit die Überprüfung des Selbstbildes ein. Daher ließe sich sagen, dass das Selbstbild erst mit dem Selbstverständnis als handlungsleitende Instanz entsteht und primär auch nur über das Selbstverständnis bzw. über die intensivierte Anstrengung, sich selbst zu verstehen, geändert werden kann.
5. Fazit und Ausblick Auch wenn ein enger Bildbegriff als Ausgangspunkt gewählt wird, sollte eine angemessene allgemeine Bildtheorie, so der Ausgangspunkt meiner Überlegungen, verständlich machen können, wie der komplexe Phänomenbereich Bild sinnvoll strukturiert werden kann und wie sich die verschiedenen Bildphänomene zueinander verhalten. Hierzu habe ich Bilder im engen, im weiten und im metaphorischen Sinne unterschieden. Bilder im engen Sinne stellen den Kernbereich dar, für den die wahrnehmungsnahe Rezeption eine konstitutive Bedingung ist. Liegen die in der Explikation genannten weiteren Begriffsmerkmale nicht vor, dann sollte von Bildern im weiten Sinne gesprochen werden. Mentale Bilder sind Bilder im weiten Sinne, insofern sie mit wahrnehmungsnahen Verarbeitungsprozeduren verbunden sind und ihre Verarbeitung dieselben Prozesse aufweist, die bei Wahrnehmungsprozessen festzustellen sind. Dagegen ist das Selbstbild ein Bild im (nur) metaphorischen Sinne. Es verdichtet die kognitiven Selbstzuschreibungen zur ideellen Gestalt, verfährt hierbei aber weitgehend sprachlich. Dennoch ist es natürlich richtig, dass das Selbstbild eine wichtige Funktion für die personale Entwicklung besitzt. Die Frage, worin diese genau besteht, wäre dann vor allem eine Frage an
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KLAUS SACHS-HOMBACH
die psychologische Forschung, die wenig oder nur am Rande mit der Bildtheorie zu tun hat. Eine ganz andere Sache ist es dagegen, nach der Funktion von Bildern für unser Selbstverständnis, und damit auch für unser Selbstbild, zu fragen. Zu diesem Verhältnis von Bild und Selbstbild möchte ich abschließend drei Aspekte lediglich benennen. Wird Bild im weiten Sinne aufgefasst, so wäre zunächst auf die Mimik hinzuweisen, über die wir nicht nur unser Gegenüber beurteilen, sondern die es uns nach Mead ermöglicht, uns selbst im anderen gespiegelt zu erkennen bzw. uns selbst über den anderen überhaupt erst zu konstituieren. Zum zweiten scheinen ebenfalls die mentalen Bilder, insbesondere das Körperbild, vor allem für die Selbstlokalisierung wichtig zu sein. Das Körperbild und seine sensorische Repräsentation unserer räumlichen Beziehung zur Welt mit seinen Grundordnungen, wie ›oben‹ und ›unten‹, liefern ein sehr allgemeines Modell, das unseren Orientierungen auch im übertragenen Sinne zugrunde liegt. Schließlich besitzen natürlich ebenfalls die Bilder im engen Sinne, insbesondere die ästhetisch wertvollen Bilder, wesentliche Anregungen für die Selbstkonstruktion, insofern etwa ihr Darstellungsstil als Ausdruck eines Lebensgefühls betrachtet werden kann, das – in Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis – das Selbstbild entsprechend zu beeinflussen vermag. Jedes dieser drei Themen ist überaus komplex, so dass ihre Erforschung vermutlich nur im Rahmen eines transdiziplinären bildwissenschaftlichen Ansatzes zu befriedigenden Ergebnissen führen wird. Die methodologischen Probleme eines solchen Ansatzes zu reflektieren, ist eine der zentralen Aufgaben einer allgemeinen Bildwissenschaft, von deren Etablierung, meiner Überzeugung zufolge, auch die einzelwissenschaftliche Forschung wird profitieren können.
Literatur Block, Ned: »Mental Pictures and Cognitive Science«, in: Philosophical Review 92 (1983), S. 499-541. Finke, Roland A.: Principles of Mental Imagery, Cambridge (MA): MIT Press 1989. Gottschling Verena: Bilder im Geiste. Die Imagery-Debate, Paderborn: Mentis 2003. Gottschling Verena: »Mental Pictures: Pictorial? Perceptual?«, in: Klaus Sachs-Hombach (Hg.), Bildwissenschaft zwischen Anwendung und Reflexion, Köln: Herbert von Halem Verlag 2005, S. 299-316. Kosslyn, Steven: Image and Mind, Cambridge (MA): Harvard University Press 1980.
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BILD, MENTALES BILD UND SELBSTBILD
Kosslyn, Steven: Image and Brain, Cambridge (MA): MIT Press 1996. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bilder im Geiste. Zur kognitiven und erkenntnistheoretischen Funktion piktorialer Repräsentationen, Amsterdam: Rodopi 1995. Sachs-Hombach, Klaus: Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Herbert von Halem Verlag 2003. Sachs-Hombach, Klaus: Wege zur Bildwissenschaft. Interviews, Köln: Herbert von Halem Verlag 2004. Sachs-Hombach, Klaus (Hg.): Bildwissenschaft, Disziplinen, Themen und Methoden, Frankfurt am Main: Suhrkamp 2005. Shepard, Roger N./Lynn A. Cooper: Mental Images and Their Transformations, Cambridge (MA): MIT Press 1982. Steinbrenner, Jakob/Ulrich Winko (Hg.): Bilder in der Philosophie & in anderen Künsten & Wissenschaften, Paderborn: Schöningh 1997. Sterelny, Kim: »The Imagery Debate«, in: Philosophy of Science 53 (1986), S. 560-583.
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BILDERFLUCHT. ÜBER MIMESIS
UND
SELBSTHEIT
STEFAN LORENZER Nichts gleicht ihm weniger als er selbst. Diderot, Rameaus Neffe
Zu den großen Texten der Philosophie über die Mimesis muss auch ein später gerechnet werden, der sie kein einziges Mal beim Namen nennt, bei ihrem griechischen sowenig wie bei irgendeinem der ungezählten, die sie im Verlauf einer langen Überlieferung – also eines Übersetzungsprozesses – in anderen Sprachen angenommen hat. Gemeint sind die zu Recht berühmten, zu Unrecht berüchtigten §§ 27 und 35-37 von Sein und Zeit. Tatsächlich scheint es dort um ganz andere Dinge zu gehen: »Das alltägliche Selbstsein und das Man« (§ 27), »Das Gerede« (§ 35), »Die Neugier« (§ 36), »Die Zweideutigkeit« (§ 37). Wie in einer bestimmten Hinsicht das ganze Buch, so fragen diese Paragraphen nach dem ›Wer‹ des Daseins und fassen die beunruhigende Möglichkeit ins Auge, es könnte dieses Wer am Ende ein anderer als der sein, der, indem er ›Ich‹ sagt, auf die Frage nach ihm die selbstverständlichste und unbestreitbarste aller Antworten zu geben glaubt. Das Wer des Daseins könnte ein anderer, ja weder es selbst noch ein anderer, sondern niemand oder jenes »Niemand« sein, das die Frage nach dem Wer nicht sowohl beantwortet als vielmehr ins Leere stoßen lässt, sie suspendiert in jener »Unheimlichkeit der Schwebe«,1 in der nach Heidegger das »alltägliche Selbstsein« sich hält. In ihr ist a limine jeder jeder und keiner mehr: »das Neutrum, das Man.«2 Von dessen »Diktatur« handeln die genannten Paragraphen. Diktatur aber ist sie im prägnanten Wortsinn. Sie ist Diktatur des Diktum, dessen, was man sagt oder vielmehr vor jedem Sagen schon nachsagt und sich gesagt sein lassen soll; Herrschaft des verständigen Geredes, das vor jedem Verstehen schon verstanden, vor dem ersten Wort das Wort schon an sich gerissen hat, das über alles und jeden hinwegspricht und weiter-
01 Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1979, S. 170. 02 Ebd., S. 126. 132
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spricht und zu sprechen nicht aufhören kann; sich selbst verfestigende, abschottende, immunisierende Glossokratie, in der jede einzelne Stimme übertönt, jeder einzelne Kopf überredet wird. »Das Geredete als solches zieht weitere Kreise und übernimmt autoritativen Charakter«.3 Über alles im Bilde, also blind für alles, was in ihm nicht aufgeht, und zumal für die eigene Blindheit, ist das »Aufgehen im Gesagten«, das »zur Seinsart des Man [gehört]«,4 Ideologie in der genauen Bedeutung des Worts. Es erzeugt, kontingenzvergessen, den totalitären Schein der Notwendigkeit dessen, was eben so ist, wie es ist, und nicht anders sein kann: »weil man es so sagt«.5 Wer spricht? Auf diese Frage die Antwort schuldig zu bleiben oder in diffusem Gemurmel untergehen zu lassen, ja die Redenden von der Schuldigkeit und Last ihrer Beantwortung zu entbinden, das definiert das Gerede. Aber wer spricht in Heideggers Analyse dieses Entsonderungsmechanismus? Auch in ihr spricht nicht einer allein, sondern spricht ein anderer mit. Wie in einem fernen Echo ergreift in seinen eigenen Worten zugleich eine andere Stimme das Wort. Denn etwas an dieser Analyse erinnert an eine Ur- und Gründungsszene der Philosophie. »Als ob ein anderer der Redende wäre als er selbst«6 – die Ungewissheit darüber, wer spricht, war nicht im viel besprochenen zehnten Buch der Politeia, sondern bereits in ihrem weniger besprochenen dritten das Wesensmerkmal, wenngleich das negative der Indetermination, dessentwegen die Mimesis aus dem Staatswesen, wo möglich, herauszuhalten war und insbesondere ein probates Mittel der Erziehung jener phylakes nicht sein konnte, die über eben die Grenze zwischen dem Eigenen und dem Fremden wachen sollten, die von der mimetischen Indifferenzierung in eins mit einem ganzen Bündel komplementärer philosophischer, ontologischer, politischer Distinktionen verwischt zu werden drohte. Wer mehr als eine Stimme sein eigen nennt und also eine eigene nicht hat, wer spricht, als wäre er ein anderer, ist paradigmatisch der Feind, der unter der Maske des Freundes Einlass fordert. Hat man ihm diesen einmal gewährt, indem man seine Kunst, die der Nachahmung, zur Nachahmung freigibt, so wird es zuletzt keinen Freund mehr geben, in dem man den möglichen Feind nicht zu fürchten hätte. Die Tugend hat eine und nur eine Stimme, sie spricht nicht in verschiedenen Zungen. Was aber bei alledem den Philosophen in eigenster Sache umtreibt, ist die Sorge um seine Unterscheidbarkeit von den falschen Freunden der Philosophie. Als der durchtriebenste Kontrahent, der um so gefährlicher 03 04 05 06
Ebd., S. 168. Ebd., S. 224. Ebd., S. 168. Platon: Politeia, Hamburg: Rowohlt 1958, S. 126. 133
STEFAN LORENZER
ist, je geschickter er als Verbündeter aufzutreten weiß, gilt Platon der Sophist, dessen Rhetorik (téchne rhetoriké) ihrerseits, wenn man diesen Ausdruck in Entsprechung zu jenem so bilden darf, eine Mimetik (téchne mimetiké) ist. Mimetes tou sophou, Nachahmer des Wissenden, ist er ein Philosophendarsteller, der um der Verführung des zahlenden Publikums willen die Liebe (philía) zum sophón mimt, während er doch allenfalls die Verführung selber liebt. Das ist, bedenkt man die sokratische Gleichung von Tugend und Wissen, der Gipfel der Untugend, der nach Platon nicht sowohl in dieser selbst als vielmehr im Schein der Tugend besteht: Nichtiger als der Mangel (das Nichtseiende) ist der Schein der Fülle (des Seiendseins). Der Sophist gibt sich für den Philosophen aus, er spricht mit seiner Stimme. Wie ein Bauchredner trägt er die Puppe der Philosophie vor sich her und gibt sie auf dem Markt der Lächerlichkeit preis. Und doch ist das, was die Eifersucht des Philosophen auf den Plan ruft, zuletzt die Angst, der Doppelgänger und Rivale könnte mit den unlauteren Mitteln seiner Überredungskunst nicht bloß die unkundige Hörerschaft von dem überzeugen, was er nicht weiß, sondern am Ende erfolgreich um die Gunst der Wahrheit selber werben. Ausdrücklich wird so im dritten Buch der Politeia die Mimesis, im hier nicht zu präzisierenden Unterschied von der Diegesis, als eine »Redeweise« eingeführt7 – wie das »Gerede« in Sein und Zeit, das seinerseits wie alle Begriffe dieses Buchs ein modaler ist, der keine sachhaltige oder semantische Bestimmung des Gesagten, sondern eine Weise des Sagens meint – eben jenes bornierte »Aufgehen im Gesagten«, von dem noch zu reden sein wird. In dem »Prozess« aber, den Platon, wie Derrida angemerkt hat, »unter dem Namen der Philosophie gegen die Sophisten angestrengt hat«,8 tritt auch Heidegger noch als später Zeuge der Anklage auf. Während nämlich jene Paragraphen von Sein und Zeit die Rhetorik sowenig erwähnen wie die Mimesis, taucht dreißig Jahre später zwar verknappt, aber unverkennbar als dieselbe die Deskription des verständigen Geredes, das »alles versteht«, unter dem Titel des »sophistischen Verstandes« wieder auf. Philosophie, so lautet die Antwort des kleinen Vortrags auf seine Frage (Was ist das – die Philosophie?), ist die Rettung des sophón vor dem »Zugriff« jener doxosophoi, die sich auf dem Markt verdingen. Der obligate Hinweis auf diesen will an das Marktschreierische ebenso gemahnen wie an die »abgegriffenen Münzen« der »bloßen Wortbedeutung«, die auf ihm von Hand zu Hand gehen: »Indessen mußten sogar die Griechen die Erstaunlichkeit dieses Erstaunlichen retten und schützen – gegen den Zugriff des sophistischen Verstandes, der für 07 Ebd., S. 125. 08 Jacques Derrida: »La pharmacie de Platon«, in: ders., La dissémination, Paris: Éditions du Seuil, 1972, S. 120, hier von mir übersetzt, Stefan Lorenzer. 134
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alles eine für jedermann sogleich verständliche Erklärung bereit hatte und sie auf den Markt brachte. Die Rettung des Erstaunlichsten – Seiendes im Sein – geschah dadurch, daß einige sich auf den Weg machten in der Richtung auf dieses Erstaunlichste, d.h. das sophón.«9 Nicht bloß Heideggers Distinktion jener »ausgezeichneten Weise des Sagens«, als die derselbe Vortrag die Philosophie definiert, vom Gerede auf dem Markt, sondern zumal seine Arithmetik, in der die Einigen und Wenigen den Vielen oder gar, wie es in den Beiträgen einmal heißt,10 die »ausgezeichneten Gezeichneten« den »vielen Durchschnittlichen« gegenüberstehen, droht selber in die Falle jener »Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen« zu tappen, in der Distinktion und Vulgarität sich aneinander steigern und deren Antinomien – ich komme auf sie zurück – Heidegger doch im § 27 von Sein und Zeit wie kein anderer freigelegt hatte. Die Sorge um den Unterschied ist, in der Terminologie René Girards zu reden, der désir mimétique par excellence, derselbe, der sich selbst zumeist verborgen bleibt, ja geradezu darin besteht, sich seinen mimetischen Ursprung zu verhehlen, um ihm, je erbitterter er dies tut, kraft seiner Latenz um so gründlicher zu verfallen.11 Keinen schlägt Mimesis so sehr in ihren Bann, und keinen schlägt sie so sehr mit Blindheit, wie den, der ihrer ledig zu sein glaubt. Denn daran erkennt man sie: dass sie sich niemals als sie selbst, sondern nur in einem anderen zeigt, also verbirgt. »Je mehr ist eins unsichtbar, schicket es sich in Fremdes«, sagt Hölderlin.12 Die jede Gestalt und jeden Umriss anzunehmen weiß, bleibt selber gestaltlos, gestaltloser als das Ungestalte; das Vermögen zur Darstellung jeden Wesens bleibt selber ein Wesenloses und Undarstellbares. Was nichts als die Kunst ist, nicht anders als anderes und also kein Was und Etwas zu sein, lässt sich mangels spezifischen Eigengewichts und jeden ausweisenden Zugs nicht dingfest machen. Mimesis – aber werden Heideggers indefinierende Definitionen der Existenz von dieser je etwas anderes behaupten? –, Mimesis hat kein Eidos. Das ist die Essenz ihrer Inessenz, ihrer von Platon inkriminierten Wesens-, platonisch gedacht also ihrer Seinsferne. An sich selbst nichts, eine aneidetische Lücke im Seinskontinuum, ist Mimesis nicht die eine Seite einer Unterscheidung gegen das, was sie nicht ist, sondern drängt auf die Aussetzung der Unterscheidung selbst – zuletzt der fundamenta09 Martin Heidegger: Was ist das – die Philosophie, Pfullingen: Neske 1992, S. 13. 10 Martin Heidegger: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA, Band 65, Frankfurt/Main: Klostermann 1989, S. 96. 11 Vgl. etwa René Girard: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris: Bernard Grasset 1989. 12 Friedrich Hölderlin: »[Was ist Gott?…]«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, München: Hanser 1981. 135
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len zwischen dem Seiendseienden (ontos on) und dem Nichtseienden (me on) –, damit aber auf eben jene Suspension der Entscheidung darüber, ob sie Mimesis ist oder nicht vielmehr nicht ist, in der sie am Ende alles affiziert, um darüber vollends unsichtbar zu werden. Das war zuletzt der Grund ihrer platonischen Verbannung; aber das ist auch der Grund zu der hier freilich nur beiläufig zu äußernden Vermutung, es könnte sich bei jener in Wahrheit (was immer das dann noch heißen mag) bloß um das Schauspiel ihrer Verbannung, also um ihre eigene Inszenierung gehandelt haben: die ihres Verschwindens, in der sie erst ganz zu sich selbst kommt. Sie, die sich aufs Scheinen- und Erscheinenlassen versteht, zieht sich ins Unscheinbare zurück, in dem sie ihre Kräfte sammelt. Am mächtigsten aber behauptet sich die Mimesis in dem Widerstand, den man ihr entgegensetzt, weil sie selbst – ich komme auch darauf zurück – dieser Widerstand ist. Derart schickt sie sich an, die Differenz zu allem, was man ihr entgegensetzen möchte, und am Ende die Logik der Entgegensetzung und mit ihr der Setzung selber außer Kraft zu setzen. Nichts könnte darum auch ungesicherter sein als jener überlieferte Gegensatz, der die Mimesis, die Imitation, die Kopie, das Nachahmen, Nachäffen, Nacheifern als Inbegriff der Heteronomie der Autonomie, das mimetische Sein zu Anderem dem Selbstsein gegenüberstellt. Wie sehr sie dieser Tradition in manchem noch verpflichtet sein mag – Heideggers Analytik des »alltäglichen Selbstseins« lässt sich eine Reihe von Hinweisen darauf entnehmen, dass Mimesis und Selbstheit sich anders zueinander verhalten als selbst einer der größten Texte über die Mimesis (der im übrigen diese Behauptung selbst Lügen straft), Diderots Paradoxe sur le comédien, es noch behaupten zu können glaubte: »On est soi de nature; on est un autre d’imitation« – von Natur aus man selbst, durch Nachahmung ein anderer.13 »Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das Man, mit dem sich die Frage nach dem Wer des alltäglichen Daseins beantwortet, ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinandersein sich je schon ausgeliefert hat.«14 Ist die »Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen«, von der Heidegger zwei Seiten zuvor spricht, eine Reaktion auf diese Ununterscheidbarkeit? Keineswegs. »Abständigkeit« und »Einebnung« befördern einander, die Sorge um den Unterschied betreibt dessen Auslöschung, sie findet keine Ruhe, sie perpetuiert und übertreibt sich selbst in einer rastlosen Erstarrung. Woher rührt aber diese Indifferenz von Differenz und Indifferenz, genauer: der Steigerungszusammenhang beider in jener sich stets wieder aufs Neue anstachelnden Distinktionswut? Und 13 Denis Diderot: Paradoxe sur le comédien, précédé des Entretiens sur le Fils naturel, Paris: Flammarion 1981, S. 170. 14 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 128. 136
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woher rührt weiterhin der offenbar ebenso konstitutive Steigerungszusammenhang, der zwischen der Unauffälligkeit, der Verborgenheit, der Latenz des Mechanismus und seiner Wirksamkeit waltet? Heidegger sagt es selbst: »Je offensichtlicher sich das Man gebärdet, um so unfaßlicher und versteckter ist es, um so weniger ist es aber auch nichts«.15 Und er hatte es noch deutlicher schon in dem entscheidenden Passus des § 27 gesagt, der von der zitierten Sorge um einen Unterschied spricht, der ausgeglichen und gewahrt werden soll, aber sich weder ausgleichen noch wahren lässt: »Im Besorgen dessen, was man mit, für und gegen die Anderen ergriffen hat, ruht ständig die Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen, sei es auch nur, um den Unterschied gegen sie auszugleichen, sei es, daß das eigene Dasein – gegen die Anderen zurückbleibend – im Verhältnis zu ihnen aufholen will, sei es, daß das Dasein im Vorrang über die Anderen darauf aus ist, sie niederzuhalten. Das Miteinandersein ist – ihm selbst verborgen – von der Sorge um diesen Abstand beunruhigt. Je unauffälliger diese Seinsart dem alltäglichen Dasein selbst ist, um so hartnäckiger und ursprünglicher wirkt sie sich aus.«16
Man tut gut daran, die gerade formulierten Fragen eine Weile zurückzustellen, um sich das systematische Gewicht des Passus vor Augen zu führen. Dieses spricht sich nicht bloß in der prompten Terminologisierung des Sachverhalts zum Existenzial einer »Abständigkeit« aus, die nicht der einzige Begriff dieses Buchs ist, dessen Einführung fast schon der einzige Fall seiner Verwendung bleibt. Für die »Sorge« gilt das nicht. Und sie, die vielmehr das Dasein nach der von Heidegger verewigten Fabel des Hyginus besitzen soll, »solange es lebt«,17 ist auch nichts, was zuweilen über das Dasein kommt. Sorge ist in Sein und Zeit ein ontologischer Titel, als der sie jeder psychologischen, anthropologischen, soziologischen (etc.) Bestimmung vorausliegen soll. Sie meint das Sein des Daseins selbst in der genauen Hinsicht, in der es von jeder anderen Seinsart sich dadurch unterscheidet, dass es »Selbstsein« ist. Angesichts ihrer ersten und durch das ganze Buch hindurch unermüdlich wiederholten Definition in der Einleitung könnte aber ein besonders einfältiger oder besonders raffinierter Leser auf den Gedanken verfallen, des Daseins Sorge sei ex definitione eine um seinen Unterschied gegen die Anderen. Dort nämlich heißt es, das Dasein sei dadurch ausgezeichnet, »daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht.«18 15 16 17 18
Ebd., S. 128. Ebd., S. 126. Ebd., S. 198. Ebd., S. 12. 137
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Um es selbst und damit doch zwangsläufig, so könnte man folgern, um seinen Unterschied gegen andere(s). Die Markierung, Artikulation, Bestimmung dieses Unterschieds scheint mit dem sei’s theoretischen, sei’s praktischen Sichzusichverhalten des Daseins selber übereinzukommen. Wie sollte es sich über sich selbst ins Bild setzen, wenn nicht kraft Vergegenwärtigung dessen, was es von anderem und anderen absetzt, abhebt, unterscheidet? Wie sollte es überhaupt Form, Umriss, Gestalt, Profil gewinnen (und wahren), wenn nicht durch das Prozessieren dieses Unterschieds? Woran erkennt, woran hat einer sich selbst, wenn nicht an dem Unterschied, den er gegenüber anderen zu machen glaubt: die differentia individualis selbst, über die es zu wachen, die es zu hüten, die es zu sichern gilt? – ganz gleich, ob es sich um einen trait distinctif handelt, der jemanden als diesen und keinen anderen ausweist oder um einen trait commun, der die Zugehörigkeit zu einer Gattungs- oder Wesensgemeinschaft, einem Geschlecht, einer Nation etc. markiert und seinerseits ein solches Unterscheiden verlangt. Der Lebensvollzug selbst, sofern er sich von einem bestimmten Selbstbezug dieses Lebens nicht ablösen lässt, ist offenbar fortlaufendes Sichunterscheiden. Ob in der eher theoretischen Bedeutung der Selbsterkenntnis, ob in der eher praktischen der Selbstbestimmung, Selbsterhaltung, Selbstbehauptung: »Unterscheide dich!«, das scheint die das Dasein besitzende Sorge ihm zuzurufen. Sorge, so scheint es, ist einem strukturellen und gegen die Alternative von Zuwendung oder Abwendung, Offenheit oder Verschlossenheit etc. noch ganz indifferenten Sinn »Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen« – zumal ja das Verhältnis und Sichverhalten nicht allein zu diesem, sondern zu jedem Seienden als solchem den Vollzug einer Unterscheidung gegen das fordert, was es jeweils nicht ist. Nur ist von all dem nicht die Rede, wenn Heidegger da sagt, »daß es diesem Seienden in seinem Sein um dieses Sein selbst geht«, und fortfährt: »Zu dieser Seinsverfassung des Daseins gehört aber dann, daß es in seinem Sein zu diesem Sein ein Seinsverhältnis hat.«19 Das fragliche Selbstverhältnis ist kein reflexives Verhältnis eines Seienden zu einem Seienden, mit dem es identisch ist. Es ist überhaupt kein Verhältnis zu einem Seienden (und vollends kein reflexives), sondern das jenes Seienden zu seinem Sein. Dieses aber ist, wie Heidegger zu betonen nicht müde wird, jeweils schon Sein in der Welt, Sein bei anderem, Sein mit anderen. Ein Relationsbegriff eher denn ein Substanzbegriff, liegt es den durch diese Präpositionen angezeigten Verhältnissen und Verhaltungen nicht als Positum voraus und zugrunde, sondern hat sich jeweils schon in sie ausgelegt. Dasein subsistiert nicht, sondern ek-sistiert. Das Sein, zu dem es gehört, dass es sich zu ihm verhält, hat selbst schon Verhältnis19 Ebd. 138
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charakter. Es ist an ihm selbst nichts als Sein zu anderem als es selbst; es ist Offenheit für das, was es nicht ist. Die Selbstzuwendung entdeckt nie irgendwelche positiven Bestände, sondern erschließt stets nur die gänzlich insubstantielle Offenheit dessen, was von Haus aus draußen, um nicht zu sagen: außer Haus ist. Da ist kein Innenraum, den irgendeine Introspektion in Augenschein nehmen könnte, nichts, was die von Heidegger einmal so genannte »Laterne der Reflexion« ausleuchten könnte. Darin liegt, man mag an Augustinus denken, die charakteristische Verschränkung von Selbstzuwendung und Entschränkung, die das Luftige dieses Denkens ausmacht. Die Introversion führt stets nur auf die (wohlgemerkt: ontologische) Extrovertiertheit des Seienden, das, nach einer häufig wiederholten Wendung Heideggers, »weiter draußen« ist als jedes Objekt, weil es in der Transzendenz über das Seiende erst den Spielraum erschließt, in der es als solches begegnen kann. »Nur in dieser Selbstzuwendung kann Begegnendes ›uns etwas angehen‹«, heißt es in Kant und das Problem der Metaphysik.20 Je tiefer man hineinkommt – aber die topographische Metapher ist Trug –, desto mehr stößt man nur auf jenes »Über-sich-hinaus«. Der Selbstbezug führt ins Offene. Es gibt keine Immanenz dessen, was Transzendenz, keine reflexive Schließung dessen, was Offenheit ist. Das Dasein kann, anders gesagt, seinen Selbstzugang nur auf die Weise der Welt haben – und Welt ist, wie Heidegger deutlich gemacht hat, kein Was und Etwas, sondern ein Wie, nämlich »die Seinsweise des Daseins« selber – eben jene Offenheit für das Seiende, die nicht ihrerseits ein Seiendes sein kann.21 Und über sie kann man sich nicht reflexiv ins Bild setzen. Sie lässt sich überhaupt in kein Bild und nicht in Form bringen, weil nicht gegen anderes unterscheiden: Die dafür erforderliche Grenze könnte nur in einem Raum gezogen werden, als der die Welt sich wiederum ins Ununterscheidbare zurückzöge. Der Selbstbezug kann nur weltförmig, damit aber, sofern die Welt als Medium aller Formbildung jede Form transzendiert, überhaupt nicht mehr in der Form der Form und a fortiori nicht in der einer wie immer beschaffenen Selbstrepräsentation gedacht werden. Was bei Heidegger Selbstheit, Selbstsein und Selbständigkeit heißt, führt daher nicht auf die »Abständigkeit« des § 27, sondern auf jene Offenständigkeit und Inständigkeit des Daseins, die sich zumal an der Involution seiner Analytik in ihren ›Gegenstandsbereich‹ bekräftigt, die Heidegger mit größter Konsequenz ausgetragen hat. »Abständigkeit« – das wäre vielmehr, in eins mit der Gegenständigkeit von allem, was ihm 20 Martin Heidegger: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/Main: Klostermann 1991, S. 79. 21 Martin Heidegger: Grundprobleme der Phänomenologie, GA, Band 24, Frankfurt/Main: Klostermann 1989, S. 233. 139
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dann noch begegnen kann, die wie immer fiktive Auszeichnung jenes abendländischen theoros, der stets vor etwas und ihm gegenüber, aber nie in etwas stehen wollte und zuletzt in Husserl dazu ansetzte, zum unbeteiligten Zuschauer noch seiner selbst zu werden. Aber kehren nicht das Ego und mit ihm »Abständigkeit« und Sorge um den Unterschied in jener elementaren Bestimmung wieder, tatsächlich der ersten, die Heidegger nach der Einleitung von dem Sein gibt, um das es dem Dasein da geht? »Das Sein, darum es diesem Seienden in seinem Sein geht, ist je meines.«22 Und gleich darauf: »Das Ansprechen von Dasein muß gemäß dem Charakter der Jemeinigkeit dieses Seienden stets das Personalpronomen mitsagen: ›ich bin‹, ›du bist‹.«23 Der Gebrauch des Personalpronomens ›ich‹, eines okkasionellen oder deiktischen Ausdrucks, schließt indessen keinerlei Determination ein, leistet keine Identifizierung dessen, der es verwendet, gibt kein Distinktionsmerkmal an die Hand, das es erlauben würde, ihn gegen andere zu unterscheiden. Auf die Paradoxie jenes gänzlich leeren shifter, von dem später Jakobson im Anschluss an Benveniste sprechen wird, hat schon Hegel aufmerksam gemacht: »Ebenso wenn ich sage: ›Ich‹, meine ich Mich als diesen alle anderen Ausschließenden; aber was ich sage, Ich, ist eben jeder; Ich, der alle anderen von sich ausschließt.«24 War nicht auch bei Descartes die Gewißheit dessen, was jedesmal, wenn ich ›ich‹ sage, nicht nichtwahr sein kann – loquor ergo sum –, eins mit dem Ausschluss aller sachhaltigen Bestimmungen, dem nur das blanke Dass des Ausschließens selber widerstand? War darum nicht der Augenblick der höchsten Gewissheit zumal der Augenblick einer fahlen Indistinktion: die Neutralisierung selbst? Noch Husserl, der zumindest in dem hier zu zitierenden Passus das Sein des Ego seinerseits als schiere, wenngleich unterm Titel der Intentionalität auf Bewusstsein (von Gegenständen) restringierte Relationalität fasst, noch Husserl also musste, am obersten Punkt seiner transzendentalen und eidetischen Reduktion angelangt, die Entdeckung machen, dass es dort gar nichts mehr zu entdecken, zu unterscheiden, zu sehen gab und vollends jener »wesensallgemeine Bestand« nicht zu besichtigen war, auf dessen Sicherung er es doch abgesehen hatte. Was »Eidos Ego« heißen sollte, zog vor diesem Namen ins gänzlich Bild- und Wesenlose, der Ur- und Rechtsgrund allen phainestai und aller phänomenologischen Beschreibung ins Unbeschreibliche sich zurück: »Von seinen ›Beziehungsweisen‹ oder ›Verhaltungsweisen‹ abgesehen, ist es völlig leer an Wesenskomponenten, es hat gar keinen explikablen Inhalt, es ist 22 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 42. 23 Ebd. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Erster Teil, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970, S. 74. 140
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an und für sich unbeschreiblich: reines Ich und nichts weiter.«25 Der freien Variation aller faktischen Bewusstseinsinhalte hatte nur die Variabilität, anders gesagt: das Bewusstsein selbst als der aneidetische Inbegriff seiner variablen Besetzbarkeit widerstanden. Die Wesensferne, vor der Husserls Wesensforschung noch zurückschrecken musste, definiert bei Heidegger das Dasein selbst. Dessen Wesen liegt, sofern davon überhaupt noch gesprochen werden kann, in seiner Wesensindetermination, anders gesagt: in seiner Entlassenheit an eine Zukunft – nämlich an Möglichkeiten, die auch der morphé oder dem eidos nach nicht schon wirklich sind, die in keiner Wesensverfassung des Daseins bereits geschrieben stehn. »Das ›Wesen‹ des Daseins liegt in seiner Existenz« – die berühmte Definition ist selber schon eine der »Jemeinigkeit«, von der auf der gleichen Seite die Rede ist.26 Es liegt in ihr, das sagt auch und vor allem: es liegt ihr nicht schon voraus und zugrunde. Und sie, die Existenz, ist als Seinsart des Daseins ihrerseits keine Gattung, die seinen singulären Seinsweisen, seinen Modalitäten und Modifikationen als unmodifizierte Substanz schon zugrundeläge. Die ›Substanz‹ des Daseins liegt, sofern davon überhaupt noch gesprochen werden kann, in seiner Modifizierbarkeit. Das macht, in einer Unterscheidung gesprochen, von der Blumenberg einmal gesagt hat, auf sie ließen sich sämtliche anthropologischen Bestimmungen zurückführen, seine Armut und seinen Reichtum aus. Die Armut an einer zureichenden Wesens- und Gattungsbestimmtheit, die es von der Not dessen entbinden könnte, was nur aufgrund dieses Defizits, zum Unterschied von einem durchgängig konditionierten Verhalten oder Benehmen, überhaupt Handeln heißen kann, diese Armut ist der Reichtum seiner Transzendenz über jeden eidetischen und generischen Umriss. Existenz ist Bestimmung zur Unbestimmtheit und damit zu einer Freiheit oder, mit einem vielleicht weniger belasteten Titel, zu einer Kontingenzoffenheit, der kein principium rationis sufficientis mehr Einhalt gebieten kann. Das erst überantwortet das Dasein jener Sorge, die es nur gibt, weil es den zureichenden Grund für sie nicht gibt. Sorge ist Selbstüberlassenheit und diese die Auszeichnung eines Wesens, dessen Wirklichkeiten aufgrund einer wie immer schwachen Dekonditionierung (kontingente) Möglichkeiten unter Möglichkeiten bleiben. Was aber ›Sein zu Möglichkeiten‹ ist und darum in allem, worin es jeweils steht, über sich hinaus- und also hinter sich zurücksteht, das ist stets mehr und also weniger, als es ist, und eksistiert als konstitutive Nichtübereinkunft mit sich selbst. Auch darin bestätigt sich Heideggers Bestimmung der Selbstheit des Daseins als 25 Edmund Husserl: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen: Niemeyer 1980, S. 160. 26 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 12. 141
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Selbsttranszendenz, man könnte auch sagen: als Selbstungenügsamkeit, kraft derer es in jeder Aktualität einem Inaktuellen, in jeder Gestalt einem Gestaltlosen und in jedem der Bilder, in denen es seiner selbst ansichtig werden mag, einem Bildlosen ausgesetzt bleibt. Auf die existenzial (nicht kategorial) verstandene Möglichkeit hat Heidegger in Sein und Zeit das denkbar größte Gewicht gelegt. Dass es aber zumal, und vor allem: zunächst die Wirklichkeiten anderen Daseins sind, die als Möglichkeiten des eigenen erfahren werden, das bezeichnet gleichsam den Ort jenes ›Existenzials‹, zu dem die Mimesis es freilich nicht gebracht hat. Sie ist, aus dieser Perspektive betrachtet, die Kompensation der Wesensinsuffizienz des Daseins (ein supplément d’origine im genauen Verständnis Derridas), jenes »Wesen[s], dem Wesentliches mangelt« und das darum zu einer durch keine Eide, keine unverbrüchlichen Wesensformen mehr lizensierten und limitierten mimetischen Dispersion aufgelegt ist. Blumenberg, dessen großem Aufsatz über die Rhetorik die zitierte Formulierung entnommen ist, hat von dieser Ähnliches behauptet.27 »Jemeinigkeit« ist danach die Seinsart, die darin besteht, dass sie jeweils noch zu bestimmen, also, in einem ganz unpathetischen Sinn, zu entscheiden bleibt – gleichsam die Art dessen, was aus der Art schlägt. Darum, und nur darum, vereinzelt sie – zu einer Singularität, die nicht als Besonderung eines Allgemeinen zu denken ist. Aber Vereinzelung ist ein anderer Name der Endlichkeit, oder: des Alterns, von dem Heidegger nirgends und doch unter dem Namen des »Seins zum Tode« überall spricht. Dessen gänzlich bewandtnislose Faktizität ist es denn auch, die Heidegger als schlechthin vereinzelnd gilt; während in allem, womit es eine Bewandtnis hat, und darum zeitigt noch jede wie immer exklusive Wesensbestimmung einen inklusiven Effekt, prinzipiell jeder durch einen anderen vertretbar ist. »Je t’ai dit que je suis né plusieurs, et que je suis mort, un seul«, sagt der gestorbene Sokrates aus Valérys Totengespräch Eupalinos ou l’Architecte.28 Dagegen hat Valéry die proteische Flucht aus allen Bildern und Gestalten aufbieten wollen, die Emigration aus jeder Wesensgemeinschaft, zuallererst aus der mit sich selbst, in der einer, wie er gelegentlich bemerkt hat, stets in schlechter Gesellschaft ist. Wenn es in einer Eintragung seiner Cahiers heißt: »je ne puis pas me reconnaître dans une figure finie«, ich kann mich in keiner begrenzten, keiner endlichen Gestalt wiedererkennen, dann lässt der Bedeutungs27 Hans Blumenberg: »Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001, S. 423. 28 Paul Valèry: Eupalinos ou l’Architecte, in: ders., Œeuvres, tome 2, Paris: Bibliothèque de la Pléiade 1974, S. 114. 142
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spielraum des französischen Worts auch die Angst im verborgenen Zentrum jener proteischen Ubiquität zutage treten. Die figure finie, die endliche Gestalt (und damit jede), ist zumal eine der finitude, der Endlichkeit. Dass Valéry keine Photographien von sich sehen mochte, passt ins Bild von einem, der in kein Bild passen wollte und ist seinerseits Ausdruck jener Angst. Was völlig eins mit seinem Bild geworden ist, gleicht eben dort, wo es nur noch sich selbst gleicht, dem Tod. Auch darum birgt, wie Roland Barthes einmal bemerkt hat, jede Photographie »dieses unabweisbare Zeichen meines zukünftigen Todes«.29 Dass Existenz die Seinsart des Seienden sei, dessen Art zu entscheiden bleibt – damit ist noch keinerlei Entscheidung darüber getroffen, wer entscheidet, ja ob diese Frage selber sich jemals bündig entscheiden lassen wird. Von der Vorstellung, Entscheidung sei die »decidierte Aktion eines Subjekts« ist Heidegger ohnehin so weit entfernt, wie man von ihr nur entfernt sein kann.30 So heißt es auch schon unmittelbar nach den zitierten Sätzen über die »Jemeinigkeit«: »Und Dasein ist meines wiederum je in dieser oder jener Weise zu sein. Es hat sich schon immer irgendwie entschieden, in welcher Weise Dasein je meines ist.«31 Ist aber Entscheidung in dem elementaren Sinn, in dem der Begriff hier zu verstehen ist, der Daseinsvollzug selber, so ist die Frage ›Wer entscheidet?‹ unmittelbar jene andere: ›Wer ist?‹, von der sich schon angedeutet hat, dass sie mit der Frage ›Wer spricht?‹ in einem offenbar elementaren Zusammenhang steht. Damit sind wir wieder im § 27 und bei der Frage nach dem Wer des Daseins angekommen, auf die dort, gleich nach dem oben zitierten Passus über die »Sorge um einen Unterschied gegen die Anderen«, die unheimliche Antwort ergeht: »Nicht es selbst ist, die Anderen haben ihm das Sein abgenommen.«32 Diese Enteignung durch die anderen vollzieht sich aber in jener Behauptung des Eigenen gegen die anderen. Die »Sorge um einen Unterschied« selbst besorgt dessen Auslöschung. Jeder will anders sein als jeder andere – wie alle anderen auch. Der geteilte Wille zur Differenz erzeugt die Indifferenz, gegen die er dann abermals anrennen muss. Er ist sich selbst der Stein, den er nicht wälzen kann. Er treibt sich selbst zum Wahnsinn. Je hartnäckiger er auf Ungleichheit drängt, desto unheimlicher gleicht sie der Gleichheit und wächst in dieser wiederum der Widerwille aller gegen alle, also der eines jeden und schließlich dieses Wider29 Roland Barthes: La chambre claire, in: ders., Œeuvres complètes, tome 3, Paris: Les Éditions du Seuil 1995, S. 1176, hier von mir übersetzt, Stefan Lorenzer. 30 Martin Heidegger, »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: ders., Holzwege, Frankfurt/Main: Klostermann 1980. 31 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 42. 32 Ebd., S. 126. 143
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willens selber gegen sich selbst. Aber er kann sich kein Ende setzen, weil er in seiner Negation kontinuiert: Wer über der Einsicht in die Vulgarität der Distinktion zur »Abständigkeit« auf Abstand gehen wollte, der würde sie bloß in der zweiten Potenz wiederholen. Etc. René Girard hat in einer der ökonomischsten Formulierungen seiner Theorie des désir mimétique vom »volonté d’être Soi – selon l’Autre« gesprochen.33 Die Wendung formuliert eine Antinomie, und eine der schärfsten, weil sie den Gegensatz von Autonomie und Heteronomie außer Kraft setzt. Wenn der Wille zum Selbstsein (des Willens) als solcher durch ein fremdes Geheiß über den Wollenden verhängt ist, dann kann er, je mehr er es will, dieses Nicht-Wollen im Herzen des Wollens um so weniger aus der Welt schaffen; dann kann keiner sich jemals sicher sein, ob er überhaupt will, ob sein Wille sein eigener und also überhaupt ein Wille ist; und dann wird man Heideggers Phänomenologie des Unheimlichen (des Alltäglichen) eine weitere Wer-Frage hinzufügen können: Wer will? In der Ungewissheit darüber bekundet sich zuletzt die Endlichkeit des Willens, der, was immer er wollen mag, sich nicht seinerseits schon gewollt, sich nicht aus eigenem Willen ins Leben gerufen haben kann. Darum muss er, paradigmatisch bei Nietzsche, stets über sich hinaus, stets mehr als den Willen wollen: weil er immer schon und immer noch weniger als Wille ist. Darum befiehlt er als Wille zum Willen, also im fortgesetzten Ausstand seiner selbst, was er bei Augustinus schon befohlen hatte und was zu befehlen doch gar nicht in seiner Gewalt steht: Der Wille befiehlt, dass da ein Wille sei, voluntas imperat, ut sit voluntas.34 Die Aporien des Willens lassen sich hier auch in die Einsicht übersetzen, dass jede endliche Aneignung des Eigenen der Modelle einer solchen Aneignung bedarf (oder sie jedenfalls vorfindet) und derart in der Eigentlichkeit des Eigenen selbst eine konstitutive Uneigentlichkeit insistiert. In-der-Welt-sein ist, mit dem von Heidegger auf das Gerede als »Hörensagen« gemünzten Ausdruck, »Auf-der-Spur-sein«. Darauf haben mit besonderem Nachdruck die Arbeiten von Philippe Lacoue-Labarthe hingewiesen: »Das ›Subjekt‹ gelangt zu sich selbst, wenn es denn jemals zu sich gelangt, allein kraft des Supplements eines Modells, oder mehrerer Modelle, die ihm vorhergehen.«35 Aber das Modell eröffnet einen solchen Selbstzugang nur, indem es ihn zugleich blockiert. Denn als dessen
33 R. Girard: Mensonge romantique, S. 17. 34 Aurelius Augustinus: Confessiones, lateinisch und deutsch, übers. von Joseph Bernhart, Frankfurt/Main: Insel 1987, S. 400. 35 Philippe Lacoue-Labarthe: La fiction du politique. Heidegger, l’art et la politique. Paris: Bourgois 1987, S. 127, hier von mir übersetzt, Stefan Lorenzer. 144
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Modell kann es sich ja einzig durch eine wie immer auch ihrerseits schimärische Autonomie (oder Originalität) empfehlen, von der man um so weiter entfernt ist, je näher man ihm rückt und seinem Vorbild folgt. Darum spricht das Modell eine durch und durch zweideutige Sprache. Es fordert Gleichheit und Ungleichheit zugleich (und untersagt beide), es befiehlt, ihm darin zu folgen, dass man ihm nicht folgt und lässt damit eine (Zurück-)Weisung ergehen, die man nicht befolgen und nicht nichtbefolgen kann. Das aber ist das Dilemma oder der double bind jeder Nachfolge (über deren Kantischen Begriff man hier sprechen müsste), ja vielleicht noch der servilsten Nachahmung, die stets eine des Unnachahmlichen sein muss. Mimesis selbst zwingt zur Autonomie, ohne sie aus ihrer Schizogenese je zu entlassen.36 Aber der »volonté d’être Soi – selon l’Autre« will sich (darum ist Girards Theorie des désir mimétique ebenso wie Heideggers Analytik des »Man« eine seiner Latenz) seine Schizo- oder Mimogenese verhehlen. Er externalisiert seinen internen Widerspruch, um ihm in seiner Ausblendung vollends zu verfallen. Er kehrt seinen Wider-Willen gegen sich selbst nach außen und richtet ihn gegen das zum Widersacher gewordene Modell. Und wieder: je mehr er sich steigert, desto mehr steht er in jener »Botmäßigkeit der Anderen«, von der Heidegger spricht, desto mehr steigert sich wiederum der ohnmächtige Hass, aus dem zuletzt nur der Selbsthass spricht. »Das Miteinandersein im Man ist ganz und gar nicht ein abgeschlossenes, gleichgültiges Nebeneinander, sondern ein gespanntes, zweideutiges Aufeinander-aufpassen, ein heimliches Sich-gegenseitig-abhören. Unter der Maske des Füreinander spielt ein Gegeneinander.«37 Das Ressentiment, das da beschrieben wird und dessen »Sorge um einen Unterschied gegen die anderen« sich proportional zur völligen Nichtigkeit dessen verhält, was es da vor ihrem Zugriff zu schützen gilt, das Ressentiment ist die Mimesis im Modus ihrer Verkennung.38 Will in
36 Der double bind ist nicht bloß das Problem, er ist auch die Lösung. Er dekonditioniert. Die Paradoxie einer Weisung, die man nicht befolgen und nicht nichtbefolgen kann, überantwortet den, der sie vernimmt, ratlos sich selbst und weist ihm dort, wo sie ihn ohne jede brauchbare Auskunft vor die Tür setzt, den Weg ins Freie. »Die Paradoxie«, schreibt Luhmann, »macht frei – oder wie man heute zu sagen bevorzugt: schizophren; in jedem Falle: autonom.« Niklas Luhmann: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt /Main: Suhrkamp 1992, S. 119. 37 M. Heidegger, Sein und Zeit, S. 175. 38 Das ließe sich auch an einem anderen großen Text des politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts zeigen, an Horkheimers und Adornos Elementen des Antisemitismus, die ihrerseits Elemente eines mimetischen Antimimetismus sind. Vgl. Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: »Elemente des 145
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dieser der Wille, wie bei Schelling das Böse, am Ende seine Endlichkeit vergessen machen, so formuliert Heideggers Satz aus Gelassenheit: »Ich will das Nicht-Wollen« nichts als die Einkehr des Willens in seine eigene Endlichkeit und damit schon in anderes als den Willen.39 Und so ist auch das, was in Sein und Zeit Eigentlichkeit heißt, nur die Einkehr in jene konstitutive Uneigentlichkeit alles Eigenen. Heidegger sagt es selbst: Keine unversehrte Substanz, sondern die Modifikation einer Modifikation, steht die Eigentlichkeit in keinem Gegensatz zur Uneigentlichkeit, sondern ist »nur ein modifiziertes Ergreifen dieser«. Ein Gleiches ließe sich, aber lässt sich hier nicht mehr für die Analyse des »Geredes« zeigen. Zweifellos tritt für Heidegger in ihm das Hörensagen und Nachsagen, das Weitersagen und Hersagen an die Stelle der »Teilnahme« am »verstehenden Sein zum Worüber der Rede« – also, mit der hier unüberhörbar mitsprechenden platonischen Distinktion, die Mimesis, die Stellvertreterin selbst, an die Stelle der Methexis. Zweifellos geht auch diese Substitution für ihn mit einer Wahrheitsverstellung einher: Die Sprache, in der die Unverborgenheit (aletheia) aufgeht, und mit ihr diese Unverborgenheit selbst, wird zu einem Vorhandenen entstellt, sie wird a limine zum Ding unter Dingen, das »aufgerafft« und »aufgegriffen« werden kann. Aber diese Distinktion zwischen Mimesis und Methexis, und auch das hat Heidegger, wie hier gleichfalls nicht auszuführen ist, gezeigt, hat in der Sprache stets schon begonnen, sich auszulöschen. Mimesis gibt es, sobald es die Sprache gibt; und sobald es sie gibt, hat sie die Demarkationslinie zur Methexis schon durchkreuzt: »[Bald] wird nicht mehr entscheidbar, was in echtem Verstehen erschlossen ist und was nicht. Diese Zweideutigkeit [des Geredes] erstreckt sich nicht allein auf die Welt, sondern ebensosehr auf das Miteinandersein als solches, sogar auf das Sein des Daseins zu ihm selbst.«40 Gerede ist nicht die eine Seite einer Unterscheidung gegen das Nichtgerede. Es ist vielmehr, und darin spricht wiederum die ›Logik‹ der Mimesis als eine der Unentscheidbarkeit sich aus, die Suspension der Entscheidung darüber, ob es jeweils Gerede ist oder nicht vielmehr nicht ist. Und wer würde sich besten Gewissens und empört dagegen verwahren, Gerede zu sein – wenn nicht die »Verständigkeit«? So stößt die Analytik am Ende dort, wo sie den beunruhigendsten Zug des Geredes freilegt, auf die Möglichkeit der Unmöglichkeit dieser Freilegung selbst. Und sobald er spricht, ist darum auch der Philosoph, der das sophón liebt, virtuell bereits zu seinem Doppelgänger geworden, zu jenem mimetes tou sophou, der die Antisemitismus«, in: dies., Dialektik der Aufklärung, Frankfurt am Main: Fischer 1982. 39 Martin Heidegger: Gelassenheit, Tübingen: Neske 1988, S. 30. 40 M. Heidegger: Sein und Zeit, S. 173. 146
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Liebe zu ihm bloß mimt. Was sich in jenen Paragraphen von Sein und Zeit zu Wort meldet, ist jedenfalls nicht die Sicherheit einer kritischen Entscheidung, die zu wissen meint, wo das Gerede beginnt und wo es endet, sondern eher (aber das würde eine andere Lektüre erfordern) jene Angst, von der ein früher Kommentar Heideggers zu den Confessiones des Augustinus handelt: »Angst vor dem eigensten Betrüger in sich selbst«.41 Keine Rede kann entscheiden, ob sie am Ende nicht doch Gerede ist. Kein Sprechender kann entscheiden, wer spricht (er selbst, ein anderer, ein Niemand?), ja ob er überhaupt gesprochen oder nicht vielmehr nur nach- und weitergesprochen hat. Wer weiß?
Literatur Augustinus, Aurelius: Confessiones, lateinisch und deutsch, übersetzt von Joseph Bernhart, Frankfurt/Main: Insel 1987. Barthes, Roland: La chambre claire, in: ders., Œeuvres complètes, tome 3, Paris: Les Éditions du Seuil 1995. Blumenberg, Hans: »Anthropologische Annäherungen an die Aktualität der Rhetorik«, in: ders., Ästhetische und metaphorologische Schriften, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2001. Derrida, Jacques: »La pharmacie de Platon«, in: ders., La dissémination, Paris: Les Èditions du Seuil 1972. Diderot, Denis: Paradoxe sur le comédien, précédé des Entretiens sur le Fils naturel, Paris: Flammarion 1988. Girard, René: Mensonge romantique et vérité romanesque, Paris: Payot 1989. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Erster Teil, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1970 Heidegger, Martin: Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis), GA, Band 65, Frankfurt/Main: Klostermann 1989. Heidegger, Martin: »Der Ursprung des Kunstwerks«, in: ders, Holzwege, Frankfurt/Main: Klostermann 1981. Heidegger, Martin: Die Grundprobleme der Phänomenologie, GA, Band 24, Frankfurt/Main: Klostermann 1989. Heidegger, Martin: Gelassenheit, Pfullingen: Neske 1988. Heidegger, Martin: Kant und das Problem der Metaphysik, Frankfurt/Main: Klostermann 1991. Heidegger, Martin: Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, Frankfurt/Main: Klostermann 1995. 41 Martin Heidegger: Phänomenologie des religiösen Lebens, GA 60, Frankfurt/Main: Klostermann 1995, S. 67. 147
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Heidegger, Martin: Sein und Zeit, Tübingen: Niemeyer 1979. Heidegger, Martin: Was ist das – die Philosophie, Pfullingen: Neske 1992. Hölderlin, Friedrich: »[Was ist Gott?…]«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe, Bd. 1, München: Hanser 1981. Horkheimer, Max/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt/Main: Fischer 1982. Husserl, Edmund: Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen Philosophie, Tübingen: Niemeyer 1980. Lacoue-Labarthe, Philippe: La fiction du politique. Heidegger, l’art et la politique, Paris: Bourgois 1987. Luhmann, Niklas: Die Wissenschaft der Gesellschaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1992. Platon: Politeia, in: ders., Sämtliche Werke Bd. III, hg. von Ernesto Grassi, übers. von Friedrich Schleiermacher, Hamburg: Rowohlt 1981. Valéry, Paul: Eupalinos ou l’Architecte, in: ders., Œuvres, tome 2, Paris: Bibliothèque de la Pléiade 1974.
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»W I E D I E A N S T A L T S I E H A B E N M Ö C H T E …« – SELBSTBILDER IN DER SAMMLUNG PRINZHORN THOMAS RÖSKE
Die Sammlung Prinzhorn an der Psychiatrischen Universitätsklinik Heidelberg ist seit 2001 öffentlich zugänglich: als ein Museum für künstlerische Werke vorwiegend von Anstaltsinsassen und von, wie wir heute sagen, Psychiatrieerfahrenen.1 Sein wichtigster Besitz sind mehr als fünftausend Malereien, Zeichnungen, Skulpturen und Textilarbeiten, die nach dem Ersten Weltkrieg von einer Vielzahl psychiatrischer Anstalten, Sanatorien und Kliniken vor allem deutschsprachiger Länder nach Heidelberg geschickt wurden – auf einen Aufruf des Kunsthistorikers und Mediziners Hans Prinzhorn (1886-1933) hin. Er war 1919 als Assistenzarzt berufen worden, um eine bereits bestehende kleine Sammlung zu erweitern und in einer wissenschaftlichen Studie auszuwerten. Sein Buch Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung erschien 1922,2 ein Jahr, nachdem Prinzhorn die Klinik verlassen hatte. Der für die Zeit ungewöhnlich prachtvolle Band enthielt nicht nur die umfangreichste Erörterung von Fragestellungen um »Irrenkunst«; er machte das Gebiet, das heute der so genannten Outsider Art zugerechnet wird, mit seinen 170 Abbildungen auch erstmals für ein großes Publikum sichtbar. Erfolg hatte es wesentlich bei Künstlern und Kunstinteressierten.3 Als ›Klassiker‹ wurde es bis heute mehrfach wiederaufgelegt. In der Zeit, aus der die historischen Werke der Sammlung Prinzhorn stammen, den Jahrzehnten zwischen 1880 und 1930, hatten psychische 0* Ich danke für eine Diskussion meines Vortrags und für weiterführende Hinweise den Teilnehmern des Offenbacher Symposions und Dr. Bettina Brand-Claussen. 01 Siehe Rückblick: Sammlung Prinzhorn – Rückblick 2001-2005, hg. von Thomas Röske, Bettina Brand-Claussen und Monika Jagfeld, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2005. 02 Hans Prinzhorn: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin: Springer 1922. 03 Thomas Röske: Der Arzt als Künstler. Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886-1933), Bielefeld: Aisthesis 1995. 149
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Krisen andere Folgen als heute. Die Toleranz gegenüber einem Abweichen von ›normalem‹ Verhalten war geringer, die Stigmatisierung von ›Verrücktheit‹ stärker. Instruktiv ist das Gegenüber zweier Fotografien einer Frau, die Eintritt und Austritt dokumentieren sollten, nach dem Prinzip des ›Vorher – Nachher‹. Die Fotos sind in einem Album bewahrt, das um 1910 in der hessischen Anstalt Weilmünster zur Ausbildung des Personals angelegt wurde (Abb. 1).4 Abbildung 1: ›Vorher – Nachher‹. Anonyme Fotografien aus der Anstalt Weilmünster 1905-1914
Die Bürgersfrau im Zustand der Manie erscheint uns heute ›gesünder‹, glücklicher, freier als in ihrer gehemmten und angepassten Erscheinung beim Verlassen der Anstalt. Tatsächlich waren die Psychiater damals hilfloser als heute. Während dieser Tage die meisten, die eine psychische Krise durchleben, nur kurz stationär behandelt, das heißt mit Hilfe verschiedener Therapien und Medikamente resozialisiert werden, blieben damals die meisten Menschen mit der Diagnose Dementia praecox (vorzeitige Verblödung) – ab 1911 allmählich Schizophrenie – auf Dauer interniert. Sie wurden oft dreißig bis vierzig Jahre lang bis zu ihrem Tod weggeschlossen in Institutionen, wo man außer Bettbehandlung, Beruhigungsmitteln, Zwangsmaßnahmen (Dauerbad, Fixierungen, Tobzelle) und Arbeitstherapie keine Behandlungsmöglichkeiten kannte. Die Folge 04 Zu diesen Alben vgl.: Ins Gesicht sehen. Band 1: Anonyme Fotografien aus der Anstalt Weilmünster 1905-1914, hg. von Bettina Brand-Claussen und Thomas Röske, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2002. 150
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sozialer und intellektueller Unterstimulierung war fast immer eine Art Autismus, den man fälschlich als zwangsläufigen »schizophrenen Endzustand« deutete. Auch die historischen Werke der Sammlung Prinzhorn stammen vielfach von Langzeitpatienten, die sich kaum noch sprachlich äußerten. Anders als Prinzhorn sehen die wissenschaftlichen Mitarbeiter des Museums heute weniger Eruptionen des Unbewussten darin, sondern versuchen, durch biographische Recherche und kultur- und sozialhistorisches Kontextualisieren den Mitteilungscharakter der Werke offen zu legen. Besonders sprechend können in dieser Hinsicht Selbstdarstellungen sein, wobei sich die von männlichen und weiblichen Anstaltsinsassen in charakteristischer Weise unterscheiden. Einige hat auch Prinzhorn unter die Illustrationen seines Buches aufgenommen. Allerdings schien ihm ein »bildnerische(s) Selbstbekenntnis« im »vollen Sinne des Wortes« allein der »Könner« Franz Karl Bühler (1864-1940) (von ihm »Franz Pohl« genannt) geschaffen zu haben, »der seine Wortsprache längst nur noch zu verschrobenen Spielereien benutzt.«5 Der Farbstiftzeichnung von 1918 widmete er eine ganze Seite (Abb. 2). Hier hat sich der Kunstschmied, der sich in der Zeit seines Anstaltsaufenthaltes ab 1898 zum freien Künstler entwickelte, in einem Büstenausschnitt dargestellt, »den Kopf leicht vorgeneigt, mit runden, lebhaft herausschauenden Augen«. Prinzhorn vergleicht dieses Porträt mit Vincent »van Goghs späte(m) Selbstbildnis«: »nur dort treffen wir einen Menschen, der in so brennender Spannung hinausschaut und dabei so trostlos zerstört in seinem Weltgefühl zu sein scheint.«6 Was die Qualität des Blattes herausstellen soll, macht vor allem den Maßstab des Urteilenden und die Grundlage seiner Sicht auf »Bildnerei der Geisteskranken« deutlich: Prinzhorns Geschmack ist vom Spätimpressionismus und Expressionismus geprägt.7 Und von der Authentizität (»Echtheit«) der »Irrenkunst« ist er überzeugt, weil für ihn die ähnlichen Werke van Goghs die unmittelbare Nachbarschaft von Genie und Wahnsinn belegen. Prinzhorn folgt also bei seinem Wertschätzen des Unkonventionellen Konventionen seiner Zeit. Das zeigt sich bei dieser Zeichnung auch in seinem Schweigen über andere ihrer gestalterischen Verfahren. Auffällig ist, dass Bühlers Büste Aufschriften verschiedener Größe und Type umgeben, Mitteilungsfragmente, die eine für uns inkohären05 Prinzhorn, Bildnerei, S. 286. 06 Ebd. 07 Bettina Brand-Claussen: »Prinzhorns ›Bildnerei der Geisteskranken‹ – ein spätexpressionistisches Manifest«, in: Vision und Revision einer Entdeckung, hg. von Inge Jádi und Bettina Brand-Claussen, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2001, S. 11-31. 151
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te Botschaft bilden – Repräsentanten zerfallenden Sinns, aus denen der Künstler mit leicht gesenktem Kopf hervorschaut: Vor allem die ausgemalte, »offizielle« Fraktur betont die Fläche, die sein Kopf in unsere Richtung durchbricht, als wolle er mit seiner leicht demütigen Haltung und seinem traurig fragenden Blick dem Betrachter näher kommen, als (ihm) dies mit Sprache (noch) möglich ist. Abbildung 2: Franz Karl Bühler, o.T. (Selbstporträt), 1918, Farbstifte und Kreide, z.T. laviert, auf Zeichenpapier, 27,7 x 18,9 cm, Inv.Nr. 2987.
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SELBSTBILDER IN DER SAMMLUNG PRINZHORN
Weitere Selbstdarstellungen Bühlers belegen ebenfalls, dass ihm gerade an einem Problematisieren von Konventionen gelegen war. So zeigt er sich zum Beispiel einmal (Abb. 3) mit einem mehrdeutigen länglichen Gegenstand in Händen, den er zum Mund geführt hat. Abbildung 3: Franz Karl Bühler, o.T. (Selbstbildnis), um 1909, Kreide auf Papier, 41,5 x 30,9 cm, Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Inv.Nr. 2831.
Zunächst scheint es, dass er Flöte spielt, zumal seine Backen aufgeblasen sind und sein Blick auseinander oder ins Leere geht, wie bei jemandem, der sich auf Klang konzentriert. Es gibt noch andere Zeichnungen Bühlers mit Musikern, auf einer hält er auch zwei Querflötenspieler fest.8 Sie 08 Franz Karl Bühler, o.T. (Flötenspieler), 1920, Bleistift, Sammlung Prinzhorn, Inv.Nr. 3025, fol. 13, abgebildet in: Franz Karl Bühler (Offenburg 1864-Grafeneck 1940). Bilder aus der Prinzhorn-Sammlung, Ausstellungs153
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belegen zugleich, dass er wusste, wie man Musikinstrumente gebraucht. Daher greift er sicherlich nicht aus Unkenntnis die Längsflöte verkehrt: Seine Linke hält er umständlich mit dem Rücken nach unten. Ist das, was er hält, aber wirklich eine Flöte? Ist es nicht eher eine Karotte oder – das vordere Ende sieht aus wie eine Eichel – ein männliches Geschlechtsteil? Man könnte an den umgangssprachlichen Ausdruck für Fellatio denken: jemandem einen blasen; auch das Wenden nach links und der geringere Platz dort sprechen für eine intime, der Öffentlichkeit entzogene Handlung. Blickt man auf die Leidensgeschichte Bühlers, erhält dieser Verweis auf eine homosexuelle Praktik noch eine weitere Dimension: Die Verfolgungsideen, die ihn schließlich in die Anstalt brachten, entwickelte er nach seiner Entlassung aus der Kunstgewerbeschule in Straßburg 1896, die er als tiefe Kränkung und traumatischen Einschnitt seiner Biographie erlebte.9 Bühler scheint sich auf dieser Kreidezeichnung als jemanden darzustellen, der den Phallus, die männliche Rolle innerhalb der Gesellschaft nur ungelenk zu gebrauchen weiß, der marginalisiert wurde, weil er die Spielregeln der Gesellschaft nicht beherrschte. Männer und Frauen wurden um 1900 auch in psychiatrischen Anstalten unterschiedlich behandelt.10 Bei Männern war Gesundungsziel das verantwortliche und arbeitsfähige gesellschaftliche Subjekt – für das Leiden unter Defiziten in dieser Richtung sind gerade Bühlers Selbstporträts gute Beispiele. Demgegenüber sollte die verrückte Frau affektiv korrigiert und in die Rolle des angepassten Objekts zurückgeführt werden. Tatsächlich lassen die Krankenakten erkennen, dass junge Frauen damals nicht selten deshalb in psychiatrische Behandlung gegeben wurden, weil sie gegen gesellschaftliche Erwartungen verstoßen hatten. Der Anpassungsdruck auf Frauen war größer. Das zeigt sich auch in Selbstdarstellungen von Psychiatriepatientinnen, wie zwei Beispiele belegen sollen.
katalog Museum im Ritterhaus, Offenburg: Museum im Ritterhaus 1993, S. 123. 09 Zu Bühler vgl. zuletzt: Monika Jagfeld: »Geistertänzer. Franz Karl Bühler – Ein ›Geisteskranker‹ als Expressionist?«, in: Expressionismus und Wahnsinn, Ausstellungskatalog Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloß Gottorf, München: Prestel 2003, S. 88-94. 10 Siehe hierzu Maike Rotzoll u.a.: »Frauenbild und Frauenschicksal – Weiblichkeit im Spiegel psychiatrischer Krankengeschichten zwischen 1900 und 1940«, in: Irre ist weiblich – Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie, hg. von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, u.a., Heidelberg: Wunderhorn 2004, S. 45-52. 154
SELBSTBILDER IN DER SAMMLUNG PRINZHORN
Ihre Wahrnehmung des Verhältnisses von Arzt und Patientin setzt Minna Köchler (1886 – nach 1920) 1906 ins Bild (Abb. 4).11 Abbildung 4: Minna Köchler, Sie Selbst/Herr Dr. Wilmanns, 1906, Bleistift auf Aktenpapier, 33,0 x 21,0 cm, Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Inv.Nr. 4067 fol. 1v.
Auf das Blatt im Querformat hat sie ihr eigenes Gesicht gezeichnet – von fremder Hand steht »Sie Selbst« darunter. Wenige sichere Linien charakterisieren die sanften Augen, die weiche Nasenspitze und den geschlossenen sinnlichen Mund. Die Züge wirken entspannt, nur auf der Stirn, unter dem Ansatz des zurückgekämmten (hinten zu Zöpfen geflochtenen) Haars, stehen drei Falten. Dass man sie nicht gleich sieht, liegt an einer Irritation der Zeichnung. Sie wird hier überlagert von dem kleineren Kopf eines Mannes im Profil, der im Winkel von 90 Grad zum Selbstbildnis steht. Köchler hat das Blatt beim Zeichnen auf die Seite gedreht. Bei dem Brillenträger mit dem gezwirbelten Schnurrbart und dem hohen steifen Kragen handelt es sich, so die Beischrift, um »Herr(n) Dr. Wilmanns« – laut Krankenakte damals ihr behandelnder Arzt an der Heidelberger Psychiatrischen Universitätsklinik (nach dem Weltkrieg wird er deren Direktor und hat die Idee zu dem heute nach Prinzhorn benannten Sammlungsprojekt). Mit dem Gegensatz von en face und Profil und dem unterschiedlichen Ausrichten des Blattes betont Köchler gestalterisch die Distanz zwischen ihr und dem Arzt. Die Überlagerung der beiden Dar11 Zu Minna Köchler vgl.: Irre ist weiblich, Ausst. Kat. Heidelberg 2004, S. 257 f. 155
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stellungen scheint zunächst zufällig, zumal Köchler sich auch anderswo auf dem Blatt an diesem Männerprofil versucht hat.12 Doch macht eine Korrektur stutzig, mit welcher die Kontur des männlichen Hinterkopfes zweimal vergrößert wurde. Denn gerade diese Dreierlinie reicht in das Selbstbildnis Köchlers hinein und korrespondiert hier zu den drei Falten über den Augen. Die Zeichnerin reagiert mit Stirnrunzeln auf das schrittweise Vordringen des Arztkopfes in den ihren. Indem sie eine erspürte psychische Fremdbestimmung als physische Belastung darstellt, begehrt sie dagegen auf. Von ähnlichem Widerstand gegen einen von der Institution ausgeübten psychischen (Anpassungs-)Druck spricht eine aquarellierte Pinselzeichnung von Maria Puth aus der privaten Kuranstalt Obersendling in München, datiert auf den 20.3.1919 (Abb. 5).13 Das Blatt zeigt eine Frauenfigur in einem weich fließenden rosa Kleid mit schwarzen Punkten, die Hut und Stockschirm trägt. Die feinen Gesichtszüge wirken ernst, die Augen sind geschlossen. Die Gestalt ist von Graulavierungen umgeben und steht auf grauschwarzem Grund. Links hinten deuten mehrere Pinselzüge in Violettrosa und Orange einen Sonnenuntergang an. Lockere Bleistiftstriche fassen die Darstellung ganz ein, nur über dem Kopf ist dieser Rahmen unterbrochen. Oben links hat ein Arzt mit Feder seine Diagnose notiert: »M.P., geb. 1.7.94. Manischdepressiv. Heitere Erregung mit kurzen Depressionen.« Puth selbst hat das Bild unten auf dem Blatt kommentiert: »Ria Puth, wie die Anstalt sie haben möchte, sie aber scala Dei (sc. ›leider Gottes‹) nie wird.« Dies ist ein sprechendes Gegenbeispiel zu Prinzhorns These von der unbewussten bildnerischen Gestaltung von Psychiatriepatienten, ein Blatt, das er wohl schon deshalb, aber auch wegen seiner schlichten Gegenständlichkeit nicht abgebildet hat. Puth dreht unter den Augen ihrer Ärzte eine höchst originelle bildnerisch-argumentative Pirouette. Sie zeigt, dass sie weiß, welche innere wie äußere Haltung der Anstalt für sie vorschwebt – wobei sie der Darstellung einer modisch gekleideten und verhalten auftretenden Frau deutlich traurige Züge verleiht (eine depressive Grundstimmung macht nicht zuletzt gefügig oder ist die Folge derartiger Gefügigkeit). Auf anderer Ebene, der des begleitenden Textes, distanziert sie sich von dem locker gestalteten Selbstbild und verweist es ins Irreale. Das verballhornte Latein der Wendung »scala Dei« (= »Leiter Gottes«) gibt Ironie zu erkennen: Gegen die Anpassung an das entworfene Bild steht nicht eine äußere, ihrem Willen entzogene Macht, son12 Obgleich am rechten Bildrand ein anderer Name aufgezeichnet wurde, scheint es sich stets um den Kopf desselben Mannes zu handeln. 13 Zu Maria Puth vgl.: Doris Noell-Rumpeltes: »Maria Puth«, in: Irre ist weiblich, Ausst. Kat. Heidelberg 2004, S. 196. 156
SELBSTBILDER IN DER SAMMLUNG PRINZHORN
dern allein sie selbst. Das Blatt von Maria Puth macht deutlich, dass Anstaltsinsassen durchaus in der Lage waren, die komplexen Machtverhältnisse innerhalb dieser Institutionen zu reflektieren. Abbildung 5: Maria Puth, Wie die Anstalt sie haben möchte …, 1919, Deckfarbe über Bleistift auf Zeichenpapier, 24,2 x 14,9 cm, Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Inv.Nr. 2544
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Wie an diesen Beispielen deutlich wurde, können bildnerische Äußerungen von Insassen psychiatrischer Anstalten auf »Eigensinn« besonderen Anspruch erheben – und das nicht so sehr deshalb, weil ihre Wahrnehmung, ihr Denken und Empfinden vollkommen anders als das der Menschen außerhalb der Anstaltsmauern wäre, wie Prinzhorn im Konsens mit der damaligen Psychiatrie meinte. Vielmehr zeigt sich in vielen dieser Werke gerade auch die Auseinandersetzung mit einer erlebten Differenz zu den Erwartungen der umgebenden Gesellschaft, motiviert entweder aus Leiden daran oder aus Widerstand dazu.
Literatur Brand-Claussen, Bettina: »Prinzhorns ›Bildnerei der Geisteskranken‹ – ein spätexpressionistisches Manifest«, in: Vision und Revision einer Entdeckung, hg. von Inge Jádi und Bettina Brand-Claussen, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2001, S. 11-31. Franz Karl Bühler (Offenburg 1864-Grafeneck 1940). Bilder aus der Prinzhorn-Sammlung, Ausstellungskatalog Museum im Ritterhaus, Offenburg: Museum im Ritterhaus 1993. Ins Gesicht sehen. Band 1: Anonyme Fotografien aus der Anstalt Weilmünster 1905-1914, hg. von Bettina Brand-Claussen und Thomas Röske, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2002. Irre ist weiblich – Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie, hg. von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, u.a., Heidelberg: Wunderhorn 2004. Jagfeld, Monika: »Geistertänzer. Franz Karl Bühler – Ein ›Geisteskranker‹ als Expressionist?«, in: Expressionismus und Wahnsinn, Ausstellungskatalog Stiftung Schleswig-Holsteinische Landesmuseen, Schloß Gottorf, München: Prestel 2003, S. 88-94. Noell-Rumpeltes, Doris: »Maria Puth«, in: Irre ist weiblich – Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie, hg. von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, u.a., Heidelberg: Wunderhorn 2004, S. 196ff. Prinzhorn, Hans: Bildnerei der Geisteskranken. Ein Beitrag zur Psychologie und Psychopathologie der Gestaltung, Berlin: Springer 1922. Röske, Thomas: Der Arzt als Künstler. Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886-1933), Bielefeld: Aisthesis 1995.
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SELBSTBILDER IN DER SAMMLUNG PRINZHORN
Rotzoll, Maike u.a.: »Frauenbild und Frauenschicksal – Weiblichkeit im Spiegel psychiatrischer Krankengeschichten zwischen 1900 und 1940«, in: Irre ist weiblich – Künstlerische Interventionen von Frauen in der Psychiatrie, hg. von Bettina Brand-Claussen und Viola Michely, Ausstellungskatalog Sammlung Prinzhorn Heidelberg, u.a., Heidelberg: Wunderhorn 2004, S. 45-52. Rückblick: Sammlung Prinzhorn – Rückblick 2001-2005, hg. von Thomas Röske, Bettina Brand-Claussen und Monika Jagfeld, Heidelberg: Sammlung Prinzhorn 2005.
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DAS
PHOTOGRAPHISCHE
PORTRAIT
ZWISCHEN IDENTITÄT UND IDENTIFIKATION BEI
WALTER BENJAMIN
UND
W.G. S E B A L D
ANJA LEMKE
In seinem Essay Das Paris des Second Empire bei Baudelaire schreibt Benjamin: »Am Anfang des Identifikationsverfahrens […] steht die Personalbestimmung durch Unterschrift. In der Geschichte dieses Verfahrens stellt die Erfindung der Photographie einen Einschnitt dar. Sie bedeutet für die Kriminalistik nicht weniger als die des Buchdrucks für das Schrifttum bedeutet hat. Die Photographie ermöglicht zum ersten Mal, für die Dauer und eindeutig Spuren von einem Menschen festzuhalten. Die Detektivgeschichte entsteht in dem Augenblick, da diese einschneidendste aller Eroberungen über das Inkognito des Menschen gesichert war. Seither ist kein Ende der Bemühungen abzusehen, ihn dingfest im Reden und Tun zu machen.«1 Das Medium der Photographie ist seit seiner Entstehung an die Frage nach der Ausbildung von Identität gebunden. Nicht zufällig war es zunächst die Portraitphotographie, die dem Medium im 19. Jahrhundert öffentliches Interesse und breiten Erfolg sicherte. Das aufstrebende Bürgertum fand im Selbstportrait ein ausgezeichnetes Ausdrucksmittel der eigenen neuentdeckten Identität. In Anlehnung und Nachahmung der überwiegend dem Adel vorbehaltenen Portraitmalerei ließ sich durch die Portraitphotographie das wachsende Bedürfnis nach Repräsentation der eigenen Schicht befriedigen. Die Photographie »erweitert, beschleunigt, popularisiert und entwertet« die traditionelle Funktion des Portraits, »für die zeremonielle Präsentation des bürgerlichen Ich zu sorgen.«2 Gleichzeitig beginnt das Portrait im Rahmen medizinischer, anatomischer und 01 Walter Benjamin: »Das Paris des Second Empire bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1989, Bd. I, S. 550. 02 Allan Sekula: Der Körper und das Archiv, in: Herta Wolf (Hg.), Diskurse der Fotografie. Fotokritik am Ende des fotografischen Zeitalters, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2003, S. 269-334, hier S. 273. 160
DAS PHOTOGRAPHISCHE PORTRAIT
später auch kriminologischer Darstellungsformen, das »Terrain des Anderen« abzustecken, Typologien zu entwerfen, Norm und Abnorm zu definieren. Allan Sekula spricht von einem »nobilitierenden« und einem »repressiven Pol der Portraitfotografie«.3 Im Kontext staatlicher Identifikationssysteme ergänzt das Portrait – Benjamins Zitat erinnert daran – die Signatur. Unterschrift und Portrait, die beiden schriftlichen und bildlichen Bürgen individueller Identität, bilden gleichzeitig die tragenden Säulen der Herrschafts- und Kontrollmöglichkeiten über den Menschen. Indem sie Identität zu garantieren scheinen, geben sie den Einzelnen gleichzeitig der Normierung und Etikettierung preis. Was die analoge Repräsentation des Ich durch die Schrift noch übertrumpfen sollte, die dauerhafte Abbildung des Einzelnen in der Portraitphotographie, wird gleichzeitig zum Einfallstor staatlicher Überwachung und Kontrolle. Der Beitrag untersucht zwei literarische Strategien im Umgang mit diesem double bind der Portraitphotographie in Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert und W.G. Sebalds Die Ausgewanderten. Beide Texte kreisen um das Problem der Erinnerung, um die erzählerischen Schwierigkeiten bei der (Re-)konstruktion von Geschichte – der eigenen wie der fremden, beziehungsweise der eigenen-fremden. Denn die Erzählung zielt ja gerade auf die Singularität des vergangenen anderen, auch dort, wo diese Erzählung den Namen »Autobiographie« trägt. In ihren Versuchen, ein Zeugnis abzulegen von vergangenem Leben, zeigt sich in der Verfertigung der Erzählungen auf unterschiedliche Weise das Problem der Alterität dessen, was dargestellt werden soll. In diesem Sinne kann Paul de Mans Bestimmung der Prosopopöie im und am Genre der Autobiographie als Bestimmung einer Figur verstanden 03 Ebd., S. 274. Wie schon Gisèle Freund (Gisèle Freund: Photographie und Gesellschaft, München: Rogner&Bernard 1974) betont auch Sekula die Verbundenheit beider Aspekte durch die tragende Rolle des Privateigentums für die bürgerliche Gesellschaft. »In dem Maße, in dem die bürgerliche Ordnung von der systematischen Verteidigung der auf Privateigentum beruhenden gesellschaftlichen Verhältnisse abhängt, in dem Maße, in dem die rechtliche Grundlage des Ich auf dem Modell des Eigentumsrechts beruht, hat im sogenannten Besitzindividualismus jedes ehrenwerte Portrait sein verborgenes, objektivierendes Gegenstück in den Aktenschränken der Polizei.« (ebd.) Vgl. zur Rolle der Photographie im Rahmen moderner Disziplinierungssysteme auch John Taggs in Anschluß an Foucaults Analyse des Panoptismus geschriebene Studie »Power and Photography – Part I, A Means of Suveillance. The Photograph as Evidence in Law«, in: Screen Education 36 (Herbst 1980), S. 17-55, wiederabgedruckt in: ders., The Burden of Representation. Essays on Photographies and Histories, Amherst: Univ. of Massachusetts Press 1988, S. 66-116 und Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München: Fink 1999. 161
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werden, die die Frage der schreibenden Erinnerung überhaupt deutlich macht.4 Es geht um das Problem, ob und wie sich die Alterität in der Erzählung des Ich zur Darstellung bringen lässt, ohne sie um ihre Singularität zu bringen. Im Akt der Erzählung wird die Geschichte des Anderen mit Gesicht und Stimme belegt, um sie dergestalt vor der Sterblichkeit zu retten, um den Preis, sie gerade dadurch um das eigene, vergangene Leben zu bringen. Was Benjamin in Paris des Second Empire bei Baudelaire unter dem Stichwort der Identifikation verhandelt, taucht als ethisches Grundproblem aller Literatur wieder auf, wenn sie sich die Frage nach dem Andenken an den Tod und das Abwesende stellt. Im Mittelpunkt steht in beiden Texten die Rolle des Blicks, das Ausloten verschiedener Formen des Wahrnehmens durch die Verschränkung von Text und Bild, durch die das Problem der Gleichzeitigkeit von Identität und Identifikation sowohl für den Erzähler als auch für den Rezipienten virulent wird. Auf der Ebene der Erzählungen wie auch auf der Ebene der Lektüre wird durch die Frage nach den Blickrichtungen und den Perspektiven die Frage nach dem Verhältnis von Betrachter und Text/Bild erkennbar und als verstecktes Aneignungsverfahren im Rahmen der Geste von Anerkennung und Identitätsstiftung sichtbar. Dem Medium der Portraitphotographie wohnt die Objektivierung des Subjekts grundlegend inne. In der Erstarrung zum Bild macht sich das Subjekt zum Objekt des Blicks – es wird ›photo-graphiert«.5 Durch die Fixierung zeigt die Photographie das Einpassen des Anderen ins eigene Blickfeld im Akt des Anblickens und treibt so zentrale Fragen einer Ethik in der Ästhetik hervor. Kann es einen einfühlenden Blick geben, der denjenigen, der angeblickt wird und in diesem Blick konstruiert wird, im Moment der Einfühlung nicht zum Objekt eines Erkenntnisprozesses, zum Spiegel des Eigenen oder zum Opfer von Kontrolle und Identifikation macht? Wie ist das Eingedenken des Anderen im Text möglich, ohne ihn im Akt dieses Eingedenkens um seine Andersheit zu bringen, oder anders gefragt, wie markieren Texte im Umgang mit der Frage des Blicks diese unumgängliche Schwierigkeit jeder Erinnerungsgeste? 04 Vgl. Paul de Man: »Autobiography as Defacement«, in: The Rhetoric of Romanticism, New York 1984, 80f., dt.: Paul de Man: Die Ideologie des Ästhetischen, hg. von Christoph Menke, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1993, S. 145: »Tod ist ein verdrängter Name für ein sprachliches Dilemma, und die Wiederherstellung der Sterblichkeit durch die Autobiographie (die Prosopopöie der Stimme und des Names) beraubt und entstellt genau in dem Maße, wie sie wiederherstellt. Die Autobiographie verschleiert und maskiert eine Entstellung des Geistes, die sie selbst verursacht.« 05 Vgl. Jacques Lacan: Das Seminar XI (1964): Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse, übers. von Norbert Haas, Olten, Freiburg i. Br.: Walter 1980, S. 113. 162
DAS PHOTOGRAPHISCHE PORTRAIT
Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert6 Benjamins autobiographisches Projekt der Darstellung seiner Berliner Kindheit um neunzehnhundert greift die Frage nach dem Spannungsfeld von Identifikation und Identität in mehrfacher Hinsicht auf. Insgesamt ist die Autobiographie wie kein anderes Genre mit der Ausbildung moderner Subjektkonzeptionen verbunden, und auch Benjamins Text bleibt, trotz der Beteuerung, es handele sich nicht um eine Autobiographie im klassischen Sinne,7 was dieses Problemfeld angeht, der Grundfrage des Genres verhaftet; ja mehr noch, sie erhält bei ihm angesichts der Verfolgungssituation seit 1933 eine lebensbedrohliche reale Dimension. Kein anderer Text spiegelt in seinem Entstehungsprozess die Geschichte der Verfolgung, Exilierung und Heimatlosigkeit seines Autors so direkt wie diese Sammlung einzelner Erinnerungsbilder aus der frühen Kindheit. Was 1931 als Auftragsarbeit begann, wurde zu einem auf den verschiedenen Stationen des Exils immer wieder umgearbeiteten Konvolut von einzelnen Erinnerungsepisoden, das trotz Benjamins intensiver Bemühungen zu seinen Lebzeiten nicht mehr in Buchform erschien. In Deutschland sind zwischen Dezember 1932 und August 1934 lediglich einzelne Stücke in der Frankfurter und der Vossischen Zeitung abgedruckt worden, ab August 1933 nur noch anonymisiert oder unter den Pseudonymen Detlef Holz und C. Conrad. Die einzelnen Fragmente des »zerschlagenen Buches«8 Berliner Kindheit um neunzehnhundert tragen keinen Namen mehr. Auf diese drohende Auslöschung des Ich von außen reagiert die Berliner Kindheit mit immer neuen Verhüllungsstrategien, durch die dem autobiographischen Ich im Text Zuflucht gewährt werden soll, statt es, wie in der Autobiographie sonst üblich, in ihm gerade Form gewinnen zu lassen. In diesem Sinn schreibt Benjamin im August 1933 aus Ibiza an Gretel Adorno: »Wüßte ich nicht je länger je genauer, welche Verbor06 Vgl. zum folgenden auch ausführlich meine Arbeit: Gedächtnisräume des Selbst. Zu Walter Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005, die dem folgenden Abschnitt zu Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert zugrunde liegt. 07 So bemerkt Benjamin in der Berliner Chronik, die als Vorarbeit zur Berliner Kindheit gelten kann: »Erinnerungen, selbst wenn sie ins Breite gehen, stellen nicht immer eine Autobiographie dar. Und dieses hier ist ganz gewiß keine, auch nicht für die berliner Jahre, von denen hier ja einzig die Rede ist. Denn die Autobiographie hat es mit der Zeit, dem Ablauf und mit dem zu tun, was den stetigen Fluß des Lebens ausmacht. Hier aber ist von einem Raum, von Augenblicken und vom Unstetigen die Rede.« Walter Benjamin: »Berliner Chronik«, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 488. 08 Vgl. den Brief Walter Benjamins an Gershom Scholem in: Walter Benjamin: Gesammelte Briefe, Bd. 5, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1999, S. 189. 163
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genheit gerade jetzt Versuchen wie denen der ›Berliner Kindheit‹ zukommt, so würde mich das publizistische Geschick der Folge bisweilen zur Verzweiflung bringen. Nun aber ist es an dem, daß dies Geschick mich lediglich in meiner Überzeugung von der notwendigen Verhüllung, in der allein Derartiges entwickelt werden kann, bestärkt und diese Überzeugung hilft mir wieder, vorläufig der Versuchung abzuschließen, zu widerstehen.«9 Die in der Berliner Kindheit formulierten Versuche, »Ich« zu sagen,10 befinden sich sämtlich in dieser Spannung zwischen der Notwendigkeit der Verhüllung und damit des Schutzes vor der Identifikation von außen und der Suche nach den noch verbleibenden Formen der Selbstdarstellung. Im Mittelpunkt steht nicht mehr das Begehren, das im Text aufscheinende Ich zur Identität von schreibendem und geschriebenem Selbst sich abrunden zu lassen, sondern vielmehr der Versuch, deren Differenz als Bedingung der Möglichkeit für die Erinnerung sichtbar zu machen. Ein entscheidendes Moment dieser Verhüllungsstrategie ist das, was Benjamin im Baudelaire-Essay als auratischen Blick beschreibt, bzw. dessen Transformation in ein poetisches Verfahren der »entstellten Ähnlichkeit«. Im Rahmen der Sprachpoetik der Berliner Kindheit wird der auratische Blick zu einer Gegenstrategie zu einem alles umfassenden, kontrollierenden Blick der Macht, wobei interessanterweise die in den medientheoretischen Schriften angelegte Dichotomie von Aura und Technik einer konstitutiven Verschränkung in der literarischen Darstellung weicht. Dies lässt sich vor allem am Beispiel der Photographie deutlich machen, die in der Berliner Kindheit nicht mehr allein ein Instrument staatlicher Kontrolle und Identifikation darstellt, sondern gleichzeitig an der Subversion dieser Kontrolle teilhat, indem sie mit der Wirkungsstrategie des auratischen Blicks verbunden und in ein gemeinsames sprachphilosophisches Konzept magisch-animistischer Entstellung eingebettet wird. In der Episode »Die Mummerehlen«, die Benjamin ursprünglich als Eingangstext für die Berliner Kindheit vorgesehen hatte, wird die prominente Rolle der Photographie als Erfassungsinstrument in ihrer Verschränkung mit dem Identitätsbegehren des Bürgertums am Beispiel des kindlichen Selbstportraits vorgeführt.11 Während am Beginn der Episode 09 Vgl. den Brief Walter Benjamins an Gretel Adorno im August 1933, ebd., Bd. 4, S. 275f. 10 Vgl. Benjamin: Berliner Chronik, in: ders., Gesammelte Werke, Bd. VI, S. 475f. 11 Vgl. zur Entstehungsgeschichte der Berliner Kindheit um neunzehnhundert die Anmerkungen der Herausgeber der Gesammelte Schriften zur »Berliner Chronik« in Bd. VI, zur Fassung der »Berliner Kindheit« in Bd. IV und zur 164
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die Anverwandlung des Kindes an die Dinge und die, wie es heißt »vor Ähnlichkeit entstellten Worte« beschrieben wird, wird dieser »Zwang ähnlich zu werden« bei der Beschreibung des Photographierens auf die problematische Forderung der Identitätsbildung selbst bezogen und stößt damit an seine Grenzen. Für das Kind steht der Tendenz zur Anverwandlung an die Dinge und die Worte das Unvermögen entgegen, sich selbst ähnlich zu werden. Jedwedem Gegenstand seiner Umwelt vermag es sich anzuverwandeln, »[n]ur meinem eigenen Bilde nie. Und darum wurde ich so ratlos, wenn man Ähnlichkeit mit mir selbst von mir verlangte. Das war beim Photographen.«12 Die Szene, die Benjamin dann im Atelier beschreibt, gleicht einer jener Jagdszenen, in denen die Beute zunächst in die Enge gedrängt und erlegt wird, um dann anschließend öffentlich ausgestellt zu werden. »Wohin ich blickte, sah ich mich umstellt von Leinwandschirmen, Polstern, Sockeln, die nach meinem Bilde gierten wie die Schatten des Hades nach dem Blut des Opfertiers. Am Ende brachte man mich einem roh gepinselten Prospekt der Alpen dar, und meine Rechte, die ein Gemsbarthütlein erheben musste, legte auf die Wolken und Firnen der Bespannung ihren Schatten.«13 Die Szene im Atelier des Photographen unterstreicht zunächst die vernichtende Kraft des identifizierenden Aktes des Portraits. Folgt man der indexikalischen Spur dieser Beschreibung, stößt man auf ein Bild von Walter und Georg Benjamin, das ca. 1902 im Atelier Gillert gemacht wurde und das der Herausgeber der Gießener Fassung der Berliner Kindheit dem Text hinzugefügt hat (Abb.1). Doch anders als das beschriebene Selbstportrait zunächst suggeriert, wird die drohende Erstarrung in der Selbstidentität vom Text unterlaufen, wenn es in diesem weiter heißt: »Doch das gequälte Lächeln um den Mund des kleinen Älplers ist nicht so betrübend wie der Blick, der aus dem Kinderantlitz, das im Schatten der Zimmerpalme liegt, sich in mich senkt. Sie stammt aus einem jener Ateliers, welche mit ihren Schemeln und Stativen, Gobelins und Staffelein etwas vom Boudoir und von der Folterkammer haben.«14 Und obwohl der Text fortfährt: »Ich stehe barhaupt da«, ist es nicht das Kinder-Ich Benjamins, dessen trauriger Blick
»Fassung letzter Hand« im Nachtragsband VII sowie das Nachwort von Rolf Tiedemann zur 2000 gesondert herausgegebenen frühen sogenannten »Gießener Fassung« nach der das Stück »Die Mummerehlen« im folgenden zitiert wird. Vgl. Walter Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, hg. und mit einem Nachwort von Rolf Tiedemann, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2000. 12 Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, S. 7. 13 Ebd. 14 Ebd., S. 8. 165
ANJA LEMKE
hier den Erzähler und den Leser trifft, sondern die Kindergestalt Franz Kafkas (Abb.2). Abbildung 1: Walter und Georg Benjamin in Schreiberhau. Carte-de-Visite-Photographie des Atelier Gillert, ca. 1902
Abbildung 2: Franz Kafka im Alter von ca. 5 Jahren
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DAS PHOTOGRAPHISCHE PORTRAIT
Das der autobiographischen Beschreibung zugrundeliegende Kinderphoto Kafkas, das um das Jahr 1888 aufgenommen wurde,15 hat Benjamin mehrfach beschäftigt. In der Kleinen Geschichte der Photographie steht das Bild Pate für den Moment des Verfalls der Portraitphotographie auf dem Höhepunkt ihrer Popularität, wobei die Beschreibung deutliche Anklänge an die »Mummerehlen« zeigt. »Damals sind jene Ateliers mit ihren Draperien und Palmen, Gobelins und Staffeleien entstanden, die so zweideutig zwischen Exekution und Repräsentation, Folterkammer und Thronsaal schwankten und aus denen ein erschütterndes Zeugnis ein frühes Bildnis von Kafka bringt. Da steht in einem engen, gleichsam demütigenden, mit Posamenten überladenen Kinderanzug der ungefähr sechsjährige Knabe in einer Art von Wintergartenlandschaft. Palmenwedel starren im Hintergrund. Und als gelte es, diese gepolsterten Tropen noch stickiger und schwüler zu machen, trägt das Modell in der Linken einen unmäßig großen Hut mit breiter Krempe, wie ihn Spanier haben.«16
Dieses Bild gilt Benjamin als »Pendant« der frühen Portraitphotographie, auf welcher die Menschen noch nicht »abgesprengt und gottverloren in die Welt sahen wie hier der Knabe.«17 Der verlorene Blick wird zum eigentlichen Indiz des Verfalls der Aura im Zeitalter der bürgerlichen Portraitphotographie, während sich in der frühen Portraitphotographie trotz ihrer technischen Abbildungsweise noch Momente des Auratischen finden. »Im flüchtigen Ausdruck eines Menschengesichts winkt aus den frühen Photographien die Aura zum letzten Mal.«18 Möglich wird ein solcher Wink dadurch, dass sich in diesen frühen Bildern noch etwas vom Geheimnis der Gabe des Blicks bewahrt, durch den die Aura erfahren werden kann. Denn während das Medium im ganzen seine »unmenschliche«, ja »tödliche« Wirkung dadurch bezieht, dass »der Apparat das Bild des Menschen aufnimmt, ohne ihm dessen Blick zurückzugeben«, findet sich in den frühen Portraits noch jene Wechselwirkung des Blicks, die Benjamin im Baudelaire-Essay als kennzeich15 Die genaue Datierung ist nicht gesichert. Klaus Wagenbach spricht in seiner Kafka-Bildbiographie von »Kafka, etwa vier Jahre alt« (Klaus Wagenbach: Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Berlin: Wagenbach 1989, S. 28), Benjamin selbst spricht von einem »ungefähr sechsjährige[n] Knabe[n]«. Vgl. Walter Benjamin: »Franz Kafka«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 416. 16 Walter Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. II, S. 375. 17 Ebd. 18 Walter Benjamin: »Über einige Motive bei Baudelaire«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. I, S. 485. 167
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nend für die Aura beschreibt. Ein wesentliches Moment der Aura ist dort die Erfüllung der Erwartung des Angeblicktwerdens. »Dem Blick wohnt die Erwartung inne, von dem erwidert zu werden, dem er sich schenkt. Wo diese Erwartung erwidert wird, da fällt ihm die Erfahrung der Aura in ihrer Fülle zu.«19 Damit die Gabe des Blicks vom Angeblickten beantwortet werden kann, bedarf es der ganzen Aufmerksamkeit und Konzentration dessen, der den Blick schenkt, auf das Wesen desjenigen, der angeblickt wird. Nur wo der Blick im Sinne der Gabe sich wirklich dem Anderen als Anderem schenkt, vermag dieser zu antworten. Den Anderen als Anderen erfahren heißt im Zusammenhang mit der Aura, ihn in seiner ihm »eigenen Ferne, so nah sie auch sein mag« zu belassen. Es gilt, diese Ferne zu bewahren, wenn der Blick erwidert werden soll. Was so entsteht, ist eine Korrespondenz der Blicke, die durch ihre Wechselseitigkeit nicht in die Nähe zwingt, sondern die Distanz des jeweils anderen unbedingt wahrt. Es ist diese Mischung aus Bezug und Distanz, die für Benjamin die frühen Portraits auszeichnet. »Man hat von der Kamera Hills gesagt, dass sie diskrete Zurückhaltung wahre. Seine Modelle ihrerseits sind aber nicht weniger reserviert; sie behalten eine gewisse Scheu vor dem Apparat.«20 Kamera wie Portraitierter suchen durch ihre Blicke nicht, das Angeblickte möglichst nah heranzuholen, sondern rücken es durch den Blick vielmehr in die ihm eigene Ferne. Die Erfahrung des Auratischen wird so gebunden an die Bereitschaft der Blickenden, von sich selbst ab- und auf den anderen zuzusehen, so dass dieser in seiner Singularität und Uneinnehmbarkeit sichtbar wird. Sie bedarf einer Aufmerksamkeit, die das Betrachtete in der Freiheit der Distanz hält, aus der es zurückzublicken vermag. Erst im ausgehenden 19. Jahrhundert bekommt die Photographie die technische Möglichkeit, demjenigen, den sie abzubilden trachtet, »immer näher zu rücken«, ohne ihn dabei »anzusehen«. Sie wird damit Teil der modernen Reproduktionslogik einer möglichst großen Nähe. In dem Moment, in dem das aufstrebende Bürgertum die Portraitphotographie massenhaft als Instrument der eigenen Identitätssicherung einsetzt, tritt zutage, was Benjamin im Baudelaire-Essay als den Hauptgrund für den Verlust des Auratischen in der Photographie nennt: die Eindimensionalität des Blicks, wie sie sich in den unendlich traurigen Augen des kleinen Kafkas findet. Indem jedoch die Berliner Kindheit diese Eindimensionalität des Blicks in der bürgerlichen Portraitphotographie dadurch bricht, dass sie das Selbstportrait sprachlich mit dem Portrait Franz Kafkas verschränkt, 19 Ebd., S. 646. 20 Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 372. 168
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gelingt es der Sprache in diesem Augenblick, jene Wechselwirkung des auratischen Blicks als mögliche Erfahrungsdimension in den Text mit einzuschreiben. Es sind Kafkas »[u]nermeßlich traurige Augen«,21 die Benjamin an diesem Photo gefesselt haben, und die die Begegnung des eigenen Ich mit der fremden Photographie ermöglichen. Der Blick der Kinderaugen befreit das Selbst aus der identifizierenden Erstarrung in der Identität und lässt die unsinnliche Ähnlichkeit »augenblickhaft« durch die indexikalische Dimension des Photos durchscheinen. Statt das Ich den Blicken des Betrachters ungeschützt auszusetzen, dreht sich in dem Moment, in dem die beiden Bilder in den »Mummerehlen« vom Erzähler ineinandergeschoben werden, die Richtung des Blicks um. Nicht das schreibende Ich betrachtet sein eigenes Kinderphoto als Auslöser der Erinnerungsszene, sondern es ist der Blick des fremden Kindes, »der aus dem Kinderantlitz […], sich in mich senkt«,22 wodurch die eindimensionale Logik des Blicks, die den Photographierten schutzlos der Kontrolle und dem Voyeurismus des Betrachters aussetzt, aufgebrochen werden kann. Die enge Verbindung der photographischen Spurensicherung mit der Geschichte der staatlichen Kontrollmöglichkeiten, durch die die Frage nach der Identität sich in ihrer kriminalistischen Dimension zu erkennen gibt, wird durch die Trauer im Blick des Anderen momenthaft unterbrochen, und die geheimnisvolle Beziehung des Mediums zu seinem Abbild wird offenbar. Indem sich die Blickrichtung dreht, kann die identitätsstiftende Absicht der Photographie den Mechanismen der Kontrolle, der Identifikation und der Überwachung entzogen werden, bestehen diese doch wesentlich in einem System der Blicke, die, wie Foucault in Überwachen und Strafen schreibt, »sehen, ohne gesehen zu werden«.23 Die Beschreibung des eigenen Ichs entwindet sich auf diese Weise dem dichten Netz des unsichtbaren Blicks, das die Allmacht des Betrachters über den Betrachteten garantieren soll. Ähnlich wie in der Eingangssequenz von Foucaults Interpretation von Velasquez’ Las Meninas führt auch Benjamin durch die Überschreibung der beiden Photographien vor, wie das scheinbar eindeutige Rollenspiel zwischen Betrachter und Bild aufgebrochen werden kann. Während für Foucault bei Velasquez die umgedrehte Leinwand dafür sorgt, dass »Subjekt und Objekt, Zuschauer und Modell ihre Rollen unbegrenzt um[kehren]« und »verhindert […], daß die Beziehung der Blicke jemals 21 Ebd., S. 416. 22 Benjamin: Berliner Kindheit um neunzehnhundert. Gießener Fassung, S. 8. 23 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, übers. von Walter Seitter, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1994, S. 221. Vgl. zur Frage des panoptischen Blicks in Bezug auf die Berliner Kindheit auch Linda Haverty Rugg: Picturing ourselves. Photography and Autobiography, Chicago, London: Univ. of Chicago Press 1997, S. 133-188. 169
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feststellbar ist und definitiv hergestellt werden kann«,24 ist es bei Benjamin die Verschränkung von photographischem und narrativem Portrait, durch die mit literarischen Mitteln die Dynamik der Blicke erzielt wird. Im Text entzieht sich das beschriebene Ich in der Anverwandlung an das Fremde der geforderten Identifikation im doppelten Sinne, denn es entzieht sich nicht nur der Aufforderung zur Ähnlichkeit mit sich selbst im Medium der Photographie, es entzieht sich auch der Kardinalforderung des autobiographischen Schreibens nach Identitätsstiftung. Der apodiktische Satz über die Grenzen des Ähnlichwerdens: »nur meinem eigenen Bilde nie« unterläuft das Begehren der Photographie nach authentischer Abbildung, indem das Ich, vom traurigen Blick des sechsjährigen Kafka getroffen, dessen Blick ähnlich wird, statt die Szene in der vermeintlichen Selbstidentität des Portraits abzuschließen. Das »Entstelltwerden vor Ähnlichkeit« durch den mortifizierenden Zierrat des Ateliers wird durchbrochen von einer geheimen Korrespondenz der Trauer zwischen Kafka und Benjamin. An Stelle der Spuren, die das Kinder-Ich der Berliner Kindheit zu einem Steckbrief verfestigen könnten, tritt die Erfahrung der Ferne der Aura. Nicht zufällig bildet die Spur für Benjamin den Gegenbegriff zur Aura. Denn während die Aura bestimmt ist als die »einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie auch sein mag«25, ist die Spur gekennzeichnet durch die Erscheinung einer »Nähe, so fern das sein mag, was sie hinterließ«.26 Dieses Spannungsfeld bestimmt auch das Verhältnis von Objekt und Betrachter: »In der Spur werden wir der Sache habhaft, in der Aura bemächtigt sie sich unser.«27 Kafkas »unermesslich traurige Augen«, in ihrem eigenen Kontext Zeugen für die Entfremdung und Isolation des Menschen, sind durch die Verschiebung in den fremden Text zu Momenten einer auratischen Distanz des Blicks geworden, der sich dem Kontroll- und Identifikationsbegehren des schreibenden und lesenden Ich entzieht. Nicht der Blick des Lesers gelangt über eine Spurensuche zu einem gesicherten Bild des Ich, dieses Ich nimmt vielmehr selbst Bezug auf den Leser, indem es sich ihm in seiner Unverfügbarkeit als von der entstellten Ähnlichkeit betroffenes zeigt. Was so in der Lektüre erfahren wird, ist nicht die Identität des Anderen, sondern die Erfahrung der entstellten Ähnlichkeit als Bedingung der Möglichkeit des Selbst. Im Schei24 Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1974, S. 33. 25 Benjamin: »Kleine Geschichte der Photographie«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. II, S. 379. 26 Walter Benjamin: »Das Passagen-Werk«, in: ders., Gesammelte Schriften Bd. V, S. 560. 27 Ebd. 170
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tern der Spurensuche erfährt der Leser die Grenzen der Kontrolle über die zu identifizierenden Gegenstände und Menschen. Der Text ermöglicht ihm in diesem Scheitern die Erfahrung jener spezifischen Aufmerksamkeit, die Benjamin im Kafka-Essay mit einem Malebranche-Zitat das »natürliche Gebet der Seele« nennt.28 Erst durch die bedingungslose Hinwendung zu den Dingen schlagen diese »den Blick auf«.
W.G. Sebald: Die Ausgewanderten In allen Texten W.G. Sebalds bildet die Montage von Bildern, Photographien, Abbildungen von Alltagsgegenständen, Faksimiles und Zeichnungen eine entscheidende Komponente der Darstellung. Besonders die Photographien tragen zum »ambivalenten Realitätseffekt« seiner Erinnerungsprosa bei, indem sie die »referentielle Illusion«29 verstärken und mit dem Authentizitätsbegehren des Lesers spielen. Die in allen Prosatexten Sebalds stark autobiobgraphisch eingefärbte Instanz des Ich-Erzählers, dessen prekärer Status beim Verfertigen der Erzählungen in diesen immer wieder selbst thematisch wird, lässt sich dabei als der Textort markieren, an dem dieses Spiel mit Faktizität und Fiktion zusammenläuft und in seiner ganzen Ambivalenz für die Frage nach der Erinnerbarkeit des Anderen sichtbar wird. Besonders deutlich wird dies in Sebalds zweitem Prosaband Die Ausgewanderten, in dem der Ich-Erzähler in Vier lange[n] Erzählungen uns die Geschichte von vier Exilanten sowie die Form, wie diese ihm diese Geschichten anvertraut haben, erzählt. Der Umgang des Erzählers mit den fremden Erinnerungen zeigt die Verwobenheit von Aneignung in dem Wunsch, den Toten eine Stimme zu geben, beziehungsweise sich ein Bild von ihnen zu machen. So dient ein großer Teil der in den Ausgewanderten gezeigten und vom Erzähler beschriebenen Photos, vor allem die Portraits, der medialen Repräsentation der Vergangenheit durch die Materialität ihres Restes. Im Rahmen der vier Exil-Geschichten, die der Erzähler zu rekonstruieren bemüht ist, fungieren sie als Träger einer materiellen Spur zur Vergangenheit, sie sind »synekdochische Wiederholungen«,30 mit denen sich die 28 Vgl. Walter Benjamin: »Franz Kafka«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 432. 29 Vgl. Bart Philipsen: »Prosopopöie und Atropos: Blicke zwischen Text und Leser«, in: Eva Horn/Bettine Menke/Christoph Menke (Hg.): Literatur als Philosophie – Philosophie als Literatur, München: Fink 2006, S. 211-229, hier S. 223. 30 Silke Horstkotte: »Transgenerationelle Blicke. Fotografie als Medium von Gedächtnistradierung in ›Die Ausgewanderten‹«, in: Mémoire. Transfert. 171
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Hoffnung auf eine »Wiederkehr der Toten« verbindet, beziehungsweise umgekehrt, die Möglichkeit »einzugehen zu ihnen«.31 Hier geht es nicht allein um Faktizität im Sinne von Barthes’ »Es ist so gewesen«,32 sondern auch um die Nutzung der magischen Repräsentationskraft des Mediums Photographie, dessen Spur des Lichts – zumindest in seiner analogen Form – die Möglichkeit bietet, es als technisch gewendete Emanation zu verstehen, die die Toten auferstehen lässt.33 Der Erzähler, der die Lebensgeschichten der vier Exilanten zu rekonstruieren sucht, übernimmt dabei die Position des Sammlers, der über die Photographien als anwesendem Rest Zugang zur abwesenden Vergangenheit sucht. Mit der Sammlung der Photographien verbindet sich der Wunsch, »mehr über die Lebensläufe der auf ihnen Abgebildeten in Erfahrung zu bringen«.34 Die Photos sind dem Erzähler jedoch nicht nur Auslöser seiner eigenen Recherchen, sie dienen ihm vielfach auch als Interpretationsmaterial, durch das seine eigene Erzählerposition gestärkt und sein Zeugenstatus untermauert werden soll. Das Abbilden der Photos verschränkt sich unmittelbar mit ihrer Interpretation oder ersetzt diese, indem der Text suggeriert, die Sprache der Bilder bruchlos in Schriftsprache übersetzen zu können. So heißt es bei der Betrachtung des Photoalbums Paul Bereyters: »Die ersten Fotografien erzählten von einer glücklichen Kindheit […]. Es folgten die Jahre in einem Landschulheim, kaum minder glücklich als die eben vergangene Kindheit.«35 Dies ist eine Wertung, die auch noch problematisch gewesen wäre, wenn der Text die entsprechenden Photos mit abgebildet hätte, die in der vorgenommenen Form der Ekphrasis dem Leser jedoch jede Form der Distanzierung raubt.36 Die Tendenz der Aneignung und Kontrolle, die sich mit diesem interpretativen Gestus verbindet, wird zusätzlich gestützt durch die zahlreichen deiktischen Hinweise auf die Photographien im Text selbst, wo-
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Images – Erinnerung. Übertragungen. Bilder. W.G. Sebald. Recherches germaniques 2 (2005), S. 47-64, hier: S. 53. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten. Vier lange Erzählungen, Frankfurt/ Main: Fischer 1994 Vgl. Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, übers. von Dietrich Leube, Frankfurt/Main: Suhrkamp1989. Vgl. Hartmut Böhme: »Der Wettstreit der Medien im Andenken an die Toten«, in: Hans Belting/Dietmar Kamper (Hg.), Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München: Fink 2000, S. 23-42. W.G. Sebald: Die Ausgewanderten, S. 103. Ebd., S. 69. Zur Differenz von Ekphrasis und Reproduktion der Photos auf der Textoberfläche vgl. Horstkotte: »Transgenerationelle Blicke«, S. 47-64. 172
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durch diese Teil der Erzählung des Ich-Erzählers werden.37 Indem die Photos »fiktionsinterne Funktionen«38 übernehmen und durch Deiktika direkt in den Erzählertext integriert werden, relativiert sich ihre »fiktionsexterne« Rolle als unabhängige Größe im Bild-Text-Gefüge, die es den Photos erst ermöglicht, gegen die narrative Struktur zu opponieren, sie zu beunruhigen, zu unterlaufen und zu unterbrechen. Dieser allegorische Umgang mit dem Bildmaterial findet sich in den Ausgewanderten nur an wenigen Stellen.39 Zwar wird die Gebrochenheit der Erinnerung durch die Medialität ihrer unterschiedlichen Träger in den Ausgewanderten durchaus zum Thema, aber bei allem Abrücken von einer Aneignung des ›Realen‹ der Geschichte bleibt doch eine Tendenz zur Identifikation des Erzählers mit seinen Figuren, die diesen ihre Fremdheit gerade dort zu nehmen droht, wo sie augenscheinlich ihre Identität am sichersten bewahren: in der Photographie.40 Am deutlichsten wird dies in der letzten Erzählung der Ausgewanderten. Durch eine Reihe von Assoziationen erinnert sich der Erzähler gegen Ende dieser Episode an Bilder einer Photoausstellung in Frankfurt. »Es waren grünblau- beziehungsweise rotbraunstichige Farbaufnahmen aus dem Ghetto Litzmannstadt, das 1940 eingerichtet worden war in der polnischen Industriemetropole Lódz […].«41 Obwohl die Bilder im Ausstellungskatalog leicht zugänglich gewesen wären,42 verzichtet Sebald an dieser Stelle auf die Abbildung des Photos und lässt eine Ekphrasis an ihre Stelle treten, deren Kommentar durch den Erzähler deutlich werden 37 Vgl. Sebald: Die Ausgewanderten, S. 104, S. 109, S. 114, S. 139 und S. 148. 38 Die Unterscheidung zwischen funktionsinterner und funktionsexterner Rolle der Photographie in Sebalds Texten stammt von Alexandra Tischel: »Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung«, in: Michael Niehaus/Claudia Öhlschläger (Hg.): W.G. Sebald. Poetische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin: Schmidt 2006, S. 31-46. 39 Jonathan Long weist auf eine textunabhängige Reihenbildung verschiedener Photos um das Themenfeld Erinnerung, Tod und Geschichte hin, die für ihn jedoch gerade kontinuitätsstiftende Funktion im Text übernehmen. Vgl. Jonathan J. Long, »History, Narrative and Photography in W.G. Sebald’s ›Die Ausgewanderten‹«, in: Modern Language Review 98/1 (2003), S. 117139. 40 Vgl. zur Medienabhängigkeit der Erinnerung in Die Ausgewanderten neben Horstkotte, Tischel und Long auch Stefanie Harries: »The Retun of the Dead. Memory and Photography in W.G. Sebald’s ›Die Ausgewanderten‹«, in: The German Quarterly 74/4 (2001), S. 379-391. 41 Sebald: Die Ausgewanderten, S. 352. 42 Die Abbildungen finden sich abgedruckt bei Carol Jacobs: »What does it mean to count? W.G. Sebald’s ›The Emigrants‹«, in: MLN 119 (2004), S. 905-929. 173
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lässt, warum auf die Photographie selbst verzichtet wurde. Die Bilder aus dem Ghetto lassen sich nicht einfach als Dokumente in den Text einfügen, da sie ihrerseits auf vielfältige Weise »dokumentieren« und dabei die dem Medium inhärenten Identifikationsmechanismen deutlich hervortreten lassen. Auf der einen Seite geben sie dem Betrachter eine Vorstellung vom »Leben im Ghetto«: »Straßenpflaster, Trambahnschienen, Häuserfronten, Bretterwände, Abbruchplätze, Brandmauern, unter grauem, wassergrünen oder weißblauem Himmel […]«.43 Auf der anderen Seite entsteht diese Vorstellung, indem der Betrachter dem Blick des Photographen folgt, ein »in Litzmannstadt tätige[r] Buchhalter und Finanzfachmann namens Genewein«,44 dessen Dokumentationswillen sich, so der Erzähler, auf die »beispielgebende innere Organisation des Ghettos« konzentriert. »Dokumentiert hatte der Fotograf sodann die beispielgebende innere Organisation des Ghettos, die Post, die Polizei, den Gerichtssaal, die Feuerwehr, die Fäkalienabfuhr, den Friseurladen, das Sanitärwesen, die Leichenwäscherei und das Begräbnisfeld. Wichtiger als alles aber war ihm anscheinend die Darstellung ›unserer Industrie‹, der aus wehrwirtschaftlichen Gründen unabdingbaren Ghettobetriebe. In den meisten manufakturmäßig aufgebauten Produktionsstätten saßen Frauen beim Strohflechten, standen Kinderlehrlinge an der Schlosserwerkbank, Männer an den Geschossautomaten, in der Nagelfabrik oder im Lumpenlager, und überall Gesichter, ungezählte Gesichter, die eigens und einzig für den Sekundenbruchteil des Fotografierens aufgeschaut haben (und aufgeschaut haben dürfen) von ihrer Arbeit.«45
Der Kommentar des Erzählers zwingt den Leser in die Ambivalenz der Dokumentation der Shoah, denn diese muss, um die Erinnerung bewahren zu können, auf das zurückgreifen, was diejenigen hinterlassen haben, deren Ziel die Auslöschung noch der Erinnerung an die Juden war. Was sich dem Blick beim Versuch des Andenkens an die Opfer bietet, ist die Perspektive der Täter. Vor diesem Hintergrund lässt sich Sebalds Entscheidung zur Ekphrasis zunächst als Versuch werten, im Medium der Schrift auf die identifizierende Macht des photographischen Blicks zu verweisen und auf die Abhängigkeit der Dokumentation von der Perspektive des Dokumentierenden aufmerksam zu machen. Doch auch die Erzählung als Versuch der Distanzierung führt zur Identifikation und Aneignung, wenn der Erzähler die Photographie dreier Frauen hinter einem Webrahmen beschreibt, von denen »er spürt, daß sie 43 Sebald: Die Ausgewanderten, S. 352. 44 Ebd., S. 353. 45 Ebd., S. 354. 174
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alle drei herschauen zu mir, denn ich stehe ja an der Stelle, an der Genewein, der Rechnungsführer, mit seinem Fotoapparat gestanden hat. […] Ich überlege, wie die drei wohl geheißen haben – Roza, Luisa und Lea oder Nona, Decuma und Morta, die Töchter der Nacht, mit Spindel und Faden und Schere.«46 Der Sebaldsche Erzähler steht hier nicht nur dort, wo der »Buchhalter« des Terrors gestanden hat, um die »organisatorische Leistung« der Nationalsozialisten zu dokumentieren, er fügt diesem Dokument der Gewalt und Kontrolle einen weiteren Akt der Gewalt hinzu, der den aneignenden Gestus der Erinnerung deutlich macht. Als Namensgeber fügt er der Photographie ihr schriftliches Pendant der Signatur hinzu und macht deutlich, dass dem Versuch, »den Opfern ihre Identität zurückzugeben«, das Begehren zur Identifizierung, Festschreibung und damit Handhabung mit eingeschrieben ist. Die Ekphrasis schützt nicht vor der identifizierenden Kraft der Photographie, sondern ersetzt sie durch die Kontrolle des Erzählers über Namen und Geschichten der Anderen. Signifikant ist dabei, dass Sebald die Identifikationsgeste des Erzählers so weit treibt, dass er es wird, dessen Schicksal durch Nona, Decuma und Morta plötzlich in den Mittelpunkt der Betrachtung rückt. Die Blicke der drei vom Autor benannten Frauen fixieren diesen selbst, sie werden sein Schicksal. Bart Philipsen hat in diesem »explizit thematisierten Rollentausch zwischen dem mit göttlich-willkürlicher Verfügungsgewalt vorgehenden Photographen sowie dessen Komplizen und Stellvertretern (dem Erzähler und dem Leser) auf der einen Seite und den zu figurae des Schicksals stilisierten Frauen auf der anderen Seite« die Entsprechung eines »Chiasmus’ von Opfer und Henkerrolle« gesehen, »der den Erzähler zugleich in die Position des Angeklagten versetzt (der die Augen vor dem Erhabenen des Gesetzes niederschlägt) und ihn – da es sich (wie das mythologisch präzise Motiv ›das Muster unseres Wohnzimmersofas zuhause‹ belegt) um ein in die eigene Biographie eingeschriebenes, bzw. -gewobenes ›Schicksal‹ zu handeln scheint – zum Teil auch wieder aus dieser Position befreit.«47 Philipps bestreitet den Zynismus »dieser missratenen, quasi-entschuldigenden Allegorisierung«48 nicht, unterstreicht aber seine explizite Inszenierung im Text, wodurch dieser die Unausweichlichkeit der aneignenden Position jeder Erinnerungsgeste zu zeigen in der Lage sei. Philipsen »rettet« Sebalds Verfahren, indem er in der Mythologisierung nicht nur die Überschreitung sieht, sondern einen weiteren Schritt in der Ökonomie der Gewalt, durch den die Verlängerung der Gewalt von Gene46 Ebd., S. 355. 47 Philipsen: Prosopopöie und Atropos, S. 226f. 48 Ebd., S. 227. 175
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wein durch die Namensgebung als kompensatorische Restitutionsgeste eigens hervorgekehrt wird. Und er liest dies als Ausdruck der Scham, die der »ambivalenten, immer wieder verfehlten Selbstbegründung des Zeugens entspring[t], die angeblich zu einer Wiederholung ›der schiefen‹ Perspektive, der Verstellung und Entstellung der durch(ge)kreuzten droiture verurteilt ist.«49 Anknüpfend an de Man hebt er die unabwendbare Logik der Entstellung und Verdrängung im Akt der Namensgebung hervor, die durch die Benennung des Erzählers sichtbar gemacht wird. »Auch Morta bezeichnet einen solchen verdrängten Namen für ein sprachliches Dilemma, das als Atropos – so der ursprünglich griechische Name der Parze mit der Schere – nicht den Tod ›selber‹, sondern nur dessen gleichzeitige Unabwendbarkeit und tropologische Unerzählbarkeit (A-tropos) benennt und beide Bedeutungen im Akt des Zertrennens oder Unterbrechens des bio-graphischen Fadens konvergieren läßt.«50 Das private Schicksal dieser Frauen bleibe gerade geschützt, indem es durch die verfehlte Wiederaneignung der Namen unerzählt bleibt. Wichtiges Indiz für diese These ist für Philipsen der Umstand, dass die Erzählung nach der allegorischen Verschiebung und Verrückung abbricht. Atropos zeigt nicht den Tod selbst, sondern seine Undarstellbarkeit, indem ihre Schere den Textfaden zerschneidet und damit den Abgrund zwischen Geschichte und Repräsentation im Text deutlich macht. Doch gerade dieser Schnitt hat nicht statt. Vielmehr spinnt sich die Umkehr des Schicksals in Sebalds nächstem Text, dem Reiseroman Die Ringe des Saturn mit monströsen Konsequenzen fort, wenn die Metapher des »Webens« am Ende des Textes im Bild eines unterdrückten Webers kulminiert, der an seinen Webstuhl gefesselt, der Maschine untertan, zum Ebenbild des melancholischen Schriftstellers wird.51 Die Aneignungsgeste schreibt sich von Text zu Text fort. Vom fremden Schicksal, das er zu dem seinigen gemacht hat, getrieben, setzt der Erzähler die Inszenierung der Scham fort, die auf diese Weise immer mehr zur Selbststilisierung gerät. Die Lücke zwischen erzählerischer Aneignung und deren distanzierender Inszenierung im Text wird aus dieser Perspektive mindestens fragwürdig, zeigt sich doch die Inszenierung an keiner Stelle von der Erschütterung durch die Verschiebung und Verrückung der Figuration betroffen. Anders als im Blickwechsel der Berliner Kindheit schreibt sich der fremde Blick der Erzählung nicht als Störungs- und Befremdungsinstanz ein, sondern wird von einem Erzähler-Ich inkorporiert, das seine souveräne Position auch dort nicht verlässt, wo sich die Blickrichtungen 49 Ebd., S. 228. 50 Ebd. 51 Vgl. W.G. Sebald: Die Ringe des Saturn. Eine englische Wallfahrt, Frankfurt/Main: Fischer 1997, S. 334. 176
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umkehren. Kafkas trauriger Kinder-Blick schreibt sich der Ich-Konstitution ein und lässt ihre Unabschließbarkeit sichtbar werden. Das Ich ist durch sprachliche Verstellung und Verrückung getroffen und kann sich nur noch als entstelltes in der Geschichte konstruieren. Während die Deklaration des Anderen zum eigenen Schicksal lediglich einen weiteren Aneignungsakt darstellt, der die Verfügungsgewalt über das fremde Schicksal noch im Moment der scheinbaren Umkehr sichert. Sebalds Text inszeniert hier eine souveräne Scham, die die ostentative Betroffenheit in Narzissmus umschlagen lässt. Während Benjamins Text darauf zielt, das Begehren des Erzählers nach Identität von schreibendem und geschriebenem Ich durch den verstörenden Blick des Anderen zu entsetzen, bleibt die Erzählposition des Sebaldschen Erzählers über das Ende der Geschichte hinaus intakt.
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KIND ERZÄHLT VON DER DER GEBRÜDER GRIMM
EIGENSINNIGE
SCHWESTER
MARIANNE EIGENHEER
Das eigensinnige Kind Es war einmal ein Kind eigensinnig und tat nicht, was seine Mutter haben wollte. Darum hatte der liebe Gott kein Wohlgefallen an ihm und ließ es krank werden, und kein Arzt konnte ihm helfen, und in kurzem lag es auf dem Totenbettchen. Als es nun ins Grab versenkt, und Erde über es hingedeckt war, so kam auf einmal sein Ärmchen wieder hervor und reichte in die Höhe, und wenn sie es hineinlegten und frische Erde darüber taten, so half das nicht, und das Ärmchen kam immer wieder heraus. Da mußte die Mutter selbst zum Grabe gehen und mit der Rute aufs Ärmchen schlagen, und wie sie das getan hatte, zog es sich hinein, und das Kind hatte nun erst Ruhe unter der Erde. Gebrüder Grimm1
Sehen Sie, so einfach ist das gar nicht, Ihnen zu erklären, was es denn mit diesen simplen blauen, roten, goldenen und manchmal auch grünen Linien auf sich hat, die mich mein ganzes Leben lang bereits begleiten, wie die Märchen, die Brüder Grimm, Don Giovanni … Sie fragen mich auch immer wieder, warum ich denn beinahe obsessiv auf Papier arbeite, da ich doch ebenso gut mit Bronze oder Leinwand umgehen könne – und hinter vorgehaltener Hand haben Sie mir auch verraten, dass es doch gerade heute, in postmoderner und nachpostmoderner Zeit, sehr unklug sei, so unprätentiös auch für den Kunstmarkt zu arbeiten – jawohl, das weiß ich alles, und vielleicht auch noch ein bisschen mehr, aber sehen Sie, warum ich trotzdem bei meinem ›armen‹ Material bleibe und damit vielleicht verpasse, in Ihre Sammlung von handfesten, wertbeständigen Meisterwerken zu kommen … Kennen Sie denn die grausame Geschichte vom eigensinnigen Kind? Das ganz kurze grausame Märchen der Gebrüder Grimm? Bereits für 01 Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, II. Teil, Frankfurt/Main: Insel 1976, S. 272. 179
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mich als kleines Kind war es immer klar, dass es ein Mädchen war, das nicht tat, was seine Mutter haben wollte. Und dass es nicht Gott war, dem das Mädchen nicht gefiel, sondern dieses Etwas, das ›man‹ genannt wurde, das bestimmte, was ›man‹ machen durfte oder eben nicht. So bestimmte ›man‹, dass ich zwar Klavier spielen musste und die meiste Kinder- und Jugendzeit am Klavier verbrachte, anstatt draußen zu spielen, doch als ich strahlend eines Nachmittags aus der Musikakademie nachhause kam und allen mitteilte, dass ich nun wüsste, was ich als erwachsene Frau einmal machen wollte, nämlich komponieren, wurde ich schmählich heruntergemacht. Komponistinnen waren nicht opportun, schlimmer noch als Künstlerinnen und auf keinen Fall lebenstüchtig. ›Man‹ stellte auch fest, dass es auf keinen Fall gut war, dass ich so viel Interesse für Mathematik zeigte, denn das entsprach nicht dem Bild einer ›richtigen‹ Frau. So bestimmte ›man‹ auch sehr früh, dass es wichtig war, nie zu zeigen, dass ich intelligent war, denn das schmälerte meine Möglichkeiten, einen Mann zu bekommen. ›Man‹ … Wenn ich an das eigensinnige Kind denken musste, stellte ich mir immer wieder ganz realistisch vor, dass ich, wenn ich denn im Grab liegen sollte und tot wäre, nicht nur einen Arm rausstrecken würde sondern zwei, denn dann könnte ich mit beiden Händen die Rute festhalten, mit der meine Mutter versuchen würde, mein Ärmchen runter zu bekommen und es verschwinden zu lassen. Dann könnte ich mich am Holz festhalten und mich selber herausziehen. Irgendwie gelang es mir ja dann auch später wirklich immer wieder, mich zu bewegen, davonzulaufen, meinen eigenen Sinn zu suchen, auch dank der vielen Linien, der blauen, roten, goldenen und grünen, meiner Mutter und dem ›man‹ zum Trotz. Es ist auch nicht damit getan, all dies zu wissen oder gelehrt zu umschreiben, so wie es zum Beispiel in dem Katalog Blüten des Eigensinns (1984) vom Münchner Kunstverein geschehen ist, in dem es um Kunst aus der Schweiz ging, auch um meine Bilder, und wo Peter Sloterdijk zitiert wird: »Es ist für wohlerzogene Leute schwierig, nein zu sagen. Das Nein wäre ja Eigensinn, und je mehr Wohlerzogenheit einer in sich hat, desto mehr ist ihm der Eigensinn ausgetrieben. Gehorsam ist die erste Kindespflicht, die später zur bürgerlichen wird.« Das klingt doch gut, werden Sie sagen, und es wird nicht so schwierig sein, selbständig zu werden, man kann einfach ungehorsam sein, dann wird es schon besser gehen. Doch schon als kleines Mädchen wusste ich, so ginge es nicht, und es würde ein langer Weg werden, denn ich musste zuerst mal das Laufen lernen, Schritt für Schritt, und zwar ganz kleine Schritte, damit sie von außen beinahe unsichtbar blieben. Viele Jahre war ich einfach ein einsames Kind, und Sie wissen wohl nicht, wie es ist, wenn Sie immer das Gefühl haben, hinter Ihren eigenen
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Augen zu sitzen und wie durch zwei Fenster hinauszuschauen, ohne die Möglichkeit, mit anderen Menschen in Kontakt zu kommen. Das Grab aus dem Märchen war immer noch da, ich schaute zwar in die Welt, aber konnte mich noch nicht wirklich bewegen. Viel erfuhr ich über die nächsten Jahre, warum es denn nicht opportun war, einen eigenen Sinn zu suchen fürs eigene Leben, dass dies zwar das Einzige war, das mir das Leben lebenswert zu machen schien, dass ich darüber aber besser schwieg. Das eigensinnige Kind im Grab war nun ruhig, die beiden Arme schauten nicht mehr aus der Erde heraus, denn das Kind brauchte die Hände, um sich einen unterirdischen Gang zu graben, um dann weit draußen, außerhalb des Friedhofs, endlich raus zu kommen und wegzugehen, in die eigene Welt. Sie können sich vielleicht denken, wie viele Versuche es braucht, bis dies alles geschafft ist, und wie viel Geduld und Anstrengung so ein Kind aufbringen muss, um nicht aufzugeben, der ganzen Einsamkeit und Dunkelheit da unten nicht einfach nachzugeben und tot zu bleiben, zum Wohlgefallen von wem denn eigentlich? Vor einigen Jahren glaubte ich, mich endlich freigeschaufelt und einen solchen Weg gefunden zu haben, indem ich meine Erfahrungen in die künstlerische Arbeit einzubinden versuchte, um in einer eigenen visuellen Sprache zu sprechen und mit anderen Menschen einen Dialog aufzunehmen. (Es war auch die Zeit, in der viele Frauen dasselbe versuchten und davon berichteten, und wo für diese Berichte Interesse und Platz vorhanden war, zwar auch viel Widerstand, aber dies war wunderbar, um die eigenen Kräfte messen zu können.) Ich hatte das Bild der tanzenden griechischen Königstochter Ariadne vor Augen, die keine Heldenfiguren mehr braucht, keinen heiligen Lukas, der sie malt, da sie dies nun selber tun will und kann. Und Ariadne würde, wenn sie jetzt selber malte, keinen sprachlichen Diskurs mehr führen, sie würde versuchen, provozierend direkt in das soziale Geflecht hinein zu schneiden. Sie würde ihren Körper so in die Bilder einbringen, dass er seine Bewegungen, sein Leben in einem neuen Labyrinth direkt mitteilen könnte. Es hätte viel mit dem Schweben der erotischen Gefühle zu tun, die sich artikulieren könnten, Gefühle, die sonst zwischen den Zeilen leben, aber zeitlos sich singend einfangen lassen. Linien als songlines, eine Vorstellung, die ich später bei den Aborigines wieder finden sollte, eine wunderbare Möglichkeit, sich über alle Sprachgrenzen hinweg zu verständigen. (Vielleicht kam es auch nicht von ungefähr, dass zu einer Zeit, wo viele Frauen anfingen, selber zu tanzen, die Helden in Frage zu stellen, nochmals viele Patriarchen auftauchten, zum Beispiel als Malerfürsten, oft kam es mir vor wie eine Götterdämmerung des Patriarchats, und ich freute mich viel zu früh, dass diese chauvinistische Periode
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bald vorbei sein würde. Doch so einfach geht es leider nicht, und die eigensinnigen Frauen haben es immer noch schwer.) Damals, vor etwa zwanzig Jahren, stellte ich mir vor, dass es gelingen könnte, dieses singende Vokabular der Frauen zu finden, das Vokabular, das helfen könnte, die starren, bekannten Bilderdefinitionen in lebendige sprechende Gegenwartsbilder zu verwandeln. Ich fühlte mich zum ersten Mal frei wie ein Vogel. Andere Menschen, andere Frauen, Künstlerinnen schienen mich zu verstehen, waren interessiert, ich konnte die entstehenden Arbeiten auch zeigen. Das Grab und die dunkle Einsamkeit schienen weit weg in die Vergangenheit verbannt worden zu sein. Kunst mit Eigen-Sinn, wie eine umfassende internationale Ausstellung zu Kunst von Frauen 1985 in Wien genannt wurde, schien auch für mich ein Weg zu sein. (Dort zeigte ich zwar keine Linien, aber Tierformen, die sich für ganz kurze Zeit aus den Liniengeflechten auf der Leinwand entwickelten.) Doch irgendetwas stimmte trotzdem immer noch nicht … Märchen blieben auch weiterhin wirkliche Lebensschauplätze für mich, Bücher lebendiger als das Leben. Ich brauchte die vielen hohen vollen Bücherwände um mich herum, es war zwar kein weiteres Grab, aber eine hohe Mauer, die mich schützte, aber auch von vielem fernhielt, das mich hätte verletzen können, die Rute der Mutter noch immer eine riesige Bedrohung. Es ging mir wie dem Vogel in Andersens Märchen, der sich unendlich freut, an den Hof des Kaisers zu kommen, weil er glaubt, »dass dies das Höchste« sei. »Ja die Nachtigall machte wahrlich ihr Glück. Sie sollte nun bei Hofe bleiben, ihr eigenes Bauer und ihre Freiheit haben, zweimal des Tages und einmal des Nachts herausspazieren. Sie bekam zwölf Diener mit, welche ihr alle ein Seidenband um das Bein geschlungen hatten und sie gut festhielten. Es war durchaus kein Vergnügen bei einem solchen Ausfluge …« In den folgenden Jahren lernte auch ich dieses Hofleben immer besser kennen, und es waren nicht nur die goldenen Seidenbänder, die einschnitten. Ich lernte, dass es vor allem das Singen war, das eigentlich nicht so gerne gehört wurde, man stellte sich bei Hofe etwas ziemlich anderes vor. »Es war eine künstliche Nachtigall, die der lebendigen gleichen sollte, aber überall mit Diamanten, Rubinen und Saphiren besetzt war. Sobald man den Kunstvogel aufzog, konnte er eines der Stücke singen, die der wirkliche Vogel sang; und dann bewegte sich der Schwanz auf und nieder und glänzte von Silber und Gold. Um den Hals hing ein kleines Band, darauf stand geschrieben ›Die Nachtigall des Kaisers von Japan ist arm gegen die des Kaisers von China‹. ›Das ist herrlich‹, sagten alle und die beiden Vögel mussten nun zusammen singen, aber es wollte nicht richtig gehen, denn die wirkliche Nachtigall
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sang auf ihre eigene Weise und der Kunstvogel ging auf Walzen. Nun sollte der Kunstvogel allein singen. Er machte ebenso sein Glück wie der wirkliche, und dann war er ja viel niedlicher anzusehen, er glitzerte wie Armbänder und Brustnadeln. Dreiunddreißig mal sang er ein und dasselbe Stück und war doch nicht müde.« Unterdessen flog die echte Nachtigall unbemerkt aus dem Fenster zurück in den Wald, dies störte nur den Kaiser ein bisschen, doch der Hofstaat war’s zufrieden, denn sie hörten nun zum vierunddreißigsten Mal dasselbe Stück. Sie konnten es doch noch nicht ganz auswendig, denn es war gar so schwer. Und vor allem, das Beste, man konnte den Kunstvogel öffnen, die Walzen herausnehmen und erklären. Der Spielmeister, der dies konnte, wurde der wichtigste Mann bei Hof. Ich weiß nicht, ob Sie wirklich verstanden haben, was auch mich nach ein paar Jahren am Hofe dazu bewog, wieder in den Wald zurückzufliegen. Es war ein noch unbestimmtes Unbehagen, das Tag und Nacht da war, was mich am Atmen, am Leben hinderte. Die Jahre waren lang, bis ich dahinter kam, warum ich auch im Wald, weit weg vom Hof, immer noch die dunkle Einsamkeit mit mir trug und eigentlich immer traurig war. Sie können sich meine riesige Enttäuschung vielleicht vorstellen, auch die Schreckensminuten, als ich feststellen musste, dass ich immer noch die goldenen Seidenbänder der Hofbeamten um die Knöchel geschlungen hatte: Den ganzen aalglatten Hofstaat trug ich in mir selbst herum! Das Grab war immer noch da, die Rute senkte sich immer noch bedrohlich auf die nackte Haut und wenn ich mich bewegte, schlug sie mir blutige Striemen. Die vielen Grund-Sätze, die mich als kleines Kind mundtot gemacht hatten, tönten lautlos weiter, in ihrer schweigenden Größe anscheinend unüberwindlich. Es waren also nicht nur diese institutionalisierten Personen, Gedanken und Umstände, die nicht wollten, dass ich singen durfte, ich musste dies alles bei mir selbst suchen gehen. Das Allerschlimmste war zu entdecken, dass ich gar nicht wirklich singen konnte, dass andere Menschen zwar ernsthaft glaubten, mich singen zu hören, doch ich wusste es nun besser. So waren die letzten Jahre sehr schwierig, und die Bilder, die trotzdem entstanden, oft traurig, oder auch, wie Sie es zu nennen beliebten, ohne offensichtliche Energie. Nur merkwürdig fand ich, dass dabei Bilder waren, die Ihnen die Haut aufritzen konnten, vor deren Lebendigkeit Sie beinahe davonlaufen mussten? Wie auch immer, ich hatte mir einzugestehen, dass ich in bestem Glauben auf mich selbst reingefallen war und nochmals an den Anfang zurück zu gehen hatte. Um mich herum wandelte sich die Welt, es kam die Postmoderne, dann die Zeit danach.
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Es schien besser zu gehen, wenn man nicht genau hinschaute, welchen Preis der Anpassung auch die Künstlerinnen bereit waren zu bezahlen. Auch mir ging es eigentlich sehr gut und ich hätte mich wohl auch einschläfern lassen, wenn mich mein eigener Weg nicht zu ungehinderter Ehrlichkeit mir selbst gegenüber gezwungen hätte. Ich ließ mich auch nicht damit beruhigen, dass nun die Namen von Frauen sogar hin und wieder in kunstwissenschaftlichen Texten auftauchten, dass sie auch selber schreiben durften. Haben Sie das alles einmal daraufhin wirklich durchgelesen? Doch das ist eine andere Geschichte, und ich will mich auf meine eigenen Versuche beschränken, mich aus der Friedhofserde herauszubuddeln. Es war ein langer und steiniger Weg, an das Geheimnis, das in der Geschichte des Don Giovanni enthalten ist, heranzukommen. Ein Geheimnis lässt sich nicht erklären, doch wenn Sie sich Mozarts Musik anhören, ist es da: Vor allem kommt es auf die Szene an, in welcher der steinerne Komtur zu Besuch kommt und Don Giovanni, nachdem er dem Gast die Hand gegeben hat, in die Hölle fährt. Unglaublicherweise wird aber musikalisch gleichzeitig eine andere Geschichte erzählt! Diese Geschichte ist für diejenigen wichtig, die auf der Suche sind nach einer ›lebendigen‹ Sprache, welcher Ausdrucksmittel sich diese auch immer bedient. Ich hatte mir vorgestellt, wirklich als freie Künstlerin arbeiten zu können, doch dachte ich vor allem daran, den Körper, die Gefühle, die sozialen Beziehungen zu befreien. Ich fragte mich nie, ob ich denn meinen Geist, den Verstand und den Intellekt wirklich zur Verfügung hätte, da ich dies doch alles dauernd benutzen konnte. So müssen Sie sich mein Entsetzen vorstellen, als ich in diesen Räumen, die ich als die meinen empfunden hatte, nun eine ganze Schar von steinernen Gästen vorfand, eben einen ganzen grauen Hofstaat. Wie Denkmäler standen sie überall herum. Es waren zu Stein gewordene Ideen, Vorstellungen, die von vielerlei Autoritäten hier abgestellt worden waren, und ich konnte nichts anderes tun, als zu ihnen hinauf zu schauen. Vieles war da, das ich selbst als richtig empfand, doch merkte ich, dass diese Steinfiguren mich immer noch mehr beeinflussten als ich es wahrhaben wollte. Ich konnte immer noch nicht selbst entscheiden, weder im Guten noch im Bösen, die Angst vor den steinernen Gästen war zu groß. Don Giovannis Geschichte erzählte mir nun, dass es eine Zeit gibt, wo diese steinernen Figuren noch lebendig sind, das Recht haben, Dir Eindruck zu machen, dass aber der Augenblick kommt, wo Du lernen solltest, nicht gegen sie zu kämpfen, sondern sie als Gleichgestellte zu verabschieden. Das ist einer der unheimlichen Augenblicke des Lebens, wenn Du vor Deinem steinernen Gast stehst und er Dir die Hand anbietet, und Du weißt, damit kannst Du zur Hölle fahren, oder vielleicht auch
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nicht. Das ist die Geschichte Don Giovannis, dass er in dem Augenblick, wo er die Hand des Vaters ergreift im vollen Bewusstsein, was alles geschehen kann, er eben nicht in die Hölle der ewigen Jugendlichkeit fällt, sondern als erwachsener endlicher Mensch dasteht und sein eigenes Leben leben kann. Erst jetzt konnte ich den Freiraum für meine eigene Arbeit entwickeln, Sie können sich nicht vorstellen, wie überaus stark auch in der ›freien Kunst‹ bestimmte innere und äußere Direktiven sind. Zentralperspektive, Gegenständlichkeit, Inhalte, das, was ein Bild ausmacht oder nicht, lauter steinerne Gäste im Haus …, von den eigenen Vorstellungen gar nicht zu reden. Erst mit meinen einfachen Linien, die ich mir nicht mehr zuerst ›absegnen‹ lassen muss, kann ich auch ohne eigenen inneren Widerspruch tun, was ich schon lange tun wollte. Abbildung 1: Marianne Eigenheer, Ausschnitt Gongju, Wandmalerei 2005, 5 x 20m, Lim Lip Museum Gongju, Südkorea
Ich versuche bis heute immer wieder von neuem, Zustände wie Körpergefühle, Sehnsüchte, Bewegungen, Beziehungsmuster, also Dinge, die eigentlich kaum in Worte zu fassen sind, visuell zum Erscheinen zu bringen, also all das, was mich direkt jeden Tag berührt, bedroht, beschäftigt, was nichts mit konkreten Begriffen zu tun hat, da es zu vielfältig ist. Sie dürfen mich nicht falsch verstehen, nie versuche ich zum Beispiel, Gefühle zu illustrieren, denn dann würde ich ja wieder eine begriffliche 185
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Sprache wählen und mir selber hohe Mauern errichten. Ich benutze die Linien, die wie aus dem weißen unendlichen Raum des Papiers, der Wand herauskommen, um sie zu beobachten, ihnen wie eigenständigen Wesen zuzuschauen, was sie wollen, in welchen Formen sie sich dann auf das Papier, auf die Wand setzen. Um ihnen die größte Freiheit zu geben, auch ihre Weiterentwicklung nicht zu stoppen, versuche ich immer wieder, von Null anzufangen beim nächsten Blatt, der nächsten Arbeit, versuche die gerade entstandene Linie zu vergessen. Und schon lange ist mir das unglaubliche Phänomen bewusst geworden, dass mit dem Vergessen erst recht eine Weiterentwicklung möglich wird, das heißt, die vergessenen Linienformen scheinen sich in mir abzulagern und sich in der nächsten Arbeit selber weiterzubringen. Manchmal sieht es so aus, wie wenn ein innerer Seismograph meine eigenen inneren Bewegungen abbilden würde, Bewegungen, die immer weitergehen, sich verändern. Ein Freund, der sich mit künstlicher Intelligenz beschäftigt, beschrieb mir meine Arbeit einmal so, dass ich mit dieser äußerst konzentrierten und doch möglichst spontanen Arbeitsweise wohl so etwas machen würde wie eine dauernde visuelle Meditation über meine eigenen DNSCodes. Vielleicht können Sie so auch verstehen, dass diese Art und Weise des Arbeitens eigentlich immer noch viel spannender ist als dann das ›Verarbeiten der Produkte‹. Wenn ich die eigenen Arbeiten in einer Ausstellung sehe, ist es immer wie ein Wiedersehen mit dem Augenblick ihres Entstehens, aber es sind auch ganz fremde Dinge, die ich vor mir sehe. Vielleicht ist dies auch eine Eigenschaft des Eigen-Sinns, dieses Wissen um die ewige Fremdheit sich selbst gegenüber und damit das Gewinnen von Freiheit? Damit komme ich auch endlich zum Singen, da ist nie nur ein Ton festgemacht, es schwingen viele mit, die alle zusammen die Bewegungen der Melodien erst ausmachen. Was ich früher machen konnte, noch mit der Ehrfurcht vor dem ganzen grauen Hofstaat auf Sockeln, war wie eine gute Illustration davon, wie das Nach-Singen einer Melodie, die bereits gerade gehört wurde. Es wird mir natürlich auch beim millionsten Versuch nicht gelingen, an alles, was ich ausdrücken möchte, heranzukommen. Oft weiß ich ja gar nicht, was mich gerade beschäftigt. Aber jede Minute des Lebens ist wieder voll neuer Eindrücke, und so geht mir die Lust nie aus, mit meinen einfachen Linien alledem nachzuspüren. Und dass fast immer eine goldene Linie dabei ist, hat den Grund, dass Gold als Material und nicht nur als Farbe kontrastiert und damit habe ich noch etwas dabei, was unser Leben wohl ausmacht. Es gibt keine genaue Antwort auf eine genaue Frage, es gibt nur die Annäherung daran. Das Ähnliche ist nicht das Gleiche.
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Abbildung 2: Marianne Eigenheer, o.T., 2002/03, Aquarell auf indischem Papier, 80 x 60 cm
Können Sie sich nun besser vorstellen, warum es mir während des Arbeitens gleichgültig sein muss, ob meine Arbeiten in Ihrer Sammlung von Meisterwerken landen oder nicht? Vielleicht bedeutet diese Eigensinnigkeit unter anderem auch, dass ich mir immer bewusst bin, dass alles, was statisch wird, was sich nicht mehr bewegen darf, eigentlich tot ist. Sehen Sie, darum würde ich beim Märchen der Gebrüder Grimm Gott aus dem Spiel lassen, denn ich kann mir nicht denken, dass Schöpfung oder kreative Kraft zum Ziel hat, Tod herzustellen, und ich würde auch versuchen, die vielen Generationen von Müttern langsam erwachsen werden zu lassen, die ihre Töchter immer noch domestizieren oder – noch schlimmer – ihres Willens berauben wollen, auch dies ist wieder eine ganz andere Geschichte, die Sie vielleicht nicht mehr hören wollen, nachdem nun der Feminismus doch schon so erfolgreich gewesen ist in den letzten dreißig Jahren, war er das? Und was hat dies denn nun wieder mit den eigensinnigen Künstlerinnen zu tun? Eigensinn ist wohl die Tugend, sich selber immer weiter zu befragen. Die Verantwortung muss jede oder jeder für sich selber übernehmen, im praktischen und kreativen Leben immer wieder aus einem weiteren Grab herauszukrabbeln, macht dann auch einfach Freude … Fallen, ins nächste Grab fallen, es stehen immer wieder genügend herum. Darum verstehen
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Sie, dass ich gleich nach Abschluss dieses Textes wieder in die weißen Räume gehen möchte, wo ich den Linien zuschaue, im Augenblick vor allem den grünen und ockerfarbenen, wie sie sich in Formen legen und miteinander spielen.
Literatur Kinder- und Hausmärchen gesammelt durch die Brüder Grimm, II. Teil, Frankfurt/Main: Insel 1976.
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WIE
EIGENSINN VOR BORNIERTHEIT? DURCH VERZICHT AUF DAS SELBSTBILD ODER DURCH DESSEN FRAGMENTARISIEREN? EINE INTERVENTION ZU VERSCHIEDENEN ANSICHTEN BEWAHRT SICH
(H. BERGSON, M. PROUST, S. FREUD, E. BLOCH, J. JOYCE, W. BENJAMIN, P. VIRILIO, O. NEGT/A. KLUGE)
BURGHART SCHMIDT
Sicher, mit dem wachsenden Verschwinden von Schicksal und Charakter aus den Wesenskomponenten des menschlichen Lebens, wie das Walter Benjamin geschildert hat, ist auch einiges mit dem passiert, was unter dem Selbstbild als Sprachbild sich verstehen lässt. Das unterstützt aber am wenigsten die Meinung, auch das Selbstbild sei als Lebenskomponente aus der Welt gegangen. Es hat sich nur stärkst verändert, pluralisiert im Perspektivenwechsel, problematisiert durch Informationsanstieg auch über sich selbst, fragmentarisiert durch die sich mehrende ›Unübersichtlichkeit‹ der Lebenswelt, ja es verlor seinen Anspruch auf Logizität und Rationalität gerade im Prozess des Rationalisierens. In einer gewissen Weise kann man vor solchen Hintergründen sogar feststellen, dass das Selbstbild an Bedeutung und Gewicht zugelegt hat. Ich denke dabei an die Reden von der Autoprofilierung, mit der man sich heute ins Leben zu stürzen habe, die vielen Homepages der Selbstbespiegelungen für alle bis zur Mutter Hertha im Forsthaus Falkenau. Wenn man als Angehöriger meiner Generation heute Bewerbungsunterlagen zu sehen bekommt, könnte einem übel werden vor Angewidertheit von dem selbstverständlich gewordenen Drang nach Selbstlob und Selbstwertung. Damit will ich nicht dem ›preußischen‹ Spruch das Wort reden: Mehr sein, als scheinen, der ja viel, viel Bescheidenheitsheuchelei erzeugte gemäß dem anderen Spruch aus der Volkserzählung: Ich verrate nicht, dass sich der Schlüssel unter der Matte verbirgt. Aber irgendwie: Man
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spielt eben am ›Schabbes‹ kein Tennis … Antwort eines assimilierten jüdischen Vaters an seinen Sohn, nachdem er auseinandergelegt hatte, dass er wegen seiner Assimiliertheit eigentlich nichts dagegen haben könne, und doch … Für unsere Frage nach der Autoprofilierung heute verschärft sich das Problematische daran allerdings noch, weil Autoprofilierung mittlerweile zur Überlebensfähigkeit gehört. Daher habe ich nach kurzem sittlich-ästhetischem Schauder auch wiederum nichts gegen ihre Kunststücke, hoffe selbst nur, mich für mein Leben daraus heraus halten oder andere Formen dessen ausbilden zu können. Nun gut, so skizziert gehört das Selbstbildhafte der Autoprofilierung schließlich zu pragmatischer Funktionalität des Lebens. Um dies abzuschätzen, wird ein Rückblick fällig auf das Dualisieren des Erinnerns bei Henri Bergson, wie es dann im Erinnern Marcel Prousts bei seiner Suche nach der verlorenen Zeit eine Weiterentwicklung erfuhr. Denn zu diesem Thema ist Proust gründlich in die Schule Bergsons gegangen, hat ihr allerdings insofern eine andere Wendung gegeben, als er das Dualisieren nicht wieder ineinander gegenläufig wirkend wie Bergson auffasst, sondern als klar gegenläufig, so dass die beiden Erinnerungsweisen auseinanderklaffen für die Entscheidung, während es Bergson um gradweise Übergänge geht, die allerdings ins polar Extreme zu gleiten vermögen. Wie nun Bergson? Für ihn beginnt die Erinnerung sofort in der Wahrnehmung pragmatisch gleichsam als ein ›Gegenhandeln‹ (reaction) zu Handlungsanreizen aus dem Außen über die Sinne. Die Sinne sind ihm nämlich alles andere als ruhige Spiegel. Sie sind Aktivitäten in Aktionsfeldern des Reiz-Reaktionsschemas. Jedes Wahrnehmen ist schon ein ›Gegenhandeln‹ zu prozessierenden Anstößen. Dass es zum Schein ruhender Bilder kommt, beruht darauf, dass alle Bewegung der Konditionalität vergänglicher Dauer unterliegt als einer Art permanent sich fortbewegenden Kreiselns in sich. Ja, im Grund geht es sogar um eine Pluralisierung dieser vergänglichen Dauer zu vergänglichen Dauern. Darin liegt die Bedingung zu einem Vermögen, das nur im Menschen, seinem Wahrnehmen sich richtig entfaltet hat. Nämlich im Reiz-Reaktionsschema sich doch auch nach notwendigem Einsetzen des ›Gegenhandelns‹ des weiteren Handelns enthalten zu können. So gehen Möglichkeitsfelder verschiedenen ›Gegenhandelns‹ auf, der einzige Ursprung menschlicher Freiheit in der Wahl zwischen solchen Möglichkeiten. Das Einhalten des Handelns hat aber auch noch eine andere Folge nach Bergson. Jedem Wahrnehmen als ›Gegenhandeln‹ ist ein Erinnern an vorangegangenes ›Gegenhandeln‹ beigemengt nach Maßgabe sich ähnelnder Situationen und nach Maßgabe eines relativen Erfolgs von ›Gegenhandeln‹ in solchen Situationen zuvor. Der Erfolg führt zu Ein-
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gewöhnungen, sie machen zunächst das Erinnern aus. Aber das Einhalten des Handelns, das aus dem Druck zahlreicher Eingewöhnungen entstand, befreit vom automatischen Laufen lassen der Eingewöhnungen. Sie können im Einhalten verglichen werden. Das dient zwar noch einer immer effizienter werdenden Pragmatik, vermag aber zu einem lang anhaltenden Zustand des Vergleichens zu führen, ›Gegenhandeln‹ aufschiebend und aufschiebend und aufschiebend. So sehr schon die Wahrnehmungen von früh an im Reaktiven aus Mitwirken der Eingewöhnungen von ›Gegenhandeln‹, ursprünglichem Erinnern, bestanden, so sehr liegt nun im Einhalten des Handelns die Möglichkeit, das aktuelle Wahrnehmen vom Erinnern überwuchern zu lassen. Die aktuellen Reize des Wahrnehmens lösen schließlich nur noch Erinnerung aus. Das nennt Bergson den Zustand des Träumens, bei Ausreichen von erinnernder Selbstreizung den reinen Traum, der in eins fällt mit der reinen Erinnerung. Sie ist in allen Menschen virtuell vorhanden, aber der Handlungsdrang versperrt sie, und zwar er einzig und allein. Klar, wenn das Handeln die reine Erinnerung unterdrückt, obwohl sie in jedem Menschen vorhanden ist, dass sie dann das durchs Handeln weitest ins Unbewusste Abgedrängte sein muss, nur durch Träumen als Einhalten des Handelns freisetzbar. Diese Bergsonsche Lehre vom Unbewussten unterscheidet sich, das ist mir klar, sehr von der Freudschen Lehre. Denn Sigmund Freud verlegt die von ihm angenommene Verdrängungsmacht in dieses Unbewusste selbst bei sehr differenzierender Weise, während Bergson einzig den Handlungsdrang als Sperre für das Unbewusste auffasst. Demnach, wenn man sich echt des Handelns enthalten könnte, wäre das Unbewusste im reinen Träumen voll da als Erinnern von allem Gewesenen. Das würde auch Ernst Blochs Grundsatz widersprechen, nach dem nicht alles zu jeder Zeit geträumt werden kann. Nur läuft das trotzdem auf Verwandtes hinaus, wenn man daran denkt, wie stark der Handlungsdrang von Bergson vertreten wird. Der reine Träumer wird ihm realiter nahezu unvorstellbar, außer in Krankheitszuständen, noch immer gehen seine Ausflüge in die reine Erinnerung von Außenreizen statt wirklicher Selbstreizung aus, und ob man dann die Sperre gegen das Unbewusste in die Handlungsfrage legt oder ins Unbewusste selber, wäre nicht so wichtig. Bloch etwa hätte sich dem Ersteren zugeneigt, hätte er das diskutiert mit Bergson. Anders Freud, ihm wäre das nur eine Frage des technischen Zugangs gewesen, hätte er das mit Bergson diskutiert. Für hier anstehende Frage ist nur entscheidend jene Polarität, die Bergson zwischen reinem Träumen = reiner Erinnerung und ganz aktuellem Wahrnehmen = ›Gegenhandeln‹ auf Reize
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hin spekulativ – konstruktiv, obwohl mit biophysiologischer Erfahrung geladen, aufbaut. Wobei er die Realisierung reinen Träumens ohne Außenreize so ausschließt wie die Realisierung rein aktuellen Wahrnehmens als ›Gegenhandlung‹ ohne Funken von Erinnerung und reiner Träumerei. Zwischen den Polen wird dann nämlich eine Pluralität von Selbstbildern erzwungen, während rein aktuelles Wahrnehmen ohne Selbstbild wäre und reines Träumen das eine absolute Selbstbild ergäbe, beides von Bergson für irreale Konstruktionen der Konsequenz erklärt. In der Pluralität der Selbstbilder aber haust der Eigensinn nach Maßgabe der Abschwächung von Handlungsdrang. Hoher Handlungsdrang darf sich keinen Eigensinn erlauben, sich schwächender Handlungsdrang fördert Eigensinn, völlig ausgeschalteter Handlungsdrang aber würde Eigensinn in der absolut eingekehrten Individualität (hier Bergsons von ihm unzitierte Nähe zu Arthur Schopenhauer) ersäufen durchs absolut anspruchslose, unkommunikative all-eine Selbstbild. Eigensinn haust eben in der Pluralität der Selbstbilder, ist darum auch Eigensinn gegen sich selbst, sonst wäre er kein Eigensinn. Folgerung: Eigensinn ist individualisierend, dennoch und gerade darum alles Andere als individual. Wenn er damit verwechselt würde, und das passiert gewöhnlich, wäre er bornierend-borniert. So versteht das Wort die Alltagssprache. Dagegen Eigensinn hängt sich an die Situationen, auf die er immer wieder andere Antworten findet als die Eingewöhnungen, weil er sich über die pluralisierten Selbstbilder auf die reine Erinnerung, die reine Träumerei bezieht, die ihn, käme sie voll zum Zug, allerdings auslöschen würde. Eigensinn gegen sich selber, das wäre von Bergson her aufwerfbar, wäre die Verweigerung der Selbstbilder, nämlich nicht nur des absoluten Selbstbilds in der reinen Erinnerung, sondern auch der relativ fixierten in bestimmten Erfahrungsbereichen. Und dazu wird nun Marcel Prousts Transformation der dualisierenden Erinnerungstheorie Bergsons wichtig, und gerade in der Hinsicht, in der sie das Bergsonsche Dualisieren vereinfacht. Für Proust zeigt sich das pragmatische Erinnern als das, das alle Erinnerungen organisiert zur Erklärung des gegenwärtigen Zustands, in dem jemand steht, ob positiv oder negativ, Erfolg oder Scheitern. Das reine Erinnern dagegen unternimmt, sich von diesem Erklärungsbedarf freizumachen, im Gegenlauf um das zum Erklären nicht Passende ringend, nach dem Kriterium, es wolle nichts erklären, sondern unerklärt wiederkehren lassen. Allerdings war merkwürdig an Proust, dass er dieses erklärungsfreie Wiederkehren reiner, weil vollständiger Erinnerung seinem Konzept nach im Ansatz hatte erschreiben wollen, weil Schreiben heißt Sprache
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und Sprechen will immer erklären oder deklamieren, dass etwas nicht erklärbar ist. Letzteres hat Proust benutzt, um die Willkürlichkeit reinen, vollständigen Erinnerns auszudrücken. Damit hat er Bergsons Probleme des Unterdrückens von Handlungsdrang artikuliert. Aber Bergson hatte in seiner Spekulation auf Handlungsausschalten auch auf eine Unwillkürlichkeit setzen müssen, gerade indem er Handlungsdrang aller Orten nachwies. Da hilft keine Askese der Eremiten, keine der Säulenheiligen bis zu den Mönchen von Athos, sie waren alle von Handlungsdrang in der Askese besessen. Aber dieses Bemühen um die unpragmatische Erinnerung zieht sich durch, bei allen Querungen. Dieses unpragmatische Erinnern als eine Basis von widerspruchsvoller Pluralität des Eigensinns, wie davon wirklich voll die religiöse Auseinandersetzung vom Sünder zum Heiligen, vom Heiligen zum Sünder sich immer wieder gezeigt hat. In diesen Gegenden hat die Religion das Problem der Pluralität der Selbstbilder mit dem Inhärierenden des Eigensinns problembewusst gefasst, nämlich durch die Verwerflichkeit des Heiligseins in Heiligenschein, eiligem Schein als Spitze der Eitelkeit. Es geht um das Individualisierende ohne Individualität. Denn Individualität tendiert auf Schicksal und Charakter. Aber in der Tat, das Selbstbild war immer über die insofern von Bergson richtig aufgewiesenen Bedingungen pluralisiert-pluralisierend. Nur politisch zentralisierende Systeme hatten über Schicksal und Charakter die Menschen festschreiben wollen, also auch ihr Selbstbild festschreiben wollen bis zur Kleidung. Was nur teilweise gelang und seine Erwiderung höchstens heute findet in dem Triumph der Ideologie von der Autoprofilierung. Denn sie, diese Autoprofilierung, hat zwar mit Selbstbild zu tun, ist aber die Tendenz gegen den Eigensinn. Obwohl der Eigensinn vom Individuum, also dem Selbst im Autos, ausgehen muss durch den Namen. Sicher er kann auch übertragen werden auf kollektive Subjekte, aber nur, wenn sie entstanden sind aus individuellen Beharrungen oder Entwürfen auf Grund von Beharrungen oder auch auf Grund von Öffnungen dieses Beharrens zu ursprünglich individual Neuem hin. Wenn im übrigen kleine Gemeinschaften in regionalen Winkeln an Traditionen, Gebräuchen, Riten, Sitten von alters her festgehalten haben, dann fällt das nicht unter die Kategorie Eigensinn, sondern unter Ernst Blochs Kategorie Ungleichzeitigkeit. Denn der Schein von kollektivem Eigensinn kommt dabei nur auf im Vergleich zu den Wertungen und Geltungen im großen Umfeld, zu dem eben gelebte Ungleichzeitigkeit besteht. Innerhalb des Lebens der Kleingemeinschaft herrscht sogar gewöhnlich dann Überangepasstheit statt Eigensinn. Und dieser Typ des kollektiven Eigensinn-Scheins nach außen geht eher über in die Bornierung. Obwohl Bloch mit Erbschaft dieser Zeit durchaus, bei Wissen um
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die breite Gefahr der Bornierung in solchen Ungleichzeitigkeiten mit Eigensinn-Schein darin, nach Revolutionärem, mindestens Zukunftsträchtigem mit aller Sorgfalt suchte. Eigensinn und Selbstbild decken sich nicht, wurde gesagt. Doch unter dem Hinzufügen, dass Eigensinn auf Selbstbilder angewiesen ist; denn schließlich muss er ja Sinn für das Eigene haben, was wäre er sonst?! Allerdings kann der Eigensinn es nur zu tun haben mit weiter, breiter Gebrochenheit der Selbstbilder und ihrer Widersprüchlichkeit im Bruch. Caspar David Friedrichs Eismeerbild wäre hier zuständig. Ohne die Gebrochenheit gleitet das Selbstbild hinein in die Pragmatik eben der Autoprofilierung oder in die Eitelkeit der Sonderstellung eines geschlossenen Charakters und Schicksals unter Freiheitstrotz: Hier stehe ich, ich kann nicht anders … Und Freuds Lehre von der nachträglichen Rationalisierung wird für Solches zuständig, nicht das Träumen Bergsons. Der Stolz des freien Willens unterschlägt im nachträglichen Rationalisieren, dass das meiste an Handlung aus Spontaneität oder Automatie eintritt, was sich ineinander spiegelt, die Spontaneität und die Automatie. Man stellt sich im Nachhinein vor, wie man, was aus Zufall geschah, hoch motiviert angesteuert hätte, und verknüpft die Motive zu stimmigen Motivketten. Im Scheitern überträgt man diese Motivketten auf Feindbilder bis zu Verschwörungstheorien. Die Stimmigkeit muss durchschlagen mit ihrem berechnenden Grund-Folge-Verhältnis. Die Gebrochenheit der Selbstbildnerei dagegen hat keiner so hautnah seinen Lesern zugetragen wie Marcel Proust, unter Ablehnung aller Scheinerklärlichkeit der Lebensläufigkeiten aus der Pragmatik. Höchstens, aber dabei hoch wichtig, wären noch James Joyces Romane Ulysses und Finnegans Wake dazu heranzurufen, mit ihren Splitterwerken der montierten Sprachbilder aus allen Schichten der Sprache, Geschichten der Sprache, vielleicht noch hautnäher als bei Proust mit dessen Ausflügen in die ruheständigen Oberschichten, statt der Säufer aus Irland. Beide entwickeln ihre Konzepte aus der im 19. Jahrhundert entstandenen Idee einer Autonomie der Kunst. Diese beinhaltete zunächst die Autonomie der Künstler, dann die Autonomie der Kunstwerke, dann die Autonomie ihrer Wirkung. Proust und Joyce radikalisierten die ihnen überlieferte Autonomie, indem sie diese in die Bedeutungsebene der Werke selber vorantrieben oder zurücktrieben. Bei Proust wurde daraus die Autonomie des Augenblicks vollständiger Erinnerung, durch den man, statt in Lebensläufigkeit einzutreten, aus der Zeit vorübergehend austritt. Er sagt ausdrücklich, dass das Erleben solcher Augenblicke die einzige Weise sei, durch die der Mensch an die Ewigkeit rühre: höchst flüchtige Ewigkeit. Mystisch daran, dass der Au-
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genblick so unwillkürlich wie willkürlich und daher überfallsartig eintritt, es gibt kein Sichhinarbeiten dahin. Säkular jüdisch daran ist, dass aber der Drang danach, niedergelegt in Die Suche nach der verlorenen Zeit, erst bereit macht zu ihm, sonst tritt er nicht ein, nur den bereit seiend Vorbereiteten trifft er. Viel hat das an Verwandtschaft zu Blochs Nichtlehre, Nichtlehrbarkeit der »Erfüllung des gerade gelebten Augenblicks«, des Existenzzentrums also. Und auch bei Bergson liest man von den flüchtigen Augenblicken wirklich reinen Erinnerns, in denen man ganz weg ist vom Handeln, woanders im ganz Anderen. In Joyces Ulysses tritt die radikalisierte Autonomie auf als die Autonomie des Sprachbildbruchstücks, wie es, blitzartig und dauernd unterbrochen, den echt Tagträumenden durchzuckt. Um der Autonomie der Sprachbildbruchstücke willen lehnt Joyce alles Antizipieren ab, wie es sich zu Zusammenhängen verflicht, heute würde man sagen, vernetzt. Er meint jenen Hintergrund des Tagträumens jenseits der Antizipation und Zukunftserwartungen, das als kosmostiefer Untergrund uns alle ständig begleitet, nur wollen wir nun um der Antizipationen und des nachträglich Rationalisierens willen auf diesen Hinter-, Unter-, Seiten- und Übergrund nicht achten, außer im Suff, den wir bei Belehrtwerden durch Joyce nicht nötig hätten, wir sind nämlich um- wie untergründig immer schon berauscht. Auch Joyce entspricht jenem reinen Erinnern Bergsons, das nur in flüchtigem Aufzucken besteht, aber eine Sphäre des menschheitlichen Geistes bezeugt, die nicht von somatischen Zerstörungen oder gar dem Tod betroffen wird. Die Welt ist ja nach Bergson ein Spursystem, dem nichts ganz verloren geht, und alles bleibt von den Spuren aus rekonstruierbar, so geht auch der Menschheit als Geist nichts ganz verloren. Bereit sein ist Alles! Breit (bereit) sein ist Alles! (… ein Satz aus der DynamicTension-Szene). Joyce aber hat die tatsächlich mitschwingende Hintergrunds-Tagträumerei, wie sie üblicherweise ständig geleugnet wird, als unaufhörlich fragmentarisiertes Laufband des Ruck-Zuck der tatsächlich ständig passierenden Einfälle genommen, angenommen, wie viel später Paul Virilio in seiner Ästhetik des Verschwindens, und nicht die, paradoxal ausgedrückt, vulkanischen Einschläge, auf die sich Bergson und Proust berufen. Er gehört darum als der Vierte zu den großen Traumtheoretikern des 20. Jahrhunderts, Bergson (Träumen als handlungsabgewandte reine Erinnerung), Freud (Nachttraum als Zugang zum Unbewussten), Bloch (Tagtraum als Motor der menschlichen Kulturbildung: Utopie) und nun er selber, Joyce (Tagträumen total fragmentarisierter Art als laufende Geräuschkulisse unserer Seele).
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Die Fragmentarik der Selbstbildnerei ist also die entscheidende Voraussetzung des Eigensinns als lebendigem Eigensinn. Ohne diese fragmentarisierende Selbstbildnerei, in der kein Abschlag zum anderen zu passen scheint, ohne diese Autonomie des unpassenden, unpässlichen Fragments gleitet Eigensinn in Borniertheit über, auch wenn er vorübergehend Konfrontationen ausblubbert, wie ins Kotzen kommende Geysire, statt dass Glanz aufkäme wie beim flüchtigen Kristall in der Berghöhle. Eigensinn ist eben keine Werteinstellung an sich, sondern eine anthropologisch-psychische Werde-Konstante. Wo er sich meldet, muss man darum zwar aufhorchen in Hinblick auf seine Herkunft aus Gebrochenheit der Selbstbildnerei, ohne dieses würde nämlich die Bornierung schlechthin, das Herunterkämpfen dessen, was man partout nicht widerlegen will, weil man es nicht widerlegen kann, das Feld im Namen des Eigensinns behaupten. Es ist ja ein großer Mangel der Theoriebildung, so gern Organisations- und Bereitseins-Begriffe mit Wertcharakter zu belegen. So etwa verfährt auch der in so vielem misstrauisch gewesene Ernst Bloch, so viel misstrauischer, als die bisherige Sekundärliteratur ihm zubilligen will. Prozessualität, Veränderungslust, Offenheit haben breite Passagen seines Werkes mit Wert überhaupt belegt, obwohl seine Erbschaft dieser Zeit sehr wohl wusste, dass die Nazis genügend Prozessualität, Veränderungslust, Offenheit zu neuen Ufern ihrer Ideologie eingeladen haben und auch Wackersteine von Revolutionspathos. Schließlich ist selbst Martin Heidegger mindestens ein ebenso durchgängiger Prozessdenker wie Ernst Bloch und von der Zukunft her alles begründend und doch entschied er sich in politischer Hinsicht ganz anders. Vielleicht waren es Bloch-Einflüsse, denen sich die aus der Frankfurter Schule und deren Kritik herkommenden Oskar Negt und Alexander Kluge zu sehr näherten und daher Eigensinn an sich selber schon als Wertkategorie aufbauten, wo dieser Begriff, wie ausgeführt, nur eine Organisationskategorie des Vorstellens ist mit Zug zum Desorganisieren. Aber sobald er sich Einhalt gibt in der Lust an einem entfragmentarisierten, entproblematisierten Selbstbilden der Selbstbilder, landet er in den Bornierungen und löscht sein Desorganisierendes aus zu Überorganisierendem. Allgemein lässt sich also sagen aus den hier artikulierten Überlegungen heraus: Allein wenn Eigensinn sich bildet aus einem Konditionalfeld heraus, in dem das unvermeidliche Bilden von Selbstbildern sich fragmentarisiert, sich zersprengt, sich problematisiert und die Frage nach den Bruchstücken aufwirft, hat er eine Chance auf Zukunftsträchtigkeit, ohne dem verbreiteten Verständnis des Wortbilds nach Borniertheit zu meinen.
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Literatur Benjamin, Walter: »Schicksal und Charakter«, in: ders., Gesammelte Schriften, Bd. II/1 (wa 4), hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1980, S. 171-179. Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis, übers. v. Julius Frankenberger, Hamburg: Meiner 1991. Bloch, Ernst: Geist der Utopie, (1918) 3. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1964. Bloch, Ernst: Erbschaft dieser Zeit, (1935) 2. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1962. Bloch, Ernst: Das Prinzip Hoffnung, (1954/55/58) 2. Aufl., Frankfurt/Main: Suhrkamp 1959. Freud, Sigmund: »Vom Unbehagen in der Kultur«, in: ders., Abriss der Psychoanalyse, Frankfurt/Main: Fischer 1965. Habermas, Jürgen: Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1985. Joyce, James: Ulysses, übers. v. Georg Goyert, Zürich: Rhein Verlag 1956. Negt, Oskar/Alexander Kluge: Geschichte und Eigensinn, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1981. Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit, (1922ff.), übers. v. E. Rechel-Mertens, Frankfurt/Main: Suhrkamp 1969. Virilio, Paul: Ästhetik des Verschwindens, übers. v. Marianne Karbe und Gustav Rossler, Berlin: Merve 1986.
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BIOBIBLIOGRAPHISCHE INFORMATIONEN Michael Donhauser, Schriftsteller, lebt und arbeitet in Maienfeld (Schweiz) und in Wien. Er erhielt mehrere Literaturpreise, 2005 den österreichischen Ernst-Jandl-Preis. Neuere Publikationen (Auswahl): Vom Schnee (2003), Vom Sehen (2004), Ich habe lange nicht doch nur an dich gedacht (Gedichte 2005), alle im Verlag Urs Engeler, Wien, Weil am Rhein, Basel. Marianne Eigenheer, Künstlerin, ist Professorin für Malerei an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste Stuttgart und Leiterin des Institute for Curatorship and Education am Edinburgh College of Art. Einzelausstellungen 2005/06 in Stuttgart, Tokyo, Kyoto, Osaka. Markus Frohnhöfer, Diplomdesigner AV Medien, Studium an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, arbeitet als Künstler und Cutter. Michael Krebber, Künstler, ist Professor für Freie Malerei an der Staatlichen Hochschule für Bildende Künste (Städelschule) Frankfurt am Main. Einzelausstellungen zuletzt in Wien (Secession, 2005), Paris und New York (2006). Anja Lemke, Dr. phil., Mitarbeiterin am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main. Arbeitsschwerpunkte: Autobiographie und Gedächtnis, Erinnerung, Identität, Geschichte. Ausgewählte Publikation: Gedächtnisräume des Selbst. Walter Benjamins ›Berliner Kindheit um neunzehnhundert‹, Würzburg: Königshausen und Neumann 2005. Wolfgang Leuschner, Dr. med., Psychoanalytiker, war stellvertretender Direktor des Sigmund Freud-Instituts Frankfurt. Er gründete und leitete das dortige Schlaflabor. Sein Spezialgebiet ist die Traumforschung, ausgewählte Publikation zu diesem Thema: gemeinsam mit
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BIOBIBLIOGRAPHISCHE INFORMATIONEN
Stephan Hau und Tamara Fischmann: Die akustische Beeinflussbarkeit von Träumen, Tübingen: edition discord 2000. Petra Leutner, Dr. phil., Literaturwissenschaftlerin, Gastprofessorin für Wahrnehmungstheorie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Forschungsschwerpunkte: Absolute Poesie, Sichtbarkeit und Wahrnehmung, Mode, Bildtheorie. Ausgewählte Publikationen: hg. mit U. Erichsen: Das verortete Geschlecht, Literarische Räume sexueller und kultureller Differenz, Tübingen: Francke/Attempto 2003; »Bild und Schminke. Über Falten und Verdopplungen des Sichtbaren«, in: C. Janecke (Hg.), Gesichter auftragen, Argumente zum Schminken, Marburg: Jonas 2006. Stefan Lorenzer, Dr. phil., Mitarbeiter am Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft der Johann Wolfgang GoetheUniversität Frankfurt am Main. Übersetzer von Jacques Derrida (Übersetzerpreis des Verlags C.H. Beck für »Politik der Freundschaft«). Forschungsschwerpunkte: Phänomenologie, Literaturtheorie. Ausgewählte Veröffentlichung: »Gesetzeslücke. Derrida und die Epoché der Regel«, in: Tholen, Christoph/Lenger, Hans-Joachim: Mnema. Derrida zum Andenken, Bielefeld: transcript 2006. Hans-Peter Niebuhr, Prof. Dr., lehrt Mediensoziologie an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Arbeitsschwerpunkte: Kommunikation, Medien, Kultur mit Akzent auf gestalterischer Theorie und Praxis. Marion Poschmann, Schriftstellerin, lebt und arbeitet in Berlin. Sie erhielt zahlreiche Literaturpreise, zuletzt Literaturförderpreis der Stadt Meersburg 2006. Neuere Veröffentlichungen: Grund zu Schafen (Gedichte), Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 2005; Schwarzweißroman, Frankfurt: Frankfurter Verlagsanstalt 2006. Claus Richter, Künstler, Studium an der Hochschule für Gestaltung Offenbach, mehrere Förderpreise 2005, Einzelausstellungen 2005: Ursula-Blickle-Stiftung Kraichtal und Museum für Gegenwartskunst Siegen. Katalogveröffentlichungen, Forschungen über Science-Fiction-Design und über Fankultur; http//www.clausrichter.net Rolf Riehm, Komponist, war von 1974-2000 Professor für Komposition und Tonsatz an der Frankfurter Musikhochschule. Zusammenarbeit mit dem Sogenannten Linksradikalen Blasorchester wie mit Jazz-
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BILD UND EIGENSINN
Musikern. Im Gesamtschaffen überwiegen die Orchesterwerke, z.B. »Gewidmet« für Orchester (1976), »Tänze aus Frankfurt« für Orchester (1980). Neuere Arbeiten: »Fremdling, rede – Ballade Furor Odysseus« für Mezzosopran, Sprecher und großes Orchester (2002), »Die schrecklich-gewaltigen Kinder« für Sopran und großes Ensemble (2003); außerdem: »aprikosenbäume gibt es, aprikosenbäume gibt es« für Kontrabaßklarinette, vier Instrumente und elektr. Zuspielungen (2004), »Hamamuth-Stadt der Engel« für Klavier (2005). Thomas Röske, Dr. phil., Kunsthistoriker, ist Direktor der PrinzhornSammlung Heidelberg. Arbeitsschwerpunkte: Ausdrucksästhetik, Expressionismus, Kunst und Wahn. Publikationen zu diesen Themen, u.a.: Der Arzt als Künstler. Ästhetik und Psychotherapie bei Hans Prinzhorn (1886-1933), Bielefeld: Aisthesis 1995. Kurator der Ausstellung »Expressionismus und Wahnsinn« (2005). Klaus Sachs-Hombach, PD Dr. phil., Philosoph, Oberassistent am Institut für Simulation und Graphik der Universität Magdeburg. Forschungsschwerpunkte: Bild-, Kommunikations- und Medientheorien, Semiotik, philosophische Probleme der Psychologie, Psychologiegeschichte und Kognitionswissenschaft. Ausgewählte Publikationen: Philosophische Psychologie im 19. Jahrhundert, Freiburg: Alber 1993; Das Bild als kommunikatives Medium. Elemente einer allgemeinen Bildwissenschaft, Köln: Halem 2003; als Hg.: Bildwissenschaft. Disziplinen, Themen und Methoden, Frankfurt/Main: Suhrkamp 2005; Homepage: http://isgnw.cs.uni-magdeburg.de/~ksh/ homepage.htm Marion Saxer, Dr. phil., ist Dozentin für Musikwissenschaft/Musikpädagogik an der Musikakademie Wiesbaden, Lehrbeauftragte des musikwissenschaftlichen Instituts der J.W. Goethe-Universität Frankfurt/Main sowie seit WS 2004/5 Lektorin der Universität für Musik und Darstellende Kunst Graz. Forschungsschwerpunkte: Musik und Religion im 19. Jahrhundert, Musik des 20. und 21. Jahrhunderts (Amerika, Europa), Probleme der Ausdrucksästhetik. Publikationen u.a.: Between Categories. Studien zum Komponieren Morton Feldmans von 1951-1977, Saarbrücken: Pfau 1998, »Nicht-liturgisch gebundene religiöse Musik: Franz Liszt und Anton Bruckner«, in: Musik und Religion, hg. v. Helga de la Motte, Mainz: Laaber 20032. Burghart Schmidt, Prof. Dr., lehrt Sprache und Ästhetik an der Hochschule für Gestaltung Offenbach. Mitherausgeber der Werke Ernst
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BIOBIBLIOGRAPHISCHE INFORMATIONEN
Blochs; ausgewählte Publikation: Bild im Ab-wesen. Zu einer Kunsttheorie des Nahezu-Negativen im schwierigen Schein des ›Bilderverbots‹, Wien: Edition Splitter 1998. Rainer Winter, Prof. Dr., ist Professor für Medien- und Kulturtheorie am Institut für Medien- und Kulturwissenschaft der Alpen-AdriaUniversität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Cultural Studies, Populärkultur, Medienrezeption; ausgewählte Publikationen: hg. mit K.H. Hörning: Widerspenstige Kulturen. Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt: Suhrkamp 1999; Kunst des Eigensinns, Weilerswist: Velbrück 2001.
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ABBILDUNGSNACHWEISE Titelbild: Markus Frohnhöfer, o.T., Druckfarbschicht auf original Tesafilm, 5x100cm, Foto: Jörg Baumann, Copyright: Markus Frohnhöfer. Petra Leutner: Abb. 1: Foto: Oliver Flössel 2006, Copyright: Oliver Flössel. Wolfgang Leuschner: Alle Abbildungen aus eigenen Forschungen, Copyright: Wolfgang Leuschner. Claus Richter: Abb. 1: Foto: Tony Alleyne, Copyright: Tony Alleyne. Abb. 2: Foto: Claus Richter, Copyright: Claus Richter. Abb. 3: Foto: Claus Richter, Copyright: Claus Richter. Michael Krebber: Foto: Michael Krebber, Originalbeitrag für dieses Buch, Copyright: Michael Krebber 2006. Rolf Riehm und Marion Saxer: Notenbeispiele: Partitur: Rolf Riehm, Archipel Remix für großes Orchester und elektronische Zuspielungen, Ricordi, Sy. 3468, ISMN M2042-3468-4; scanned by Walter Ganster. Marianne Eigenheer: Abb. 1: Ausschnitt Museum Gongju, Foto: Marianne Eigenheer, Copyright bei der Künstlerin. Abb. 2: o.T., Foto: Marianne Eigenheer, Copyright bei der Künstlerin.
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ABBILDUNGSNACHWEISE
Thomas Röske: Abb. 1: Anonyme Fotografien, Fotoalben aus der Anstalt Weilmünster (1905-1914), Archiv des Landeswohlfahrtsverbandes Hessen/Kassel. Foto: Manfred Zentsch, Heidelberg; Copyright: LWV Hessen. Abb. 3: Foto: Ingeborg Klinger, Heidelberg; Copyright: Sammlung Prinzhorn Heidelberg. Abb. 2, 4 und 5: Foto: Manfred Zentsch, Heidelberg; Copyright: Sammlung Prinzhorn Heidelberg. Anja Lemke: Abb. 1: Walter und Georg Benjamin in Schreiberhau. Carte-de-VisitePhotographie des Atelier Gillert, ca. 1902, abgedruckt mit freundlicher Genehmigung von Gerhard Oberschlick und der Österreichischen Nationalbibliothek. Abb. 2: Kinderbildnis von Franz Kafka. Abbildung aus: Klaus Wagenbach, Franz Kafka. Bilder aus seinem Leben, Berlin: Wagenbach 1989, S. 28. Mit freundlicher Genehmigung von Klaus Wagenbach.
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Kultur- und Medientheorie Vittoria Borsò, Heike Brohm (Hg.) Transkulturation Literarische und mediale Grenzräume im deutschitalienischen Kulturkontakt
Annett Zinsmeister (Hg.) welt[stadt]raum mediale inszenierungen
Dezember 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-520-0
Jutta Zaremba New York und Tokio in der Medienkunst Urbane Mythen zwischen Musealisierung und Mediatisierung
Simone Dietz, Timo Skrandies (Hg.) Mediale Markierungen Studien zur Anatomie medienkultureller Praktiken Dezember 2006, ca. 270 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-482-4
Susanne Regener Visuelle Gewalt Menschenbilder aus der Psychiatrie des 20. Jahrhunderts Dezember 2006, ca. 220 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-420-4
Peter Rehberg lachen lesen Zur Komik der Moderne bei Kafka Dezember 2006, ca. 224 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN: 3-89942-577-4
Nic Leonhardt Piktoral-Dramaturgie Visuelle Kultur und Theater im 19. Jahrhundert (1869-1899)
Oktober 2006, ca. 160 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 16,80 €, ISBN: 3-89942-419-0
Oktober 2006, 236 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 25,80 €, ISBN: 3-89942-591-X
Georg Stauth, Faruk Birtek (Hg.) ›Istanbul‹ Geistige Wanderungen aus der ›Welt in Scherben‹ Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-474-3
Constanze Bausch Verkörperte Medien Die soziale Macht televisueller Inszenierungen Oktober 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-593-6
Bettina Mathes Under Cover Das Geschlecht in den Medien Oktober 2006, ca. 220 Seiten, kart., ca. 23,80 €, ISBN: 3-89942-534-0
November 2006, ca. 350 Seiten, kart., ca. 30,80 €, ISBN: 3-89942-596-0
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Karin Knop Comedy in Serie Medienwissenschaftliche Perspektiven auf ein TV-Format Oktober 2006, ca. 320 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-527-8
Stefan Kramer Das chinesische Fernsehpublikum Zur Rezeption und Reproduktion eines neuen Mediums
Sibel Vurgun Voyages sans retour Migration, Interkulturalität und Rückkehr in der frankophonen Literatur Oktober 2006, ca. 280 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN: 3-89942-560-X
Ursula Link-Heer, Ursula Hennigfeld, Fernand Hörner (Hg.) Literarische Gendertheorie Eros und Gesellschaft bei Proust und Colette Oktober 2006, 282 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-557-X
Petra Missomelius Digitale Medienkultur Wahrnehmung – Konfiguration – Transformation
Oktober 2006, ca. 250 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-526-X
September 2006, 234 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-548-0
Petra Leutner, Hans-Peter Niebuhr (Hg.) Bild und Eigensinn Über Modalitäten der Anverwandlung von Bildern
Helga Lutz, Jan-Friedrich Mißfelder, Tilo Renz (Hg.) Äpfel und Birnen Illegitimes Vergleichen in den Kulturwissenschaften
Oktober 2006, 206 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-572-3
Arno Meteling Monster Zu Körperlichkeit und Medialität im modernen Horrorfilm Oktober 2006, ca. 400 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 31,80 €, ISBN: 3-89942-552-9
September 2006, 260 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-498-0
Christian Wenger Jenseits der Sterne Gemeinschaft und Identität in Fankulturen. Zur Konstitution des Star Trek-Fandoms August 2006, 406 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-600-2
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Kultur- und Medientheorie Michael C. Frank Kulturelle Einflussangst Inszenierungen der Grenze in der Reiseliteratur des 19. Jahrhunderts
Georg Mein (Hg.) Kerncurriculum BA-Germanistik Chancen und Grenzen des Bologna-Prozesses
August 2006, 232 Seiten, kart., 25,80 €, ISBN: 3-89942-535-9
Juli 2006, 94 Seiten, kart., 11,80 €, ISBN: 3-89942-587-1
Martin Pfleiderer Rhythmus Psychologische, theoretische und stilanalytische Aspekte populärer Musik
Michael Treutler Die Ordnung der Sinne Zu den Grundlagen eines ›medienökonomischen Menschen‹
August 2006, 390 Seiten, kart., 30,80 €, ISBN: 3-89942-515-4
Juli 2006, 282 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-514-6
Antje Krause-Wahl, Heike Oehlschlägel, Serjoscha Wiemer (Hg.) Affekte Analysen ästhetisch-medialer Prozesse. Mit einer Einleitung von Mieke Bal
Petra Gropp Szenen der Schrift Medienästhetische Reflexionen in der literarischen Avantgarde nach 1945
August 2006, 196 Seiten, kart., 24,80 €, ISBN: 3-89942-459-X
Barbara Becker, Josef Wehner (Hg.) Kulturindustrie reviewed Ansätze zur kritischen Reflexion der Mediengesellschaft August 2006, 296 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-430-1
Juli 2006, 450 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-404-2
Ralf Adelmann, Jan-Otmar Hesse, Judith Keilbach, Markus Stauff, Matthias Thiele (Hg.) Ökonomien des Medialen Tausch, Wert und Zirkulation in den Medien- und Kulturwissenschaften Juli 2006, 338 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-499-9
Regina Göckede, Alexandra Karentzos (Hg.) Der Orient, die Fremde Positionen zeitgenössischer Kunst und Literatur Juli 2006, 214 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 24,80 €, ISBN: 3-89942-487-5
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de